Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg: Genese, Entwicklung und Bestand eines protestantischen Erinnerungsortes 9783525550540, 9783647550541, 3525550545

Silvio Reichelts Arbeit untersucht den in Wittenberg gepflegten Umgang mit dem reformationsgeschichtlichen Erbe der Stad

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Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg: Genese, Entwicklung und Bestand eines protestantischen Erinnerungsortes
 9783525550540, 9783647550541, 3525550545

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Refo500 Academic Studies

Herausgegeben von Herman J. Selderhuis In Zusammenarbeit mit Marianne Carbonnier (Paris), Günter Frank (Bretten), Bruce Gordon (New Haven), Ute Lotz-Heumann (Tucson), Mathijs Lamberigts (Leuven), Barbara Mahlmann-Bauer (Bern), Tarald Rasmussen (Oslo), Johannes Schilling (Kiel), Herman Selderhuis (Emden), Günther Wassilowsky (Linz), Siegrid Westphal (Osnabrück), David M. Whitford (Trotwood) Band 11

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Silvio Reichelt

Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg Genese, Entwicklung und Bestand eines protestantischen Erinnerungsortes

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-55054-0 ISBN 978-3-647-55054-1 (E-Book)  2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Erinnerung und Erinnerungskultur im Protestantismus . . 1. Methodischer Zugriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stand der Forschung und Quellenlage . . . . . . . . . . . . . .

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I.

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Einheit von Thron und Altar : Wittenberg 1883 – 1918 . . . . . . . 1. Zwischen sächsischer Vergangenheit und preußischer Identität . 1.1 Das Interesse der Hohenzollern . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Wittenbergs Ausbau zur Denkmallandschaft . . . . . . . . 2. Das Lutherjubiläum 1883 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die kirchliche Lutherfeier im September . . . . . . . . . . 2.2 Die Einweihung der Lutherhalle . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Von der Kirchen- zur Kommunalfeier . . . . . . . . . . . . 2.4 Luther feiern ohne Luther – Der Festumzug . . . . . . . . . 3. Die Reformatorenhäuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Musealer Tiefschlaf des Lutherhauses . . . . . . . . . . . . 3.2 Vom Sammlungsdepot zum Museum . . . . . . . . . . . . 3.3 Mythos Evangelisches Pfarrhaus . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Ausweitung der Heldengalerie: Melanchthon und Bugenhagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Schlosskirche – Ein Großprojekt preußisch-deutscher Geschichtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Konzeption als Protestantisches Pantheon . . . . . . . . . . 4.2 Ein Nationaldenkmal gegen Katholiken und Sozialisten . . 4.3 Die Einweihungsfeier als Herrschaftsinszenierung . . . . . 4.4 Der Fürstenzug – Eine Heerschau des protestantischen Adels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Das Wittenberger Bekenntnis: Gründungsakt einer idealpolitischen Ordnung . . . . . . . 5. Stadtraum und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Denkmallandschaft im Landschaftsgarten . . . . . . . . . . 5.2 Die Luthereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ein Ausdruck bürgerlicher Selbstschau: Das Lutherfestspiel . . 7. Besuch der Wittenberger Lutherstätten . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Imagination und Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Das Jubiläum als touristische Initialzündung . . . . . . . . 7.3 Formen des touristischen Besuchs . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

8. Vom Glaubens- zum Nationalhelden . . . . . . . . . . . . . . . 114 8.1 Die Erweiterung des Lutherhauses . . . . . . . . . . . . . . 114 8.2 Enttäuschte Hoffnung: Das Reformationsjubiläum 1917 . . 117 II. Mehr Tradition als Aufbruch: Die Zeit der Weimarer Republik . 1. Reformationserinnerung unter neuen Bedingungen . . . . . . 1.1 Das Ende der Einheit von Thron und Altar – Die Identitätskrise nach 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Luther als zentrale Selbstbildressource . . . . . . . . . . . 1.3 Luther als Alleinstellungsmerkmal – Die Konkurrenz zu anderen Lutherstätten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Ein anerkannter Mittelpunkt evangelischen Lebens . . . . 1.5 Wittenberg und der politische Protestantismus im Reich 1.6 Die internationale Ausstrahlung der Lutherstadt . . . . . 2. Um- und Ausbau der Denkmallandschaft . . . . . . . . . . . 2.1 Ein authentischer Erinnerungsort? . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Stadtkirche: Von der Gebrauchskirche zum Denkmal 2.3 Die Schlosskirche: Denkmal oder Gotteshaus? . . . . . . 2.4 Die Lutherhalle: Professionalisierung der Museumsarbeit 2.5 Das wissenschaftliche Prinzip der Anschauung . . . . . . 3. Die Jubiläumsfeiern als Ausdruck gesellschaftlicher Konflikte 3.1 Das Fest als Mittel der Standortbestimmung und Selbstvergewisserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Reformationsjubiläum als Integrationsmechanismus 3.3 Arbeiter außen vor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Lutherfestspiel und Volkskultur . . . . . . . . . . . . . . 4. Aufbruch in den modernen Fremdenverkehr . . . . . . . . . 4.1 Moderne Fremdenverkehrsstrukturen . . . . . . . . . . . 4.2 Protestantische Pilger? Die Wallfahrt nach Wittenberg . . 4.3 Pathos der Erklärung und Verkündung . . . . . . . . . . III. Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Beschwörung eines Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der gegenwärtige Luther – die geistige Linie von Braunau nach Wittenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Wittenberg als exponierte Bühne eines nationalsozialistischen Luthermythos? . . . . . . . . . . 2. Reformationsjubiläen im NS-Staat . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Staatspolitisches Desinteresse . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Lutherjubiläum als Besuchermagnet . . . . . . . . . 2.3 Die Volksgemeinschaft feiert . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Der Erlebnisraum im Nationalsozialismus . . . . . . . . . 2.5 Lutherfestspiele und NS-Thingstättenbewegung . . . . .

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Inhalt

2.6 Weitere Jubiläumsfeiern im NS-Staat . . . . . . . . . . . . 3. Die Wittenberger Kirche im Dritten Reich . . . . . . . . . . . . 3.1 Wittenberg als zentraler Ort des deutschen Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Wahl des Reichsbischofs Müller . . . . . . . . . . . . . 3.3 ,Kirchenkampf‘ in Wittenberg . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Oskar Thulin und die Lutherhalle . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Der lebendige Luther – Ein Personalmuseum entsteht . . . 4.2 „Vom wertlosen Überbau vergangener Generation befreit“ – Die Baupolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Museale Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Museumsarbeit jenseits der Stadtgrenzen . . . . . . . . . . 4.5 Die neuen Wittenberg-Fahrer . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Wider Kitsch und Tand: Erinnerungszeichen . . . . . . . .

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Exkurs: Die Lutherstadt Wittenberg ,zwischen den Zeiten‘ 1945 – 1949 . 1. Kontinuität nach der Katastrophe? . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Luthergedenken am 18. Februar 1946 . . . . . . . . . . . . 3. Ein Neubeginn nach alten Mustern . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in der DDR . . . . . . . 1. Wandlungen städtischer Geschichtsbilder in den 1950er und 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Von der Luther- zur Chemiestadt . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Wittenberg als gesamtdeutscher Erinnerungsort . . . . . . 1.3 Das evangelische Wittenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Denkmallandschaft zwischen Wandel und Kontinuität . . . 2.1 Industriestadt im Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Lutherhaus als Hort der Traditionspflege . . . . . . . . 2.3 Das Melanchthonhaus als Korrektiv . . . . . . . . . . . . . 3. Die Enkel fechten’s besser aus: Die Reformationsjubiläen 1960 und 1967 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Melanchthon-Würdigung 1960 . . . . . . . . . . . . . . 3.2 450 Jahre Reformation – DDR-Geschichtspolitik in Wittenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Festumzug als Ausdruck einer sozialistischen Metaerzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die kirchliche Feier und die nationale Frage . . . . . . . . 3.5 Stadttradition und Leistungsschau . . . . . . . . . . . . . . 4. Erbe und Tradition – Eine differenzierte Sicht in den 1970er und 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Heimat- und Regionalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der Gang durch das ,revolutionäre Wittenberg‘ . . . . . . . 4.3 Die inhärente Widerständigkeit der Lutherstadt . . . . . .

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Inhalt

5. Die Würdigung eines großen Sohnes – Luther 1983 . . . . 5.1 Die Stadt als Bühne des Staates: Das Jubiläum 1983 . 5.2 Das Festprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Innovation und Restauration: Die Umgestaltung des Lutherhauses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Überforderung oder Initialzündung? Das Jubiläum als Touristenmagnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Wittenberg als Schaufenster zum Westen . . . . . . . 6. Vertrauen wagen – Das evangelische Wittenberg . . . . . 6.1 Die kirchliche Ausgestaltung des Jubiläums 1983 . . . 6.2 Vom Kirchentag zur Protestantischen Revolution . . . V.

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Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg in der Gegenwart . . . . 1. Die Lutherstadt im vereinigten Deutschland . . . . . . . . . . . 1.1 Städtische Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Luther als Bezugsgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Akteure städtischer Geschichtspolitik . . . . . . . . . . 2. Wittenberg baut – Die Denkmallandschaft . . . . . . . . . . . . 2.1 Primat der Lutherstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Reformationsmusealisierung des Stadtraums . . . . . . 2.3 Stadtbild und Stadtidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Ein neuer Stadteingang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weltgeschichte erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Thematische Kontinuität im Fest . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Erlebnisgesellschaft im Fest . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Formen der Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Luther-Tourismus und heritage industry . . . . . . . . . . 3.5 Alltagskultur als Mittel der Identitätskonstruktion . . . . . 4. Wittenberg als Protestantischer Erinnerungsort der Gegenwart.

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Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen in chronologischer Reihenfolge Zeitungen und Zeitschriften . . . . . . . . . . . . Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2011 von der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen und für die Drucklegung geringfügig verändert. Mein Dank gilt Herrn Prof. Dr. Manfred Hettling (Halle), der mir bereits während unserer ersten Begegnung ,spontan‘ das Angebot einer Betreuung meiner Doktorarbeit gemacht hatte und mir einen enormen Vertrauensvorschuss entgegenbrachte. Mit dem von ihm angeregten Konzept des ,Erlebnisraums‘ hat er die Initialzündung für die Entstehung der vorliegenden Arbeit geliefert. Zu großem Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Prof. Dr. Klaus Tanner (Heidelberg). Das von ihm an der Theologischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg initiierte DFG-Projekt Der Geist der Zeiten in den akademischen Jubelfeiern, dessen Mitarbeiter ich war, bot nicht nur einen äußeren Rahmen für die individuelle Forschung, sondern schuf auch einen Raum des intellektuellen Austauschs über die Grenzen der Geschichtswissenschaften hinaus. In diesem Sinn gilt mein herzlicher Dank den Kollegen des Projekts Dr. Annina Ligniez, Dr. Wolfgang Flügel, Dr. Sebastian Kranich und Christian Muth. Ohne die tatkräftige Mithilfe meiner Freunde Carina Merseburger, Reinhard Pester und Franziska Lietzmann bei der Korrektur sowie des Direktors der Stiftung Luthergedenkstätten Dr. Stefan Rhein in Form einer engagierten und kritischen Durchsicht des Manuskriptes wäre es nicht zu diesem Buch gekommen. Ihnen sei ebenso gedankt wie Frau Dr. Insa Christiane Hennen für eine entscheidende Weichenstellung im Schlussmarathon. Schließlich sei noch der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sowie Bernhard Naumann und dem Wittenberger Heimatverein für die großzügige finanzielle Unterstützung der Drucklegung gedankt. Leipzig, im November 2012

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Einleitung: Erinnerung und Erinnerungskultur im Protestantismus Die reformatorische Bewegung des 16. Jahrhunderts hat ihre innere Kohäsionskraft zunächst aus der Ablehnung der römischen Tradition geschöpft. Der Kampf Luthers gegen Rom wurde dabei zu einem Leitmotiv. Den Protestanten stellte sich jedoch bald die Frage nach einer gemeinsamen Identität jenseits des Reflexes der Negation. Die nachreformatorischen Generationen entdeckten deshalb die Möglichkeit, kollektive Identitätsbildung über historische Erinnerung zu organisieren, um die eigene Gruppe nach innen zu stabilisieren und nach außen abzugrenzen. Die Reformation hatte außerdem durch die Veränderung der theologischen Lehre den Übergang von der transzendent fundierten mittelalterlichen Memoria zu einer historisch-narrativ angelegten Erinnerungskultur ermöglicht. In einer von Enttraditionalisierung und Traditionsstiftung gekennzeichneten dialektischen Entwicklung wurden Teilbereiche der vorreformatorischen Vergangenheit ausgeblendet und die Aufmerksamkeit richtete sich auf die reformatorische Entstehungsgeschichte, um daraus identitäts- und gemeinschaftsstiftende Kraft zu schöpfen. Damit verbunden war der Kampf um religiöse Deutungshegemonie, der in der gemischtkonfessionellen Gesellschaft des Alten Reiches über Jahrhunderte hinweg vehement geführt wurde. Die auf die eigene Konfession bezogene und von ihr organisierte Erinnerung erzeugte schließlich ein spezifisches „Bewusstsein von Einheit und Eigenart, von Identität und positiver Selbstsicht“.1 Vor allem im lutherischen Konfessionsmilieu spielt der permanente Rekurs auf die Eigengeschichte bis heute eine konstituierende Rolle im eigenen Selbstverständnis und unterscheidet es auch von anderen protestantischen Traditionen. Bereits im 16. Jahrhundert entstanden verschiedene Mechanismen der konstitutiven Reformationserinnerung, um sich von ,den Altgläubigen‘ abzugrenzen und nach den Prämissen der neuen Lehre eine eigene Memorialkultur sowie eine genuin protestantische Identität zu formulieren, in deren Mittelpunkt Martin Luther stand. Zu nennen wären hier die kanonisierende Sammlung und Herausgabe der Schriften des Reformators, die unmittelbar nach dem Tod Luthers 1546 einsetzte, oder auch die Prägung von Gedenkmünzen und Medaillen. Am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, als das Luthertum im Reich sich in einer politischen Krisensituation befand, bot zudem die erste Jahrhundertfeier des Thesenanschlags die Möglichkeit einer kollektiven Identitätsbildung. Die Universitäten als intellektuelle Knoten1 Kuhlemann, Erinnerung und Erinnerungskultur, 33.

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Einleitung: Erinnerung und Erinnerungskultur im Protestantismus

punkte spielten hier eine zentrale Rolle,2 aber mittels besonderer Gottesdienste und Festpredigten wurde über den akademischen Rahmen hinaus auch das gesamte Kirchenvolk in die Jubiläumsaktivitäten eingebunden und auf diese Weise mit der Reformationsgeschichte vertraut gemacht.3 Die Genese des historischen Jubiläums als populäre kulturelle Praxis der Moderne durch das Begehen des ersten Reformationsjubiläums 1617 unterstreicht das erfolgreiche Bemühen der evangelischen Stände im Reich, eine genuin protestantische Eigengeschichte zu konstruieren. So zeigt Thomas Kaufmann in einem Beitrag über den lutherischen Protestantismus in der Frühen Neuzeit, dass die „vergegenwärtigende Erinnerung der Reformation im Jubelfest […] gleichsam die eigene Geschichte“4 konstituierte. Im Lauf der vergangenen fünf Jahrhunderte haben sich Inhalte und Formen der lutherischen Memorialkultur verändert. Mit Begriffen wie Gedächtnisorten und Erinnerungslandschaften wird dem konstruktivistischen Gestus Rechnung getragen, bei dem Geschichte „als ständig neu formbare Masse“ erscheint, die immer neue Deutungen ermöglicht.5 Inhaltlich ist es, in Abhängigkeit von politischen, sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen, zu deutlichen Verschiebungen gekommen. In der Frühphase der lutherischen Erinnerungspolitik haben beispielsweise die Ereignisse der Reformationsgeschichte im Mittelpunkt diverser Jubiläumsaktivitäten gestanden; im 19. und vor allem 20. Jahrhundert rückten hingegen die biographischen Wegmarken in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit Geburtstag, Todestag oder Luthers Hochzeit verbindet der moderne, konfessionell wenig gebundene Mensch inzwischen mehr als mit dem Jahrestag der Augsburger Konfession. Die Formen der Erinnerung veränderten sich ebenfalls. Das Spektrum reicht von den Bildern aus der Cranachwerkstatt bis zum Lutherfilm, vom Festgottesdienst bis zur weitgehend säkularisierten Reformationsfeier. Das mit dieser Memorialkultur verbundene kulturelle Gedächtnis richtet sich auf Fixpunkte in der Vergangenheit, die nach einer Definition von Jan Assmann „zu symbolischen Figuren gerinnen, an die sich Erinnerung haftet“.6 Obwohl diese Erinnerungsorte als Kristallisationspunkte des kulturellen Gedächtnisses insbesondere für die auf Martin Luther rekurrierende Konfessionskultur bedeutsam sind, haben sie im historiographischen und theologi2 Mit den seit 1617 begangenen Reformationsjubiläen an Universitäten im deutschsprachigen Raum beschäftigte sich das DFG-Projekt Geist der Zeiten an der Fakultät für Theologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg unter Leitung von Prof. Dr. Klaus Tanner. Forschungsgegenstand waren rund 300 Universitätsreden, die anlässlich der akademischen Reformationsfeiern zwischen 1617 und dem 20. Jahrhundert gehalten wurden. 3 Einige Darstellungen zum Reformationsjubiläum 1617 in Auswahl: Schönstädt, Antichrist, Weltheilsgeschehen und Gottes Werkzeug; Ligniez, Legitimation durch Geschichte; Reichelt, Die Universität als Instrument der Konfessionalisierung. 4 Kaufmann, Konfession und Kultur, 29. 5 Kaschuba, Geschichtspolitik und Identitätspolitik, 25. 6 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 52.

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Einleitung: Erinnerung und Erinnerungskultur im Protestantismus

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schen Diskurs bisher nur unzureichend Beachtung gefunden. So sind explizit protestantische Themen in dem dreibändigen Werk von Etienne Francois und Hagen Schulze beispielsweise nur viermal vertreten („Reformation“, „Pietismus“, „Das evangelische Pfarrhaus“ und „Bach“).7 Prinzipiell ist eine Vielzahl dieser Orte denkbar, an denen sich nicht nur ein jeweils Spezifisches des Protestantismus, sondern auch der historische Wandel von Erinnerung aufzeigen lässt. An erster Stelle einer Untersuchung protestantischer Erinnerungsorte sollte jedoch Wittenberg stehen, denn die ,Wiege der Reformation‘ entfaltet seit fast fünfhundert Jahren eine ununterbrochene Erinnerungs- und Projektionskraft. Ein Erinnerungsort kann zwar wechselnden Erinnerungskonjunkturen unterliegen, muss aber dauerhaft präsent bleiben. Hierfür muss das historisch-symbolische Kapital permanent abgerufen und genutzt werden, um eine feste Verankerung im kulturellen Gedächtnis zu ermöglichen. Wittenberg erfüllt diese Voraussetzung, denn die bis in die Gegenwart reichende Kette des historischen Erinnerns riss niemals ab und ist in ihrer Dauer, Kontinuität und Dichte einzigartig. Die Stadt besitzt hierdurch einen ,Mehrwert des Erinnerns‘, der sie erst vom historisch bedeutsamen Ort zu einem wichtigen Punkt auf der ,geistigen Landkarte des Protestantismus‘ macht. Als Symbolort des Protestantismus ist der Stadtname im kulturellen Gedächtnis mit der historischen Zäsur des Thesenanschlags von 1517 fest verbunden. Unter den protestantischen Erinnerungsorten sind die topographischen, räumlich fassbaren Orte von besonderem Interesse. Die intellektualisierende protestantische Weltauffassung abstrahiert zwar vom Dinglichen, denn sie kennt nicht die Dichotomie von heilig und profan. Den altgläubigen heiligen Stätten, die auf einer heterogenen Raumkonzeption basieren, setzt der Protestantismus deshalb die Homogenität des Raumes entgegen. Die Reformatoren wandten sich gegen abgegrenzte heilige Orte, die einen Sonderstatus als Erinnerungs- und Vollzugsstätten des religiösen Lebens beanspruchen. Das dem Protestantismus innewohnende Streben nach Vergeistigung und Verinnerlichung als Gegenmodell zu materiellen Aufwendungen in Form von Riten und Ritualen, äußerer Symbolik und Repräsentation spricht ebenfalls gegen die Existenz von ,verräumlichter‘ Erinnerung.8 Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, es gäbe im Protestantismus kein Raumparadigma im Sinne einer räumlichen Unmittelbarkeit und materiellen Anteilnahme, wäre dennoch falsch. Insbesondere das Luthertum hat sich stets auf die Erinnerungsqualitäten des Räumlichen besonnen. Bereits für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts ist ein ,Pilgertourismus‘ zu besonderen Stätten der Reformationsgeschichte belegt. Beispiele hierfür sind die Lutherstube auf der Wartburg oder Luthers Studierzimmer im Wittenberger Klostergebäude, das nach dem Tod des Reformators als frühes museum lutheri etabliert wurde.9 Auch fünf7 Vgl. Francois/Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte. 8 Vgl. Jan Assmann, Protestantismus und Erinnerungskultur, 39 f. 9 Vgl. Laube, Der Kult um die Dinge, 11 – 35.

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Einleitung: Erinnerung und Erinnerungskultur im Protestantismus

hundert Jahre später kann der moderne Museumsbesucher deshalb noch Orte besichtigen, die ein relativ authentisches Bild von den Lebens- und Arbeitsbedingungen im Zeitalter der Reformation vermitteln. Wo historische Substanz verloren ging, wurde mit Mitteln der Rekonstruktion versucht, den Bezug insbesondere zur Person des Reformators wiederherzustellen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Geburtshaus Luthers in Eisleben, das dem großen Stadtbrand von 1689 zum Opfer fiel.10 Die Bürgergemeinde wollte jedoch auf keinen Fall auf ,ihren‘ Erinnerungsort verzichten, welcher schließlich der Stadt Eisleben zu einem wichtigen Platz in der Reformationsgeschichte verholfen hatte, und initiierte die Rekonstruktion des Gebäudes als Gedenkstätte. Die bereits unter den ersten nachreformatorischen Generationen einsetzende dingliche Erinnerungskultur erhielt im 19. Jahrhundert einen neuen Schub, denn der Historismus hob die Verankerung des Menschen in der Vergangenheit hervor. Infolgedessen verlor die Reformation ihre vornehmlich geistliche Orientierung. Die geschichtliche Welt war jetzt nicht mehr in die christliche Heilsordnung einbezogen, sondern stand vielmehr autonom neben ihr. Hierdurch ist die Musealisierung der Reformation beschleunigt worden.11 Das veränderte Geschichtsbewusstsein beeinflusste die memorialen Bemühungen und Wittenberg hat sich unter diesen Bedingungen endgültig von einem assoziativen Symbolort zu einem räumlich erfahrbaren Erlebnisraum entwickelt. Erst durch eine stetig ausdifferenzierte Denkmallandschaft und deren überregional bedeutsame rituelle Einbindung im Fest wurde der mit Wittenberg verbundene Luther-Mythos ab dem 19. Jahrhundert räumlich erfahrbar gemacht. Vorliegende Arbeit setzt an dieser Epochenschwelle an und untersucht die Verbindung von Raum und Erinnerung. Wittenberg soll nicht nur als metaphorischer Ort, sondern als physisch erlebbarer Raum analysiert werden. Der methodische Zugriff auf den protestantischen Erinnerungsort als ein Erlebnisraum erfordert die Einbeziehung von drei unterschiedlichen Dimensionen: Die zum Mythos geronnene historische Erinnerung, das kulturelle Selbstverständnis der jeweiligen Trägerschichten von Erinnerung sowie die Dimension der sozialen Praxis sind hier wechselseitig verschränkt und können deshalb nur gemeinsam untersucht werden.12 Mittels ,Tiefenbohrung‘ an einem konkreten Ort werden bei einer Untersuchung ,im historisch langen Bogen‘ Deutungsverschiebungen, Interessenskonflikte und Nutzungsformen des historischen Erinnerns erkennbar, denn Wittenberg hat sich seit dem 19. Jahrhundert zu einem Mikrokosmos der Rezeptionsgeschichte, zu einem „Referenzort für die diversen Konjunkturen der reformationsbezogenen Geschichtspolitik“ entwickelt.13 Wie kein zweiter Ort fordert Wittenberg deshalb 10 11 12 13

Vgl. Steffens, Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert, 63. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866, 499 f. Vgl. Hettling, Erlebnisraum und Ritual; ders., Das Denkmal als Fetisch. Laube, Inszenierte Jubelgeschichten, 113.

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als Untersuchungsgegenstand dazu heraus, die Reformationserinnerung unter den Bedingungen von fünf politischen Systemen im Zeitraum 1883 bis in die Gegenwart zu erforschen.

1. Methodischer Zugriff Kontinuität und Wandel – Eine Analyse im ,historisch langen Bogen‘. Mit dem Erinnerungsbegriff ist eine lange Geschichte philosophischer Reflexionen und historischer Bedeutungszuweisungen verbunden. Seit den 1980er Jahren bildet die systematische Erfassung von Gedächtnis- und Identitätsmodellen eine zentrale Achse kulturwissenschaftlicher Forschung. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt hierfür ist der 1925 entstandene Text Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen von Maurice Halbwachs, der den Versuch unternahm, Erinnerung außerhalb des Individuums in einem überindividuellen Gedächtnis zu verorten. Halbwachs betonte die soziale Konfiguration von Erinnerung und strich die Selektivität und Perspektiviertheit der gemeinsamen Erinnerung heraus, die stets von den gegenwärtigen Bedürfnissen des Kollektivs gesteuert wird.14 Erinnerung ist ein komplex strukturiertes Phänomen, welches vergangene Ereignisse in Abhängigkeit von aktuellen Bedürfnissen in die Gegenwart zurückholt. Schlüsselereignisse der Vergangenheit werden hierfür vergegenwärtigt und für die eigene Gegenwart mit aktuellem Sinn gefüllt, um daraus einen Geltungsanspruch für die Zukunft abzuleiten. Dieser historische Erinnerungsprozess weist Kontinuitäten und Diskontinuitäten auf. Das Gedächtnis ist deshalb nicht als ein simpler Speicher zu sehen, worin vergangenes Geschehen eingelagert wird und bei Bedarf abgerufen werden kann. Erinnerung muss vielmehr als eine aktiv gestaltete Aneignung der Vergangenheit verstanden werden.15 Ausgehend von Halbwachs’ Vorstellungen vom sozialen Rahmen des Gedächtnisses werden zurückliegende Ereignisse permanent in aktuelle Lebenszusammenhänge integriert. Vergangenheit wird in diesem Erinnerungsprozess nicht einfach rekonstruiert, sondern interpretiert, indem die Träger sich ein Bild davon machen. Erinnern als ein permanenter Aushandlungsprozess vollzieht sich kollektiv, denn Erinnerungen entstehen und verfestigen sich durch interaktive und kommunikative Prozesse. Aus diesem Grund sind sie stets abhängig vom sozialen Rahmen. Verändern sich die Lebensbedingungen der Träger von Erinnerung, dann werden die auf vergangenes Geschehen bezogenen Vorstellungen aktualisiert beziehungsweise den neuen Lebensumständen angepasst. Unter diesen Bedingungen nahm die Dynamik des historischen Erin14 Vgl. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. 15 Vgl. Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung, 37.

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nerungsprozesses ab dem 19. Jahrhundert zu. Die Halbwertzeit von Geschichtsbildern verkürzte sich, denn auch soziale Rahmenbedingungen und politische Situationen änderten sich mit zuvor nicht gekannter Radikalität. Die scharfen Brüche beeinflussten die Vergangenheitsvorstellungen stärker als zuvor. Einerseits dynamisierte sich das kulturelle Selbstverständnis der Erinnerungsträger mit einer bis dahin unbekannten Geschwindigkeit. Andererseits wurde in immer kürzeren Abständen versucht, auf dem Weg sozialer Praxis historische Erinnerung gezielt umzudeuten und politisch zu instrumentalisieren. Das im Jahr 1883 begangene Lutherjubiläum markiert eine einschneidende Zäsur im Umgang mit dem reformationsgeschichtlichen Erbe Wittenbergs und soll deshalb als Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit dienen. Auf dem Weg der als Kirchen- und Universitätsfeiern begangenen Reformationsjubiläen war in Wittenberg bereits seit 1617 an die reformatorische Vergangenheit erinnert worden. Dabei hatte man zunächst mittels Festgottesdienst und akademischer Jubelfeier der runden Jahrestage des Thesenanschlags, der Augsburger Konfession sowie des Religionsfriedens gedacht. Die Würdigung des Geburtstages von Martin Luther im Jahr 1883 indiziert hingegen eine für das 20. Jahrhundert charakteristische Ausweitung der Feieranlässe sowie der Trägerschicht des Jubiläums. Die Feierpraxis belegt den Übergang zu einer bürgerlichen Jubiläumskultur, zu der auch ein Festumzug und weitere säkulare Feierelemente gehören.16 Außerdem war das 1883 begangene Jubiläum nicht mehr ausschließlich auf den städtischen Binnenraum orientiert, denn erstmals strömten tausende auswärtige Besucher nach Wittenberg. Sie zeigen Ansätze zu einer modernen Fremdenverkehrstradition und das Jubiläum geriet dadurch in den Sog von Vergnügen und Freizeit, von Konsum und Kommerzialisierung. Aber nicht nur in Bezug auf das Reformationsjubiläum sowie die touristische Erschließung Wittenbergs begann 1883 eine neue Epoche. Mit der Eröffnung des Lutherhauses als öffentlich zugängliches Museum entstand ein zentraler Kernbestandteil der Denkmallandschaft Wittenberg und ermöglichte eine neuartige Vermittlung sowie Aneignung der reformationsgeschichtlichen Vergangenheit der Stadt. Im ,historisch langen Bogen‘ vom Jubiläumsjahr 1883 bis zur Gegenwart bietet sich in Wittenberg die Möglichkeit, den Umgang mit dem Erbe der Reformation unter den Bedingungen von fünf verschiedenen politischen Systemen als einen Aneignungs-, Umarbeitungs- und Anpassungsprozess zu analysieren. Der Reformationsbezug historischer Erinnerung macht Wittenberg überregional bedeutsam für die Legitimationsaktivitäten aufeinanderfolgender Herrschaftsordnungen mittels Inanspruchnahme, Vergewisserung und Aktualisierung. Ein system- und epochenübergreifender Zuschnitt offenbart den konstruierten Charakter von historischer Erinnerung, der gerade in Phasen gesellschaftlicher oder sozialer Umwälzungen besonders deutlich 16 Hierzu grundlegend: Burkhardt, Reformations- und Lutherfeiern, 212 – 236.

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wird, denn in diesen Zeiten verstärkt sich das Bedürfnis nach Stabilität und Verbindlichkeit. Im 20. Jahrhundert als einem Jahrhundert der Politisierung ist dabei von besonderem Interesse, inwieweit politisch aufgeladene Themen anhand von Geschichts-, Gegenwarts- und Zukunftsbildern Eingang fanden in die Reformationserinnerung. Zu fragen ist, wie sich die jeweiligen politischen Systeme der reformatorischen Vergangenheit bemächtigt haben und ob die mit Wittenberg verbundene Reformationserinnerung Stützpfeiler und Fundamente bereitstellte, die unabhängig von den Brüchen der deutschen Geschichte weiterwirkten. Die räumliche Dimension der Erinnerungskultur. Das Phänomen der Erinnerung ist an die zwei Dimensionen ,Raum‘ und ,Zeit‘ als zentrale Strukturprinzipien menschlichen Denkens gebunden. ,Raum‘ wird mit Konstanz und Stabilität assoziiert, während ,Zeit‘ mit Vorstellungen von Dynamik und Veränderbarkeit verknüpft ist. Entscheidend für die Erinnerung ist, wie ,Raum‘ und ,Zeit‘ miteinander vermittelbar sind, denn die vergangene Zeit selbst ist unsichtbar und kann nur mit räumlichen Hilfsvorstellungen anschaulich gemacht werden. Erst der Raum stellt den direkten Draht zur verlorenen Zeit her. ,Zeit‘ wird in der Kulturwissenschaft selbstverständlich als soziale Konstruktion und Kategorie erfasst. ,Raum‘ wird hingegen oft unhinterfragt als immobile physikalische Gegebenheit im Sinne eines ,Behälters‘ verstanden. Sozial- und kulturgeschichtlichen Studien fehlt deshalb oft die räumliche Dimension.17 Dies gilt auch für die von Pierre Nora in den 1980er Jahren begründete Konjunktur der lieux de mmoire, denn Forschungen zu Erinnerungsprozessen und kollektiven beziehungsweise kulturellen Gedächtnissen reduzieren diese oft auf zeitlich organisierte Formen der Daseinsorientierung.18 Selbst die topographischen Erinnerungsstätten werden in den meisten diesbezüglichen Studien vor allem metaphorisch erfasst.19 Im jüngst erschienenen Sammelband Erinnungsorte der Christenheit beschränkte sich Wolfgang Huber beispielsweise auf den ,Zentralort Wittenberg‘ als einen imaginierten „Identitätspunkt für das konfessionell segmentierte, kollektive

17 Löw machte auf diese Schwachstelle aufmerksam. Eine wichtige Grundlage ihrer Überlegungen ist die Unterscheidung von Ort und Raum. Vgl. Löw, Raumsoziologie, 179 – 183. 18 Halbwachs bezieht sich auf die bereits in der Bibel angelegte Territorialisierung der christlichen Geschichte und für ihn war die ,Topographie‘ eine entscheidende Konstituente der Erinnerung. Nora hingegen ersetzte ,Topographie‘ durch ,Topologie‘. Vgl. Halbwachs, La topographie lgendaire. Zur Umdeutung in „Topologie“ siehe FranÅois, Pierre Nora und die Lieux de mmoire, 10. 19 Exemplarisch hierfür steht die von Etienne Francois und Hagen Schulze gelieferte Definition: „Wir verstehen also ,Ort‘ als Metapher, als Topos im buchstäblichen Sinn. Der Ort wird nicht als eine abgeschlossene Realität angesehen, sondern im Gegenteil stets als Ort in einem Raum. […] Mit anderen Worten: Wir sprechen von einem Ort, der seine Bedeutung und seinen Sinn erst durch seine Bezüge und seine Stellung inmitten sich neu formierender Konstellationen und Beziehungen erhält.“ Francois/Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, Band 1, 18.

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christliche Gedächtnis“20 und interessierte sich nicht für den physischen Raum. Der aus dem Angelsächsischen stammende spatial turn lenkte in den vergangenen Jahren die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf diese analytische Schwachstelle.21 Er unterstrich die Notwendigkeit, ,Raum‘ als relevanten Faktor sozialer, kultureller und kommunikativer Prozesse einzubeziehen, denn gesellschaftlicher Wandel kann ohne eine kategoriale Neukonzeption der räumlichen Komponente nicht hinreichend erklärt werden.22 Es handelt sich dabei um einen „vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderung von Raum hindeuten.“23 Inzwischen hat sich auch die deutsche Geschichtswissenschaft des Themas angenommen und anerkannt, dass sich im kulturellen Gedächtnis zeitliche und räumliche Organisationsprinzipien wechselseitig verschränken.24 Für die topographischen Erinnerungsstätten gilt deshalb: Erinnerung ist zeitlich geordnet und ordnet die Zeit. Sie ist aber auch auf den Raum angewiesen, in dem und durch den sie sich entfalten kann.25 Das mit der Aufklärung erstarkte Bewusstsein der konkreten Andersartigkeit der Vergangenheit sowie des Entschwindens der Zeit verstärkte das Bedürfnis, Vergangenes auch materiell zu bewahren. Hierdurch hat der Raum als ein erinnerungsrelevanter Faktor an Bedeutung gewonnen. Der Drang zur Musealisierung von Vergangenheit führte zur Entstehung von materiellen Erinnerungsstätten, an denen die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben wird. Diese Stätten sind jedoch nicht nur Überreste von Vergangenheit.26 Die Erfassung, Wertschätzung und Konservierung des materiellen Erbes der Vergangenheit markieren lediglich eine erste Etappe auf dem Weg zur Erinnerungsstätte. Denkmäler sind mehr : Sie sind der Versuch, einen Ort zu konstituieren, an dem vergangenes Geschehen nachvollzogen werden kann. Mitgedacht werden müssen hier die Ergänzungen und Verformungen späterer Generationen, denn die Denkmallandschaft unterliegt einem permanenten Prozess der Veränderung. ,Raum‘ ist deshalb nichts Vorgegebenes, in dem Menschen sich bewegen, sondern entsteht durch das Zusammenspiel von Mensch und Ort. Er wird von Menschen selbst konstituiert, indem sich eine gesellschaftliche Gruppe seiner bemächtigt und ihn gleichsam kodiert. Gleichzeitig wirkt er aber auch auf diese Gruppe zurück, weshalb die Markschies/Huber, ,Tut dies zu meinem Gedächtnis‘, 25. Vgl. Döring/Thielemann, Spatial Turn. Vgl. Löw, Soziologie der Städte, 37. Bachmann-Medick, Cultural Turns, 289. Siehe auch: Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Aleida Assmann beharrt auf die Gegenständlichkeit von Orten und schreibt von deren Vermögen, die Erinnerung viel lebendiger anzuregen als bloße Berichte eines Ereignisses. Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. 25 Vgl. Damir-Geilsdorf/Hendrich, Orientierungsleistungen, 25 – 50. 26 Vgl. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, 17.

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Produktion sowie Aneignung von ,Raum‘ in einem wechselseitigen Verhältnis stehen.27 Für die Erinnerung bedeutet dies, dass sie in einen Raum hineinprojiziert wird und ihn herstellen oder strukturieren kann. Der Raum beeinflusst aber auch Erinnerung.28 Denkmäler erzeugen den Gedächtnisort auf der Grundlage einer spezifischen Aura historisch begründeter Authentizität, mit deren Hilfe Gegenwart und Vergangenheit verschränkt sind. Walter Benjamins berühmte Umschreibung der Aura lautet: „Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: Einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“29 Der Schritt zum ,auratischen Erinnerungsort‘ erfolgt nach Pierre Nora mit dem Aussterben des milieu de mmoire, welches die Entstehung eines lieu de mmoire erst ermöglicht.30 Dies trifft auf die Ästhetisierung von ehemaligen Gebrauchsgegenständen als musealisierte Objekte ebenso zu wie auf die schleichende Transformation einer Kirche von einem Ort des Kults in ein Museum. Im Ergebnis kann der Besucher die Vergangenheit, in die der Mythos hineinprojiziert wird, an Ort und Stelle mit den eigenen Sinnen erleben. Er lässt sich von der ,Aura des Ortes‘ berühren, wodurch ein Erinnerungsvorgang ausgelöst wird. Dieses Erlebnis wird mittels Souvenir, Reisebericht oder Postkarte materiell verstetigt und kommunikativ nachbereitet, wodurch der Besucher sich der Authentizität der touristischen Erfahrung nachträglich versichert. Wittenberg eignet sich als Untersuchungsgegenstand der räumlichen Dimension von Erinnerung, weil die Stadt über ein außergewöhnlich hohes Maß an historischer Authentizität verfügt. Die erst Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte Schleifung der Festungsanlagen, die verzögerte Industrialisierung sowie die Verschonung der Stadt im Zweiten Weltkrieg trugen zur Bewahrung des musealen Charakters des historischen Stadtbilds bei und wirkten positiv auf die Erinnerungskontinuität. Die auf die Reformationszeit bezogene Erinnerung ist deshalb nicht ,gebrochen‘ oder ,überlagert‘. Der massive Ausbau der Denkmallandschaft über die historische Substanz hinaus im preußischen 19. Jahrhundert lieferte wichtige Impulse zur Konservierung des Bestandes und zur Etablierung eines sinnlich erfahrbaren Ortes protestantischer Erinnerung.31 An dieser Stelle setzt folgende Arbeit an und untersucht die Produktion sowie Aneignung des reformationsgeschichtlichen Erlebnisraumes seit 1883. Mythos, Denkmal und Fest – Das Konzept des Erlebnisraums. Obwohl historische Erinnerung an Orten haften kann, ist diese keine organische Eigenschaft des Raumes. Historische Erinnerung ist vielmehr eine intentionale 27 28 29 30 31

Lefbre, Die Revolution der Städte, 25 – 35. Vgl. grundlegend: Simmel, Der Raum, 687 – 790. Benjamin, Das Kunstwerk, 471 – 508. Vgl. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Vgl. Treu, Wittenbergs Entwicklung zur Lutherstadt, 53 – 65.

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Bewusstseinsleistung der Menschen, die den Ort bewohnen oder besuchen. Entscheidend ist nicht der Raum, sondern dessen Wahrnehmung. Zu einem topographischen Erinnerungsort gehören deshalb Menschen, die sich auf den Mythos einlassen und ihn erfahren wollen, denn ohne Ereignis, Handlung und Geschehen kommt keine Erinnerung zustande.32 Erst das selbst Erfahrene beziehungsweise Erlebte konstituiert das Erinnerbare, es setzt die Möglichkeit für Erinnerung.33 Das persönliche Erleben ist seit Dilthey eine ,leibnahe Ganzheitskategorie‘, eine Einheit von Ich und äußerer Realität. Es spielt eine entscheidende Rolle dabei, dass Erkenntnis und Wissen um Geschichte nicht abstrakt bleiben, sondern identitätskonkret werden. Zu diesem Zweck wird die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart überbrückt, indem vergangenes Geschehen für den Zeitraum des Erlebnisses in die Gegenwart geholt wird. Vergangenheit und Gegenwart bilden somit im Erlebnis der Vergangenheit eine Einheit. Der durch das Erlebnis ermöglichte unmittelbare Kontakt mit der Vergangenheit geschieht in kognitiver und affektiver Auseinandersetzung des Menschen mit dem Raum. Die vor Ort gewonnene Erkenntnis sowie das an den Raum gebundene Erlebnis leiten, kanalisieren und kodieren Erinnerung. Der Erlebnisraum bietet Menschen die Möglichkeit, mythisch überhöhte Vergangenheit selbst zu erfahren. Hierfür werden Ereignisse nachgestellt, um jenseits der rationalen Ebene des Verstehens Emotionen zu erzeugen und hierdurch Erinnerung im Gedächtnis fest zu verankern. Dabei geht es jedoch nicht um einen bloßen Rückgriff auf die Vergangenheit. Der sinnliche Zugriff auf die Geschichte, das emotionale Erleben von vergangenem Geschehen aktualisiert dieses vielmehr zum Zweck sinnstiftender Erinnerung. Das Nachstellen von Vergangenheit ist kein zufälliger Prozess, sondern geschieht in der Regel über bewusst herbeigeführte Inszenierungen, zu denen beispielsweise Gottesdienste, Festzüge oder gemeinsame Feiern gehören. Es handelt sich um „Aufführungen, die der Selbstdarstellung und Selbstverständigung, Stiftung beziehungsweise Bestätigung oder auch der Transformation von Gemeinschaften dienen und unter Anwendung je spezifischer Inszenierungsstrategien und -regeln geschaffen werden.“34 Die direkte und aktive Beteiligung daran konstituiert Erinnerung, denn sie ist von bleibender Bedeutung für die Teilnehmer. Die Veranstalter zielen in erster Linie auf die emotionale, weniger auf die rationale Beeinflussung der Teilnehmer, denn ohne Affekt bleibt Erinnerung nur schwach.35 32 33 34 35

Vgl. Suter/Hettling (Hg.), Struktur und Ereignis. Vgl. Hettling, Das Denkmal als Fetisch, 49. Fischer-Lichte, Performance, Inszenierung, Ritual, 47. Hettling und Nolte sprechen von einer „emotionalen Selbstvergewisserung“ von Gesellschaften, die eine essentielle Funktion von Festen ausmacht. Vgl. Hettling/Nolte (Hg.), Bürgerliche Feste, 16; Sauerländer schreibt, es gehe darum, „nicht nur die Vernunft, sondern auch die Affekte zu erreichen, um Bewußtsein zu verändern.“ Siehe: Sauerländer, Aufklärung als kulturelle Aufgabe heute, 71.

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Nicht nur im Fest, sondern auch in der Form des Fremdenverkehrs kommen Ereignisse, Handlung und Geschehen als Grundvoraussetzung für Erinnerung zustande. Ähnlich wie das Fest begründet Tourismus sich „auf einer außeralltäglichen Erfahrung und […] quasi-sakralen Handlungen und Ritualen.“36 Mit den bisher in Bezug auf historische Stätten dominierenden Forschungsansätzen, die sich mit historischer Erinnerung beschäftigen, ist aber der touristische Charakter von Orten nicht hinreichend beziehungsweise gar nicht zu beschreiben. Tourismus erscheint danach maximal als störende Variante und Beeinträchtigung des Gedenkens.37 Sinnvoll erscheint deshalb eine Forschungsperspektive, bei der Touristen keine passive, sondern eine aktiv-partizipierende Rolle einnehmen. Dem Fremdenverkehr ist eine gestaltende Kraft zuzurechnen, die in Wittenberg sowohl auf die Ausprägung der Denkmallandschaft als auch auf die Gestaltung der Reformationsjubiläen maßgeblichen Einfluss ausübte. Tourismus gewann im Untersuchungszeitraum vorliegender Arbeit zunehmend Bedeutung als ,Erinnerungsgenerator‘.38 Hatte sich beispielsweise das Reformationsjubiläum zunächst unabhängig von touristischem Zuspruch entwickelt, so scheint ein historisches Jubiläum heute nicht mehr denkbar ohne auswärtige Besucher. Im Ergebnis erklärt sich Wittenberg nicht nur aus den Institutionen vor Ort, sondern auch daraus, was Menschen aus der ganzen Welt dort suchen. Eine Analyse des Erlebnisraums muss deshalb auch der touristischen Perspektive Rechnung tragen. Ereignis, Handlung und Geschehen sind zugleich symbolisch und sozial. Auf der Suche nach „den charakteristischen Sozialstrukturen und den ihnen entsprechenden symbolischen Formen“ ist es deshalb erforderlich,39 die ReInszenierungen von vergangenem Geschehen in ihren Abläufen sowie das Ineinandergreifen der verschiedenen Bestandteile zu analysieren, denn in Ritualen zeigt sich das Zusammenspiel des Körperlichen und des Symbolischen. Festzüge, Festreden und Jubiläumspredigten lassen sich als Rituale lesen, die Vergangenheit in der Gegenwart präsent halten. Neben den performativen Formen spielt dabei auch die Ausgestaltung des Stadtraums sowie die Sprache der Symbolik und der Bilder eine Rolle, denn soziales und symbolisches Handeln bedingen einander. Es geht nicht nur um die Spezifik der Symbolsprache, sondern auch um das, „was den Symbolen Leben verleiht, ihre

36 Wenzel, Abenteuer der Kommunikation, 133. – Zur außeralltäglichen Dimension von Festen bzw. zur Einmaligkeit des Erlebnisses vgl. Gebhardt, Fest, Feier, Alltag, 52 – 87; Maurer, Feste und Feiern, 101 – 130. 37 Zu den wenigen historiographischen Arbeiten, die den Fremdenverkehr in das Zentrum der Produktion von Erinnerung stellen, gehört die Dissertation von Sybille Frank, die die Bedingungen einer touristischen Rezeption von vergangenem Geschehen analysiert. Vgl. Frank, Der Mauer um die Wette gedenken, 15. 38 Vgl. Reichelt, Antiquarische Wissensvermittlung. 39 Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, 18.

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Verwendung“.40 Darüber hinaus ist die Frage der medialen Vermittlung von Gedächtnisinhalten, die sich in sprachlicher ebenso wie in bildlicher und ritueller Form artikuliert, von Bedeutung, denn sie verweist auf Mentalitäten und soziales Handeln der jeweiligen Teilnehmer. Die am Beispiel des protestantischen Erinnerungsortes Wittenberg aufzuzeigende spezifische Verbindung von Raum und Erinnerung im ,historisch langen Bogen‘ lässt sich anhand des von Manfred Hettling vorgeschlagenen theoretischen Konzepts des Erlebnisraums untersuchen, welches der wechselseitigen Verschränkung von historischer Erinnerung, kulturellem Selbstverständnis und sozialer Praxis Rechnung trägt. Über die Kategorie des Erlebnisraums können die verschiedenen Ausdrucksformen des kulturellen Gedächtnisses als integrale Bestandteile kollektiver Erinnerung erfasst, beschrieben und analysiert werden. Zentrale Voraussetzung hierfür ist die gemeinsame Untersuchung der Trias Mythos, Denkmal und Fest. Der mythische Ursprung, auf den die Erinnerung sich bezieht, das Denkmal, das durch seine Aura der Authentizität das Erlebnis der Vergangenheit stimuliert, sowie das Ereignis beziehungsweise Geschehen, welches Vergangenheit und Gegenwart für den Moment des Erlebnisses verschmelzen lässt, müssen gemeinsam untersucht werden.41

2. Stand der Forschung und Quellenlage Stand der Forschung. Die Geschichte der Stadt Wittenberg hat als Forschungsgegenstand jenseits der Reformationshistorie bisher nur wenig Aufmerksamkeit erfahren. Die letzte umfassende Gesamtdarstellung der Wittenberger Stadtgeschichte stammt aus der Feder des Heimatforschers Richard Erfurth und ist in zwei Bänden 1910 und 1927 erschienen.42 Eine 1979 publizierte Darstellung Wittenberg als Lutherstadt von Helmar Junghans liefert erste Ansätze für eine umfassende, modernen wissenschaftlichen Standards genügende Gesamtdarstellung.43 Da diesem Buch jedoch kein archivalisches Quellenstudium zu Grunde liegt und sein Inhalt aus anderen Arbeiten zusammengestellt wurde, ist der Erkenntniszugewinn begrenzt. Der im Kontext vorliegender Arbeit besonders interessanten Reformationserinnerung widmete Junghans außerdem nur ein kurzes, abschließendes Kapitel. Im Gegensatz hierzu bietet die in den Jahren 1977 bis 1991 jährlich einmal erschienene Schriftenreihe des stadtgeschichtlichen Museums neue Erkenntnisse zu Teil40 Geertz, Dichte Beschreibung, 193. 41 Vgl. Hettling, Erlebnisraum und Ritual; ders., Das Denkmal als Fetisch. 42 Vgl. Erfurth, Geschichte der Stadt Wittenberg, Teil 1, Wittenberg 1910; ders., Geschichte der Lutherstadt Wittenberg, Teil 2, Wittenberg 1927. 43 Junghans, Wittenberg als Lutherstadt.

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gebieten der Wittenberger Stadtgeschichte auf der Grundlage einer zum Teil recht umfangreichen Quellenarbeit, liefert aber zum 19. und 20. Jahrhundert kaum neue Erkenntnisse. Um die reformationsgeschichtliche ,Schlagseite‘ der Stadthistoriographie zu beheben, hat es sich ein anlässlich des 1993 gefeierten Stadtjubiläums erschienener Aufsatzband zur Aufgabe gemacht, „die Geschichte Wittenbergs umfassend darzustellen und damit die in der Vergangenheit herrschende Fixierung auf einige herausragende Persönlichkeiten und Epochen der Stadtgeschichte aufzubrechen“.44 Die Autoren widmen sich Detailfragen aus der Sicht ihres jeweiligen Forschungsschwerpunktes, verlieren dabei jedoch oftmals den Blick aufs Ganze. Außerdem lässt ein Teil der Aufsätze den notwendigen Gang in die Wittenberger Archive vermissen. Seitens der Kommune ist danach kein weiterer Versuch mehr unternommen worden, eine quellenfundierte, wissenschaftlich abgesicherte und neuere Fragestellungen aufnehmende Bearbeitung der Wittenberger Stadtgeschichte zu initiieren. Einen gewissen Ausgleich für die wenigen wissenschaftlichen Vorarbeiten zum Untersuchungsgegenstand Wittenberg bieten die zahlreichen touristisch orientierten beziehungsweise populärwissenschaftlich angelegten Publikationen, die seit dem späten 19. Jahrhundert erschienen sind. Vor allem die Wittenberger Denkmallandschaft oder einzelne Lutherstätten haben immer wieder publizistische Aufmerksamkeit erfahren. Eine besondere Bedeutung haben in diesem Kontext die vielen Veröffentlichungen des Lutherhallendirektors Oskar Thulin aus den 1930er bis 1960er Jahren, von denen das 1960 erstmals aufgelegte Buch Die Lutherstadt Wittenberg und ihre reformatorischen Gedenkstätten Zusammenfassung und Höhepunkt in Thulins publizistischem Schaffen darstellt.45 Die 1979 von Friedrich Bellmann und Sybille Harksen herausgegebenen Denkmale der Lutherstadt Wittenberg46 haben im Gegensatz hierzu einen stärker wissenschaftlichen Charakter, aber beschränken sich ebenso wie Thulins Publikationen überwiegend auf kunst- und architekturgeschichtliche Fragestellungen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die Geschichtswissenschaft unter dem Stichwort der Geschichtskultur verstärkt außerakademischen Formen des Umgangs mit der Vergangenheit zugewendet. Unter ,Geschichtskultur‘ ist nach einer Definition von Wolfgang Hardtwig „die Gesamtheit der Formen, in denen Geschichtswissen in einer Gesellschaft präsent ist“,47 zu verstehen. Vor allem die kulturellen Äußerungsformen von Geschichtswissenschaft jenseits einer rein akademischen Beschäftigung mit der Vergangenheit stehen dabei im Zentrum der Aufmerksamkeit. Als bevorzugter Untersuchungsgegenstand der Geschichtskultur haben sich vor allem 44 45 46 47

Oehmig (Hg.), 700 Jahre Wittenberg, 9. Vgl. Thulin, Die Lutherstadt Wittenberg und ihre reformatorischen Gedenkstätten. Vgl. Bellmann/Harksen, Denkmale der Lutherstadt Wittenberg. Hardtwig, Geschichtskultur und Wissenschaft, 8.

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Feste und Denkmäler herausgestellt, die oft eng aufeinander bezogen sind. Die Beschäftigung mit Denkmälern hat in der Geschichtswissenschaft keine sehr lange Tradition. Es waren zunächst die Nationaldenkmäler des 19. Jahrhunderts, die ab den späten 1960er Jahren zu einer intensiveren Auseinandersetzung anregten und zum Untersuchungsgegenstand einer ideengeschichtlich orientierten Historiographie wurden. An führender Stelle sind die Veröffentlichungen von Thomas Nipperdey zu nennen.48 Mit der kulturalistischen Wende der 1990er Jahre rückten die Denkmäler verstärkt in das Zentrum der Aufmerksamkeit, da viele Geisteswissenschaftler die Bedeutung von subjektiven Wahrnehmungen entdeckten. Unter Rückbeziehung auf das aus den 1920er Jahren stammende Konzept der sozialen Verfasstheit von Erinnerung von Maurice Halbwachs sowie den darauf aufbauenden Arbeiten von Pierre Nora,49 Jan und Aleida Assmann und weiteren Pionieren der Erinnerungskultur erhielt die Beschäftigung mit Sinnstiftungsmustern, Symbolen, Ritualen und kulturellen Deutungsmustern Eingang in viele denkmalbezogene historiographische Forschungsprojekte. Dabei wurde auch der Prozesscharakter von Erinnerung deutlich. Insbesondere Charlotte Tacke wies darauf hin, Denkmäler nicht als statische Zeugnisse einer vergangenen Zeit zu analysieren, sondern sie in einen sich stetig verändernden sozialen Raum einzuordnen.50 Die auf Wittenberg bezogene Denkmalforschung hat diese Erkenntnisse bisher nur partiell berücksichtigt. Mit Schlosskirche und Lutherhaus sind zwei herausragende Wittenberger Lutherstätten im ,Zeitalter der kulturalistischen Wende‘ wissenschaftlich gewürdigt worden. Der 1998 entstandene Aufsatzband über die Schlosskirche anlässlich einer Sonderausstellung sowie Martin Steffens aktuelle Dissertation über die Lutherstätten im 19. Jahrhundert schenken jedoch der rituellen Einbindung der Denkmäler in Form von Einweihungsfesten und Reformationsjubiläen und der touristischen Nutzung der Bauwerke wenig Beachtung.51 Ein knapp gehaltener Aufsatz von Martin Treu trägt diesem Gedanken zwar stärker Rechnung und merkt beispielsweise an, dass der 1892 stattgefundene historische Festzug einer eigenen Untersuchung bedürfe.52 Bisher ist diese jedoch ausgeblieben. Dagegen wendet sich Stefan Laube in seiner 2003 erschienenen Museumsgeschichte des Lutherhauses nicht nur Fragen der Bau- und Ausstellungsgeschichte zu, sondern ordnet das Denkmal in den Gesamtkontext der Denkmallandschaft ein und analysiert insbesondere den sozialen Raum des Denkmals.53 Methodisch 48 Grundlegend hierzu vor allem der Aufsatz von 1968. Vgl. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal. 49 Zum Konzept der ,lieux de mmoire‘ vgl. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, 19 ff. 50 Vgl. Tacke, Denkmal im sozialen Raum. 51 Vgl. Hennen/Steffens (Hg.), Von der Kapelle zum Nationaldenkmal; Steffens, Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert. 52 Treu, Reformation als Inszenierung, 15 – 30. 53 Vgl. Laube, Das Lutherhaus Wittenberg.

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verfolgt die Arbeit eine kulturgeschichtliche Herangehensweise und berücksichtigt auch die Wittenberger Reformationsjubiläen sowie die Entwicklung des Fremdenverkehrs in der Lutherstadt. Dass Laube die Untersuchung des denkmalpflegerischen Umgangs mit dem Lutherhaus nach dessen Eröffnung als Museum 1883 relativ knapp hält, ist für die vorliegende Arbeit bedauerlich, bot aber auch die Chance, die nunmehr gut erforschte Museumsgeschichte um wichtige Aspekte zu ergänzen. Einen partiellen Ausgleich für die von Laube hinterlassene Leerstelle vermochte bereits Insa Christiane Hennen zu liefern. Sie widmete sich dem Thema der politischen Denkmalpflege und war dankenswerterweise bereit, ihre bisher noch unveröffentlichte Untersuchung über den denkmalpflegerischen Umgang mit dem Gebäude in den 1930er Jahren zur Verfügung zu stellen.54 Einen ähnlichen Forschungsansatz wie Hennen betrieb der Historiker Jürgen Krüger, der die Wittenberger Schlosskirche jenseits einer rein architekturgeschichtlichen Bedeutung in den breiteren Kontext der Wilhelminischen Kirchenpolitik einordnete und wichtige Anregungen für die vorliegende Untersuchung der Wittenberger Denkmallandschaft lieferte.55 Nicht nur Denkmäler, sondern auch Feste ,entdeckte‘ die jüngere historische Forschung als Untersuchungsgegenstand der Geschichtskultur. Dabei standen vor allem Feste als anthropologische Konstante, als Abbild sozialer Beziehungen sowie Fragen der Herrschaftslegitimation und -stabilisierung im Mittelpunkt.56 Der DFG-Sonderforschungsbereich in Dresden hat die Festforschung in den letzten Jahren hinsichtlich der Jubiläumskultur ergänzt. Vor allem an dort entstandene Arbeiten zum Reformationsjubiläum konnte im Kontext der vorliegenden Untersuchung angeknüpft werden.57 Von den Wittenberger Reformationsjubiläen sind bisher nur das Lutherjubiläum 1883,58 das Lutherfest 193359 und das Melanchthonjubiläum 196060 erforscht worden, während die beiden Jubiläen 1967 und 1983 zumindest als ,Nebenprodukt‘ der Müntzerforschung Beachtung gefunden haben.61 Keine der genannten Arbeiten basiert jedoch auf einer Auswertung Wittenberger Archivbestände. Außerdem galt das Interesse der Autoren jeweils dem punktuellen Ereignis. Um jedoch das Jubiläum als institutionellen Mechanismus mit der ihm eigenen kulturellen Selbstverständlichkeit zu verstehen, ist eine epocheübergreifende Darstellung notwendig, denn Funktionen und Gestaltungsformen des Jubiläums mitsamt ihrer Veränderungen erschließen sich erst anhand einer Untersuchung, die mehrere aufeinander folgende Feiern in den Blick nimmt. 54 55 56 57 58 59 60 61

Vgl. Hennen, Von sinnwidrigen Um- und Ausbauten der letzten Jahrhunderte befreit. Vgl. Jürgen Krüger, Rom und Jerusalem. Vgl. Überblick in: Maurer, Feste und Feiern. Vgl. Müller (Hg.), Das historische Jubiläum. Vgl. Düfel, Das Lutherjubiläum 1883. Vgl. Bräuer, Der urdeutsche und tief christliche Reformator. Vgl. Bräuer, Das Melanchthonjubiläum 1960. Vgl. Fleischauer, Die Enkel fechten’s besser aus.

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Einleitung: Erinnerung und Erinnerungskultur im Protestantismus

Da der Jubiläumsmechanismus in Wittenberg eng mit der touristischen Entwicklung der Stadt verknüpft ist, galt das Interesse des Autors auch dem Fremdenverkehr, der bisher noch nie Gegenstand einer historiographischen Untersuchung gewesen war. Eine 2010 veröffentlichte, knapp gehaltene Überblicksdarstellung des Autors bot erste Teilergebnisse, die in vorliegender Arbeit ergänzt und in den Gesamtkontext des Untersuchungsgegenstands eingeordnet wurden.62 Quellenlage. Die auf Wittenberg bezogene Quellenbasis kann als hervorragend bezeichnet werden. Dies bezieht sich sowohl auf die materielle Stadtgestalt, die ein ungewöhnlich hohes Maß an Kontinuität aufweist, als auch auf die papierenen Zeugnisse der Vergangenheit, die fast lückenlos in mehreren lokalen Archiven bewahrt werden. Die in der vorliegenden Arbeit gepflegte Herangehensweise an dieses historische Quellenmaterial trägt dem vorgefundenen Archivbestand Rechnung und kann am besten mit einem breit angelegten Kontextualisierungskonzept umschrieben werden. Durch die Auswertung der kommunalen, musealen und kirchlichen Archivüberlieferung, der sehr ergiebigen Lokalpresse sowie den im Archivbestand ebenfalls vorgehaltenen touristischen Veröffentlichungen, Jubiläumsfestschriften und diversen lokalhistorischen Arbeiten werden die Konstruktionsdiskurse und Akteure transparent. In den vier für vorliegende Arbeit relevanten Wittenberger Archiven ist das Geschehen des Untersuchungszeitraums gut dokumentiert, aber bisher wenig erschlossen worden. Für die Zeitabschnitte Kaiserreich und Weimarer Republik sind vor allem die Archive des Predigerseminars und der Stadtkirchengemeinde aussagekräftig, denn beide Institutionen hatten einen großen Einfluss auf die in Wittenberg betriebene Erinnerungspolitik ausgeübt und die Verantwortlichen waren sich ihrer Dokumentationspflicht gegenüber nachfolgenden Generationen bewusst. Ergänzt werden die ,hauseigenen‘ Archivalien durch mehrere Privatsammlungen Wittenberger Bürger, die nach deren Tod in die kirchlichen Archive gelangt sind und eine wertvolle Ergänzung der Bestände bieten. Zu nennen sind hier vor allem die Sammlung des Verlegers Max Senf im Archiv des Predigerseminars sowie die Sammlung des Heimatforschers Heinrich Kühne im Archiv der Stadtkirchengemeinde. Das vorbildlich erarbeitete Findbuch des Stadtkirchenarchivs sowie das enzyklopädische Wissen des Leiters der Bibliothek des Predigerseminars Stefan Lange erleichterten zudem die Arbeit am Untersuchungsgegenstand. Das Archiv der Stiftung Luthergedenkstätten bietet vor allem ab dem Zeitpunkt des Amtsantritts des ersten hauptamtlichen Direktors Oskar Thulin im Jahr 1930 eine reichhaltige Quellenbasis. Da das Archiv jedoch erst im Jahr 2008 einer ersten vorläufigen Ordnung der Bestände unterzogen wurde, erforderte die Suche nach Informationen Zeit und Geduld. Der administrativen 62 Vgl. Reichelt, Luthertourismus in Wittenberg im 20. Jahrhundert.

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Zuordnung des Luther- sowie des Melanchthonhauses zur Stadt Wittenberg während der Zeit der DDR ist es geschuldet, dass sich viele die Museen betreffenden Vorgänge nicht vollständig erschließen lassen. Hier könnte ein Gang ins Stadtarchiv manche Frage beantworten helfen. Leider listen dessen Findbücher Archivalien zur Stadtgeschichte nach 1945 nicht auf und erschweren somit eine wissenschaftliche Bearbeitung dieses Zeitraumes. Während die Vorgänge des Kaiserreichs und der Weimarer Zeit im Archiv der Kommune gut dokumentiert sind und für eine wissenschaftliche Bearbeitung auch zur Verfügung stehen, weisen sie für die Zeit des Dritten Reiches große Lücken auf. Diese Lücken lassen sich nicht ausschließlich auf eine mangelhafte Archivierung der Vorgänge in dieser Zeit, sondern wohl vor allem auf eine nachträgliche ,Bereinigung‘ zurückführen. Noch ungünstiger sind die im Stadtarchiv gegebenen Voraussetzungen für die Erforschung der Zeit nach 1945. Weder Findbücher noch Mitarbeiter geben Auskunft über die vorhandenen Archivbestände zu diesem Zeitabschnitt, sodass im Stadtarchiv lediglich eine mangelhaft archivierte Sammlung von Dokumenten im Zusammenhang mit dem Lutherjubiläum 1983 sowie die für den gesamten Zeitabschnitt lückenlos vorhandenen Bestände der Lokalzeitung eingesehen werden konnten. Die diesbezüglich korrekt geführten und auch einsehbaren Archivbestände der Stadtkirchengemeinde und des Evangelischen Predigerseminars können hier nur als marginaler Ersatz dienen, denn der Einfluss kirchlicher Stellen auf das Geschehen innerhalb des Binnenraums Stadt in der Zeit der DDR trat hinter deren Bedeutung in der Zeit vor 1945 deutlich zurück. Vor allem hinsichtlich kommunaler Handlungsspielräume im Zeitabschnitt 1945 bis 1989 müssen viele Fragen deshalb leider offen bleiben und es ist zukünftigen Forschergenerationen überlassen, die vorliegende Arbeit diesbezüglich zu ergänzen, sobald die Zustände im Wittenberger Stadtarchiv es erlauben.

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I. Einheit von Thron und Altar : Wittenberg 1883 – 1918 1. Zwischen sächsischer Vergangenheit und preußischer Identität 1.1 Das Interesse der Hohenzollern Nachdem die Stadt Wittenberg 1817 in den Hoheitsbereich des preußischen Königshauses gefallen war, bestimmten drei zentrale Ziele das auf die Lutherstadt bezogene politische Handlungsfeld der Hohenzollern: Unmittelbar nach dem Wiener Kongress musste Wittenberg aus seiner über Jahrhunderte gewachsenen Einbettung in das sächsische Territorium herausgelöst und in das preußische Landesregiment integriert werden. Dabei galt es, den mit dem Übergang an Preußen verbundenen Bedeutungsverlust so schmerzfrei wie möglich zu gestalten. Ein zweites Interessenfeld umfasste die innerstaatliche Konsolidierung des größer gewordenen preußischen Staatsgebildes auf dem Weg der Bekenntniseinheit, wofür Wittenberg als Symbolort des Protestantismus prädestiniert war. Auf dem Weg zu einer nationalstaatlichen Einigung bot sich, drittens, die Stadt in der zweiten Jahrhunderthälfte über die Grenzen des preußischen Staatsterritoriums hinaus als kleindeutsch-nationaler Erinnerungsort an, weshalb der Ausbau zur reformationsgeschichtlichen Denkmallandschaft nach der Reichseinheit 1871 forciert wurde. Als Ergebnis der napoleonischen Kriege musste das Königreich Sachsen weite Teile seines Territoriums an die siegreichen Preußen abtreten. Auch Wittenberg schied aus dem Kernland der Reformation und fiel, als Teil der neu gegründeten preußischen Provinz Sachsen, an die Hohenzollern, womit ein Bedeutungsverlust verbunden war : Noch 1893 anlässlich des Stadtjubiläums formulierte die Lokalzeitung: Einst eine fürstliche Residenz, jetzt eine einfache Provinzstadt, einst eine berühmte und besuchte Universität, jetzt der Hochschule beraubt, einst der Brennpunkt des geistigen Lebens in Deutschland, jetzt eine stille und bescheidene Stadt wie andere auch.1

Das Hauptanliegen der Hohenzollern nach 1817 bestand deshalb in der Übertragung eines althergebrachten und psychologisch tief verwurzelten partikularen und regionalen Bewusstseins in eine neue Ordnungs- und Neu-

1 Unser Doppelfest, in: Wittenberger Tageblatt vom 30. Juni 1893.

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Zwischen sächsischer Vergangenheit und preußischer Identität

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tralitätsverpflichtung.2 Aus der sächsischen Universitätsstadt sollte eine dem preußischen Königshaus treu ergebene Garnisonsstadt werden. Die gewünschte politische Identitätsbildung setzte ein soziales Engagement seiner Bewohner voraus und richtete sich auf ein historisch, dynastisch und territorialstaatlich definiertes Landesterritorium. Die Annäherung zwischen Preußen und der Lutherstadt erfolgte im 19. Jahrhundert auf zwei kommemorativen Ebenen: Eine tragende Säule bildete die konfessionelle ,Memoria Lutheri‘, die andere die Erinnerung an die Befreiungskriege sowie der darauf folgende Ausbau der Stadt zur preußischen Garnison.3 In Verbindung beider Ereignisse steigerten sich im 19. Jahrhundert besonders in Wittenberg die religiöse Aufladung der Befreiungskriege und die Heroisierung Luthers in der Feier des ,Deutschen Luther‘, wie Stefan Laube in einem Aufsatz ausführt.4 Der Wittenberger Weg zum preußisch-deutschen Luther begann deshalb mit dem Kampf gegen die napoleonischen Truppen und wurde erstmals im Jubiläumsgeschehen 1817 ausformuliert. Der enge Konnex zwischen einem einschneidenden politischen Ereignis und der im Jubiläum vergegenwärtigten Reformationserinnerung haben zu einer besonderen symbolischen Aufladung und Verstärkung des Erinnerns an die Ereignisse des 16. Jahrhunderts geführt.5 Anhand der Denkmallandschaft lässt sich das Bemühen der Hohenzollern ablesen, Wittenberg dauerhaft in das preußische Staatsterritorium einzubinden. So zeigt beispielsweise die Ende des 19. Jahrhunderts neu gestaltete Schlosskirche den Versuch, die politischen Handlungsträger der Reformation und das preußisch-deutsche Kaiserhaus in eine genealogische Beziehung zu setzen. An der Begräbnisstätte der beiden wichtigsten deutschen Reformatoren sowie ihrer sächsischen Schutzherren, der Kurfürsten Friedrich der Weise und Johann der Beständige, sollte der Verweis auf die Hohenzollern eine neue Traditionslinie begründen, welche die ursprünglich sächsische fortsetzen konnte. Die anlässlich der Einweihung des neuen Thesenportals 1858 gehaltene Predigt wies ausdrücklich darauf hin, dass der Stifter in die Fuß-

2 Zur Transformation von politischen Loyalitäten im 19. Jahrhundert vgl. Klein, Zwischen Reich und Region; Hardtwig, Nation-Region-Stadt. 3 Der Lehrer und Heimathistoriker Richard Erfurth verfasste anlässlich des 100. Jahrestages der preußischen Erstürmung Wittenbergs ein Festspiel. Vgl. Erfurth, Vom Joche erlöst. 4 Vgl. Laube, Inszenierte Jubelgeschichten, 108. 5 Bereits Stefan Laube wies auf die typischen „Abgrenzungs- und Verschmelzungserscheinungen von Liturgie und Volksfest, Heils- und Zeitgeschichte“ in Wittenberg hin. Vgl. Laube, Inszenierte Jubelgeschichten, 103. – Mehrfach rückten Wendepunkte der Stadtgeschichte in die zeitliche Nähe zu herausragenden Reformationsjubiläen: Am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges ist das erste Reformationsjubiläum im Alten Reich begangen worden. Die Initiative hierfür ging von den Wittenberger Professoren aus, die in ihren Jubelreden die Universitätsstadt als ,neues Jerusalem‘ und ,deutsches Zion‘ gepriesen hatten. Das Jubiläum 1817 fällt in die Zeit der Übergabe der Stadt an Preußen sowie die Schließung der Universität. Beim Jubiläum 1917 stehen der verlorene Krieg und das Ende der Monarchie am Horizont.

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Einheit von Thron und Altar : Wittenberg 1883 – 1918

stapfen Friedrichs des Weisen getreten sei.6 Bei der Lutherfeier 1883 hatte der Bürgermeister Dr. Schild formuliert, dass „das glorreiche, erlauchte, fromme Geschlecht der Hohenzollern“ die Mission übernahm, „Schutz- und Schirmherr der evangelischen Kirche zu werden.“7 Und in seiner Ansprache anlässlich der Einweihung des Gotteshauses am Reformationstag 1892 erinnerte der Bürgermeister daran, dass die Erinnerung der Stätte mit drei Fürstenhäusern verknüpft sei – den Askaniern als erstes Wittenberger Herrschergeschlecht, den zwischen 1422 und 1815 über Wittenberg gebietenden Wettinern und den Hohenzollern.8 Letztere wurden zum wichtigsten gegenwärtigen Garanten für die Bewahrung des reformatorischen Erbes. Die politischen Ziele Preußens reichten jedoch über eine landesherrliche Integration ehemals kursächsischer Territorien hinaus. Wittenberg sollte zum religiösen Zentrum des protestantischen Königreichs ausgebaut werden. Eine wichtige Voraussetzung hierfür war die Überwindung der Bekenntnisspaltung zwischen dem seit 1613 der reformierten Konfession zugehörigen preußischen Herrscherhaus und einer mehrheitlich lutherischen Bevölkerung. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. vollzog am 31. Oktober 1817 zunächst die Vereinigung der bisherigen reformierten und lutherischen Hof- und Garnisonsgemeinde zu einer evangelisch-christlichen Gemeinde in Potsdam und wohnte am nächsten Tag der Einweihung der erneuerten Schlosskirche sowie der Grundsteinlegung des Lutherdenkmals auf dem Marktplatz in Wittenberg bei.9 Er vollzog auf diese Weise symbolisch die Vereinigung altund neupreußischer Gebiete sowie die Einheit im Bekenntnis, welche durch die Gründung des ersten deutschen Predigerseminars in der Lutherstadt institutionalisiert wurde: „Die Wahl des Ortes war zwar wesentlich durch seine spezifische politische Konstellation bedingt, sein symbolischer Wert wurde jedoch mit der Seminargründung wirkungsvoll inszeniert.“10 Die Gründung tröstete die Wittenberger zudem über den mit dem Ende der sächsischen Zugehörigkeit erlittenen Verlust der Universität hinweg. Mit dem Ausbau Wittenbergs zur Lutherstadt schufen die Preußen eine wichtige Voraussetzung für die protestantisch geprägte kleindeutsche Lösung im Kaiserreich unter Führung des Hauses Hohenzollern, „das in seiner führenden Stellung nur als evangelisches Fürstenhaus verständlich“11 sei, wie ein Ausstellungsführer durch die Lutherhalle einhundert Jahre später betont. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der kleindeutsch orientierte Nationalismus auch jenseits preußischer Grenzen gesellschaftliche Gruppen erreicht, die zuvor in politisch-regionalen oder dynastisch-loyalen Kategorien Ausführlich bei: Steffens, Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert, 272. Ansprache Dr. Schild, in: Der Luthertag in Wittenberg 1883. Vgl. Wattrodt, Die Einweihung der Schlosskirche. Eine knappe Darstellung des Wittenberg-Besuchs des preußischen Herrschers bei: Wappler, Reformationsjubiläum und Kirchenunion, 112 f. 10 Weye, Praktische Bildung zum Pfarrberuf, 117. 11 Vgl. Jordan, Lutherhalle Wittenberg. Führer 1919, 10. 6 7 8 9

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gedacht hatten. Weil der politische Raum, der nun Loyalität verlangte, sich vergrößerte, nahm auch die Fixierung auf die gemeinsamen historischen Wurzeln zu. Dieser Raum umfasste die gesamte Nation, die durch ihre Geschichte sowie die Orte, an denen sie sich abgespielt hat, definiert wurde.12 Wittenberg wurde auf diese Weise zur nationalen Erinnerungsstätte, denn das Herrscherhaus machte Luther erst zum religiösen Begründer des evangelischen Kaisertums, später zum Heroen aller Deutschen. Zwecks symbolpolitischer Absicherung ihres Führungsanspruchs engagierten sich die Hohenzollern nicht nur für die Bewahrung und den Ausbau der reformationshistorischen Denkmallandschaft Wittenbergs, sondern wurden auch ein Teil davon. Friedrich Wilhelm IV. hatte sich am bronzenen Thesenportal als Stifter nennen lassen; die Inschrift betont die Legitimität preußischer Herrschaftsansprüche in Luthers Stadt. In der 1883 eröffneten Lutherhalle standen die Büsten Friedrich Wilhelms III. und IV., später auch die des Kaisers Wilhelm I. und seines Kronprinzen Friedrich Wilhelm, den Bildern der wettinischen Herrscher des 16. Jahrhunderts gegenüber. Durch die prominente Platzierung der Autographen der Hohenzollern in der Ausstellung wurde dieses Ansinnen zusätzlich unterstrichen.13 Vor der Schlosskirche errichtete die Wittenberger Bürgerschaft 1894 ein Denkmal für den Kronprinzen Friedrich Wilhelm, der sich besonders für den repräsentativen Wiederaufbau der Schlosskirche engagiert hatte. Dessen Sohn, der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II., ließ eigens für die Einweihung 1892 eine thronähnliche Sitzgelegenheit anfertigen, die als Kaiserstuhl bezeichnet wird. Der Stuhl sollte die Bedeutung des preußischen Landesherrn als Oberhaupt seiner Kirche unterstreichen. Er sah sich dort „als Mittler zwischen Gott und den Untertanen, in der Rolle eines Hohepriesters, der zwischen Himmel und Erde vermittelt“.14 Durch die Aufstellung des Stuhls wurde die räumliche Nähe von Thron und Altar auf singuläre Weise dargestellt. Der seit dem 18. Jahrhundert geführte Kampf um die Vorherrschaft im Corpus Evangelicorum war hier symbolpolitisch zum Höhepunkt gelangt. Vor allem unter Wilhelm II. verschränkte sich Lutherkult und Kaiserverehrung; der Reformator ebenso wie der Kaiser wurden zu Schirmherrn der evangelischen Kirche stilisiert. Der Turm der Schlosskirche, ein ,Pharos des Protestantismus‘, macht diese Doppeldeutung weithin sichtbar : Der ihn umschließende Fries weist auf den Lutherchoral Ein feste Burg ist unser Gott, während die an die Kaiserkrone erinnernde Turmbekrönung die Hohenzollernherrscher als Schutzherren herausstellt.15 Konfessionell war Wilhelm II. 12 Vgl. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, 349; In diesem Sinne diente die Reformationserinnerung auch der Herstellung einheitlicher Untertanenverbände, für deren Zustandekommen materielle Erinnerungsorte und Gemeinschaft stiftende Erinnerungspraktiken aufgeboten werden mussten. 13 Vgl. Jordan, Lutherhalle Wittenberg. Führer 1919, 10. 14 Benner, Die Strahlen der Krone, 357. 15 In der ursprünglichen, von Kronprinz Friedrich Wilhelm maßgeblich beeinflussten Planung

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zwar im Gegensatz zu seinen Vorgängern weitgehend indifferent,16 aber die in Wittenberg betriebene Denkmalpolitik und das damit verbundene Zeremoniell dienten ihm erfolgreich als Projektionsfläche seiner dynastischen Ansprüche. Auch nach der Abdankung des letzten Kaisers riss das Interesse der Hohenzollern nicht ab: Noch am Luthergeburtstag 1933 legte Graf Plateau im Auftrag Wilhelms II. einen Kranz auf dem Grab in der Schlosskirche nieder.17

1.2 Wittenbergs Ausbau zur Denkmallandschaft Bis in das 18. Jahrhundert hinein bedurfte es in Wittenberg keiner besonderen Erinnerungszeichen und Bauwerke, um die herausragende Stellung der Stadt in der Reformationsgeschichte zu unterstreichen. Die Erinnerung blieb vor allem durch die Universität lebendig, die seit 1617 zum Hauptträger der Reformationsjubiläen geworden war und auch das bauliche Erbe der Reformation durch Weiternutzung für akademische Zwecke weitgehend bewahrt hatte. Der enge Zusammenhang von Reformations-, Universitäts- und Stadtgeschichte ermöglichte die Genese eines besonderen Selbstverständnisses, das durch die herausgehobene Eigengeschichte legitimiert war und von einem akademisch-protestantischen milieu de mmoire von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Mit dem Verlust der Hochschule sowie den Ereignissen der napoleonischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts verlor die Stadt jedoch die alten Trägerschichten der Reformationserinnerung. Auch das materielle Erbe der Reformation war bedroht. So wurde erwogen, aus dem Lutherhaus ein Proviantgebäude zu machen.18 Universitätsbauten und der Schlosskomplex wurden zu einer Kaserne umfunktioniert; Schloss- und Stadtkirche dienten zeitweilig als Pferdeställe und Lazarette. Abgesehen von der Lutherstube im ehemaligen Schwarzen Kloster und dem Luthergrab konnte der Besucher bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine Erinnerungsstätten der Reformation besichtigen.19 Hinzu kam im Jahr 1810 die Herrichtung der Melanchthonstube, die aufgrund

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sollte auf der Turmspitze eine Kaiserkrone aufgesetzt werden. Nach dessen Tod 1888 favorisierte der Nachfolger Wilhelm II. jedoch ein Kreuz als Turmbekrönung – der einzige wesentliche Eingriff des letzten deutschen Kaisers in die Außengestaltung der Schlosskirche. Vgl. Röhl, Wilhelm II., 289 f. Bericht der Seminargemeinschaft des Predigerseminars zu Wittenberg. April 1933–April 1934. Erstattet von der Alten Bruderschaft, Archiv Stiftung Luthergedenkstätten, S 977/6095, 14. Vgl. Laube, Das Lutherhaus Wittenberg, 48. Als exemplarischer Beleg für diese These kann der Tagebucheintrag James Boswells gelten, der am 30. September 1764 notierte: „Sah in Wittenberg das Kloster, in dem Luther gelebt hat, und ging in die alte Kirche, in der er zum ersten Mal die Reformation verkündet hat. Sie ist von der Bombardierung übel zugerichtet. Aber Luthers Grabstein ist unversehrt.“ Boswell, Journal, 101. Auch Dzondi führt in seinem Bericht vom Wittenberger Universitätsjubiläum 1802 als Reformationsdenkmäler nur die Reformatorengräber in der Schlosskirche, die Lutherkanzel in der Stadtkirche sowie das ehemalige Wohnhaus des Reformators auf. Vgl. Dzondi, Erinnerungen.

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privater Initiative interessierten Besuchern offen stand.20 Der Direktor des neu gegründeten Predigerseminars hatte sich 1817 sogar ausdrücklich gegen eine bauliche Aufwertung der Schlosskirche zur Memorialstätte gewandt und lediglich eine Reparatur der Kriegsschäden befürwortet.21 Nach der Zuordnung der Stadt zum preußischen Staatsgebilde als Folge des Wiener Kongresses 1815 begann jedoch der Ausbau zu einer reformationshistorischen Denkmallandschaft. Diese ist zunächst „nichts anderes als vom Menschen geschaffene Gestalt […] und setzt ihre Erfassung voraus, wie der Umgang mit einem Denkmal ja sein Erkennen voraussetzt.“22 Bis zum 19. Jahrhundert war das Historische des gebauten Raumes keine Kategorie, die ein Bauwerk unter Schutz gestellt hätte. Das Historische ist bis dahin meist als alt und überlebt empfunden worden. Der materielle Bestand wurde den jeweiligen Nutzungsanforderungen immer wieder neu angepasst oder verschwand einfach, wenn er ,ausgedient‘ hatte. Mit der beschleunigten Veränderung der Materialität in der Moderne schlich sich jedoch bei den Menschen ein Gefühl der Entfremdung, ein Vertrautheitsverlust ein. Die damit verbundene Erfahrung des Unechten ließ ein Bewusstsein für historische Authentizität entstehen, die es zu erhalten galt. Erst der Historismus weckte ein Gefühl für den Eigenwert des Historischen, der mit Begriffen wie ,echt‘, ,wahr‘ und ,authentisch‘ assoziiert wird. Die im 19. Jahrhundert reifende Erkenntnis, dass es sich beim Wittenberger Stadtraum um ein bewahrenswertes materielles Erbe handelt, ermöglichte die Entstehung der Denkmallandschaft. Die neu gegründete preußische Provinz Sachsen war zwar zunächst weitgehend im historiographischen Niemandsland verschwunden, denn in Preußen fühlte sich kaum jemand berufen, ihre Geschichte zu bearbeiten. Die Reformationsgeschichte hingegen rief die ehemals sächsischen Territorien in das historische Bewusstsein zurück und führte zu einem denkmalpflegerischen Engagement,23 dass unmittelbar nach der Übernahme durch Preußen einsetzte. Die Initiative für die Erhaltung und den Ausbau der Reformationsstätten Wittenbergs ging meist von der Obrigkeit und selten von den lokalen Eliten aus, die wenig Verständnis für die Bewahrung des historischen Erbes entwickelt hatten.24 So scheiterte beispielsweise noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts der geplante Abriss des Bugenhagenhauses einzig am Geldmangel. Denkmalpflege kam im 19. Jahrhundert staatstragende Bedeutung zu und insbesondere in Wittenberg war sie eng verbunden mit der Interessenspolitik der Hohenzollern.25 Das preußische Herrscherhaus hat sich über mehrere 20 21 22 23 24

Vgl. Hennen, Die Wiedereinrichtung, 47. Vgl. Steffens, Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert, 328. Breuer, Denkmallandschaft, 78. Vgl. Hahn, Forschungen zur Geschichte Sachsens, 56. Die Errichtung des Melanchthondenkmals als Werk einer Bürgerinitiative ist die einzige nennenswerte Ausnahme von dieser Regel. Vgl. Kammer, Das Melanchthondenkmal. 25 Näheres zur Denkmalpolitik um 1900 bei Speitkamp, Die Verwaltung der Geschichte, 153 ff.

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Generationen hinweg für diesen Ausbau engagiert und sich persönlich darin eingebracht. Beispielhaft hierfür stehen die Verfügung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II, das mit Geldern des Mansfelder Geschichtsvereins geschaffene Lutherdenkmal 1821 auf dem Wittenberger Marktplatz aufzustellen,26 aber auch die von Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1856 gestiftete bronzene Thesentür, der Umbau des Lutherhauses zum Museum und schließlich die 1892 in Anwesenheit Wilhelms II. eingeweihte neue Schlosskirche. Ein letztes Mal griff ein Hohenzollernherrscher mit der Kaisergabe des Lutherbriefs im Jahr 1911 in die Denkmallandschaft ein.27 Die Hohenzollern gaben stets der Stadt an der Elbe ihren Vorzug, während ihnen beispielsweise Eisleben – die durch Arbeiteraufstände während der Befreiungskriege suspekt gewordene Geburtsstadt Luthers im Mansfelder Land – fremd blieb, zu weit abgelegen und wohl auch nicht repräsentativ genug war.28 Die Tätigkeit von Spitzenkräften der preußischen Bauverwaltung wie Schadow, Schinkel, Stüler, von Quast, Adler und Schwechten belegt ebenfalls die hohe Bedeutung der Stadt für die preußische Geschichtspolitik. Dabei standen die architektonischen und kunsthistorischen Entscheidungsträger stets in einem besonderen Spannungsfeld. Einerseits galt es, die authentischen Reformationsstätten in ihrer historisch verbürgten Originalsubstanz zu erhalten, anderseits sollten diese zu repräsentativen Denkmalsbauten umgestaltet werden. Sowohl denkmalpflegerische als auch denkmalschöpferische Maßnahmen wurden ergriffen,29 um einen reformationshistorischen Erlebnisraum zu schaffen. Die demonstrativen Großprojekte wie Lutherhalle und Schlosskirche wurden flankiert von verschiedenen ergänzenden Maßnahmen, die auf eine Verdichtung der Denkmallandschaft sowie eine Erweiterung der Reformationsmemoria zielten. So hatte der preußische Staat 1845 das Melanchthonhaus angekauft und dort anlässlich des 400. Geburtstages des Praeceptor Germaniae die Wohn- und Studierstube museal herrichten lassen. Bereits 1865 hatte der zweite Wittenberger Reformator ein Denkmal auf dem Marktplatz erhalten; der dritte im Bunde, Johannes Bugenhagen, wurde 1894 mit einer Büste hinter der Stadtpfarrkirche bedacht.30 Die 1871 erfolgte Reichsgründung verlieh dem Ausbau der Wittenberger Denkmallandschaft nochmals einen kräftigen Schub, denn das Luthergedenken wurde jetzt in noch stärkerem Maße für staatliche Belange in Anspruch genommen. Die 1883 abgeschlossene Erneuerung des Lutherhauses 26 Vgl. Steffens, Dem wahrhaft großen Dr. Martin Luther, 142 f. 27 Vgl. Laube, Lutherbrief an den Kaiser. 28 Wilhelm II. weigerte sich bei seinem Besuch anlässlich des Bergbaujubiläums im Jahr 1900, Eislebener Boden zu betreten und hielt hoch zu Ross auf dem Marktplatz seine Ansprache. Vgl. Treu, Lutherfeiern in Eisleben, 49. 29 Peter Findeisen konstatiert für die Luthergedenkstätten des 19. Jahrhunderts einen denkmalpflegerischen Sonderfall. Vgl. Findeisen, Die geschichtliche Stätte als denkmalpflegerischer Sonderfall. 30 Vgl. Hennen, Denkmalpflege und Stadtumbau, 48 f.

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sowie die 1892 wieder eingeweihte Schlosskirche bildeten zweifellos den Kulminationspunkt des preußischen Engagements. Aus der eher religiös orientierten Auseinandersetzung mit der Person und dem Werk Luthers vor 1815 entwickelte sich als Ergebnis der preußischen Denkmalpolitik in Wittenberg eine Monumentalisierung und Musealisierung der Reformation. In dem Maße, wie die Reformation ihre rein geistliche Bedeutung verlor, verwandelte sie sich in eine historisierte und damit auch musealisierte Geschichtsepoche.31 Zusammenfassend kann festgehalten werden: Unmittelbar nach dem Verschwinden der maßgeblichen Trägerschicht der Reformationserinnerung, dem universitären milieu de mmoire, erstarkte das Verlangen, die materiellen Zeugnisse dieser Vergangenheit, den lieu de mmoire, zu bewahren. Diesem Wunsch wurde durch den sukzessiven Ausbau einer reformationsgeschichtlichen Denkmallandschaft Rechnung getragen, hinter dem jedoch nicht lokale Eliten, sondern staatliche Entscheidungsträger standen. Der so entstandene musealisierte Gedächtnisort Wittenberg war nicht nur ein Überrest von Vergangenheit, denn die Initiatoren beschränkten sich nicht auf die Konservierung der überlieferten Materialität des Raumes. Die Rekonstruktion auf dem Weg der Denkmalpflege schloss vielmehr zahlreiche denkmalschöpferische Maßnahmen ein und schaffte erst den Raum, an dem das Erlebnis von Vergangenheit stattfinden konnte.32 Die abstrakte Idee ,Wittenberg‘ wurde unter diesen Bedingungen zu einem konkreten Ort, an dem die historischen Ereignisse und die damit verbundenen mythischen Erzählungen veranschaulicht, erfahrbar, gleichsam wiederholbar werden konnten. Wittenbergs Ausbau zur reformationshistorischen Denkmallandschaft im 19. Jahrhundert war deshalb eine entscheidende Bedeutungsinvestition, weil sie die Anschaulichkeit des Mythos Wittenberg sicherte.

2. Das Lutherjubiläum 1883 2.1 Die kirchliche Lutherfeier im September Die Ausformulierung eines protestantisch dominierten Nationalstaates hatte im Lauf des 19. Jahrhunderts die mehrkonfessionell-föderativen Traditionen im deutschsprachigen Raum abgelöst. Im Jubiläumsjahr 1883 waren Nation, preußisch-deutsches Kaisertum und Luther untrennbar miteinander verbunden und der Staatsprotestantismus der evangelischen deutschen Territorien wurde zum Reichsprotestantismus. Selbst die bayrischen Protestanten konnten sich auf Dauer eher am Reich als am katholischen Bayern orientie31 Vgl. Laube, Das Lutherhaus Wittenberg, 169. 32 Vgl. Hettling, Erlebnisraum und Ritual, 417 ff.

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ren.33 Die nationale Vereinnahmung Luthers sollte zudem der Profilierung des evangelischen Bewusstseins gegenüber dem römischen Katholizismus dienen. Ein zentrales Fest des evangelischen Deutschlands in Wittenberg in Verbindung mit der Eröffnung eines reformationsgeschichtlichen Museums unterstrich diesen Anspruch, denn Feste und Jubiläen waren in besonderer Weise dazu geeignet, nationale Einheitswünsche zu transportieren und die eigenen Vorstellungen durch die Berufung auf die Vergangenheit zu legitimieren. Hinter dem kirchlichen Fest stand vor allem die preußische Staats- und Kirchenführung, die mit den postulierten zentralen Feierlichkeiten des evangelischen Deutschlands den Wunsch einer Festigung der preußischen Kirchenunion verband und die Gräben zwischen Lutheranern und Reformierten schließen wollte. Es fand vom 12. bis 14. September 1883 in Wittenberg statt, um die Teilnahme möglichst vieler kirchlicher Würdenträger aus dem gesamten Reichsgebiet zu ermöglichen.34 Am eigentlichen Gedenktag im November wäre ihnen aufgrund zahlreicher lokaler Feiern die Reise nach Wittenberg nicht möglich gewesen. Diese Rücksichtnahme indiziert, dass der physische Raum Wittenberg in der seit 1617 entwickelten lutherischen Memorialkultur bis dahin keine ausgesprochene Sonderstellung innehatte, denn das Reformationsgedenken war nicht ortsgebunden und konnte im Prinzip überall erfolgen. Im Gegensatz zur mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis, bei der die Heiligenverehrung bedingt durch Reliquienkult und Wallfahrtsbewegung fest mit bestimmten Orten wie beispielsweise Santiago de Compostella oder Canterbury verbunden war, hatte sich mit der reformatorischen Verehrung eine Loslösung der Erinnerung von heiligen Orten ergeben: „Idealtypisch gesehen steht die moderne Form des zeitgebundenen, potentiell universellen Gedenkens historischer Persönlichkeiten der ständigen, strikt ortsgebundenen Verehrung des mittelalterlichen Reliquienheiligen gegenüber.“35 Reformationsgeschichtlich bedeutsame Orte wie Wittenberg entwickelten sich zwar zu Kristallisationspunkten des Gedenkens sowie zu Schrittmachern der Memorialkultur, aber konnten kein Alleinstellungsmerkmal behaupten. 1883 gab es jedoch erstmals den Willen zu einer zentralen Feier des protestantischen Deutschlands. Rund 10.000 Besucher, unter ihnen etwa 1.000 evangelische Pfarrer, waren zum Hauptfesttag nach Wittenberg gereist, weshalb das Ereignis eher einem „großen Theologen- und Pastorentag“36 als einem Volksfest glich. Das Festprogramm bestand aus den kirchlichen Festverhandlungen am 13. sowie der beratenden Versammlung am 14. September. Beide Tage waren gefüllt mit wissenschaftlichen Festvorträgen und Ansprachen, die sich an ein theologisch gebildetes Publikum richteten. Die Fest33 34 35 36

Vgl. Nipperdey, Religion im Umbruch, 96. Vgl. Der Luthertag in Wittenberg 1883. Mitterauer, Anniversarien und Jubiläen, 57. Rogge, Aus sieben Jahrzehnten, 372.

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predigt, gehalten von Generalsuperintendent Leopold Schultze aus Magdeburg, war durch die Wahl des Predigttextes ganz christozentrisch ausgerichtet und bot wenig Anlass zu reformatorischem Jubel.37 Schultze war darauf bedacht, keine innerkonfessionellen Zwistigkeiten zu schüren und die innere Einheit der preußischen Kirchenunion zu festigen.38 Nicht nur staatliche, sondern auch innerkirchliche Kreise hatten ein hohes Interesse an der Feier. In einem Zusatzpapier zum Festaufruf, das an die direkt Eingeladenen gerichtet war, wurde die Wittenberger Feier als eine notwendige Reaktion der Kirche auf die gesellschaftlichen Veränderungen charakterisiert. Die protestantische Kirche sei „zur Rechten und zur Linken“ angefochten, verlöre Einfluss auf die politische Entscheidungsgewalt im Staat und werde vom Katholizismus herausgefordert.39 Die anlässlich der zentralen Lutherfeier am Symbolort des Protestantismus zahlreich versammelten kirchlichen Würdenträger konnten über diese Entwicklung hinwegtäuschen. Die Vielzahl der Talarträger suggerierte den Beteiligten ebenso wie den Beobachtern einen kirchlichen Bedeutungsanspruch, der in der Realität immer stärker ins Hintertreffen geriet. Dies wird auch anhand der Inszenierungspraxis deutlich. Zentrales Festereignis war der Festgottesdienst in der Stadtkirche. Die Festgemeinde traf aber nicht individuell in der Predigtkirche Luthers ein, sondern versammelte sich zunächst vor der Schlosskirche, um geschlossen zur Stadtkirche zu ziehen. Wie die katholische Kirche in ihren Prozessionen wollten sich nun auch die evangelischen Amts- und Würdenträger prunkvoll präsentieren. Angeführt wurde der Zug von den Nachkommen des Reformators, die eine Verweiskette zum reformatorischen Ursprung der evangelischen Kirche bildeten. Ihnen folgten die außerdeutschen Gesandten und die Vertreter der eingeladenen Landeskirchen sowie die angereisten preußischen Generalsuperintendenten, die Vorsitzenden der Konsistorien und der Provinzialsynoden. Eine weitere Abteilung umfasste die Bürgermeister aller Lutherstädte sowie die Vertreter der Universität Halle-Wittenberg. Zum Schluss zogen alle weiteren Geistlichen im Ornat sowie Vertreter der städtischen Behörden und des Gemeindekirchenrats.40 Dem Anspruch, zentrales Fest des gesamten evangelischen Deutschland zu sein, wurden die Feierlichkeiten jedoch trotz der zahlreichen Präsenz evangelischer Geistlicher aus dem gesamten Reichsgebiet nicht gerecht. Bereits die 37 Matth. 21,42 und 43: „Jesus sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen in der Schrift: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Von dem Herrn ist das geschehen, und es ist wunderbar vor unsern Augen. Darum sag ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volke gegeben werden, das seine Früchte bringt.“ Predigt Schultze, in: Der Luthertag in Wittenberg 1883, 16 – 24. 38 Siehe auch Berichterstattung Illustrierte Zeitung Nr. 2100, 29. 09. 1883, 270. 39 Zusatzpapier aufbewahrt in Akte A II 198, Archiv Stadtkirche Wittenberg; Text teilweise abgedruckt in: Treu, Wittenbergs Entwicklung zur Lutherstadt, 64. 40 Vgl. Wittenberger Luther-Fest-Zeitung, 12. September 1883, 2 f; Illustrierte Zeitung Nr. 2100, 29. 09. 1883, 270.

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Vorbereitungen hatten für Unruhe gesorgt, denn der offizielle Festaufruf war fast ausnahmslos von Amtsträgern der preußischen Kirchenunion unterzeichnet worden.41 Die Vertreter der lutherischen Landeskirchen sowie liberaler Kirchenkreise unterstützten das Anliegen einer zentralen Kirchenfeier in Wittenberg hingegen nicht. Auch der Vorsitzende des Protestantenvereins, der Wittenberger Reichstagsabgeordnete Hugo Schröder,42 der für liberale Tendenzen stand, hatte keine offizielle Einladung erhalten.43 Im Gegensatz zum konservativen Landtagsabgeordneten war er nur als Privatperson geladen worden und teilte im Vorfeld der Feierlichkeiten in einem in der Presse veröffentlichten Brief seine Nichtteilnahme mit: „In meiner Neigung liegt es aber nicht, meine Gegner zu stören, wo sie unter sich sein wollen.“44 In einer während der Kommunalfeier im Oktober gehaltenen Rede kritisierte er außerdem den Ausschluss eines Teils der evangelischen Geistlichkeit und erinnerte an die Kaiserworte zur Gewissensfreiheit.45 Die innerkonfessionellen Zwistigkeiten reichten bis in das preußische Herrscherhaus. Der zur Feier nach Wittenberg gereiste Kronprinz verlas bei der Eröffnung des Lutherhauses zunächst einen Brief Wilhelms I., in dem der Kaiser sein Bedauern über seine Abwesenheit zum Ausdruck brachte, der Festgemeinde jedoch seine innere Anteilnahme versicherte. In wenigen Worten nahm Friedrich Wilhelm dann Bezug auf die im Vorfeld der Feier entstandenen Differenzen und wünschte, „unser protestantisches Bewusstsein zu stärken, unsere deutsche evangelische Kirche vor Zwietracht zu bewahren und ihren Frieden fest und dauernd zu begründen.“46 Ohne allzu deutlich zu werden, bezog er damit kirchenpolitisch eine andere Position als Wilhelm I. und galt nicht zuletzt deshalb als Hoffnungsträger des kirchlichen Liberalismus.47 Wilhelm I. hingegen hatte die Anhänger eines freieren Bekenntnisses, vor allem die Mitglieder des liberalen Protestantenvereins, nie akzeptiert;48 sie blieben nicht zuletzt deshalb von den Wittenberger Feierlichkeiten ausge41 Vgl. Die Lutherfeier in Wittenberg, in: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland 30, 11. April 1883. 42 Zu Hugo Schröder : Lepp, Protestantisch-liberaler Aufbruch, 278 f und 466; Zu den 1883 ausgetragenen innerkonfessionellen Auseinandersetzungen siehe auch: Fix, Lutherhaus-Reformationshalle-Lutherhalle; Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, 7 – 19. 43 Vgl. Düfel, Das Lutherjubiläum 1883, 32 ff. 44 Brief veröffentlicht in: Wittenberger Kreisblatt vom 26. August 1883. Thematik erneut aufgegriffen in der Ausgabe vom 30. August 1883. 45 Vgl. Rede abgedruckt in: Howald, Der historische Festzug, 23 – 26. 46 Ansprache Friedrich Wilhelm abgedruckt in: Der Luthertag in Wittenberg 1883, 32. 47 Vgl. Lepp, Protestantisch-Liberaler Aufbruch, 422. Liberale und konservative Gruppierungen innerhalb des Protestantismus trennten vor allem die unterschiedlichen Auffassungen über die Verhältnisbestimmung von Kirche, Religion, Kultur und Gesellschaft. Die Liberalen unterschieden grundsätzlich zwischen Kirche und Religion und setzten auf die religiös autonome Persönlichkeit, während die Konservativen größeres Gewicht auf die Kirche als Institution legten. 48 Vgl. Pollmann, Wilhelm II. und der Protestantismus, 95.

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schlossen oder verzichteten auf eine Teilnahme.49 Ohne die Teilnahme des Protestantenvereins, weiterer liberaler Kreise sowie Vertreter des konfessionellen Luthertums hatte das Fest jedoch nur einen „preußisch-amtlichen Charakter“50, wie selbst der Hallenser Mitbegründer des Evangelischen Bundes Willibald Beyschlag einschätzte. Auch in den folgenden Jahren blieb Wittenberg eine Arena der Konfliktaustragung zwischen liberalen Teilen des Bürgertums und staatlichen Behörden, die die Kirchenunion stützten. Unter dem Tarnmantel der Herrscherhuldigung versuchten liberale Kräfte, Friedrich III. als einem Symbolträger mit politischer Tendenz ein Denkmal vor der Schlosskirche zu setzen und dort auch die 1883 gesprochenen Postulate von Gewissensfreiheit und Duldung zu verewigen.51 Die Entstehungsgeschichte des Standbildes belegt, dass Personendenkmäler nicht nur Zeichen der persönlichen Verehrung, sondern auch Zeichen der Kritik durch Symbolisierung eines alternativen Ideals sein können.52 Der vom konservativen Landrat als staatlichem Behördenvertreter verfolgten Verhinderungsstrategie53 setzten die Unterstützer des Denkmals die Bildung eines Finanzierungsvereins Kornblume und Veilchen entgegen, dem neben dem Bürgermeister mehrere hochrangige Vertreter der Wittenberger Honoratiorengesellschaft angehörten54 und der sich unparteiisch gab. Allein der Vereinsname sollte als Loyalitätsbekundung gegenüber dem preußischen Herrscherhaus dienen, denn die Mitglieder hatten die Lieblingsblumen der Hohenzollern gewählt. Letztendlich erreichten sie ihr Ziel nur teilweise, denn das 1894 eingeweihte Standbild enthielt keinerlei kontroverse Inschrift.55 49 Der Protestantenverein hatte zu einer eigenen Lutherfeier im Jubiläumsjahr geladen. Vgl. Zittel, Luthers Reformationsvermächtnis. 50 Beyschlag, Aus meinem Leben, 579. 51 Die Illustrierte Zeitung zitiert den Kronprinzen folgendermaßen: „Möge sie [die Feier – Anm. d. Verf.] uns in dem Entschlusse festigen, allezeit einzutreten für unser evangelisches Bekenntnis und mit ihm für Gewissensfreiheit und Duldung!“, Illustrierte Zeitung Nr. 2100, 29. 09. 1883, 270. 52 Kathrin Minner schreibt, das Denkmal sei „eigentlich nicht aus einer politischen Haltung der vorauseilenden Loyalität gegenüber dem Kaiserhaus hervorgegangen“, sondern sollte „eine Manifestation liberaler Erwartungen“ sein. Siehe Minner, Stadt der Bürger, 98. 53 Hierüber geben mehrere vertrauliche Schreiben des Landratsvertreters von Bodenhausen an den Merseburger Regierungspräsidenten von Diest Auskunft, die im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt aufbewahrt werden und dort von Kathrin Minner eingesehen worden sind. Vgl. Minner, Stadt der Bürger, 103 und 316. 54 Gründungsmitglieder waren u. a. Bürgermeister Dr. Schild, Hofbuchhändler Wunschmann, Regierungsbaurat Grotz, Stadtkirchenpfarrer Wagner, Apotheker Muthesius, Gymnasialoberlehrer Haupt. Vgl. Braun, 600 Jahre Wittenberg, 105. Der Verein brachte mehr als die Hälfte der Gesamtkosten in Höhe von 16363 Mark auf. Vgl. Erfurth, Geschichte der Stadt Wittenberg, Teil 1, 163. 55 Eine knappe Einordnung in den Kontext des stadtbürgerlichen Selbstverständnisses in: Minner, Stadt der Bürger, 103 – 105. Außerdem: Akte A II 1082, Einweihung Kaiser-Friedrich-Denkmal, Archiv Stadtkirche Wittenberg; Akte 3770 Kaiser-Friedrich-Denkmal 1890 – 1942, Stadtarchiv Wittenberg.

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2.2 Die Einweihung der Lutherhalle Die Etablierung des Lutherhauses als Museum ist eng mit dem Ausbau der reformationshistorischen Denkmallandschaft Wittenbergs unter preußischer Ägide verbunden. Beginnend mit einer Dienstreise Karl Friedrich Schinkels im Jahr 1815 fand sie mit der Eröffnung der Lutherhalle durch den Kronprinzen Friedrich Wilhelm anlässlich der zentralen kirchlichen Lutherfeiern am 13. September 1883 ihren vorläufigen Höhepunkt. Die Eröffnung anlässlich der obrigkeitsstaatlich angeordneten zentralen Jubiläumsfeier des evangelischen Deutschlands und nicht während der bürgerschaftlich getragenen Lokalfeier im Oktober unterstreicht dessen hohe Bedeutung für die preußische Geschichtspolitik, zeigt aber auch den geringen Stellenwert, den die Initiatoren einer möglichen bürgerschaftlichen Beteiligung zumaßen. Sammeln und Kunstfördern waren im 19. Jahrhundert immer noch vorrangig eine monarchisch-dynastische Angelegenheit, auch wenn sich im Laufe des Jahrhunderts bei den institutionellen Voraussetzungen, im Umfang, in der Zielsetzung und im persönlichen Zuschnitt dieser Aktivitäten wesentliche Änderungen zugunsten des Bürgertums abzeichneten.

Abb. 1 Der Kronprinz eröffnet die Lutherhalle

Das Zustandekommen der Sammlung sowie der Beitrag einzelner Personengruppen, die Grundzüge der Sammlungspolitik und das Verhältnis zwischen

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Museumsverwaltung und städtischer Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert zeigen, dass das Lutherhaus im Kaiserreich in keiner Weise dem erhöhten Partizipationsanspruch des Bürgertums gerecht wurde. Konsequenterweise war die städtische Öffentlichkeit in den Festakt der Eröffnung 1883 nicht einbezogen worden. Nun wäre eine breite Volksbeteiligung im Sinne eines demokratischen Denkmalverständnisses im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht zu erwarten gewesen. Aber auch die Repräsentanten dieser bürgerlichen Öffentlichkeit, die lokale Honoratiorengesellschaft oder zumindest der Bürgermeister der Stadt, traten nicht in nennenswerte Erscheinung. Eine vom Präsidium des Luther-Festkomitees herausgegebene Zusammenstellung von Predigten, Reden und Ansprachen anlässlich des Wittenberger Luthertages gibt nur die Eröffnungsrede des Regierungspräsidenten von Diest als Vertreter des preußischen Staates sowie die kurze Erwiderung des Kronprinzen und den Inhalt der Grußbotschaft von Wilhelm I. wieder.56 Von Beginn an diente das Museum nicht nur der Sammlung und Bewahrung des materiellen Erbes der Reformation, sondern auch der Würdigung des Engagements der Hohenzollern, die sich hier als Schutzherren der gesamten evangelischen Christenheit Deutschlands präsentierten. Insbesondere der Kronprinz, der seit 1872 Prorektor für die Kunst war und sich für die Gründung und Entwicklung einer Museumslandschaft im neuen Kaiserreich engagierte, bekundete großes Interesse an den Wittenberger Lutherstätten. Er setzte sich für deren Erhalt und Ausbau ein, engagierte sich federführend für den prunkvollen Neubau der Schlosskirche und eröffnete im September 1883 die Lutherhalle offiziell. In Anerkennung seiner Verdienste errichteten ihm die Wittenberger ein Denkmal.57 Der Standort des Kaiser-Friedrich-Denkmals vor der Schlosskirche58 sowie die Reden zur Einweihung zeigen, dass die Wittenberger Lokalöffentlichkeit den Herrscher vor allem mit dem Kirchenbau, nicht aber mit der Lutherhalle assoziierte,59 obwohl er das Museum persönlich 56 Vgl. Der Luthertag in Wittenberg, 29 – 32. 57 Vgl. Braun, 600 Jahre Wittenberg; Akte A II 1082, Einweihung Kaiser-Friedrich-Denkmal, Archiv Stadtkirche Wittenberg; Akte 3770 Kaiser-Friedrich-Denkmal 1890 – 1942, Stadtarchiv Wittenberg. 58 In der lokalen Presse wurde die Standortwahl ausführlich erörtert. Neben pragmatischen Erwägungen (Verkehrsfluss) und ästhetischen Überlegungen (Stadtbildgestaltung) spielten inhaltliche Gründe eine wichtige Rolle bei der Entscheidung zugunsten des Platzes vor der Schlosskirche. Dabei wurde der Besuch der Kirche im Jahr 1883 durch den damaligen Kronprinzen als Argument angeführt. Die Tatsache, dass Friedrich Wilhelm anlässlich dieses Besuches die Lutherhalle eingeweiht hatte und dieses Gebäude deshalb in einem inhaltlich viel engeren Bezug zu dem Herrscher steht, wurde übergangen. Vgl. Berichterstattung im Wittenberger Kreisblatt vom 26. April 1893; Bei der Grundsteinlegung hatte der Wittenberger Bürgermeister Dr. Schild den Platz vor der Schlosskirche sogar als „heiligen Boden“ bezeichnet. Vgl. Unser Doppelfest, Wittenberger Tageblatt vom 30. Juni 1893; Ein Doppelfest für Wittenberg, Saale-Zeitung vom 29. Juni 1893. 59 Vgl. Aufruf an die Bürgerschaft zur Unterstützung des Denkmalprojektes, in: Akte A II 1082, Einweihung Kaiser-Friedrich-Denkmal, Archiv Stadtkirche Wittenberg; Berichterstattung in der Wittenberger Zeitung anlässlich der Einweihung des Denkmals, 01. und 02. November 1894.

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Abb. 2 Das Kaiser-Friedrich-Denkmal

eröffnet hatte, während die Weihung des Gotteshauses nach seinem frühen Tod stattfand. Die hinter dem Projekt stehenden Kräfte aus der Wittenberger Bürgerschaft pochten symbolpolitisch auf ihre Entscheidungsautonomie, was sich nicht nur am Standort, sondern auch am Zeitpunkt der Grundsteinlegung anlässlich der 600–Jahr-Feier der Stadt festmachen lässt. Die Lokalpresse hatte die Stadt in ihrem Gründungsjahr 1293 als ein vollständig autonomes Gemeinwesen beschrieben, dass seine Angelegenheiten „frei verwaltete unter selbstgewählten Behörden“.60 Superintendent Quandt wies in seiner Rede darauf hin, dass Wittenberg seine Bedeutung nicht nur „der Gunst hochherziger Fürsten“, sondern vor allem den „drei einfachen bürgerlichen Männern“ Luther, Melanchthon und Bugenhagen zu verdanken habe.61 Einen ganz anderen Akzent hatte jedoch Regierungspräsident von Diest in seiner Ansprache anlässlich der Eröffnung der Lutherhalle 1883 gesetzt. Er 60 Ankündigung der Grundsteinlegung des Denkmals am 28. 06. 1893 in: Wittenberger Tageblatt vom 25. Juni 1893. 61 Berichterstattung über Grundsteinlegung in: Unser Doppelfest, Wittenberger Tageblatt vom 30. Juni 1893.

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stellte das landesherrschaftliche Bemühen um die Etablierung des Museums in eine bis in die Reformationszeit zurückreichende Traditionslinie und strich die Bedeutung fürstlicher Aufmerksamkeit und Großzügigkeit für die Geschichte des Hauses heraus. Luthers Landesherr habe dem Reformator das Haus geschenkt, der preußische König Friedrich Wilhelm IV. sich um dessen Erneuerung verdient gemacht und „heute wollen nun Eure Kaiserlich Königliche Hoheit im Namen und Auftrag Seiner Majestät des deutschen Kaisers die darin begonnene Luthersammlung durch Höchst Ihren ersten Besuch eröffnen.“62 Der Museumsbesucher sollte dauerhaft an die Verdienste der Hohenzollern erinnert werden, indem beispielsweise der Kranz, den der Kronprinz anlässlich seines Besuches 1883 auf dem Luthergrab abgelegt hatte, in den Sammlungsbestand einging.

2.3 Von der Kirchen- zur Kommunalfeier Die Lutherfeiern des 19. Jahrhunderts, die an die bis ins Jahr 1617 zurückreichende Tradition der reformatorischen Jubiläumskultur anknüpften, fanden noch unter dem Aspekt von Kirchenfesten statt, bei denen jeweils der Festgottesdienst im Mittelpunkt stand. Elemente bürgerlicher Festgestaltungen, vor allem der historische Festumzug, traten allmählich hinzu und indizieren einen Übergang von einer Kirchen- zu einer Kommunalfeier.63 In Wittenberg wurde diese Transformation anlässlich des Lutherjubiläums 1883 nicht innerhalb eines Festes, sondern mittels Aufspaltung in eine obrigkeitsstaatlich angeordnete kirchliche Lutherfeier im September und ein bürgerschaftlich getragenes Lokalfest im Oktober vollzogen. Während die Wittenberger beim „Theologenfest“64 im September auf die Rolle des Gastgebers reduziert geblieben waren, forderte die kommunale Feier im Oktober sie als Wirte und Gäste zugleich. Die sich in der Kommunalfeier herauskristallisierende Säkularisierung der Feierpraxis war einer sich verändernden Sicht auf den Reformator geschuldet. Die große historische Persönlichkeit trat nun vor den Glaubenserneuerer. Festmachen lässt sich dies am Feieranlass: Die Lutheraner des 17. und 18. Jahrhunderts hatten im Jubiläum zunächst nur die Ereignisse der Reformation – Thesenanschlag, Augsburger Bekenntnis, Religionsfrieden – kommemorativ bedacht. Das erkenntnisgeleitete Interesse an der Reformation war vor allem geschichtstheologisch begründet worden und auf die heilsgeschichtliche Dimension beschränkt geblieben. „Ich habe mich umgeschaut und die Akten 62 Ansprache Diest, in: Der Luthertag in Wittenberg, 30. 63 Der Funktionswandel der Festkultur mit Blick auf Gesellschaftsmodelle bürgerlicher Provenienz steht im Mittelpunkt der von Manfred Hettling und Paul Nolte herausgegebenen Studien. Die Verbürgerlichung des Reformationsgedenkens im Fest zeigt Johannes Burghardt. Vgl. Hettling/Nolte (Hg.), Bürgerliche Feste, 7 – 36; Burkhardt, Reformations- und Lutherfeiern, 220. 64 Beyschlag, Erinnerungen, 576.

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nachgeschlagen, ob und wie wohl im Jahre 1783 Luthers Geburt gefeiert worden wäre. Aber da ist wenig zu finden, da war’s totenstill, im Großen und Ganzen schlief alles den großen Kirchenschlaf“,65 hatte Hofprediger Emil Frommel das kirchliche Lutherfest im September 1883 in Wittenberg geschlossen. Ab dem 19. Jahrhundert wurden die Reformationsjubiläen dann durch biographische Feieranlässe ergänzt und die Lebensereignisse des Reformators – Geburtstag und Todestag – bildeten die eigentlichen Identifikationspunkte für die Feiergemeinde.66 Im 20. Jahrhundert kam in Wittenberg noch die Hochzeit hinzu. In den „individuellen Lebenszeugnissen“ der Reformatoren erkannte die Festgemeinde sich selbst wieder, sodass „personale Vorbilder und die damit verbundene Biographisierung einschließlich deren sozialer und spiritueller Momente“ für die Sinnstiftung im Fest an Bedeutung gewannen.67 Die zentrale Stellung der Lebensgeschichte des Einzelnen in der Erinnerungsarbeit der Festgemeinde kann aber nicht nur mit dem sich seit dem Historismus verändernden Bezug auf vergangenes Geschehen begründet werden, sondern ist bereits in der spezifischen Memorialkultur des Protestantismus angelegt. Als Antwort auf die altgläubige Erinnerung der Lebensleistung als eine ,Leistung guter Werke‘ hatte die reformatorische Bewegung die Erinnerung der Lebensleistung als eine ,Leistung des rechten Glaubens’ verstanden. Dieser kulturelle Wandlungsprozess führte langfristig gesehen zur Entstehung einer protestantisch-bürgerlichen Erinnerungskultur und die Geburtstagsfeier 1883 bildete den vorläufigen Höhepunkt der bürgerlichen Hochschätzung der großen historischen Persönlichkeit Martin Luther.68 Die Entwicklung der Reformationsjubiläen zu einem kommunalen Ereignis am Ende des 19. Jahrhunderts hing aber nicht nur mit den neuen Feieranlässen, sondern auch mit einer Veränderung der Trägerschichten des Festes zusammen. Bis 1817 waren die Wittenberger Reformationsfeiern von der Obrigkeit angeordnet und von der Geistlichkeit sowie von den Vertretern der Universität vor Ort ausgestaltet worden. Im 19. Jahrhundert übernahm jedoch das Bürgertum als entscheidende soziale Schicht der Stadt die Rolle des wichtigsten Festinitiators. Die Einheit von religiöser und gesellschaftlicher Lebenswelt zerfiel. Mit der Stadt als konstitutiver Bezugsgröße der Bürger verband sich der Anspruch ihrer Deutungseliten, eine möglichst große Autonomie zu erstreben. Um den differenzierten Initiativen gegenüber einer immer komplexer werdenden Sozialordnung gerecht zu werden, bündelte die städtische Honoratiorengesellschaft ihre Aktivitäten in einem Festkomitee, 65 Ansprache Frommel, in: Der Luthertag in Wittenberg, 143. 66 Eine Jubiläumsfeier anlässlich des Todestages von Martin Luther lässt sich bereits für das Jahr 1746 nachweisen. Dennoch blieben biographisch begründete Lutherjubiläen vor 1883 die Ausnahme. 67 Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 258. 68 Vgl. Dornheim, Zeitkonstruktionen und Erinnerungsformen, 216 f; Burghardt, Reformationsund Lutherfeiern, 227.

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von dem alle Gestaltungsmacht jenseits der Kirchentüren ausging.69 Dieses Autonomiestreben ist eine Signatur des Kulturprotestantismus: Das eigene Bekenntnis erfasste nun nicht mehr nur die Dimension von Glaube und Frömmigkeit, sondern wurde zunehmend selbst zur Kultur.70 Im Medium Fest boten sich dem Bürgertum eine wichtige Form der Selbstrepräsentation sowie die Möglichkeit einer symbolischen Inszenierung sozialer Ordnung.71 Der Wittenberger Bürgerschaft war eine aktive Mitgestaltung der kirchlichen Lutherfeiern im September 1883 jedoch verwehrt geblieben. Die Lokalöffentlichkeit war vom Festgeschehen ausgeschlossen worden und einige liberal gesinnte führende Vertreter des Bürgertums hatten sich einer aktiven Teilnahme aufgrund konfessionspolitischer Differenzen verweigert. Einzig die Christliche Volksversammlung auf dem Marktplatz am Nachmittag des letzten Festtages hatte sich an das einheimische Publikum gerichtet, es aber dennoch auf die Rolle des Zuschauers reduziert.72 Das Wittenberger „Theologenfest“ leide, so Willibald Beyschlag, „an einem Übermaß an Predigten und Vorträgen“, während etwa in Erfurt „ohne jede Regierungsinitiative, lediglich aus der evangelischen Bürgerschaft heraus ein kirchliches Volksfest stattgefunden“ habe.73 Als Ergebnis blieb das kirchliche Fest in Wittenberg aus lokaler Sicht wenig erinnerungswürdig. Keine kommunale Jubiläumsschrift ist rückblickend entstanden, während aus der Kommunalfeier im Oktober 1883 eine, aus der mit reger Volksbeteiligung gefeierten Schlosskircheneröffnung 1892 sogar zwei umfangreiche lokale Festpublikationen hervorgingen.74 Anlässlich der Kommunalfeier im Oktober 1883 kam die von Johannes Burkhardt beschriebene Verbürgerlichung schließlich zum Tragen, denn die Verbürgerlichung des Jubiläums veränderte auch dessen Ausgestaltung.75 In kooperativer Absicht wurden breite Teile der Gesellschaft aktiv, organisierten sich in Festkomitees und entwarfen ein bürgerliches Begleitprogramm, das sich bald zur Hauptattraktion des Festes entwickelte. Das Festrepertoire diversifizierte sich und neben den Festgottesdienst, die Festpredigt und die Festrede traten nun der Festzug, das Festspiel und das Festmahl zur Vermittlung öffentlicher Erinnerung.76 Reden allein konnten die Teilnehmer einer zunehmend säkularisierten Kirchenfeier jedoch nicht mehr befriedigen. In 69 Laube beschreibt dieses Phänomen der Verbürgerlichung von Religion in seiner Regionalstudie über das konfessionelle Gedächtnis. Vgl. Laube, Fest, Religion und Erinnerung, 314 ff. 70 Vgl. Homann, Religion in der ,bürgerlichen Kultur‘, 74. 71 Vgl. Hettling/Nolte (Hg.), Bürgerliche Feste. 72 Vgl. Gedrucktes Programm der Feier des vierhundertjährigen Luther-Jubiläums, welche vom 12.–14. September 1883 in Wittenberg stattfand, in: Privatarchiv Reichelt. 73 Beyschlag, Erinnerungen, 576 f. 74 Vgl. Howald, Der historische Festzug 1883; Wattrodt, Einweihung Schlosskirche 1892; Pietsch, Festbericht über die Feier 1892. 75 Vgl. Burghardt, Reformations- und Lutherfeiern, 212 – 236. 76 Vgl. Laube, Fest, Religion und Erinnerung, 269.

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Abb. 3 Die Christliche Volksversammlung auf dem Wittenberger Marktplatz

Wittenberg füllten Konzerte, Versammlungen, Ansprachen und spontane Liedintonationen den gesamten Festtag und trugen den gehobenen Ansprüchen einer sich entwickelnden Freizeitkultur Rechnung. Einen Höhepunkt bildete der festliche Fackelumzug am Abend des 31. Oktober 1883, als die Wittenberger „wie eine riesige feurige Schlange durch die im Lichterglanz strahlenden Straßen“77 von der Schlosskirche zur Luthereiche zogen. Dort hielt der zweite Pfarrer der Stadtkirche Zitzlaff eine kämpferische Ansprache gegen päpstliche Dogmen, die er für eine Verdunklung des Glaubens hielt. Die Teilnehmer intonierten das Lutherlied und warfen alle Fackeln auf einen Haufen, um an Luthers anti-römischen Affekt in Gestalt der Verbrennung der Bannandrohungsbulle zu erinnern. Am historischen Ort begegneten sie der päpstlichen Finsternis erneut mit dem evangelischen Licht des Evangeliums. Fackelzug und Feuerschein ermöglichten das Erlebnis eines vergangenen Geschehens, indem sie Ritual, politische Emotion und historische Erinnerung mit dem Ziel einer sinnstiftenden Aktualisierung verbanden. Im Anschluss an das Fackelfeuer an der Luthereiche zog die Menge zum Markt, um dort 77 Erfurth, Geschichte der Stadt Wittenberg, Teil 1, 142.

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nochmals gemeinsam Ein feste Burg sowie die preußische Volkshymne Heil dir im Siegerkranz und Deutschland, Deutschland über alles zu singen und hierdurch die konfessionelle mit der nationalen Memoria zu mischen.78

Abb. 4 Der Fackelzug zur Luthereiche

Die zunehmende Säkularisierung lässt sich aber auch an der Dekoration des öffentlichen Raumes ablesen. Wurden in Wittenberg ursprünglich nur die Gotteshäuser festlich ausgeschmückt, setzte sich dieses Dekorierungsbestreben nun im öffentlichen Raum fort. Die ganze Stadt wurde zum ,Festlokal‘.79 So umgaben die Reformatorenstandbilder Girlanden aus Tannengrün und auch das Rathaus war prächtig geschmückt. Auf dem Marktplatz hatte das lokale Festkomitee einen Festobelisken errichten lassen. Zunehmend beteiligten sich auch die Bürger an diesen Bestrebungen und sahen sich veranlasst, die Feier mit Hilfe dekorativer Maßnahmen zu erhöhen. Die Wittenberger Bürger schmückten ihre Häuser anlässlich der Feier mit Girlanden aus Efeu und Tannengrün sowie darin eingebundener Kornblumen.80 Diese galten als Lieblingsblumen der Hohenzollern und sollten die Verbundenheit Wittenbergs mit dem preußischen Herrscherhaus symbolisieren.81 Über den dekorativen Wert hinaus erhielt der Festschmuck somit eine inhaltliche Funktion 78 Vgl. Howald, Der historische Festzug 1883; Verwaltungsbericht der Stadt Wittenberg für das Jahr 1883, Kapitel „Allgemeines“, Stadtarchiv Wittenberg. 79 Für Bedeutung der Dekoration des öffentlichen Raumes als Bestandteil der bürgerlichen Festkultur vgl. Burkhardt, Reformations- und Lutherfeiern, 220. 80 Vgl. Howald, Der historische Festzug 1883, 3. 81 Vgl. Giloi, Durch die Kornblume gesagt.

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und die Bürger der Stadt bekundeten auf diese Weise verwandte politische Werthaltungen sowie die Zugehörigkeit zu einer imaginären Gemeinschaft, die neben konfessionellen auch nationale und politische Momente beinhaltete.82 Ein vierfaches „Hoch“ auf den „deutschen und evangelischen Kaiser Wilhelm“ sowie das Lied Heil mein Siegerkranz unterstrich die Loyalität der Bürger zum preußischen Monarchen zusätzlich und schloss die Feier als einen „Schatz dauernden Segens und dauernder Erhebung.“83 Für die Festteilnehmer verknüpfte sich die lokale Tradition unlösbar mit der preußischen Tradition. Das regionale Bewusstsein wurde erfolgreich in eine neue Ordnungsund Neutralitätsverpflichtung überführt.84 Obwohl „die gesamte Wittenberger Bürgerschaft der Wunsch belebte, dass dieses 400–jährige Geburtstagsfest unseres Luthers gerade in Wittenberg besonders festlich und würdig möchte begangen werden“,85 wie es zeitgenössisch formuliert wurde, verstrich der eigentliche Tag des Jubiläums, der 10. November 1883, dann aber fast unbemerkt. Ein auswärtiger Besucher kritisierte in der Berliner Presse, dass sich in der Schlosskirche neben den Kandidaten des Predigerseminars nur zweiundzwanzig weitere Besucher eingefunden hätten. Statt einer Fest- habe es nur eine Kandidatenpredigt gegeben, der Tag sei als „stiller Sonntag und öde Feier“86 begangen worden.

2.4 Luther feiern ohne Luther – Der Festumzug Die bühnenbildhafte Musealität Wittenbergs ließ die Stadt in besonderer Weise geeignet erscheinen für historische Festzüge, die sich im 19. Jahrhundert als Medium einer öffentlichen Symbolsprache durchgesetzt hatten. Die Wittenberger Züge nahmen stets ihren Ausgang an der Ostseite der Stadt, vor dem Elstertor, und endeten meist an der Schlosskirche. Vor 1817 hatten sich die Angehörigen der Universität, der Hauptträger der Jubiläumsaktivitäten, zunächst im Großen Hörsaal sowie der Lutherstube versammelt, um gemeinsam zum Gottesdienst in der Universitätskirche am entgegengesetzten Ende der Stadt zu ziehen.87 Auch nach dem Verlust der Universität hielten die Bürger, die fortan die Ausgestaltung des Jubiläums sowie des Festzuges in die eigenen Hände nahmen, an dieser Tradition fest und bauten sie aus. Neben diesem Rückbezug auf die Lokaltradition standen die 1883 stattgefundenen 82 Vgl. Tacke, Denkmal im sozialen Raum, 17 f. 83 Die Luther-Feier in Wittenberg am 31. October, Illustrierte Zeitung Nr. 81 (1883), 463 – 468, hier 468. 84 Vgl. Klein, Zwischen Reich und Region; Hardtwig, Nation-Region-Stadt. 85 Verwaltungsbericht der Stadt Wittenberg für das Jahr 1883, Kapitel „Allgemeines“, Stadtarchiv Wittenberg. 86 Presseausschnitt sowie Erwiderung von Superintendent Rietschel, Quelle unbekannt, Archiv Stadtkirchengemeinde Wittenberg, A II 198. 87 Ausführlich beschrieben in Christian Georgis „Annales academiae vitembergensis“ von 1775.

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Abb. 5 Das geschmückte Lutherdenkmal

Festzüge in Erfurt und anderen Lutherstädten Pate für die Wittenberger „Jubiläumsprozession“88. Als bürgerliche Festform spiegelt der Festzug den Emanzipationsprozess des Bürgertums wider, denn er war das wichtigste Medium der städtischen Eliten, um ihrem Gesellschaftsverständnis Ausdruck zu verleihen. Der Festzug bot die Möglichkeit einer aktiven Beteiligung breiter bürgerlicher Gruppen, ermöglichte die Teilnahme vieler und das Zuschauen aller. Er zog an ,Arm und Reich‘ vorbei, setzte sich aber nur aus einer städtischen Teilöffentlichkeit zusammen. Die Organisation und Ausführung blieb 1883 einem Komitee 88 Vgl. Howald, Der historische Festzug 1883, 1.

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örtlicher Geschäftsleute überlassen, unter ihnen der Betreiber der Holzwerkstatt Lober und der Kaufmann Holzhausen, aber auch Lehrer der örtlichen Schulen, die durch ihre Vorbildung an der geschichtlichen beziehungsweise künstlerischen Konzeption mitwirken konnten. Evangelisches Predigerseminar und Stadtkirchengemeinde, obwohl rege in die Festvorbereitungen und das Festgeschehen involviert, übten hinsichtlich des Festzuges Zurückhaltung. Begreift man den Festzug als eine säkularisierte Variante der altgläubigen Prozession, wird schnell der Grund für diese Zurückhaltung erkennbar : Die reformatorische Kirche hatte diese Praxis stark eingeschränkt und versucht, die außeralltägliche Dimension des Festes zu begrenzen. Luther hatte kritisiert, Prozessionen würden doch immer nur in Saufereien ausarten.89 Der Historische Festzug stellte deshalb eine Festform dar, die der evangelischen Kirche im Wesen nicht angemessen war.90 Dem Zug voran schritt erst der kurfürstliche, dann der städtische Herold, womit die ständische Ordnung der Reformationszeit sowie der Gegenwart des 19. Jahrhunderts symbolisch wiedergegeben wurde. Den Verkündern folgten ein städtischer Musikchor und die Geharnischten aus Torgau mit ihren Prunkrüstungen und Waffen des 16. Jahrhunderts, um die Zuschauer visuell und akustisch auf den Festzug einzustimmen. Als eine auf Kurfürst Johann Friedrich den Großmütigen zurückgehende Institution verliehen die Geharnischten dem Zug außerdem historische Authentizität. Einige Franziskanermönche, ein Tetzelkarren sowie ein Knabe mit den 95 Thesen und eine Gruppe Augustinermönche und der Kurfürstliche Hofstaat bildeten den historischen Teil des Festzuges. Als Teil des Hofstaates fuhr der Kurfürst in einem Thronwagen, zusammen mit „seiner lieblichen Gemahlin“,91 wie es in einer Festzugsbeschreibung heißt. Dass der Kurfürst Luthers, Friedrich der Weise, nie verheiratet war und ihm deshalb sein Bruder nachfolgte, störte die Initiatoren des Festes offenbar nicht. Während sie den Herrscher im Festzug mitziehen ließen, verzichteten sie auf Personifikationen Luthers, Melanchthons und weiterer Reformatoren. Es genügte, den genius loci zu vergegenwärtigen. Es entsprach der Ideologie nationaler Feiern, ein Fest für alle Stände und Berufsklassen zu sein. Tatsächlich kann hiervon aber nicht die Rede sein. Gesellschaftliche Hierarchie und Teilnahme am Fest korrespondierten miteinander, denn die wirtschaftlichen und akademischen Eliten, die in Vereinen und den Gremien der kommunalen Selbstverwaltung ihren Einfluss geltend machten, spielten sowohl in der Organisation als auch in der Umsetzung eine zentrale Rolle.92 „Alle Stände und Genossenschaften hatten sich vereinigt und ein unerschöpflich reiches, farbenprächtiges Bild der großen Vergangenheit

89 90 91 92

Vgl. Artikel „Prozession“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Sp. 1604 ff. Vgl. Hartmann, Der historische Festzug, 132. Howald, Der historische Festzug 1883, 7. Vgl. Hettling/ Nolte (Hg.), Bürgerliche Feste, 29.

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zustande gebracht“,93 wurde der Erfurter Festzug, der den Wittenbergern als Vorbild diente, zeitgenössisch beschrieben. In beiden Städten galt die Teilnahme als Ehre und Auszeichnung und entsprach dem Bedürfnis nach repräsentativer Selbstdarstellung. Bürgerliche Akteure wurden auf diese Weise selbst zu Protagonisten kultureller Repräsentation.94 In Wittenberg bestand der Hauptteil des Zuges aus einer städtischen Gesellschaft, die sich und anderen ihren gesellschaftlichen Stand verdeutlichte. Dies tat sie überwiegend, indem sie im Zug das darstellte, was sie auch im wirklichen Leben war : Streng nach Zunftordnung gegliedert bildeten die Buchbinder und Drucker, die Schumacher und Bäcker, Fleischer, Schlosser, Kaufleute sowie weitere Gewerke jeweils eigene Abteilungen. Obgleich die Zünfte im 19. Jahrhundert ihre lebensprägende Rolle mit der Einführung der Gewerbefreiheit verloren hatten, überlebten ihre Muster an Feier- und Festtagen lange. Gerade die Zunftumzüge als Ausdrucksformen genuin zünftischer Erinnerungskulturen wurden oft in städtische Festkulturen integriert.95 Mit großem Einsatz an Ideen und Material wollten die Zünfte einen möglichst bleibenden Eindruck beim Publikum hinterlassen, denn die Überzeugungskraft des Festzuges beruhte auf der Stimulierung aller Sinne. So verteilten die Bäcker frische Brötchen, die Fleischer kleine Würstchen und die Kaufleute, mit rund 70 Teilnehmern die größte Gruppe, erfreuten das Publikum mit einem „Mannaregen“ aus Bonbons, Mandeln und Rosinen. Auf ihrem Wagen stellten ein zur Schau gestellter Warenkorb mit Südfrüchten, „ein Chinese, ein Mohr und ein Spanier“ den Welthandel dar. Der am Schluss des Zuges mitfahrende Wagen des Tabakwarenfabrikanten Rennert bot „vier Negerknaben“, die amerikanische Zigaretten verteilten, was „zugleich den Übergang von der Vergangenheit in die Gegenwart vermittelte“.96 Die Beschreibung zeigt, dass die Teilnahme am Festzug mit großem persönlichem und materiellem Engagement verbunden war, das weit über die Vorbereitungen des Zuges hinausging. Schon dieser notwendige Einsatz bildete eine soziale Schranke. Es wird aber auch deutlich, dass neben der Stadtgeschichte das gegenwärtige Wirtschaftsleben die zweite Hauptsäule für die Identitätsstiftung im Festgeschehen des Jahres 1883 bildete. Als eine würdige Festform musste sich der historische Festzug vom karnevalistischen Ulk abgrenzen und seinen ernsthaften Charakter auch einer kirchlichen Feier angemessen erscheinen lassen.97 Dies geschah durch Unterbrechung des Zuges vor der Schlosskirche, wo die Teilnehmer gemeinsam den Lutherchoral Ein feste Burg sangen. Der Hymnus als ein ,heiliger Text‘ im Sinne Jan Assmanns verband sich mit der Vorstellung göttlicher Gegenwart. 93 94 95 96

Beyschlag, Aus meinem Leben, 576 f. Vgl. Hettling, Bürgerliche Kultur, 330. Vgl. Blessing, Fest und Vergnügen, 357; Patrick Schmidt, Zünftische Erinnerungskulturen. Die Luther-Feier in Wittenberg am 31. October, Illustrierte Zeitung Nr. 81 (1883), 463 – 468, hier 466. 97 Vgl. Gantner, Der Festumzug, 26.

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Bei diesem ,heiligen Text‘ kam es auf den Ritus an und die während der Handlung verlautete sprachliche Äußerung bildete die theatralisch-rituelle Form der Tradierung, die als symbolische Praxis untrennbar mit der Fähigkeit zur Generierung von historischer Erinnerung verbunden ist. Ohne diese Affekte bleibt Erinnerung schwach, weshalb es auf die Evozierung von emotionalen Gehalten ankommt.98 Bei der auf den Ritus folgenden Rede des Bürgermeisters, einem ,kulturellen Text‘, war hingegen dessen geistige Vergegenwärtigung das Wesentliche.99 Dr. Schild empfing die Menge auf einer Tribüne und hielt eine kurze Ansprache, in der er auf gegenwärtige Themen der Kirchenpolitik einging und die Gegenwart als Zeit des unverändert andauernden Kampfes zwischen deutsch-protestantischem Kaisertum und Papsttum charakterisierte. In bester Kulturkampfrhetorik stellte er der päpstlichen Tücke die deutsche Tapferkeit gegenüber, ging unter Anspielung auf Canossa auf die Auseinandersetzungen zwischen den Kaisern und Päpsten des Mittelalters ein und kritisierte das Unfehlbarkeitsdogma des Vatikans.100 Weltlichkeit und Geistlichkeit, Politik und Religion trafen hier aufeinander in gemeinsamer Erinnerung. Während die universitären Festzüge vor 1817 an der Schlosskirche geendet hatten und die Festgemeinde sich im Inneren des Gotteshauses versammelte, zogen die Bürger 1883 weiter. Unter Einbeziehung der meisten Nebenstraßen Wittenbergs zogen sie zum Marktplatz und trugen das Fest damit in jeden Winkel der Stadt. Aber auch der bürgerliche Festzug 1883 lief nicht ins Leere. Als die Teilnehmer am Ende auf dem Markt ankamen, spielten die mitgezogenen Musiker den von Friedrich Rockl der Stadt Wittenberg gewidmeten Lutherfestmarsch sowie den Torgauer Marsch als Referenz an die aus der Nachbarstadt angereisten Geharnischten.101

3. Die Reformatorenhäuser 3.1 Musealer Tiefschlaf des Lutherhauses Die Idee des bürgerlichen Nationalstaates beruhte in Deutschland auf der Vorstellung einer völkischen Kulturgemeinschaft, der wichtigsten Integrationsideologie der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Insbesondere Museen stellten herausragende Orte der Umsetzung dieses Gedankenguts 98 Vgl. Hettling, Erlebnisraum und Ritual, 431. 99 Vgl. Assmanns Unterscheidung von ,heiligen‘ und ,kulturellen‘ Texten in: Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 134 f. 100 Vgl. Howald, Der historische Festzug 1883, 11 – 15; Vgl. auch Festbericht in: Illustrierte Zeitung Nr. 2107, 17. 11. 1883, 444. 101 Vgl. Howald, Der historische Festzug 1883.

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dar.102 Die nach dem Übergang Wittenbergs an Preußen zunächst schleppend verlaufenden Initiativen zur Einrichtung eines Luthermuseums waren durch die Reichsgründung und den Kulturkampf entscheidend beschleunigt worden, um die Reformationsgeschichte als zentrales Strukturmerkmal der deutschen Geschichte auch materiell zu unterfüttern. In der preußisch-deutschen Deutung der Nationalgeschichte wurde die Epoche von 1517 bis 1870 zu einer kleindeutschen Erfolgsgeschichte erklärt und der protestantische Sakraltransfer religiöser Energien auf die Nation führte zu deren Sakralisierung.103 So liefern die zum Abschluss der äußeren Restaurierungsarbeiten am Wittenberger Lutherhaus im Jahr 1873 im Turmknauf hinterlegten Urkunden nicht nur einen Abriss der Baugeschichte, sondern stellten vor allem die politischen Ereignisse der vorangegangenen Jahrzehnte unter heilsgeschichtlichem Aspekt dar. Sie dokumentieren die religiöse Überlegitimierung des Politischen, die mit der theologischen Abwertung kirchlicher Institutionen im 19. Jahrhundert einherging und zu einer nationalprotestantischen Zivilreligion führte. Die angestrebte Museumsgründung wurde dort beispielsweise in einen engen Zusammenhang mit der gerade vollzogenen Reichseinigung gestellt.104 1877 hatte ein überregionales Komitee zur Schaffung einer Reformationshalle aufgerufen. Hinter dem Projekt stand die preußische Verwaltung in Gestalt des Kultusministers Adalbert Falk und des Regierungspräsidenten Gustav von Diest sowie die Kommunalverwaltung Wittenbergs, die sich von der Einrichtung des Museums einen städtischen Prestigegewinn erhoffte. Aus städtischem Besitz erhielt das Museum einige wichtige Objekte wie Lucas Cranachs Zehn-Gebote-Tafel; die Stadtkirchengemeinde steuerte die Lutherkanzel und einige Cranach-Epitaphien bei. Der Kommune und dem preußischen Staat traten kirchliche Kräfte der Beharrung entgegen; vor allem das Evangelische Predigerseminar erhob eigene Ansprüche hinsichtlich der Gebäudenutzung und konnte mit einem Museum wenig anfangen.105 Der Sogwirkung des nationalen Lutherkultes konnte es aber nichts mehr entgegensetzen. Hier zeigten sich Spannungen zwischen Geschichte und Glaube, weil die Reformation für viele Bildungsbürger ihre heilsgeschichtliche Bedeutung verloren hatte. Die geschichtliche Welt war nun nicht mehr unmittelbar in die christliche Heilsordnung einbezogen, wurde aber selbst sakral aufgeladen. Hierdurch wurde die Musealisierung der Reformation befördert.106 Der christlich-religiöse Charakter der geschichtlichen Welt ging jedoch nicht 102 103 104 105

Vgl. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal. Vgl. Lehmann, Das Lutherjubiläum 1883. Vgl. Laube, Lutherhaus Wittenberg, 170 f. Ausführlich dargestellt bei Laube, Lutherhaus Wittenberg; Speitkamp weist auf die Konflikte zwischen dem staatlichen Primat des Denkmalschutzes und kirchlichen Autonomieansprüchen im ausgehenden 19. Jahrhundert hin. Vgl. Speitkamp, Die Verwaltung der Geschichte, 349. 106 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866, 499 f.

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verloren, weil die moderne profane Welt sich im deutschen Luthertum nicht von der alten christlich durchdrungenen Welt abgelöst oder neben diese gestellt hatte, sondern mit ihr verbunden blieb. Diese religiöse Dimension des Profanen ist als protestantische Welt- oder Kulturfrömmigkeit beschrieben worden. Die Entstehungsgeschichte des Wittenberger Reformationsmuseums belegt exemplarisch, wie das borussisch geprägte deutsche Nationalbewusstsein sich mit einem religiösen Bewusstsein verbunden hat.107 Nach ihrer Eröffnung durch den Kronprinzen 1883 fiel das Haus jedoch in einen mehrere Jahrzehnte währenden musealen Tiefschlaf, der in den modernen wissenschaftlichen Darstellungen der Geschichte der Einrichtung mit dem schwindenden Interesse der Hohenzollern sowie den Kräften der Beharrung des Predigerseminars begründet wird.108 Während die preußischen Herrscher sich dem nächsten Wittenberger Großprojekt, der 1892 eröffneten Schlosskirche, zugewendet haben und ihr Interesse an der Lutherhalle erst wieder nach der kaiserlichen Schenkung eines Lutherbriefs 1911 erwachte,109 fehlten den Direktoren des Predigerseminars, in deren Verantwortung die Lutherhalle stand, jegliches Interesse und Verständnis für den Betrieb eines Museums. Hinzu kommt mit der mangelnden bürgerschaftlichen Partizipation jedoch ein dritter, bisher nicht beachteter Faktor, der den Entwicklungsstillstand erklärt. Von Anfang an ist auf eine Beteiligung der bürgerlichen Schichten bei der Einrichtung und Gestaltung sowie bei der Eröffnung und dem Betrieb des Museums verzichtet worden. Hierdurch wurde gegen die „Idee der Selbstorganisation der Gesellschaft in privaten und öffentlichen Assoziationen als zentrales Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft“ verstoßen.110 Bereits im Gründungskomitee trat sie nicht nennenswert in Erscheinung. Eröffnet wurde das Museum anlässlich der kirchlichen, nicht der kommunalen Lutherfeier 1883 und die Repräsentanten der Bürgerschaft sind dabei nicht zu Wort gekommen. Durch die institutionelle Zuordnung zum Predigerseminar, welches das Lutherhaus über drei Jahrzehnte hinweg eher stiefmütterlich behandelte, war es dem Einfluss der Kommune entzogen und blieb als Kernbestandteil der Wittenberger Denkmallandschaft weit hinter seinem Potential zurück. In konkreten Fragen des Museumsbetriebs, etwa der Gestaltung der Öffnungszeiten und Eintrittspreise111 oder der Herausgabe von Publikationen sowie hinsichtlich der Erweiterung der Sammlung durch Ankäufe und Schenkungen, blieben die Wittenberger Bürger zunächst außen vor. So gelang es nicht, die Lutherhalle zu einem genuinen bürgerlichen Betäti107 Vgl. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal, 549 f. 108 Stefan Laube geht in seiner Museumsgeschichte ausführlich auf diesen Aspekt ein. Vgl. Laube, Lutherhaus Wittenberg. 109 Vgl. Laube, Lutherbrief an Kaiser. 110 Hettling, Bürgerliche Kultur, 328 f. 111 Eine Reglementierung der Besichtigungszeiten sowie die Erhebung verbindlicher Eintrittsgelder erfolgten erst nach 1900. Ausführliche Angaben hierzu im Abschnitt 7.3 ,Formen des touristischen Besuchs‘ des Kaiserreich-Kapitels.

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gungsfeld zu machen, von dem Wittenbergs Honoratiorengesellschaft durch Generierung eines permanenten Besucherstroms auch wirtschaftlich hätte profitieren können. Die Lutherhalle blieb deshalb in den ersten Jahren ihrer musealen Existenz aus kommunaler Sicht ein Fremdkörper in der Wittenberger Denkmallandschaft.

3.2 Vom Sammlungsdepot zum Museum Bereits vor der Eröffnung der Lutherhalle 1883 war das Gebäude zu musealen Zwecken genutzt worden. Dies gilt insbesondere für die Wohn- und Studierstube des Reformators, die erstmals im Jahr 1655 als museum lutheri bezeichnet worden war. Sieht man vom Tisch und weiteren Einrichtungsgegenständen ab, befand sich dort jedoch keine Sammlung. Objekte, die aus der Reformationszeit stammten beziehungsweise in direktem Bezug zu Luther standen, waren in Wittenberg zwar auch im 19. Jahrhundert noch zahlreich vorhanden, wurden aber weder systematisch gesammelt noch unter konservatorischen Gesichtspunkten behandelt. So berichtet der preußische Regierungspräsident Gustav von Diest in seinen zwanzig Jahre später erschienenen Memoiren entsetzt, dass der interessierte Fremde im Rathaus Originalbriefe Luthers und Melanchthons zu sehen bekam, die „in einer alten Schublade neben der verdorrten Hand einer Giftmischerin und dem Magen eines Vielfressers“112 aufbewahrt wurden. Das Entsetzen über derartige Zustände und die gesteigerte Wertschätzung für die materiellen Zeugnisse der Reformationsgeschichte führten schließlich zur Gründung der Lutherhalle, die die Aufgabe hatte, Zeugnisse und Dokumente der Reformationszeit zusammenzutragen, einer Öffentlichkeit zugängig zu machen und sie für folgende Generationen zu bewahren. Von Beginn an spielte aber auch der Gedanke einer Musealisierung der Reformationsrezeption eine Rolle. So gehören zum Sammlungsbestand beispielsweise der 1883 vom Kronprinzen auf dem Luthergrab niedergelegte Kranz, der für die Schlosskirchenneuweihung 1892 angefertigte Prunkschlüssel sowie das Original des am gleichen Tage im Lutherhaus unterzeichneten Wittenberger Bekenntnisses. Besser als durch diese Musealisierung in situ lässt sich die 1817 bis 1918 geschehene Etablierung einer reformationsgeschichtlichen Denkmallandschaft als entscheidende Bedeutungsinvestition zugunsten der von den Hohenzollern betriebenen Geschichtspolitik kaum fassen. Das öffentlich zugängige Gebäude sowie der zusammengetragene Sammlungsbestand boten den Besuchern die Gelegenheit, sich des historischen Geschehens zu vergewissern und somit das Erinnerungspotential zu stärken. 112 Diest, Erinnerungen, 487; Es handelt sich dabei um die Hand der Giftmischerin Susanne Zimmermann, die 1728 hingerichtet worden war. Noch heute werden diese Dinge in den städtischen Sammlungen aufbewahrt.

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Das Museum glich in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz allerdings eher einem Depot als einem Ort der Wissensvermittlung. Es musste auf dramaturgische Elemente verzichten, „da Wertvolles und Unwichtiges, altes und neues Material neben- und durcheinander dem Besucher entgegentritt“,113 wie es in einem Gutachten des 1907 bis 1911 agierenden Konservators Karl Dunkmann an das Kuratorium heißt. Dem Besucher wurden vor allem wenig geordnete Schriftzeugnisse der Reformationsgeschichte präsentiert, die bereits vorhandene Wissensbestände dokumentarisch bezeugen sollten. Hierbei galt: „Spezifische Gebäude, Orte und auch einzelne Objekte induzieren soziale Identität für diejenigen, welche die Symbole lesen können.“114 Der konfessionell gebundene Besucher bestätigte auf diesem Weg einen bereits vorhandenen Wissenskanon, ein Erkenntniszugewinn war unter diesen Umständen jedoch kaum möglich.

Abb. 6 Blick in die Ausstellung des Lutherhauses

Die Unmöglichkeit eines Wissenszuwachses war jedoch nicht die einzige Schwachstelle des Museums. Nicht nur die vor Ort gewonnene Erkenntnis, sondern das an den Raum gebundene Erlebnis leitet, kanalisiert und kodiert Erinnerung. Ein Zeitgenosse Dunkmanns erkannte die Notwendigkeit, dass „hier die Reformation selbst zu reden anfängt, von der wir sonst immer nur hörten oder lasen.“115 Eine zentrale Voraussetzung für diesen sinnlichen 113 Schreiben Dunkmann an Kuratorium vom 18. 08. 1911, Archiv StLu. 114 Damir-Geilsdorf, Orientierungsleistungen räumlicher Strukturen, 35. 115 Redslob, Die Lutherhalle in Wittenberg, 155.

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Kontakt zur Reformationsepoche ist eine Aura historisch begründeter Authentizität, die sich in erster Linie aus den materiellen Überresten der Vergangenheit speist. Sie vermitteln dem Besucher ein Gefühl für das ,Wahre‘, ,Echte‘ und ,Unverfälschte‘ und sind konstitutiv im vermeintlich direkten Zugang zu vergangenem Geschehen. Die „dürftigen echten Trümmer der Lutherstube“ waren dem Autor der Kursächsischen Streifzüge deshalb „unendlich wertvoller als die ganze übrige Lutherhalle, die die anderen Zimmer des ersten Stockwerks und die Aula umschließt.“116 Und Gurlitt konstatierte später, wenigstens „das Wohnzimmer erhielt sich frei von dem Andenkenkram, den so oft Verehrer nachträglich in geweihte Stätten trugen.“117 Jenseits der rationalen Ebene des Verstehens konnten die ,echten Splitter der Geschichte‘ Emotionen erzeugen und durch den Effekt des ,historischen Erschauerns‘ Erinnerung im Gedächtnis fest verankern. „Solche Stimmungen gehören […] zu den Möglichkeiten eines an historischer Stätte begründeten Museums“,118 kommentierte der Museumsfachmann Edwin Redslob in einem Aufsatz über die Lutherhalle. „Wer würde nicht noch heute beim Eintritt in diese einfache und doch mit seinem Geschmack hergerichtete echt deutsche Wohnstube bewegt?“,119 gibt der Wittenberger Superintendent seinen Eindruck von der Lutherstube wieder. Und der Konservator Karl Dunkmann sekundiert: „O welch unermeßliches Kapital echtester, weihevollster Stimmung, wie sie kein Theater erzeugen kann, wird hier geprägt.“120 Während die Originalsubstanz Hochschätzung erfuhr, schien die auf die Bestätigung vorhandener Wissensbestände angelegte Ausstellung der papierenen Zeugnisse der Reformationsgeschichte entbehrlich: „Die bunte Sammlung von Bildern, Büchern und anderen Erinnerungen aus Luthers Zeit, die jetzt dort an den Wänden und in Glaskästen untergebracht ist“, wäre im Lutherhaus „schlechterdings nicht am Platz.“ Sie „gehört in ein Wittenberger Luther- oder Altertumsmuseum“121, forderte ein Zeitgenosse. Mit der Berufung von Karl Dunkmann 1907 und vor allem mit der Tätigkeit von Julius Jordan in den Jahren 1912 bis 1924 wurde dieser Missstand zumindest partiell angegangen. Der Charakter des Hauses änderte sich allmählich von einem Magazin für Reformationsdevotionalien zu einem Ausstellungsort, der das Gebäude selbst zur Hauptattraktion machte und dem Bedürfnis nach einem sinnlichen Zugriff auf die Geschichte, nach einem emotionalen Nacherleben von vergangenem Geschehen Rechnung trug. So Otto Eduart Schmidt, Kursächsische Streifzüge, 293. Gurlitt, Die Lutherstadt Wittenberg 1931, 258. Redslob, Die Lutherhalle in Wittenberg, 55. Rietschel, Georg, Luther und sein Haus. Ein Bild deutschen Familienlebens, in: Wittenberger Luther-Fest-Zeitung, 12. September 1883; Der Beitrag erschien fünf Jahre später nochmals, in leicht veränderter Form in einer Monographie, aus der im Folgenden zitiert wird. Vgl. Rietschel, Luther und sein Haus, S. 12. 120 Dunkmann, Das Lutherhaus in Wittenberg. 121 Otto Eduart Schmidt, Kursächsische Streifzüge, 293. 116 117 118 119

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wurde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein Rundgang etabliert,122 der durch verschiedene, thematisch angeordnete Räume führte und in der Lutherstube endete: Mein Vorschlag geht nun dahin, jedem Zimmer seine bestimmte Bedeutung, seinen Charakter zu geben und dabei zugleich die Anordnung der einzelnen Zimmer so zu treffen, dass das Interesse des Besuchers steigernd gefesselt wird. Der End- und Höhepunkt muss dann aber notwendig das Lutherzimmer sein.123 (Karl Dunkmann, 18. 08. 1911)

3.3 Mythos Evangelisches Pfarrhaus Für die Analyse des Mythos ,Evangelisches Pfarrhaus‘ im Zusammenhang mit der Schaffung eines Museums im Wittenberger Lutherhaus ist Jan Assmanns Konzept des Kulturellen Gedächtnisses besonders hilfreich, denn es untersucht Tradition im Zusammenhang mit dem Geschichtsverständnis von Gruppierungen. Da das von Assmann formulierte Identitätskonzept Homogenität voraussetzt, benennt der Wissenschaftler als erste Funktion des Kulturellen Gedächtnisses die Schaffung von Gruppenidentität.124 Für Assmann ist Kultur eine Art ,Immun- oder Identitätssystem‘ der Gruppe, die sich in vorliegendem Fall zunächst aus dem evangelischen Klerus rekrutierte. Da die Verteilung der Pfarrstellen der urbanen Dynamik des Kaiserreichs nur langsam folgte, gab es überproportional viele ländlich-kleinstädtische Pfarrer, was das Milieu verfestigte.125 Die Etablierung einer zentralen Erinnerungsstätte des evangelischen Pfarrhauses in den ersten Jahren nach der Reichsgründung fiel zusammen mit einer Sinnkrise des protestantischen Klerus, der zwar immer noch durch soziale Herkunft, privilegierten Berufsstatus, bildungsmäßigen Hintergrund und tradiertes Standesbewusstsein zur gesellschaftlichen Elite gehörte, diesen Status aber schwinden sah. Zwei Hauptgründe lassen sich hierfür anführen: Erstens schwächte die Einführung der staatlichen Schulaufsicht 1872 die Stellung der Pfarrer im Bildungswesen. Zweitens machte die Einführung der Zivilehe 1875 aus der Ehe auch formal ein ,weltlich Ding‘.126 Die intendierte Trennung von Kirche und Staat hatte eine antirömische Richtung, aber auch die evangelische Kirche wurde von Kultusminister Falk einbezogen. Der Berliner Oberhofprediger Rudolf Kögel prägte in diesem Zusammenhang den Satz, man habe mit dem ganzen Kulturkampf Rom befehden wollen und 122 123 124 125 126

Vgl. Jordan, Lutherhalle Wittenberg 1916. Schreiben Dunkmann an Kuratorium vom 18. 08. 1911, Archiv StLu. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 30 ff. Vgl. Nipperdey, Religion im Umbruch, 80 ff. Vgl. hierzu das Kapitel „Pfarramt und moderne Lebenswelt“ in: Stahlberg, Seelsorge im Übergang, 56 – 81.

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Wittenberg geschlagen.127 Neben der institutionellen Schwächung verlor die Theologie im akademischen Lehrgebäude ihre über Jahrhunderte gepflegte zentrale Stellung.128 Die Pfarrer widersetzten sich dem schwindenden Ansehen und Einfluss und begannen, in Pfarrvereinen berufsständische Interessen ihrer Profession zu verteidigen.129 Auch die Wittenberger Museumsgründung kann als Teil dieses Versuchs berufsständischer Selbstvergewisserung gesehen werden.130 Hierdurch sollte die ,Institution Evangelisches Pfarrhaus‘ im kollektiven Symbolhaushalt des neuen Nationalstaates und seiner preußisch-protestantischen Eliten fest verankert werden.131 Die dort gepflegte Erinnerung an die überragende Rolle, die das evangelische Pfarrhaus im deutschen Kultur- und Geistesleben gespielt hatte, berührte zentrale Standesinteressen des Pfarrstandes, spielte aber auch auf ein Wesensmerkmal des Luthertums an: In einer anlässlich der Feier des Lutherjubiläums am 14. September 1883 in der Schlosskirche gehaltenen Rede hatte Generalsuperintendent Wilhelm Baur die Gründung des evangelischen Pfarrhauses im ehemaligen Mönchskloster gepriesen. Luthers Heirat sei eine seiner größten Taten und sein Familienleben, sein Verhältnis zu den Kindern, zum Gesinde, zu Freunden und Gästen zeuge von der Tiefe seines frommen deutschen Gemüts.132 Dieses spezifisch deutschprotestantische ,fromme Gemüt‘, aus dem sich die viel gepriesene ,Gemütlichkeit‘ speist, beruht auf dem Prinzip der Innerlichkeit, die nicht einfach existiert, sondern auszugestalten ist. Hieraus folgt das lutherische Sozialideal einer beseelten und innigen Gemeinschaft individualisierter Persönlichkeiten, deren kleinste Zelle die Familie darstellt. Mit der Eheschließung „weihte Luther das deutsche, evangelische Pfarrhaus und erschloss der evangelischen Christlichkeit eine neue Quelle reformatorischen Segens“,133 schloss Pfarrer Riemer im Jubiläumsjahr 1917 seine Überlegungen zum Lutherhaus. Auch Ludwig Schneller hob in seinem im gleichen Jahr erschienenen Gang durch Luthers Leben anhand der Schauplätze seines Wirkens diesen Aspekt hervor und stellte dem ursprünglich für die „weltabgeschiedenen Mönche“ geschaffenen Gebäude das traute Heim der Familie Luther entgegen, welches „mit

127 Zitiert in: Bammel, Staat und Kirche im zweiten Kaiserreich, 114. Grundlegend: Nipperdey, Religion im Umbruch, 67 – 124. 128 Vgl. Hammer, KulturVergessen, 193. 129 In seiner Analyse der Sozial- und Mentalitätsgeschichte des preußischen Pfarrstandes im 19. Jahrhundert charakterisiert Oliver Janz die evangelischen Pfarrer als „Bürger besonderer Art“ und erforscht deren soziale Distinktionsstrategien. Vgl. Janz, Bürger besonderer Art. 130 Die kirchlichen Akteure vor Ort standen der Museumsgründung aus praktischen Gründen jedoch zunächst skeptisch gegenüber, obwohl sich die Lutherhalle in ihren ersten Jahrzehnten in der Trägerschaft des Predigerseminars befand. 131 Zur Geschichte und Bedeutung der Institution ,Evangelisches Pfarrhaus‘ vgl. Janz, Das evangelische Pfarrhaus; Greifenhagen (Hg.), Das evangelische Pfarrhaus. 132 Rede Baur, in: Der Luthertag 1883, 90 – 100. 133 Riemer, Die Lutherstätten, 26.

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seiner Einrichtung ein treffliches Bild deutscher Einfachheit und Gemütlichkeit“ bot.134 Neben der Schaffung einer Gruppenidentität weist Assmann auf die normative Kraft als zentrale Funktion des Kulturellen Gedächtnisses hin. Hierbei werden Werthaltungen und Verhaltensnormen eingeübt und gefestigt. „Durch Erinnerung wird Geschichte zum Mythos. Dadurch wird sie nicht unwirklich“, so Assmann, „sondern im Gegenteil erst Wirklichkeit im Sinne einer fortdauernden normativen und formativen Kraft.“135 Im Luthertum ist diese normative Funktion von Tradition stark ausgeprägt, denn die reformatorischen Väter gelten als wichtige Vorbilder und ihre Lebensläufe wurden auf verschiedene Weise tradiert. Mit der Einrichtung eines Museums im Wittenberger Lutherhaus manifestierte sich deshalb der Wunsch, die Reformation in einen lebensgeschichtlich bezogenen narrativen Zusammenhang zu stellen, der für die Besucher nachvollziehbar wurde: „Diese Schwelle hat sein Fuß betreten, an der Aussicht aus diesem Fenster hat sich sein Auge erquickt, diese Wände sind Zeugen seines echt deutschen, echt christlichen Familienlebens gewesen.“136 Der hier beschworene Mythos konstruierte die konfessionelle nach dem Modell einer lebensgeschichtlichen Identität. Vor allem die Verwandlung des Schwarzen Klosters in den Prototyp des Evangelischen Pfarrhauses und der daraus folgende Modellcharakter für das Bürgerhaus machte das Lutherhaus im 19. Jahrhundert zu einem Paradebeispiel für die kulturelle Prägekraft des evangelischen Klerus. Sie zeigt aber auch exemplarisch die Aufhebung der altgläubigen Dichotomie von ,Heilig‘ und ,Profan‘: Dieselben Räume, die einst Pflegestätte des echtesten katholischen Geistes gewesen und einem Leben der Weltflucht und asketischer Selbstgerechtigkeit gedient, sind jetzt durchwaltet von dem reinsten evangelischen Geiste eines freien, fröhlichen Glaubenslebens, und der Ort, wo früher der Ehelosigkeit geweihte Mönche ihr Wesen trieben, ist zu einem Herde ehelichen Glücks und dem traulichen Heim echt deutschen Familienlebens geworden; dasselbe Haus, und doch ein anderes durch und durch.137 ( (Hermann Stein, 1883)

Bereits der Museumsgründung folgten verschiedene Publikationen, die das Lutherhaus populärwissenschaftlich abhandeln und Luthers Familienleben einen prominenten Platz zuweisen: „Hier hat er mit seiner Käthe und seinen Kindern ein Familienleben geführt, welches von dem Hauche echt deutscher 134 Schneller, Lutherstätten, 196. 135 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 52. 136 Eröffnungsrede des preußischen Regierungspräsidenten Gustav von Diest anlässlich der Einweihung der Lutherhalle 1883, in: Der Luthertag 1883, 30; vgl. auch Diest, Erinnerungen, 489. 137 Stein, Geschichte des Lutherhauses, 20.

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traulicher Häuslichkeit durchweht ist“,138 schrieb der Predigerseminar-Kandidat Hermann Stein in seiner im Eröffnungsjahr des Museums erschienenen Geschichte des Lutherhauses. Stein sah in ihm ein „Spiegelbild der damaligen Zeit“ und das „unübertroffene Urbild und Vorbild für jedes echte deutsche Heim und jedes wahre deutsche evangelische Pfarrhaus.“139 Auch die im gleichen Jahr entstandene Arbeit des Wittenberger Superintendenten Georg Rietschel stellt den Hausstand und das Familienleben des Reformators in den Mittelpunkt der Darstellung und lässt „schlichte, anspruchslose Bilder deutschen Familienlebens“ sprechen.140 Er beschreibt eine ,heimelige Glückseligkeit‘ im ,kleinfamiliären Mikrokosmos‘ als Ausgangspunkt für das reformatorische Gelingen. Luther sei erst durch sein vorbildliches Familienleben zum „ganzen Mann“ geworden, er sei „ganz derselbe als Reformator, wie als Hausvater; auf der Kanzel wie im Leben; vor den Großen der Welt, wie in der Kinderstube. […] Wie Luthers gesamte Persönlichkeit, so bleibt auch sein Haus ein Vorbild für jedes christliche, für jedes deutsche Haus.“141 Obwohl es bereits vor der Eheschließung Luthers mit Katharina von Bora im Jahr 1525 verheiratete evangelische Pfarrer gegeben hatte, etablierte sich das Lutherhaus erfolgreich als Keimzelle des evangelischen Pfarrhauses. Ihm wurde in einer Zeit raschen und in seinen Folgen unüberschaubaren Wandels eine Vorbildfunktion nicht nur für den Pfarrstand, sondern für die gesamte evangelische Christenheit beschieden, denn aus dem geistlichen Amt wurde eine bürgerliche Profession.142 Hartmut Lehmann bezeichnet den christlichbürgerlichen Hausvater als „ideologische Orientierung des um Zucht, Ordnung und Christentum besorgten Bürgertums der späten Bismarckzeit.“143 Adressat waren die meist aus bürgerlichen Kreisen stammenden evangelischen Besucher. Stellvertretend für diese erschien Cornelius Gurlitt beim Durchschreiten der Lutherstube „das Bild eines bürgerlichen Lebens in unserem Geiste wieder, wie es einst dieser Raum in sich schloss; und das Bild jener Ehe, deren Reinheit für Deutschlands Gesinnung ein unvergänglicher und nie hoch genug zu schätzender Besitz ist.“144

3.4 Die Ausweitung der Heldengalerie: Melanchthon und Bugenhagen Mit der Geburtstagsfeier Luthers 1883 wurde der gefeierte Anlass selbst zum Zeichen einer Verbürgerlichung des reformatorischen Jubiläums.145 Feiern des 138 139 140 141 142 143 144 145

Ebd., 4. Ebd., 33. Rietschel, Luther und sein Haus, 57. Ebd., 57 f. Vgl. Weichlein, Pfarrhaus. Lehmann, Lutherjubiläum 1883, 122. Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 63 f. Vgl. Burghardt, Reformations- und Lutherfeiern, 227.

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400. Geburtstages von Johannes Bugenhagen 1885 sowie von Philipp Melanchthon 1897 folgten. Allerdings fielen diese deutlich bescheidener aus und beschränkten sich auf die „evangelisch-theologischen Kreise“, wie es in einem zeitgenössischen Pressebericht über das Bugenhagenjubiläum heißt: „Unsere Feier kommt an Bedeutung dem Lutherfeste vor anderthalb Jahren nicht gleich. Den Charakter eines religiösen Volksfestes trägt sie nicht.“146 Zu Melanchthons 400. Geburtstag gab es die üblichen Kränze am Denkmal sowie eine Festsitzung ausgewählter Vertreter der Bürgerschaft im Großen Ratssaal. Am Vortag hatte sich eine fünfzigköpfige Gruppe junger Leute des Akademisch-theologischen Vereins Berlin-Leipzig-Halle nach Wittenberg begeben, um Melanchthon an dessen Denkmal ein Ständchen zu bringen.147 Die allmähliche Ausweitung der konfessionellen Heldengalerie in Wittenberg lässt sich aber nicht nur an den herausragenden Jubiläen, sondern auch an den alljährlichen Memorialfeiern ablesen. So war es im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert üblich, neben den kirchlichen Feiertagen, dem Reformationsfest und dem Fest der Übergabe der Augsburger Konfession auch Luthers Geburts- und Sterbetag sowie die Geburtstage von Melanchthon und Bugenhagen mit einem Turmblasen von den Türmen der Stadtkirche zu würdigen.148 Darüber hinaus indizieren die zahlreichen materiellen Erinnerungszeichen, die den öffentlichen Raum anhand von Gedenktafeln oder Straßennamen zum Sprechen bringen, eine Ausweitung der Heldengalerie. Vor allem die Häuser der Mitreformatoren erfuhren im 19. Jahrhundert eine zunehmende Beachtung. Während das Lutherhaus als Urzelle des evangelischen Pfarrhauses inszeniert wurde, erfuhr dessen eigentlicher Geburtsort, das Wittenberger Bugenhagenhaus, zunächst wenig konservatorische oder gar museale Aufmerksamkeit.149 Bugenhagen war 1523 als Pfarrer an die Stadtkirche gekommen und blieb in diesem Amt bis zu seinem Tod 1558. Sein Wohnhaus gilt als ältestes bewahrtes evangelisches Pfarrhaus der Welt und wurde ununterbrochen von den Wittenberger Superintendenten bewohnt, die bis zur Auflösung der Universität auch immer einen theologischen Lehrstuhl an der Hohen Schule innehatten. Im Kontext der Umgestaltung Wittenbergs zu einer reformationsgeschichtlichen Denkmallandschaft im 19. Jahrhundert wurde Bugenhagen 1858 zunächst durch die Anbringung einer Gedenktafel an sei-

146 147 148 149

Zöckler, Über das Eigenthümliche, 585, zitiert in: Rhein, Bugenhagen und Wittenberg, 24. Vgl. Kammer, Das Melanchthondenkmal, 25 f. Vgl. Knolle, Liturgisch-Musikalisches. Stefan Rhein konstatiert Bugenhagens ,prekären‘ Platz in der Reformationserinnerung und belegt dies u. a. mit dem Umgang mit Bugenhagens Wohnhaus anlässlich einer großen Erneuerung im 18. Jahrhundert. Vgl. Rhein, Bugenhagen und Wittenberg, 12 f. Diese ,Missachtung‘ setzte sich bis ins 20. Jahrhundert fort. Insa Christiane Hennen schreibt, die „Tradition des eng mit der Reformationsgeschichte verbundenen Pfarrhauses spielt zu diesem Zeitpunkt [1907] keine Rolle.“ Vgl. Hennen, Bugenhagens Haus, 54.

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Abb. 7 Die Geburtstagsfeier als Zeichen der Verbürgerlichung

nem Wohnhaus gewürdigt.150 Der mit der Aufstellung des MelanchthonStandbildes auf dem Wittenberger Marktplatz entstandene Plan eines dritten Reformatoren-Denkmals scheiterte an Finanzierungsschwierigkeiten.151 Die Wittenberger entschieden sich für eine Minimalversion und stellten 1894 zu Ehren Bugenhagens auf dem Kirchplatz eine Büste auf, für die sie beispielsweise durch die Aufführung des Lutherspiels 1886 Geld gesammelt hatten.152 In Verkennung der historischen Bedeutung erwog die Stadtkirchengemeinde, 150 „Hier wohnte, wirkte und starb Dr. Johannes Bugenhagen, General-Superintendent des Kurkreises, geboren zu Wollin in Pommern den 24. Juni 1485, gestorben in Wittenberg den 20. April 1558. Hebräer 13,7“ Vgl. Führer durch die Lutherstadt Wittenberg 1917, 48. 151 Vgl. Darstellung des Vorgangs bei Rhein, Bugenhagen und Wittenberg, 23. 152 Der Reinerlös des Lutherfestspiels in Höhe von 3500 Mark ging an den Fond zur Errichtung eines Bugenhagendenkmals, der bereits über 8000 Markt verfügte. Vgl. Berichterstattung Wittenberger Kreisblatt, 9. November 1886.

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Eigentümer des Bugenhagenhauses, im Jahr 1907 jedoch den Abriss des Gebäudes zugunsten eines Neubaus.153 Allein der neu erbauten Christuskirche in Kleinwittenberg, deren Grundstein im September 1907 gelegt wurde, ist es wohl zu verdanken, dass der Gemeindekirchenrat seine Pläne änderte und eine Ausbesserung des bestehenden historischen Gebäudes einem Neubau vorzog.154 Beide Bauprojekte waren nicht zu finanzieren. Ebenso wie das Bugenhagenhaus diente auch Melanchthons Heim im Kaiserreich dem ursprünglichen Wohnzweck. Während jedoch in ersterem die Pfarrer der Stadtkirche sowie die Superintendenten des Kirchenkreises als Amtsnachfolger Bugenhagens in ununterbrochener Folge seit dem 16. Jahrhundert gewohnt hatten, wurde das Melanchthonhaus erst durch die Einrichtung einer Dienstwohnung für den zweiten Lehrer der 1837 gegründeten Lutherschule im ursprünglichen Sinn wiederbelebt. Dieser konnte sich als lebendiger Nachfolger des Praeceptor Germaniae fühlen, musste aber mit einem steten Besucherstrom leben. Vor allem das Studier- und Sterbezimmer des Melanchthonhauses hatte, ähnlich wie die Lutherstube im benachbarten Schwarzen Kloster, bereits im 16. Jahrhundert Besucher angezogen, wovon die Jahreszahl 1590 neben einem in die Fensterbank eingeritzten Namen zeugt. Im Jahr 1810 hat der damalige Besitzer des Hauses, der Schornsteinfegemeister J.C. Sichler, das Sterbezimmer wohl aus persönlicher Neigung herrichten lassen. Von einer zeitweilig im Erdgeschoss existierenden Schankstube aus konnten es interessierte Besucher besichtigen und dort andächtig verweilen.155 Von außen als Bestandteil der reformationsgeschichtlichen Denkmallandschaft wahrnehmbar wurde das Haus erstmals 1845 durch das Anbringen einer gusseisernen Tafel mit dem Text: „Hier wohnte, lehrte und starb Philipp Melanchthon“. Sie bildete den Auftakt für eine Besonderheit in der Darstellungspraxis der Wittenberger Denkmallandschaft, die sich dem Besucher der Gegenwart durch über einhundert an Gebäuden der Stadt angebrachte Namenstafeln präsentiert.156 Neben der seit dem 16. Jahrhundert nur wenig veränderten baulichen Hülle des Hauses hatten sich im Inneren vor allem das Scholarenzimmer mit Studentenwappen an den Wänden sowie ein aus der Melanchthonzeit stammender Steintisch im Garten erhalten. Diese materiellen Überreste der Vergangenheit genügten Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr, um die gewünschte Aura der Authentizität zu erzeugen, die den Erinnerungsprozess anzuregen vermag. Zum Teil wurden sie sogar vernichtet: Bei der Neugestaltung des Studier- und Sterbezimmers von Melanchthon wurden der Renaissanceputz, Reste farbiger Wandmalereien sowie eine wertvolle Renais153 Vgl. Das Alte stürzt, in: Wittenberger Allgemeine Zeitung, 30. Juni 1907. Zur Geschichte des Bugenhagenhauses vgl. Hennen, Bugenhagenhaus; Hennen, Bugenhagens Haus. 154 Vgl. Unterlagen zu Superintendenturausbau 1907 – 1910, Akte A II 1098, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 155 Vgl. Weidner, Das Melanchthonhaus in Wittenberg, 89 und 93. 156 Vgl. Hennen, Wiedereinrichtung Sterbezimmer Melanchthonhaus, 47 f.

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sance-Kassettendecke beseitigt. Die Umgestaltung sollte „ein würdiges und stimmungsvolles Gesamtbild“ schaffen, wie es im Protokoll einer Ortsbesichtigung der daran Beteiligten heißt.157 Initiator war der Preußische Oberkirchenrat, der Professor Friedrich Oswald Kuhn vom Kunstgewerbemuseum Berlin mit der Neugestaltung des Zimmers beauftragt hatte. In Anlehnung an die in ihrem ursprünglichen Bestand weitgehend überlieferte Lutherstube sollte es entsprechend eingerichtet und möbliert werden. Die Innenraumgestaltung orientierte sich aber auch an Bildern aus der Renaissancezeit, vor allem an Albrecht Dürers Kupferstich Hieronymus im Gehäuse von 1514.158 Die zeitgenössische Presseberichterstattung wies explizit auf das Ideal einer im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg dokumentierten Dürerzeit als Planungsgrundlage hin.159 Die Überarbeitung des Zimmers machte die Arbeitsatmosphäre eines Humanisten anschaulich, dessen akademisches Betätigungsfeld auch in der Tradition von Hieronymus‘ Bibelübersetzung stand. Dürers Darstellung des Kirchenvaters als Vorbild bot sich deshalb nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus kirchengeschichtlichen Gründen an. „Erfreulicherweise hat die Sammelwut mit ihren oft zweifelhaften Gaben den stimmungsvollen Raum verschont“,160 heißt es in einem gedruckten Stadtführer. Anders als das ehemalige Schwarze Kloster, das, abgesehen von der Lutherstube, zunächst mehr oder weniger das Gehäuse für die Präsentation eines Sammlungsbestandes bildete und erst allmählich in den Vordergrund der musealen Betrachtung rückte, stand im Melanchthonhaus von vornherein das Gebäude und nicht die Sammlung im Fokus des Interesses: „Haus und Garten machen einen bei weitem ursprünglicheren Eindruck als das Lutherhaus“,161 schrieb ein Zeitgenosse. Vor allem das nachträglich historisierte Studier- und Sterbezimmer machte die reformatorische Vergangenheit erlebbar, in die der Besucher eintreten konnte: „Im Melanchthonhaus glaubt man wirklich, die Luft des 16. Jahrhunderts zu atmen […], wenn wir uns in die wohlerhaltene schön getäfelte Studierstube den Mann wieder hineindenken, dessen ,Daseinsgehäuse‘ sie einst war.“ Ein musealer Sammlungsbestand, präsentiert in Glaskästen und Vitrinen, hätte diese besondere Atmosphäre nur gestört: „Hier ist vieles echt […] und uns stört keine Bil-

157 Die Initiatoren hatten mit der Beseitigung der Kassettendecke das Ziel verbunden, die darunter liegende gestakte Decke der Melanchthonzeit freizulegen. Da einige der alten Holzstaken stark beschädigt waren, ersetzte man sie durch neue. Die dabei ansichtig gemachte Decke ist deshalb eine partielle Schöpfung des späten 19. Jahrhunderts, die an die Stelle der Kassettendecke des späten 16. Jahrhunderts trat. Für eine detaillierte Dokumentation der Umbaumaßnahmen siehe: Acta betr. Melanchthon-Zimmer in Wittenberg, Signatur U. X. d. Spec. 4, Archiv Kunstgewerbemuseum Berlin, Transkription von Kathrin Seupt in Archiv StLu. 158 Vgl. Weidner, Melanchthonhaus, 95. 159 Vgl. Berichterstattung der Saale-Zeitung, Abendausgabe vom 12. 08. 1898, Rubrik Provinzialnachrichten. 160 Erfurth, Führer durch die Lutherstadt Wittenberg 1917, 29. 161 Otto Eduart Schmidt, Kursächsische Streifzüge, 297.

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Abb. 8 Studierstube Melanchthons vor der Umgestaltung

Abb. 9 … und nach der 1898/99 erfolgten Umgestaltung

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Die Schlosskirche – Ein Großprojekt preußisch-deutscher Geschichtspolitik 67

dersammlung, keine museumsartige Anhäufung von Denkwürdigkeiten“,162 gibt der Autor der Kursächsischen Streifzüge sein Empfinden wieder. Und Gurlitt schlussfolgert: „Es braucht ja allerorten nicht viel, um den sinnenden Besuchern die Stimmung vergangener Zeit zu geben: nur einen echten Rest und den Mangel aller aufdringlichen Stimmungsmacherei, alles Gefühlsüberschwanges und falscher Stilechtheit.“163 Die Neugestaltung des Melanchthonhauses hatte das Wohnhaus des Humanisten endgültig in die Wittenberger Denkmallandschaft integriert. Eine Besichtigung blieb jedoch zunächst schwierig, da es weder feste Öffnungszeiten noch Aufsichtspersonal gab. Gurlitt schrieb 1902, er habe den Schlüssel im Predigerseminar erhalten.164 Dies ist auch der ungeklärten Rechtssituation geschuldet. Ähnlich dem Lutherhaus machten auch bei Melanchthons Wohnhaus staatliche und kirchliche Stellen Mitspracherechte geltend. Der Ankauf durch den preußischen Staat 1845 hatte vor allem praktische Gründe; das Haus diente der Unterbringung von Lehrern. Die Umbauten des späten 19. Jahrhunderts gab der Evangelische Oberkirchenrat in Auftrag. Im Jubiläumsjahr 1917 ließ der Oberkirchenrat dem Predigerseminar einen Kapitalstock zuweisen, um mit den Zinsen notwendige denkmalpflegerische Erhaltungsmaßnahmen ergreifen zu können.165 Die beteiligten Stellen verfolgten unterschiedliche Interessen, die eine ernsthafte museale Nutzung des Hauses für den Fremdenverkehr verzögerten. Die ausschließliche Präsentation Wittenbergs als Wiege der Reformation erschwerte eine Melanchthon-Würdigung ebenfalls. Der Praeceptor Germaniae galt lediglich als Mitstreiter Luthers, weshalb das Gelehrtenhaus eines Humanisten nicht das ihm innewohnende touristische Potential entfalten konnte.166

4. Die Schlosskirche – Ein Großprojekt preußisch-deutscher Geschichtspolitik 4.1 Konzeption als Protestantisches Pantheon Das außergewöhnlich starke Engagement der Hohenzollern für die Wiege der Reformation steht in einem engen Zusammenhang mit der Kirchenpolitik des preußischen Herrscherhauses. Als Folge der 1613 offiziell vollzogenen Hinwendung zum Calvinismus unter Kurfürst Johann Sigismund stand in Preu162 163 164 165

Ebd., 297. Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 59. Ebd., 55. Vgl. Schreiben Evangelischer Oberkirchenrat Berlin an Predigerseminar vom 25. Oktober 1917, Akte 35, Melanchthonhaus, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 166 Vgl. Reichelt, Antiquarische Wissensvermittlung.

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ßen ein reformiertes Herrscherhaus einer mehrheitlich lutherischen Bevölkerung gegenüber. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Lutheraner und Reformierte im größten deutschen Partikularstaat zu einer Unionskirche vereint. Das 1817 in Wittenberg gegründete Evangelische Predigerseminar diente der Unionskirche als Ausbildungsstätte für Theologen. Zu diesem Zweck erhielt es aus dem Gebäudebestand der alten Universität das Augusteum und das Lutherhaus sowie die Schlosskirche zur Nutzung überlassen. Deren 1892 abgeschlossene Neugestaltung spiegelt die ,von oben‘ verordnete Kirchenunion wieder.167 So erinnern die Standfiguren und Bronzemedaillons nicht nur an die genuin mit der Wittenberger Reformation verbundenen Protagonisten sowie deren Vordenker, sondern beziehen auch die Schweizer Reformatoren Zwingli und Calvin in die ikonographische Gestaltung ein. Die an sie erinnernden Bronzemedaillons sind an der Orgelempore prominent platziert und durch ihre Größe hervorgehoben. Die Würdigung des reformierten Anteils an der Reformationsgeschichte am symbolischen Ursprungsort des Protestantismus diente der politisch gewünschten Überwindung innerprotestantischer Gegensätze, denn die Schlosskirche „sollte der Zusammengehörigkeit aller reformatorischen Bestrebungen einen monumentalen Ausdruck“ gegeben.168 Die „Helden, die hier in Stein gehauen in langen Reihen an den Säulen stehen“, versammeln sich „um das Allerheiligste der Schlosskirche in stummer dankbarer Liebe: um das Grab Luthers.“169 Die zunächst bestehenden Zweifel, ob sich die sterblichen Überreste des Reformators tatsächlich in der Schlosskirche befinden, wurden gegen den entschiedenen Willen des Kaisers durch eine Untersuchung ausgeräumt. Der Herrscher fürchtete wohl, ein Nichtauffinden der Gebeine würde den Wert der Kirche als Referenzort der Reformationsgeschichte mindern und wollte die Frage deshalb lieber im Ungewissen lassen. Völlige Gewissheit brachte dann die am 14. Februar 1892 erfolgte und tiefere Nachgrabung durch zwei bauverständige, an jenen Renovierungsarbeiten beteiligte Personen: in einer Tiefe von etwa 2 m stießen sie an der durch die Erzplatte festgelegten Stelle auf Sarg und Gebeine. […] Mithin darf die Schlosskirche in der Tat mit geschichtlicher Gewissheit als Ruhestätte der Gebeine D. Martin Luthers (wie Philipp Melanchthons) angesprochen werden.170 (Julius Jordan, 1914)

167 Vgl. Krüger, Die Restaurierung der Wittenberger Schlosskirche. 168 Brief Kronprinz Friedrich Wilhelm an den Stettiner Archidiakon Gustav Adolf Schiffmann vom 03. 06. 1880, zitiert in: Steffens/Hermann, Die Wittenberger Schlosskirche, 106. 169 Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 84. 170 Bericht von Julius Jordan, Konservator der Lutherhalle und Ephorus und Direktor des Königlichen Predigerseminars, in: Alfred Schmidt, Die Schlosskirche, 24 f.

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Mehrere in der Kaiserzeit erschienene touristische Publikationen erwähnen die Ausgrabung sowie das kaiserliche Verbot und unterstreichen, „dass Luthers Gebeine noch in der Schlosskirche ruhen.“171 Die Reformation wurde von den Gestaltern der Schlosskirche nicht allein als religiöser Aufbruch aufgefasst, sodass neben den theologischen Handlungsträgern der Reformation weitere Protagonisten zu einer ikonographischen Würdigung kamen. Auch Künstler und politische Unterstützer sollten dem Betrachter präsent gemacht werden, indem an der Empore Bronzemedaillons für Vordenker und Zeitgenossen Luthers sowie zweiundfünfzig Wappen europäischer Adelsgeschlechter angebracht wurden. Letztere stellten den Anteil der Fürsten am Gelingen der Reformation besonders heraus, an die sich Luther mit seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung gewandt hatte. Die Adelswappen betonten somit auch die dynastische Legitimität der Herrscherhäuser des späten 19. Jahrhunderts, deren Vertreter sich als Nachfahren betrachteten und zum Teil bei der Kircheneinweihung 1892 auch anwesend waren.172 Als spiritus rectores des Wiederaufbaus der Wittenberger Schlosskirche hatten die Hohenzollern ein großes Interesse, auch die eigene Dynastie in die von Luther adressierte Heerschau des christlichen Adels zu integrieren. Ursprünglich hatte der Kronprinz Friedrich Wilhelm, der sich in besonderer Weise für den Wiederaufbau einsetzte und diesen bis hin zu Detailfragen mitbestimmte, jedoch ein Bildprogramm favorisiert, welches nur die Kämpfer der ersten Stunde zeigte, die sich im Zeitraum zwischen dem Thesenanschlag 1517 und dem Wormser Reichstag 1521 für die Sache Luthers eingesetzt hatten. Um auch das eigene, hohenzollerische Wappen, integrieren zu können, musste die historische Wahrheit der Reformationsgeschichte arg strapaziert werden, denn Joachim II. von Brandenburg war erst 1539 konvertiert und hatte sein Land in das protestantische Lager eingereiht. Aus diesem Grund wurde der Bezugszeitraum bis zum Jahr 1540 willkürlich ausgedehnt.173 Die Kirche sollte auch zum Symbol der Reichseinheit werden, obwohl die konfessionelle Ausrichtung nicht alle Bevölkerungsteile gleichermaßen ansprechen konnte und sie auf eine zusätzlich verkleinerte Fassung der kleindeutschen Lösung reduzierte. Die ursprünglich 198 Städtewappen in den Fenstern erinnern an Orte im gesamten evangelischen Reich, die für einzelne Reformatoren oder die Reformationsgeschichte von Bedeutung sind. Sie sollten eine lokalgeschichtliche Identifikation der aus allen Teilen Deutschlands kommenden Besucher ermöglichen und die Idee der Reichseinheit unterstreichen. Zumindest für die protestantische Bevölkerungsmehrheit hatte die Kirche also eine ,einende‘ Funktion. Zeitgenössisch heißt es: „So hat Alldeutschland auch hier eine Stätte gefunden, die von tiefer geistiger Einheit 171 Woerl’s Illustrierter Führer, 51. 172 Vgl. Gruhl, Die Adelswappen. 173 Steffens, Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert, 299 ff.

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und von großen evangelischen Thaten aus Vergangenheit und Gegenwart Zeugnis ablegt.“174 Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass es sich bei der Schlosskirche in erster Linie um einen Gedenkort der Reformation sowie um eine Ruhmeshalle des Protestantismus handelt, dessen Bildprogramm „eine ganze, in historischer wie kulturgeschichtlicher Hinsicht als herausragend bewertete Epoche“ wiederspiegelt.175 Die Lutherkirche tritt in der Gestaltung des späten 19. Jahrhunderts trotz der vielen direkten Bezüge zum Reformator – Thesenanschlag, Doktorverleihung und Begräbnisstätte – deutlich zurück; das Standbild des Reformators erhielt zwar eine exponierte Stellung im Chor, zeigt ihn aber dennoch nur als primus inter pares. Auf eine szenische Darstellung bedeutender Lebensetappen des Reformators, wie sie an anderen reformationsgeschichtlichen Gedenkorten und protestantischen Kirchen des 19. Jahrhunderts üblich waren, hatte man, mit Ausnahme des Abgusses des sich in der Jenaer Michaeliskirche befindenden Epitaphs,176 verzichtet. Dies wurde möglich, weil die Initiatoren einerseits auf die Überzeugungskraft des authentischen Ortes setzten und andererseits davon ausgingen, dass die meisten Besucher mit den groben Linien der Reformationsgeschichte bereits vertraut waren. Die Kirche als Ort der Erinnerung erschließt sich dem Besucher deshalb wie ein Geschichtsbuch ohne Illustrationen: Es setzt Lesekompetenz voraus. Aber auch dem reformationshistorisch wenig bewanderten Besucher hat sie etwas zu bieten, denn sie hinterlässt im Kontrast zur geschichtlich besser überlieferten, deutlich nüchterneren Stadtkirche einen tief emotionalen Eindruck, der ihrer Bedeutung als Stätte des Thesenanschlags sowie als Ort der Gräber Luthers und Melanchthons in den Augen vieler Besucher gerecht zu werden scheint.177

4.2 Ein Nationaldenkmal gegen Katholiken und Sozialisten Spätestens mit der Wiedererrichtung der Schlosskirche in der heutigen, repräsentativen Form entwickelte sich das Bauwerk zu einem Nationaldenkmal erster Klasse.178 Das Nationaldenkmal, so grundlegend Thomas Nipperdey, macht „einen Versuch, der nationalen Identität in einem anschaulichen, 174 Witte, Die Erneuerung der Wittenberger Schlosskirche, 60. 175 Steffens, Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert, 314. 176 Die nach dem Tod Luthers 1546 in Erfurt gegossene Bronzeplatte hatte ihren Bestimmungsort nicht mehr erreicht, weil die Stadt Wittenberg als Ergebnis des Schmalkaldischen Krieges an die Albertiner Linie der Wettiner gefallen war. Sie wurde deshalb in der Michaeliskirche in Jena angebracht. Für die wiederhergestellte Schlosskirche stiftete das Kloster Loccum 1892 einen Abguss, der unmittelbar neben dem Luthergrab angebracht wurde. 177 Vgl. Treu, Reformation als Inszenierung, 15 – 30. 178 Vgl. Steffens/Hennen, Von der Kapelle zum Nationaldenkmal.

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bleibenden Symbol gewiss zu werden.“179 Wolfgang Hardtwig machte allerdings darauf aufmerksam, dass die deutsche Nation sich mit ihren Denkmälern meist keine anschaulichen Symbole eines ruhigen und gelassenen Selbstbewusstseins schuf. Je monumentaler die Form, desto mehr haben sie immer das unterschwellige Gefühl dokumentiert, dass die nationale Identität nichts in sich Ruhendes und Abgeschlossenes ist. In ihnen offenbart sich vielmehr eine Ahnung der Gefährdung und Bedrohung, die von außen, aber auch von innen, aus der Mitte der eigenen Nation, kommen.180 Deshalb waren die Nationaldenkmäler auch niemals unumstritten. Sie entstanden vielmehr „im Kontext einer immer komplexeren politischen Öffentlichkeit, die zunehmend kontroverse Meinungen über diese politischen Symbole diskutierte.“181 Ein wichtiges Motiv für die aufwendige Gestaltung der Wittenberger Schlosskirche zum ,Mahnmal des Protestantismus‘ bildete die Konfrontation mit den katholischen Kräften im Reich. In den Rückzugsgefechten des zu Ende gehenden Kulturkampfes sollte die Schlosskirche als ein Monument der Einheit und Stärke des protestantischen Deutschlands erscheinen. Bereits von weitem weist ihr Turm mit dem mosaizierten Schriftband des Lutherchorals Ein feste Burg ist unser Gott dem Besucher den Weg. Die Umwandlung des ehemaligen Wehrturms in einen Glockenturm wurde mit Hilfe des protestantischen Liedgutes plausibel in Szene gesetzt. In Anspielung auf den berühmten Leuchtturm der Antike in Alexandria sollte der Turm, dem Architekten Friedrich Adler zufolge, wie ein Pharos das Licht des evangelischen Glaubens ausstrahlen.182 Seit dem 17. Jahrhundert ist in der protestantischen Rhetorik der katholischen Finsternis immer wieder der helle Schein des Evangeliums entgegengestellt worden, den erst die Reformation wieder hervorgebracht habe. Eine zeitgenössische Anspielung hierauf befindet sich auch auf dem 1909 eingeweihten Reformationsdenkmal in Genf, bei dem die Worte „Post tenebras lux“ in Stein gemeißelt sind.183 Bereits 1872 hatte der Wittenberger Magistrat den Wunsch nach einer umfassenden Neugestaltung der Kirche mit dem Argument begründet, dass „man es auch ausgeführt hat in der alten Lutherstadt Wittenberg eine katholische Kirche zu errichten.“184 Erstmals seit der Reformation beheimatete die Stadt Luthers Ende des 19. Jahrhunderts auch wieder Bürger katholischen Bekenntnisses, die sich am nördlichen Rand der historischen Altstadt ein neues Gotteshaus für die schnell wachsende Gemeinde geschaffen hatten, al-

179 180 181 182 183 184

Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal, 533. Vgl. Hardtwig, Erinnerung, Wissenschaft, Mythos, 252 ff. Hardtwig, Der bezweifelte Patriotismus, 170. Vgl. auch Alings, Monument und Nation, 32 ff. Adler, Zur Kunstgeschichte, 201. Vgl. Strohm, Calvinerinnerung. Schreiben Magistrat an Predigerseminar vom 19. Juli 1872, Akte 26, Bl. 52, Archiv Predigerseminar Wittenberg.

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lerdings eine kleine Minderheit repräsentierten. Der Verwaltungsbericht für das Jahr 1891 weist 13.460 evangelische und 897 katholische Bürger aus.185 Bei den Einweihungsfeierlichkeiten nahmen die Redner in ihren Ansprachen Bezug zu den Glaubenskonflikten des 16. Jahrhunderts. Die Beteiligten fühlten sich, im Gegensatz zum Wormser Reichstag 1521, auf einem wahrhaft evangelischen Reichstag, sodass der Regierungspräsident Gustav von Diest ein gutes Jahrzehnt später resümierend festhielt: Von dem deutschen Kaiser Karl V. war Luther und seine Lehre heftig verfolgt worden, und jetzt zog ein deutscher Kaiser an der Spitze vieler deutscher Fürsten und der bedeutendsten Männer der evangelischen Kirche in die herrlich wiederhergestellte Schlosskirche ein unter dem Geläut aller Glocken und dem Gesang des Lutherliedes ,Ein feste Burg ist unser Gott‘.186

Katholische Festgäste blieben vom Festgeschehen ausgeschlossen: So hatten sich beispielsweise alle Dekane der Halleschen Universität zur zentralen Zeremonie auf dem Marktplatz eingefunden, nur der Dekan der Mediziner musste sich durch einen Kollegen vertreten lassen, weil er Katholik war.187 Am Tag der Einweihung hat Wilhelm II. sich allerdings versöhnlich in Religionsfragen geäußert und grobe Polemiken unterblieben.188 Die katholische Zeitschrift Germania berichtete beispielsweise: Abgesehen von jedem einer Reformationsfeier an sich naturgemäß anhaftenden Charakter erkennen wir gerne an, dass nach allem, was bis jetzt zu berichten ist, […] die Feier in keiner Weise den Charakter einer Feier des katholikenhetzerischen Evangelischen Bundes trug. […] Man hat in Wittenberg die ,Segnungen der Reformation‘ zu feiern versucht, hat aber nicht im Gegensatz zum Katholizismus und in den Angriffen auf denselben das Wesen der Feier gesucht, wie es leider so oft bei protestantischen Veranstaltungen der Fall ist. Diejenigen, die der Feier diesen positiven, von Verletzungen sich fernhaltenden Charakter aufprägten, haben sich dadurch um den immer wünschenswerten, in unseren Tagen aber nötigen Frieden unter den Konfessionen verdient gemacht und auch um den Frieden im Vaterlande, in dem es wahrlich der Gegensätze und Kämpfe genug gibt.189

Die Festanalyse zeigt, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Glaubenskämpfer Luther allmählich dem nationalen Heros Platz machte. Für die Neugestaltung der Schlosskirche sollte das deutsch-nationale Leben Vorrang vor dem evangelischen Bekenntnis gewinnen.190 Mit dem Ende des Kultur185 Vgl. Verwaltungsbericht der Stadt Wittenberg für den Zeitraum 01. 04. 1890 bis 31. 03. 1891, Stadtarchiv Wittenberg. 186 Diest, Erinnerungen, 527. 187 Wattrodt, Einweihung der Schlosskirche, 30 f. 188 Vgl. Witte, Erneuerung der Wittenberger Schlosskirche, 87. 189 Germania, Jg. 1892, Nr. 253, zitiert in: Artikel „Die Einweihung der Wittenberger Schlosskirche“, in: Chronik der Christlichen Welt 2 (1892), 425 – 428. 190 Vgl. Treu, Reformation als Inszenierung, 20.

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kampfes hatten sich die Konflikte zwischen Protestanten und Katholiken im späten Kaiserreich allmählich von der staatlich-amtskirchlichen Ebene auf andere Bühnen verlagert.191 Nicht mehr die Gegnerschaft zum Katholizismus stand deshalb im Zentrum der Religions- und Kirchenpolitik des letzten deutschen Kaisers, sondern eine neue Herausforderung in Gestalt der sozialen Frage sowie der damit verbundenen kirchlichen Entfremdung wachsender Bevölkerungskreise.192 Den wachsenden sozialen Spannungen des Industriezeitalters sowie der als Bedrohung empfundenen erstarkenden Sozialdemokratie suchte das Kaiserhaus mit einer christlichen Fundierung der deutschen Gesellschaft zu begegnen. Die Nation blieb auf die Wirklichkeit Gottes bezogen und die Institution Kirche wurde zu einer konservativen Ordnungsmacht.193 Prestigeträchtige Großprojekte wie die Wittenberger Schlosskirche sollten deshalb dazu beitragen, die religiöse Gesinnung der Untertanen zu stärken und diese stärker an das ,von Gott erwählte‘ Herrscherhaus zu binden. Vom Gottesgnadentum seines Amtes und der Gottverbundenheit seiner eigenen Person war vor allem der letzte deutsche Kaiser überzeugt.194 Neben der sozialintegrativen und der parteiversöhnenden Leistung trat deshalb die Funktion der Herrschaftssicherung hervor. Die geschilderten konfessionellen und sozialen Spannungen widersprachen dem Anspruch des bürgerlichen Festes im 19. Jahrhundert, ein harmonisches Bild der Gesellschaft zu entwerfen. Diese Spannungen führten deshalb nicht zum Versuch einer zunehmenden Entpolitisierung der Feste, sondern vor allem zu einer „Flucht in die Vergangenheit“,195 wie der Vergleich der bürgerlichen Festkultur zwischen der Kommunalfeier im Oktober 1883 und den Einweihungsfeierlichkeiten der Schlosskirche im Jahr 1892 exemplarisch zeigt. Diese Flucht sollte durch die mythische Erhöhung der Nation im Nationaldenkmal die Segmentierung der Gesellschaft des Kaiserreichs in drei große Milieus oder Lager – nationales Bürgertum, politischer Katholizismus und sozialistische Arbeiterschaft – überwinden helfen.

4.3 Die Einweihungsfeier als Herrschaftsinszenierung Die von Charlotte Tacke vertretene These, Denkmälern keine ihnen immanente Bedeutung zuzuweisen, führt zu einer gebotenen Analyse der auf sie bezogenen symbolischen Praxis.196 Vor allem die mit dem Denkmal verbundene Festkultur spielt hier eine zentrale Rolle, denn im 19. und frühen 191 192 193 194 195 196

Vgl. Blaschke, Das deutsche Kaiserreich, 186; Nipperdey, Religion im Umbruch, 80 ff. Vgl. Jürgen Krüger, Wilhelms II. Sakralitätsverständnis, 242. Vgl. Pollmann, Wilhelm II. und der Protestantismus, 93. Vgl. Benner, Die Strahlen der Krone, 97. Vgl. Tacke, Denkmal im sozialen Raum, 207. Ebd., S. 201.

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20. Jahrhundert erfüllte sich der Zweck symbolträchtiger öffentlicher Bauten ganz wesentlich in den politischen Festen, die zu ihren Füßen gefeiert wurden.197 Zwingende Voraussetzung für die Akzeptanz der Wittenberger Schlosskirche als Repräsentationsbau kaiserlicher Gewalt war deren Annahme, um sie in den öffentlichen, sozialen und psychologischen Kommunikationsraum einzubinden. „Die Idee des Denkmals vollendet sich erst in der Einstellung des Betrachters und des Teilnehmers an Festen“,198 schreibt Nipperdey. Aufwand und Größe des Projektes allein konnten die notwendige Aufmerksamkeit nicht dauerhaft gewährleisten, wie beispielsweise die Bauten des bayrischen Königs Ludwig II. zeigen. Diese stellen eine „Baukunst der Ohnmacht“ dar und versinnbildlichen „die monumentale Abdankung des Königtums“.199 Um der Gefahr einer Selbstbespiegelung irrealer Machtverhältnisse zu begegnen, musste der herrscherliche Historismus auf eine volkstümliche Öffentlichkeit setzen. Erst in den Feiern stellte sich die überaus charakteristische Form der Herrschaft selbst dar, es wurde aber auch deutlich, wie Herrschaft respektiert wurde. Ferner zeigten sich Mechanismen der Herrschaftssicherung und der politischen Sozialisation, aber auch der gesellschaftlichen Schichtung. Schließlich brauchte der Kirchenbau Zeugen, um seine Anziehungskraft dauerhaft zu beweisen. Eine volkstümlich inszenierte Einweihungsfeier war deshalb die Voraussetzung für das Gelingen dieses Vorhabens. Im Ergebnis gestalteten sich die Feiern zur „prunkvollsten Demonstration staatlicher Macht wie bürgerlichem Untertaneneifers, die Wittenberg je in seinen Mauern erlebte.“200 Stadtbürgerliches Selbstverständnis und monarchische Staatsverfassung ließen sich bei den Feierlichkeiten der Einweihung der Schlosskirche 1892 scheinbar mühelos miteinander vereinbaren. Sie dokumentieren, dass neben der Tendenz zur Verbürgerlichung der reformatorischen Jubiläumskultur im 19. Jahrhundert auch das ältere, obrigkeitlich geprägte Repräsentationsfest des konfessionellen Fürstentums fortbestand.201 Auf vielfältige Weise wurde dabei aber auch an noch ältere, biblisch begründete sowie antike und mittelalterliche, Formen der Herrschaftsrepräsentation angeknüpft. Mochte beispielsweise die Kontinuität des neuen deutschen Kaisertums zum Heiligen Römischen Reich in der borussischen Interpretation auch zweifelhaft sein, so bedienten sich die Initiatoren doch der zeremoniellen Tradition.202 Die Person Wilhelms II. stand im Mittelpunkt des Festgeschehens, zu dem die Regierung des Deutschen Reiches, Vertreter der europäischen protestantischen Herr-

Vgl. Hardtwig, Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewusstsein, S. 270. Nipperdey, Zum Jubiläum des Hermanndenkmals, S. 24. Träger, Der Weg nach Walhalla, S. 267. Treu, Wittenbergs Entwicklung zur Lutherstadt, 63; Dokumentiert in den Akten 49, 50, und 51, Stadtarchiv Wittenberg. 201 Vgl. Burkhardt, Reformations- und Lutherfeiern, 213 ff. 202 Vgl. Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens, 27 ff. 197 198 199 200

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scherhäuser und die Führung der protestantischen Geistlichkeit geladen waren. Für das Heranbringen der Gäste aus der Ferne waren zwei Erfindungen des 19. Jahrhunderts von Bedeutung: Elektrisches Licht und die Eisenbahn. Insbesondere der Kaiser sollte standesgemäß empfangen werden, denn dem Herrschereinzug wohnten rechtliche, repräsentative und soziale Qualitäten inne. Er betrat im mit Lorbeerbäumchen und Palmengewächsen geschmückten Hauptbahnhof erstmals städtischen Boden und gelangte über eine von Holzmasten gesäumte Feststraße in die Stadt. Zwischen den einzelnen Masten hingen Fichtenzweiggirlanden; auf ihnen steckten preußische Fähnchen und nach Einbruch der Dunkelheit illuminierten an ihnen befestigte elektrische Leuchtkörper die ,Prozessionsstraße‘ und gaben dem Ort ein sakrales Ambiente. Mit diesem ,Adventus‘ ist an ein Herrschaftsritual angeknüpft worden, das von der Antike bis in die Neuzeit gepflegt wurde und ein besonders prägnantes Phänomen der longue dure darstellt.203 Beim Einzug des Kaisers 1892 wurden zwar, im Unterschied zu vorangegangenen Jahrhunderten, keine kommunalbezogenen Herrschafts- oder Machtansprüche mehr verhandelt, aber eine öffentlichkeitswirksame Begrüßungsform gefunden, die sich historisch begründen ließ.204 Darüber hinaus war die Idee des feierlichen Herrschereinzugs auch vom adventus domini, dem Einzug Jesu in Jerusalem, geprägt worden.205 Auf der Höhe des Augusteums, beim Erreichen der Altstadt, durchschritten die Ankömmlinge ein aus Holz gefertigtes Stadttor mit marmorähnlicher Stuckverkleidung, das an einen römischen Triumphbogen oder an spätmittelalterliche Ehrenpforten erinnerte und zu Ehren von Wilhelm II. errichtet worden war.206 Es übte die Symbolfunktion eines Stadttores aus, da man an gleicher Stelle zwanzig Jahre zuvor das Elstertor, eines der drei Wittenberger Stadttore, im Zuge der Entfestung weggerissen hatte. Aber auch in der reformatorischen Erinnerungspolitik spielte der Triumphbogen immer wieder eine Rolle, wie dessen Errichtung in Augsburg oder auch in Wittenberg anlässlich der Zweihundertjahrfeier der Confessio Augustana 1730 zeigt.207 In den beiden Fronthäuschen des 1892 als Kulisse des Ingressus errichteten Triumphbogens befanden sich zwei allegorische Idealfiguren, von denen die eine mittels Moses’ Gesetzestafeln auf den Katechismus, die andere hingegen 203 Vgl. Lampen/Johanek, Adventus, Einleitung. 204 Vgl. Tenfelde, Adventus, 59. 205 Ernst Kantorowicz weist auf die Parallelen zwischen dem mittelalterlichen Herrschereinzug und dem biblischen adventus domini hin. Siehe: Kantorowicz, The ,King’s Advent‘. 206 Vgl. Philipps Ausführungen zu Festdekorationen als Medien politischer Kommunikation; Philipp, Ehrenpforten. – Auch in anderen Städten sind bereits wenige Jahre nach dem Wegreißen alte Stadttore als Kulisse zu besonderen Anlässen wiedererrichtet worden, so zum Beispiel anlässlich des 1908 in Mölln stattfindenden Laurentiusfestes, in Dortmund 1899 und in Halle an der Saale 1903 jeweils anlässlich des Kaiserbesuchs. 207 Thulin, Bildanschauung zur Confessio Augustana, 121.

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auf Luthers Bibelübersetzung verwies.208 Dort begann die Prozession des Kaisers entlang der von den Soldaten der örtlichen Garnison gesäumten ,historischen Meile‘ mit den wichtigsten reformationsgeschichtlichen (Erinnerungs-) Orten,209 die zunächst am Rathaus endete. Die Orte konfigurierten einerseits die Stadt als funktionalen Raum, erzeugten aber auch einen performativen Raum, der sich insbesondere bei Ritualen neu generieren ließ und von den Akteuren gestaltet oder umgedeutet werden konnte. Der Stadtraum wurde so zum Schauplatz städtischer Selbstdarstellung und gleichzeitig zur Bühne der Herrschaftsdemonstration.

Abb. 10 Kaiser Wilhelm II. vor dem Rathausportal

Nach der Begrüßung des Kaisers durch den Wittenberger Bürgermeister vor dem Rathaus setzte sich der Festzug mit allen fürstlichen Gästen in Richtung Schlosskirche in Bewegung. Der ,Adventus‘ des Herrschers sowie der feierliche Zug zur Schlosskirche glichen einer Prozession entlang einer ,Wittenberger via sacra‘ und setzten die Anspielung an den biblisch begründeten adventus domini fort. Dieser verwandelte sich in Wittenberg allerdings zu einer protestantischen pompa triumphalis. Wilhelm II. trat nicht als Erlöser, sondern vielmehr als Triumphator auf, der entlang der im Festbericht als „via trium-

208 Vgl. Pietsch, Festbericht 1892; Wattrodt gibt stattdessen zwei Statuen an, die die Philosophie und die Theologie verkörperten. Siehe: Wattrodt, Einweihung Schlosskirche, 25. 209 Vgl. Kirchhof, Das Infanterie-Regiment Graf Tauentzien von Wittenberg, 368.

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phalis“210 bezeichneten historischen Meile Wittenbergs zog. In den folgenden Jahrzehnten wurde dieser Zug von vielen Wittenberg-Besuchern nachvollzogen und entsprach damit der Nationaldenkmalsdefinition Nipperdeys: „Das Nationaldenkmal hat einen sakralen Charakter, es ist Tempel und Heiligtum […], der Weg zu dieser Stätte ist als Wallfahrtsweg konzipiert und kultischreligiöse Feiern sollen dort begangen werden.“211 Die Konsekration sakraler Bauwerke war seit der römischen Zeit kaiserliches Recht. Durch sein Engagement für den Kirchenbau nahm Wilhelm II. also ein Grundmuster imperialer Herrschaftsausübung auf und intensivierte es in bisher nicht gekannter Weise.212 Ein eigens hergestellter großer Prunkschlüssel wurde von ihm an den Präsidenten des Oberkirchenrats übergeben, der ihn an den Superintendenten weiterreichte. Dieser Akt hatte nichts mit der kirchlichen Weihezeremonie zu tun, sondern war ein Hoheitsakt, der das Zuund Nacheinander von Rechtsverhältnissen verdeutlichte.213 Dennoch trat Wilhelm II. nicht nur als Landesherr, sondern auch als summus episcopus durch das Thesenportal in das Gotteshaus ein. Es folgte eine Weiherede und ein Weihegebet, woran sich der eigentliche Festgottesdienst anschloss. In einer kurzen Ansprache formulierte er, das Bauwerk solle Wittenberg eine Mahnung zur Gottesfurcht, Königstreue und Loyalität sein.214 Hatten beim Eintritt des preußischen Königs in die Schlosskirche anlässlich des Reformationsfestgottesdienstes 1817 in Wittenberg Kanonenschüsse und Orgelspiel eingesetzt,215 so läuteten beim Einzug des Kaisers in das Gotteshaus 1892 in den evangelischen Kirchen Deutschlands die Glocken und bekundeten die Verbundenheit des gesamten protestantischen Reiches mit der Wittenberger Reformation.216 Das Fest versinnbildlichte jedoch nicht nur die räumliche Expansion der evangelischen Konfession, sondern auch deren temporäre Kontinuität. So gaben die am Luthergrab versammelten Nachfahren des Reformators dem Festgeschehen einen authentisierenden Verweis. Bereits 1883 hatten Luthernachkommen am Festgeschehen teilgenommen und auch bei späteren Reformationsjubiläumsfeiern ist deren Anwesenheit üblich. Die hier geübte Inkarnationspraxis brachte die Grenzen zwischen Geschichtsrepräsentation und Gegenwart zum Verschwinden: Während öffentlich zur Schau gestellte Lutherdevotionalien auf das 16. Jahrhundert verwiesen, symbolisierten die als Ehrengäste an den Feierlichkeiten teilnehmenden Nachfahren des Reformators dessen Weiterleben und somit die ungebrochene Kontinuität der evangelischen Konfession. Dem Gottesdienst folgte der historische Festzug, den Wilhelm II. und 210 211 212 213 214 215 216

Pietsch, Festbericht 1892. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal, 537. Benner, Strahlen der Krone, 107. Vgl. Krüger, Rom und Jerusalem, 17. Wattrodt, Einweihung Schlosskirche, 30. Vgl. Burkhardt, Reformations- und Lutherfeiern, 214. Vgl. Hennen/Steffens, Von der Kapelle zum Nationaldenkmal, 214.

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weitere Ehrengäste von einer für diesen Anlass vor dem Augusteum errichteten Tribüne verfolgten und der das wirkungsvollste Medium einer breiten öffentlichen Beteiligung an den Feierlichkeiten darstellte. Nach dem Ende des Festzugs versammelten sich der Kaiser und seine Gäste gegen 15 Uhr zur Frühstückstafel in der eigens dafür hergerichteten Aula des Lutherhauses. Die hier aufgestellten Vitrinen mit Lutherdrucken hatte man zugunsten von Öfen beiseite rücken lassen.217 Während also die papierenen Zeugnisse der Reformation keine Beachtung fanden, wurde ein Objekt Teil der Inszenierung: In Analogie zur Abendmahlsfeier trank Wilhelm II. aus Luthers Mundbecher, den der Wittenberger Rat dem Reformator 1525 zur Hochzeit geschenkt hatte und spielte nochmals auf den biblisch begründeten Gedanken eines adventus domini an.218 Blieb die Öffentlichkeit von der Frühstückstafel verbannt, so integrierte der Festverlauf sie am Ende des Kaiserbesuchs wieder, denn zum Abschluss des offiziellen Teils der Festlichkeiten führten die Wittenberger das Lutherfestspiel von Hans Herrig im Beisein des Kaisers und vieler Ehrengäste im Exerzierhaus der Kavalierskaserne auf. Dieser hatte die Aufführung des Herrig’schen Lutherfestspiels ausdrücklich gewünscht.219 Nach dem Ende der Aufführung begab sich der Kaiser auf schnellstem Wege zum Bahnhof und verließ die Stadt, wodurch der offizielle Teil des Einweihungsfestes abgeschlossen war. Der Autor eines Festberichtes bedauerte es außerordentlich, dass Wilhelm II. auf seinem Rückweg nicht noch einmal durch das historische Stadtzentrum gelangte, welches zur vorgerückten Stunde prächtig illuminiert war. Neben dem üppigen Festschmuck hatte gerade die ausgefeilte Beleuchtungskomposition die Festbesucher jener Zeit beeindruckt.220

4.4 Der Fürstenzug – Eine Heerschau des protestantischen Adels Zu Recht hebt Martin Treu in seinem Beitrag über die Entstehungszusammenhänge der neu entstandenen Wittenberger Schlosskirche hervor, dass der dem Anlass geschuldete Festzug einer gesonderten Analyse bedürfe.221 Im Anschluss an den Festgottesdienst stellten rund 1000 Wittenberger Bürger in zwanzig Abteilungen die Zeit von der mittelalterlichen Herrschaft Albrechts 217 Vgl. Jordan, Zur Geschichte der Sammlungen, 7. 218 Vgl. Pietsch, Festbericht 1892, 35; Wattrodt, Einweihung Schlosskirche, 51. – Bei seinem Besuch in Eisleben anlässlich des Bergbau-Jubiläums im Jahr 1900 trank der Kaiser aus einem Pokal, den König Gustav von Schweden Luther geschenkt haben soll und aus dem angeblich schon Kurfürst Joachim II. von Brandenburg getrunken hatte. Vgl. Treu, Lutherfeiern in Eisleben, 49. 219 Vgl. Brief Bürgermeister Dr. Schirmer, 13. 08. 1892, in: Akte 52, Lutherfestspiel, Stadtarchiv Wittenberg. 220 Vgl. Laube, Fest, Religion und Erinnerung, 325. 221 Vgl. Treu, Reformation als Inszenierung, 28.

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des Bären bis zur damaligen Gegenwart dar.222 Mittels einer Serie pompöser Bilder von historischen Einzelmomenten aus der Geschichte der Stadt und der konfessionell begründeten Tradition wurde die Gegenwart historisiert und auch der Zuschauer in einen großen Zusammenhang gestellt. Ziel war es, einen Geschichtsverlauf ohne Brüche herzustellen, der eine Vermittlung zwischen Fürst und Volk sowie zwischen Vergangenheit und Zukunft intendierte. Anders als im Festzug 1883, der wenig Bezug auf die Stadt- und Reformationsgeschichte genommen hatte und vielmehr eine Selbstschau der Bürgerschaft in ihrer damaligen Gegenwart darbot, griffen die Initiatoren 1892 auf den Fundus der Historie zurück, um die engere Geschichte Wittenbergs und die weitere des Kurkreises darzustellen.223 Der Festzug verschob somit die historische Perspektive der geschichtlichen Erinnerung, die 1883 als Apologie der Gegenwart, 1892 jedoch als Flucht in die Vergangenheit diente. Der historische Festzug 1892 war aber kein bloßer Bestandteil eines imaginären Geschichtskontinuums, sondern er stellte sich und die durch ihn dargestellte Geschichte in ein bestimmtes Verhältnis zu Vergangenheit und Gegenwart. Vergangenheit war hier Resultat kultureller Rückwärtsprojektion. Der Festzug bebilderte diese gewünschte Vergangenheitskonstruktion und machte sie massentauglich. In Anwesenheit des Kaisers, der dem Zug von einer vor dem Augusteum errichteten Festtribüne beiwohnte, stellte sich kein selbstbewusstes Stadtbürgertum zur Schau, sondern ein obrigkeitstreues Untertanentum. Während der Zug 1883 ein Umzug der Bürger selbst war, gestaltete sich der historische Festzug 1892 zu einer Dekoration für den Herrscher,224 „mit dem Wittenberg seinen Kaiser ehren wollte.“225 Aufgrund der überragenden politischen Bedeutung der Feierlichkeiten überließen die kaiserlichen Ratgeber deren Ausgestaltung nicht einer Lokalelite. Die Festzugskonzeption hatte deshalb nicht, wie 1883, in den Händen der Wittenberger Bürger gelegen, sondern war von dem Berliner Künstler August Blunck erarbeitet und von einer kaiserlichen Kommission unter Vorsitz des regierenden Fürsten Otto zu Stolberg-Wernigerode genehmigt worden.226 Die bereits im ikonographischen Programm der Schlosskirche zum Ausdruck gebrachte Idee einer Heerschau des christlichen Adels wurde durch die kontinuitätspolitisch orientierte Darstellungspraxis des Zuges unterstrichen. Die historischen Zusammenhänge simplifizierend und kanonisierend, zeigte er, dass die Geschicke der Stadt sowie die Geschichte des Protestantismus stets aufs Engste mit dem Engagement einzelner Herrscherpersönlichkeiten ver222 223 224 225 226

Vgl. Einweihung Schlosskirche, Akte 49, Stadtarchiv Wittenberg. Vgl. Wattrodt, Einweihung Schlosskirche, 48. Vgl. Hettling/Nolte, Bürgerliche Feste, 13. Wattrodt, Einweihung Schlosskirche, 48. Vgl. Artikel Wittenberger Tageblatt vom 12. Oktober 1892 und Akte 50, Festumzug Einweihung Schlosskirche, Stadtarchiv Wittenberg.

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bunden waren. In retrospektiver Rekonstruktion entstand Vergangenheit als bruchlose Aneinanderreihung dynastischer Individuen. Ohne Worte vermittelte dieser ,Fürstenzug‘ einerseits die vermeintliche Geradlinigkeit historischer Entwicklung, die der Betrachter sinnlich erfahren konnte, anderseits vermochte er die Verhältnisse des gegenwärtigen Betrachtungsstandpunktes in die Geschichte zurückzuprojizieren. Angeführt wurde der Zug von Albrecht dem Bär, in dessen Folge flämische Siedler an die Elbe kamen und die Voraussetzungen für die Stadtgründung schufen. Herzog Albrecht II. wurde als eigentlicher Stadtgründer dargestellt, auf seinem Wagen fuhr die Stadtgöttin Vitebergia. Rudolf I. wurde als Gründer der Schlosskapelle gezeigt, Friedrich der Weise als der Erbauer der spätgotischen Hallenkirche sowie als Gründer der Universität. Dem Prunkwagen der Reformation folgten die evangelischen deutschen Landesherren, unter ihnen der letzte Wittenberger Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige. Aus den Festzugsmotiven und gestalterischen Einzelheiten sprach die reiche Fülle einer im Kern eher feudalen Festzugstradition in einer Zeit, in der solch „übersteigertes dynastisches Bewusstsein immer mehr vom Geist der Normalgesellschaft überholt worden war.“227 Der Festzug betonte die Aufgabe der Fürsten als Bewahrer und Verwalter des lutherischen Erbes, wobei dem Bürgertum eine assistierende Rolle zugeschrieben wurde. Die Handlung selbst geriet allerdings zur Manifestation neuer bürgerlicher Selbstbewusstheit, denn unabhängig vom politischen Inhalt dominierten Darstellung und Repräsentationsformen bürgerlicher Kultur das Fest.228 Die Festzugsabteilungen 14 bis 16 zeigten drei nichtdeutsche Bekenner des evangelischen Glaubens, Wilhelm von Oranien, Christian IV. von Dänemark sowie Gustav Adolf von Schweden.229 Ursprünglich hatte das städtische Festkomitee Karl XII. von Schweden und Peter den Großen vorgeschlagen, da beide Herrscher sich tatsächlich im Zusammenhang mit den Ereignissen des Großen Nordischen Krieges in Wittenberg aufgehalten hatten. Peter der Große ist durch seine noch heute sichtbare Unterschrift auf der Tür zur Lutherstube sogar Teil der Denkmallandschaft geworden.230 Nach der Intervention Wilhelms II. wurde jedoch auf beide Herrscherpersönlichkeiten verzichtet. Über die Hintergründe kann nur spekuliert werden, da aus den Akten keinerlei Begründung der Ablehnung hervorgeht. Der russische Zar passte wohl nicht in die Festzugskonzeption, da er offensichtlich kein Vorkämpfer der protestantischen Sache war. Gegen den Schwedenkönig Karl XII. sprach vielleicht der höhere Symbolwert Gustav Adolfs. Belegbar ist der kaiserliche Wunsch, einen Vertreter des holländischen oder dänischen Königshauses zu sehen,

227 228 229 230

Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, 739. Vgl. Tenfelde, Adventus, 74. Vgl. Witte, Die Erneuerung der Wittenberger Schlosskirche, 88. Vgl. Schippan, Zar Peter I. von Russland und Wittenberg.

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weshalb man sich schließlich auf Wilhelm von Oranien einigte.231 Das Verhältnis von Rolle und Rang der Darsteller wurde gewahrt, indem Rittergutsbesitzer aus Gotha, Delitzsch und Brehna in die Rollen der europäischen Herrscher schlüpften.232 Die gebaute Realität der wiedererstandenen historischen Kirche ließ sich mit den Mitteln des historischen Festzuges mit Staffage beleben. Ihre Geschichte zog sich wie ein roter Faden durch den Festzug und strich dessen Anlass für alle nachvollziehbar heraus. So erschien im ersten Teil des Zuges Herzog Rudolf I., der die Schlosskirche im 14. Jahrhundert als Kapelle gegründet hatte. Das achte Bild zeigte den Bau als spätgotische Hallenkirche unter Friedrich dem Weisen um 1500. In Bild 17 wurde den Zuschauern das Modell der nach der Zerstörung im Siebenjährigen Krieg wiedererrichteten barocken Kirche dargeboten. Im vorletzten Bild des Zuges marschierten schließlich die Bauleute und Handwerker des jüngsten Wiederaufbaus zusammen mit einem Modell der 1892 fertiggestellten Kirche. Die Neuinszenierung der Geschichte gipfelte in ihrem nunmehr glorreichen Hauptgegenstand, der neu errichteten Schlosskirche, und bot den Anschluss an die damalige Gegenwart. Teilnehmer und Publikum wurden auf diese Weise gewahr, selbst Zeuge eines wahrhaft historischen Ereignisses zu sein, dessen Wirkung weit über die engen Grenzen der Feier selbst hinausging. Das Mitführen des Modells der Kirche indizierte zudem ein gegenseitiges Durchdringen von ephemeren und monumentalen Elementen, von Fest und Denkmal.233 Der einzige direkte Bezug zur Reformationsgeschichte wurde in der Mitte des Zuges durch einen Prunkwagen hergestellt, auf dem lebendige Bildnisgestalten der Reformation um Luther und Melanchthon mitfuhren. Handwerksmeister, ein Kaufmann, ein Lehrer und ein Arzt stellten sie dar.234 Eine in langen, grau-weiß-violetten Gewändern gekleidete Frau verkörperte allegorisch die Reformation und verlieh ihr die Aura des Erhabenen.235 Während die historische Gestalt des Personenmythos von einer Erzählstruktur getragen wird, repräsentiert die allegorische Gestalt eher eine soziale Einheit oder eine spezifische Tugend.236 In diesem Fall waren Tugend und Einheit durch allegorische Repräsentanz einer konfessionellen Gruppe sowie durch allegorische Repräsentanz der Reinheit des Glaubens miteinander verwoben. Im Protestantismus als einer ausgeprägten Wortreligion wird diese Reinheit des Glaubens durch das reformatorischen Prinzips des sola sciptura gewährleistet. Der allegorischen Darstellung der Reformation folgten im Festzug deshalb Bilder, 231 Vgl. Abschrift Brief von Eulenburg an Graf von Stolberg-Wernigerode vom 15. 09. 1892, Akte 50, Festumzug Einweihung Schlosskirche, Stadtarchiv Wittenberg. 232 Vgl. Verzeichnis der Teilnehmer des Festzugs 1892, Akte 51, Stadtarchiv Wittenberg. 233 Vgl. Telesco, Der historische Festzug im 19. Jahrhundert, 131. 234 Vgl. Verzeichnis der Teilnehmer des Festzugs 1892, Akte 51, Stadtarchiv Wittenberg. 235 Vgl. Hartmann, Der historische Festzug, 152. 236 Vgl. Haug (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie; Wappenschmidt, Allegorie, Symbol, Historienbild.

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Abb. 11 Bilder aus dem Festumzug1892

die sich auf die Universitätsgründung sowie den Buchdruck bezogen. Vom Buchdruckerwagen verteilten die bekanntesten Wittenberger Drucker des 16. Jahrhunderts, Luft, Lotter und Grüneberg, einen faksimilierten Nachdruck der 95 Thesen.237 Der Festzug endete auf dem Arsenalplatz mit einer Ansprache des Berliner Oberhofpredigers Wilhelm Faber, der bereits zur Feier 1883 auf dem Marktplatz unmissverständlich klar gemacht hatte, dass die Reformation nicht die Revolution und Luther aller weltlichen Obrigkeit Untertan gewesen sei.238 Er hatte dabei auch auf die Inschrift auf dem Wittenberger Rathausportal angespielt, die den Bürgern der Stadt zur fortwährenden Mahnung dienen sollte: „Fürchte Gott. Ehre die Obrigkeit. Sei nicht unter den Aufrührern.“ Hier schwang die Angst der weltlichen Machthaber vor dem revolutionären Geist des Protestantismus mit, der in Luthers autoritätskritischer Haltung gegen Papst und Kaiser zum Ausdruck gekommen war und der auf dem Wormser Reichstag symbolpolitisch die größte Zuspitzung erfahren hatte. Faber bezog sich hingegen nicht auf dieses inhärente Widerstandspotential des Protestantismus, sondern betonte in seinem oratorischen Beitrag 1892 den historischen Triumph der Protestanten „und immer neue vaterländische Lieder und brausendes Hurra bezeugten, wie nahe evangelische Festfreude und deutsche Königstreue beieinander liegen.“239 Faber zufolge sollte der Wit237 Vgl. Wattrodt, Einweihung Schlosskirche, 50. 238 1883 war Faber noch Superintendent in Bitterfeld. Vgl. Ansprache, in: Der Lutherfesttag 1883, 128 – 133. 239 Witte, Die Erneuerung der Wittenberger Schlosskirche, 93.

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tenberger Festtag die Schmach von Worms tilgen,240 da nun ein evangelisches Herrscherhaus an der Spitze des Reiches stünde. Die Feier möge deshalb zur Stärkung des evangelischen Bewusstseins dienen.241

4.5 Das Wittenberger Bekenntnis: Gründungsakt einer idealpolitischen Ordnung Aufgrund der reformationsgeschichtlichen Bedeutung, der langen Tradition des preußischen Engagements für die Wittenberger Denkmallandschaft und der internationalen Aufmerksamkeit war die Wittenberger Schlosskirche ein äußerst wichtiges Projekt für Wilhelm II., um seine Vorrangstellung im Reich zu demonstrieren. Spätestens in den Einigungskriegen gegen Dänemark, Österreich-Ungarn und Frankreich hatten die Hohenzollern ihren Primatsanspruch unter den deutschen Fürstenhäusern offensiv vertreten. Die zahlreichen ikonographischen Bezüge des Gebäudes zum Kaiserreich unter Führung der Hohenzollern illustrieren diesen Anspruch. Die Turmhaube erinnert den Besucher schon von weitem an die Kaiserkrone. Auch die Innengestaltung der Kirche verweist auf die durch das Haus Hohenzollern ausgeübte Reichsführung. Auf Wunsch Kaiser Wilhelms II. war für den Chorraum ein Fürstengestühl für die Vertreter von neunzehn protestantischen Fürstenhäusern und den drei Freien Städten Hamburg, Lübeck und Bremen angefertigt worden, sodass das Gotteshaus den Charakter einer „Residenzkirche deutsch-protestantischer Fürsten“ erhielt,242 in der sie sich zu einem ,Konzil‘ versammeln konnten. Auf diese Weise sollten die Beteiligten symbolisch die Rückkehr zu den Ursprüngen des eigenen Bekenntnisses antreten und dieses gleichzeitig aktualisieren. Das protestantische Deutsche Reich erhielt auf diese Weise am Grabe Luthers eine „religiös-mythologische Weihe“.243 So, wie die Fürsten in der Raumfolge vor dem Kirchenvolk im Schiff platziert waren, war ihnen der Kaiser aufgrund der Position seines thronähnlichen Stuhls zwischen Fürstengestühl und Altar symbolisch übergeordnet. Die Kaiserkrone und die heraldische Bekrönung sowie die auf der Brüstung sitzenden Reichsadler verwiesen auf den Throninhaber, der mit diesem Möbelstück seinen Führungsanspruch im Kreis der protestantischen Reichsfürsten deutlich heraushob. Die Kirche im Reich Wilhelms II. sollte staatstragend sein. Hierfür war es wichtig, dass sie auch einig in der Feier und im Bekenntnis war.244 Die Einweihung der Wittenberger Schlosskirche wurde deshalb bewusst auf den 375. 240 Der Wormser Luther hatte für den Lutherkult des 19. Jahrhunderts zentrale Bedeutung. Vgl. Kohnle, Luther vor Karl V. 241 Vgl. Wattrodt, Einweihung Schlosskirche, 51. 242 Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 84. 243 Treu, Reformation als Inszenierung, 26. 244 Vgl. Krüger, Rom und Jerusalem, 191 und 197.

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Abb. 12 Kaiser und Fürsten beim Einweihungsgottesdienst

Jahrestag des Thesenanschlags, den 31. Oktober, gelegt, um die erst wenige Jahre zuvor erfolgte einheitliche Festlegung auf einen evangelischen Feiertag zu unterstreichen. Im 17. und 18. Jahrhundert waren die Termine für die Reformationstage noch uneinheitlich geregelt gewesen. Während eine Verfügung des sächsischen Kurfürsten anlässlich des Jubiläums 1667 den 31. Oktober festgelegt hatte, hielten süddeutsche Städte noch bis ins 19. Jahrhundert am 25. Juni, der an die Übergabe der Augsburger Konfession erinnert, fest.245 Aber gerade das Wittenberger Beispiel zeigt, wie schwierig die Festsetzung des 31. Oktobers war. Im Gegensatz zum benachbarten Königreich Sachsen war der 31. Oktober in Preußen kein Feiertag und des Thesenanschlags wurde in der Regel am darauf folgenden Sonntag im Gottesdienst gedacht. Maßnahmen wie ein Gottesdienst für die Schuljugend am 31. Oktober, die ab 1901 erfolgte Verlegung des Wochenmarktes vom Marktplatz auf den Holzmarkt am Reformationstag246 und das Angebot verschiedener Veranstaltungen zur Unterstreichung des Festcharakters247 erfolgten erst sukzessiv und trafen nicht überall auf Entgegenkommen. So hatte das Regierungspräsidium Merseburg 245 Zu den einzelnen Festterminen: Meding, Das Wartburgfest, 205ff; Frieder Schulz, Reformationsfest, Sp. 1492. 246 Vgl. Protokoll Sitzung Gemeindekirchenrat vom 28. 01. 1901, in: Akte A II 410, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 247 Beispielsweise trat am 31. 10. 1906 die Berliner Kurrende mit 100 Knaben und 40 Herren in der Stadtkirche auf. Siehe dazu Schriftverkehr in: Akte A II 410, Archiv Stadtkirche Wittenberg.

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1880 angeordnet, der Reformation am Sonntag zu gedenken.248 Das preußische Innenministerium hatte die Bitte um Terminverlegung der Benennung von Wahlmännern am 31. Oktober 1894 abgelehnt.249 Und der Direktor des örtlichen Melanchthon-Gymnasiums verweigerte 1910 die Teilnahme am Schulgottesdienst mit Verweis auf den drohenden Unterrichtsausfall.250 Die örtliche Presse klagte, dass der Reformationstag gerade hier von den örtlichen Handwerkern und Geschäftsleuten so wenig berücksichtigt, so ganz wie ein gewöhnlicher Wochentag behandelt wird. […], dass dieser Erinnerungstag, der wohl zu einem Fest- oder Feiertag geeignet ist […] von vielen Seiten ganz ignoriert worden ist.251

In der Praxis standen der gewünschten Vereinheitlichung des Tages also hohe Hürden entgegen, denen die lokalen Kirchenvertreter mit einer intensiven Popularisierung des 31. Oktober zu begegnen versuchten. So beschloss der Gemeindekirchenrat im Jahr 1904, fünftausend Plakate mit dem Aufruf zur Teilnahme am Gottesdienst am 31. Oktober zu drucken, ein Plakat des Jahres 1908 machte das Ziel eines vollen Gotteshauses am Reformationstag sogar zur Kampfansage. 1912 beklagte die lokale Presse jedoch, dass die Schlosskirche nur stundenweise geöffnet war und „viele, besonders von außerhalb, darunter Pastoren, welche den Tag der 395. Wiederkehr des Thesenanschlags in weihevoller Stunde gedenken wollten“, vor verschlossener Tür standen.252 Neben der Einigkeit in der Feier durch einheitliche Festlegung auf den 31. Oktober wollte Kaiser Wilhelm II. eine Einigkeit im Bekenntnis erreichen. Bereits ein Bericht des evangelischen Oberkirchenrats von 1874 hatte die Erneuerung der Schlosskirche als „ein Sinnbild des ruhmwürdigen, frommen, auf Vereinigung der Gläubigen gerichteten evangelischen Kaisertums“253 empfohlen. Die Einheit sollte nun auch durch die Unterzeichnung des Wittenberger Bekenntnisses bekundet werden, welches im Anschluss an die Einweihungsfeier der Schlosskirche von den anwesenden Fürsten und Vertretern der Freien Reichsstädte unterzeichnet wurde. Der Akt stellte den Höhepunkt der Selbstdarstellung der Hohenzollern als Führer des evangelischen Lagers im Reich dar. In Anlehnung an das Augsburger Bekenntnis von 1530 sollte dessen Verbundenheit mit dem evangelischen Kaiserhaus bestätigt werden. Neben der politisch-dynastischen Funktion setzt das Bemühen um Bekennt248 Vgl. Schreiben Regierungspräsidium Merseburg an Gemeindekirchenrat vom 17. 09. 1880, Akte A II 410, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 249 Vgl. Schreiben des preußischen Ministerium des Inneren an Gemeindekirchenrat vom 10. 10. 1894 , Akte A II 410, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 250 Schreiben Direktor Melanchthon-Gymnasium an Gemeindekirchenrat vom 26. 10. 1910, Akte A II 410, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 251 Berichterstattung Wittenberger Tageblatt, 2. November 1889. 252 Vgl. Plakatdrucke, Akte AII 410, Archiv Stadtkirche Wittenberg; Wittenberger Zeitung vom 02. 11. 1912. 253 Zitiert in: Witte, Erneuerung der Wittenberger Schlosskirche

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niseinheit aber auch den Gedanken des Augsburger Religionsfriedens von 1555 konsequent fort: Das dort betriebene Insistieren auf religiöse Homogenität in den Territorien des Reiches erklärt sich vor dem Hintergrund einer Synthese von Kultur und Religion, die nicht einfach gewechselt und aus der erst recht nicht ausgetreten werden konnte. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde dieser Anspruch für die evangelischen Teile des Reiches vom Kaiserhaus aufrechterhalten, auch wenn er der Realität immer weniger entsprach. In diesem Sinne erfuhr das ursprünglich für die Wormser Lutherfeier 1883 verfasste Herrig’sche Lutherfestspiel für die Wittenberger Aufführung in Anwesenheit des Kaisers eine ergänzende Aktualisierung. Der neue Epilog endete mit folgenden Versen: Was Kaiser, Fürsten, Volk verbindet, Sie hell und laut als ein Bekenntnis, Als Herzensdank, Trost und Erkenntnis, in alle Welt hinaus verkündet! Räumt fort die Steine, machet Bahn, Die Spötter werden selbst zum Spott. Mit unserer Macht ist nichts gethan, Ein feste Burg ist unser Gott.254

Fürstengestühl und Kaiserstuhl materialisierten die angestrebte Bekenntniseinheit und machten sie für alle späteren Besucher der Schlosskirche nachvollziehbar.255 Ein Zeitgenosse wies auf die zu diesem Zweck geschaffene Stätte der Erinnerung hin und formulierte einige Jahre später folgendermaßen: Das protestantische Deutschland unter Führung des protestantischen Kaisers und der protestantischen Fürsten und Geschlechter alter und neuer Zeit hat hier dem Protestantismus als religiöser Lebensmacht in einem Gotteshause seine Huldigung dargebracht und eine Stätte weihevoller Erinnerung geschaffen.256 (Karl Dunkmann, 1911)

Einer Materialisierung der Erinnerung diente auch die in hoher Auflage gedruckte Urkunde des Wittenberger Bekenntnisses,257 deren Original man der Lutherhalle zur dauernden Aufbewahrung übergab. Die Aufnahme in die Lutherhalle sollte das Objekt einerseits historisch veredeln, indem es ihm bleibende Bedeutung zuschrieb, andererseits konnten es die Museumsbesu254 Pietsch, Festbericht 1892, 63; Witte, Erneuerung der Wittenberger Schlosskirche, 94. 255 In einem Schreiben 1907 teilte das Oberhofmarschallamt dem Predigerseminar den kaiserlichen Befehl mit, den Kaiserstuhl in Publikationen als Beispiel guter Holzschnitzkunst zu würdigen und mittels Postkarten zu popularisieren. – Vgl. Akte 36, Bl. 39, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 256 Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 84. 257 Urkunde über die Einweihung der erneuerten Schlosskirche zu Wittenberg vom 31. Oktober 1892, hg. von Herros’s Verlag, Wittenberg 1892. Siehe auch Akte 618, Archiv StLu.

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cher bestaunen. Auch sonst hatte Wilhelm II. sich intensiv darum bemüht, die Einweihung der Kirche und das Bekenntnis mit seinem Namen zu verbinden. Nicht nur seine persönliche Anwesenheit in Wittenberg, die weit über den Rahmen der Schlüsselübergabe sowie über die Teilnahme am Festgottesdienst hinausging, unterstrich dieses Ansinnen. Die Öffentlichkeit des gesamten Deutschen Reiches sowie weite Kreise der protestantischen Welt wurden mittels ausführlicher Zeitungsberichte, Photographien und anderer Bilddokumente sowie einer großen Zahl gedruckter Festberichte und Festschriften informiert. Das Herrscherhaus ließ außerdem eine Gedenkplakette, die das Antlitz des Kaisers sowie die Schlosskirche zeigt, an alle anwesenden Ehrengäste der Einweihungsfeier sowie später an viele protestantische Institutionen des Reiches verteilen, um das ephemere Ereignis dauerhaft zu fixieren.258 Der Abdruck des Wittenberger Bekenntnisses in der katholischen Reichspresse belegt, dass im Vergleich zum Lutherjubiläum 1883 der Kulturkampf abgeklungen war und der Kirchenbau von beiden Konfessionen gegen die neue gesellschaftliche Gefahr einer zunehmenden Entkirchlichung aktiviert wurde.259 Wilhelm war fest davon überzeugt, zum Wohl der Kirche und zum Wohl seines Volkes persönlich in die Geschicke der Kirche eingreifen zu müssen. „Ich will, dass meinem Volk die Religion erhalten werde.“260 Dieses programmatische Bekenntnis des letzten deutschen Kaisers überschreibt seine gesamte Kirchenpolitik. Hierzu gehörte der Anspruch auf materielle Bewahrung, dem sich die Hohenzollern in Wittenberg über ein Jahrhundert hinweg verschrieben haben. Hiermit standen sie nicht alleine da: Es war die Grundhaltung des 19. Jahrhunderts, die den Begriff Historismus begründete.261 Die Schlosskirche bildete nicht nur den Höhepunkt dieser konservatorischen Bemühungen, sondern materialisiert gleichzeitig den Anspruch Wilhelms, die Religion zu erhalten. Hier wurde ein religiöses Glaubensgebäude nicht nur abstrakt errichtet, sondern war konkret greifbar, begehbar und erlebbar.262

258 Vgl. Hennen/Steffens, Von der Kapelle zum Nationaldenkmal, 214. 259 Abdruck in „Germania“ und „Kölner Volkszeitung“. Vgl. Krüger, Wilhelms Sakralitätsverständnis, 260. 260 Dieses Motto schmückte beispielsweise den Vorraum der Kaiserloge der Kaiser-WilhelmGedächtniskirche, die nur wenige Jahre nach der Wittenberger Schlosskirche entstanden ist und ebenfalls zu den Großprojekten Wilhelms II. zählt. Vgl. Krüger, Rom und Jerusalem, 199. 261 Vgl. Oexle, Kulturelles Gedächtnis im Zeitalter des Historismus. 262 Ausführlich bei: Krüger, Rom und Jerusalem, 199.

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5. Stadtraum und Natur 5.1 Denkmallandschaft im Landschaftsgarten Der spatial turn in den Geisteswissenschaften hat die Aufmerksamkeit der Stadtforschung auf die urbane Physiognomie gelenkt. Der Raum ist infolgedessen zu einem zentralen Gegenstand der Untersuchung von Stadtrepräsentationen geworden. Räumliche Stadtbilder dienen der Orientierung und der Identitätsbildung. Bewohner identifizieren sich mit ihrer Stadt im Raum und deren räumlicher Gestalt. Möglich wird dies, weil die historisch gewachsenen Raumstrukturen im Zusammenspiel mit der Landschaft Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit des Stadtgefüges gewährleisten. Aber auch Besucher nehmen die Stadt über räumliche Parameter wahr.263 Deshalb kann für die Perspektive der „Eigenlogik“264 von Städten zum Beispiel das Territorium der Stadt ein möglicher und sinnvoller Bezugspunkt sein, denn Stadtrepräsentationen beziehen sich auf die gebaute Stadt, auf Stadtgrenzen und auf die Verortung der Stadt in einer Region.265 Die räumliche Ausformung der Stadt ist allerdings nicht allein das Ergebnis einer zufälligen historischen Entwicklung, sondern auch ein Abbild herrschender Ordnungsvorstellungen, welches die politische und soziale Topographie reflektiert.266 So schreibt Hartmut Häußermann in einem 2002 erschienenen Aufsatz über die Topographie der Macht: Daher ist der Begriff des öffentlichen Raumes eng verbunden mit der Frage nach Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Räume stellen eine Choreographie der Öffentlichkeit dar. Sie konstituieren und formen Öffentlichkeit und bilden Bühnen für die Repräsentation von Öffentlichkeit.267

Im 19. Jahrhundert fielen vielerorts die mittelalterlichen oder frühmodernen Stadtbefestigungen. An ihre Stelle traten oft langgestreckte Grünanlagen, Promenadenringe oder gartenähnliche Flaniermeilen, sodass die äußere Stadtgestalt eine landschaftliche Umprägung erfuhr. Die ,feste Burg‘ Wittenberg zählt zu den letzten Städten des Deutschen Reiches, deren Festungsanlagen geschliffen wurden. Erst zwei Jahre nach der Reichseinigung erhielten die Stadtväter das Einverständnis des preußischen Herrscherhauses, die Wälle der Stadt niederlegen zu dürfen, um ihr Raum zum Wachsen zu geben:

263 264 265 266 267

Vgl. Sieverts, Die Stadt als Erlebnisgegenraum, 133. Berking/Löw (Hg.), Die Eigenlogik der Städte. Vgl. Rodenstein, Die Eigenart der Städte, 267. Vgl. Guckes, Stadtbilder und Stadtrepräsentationen. Häußermann, Topographie der Macht, 83.

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Es ist nichts mehr übrig geblieben, weder von dem alten Tor noch von den Festungswällen. […] Was jetzt die Wittenberger schützt, ist ein anderer und besserer Schutzwall. Es ist das deutsche Kaisertum, das Luther ersehnt, aber nicht erlebt hat.268 (Karl Dunkmann, 1911)

Politische Akteure legten durch bewusst herbeigeführte Einfriedungen und natürliche geographische Linien Lebenswelten fest, denn „dadurch wird klar, wo Stadt ist und wo nicht, wer dazu gehört und wer nicht.“269 Der Stadtforscher Berking bezeichnet dieses Phänomen als „Kongruenz räumlicher Formen und habitueller Dispositionen.“270 Eine „Denkmallandschaft ist notwendigerweise von einem Grenzgürtel umgeben.“271 Statt einer Überbauung der zentrumsnahen Grundstücke auf den ehemaligen Wallanlagen haben die Wittenberger Stadtväter sich deshalb entschlossen, die historische Grundform der Wittenberger Altstadt in ihrer jahrhundertealten Ausdehnung zu belassen. Nachdem die Festungsanlagen ab 1873 geschliffen worden waren, fassten die nun entstandenen Grünanlagen diesen historischen Bestand ringförmig ein und hoben ihn deutlich vom Rest der Stadt ab. Ein Bauverbot ließ einen begrenzten Immunitätsbereich entstehen und die gründerzeitliche Expansion der Wohnviertel Wittenbergs erfolgte im Norden der Stadt jenseits der ehemaligen Wallanlagen, die unter Einbeziehung einiger verbleibender Festungselemente zu einem breiten Grüngürtel umgestaltet wurden. Die außerhalb des Grüngürtels einsetzende Stadterweiterung des späten 19. Jahrhunderts sollten staatliche Verwaltungsund Dienstgebäude dominieren: Postamt, Melanchthon-Gymnasium, Kavalierskaserne und Amtsgericht säumen die Grünanlagen und umgreifen den historischen Bestand. Ihre repräsentative architektonische Gestaltung illustriert die gefühlte Verpflichtung der Bauherren, das Neue mit der historischen Physiognomie Wittenbergs in Einklang zu bringen. Aber auch die Straßennamen der Gründerzeitviertel – Lutherstraße, Melanchthonstraße, Katharinenstraße – sowie die Gestaltung der Aula des Gymnasiums mit dem Wandbild Luther auf dem Reichstag in Worms unterstreichen die ideelle Verbundenheit der bürgerlichen Eliten mit dem historischen Erbe Wittenbergs.272 Fabriken und Verkehrsbauten sowie Quartiere für die Arbeiter sind hingegen in gebührendem Abstand zum historischen Zentrum im Osten sowie Westen der Stadt angesiedelt worden. Dem Besucher Wittenbergs bietet sich eine ästhetische Grenzziehung zwischen dem Altbestand Wittenbergs, der in seiner Grundfläche in etwa dem der Reformationszeit entspricht, und der urbanen Expansion nach 1873. Die 268 269 270 271 272

Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 55. Rodenstein, Die Eigenart der Städte, 267. Berking, Städte lassen sich an ihrem aufrechten Gang erkennen, 19. Breuer, Denkmallandschaft, 80. Vgl. Das Wandgemälde. – Glasner analysiert die Bennennung öffentlicher Räume unter mentalitätsgeschichtlichen Prämissen. Vgl. Glasner, Straßennamen.

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topographische Grenze entsprach dabei der mentalen, denn Industrie- und Verkehrsbauten spielten in der Stadtrepräsentation keine Rolle und sollten folglich ,auf Abstand‘ gehalten werden. Die auf diese Weise in ihren Dimensionen und in ihrem Baubestand bewahrte ,schöne alte Stadt‘ war im 19. Jahrhundert das zentrale Motiv einer kulturellen Identität der Deutschen. Die Romantisierung des Kleinstädtischen mittels Traditionskultur, Provinzialität und Anti-Moderne kontrastierte mit dem Moloch Großstadt, der meist nicht als Ort des sozialen Wandels, sondern als Ursache für diese Entwicklung wahrgenommen wurde.273 Falls es eine deutsche Seele gibt, dann ruhe sie in der von Industrialisierung und Urbanisierung scheinbar unberührten deutschen Kleinstadt, schrieb Hermann Glaser.274 Die kleinen Städte erschienen als Orte, die mit der Natur in vollkommenem Übereinklang standen und aus einer Landschaft herausgewachsen waren. In Wittenberg wurde die historische Altstadt somit in einen gepflegten Landschaftsgarten eingebettet. Räumliche Stadtrepräsentationen lassen sich auch anhand von bildlichen Darstellungen der Stadt untersuchen. Mitgedacht werden muss dabei, dass die Denkmallandschaft prinzipiell auf den terrestrischen Betrachter bezogen ist und die Anschaulichkeit von Höhenbezügen wichtiger als die Veranschaulichung von Ausbreitung ist.275 Die Ersetzung der Wallanlagen durch einen Grüngürtel bewahrte nicht nur Wittenbergs scheinbare Kleinstadtidylle, sondern auch die historische Stadtsilhouette, aus der sich die städtebauliche, aber auch stadtpsychologische Einzigartigkeit Wittenbergs nährt. Vergleichbar etwa mit dem Dresdner Canaletto-Blick ist die über Jahrhunderte unveränderte Stadtansicht mit der Elbe im Vordergrund Teil des Mythos Wittenberg geworden.276 Dem von Süden kommenden Besucher bietet sich eine unverwechselbare Kulisse mit dem Schlosskomplex im Westen, den Doppeltürmen der Stadtkirche im Zentrum sowie der Universität und dem Lutherhaus im Osten.277 Die alte Stadt behielt durch den Verzicht auf eine urbane Expansion gen Süden sowie die grüne Trennlinie nach Osten und Westen im landschaftlichen Horizont die ästhetische Geschlossenheit des Ortsbildes. Noch in den 1930er Jahren lobt ein Stadtführer: „Das Wesentliche des Stadtbildes, die Kirchen und viele Häuser des 16. Jahrhunderts, sowie der Zusammenhang des Ganzen mit der schweren, ernsten Elblandschaft ist erhalten geblieben.“278 Die Silhouette wirkt als geschlossenes Gebilde, als ein Stadtmodell in Originalgröße für den von fern Heranreisenden und vermittelt eine optische Identität, die im 19. Jahrhundert durch denkmalpflegerische Maßnahmen Zur Großstadtkritik vgl. Reulecke/Zimmermann (Hg.), Die Stadt als Moloch?. Vgl. Glaser, Kleinstadt-Ideologie, 66. Vgl. Breuer, Denkmallandschaft, 80 f. Vgl. Rehberg, Das Canaletto-Syndrom. Eine Übersicht aller historischen Stadtansichten bietet: Gottfried Krüger : Die Lutherstadt Wittenberg. 278 Vgl. Mielsch, Lutherstadt Wittenberg, 48. 273 274 275 276 277

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noch verstärkt wurde. Zeitgenössisch heißt es hierzu: „Die Kontraste von groß und klein, niedrig und hoch sind Hauptelemente dieser Wirkung. Früher ergab sich das als selbstverständlich, heute wird nötig, es bewusst herbeizuführen.“279 Zu diesem Zweck haben die Bauherren und Denkmalschützer in Wittenberg stets über den Kontext der einzelnen Baudenkmäler hinaus den gesamten Stadtraum mitgedacht. So korrespondiert der markante Aufsatz des Schlosskirchenturms beispielsweise mit der Haube des Treppenturms am Lutherhaus; beide, in ihrer heutigen Form erst seit dem späten 19. Jahrhundert existierenden Türme, markieren die maximale Ausdehnung des historischen Stadtraums und umrahmen gleichzeitig die Doppeltürme der Stadtkirche St. Marien in dessen Zentrum. Zusammen bilden sie die ,Höhe‘-punkte des berühmten elbseitigen Stadtpanoramas, an das fortwährend erinnert wurde: Es „grüßen […] die Türme Wittenbergs den Strom“,280 formulierte Kaiser Wilhelm II. in seiner 1903 gehaltenen Merseburger Rede. Dank des bewahrten historischen Stadtgrundrisses wird den Besuchern ein Eindruck von den beengten Wittenberger Verhältnissen in der Reformationszeit vermittelt. Erst durch die sich an den historischen Stadtbestand unmittelbar anschließenden Grünflächen wird beispielsweise der nach außen gerichtete Festungscharakter des ehemaligen Schlosses bewusst gemacht und dessen monumentaler Charakter besonders hervorgehoben: „Naht man auf der Straße von Koswig her der Stadt, so richtet sich der Schloßbau wie ein Schild vor dieser auf“,281 schrieb Cornelius Gurlitt 1902. Ähnlich verhält es sich mit der Lage des Lutherhauses am äußersten Ostrand der Altstadt, die Luthers Eindruck von einer Stadt „am Rande jeglicher Zivilisation“ vielleicht mitgeprägt hat. Vorstellbar ist auch, dass der Reformator beim Verfassen seines Hymnus Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen die Festungsanlagen vor den Fenstern seines Wohnhauses im Sinn hatte. Auch hier unterstrichen die stadtbildergänzenden Denkmalschutzmaßnahmen die gewünschte Wirkung auf den herannahenden Besucher. Der stadtauswärts gewandte Westgiebel der Schlosskirche markierte die im Zuge des 1892 abgeschlossenen Umbaus angefügte repräsentative Schauseite, die acht Jahre später am entgegengesetzten Stadtende ihr Pendant an der Ostseite des Augusteums erhielt.282 Aber auch der Schwanenteich an der Mauerstraße im Norden der Stadt sowie die Kasematten in der Nähe der Pfaffengasse bieten dem Betrachter bis heute eine rudimentäre Erinnerung an die vormalige Wehrhaftigkeit der Stadt. Der Grüngürtel diente in Wittenberg nicht nur der Abgrenzung des his279 280 281 282

Wolf, Die schöne alte Stadt, 164. Zitiert in: Manz (Hg.), Martin Luther im deutschen Wort und Lied, 81. Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 37. Bauakten über den im Jahr 1900 angefügten Ostgiebel des als Predigerseminars genutzten Augusteums ließen sich im Seminararchiv nicht finden. Die Jahreszahl wird jedoch in verschiedenen touristischen Publikationen wiedergegeben. Vgl. exemplarisch: Woerl Reisehandbücher, 15.

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Abb. 13 Die Ostseite Wittenbergs vor der Entfestung 1873

Abb. 14 … und nach der Entfestung mit dem neuen Schaugiebel des Augusteums

torischen Grundbestandes von modernen Hinzufügungen, sondern wurde selbst Teil der Attraktion. „Dort, wo einst das graue Elstertor stand, breiten sich schmucke, blumenbunte Anlagen aus“,283 formulierte ein WittenbergFührer. Im historischen Rückblick lobte die Lokalpresse die aus der Entfestigung resultierende neue Ästhetik. Durch die geschaffenen Grünanlagen sei der Stadt „frische Lebensluft“ und ein besonderer Schmuck zugeführt wor-

283 Emil Grundmann, Wanderungen durch die Lutherstadt, 6.

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den.284 Die Stadtväter hatten erhebliche Anstrengungen unternommen, um attraktive Parkanlagen zu schaffen. Sie trieben den Bau idyllisch verlaufender und bequemer Wege, das Aufstellen von Sitzgelegenheiten sowie die Einrichtung von Aussichtspunkten voran, sodass die Grünflächen von Einheimischen und Besuchern auch im anspruchsvollen ,Sonntagsstaat‘ erschlossen werden konnten. Vor allem der Stadtrat Friedrich Eunicke hat sich hierbei große Verdienste erworben, ihm ist deshalb ein Denkmal gesetzt worden.285 Reisebeschreibungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zählen zunächst die reformationsgeschichtlichen Sehenswürdigkeiten Wittenbergs auf und empfehlen dem Besucher sodann einen Spaziergang entlang der alten Festungsanlagen.286

Abb. 15 Der Spaziergang in den Grünanlagen

Der die Denkmallandschaft umgebende Grenzgürtel „kann selbst wieder aus Landschaftszellen mit Denkmalcharakter, also aus Mnemotopen bestehen.“287 Die Grünanlagen fassen die Denkmallandschaft Wittenbergs deshalb nicht nur ringförmig ein, sondern wurden ein Teil davon. Die bürgerlich übliche Bewegungsform des Spazierens war infolge ihrer Langsamkeit und Beschaulichkeit bestens dafür geeignet, die Grünanlagen mit Sinnesreizen anzurei284 Wie mag es vor 600 Jahren in Wittenberg ausgesehen haben?, Wittenberger Tageblatt vom 29. Juni 1893. 285 Vgl. Gottfried Krüger, Zu Eunickes 100. Geburtstag. 286 Vgl. Woerl’s Illustrierter Führer 1907, 54 ff. 287 Breuer, Denkmallandschaft, 80.

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chern und zeichenhaft aufzuladen. Aus diesem Grund wurde die mit der Reformationsgeschichte begonnene Erinnerungskette innerhalb der ehemaligen Stadtmauern sukzessiv in die damalige Gegenwart verlängert, indem der Flaneur zwischen Blumenrabatten, Sträuchern und Bäumen mittels Gedenkplatten und -Steinen auf erinnerungswürdige Ereignisse der preußischdeutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts hingewiesen wurde. Diese erinnerten die Spaziergänger zunächst an Ereignisse und Protagonisten der Befreiungskriege und wurden immer wieder ergänzt. Hinzu kamen beispielsweise ein Kriegerdenkmal für die Wittenberger Gefallenen der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71, ein Kolonialkriegergedenkstein für die in China und Südwestafrika Gefallenen288 oder die Sedaneiche, 1895 gegenüber der Luthereiche gepflanzt „zur Erinnerung an den ruhmreichen Krieg, der die Hoffnung Luthers auf ein einiges Deutschland unter einem deutsch-protestantischen Kaiser herbeigeführt hat.“289 5.2 Die Luthereiche Ein wichtiger Bestandteil der die Wittenberger Altstadt umfassenden Grünanlagen ist die Luthereiche. Unter den topographischen Erinnerungsstätten haben Lutherbäume eine lange Tradition, die weit über das 19. Jahrhundert hinausreicht. Hier wurden bestimmte Ereignisse in Luthers Leben an eine konkret visualisierbare Gegebenheit gebunden. Diese Orte nehmen meist Bezug auf Ereignisse der Jahre 1517 bis 1521, als Luther sich gegen Kirche und Reich behaupten musste. So soll er beispielsweise nach seiner Rückkehr aus Worms 1521 im Herkunftsort seiner Familie, dem thüringischen Möhra, unter einer Linde gepredigt haben. Kurz darauf wurde er bei einer Buche im Luthergrund bei Altenstein auf Anweisung Friedrichs des Weisen gefangen genommen und auf die Wartburg gebracht.290 Im 19. Jahrhundert wurde der Baumkult neu belebt und allerorten Lutherbäume gepflanzt, denn die Reformationsgeschichte wurde als ein Urereignis der deutschen Nationalgeschichte interpretiert und Luther zu einem Vorkämpfer der nationalen Einheit gemacht. „Stärker und mutiger denn je reckt sich deutsche Kraft, deutscher Glaube wie die grünende Luthereiche hinein in die Völkerwelt“,291 heißt es zeitgenössisch in Bezug auf das Wittenberger Exemplar. Neben die reformatorisch-aufklärerische Lichtmetapher trat deshalb die Luthereiche als Symbol der Stärke und Kraft des neuen Reiches und wurde zu einem nationalen Identifikationsangebot.292 Sie galt als 288 Vgl. Pressemitteilung über Beschluss des Stadtrats, das „neue Kriegerdenkmal für die in China und Süd-West-Afrika gefallenen Helden aus dem hiesigen Kreise einzuweihen“, in: Wittenberger Allgemeine Zeitung vom 14. 04. 1911. 289 Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 60. 290 Vgl. Ambros/Rößling, Reisen zu Luther, 42; Joestel/Strehle, Luthers Bild und Lutherbilder, 45 f. 291 Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 86. 292 Vgl. Maurer, Feste und Feiern, 125. – Burghardt zeigt ebenfalls die Nationalisierung der Lu-

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Symbol, das Dauer und Stetigkeit vermittelte und sich deshalb besonders gut zur Symbolisierung der Kontinuität protestantischer Geschichte eignete. Klenze hatte beispielsweise 1805 in einem nicht realisierten Lutherdenkmal bei Eisleben einen schattigen Hain mit deutschen Eichen vorgesehen.293 „Mächtiger Eichbaum. Deutschen Stammes. Gottes Kraft. Droben im Wipfel braust der Sturm […] Du, Eichbaum, stehst, bist Luther!“, besingt Herder, beseelt von romantisch-nationalem Pathos, geradezu hymnisch den Reformator als Deutsche Eiche.294 Als Erinnerungszeichen ließen sich die Bäume nicht nur für die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch im Sinne einer erhofften Verlängerungskette in die Zukunft nutzen. Der Verweis auf nachfolgende Generationen im Sinne einer Einordnung der eigenen Erinnerungsarbeit in eine Jubiläumsreihe ist vor allem ein typisches Element des Reformationsjubiläums.295 Die sich hier abzeichnende temporäre, jubiläumsimmanente Grundstruktur einer Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurde durch Symbole visualisiert.296 In den pflanzlichen Erinnerungszeichen kommt dieser Gedanke besonders gut zum Ausdruck, denn die Bäume waren auf die Perpetuierung des Erinnerns angelegt und sollten der Erinnerungsarbeit der Enkel ihren Schatten spenden. Voraussetzung hierfür war das Wachsen und Gedeihen, welches unter den wachsamen Augen der dazwischen liegenden Generation zu geschehen hatte. Im 19. Jahrhundert wurden die Bäume stets anlässlich herausgehobener Reformationsjubiläen gepflanzt und bildeten für spätere Generationen eine Verbindung zwischen Anfangs- und Endpunkt des Gedenkens. Sie symbolisieren durch ihren Verweis auf vorangegangene Jahrhundertfeiern die Kontinuität des Jubiläumsgedankens. In Wittenberg war 1830 anlässlich des 300. Jubiläums der Confessio Augustana eine Luthereiche gepflanzt worden, um den Ort eines reformatorischen Schlüsselereignisses zu markieren: „Der Baum des deutschen Volkes, stark und fest, knorrig und trotzig ist hier zum Lutherdenkmal geworden.“297 Luther hatte an der Stelle am 20. Dezember 1520 die päpstliche Bannandrohungsbulle sowie das Kanonische Recht verbrannt. In der Verbrennung lag ein dezidiert antirömischer Affekt begründet, der beispielsweise auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes, bei den Feierlichkeiten des Lutherjubiläums 1883, bedient wurde. Zum Abschluss des abendlichen Fackelzuges der Wittenberger von der Schlosskirche zur Luthereiche sprach der Wittenberger Archidiako-

293 294 295 296 297

thergedenkens anhand der Überlagerung der Lichtsymbolik durch eine ,Eichenlaubmetaphorik‘. Vgl. Burghardt, Reformations- und Lutherfeiern, 223 – 227. Vgl. Träger, Der Weg nach Walhalla, 219. Zitiert nach: „Luther, Zeitschrift der Luthergesellschaft“, 1921, 35. Zur Eichensymbolik: Burkhardt, Reformations- und Lutherfeiern, 224 f. Vgl. Rosseaux (Hg.), Zeitrhythmen und performative Akte. Vgl. Flügel, Zeitkonstrukte im Reformationsjubiläum, 96 ff. Riemer, Lutherstätten der Provinz Sachsen, 22.

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nus Zitzlaff über die päpstlichen Dogmen der unbefleckten Empfängnis Mariae und sowie der Unfehlbarkeit. Anschließend intonierte die Festgemeinde Luthers Hymnus Ein feste Burg ist unser Gott und warf alle Fackeln auf einen Haufen, die den gotischen Giebel des Lutherhauses beleuchteten.298 Der päpstlichen Finsternis hatte sie erneut den hellen Schein des Evangeliums entgegengestellt, indem sie Luthers Akt des Widerstandes gegen die römische Kurie re-inszenierte. Dieses emotional besonders aufgeladene Erlebnis verstärkte bei den Teilnehmern die Erinnerung, vermittelte zugleich symbolische Verhaltensmuster und integrierte sie in eine gewünschte politische Ordnung. 1910 wurde der antirömische Affekt im Zusammenhang mit der Luthereiche erneut hervorgekehrt. Anlass war die antimodernistische BorromäusEnzyklika, in der Papst Pius X. sich wenig diplomatisch über die Reformation äußerte. „Inmitten solcher Verhältnisse traten hochmütige und aufrührerische Männer auf, Feinde des Kreuzes Christi“, hatte er unter anderem geschrieben. [Sie – Anm. d. Verf.] nannten diese aufrührerische Erhebung und die Verderbnis des Glaubens wie der Sitten Reform und sich selbst Reformatoren. Allein in Wahrheit waren sie Verführer, und dadurch, dass sie durch Streit und Kriege die Kräfte Europas erschöpften, haben sie die Revolutionen und den Abfall der Neuzeit vorbereitet.299

Nachdem der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg scharf protestiert hatte, wies Rom die deutschen Bischöfe an, die Enzyklika im Land der Reformation nicht öffentlich zu machen. Der Rheinische Gustav-Adolf-Verein forderte die Wittenberger dennoch auf, Ableger aus den Eicheln des Wittenberger Baumes zu ziehen und diese zu verkaufen. Der Erlös sollte als AntiBorromäus-Spende der Diaspora-Arbeit zur Verfügung gestellt werden. Die Wittenberger waren der Forderung des Gustav-Adolf-Vereins schon zuvorgekommen und hatten Ableger für jeweils eine Mark zugunsten der Glocken der deutschen evangelischen Kirche in Rom verkauft.300 Belegbar ist auch die Pflanzung eines solchen Tochterbaumes vor der Breslauer Lutherkirche im Jahr 1917.301 In Wittenberg hatte der Zweigverein des Evangelischen Bundes außerdem zu einer gut besuchten Protestversammlung eingeladen, die eine Resolution verabschiedete. Zwei Wochen später initiierte der Bund zusammen 298 Vgl. Howald, Der historische Festzug 1883; Verwaltungsbericht der Stadt Wittenberg für das Jahr 1883, Kapitel „Allgemeines“. 299 Papst Pius X. hatte 1910 anlässlich des 300. Jahrestages der Heiligsprechung des Mailänder Erzbischofs Karl Borromäus die Enzyklika verfasst und darin den gegenreformatorischen Kämpfer gewürdigt, der auch Bücher verbrennen ließ. Enzyklika zitiert in: Bachem, Vorgeschichte, 332. 300 Vgl. Artikel „Kleine Luthereichen für neue Glocke in Rom“, in: Wittenberger Allgemeine Zeitung, 9. 4. 1909; Die evangelische Kirche in Rom übernahm die Anordnung des Geläuts der Wittenberger Schlosskirche und wies damit auch akustisch auf ihr reformatorisches Bekenntnis hin. Vgl. Jürgen Krüger, Das Melanchthonhaus in Bretten, 87. 301 Vgl. Zickermann, Die Lutherkirche, 125.

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mit der Leipziger Matthäi-Gemeinde eine Fahrt nach Wittenberg mit 400 Teilnehmern, die in einer Protestkundgebung kulminierte.302 Hier zeigt sich, dass die Konflikte zwischen Protestanten und Katholiken im späten Kaiserreich sich längst von der staatlich-amtskirchlichen Ebene auf die Bühne eines ,Vereinskonfessionalismus‘ verlagert hatten. Der organisatorisch verfestigte Protestantismus des Evangelischen Bundes war keine religiös-theologische Bewegung, sondern er war national überprägt und sammelte sich um einen polemischen Antikatholizismus.303 Die symbolische Aufladung der Luthereiche fand nicht nur Unterstützung, sondern führte auch zu einem Akt des Widerstandes. In der Weihnachtsnacht des Jahres 1904 sägten „ruchlose Hände“304 die Rinde der Eiche bis auf den Splint durch. Die Schnittstelle im Stamm ist auch einhundert Jahre später noch deutlich sichtbar. Die Täter wurden nie gefasst und ihre Motivation bleibt unklar. Um einen erneuten Anschlag zu verhindern, ließ der Magistrat einen zweiten Zaun um die Eiche setzten.305

6. Ein Ausdruck bürgerlicher Selbstschau: Das Lutherfestspiel Die Wittenberger Denkmallandschaft basierte bis in die 1920er Jahre hinein vor allem auf einem intellektuell-didaktischen Zugang zur Person und zum Werk Martin Luthers. Die beiden Hauptanziehungspunkte der Stadt, das Lutherhaus und vor allem die Schlosskirche, dienten in erster Linie einer Bestätigung bereits vorhandener Wissensbestände und setzten deshalb eine entsprechende Vorbildung der Besucher voraus. So war beispielsweise in der 1892 eingeweihten Schlosskirche auf die szenische Darstellung von Lebensereignissen des Reformators verzichtet worden. In der Ausstellung des Lutherhauses überwogen schriftliche Zeugnisse der Reformationsgeschichte, die sich, volkspädagogisch kaum aufbereitet, auf die Vermittlung von Luthers protestantischer Lehre beschränkten. Im Gegensatz hierzu standen die seit dem 19. Jahrhundert volkstümlich inszenierten Reformationsfeiern, die mittels Festzügen und vor allem in Festspielen Luthers Leben und seine Zeit einem breiten Publikum auf dem Weg der sinnlichen Wahrnehmung vergegenwärtigten.306 Die hier geübte 302 Vgl. Erfurth, Geschichte der Stadt Wittenberg, Teil 1, 182. 303 Vgl. Blaschke, Das deutsche Kaiserreich, 186; Nipperdey, Religion im Umbruch, 81. 304 Erfurth, Führer durch die Lutherstadt Wittenberg 1917, 18; Vgl. auch: Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 56. 305 Vgl. Abbildungen in: „Luther. Mitteilungen der Luthergesellschaft“, 1921, 34. Riemer, Lutherstätten der Provinz Sachsen, 21. 306 Manfred Karnick zählt rund 180 Dramen, die Lutherfiguren auftreten lassen. Die Reihe setzt schon zu Luthers Lebzeiten ein und bricht 1625 zunächst für lange Zeit ab. In diesen frühen Lutherdramen dominiert das religiöse Bekenntnis. Ab Beginn des 19. Jahrhunderts entstehen

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Abb. 16 Luthereiche mit zusätzlicher Umzäunung

Konzentration auf Luthers protestantischen Akt, statt protestantischer Lehre, führte zu einer Verlagerung des Blickwinkels von der theozentrisch bestimmten Glaubensmaterie auf die anthropozentrische Glaubensentscheidung. Bis zum Zeitalter der Aufklärung hatte man „zu ihm nicht in einem historischen, sondern in einem dogmatischen Verhältnis“ gestanden.307 Nun erneut Lutherspiele, vor allem in der Kaiserzeit sowie anlässlich der Jubiläumsfeiern 1921 und 1933, die das nationale Bekenntnis in den Vordergrund rücken. Vgl. Karnick, Martin Luther als Bühnenfigur. 307 Nipperdey, Luther und die moderne Welt, 38 f.

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aber wurde Luthers Reformation nicht mehr vordergründig theologisch, als ein göttliches Werk beziehungsweise als ein für den christlichen Glauben bedeutsames Geschehen interpretiert, sondern auch unter historischen Gesichtspunkten ausgedeutet. Die Bedeutung der Reformation für die Menschen des 19. Jahrhunderts lag vor allem darin, dass sie die Grundlage für das Handeln nachreformatorischer Generationen bildete und entscheidend zur Blüte der kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der damaligen Gegenwart beitrug.308 Auf diese Weise wurde das Lutherspiel zum Ausdruck bürgerlicher Selbstschau. Die Historisierung der Erinnerung zerstörte nicht den Mythos Luther, sondern veränderte ihn, wie gerade die im 19. Jahrhundert so populären Festzüge und Festspiele zeigen. Ab dem Zeitalter des Historismus trat die Darstellung Luthers als geistig tätiger ,Kirchenvater‘ in den Hintergrund, es überwog fortan der heroische Tatenmensch. Der Reformator trat als individuell handelnde Persönlichkeit auf: „Als derart ,Verbürgerlichter‘ wurde er vor allem als Bühnenfigur re-mythisiert und mit emotionalen Werten besetzt.“309 Jene Epoche der Vergangenheit, in die der Mythos hineinprojiziert wurde, konnte nun im Festspiel symbolisch wiederholt werden. Die (An-) Teilnahme an dieser populären Form der Vermittlung eines religionsgeschichtlichen Stoffes ermöglichte ein ,dargestelltes‘ im Sinne eines ,wiederhergestellten‘ Erlebnisses310 zur „Stärkung des evangelischen Bewusstseins“311, wie es zeitgenössisch heißt. Die große Beliebtheit der Festzüge, vor allem aber der Bühnenstücke in der Kaiserzeit zeigt, dass theaterfeindliche Tendenzen, wie sie im Protestantismus mitunter vorkommen, dabei nicht spürbar waren. Festzug und Festspiel galten als gleichrangig und austauschbar und halfen sich gegenseitig mit Ideen und Kostümen aus.312 In Wittenberg dienten die historischen Kostüme der Renaissancezeit anlässlich der Feierlichkeiten zur Schlosskircheneinweihung 1892 sowohl den Darstellern des Lutherspiels als auch den Festzugsteilnehmern. Für das Melanchthon-Festspiel 1897 wurden die Bürger aufgefordert, ihre Kostüme erneut zur Verfügung zu stellen.313 Das Spiel brachte den Wittenbergern und ihren Gästen die zentrale Ereignisse der Reformationszeit in narrativen Zusammenhängen näher, indem sie entweder zur Mitwirkung aufgefordert waren oder zumindest als Zuschauer an den tableaux vivants, den lebenden Bildern, Anteil nehmen konnten. Die Grenzen zwischen vergangenem Geschehen und erlebter Gegenwart verschwammen dabei: „Wie von einem Traum umfangen wandelten wir plötzlich durch das Wittenberg des 16. Jahrhunderts und erst allmählich wich der Zauber, sodass 308 309 310 311 312 313

Vgl. Flügel, Konfession und Jubiläum, 261. Karnick, Luther als Bühnenfigur, 262. Vgl. Turner, Vom Ritual zum Theater, 25. Erfurth, Geschichte der Stadt Wittenberg, Teil 1, 151. Vgl. Assion, Historische Festzüge, 75. Vgl. Berichterstattung Wittenberger Zeitung vom 04. 02. 1897.

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Abb. 17 Teilnehmer der Festspiele 1886 und 1889

wir uns erst nach und nach in die Gegenwart zurückfanden“, gab einer der Beteiligten des Festzugs 1892 retrospektiv sein Empfinden wieder. Man hätte „völlig den Eindruck einer Schaustellung und eines Kostümzuges“ verloren: „Dadurch wurde wirklich das Vergangene lebendig.“314 Von einem weiteren Augenzeugen wurde der Zug als ein Ereignis beschrieben, das die Reformationsgeschichte „mit dem möglichst täuschenden Schein der Realität wieder vor uns erstehen“ lässt.315 Als der Reformationswagen auf dem Marktplatz hielt „und als dann […] Luther und Melanchthon leibhaft unter uns traten, hier, wo noch jeder Stein von ihnen zu reden weiß und die Thürme ihrer 314 Erfurth, Geschichte der Stadt Wittenberg, Teil 1, 161. 315 Pietsch, Festbericht 1892, 39.

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Pfarrkirche zu uns herübergrüßten, da versank die Zeit und die Schatten der Vergangenheit haben Blut und Leben gewonnen“,316 schrieb ein Beobachter und zeigte zugleich, wie das Erlebnis von Vergangenheit an einen bestimmten Ort, einen mit der Aura historisch begründeter Authentizität behafteten Raum gebunden ist, der den Erinnerungsprozess anzuregen vermag. Ein Dankesgedicht an die Mitwirkenden des Festspiels von 1889 griff den Gedanken einer durch die Weckung von Emotionen hergestellten Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart ebenfalls auf: Ein letztes Mal vereint an dieser Stätte, Zum Tempel frommer Kunst geschmückt. Wo in glanzvoller, farbenreicher Kette, Dem Schoße der Vergangenheit entrückt. Geschichtlich große Bilder um die Wette Das trunk’ne Auge und das Herz entzückt. Und sich zum bleibenden Gedenken Tief in die dankesfrohe Seele senken.317

Die in den 1880er Jahren, anlässlich der Neueinweihung der Schlosskirche 1892, des Melanchthon-Jubiläums 1897 und des 400. Jahrestages der Ankunft Luthers in Wittenberg 1908 aufgeführten Lutherstücke hatten eine vergleichbare Aufgabe. Durch stimmungsvolle Musik, durchdachte Dramaturgie und suggestive Schauspielkunst wurden die äußeren Umstände von Luthers Leben von Wittenberger Bürgern effektvoll in Szene gesetzt. Es galt, […] das protestantische Ägisschild hochzuhalten, in allen Evangelischen das Gefühl zu erwecken: wir haben einen Helden, vor dem die Feinde zittern. Aber nun heißt’s auch, ihm in den Kampf zu folgen und an seiner Seite zu stehen, treu und unentwegt, und zu diesem Zweck ist es gut, dem Volk zu zeigen, was und wie Luther war, ihm zu zeigen wie er kämpfte und siegte, was er erstrebte, und was er erreichte.318 (Gustav Adolf Erdmann, 1888)

Die 1888 in Wittenberg erschienene Schrift bringt die Aufgabe des Luthertheaters auf den Punkt: In Form von Heldenpathos wurden die religiös gesteigerten gesellschaftlichen Werthaltungen vermittelt, die dem Bedürfnis der Zuschauer, ihrem Streben nach nationaler Einheit und konfessioneller Selbstbehauptung entsprachen, denn „Theater […] produziert anhand ausgewählter Textdokumente gesellschaftliche Selbstbilder.“319 Entscheidende Anstöße erfuhren sowohl die literarische Gattung des Festspiels wie auch der moderne Festspielgedanke durch das im 17. Jahrhundert begründete Oberammergauer Festspiel, das ungeachtet seines ka316 317 318 319

Wattrodt, Einweihung Schlosskirche 1892, 49 f. Zitiert in Wittenberger Tageblatt, 16. 11. 1889. Erdmann, Die Lutherfestspiele, 35. Großegger, Historische Dramen, 294.

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tholisch-barocken Ursprungs im 19. Jahrhundert je nach Bedarf zum Sinnbild nationaler Einheit oder religiöser Neubesinnung stilisiert wurde. Der protestantische Theaterreformer Eduart Devrient bewunderte die Spielleidenschaft der kleinen bayrischen Dorfgemeinschaft und sah darin ein Vorbild für die ganze Nation. Er plädierte für die Einführung von Theaterfesten, die in allen Teilen des Vaterlandes gefeiert werden könnten, um den ,nationalen Geist‘ zu stärken.320 Sein Sohn Otto Devrient sowie Hans Herrig und Friedrich Lienhardt, die Verfasser der um die Jahrhundertwende geläufigsten LutherBühnenstücke, haben deshalb ihre Lutherfestspiele nach dem Vorbild der Oberammergauer Passionsspiele als Bürgerspiele konzipiert.321 Einflussreiche Bürger waren in besonderem Maße an einer repräsentativen Teilnahme interessiert, denn sie war als Repräsentation der sozialen Stellung in der lokalen Gesellschaft zu verstehen. Die Teilnahme galt als Ehre und Auszeichnung, erforderte aber auch ein großes persönliches Engagement. Die Liste der Mitwirkenden des Lutherspiels 1892 liest sich wie ein Adressbuch der führenden gesellschaftlichen Kreise Wittenbergs: Kimstädt, Herros, Wunschmann, Heubner, Conradi, Balzer. „Name und Herkunft“ behielten auch im Bereich des Festspiel- und Festzugswesens „ihren sozial verpflichtenden Charakter“ und „die theatralische Umzugshierarchie“ entsprach „der bürgerlichen Einflusshierarchie“.322 Am Ende der Vorstellungen erhoben sich jedoch stets alle Zuschauer und sangen gemeinsam Ein feste Burg ist unser Gott. Neben den Bürgern waren 1892 auch vier Kandidaten des Predigerseminars am Spiel beteiligt. Einer von ihnen stellte Martin Luther dar und wurde vom Kaiser durch eine signierte Photographie ausgezeichnet.323 Aber auch die anderen Mitwirkenden erhielten die bildliche Darstellung einer Szene ihrer Wahl als bleibende Erinnerung überreicht.324 In der Regel wurden die Festspiele mehrfach aufgeführt, um allen Wittenberger Bürgern und Gästen die Gelegenheit zur Teilnahme zu bieten. So wiederholte man beispielsweise Hans Herrigs Lutherfestspiel nach der Premiere am Reformationstag 1892 unter Anwesenheit des Kaisers an fünf Tagen im November und zählte insgesamt 4600 zahlende Gäste.325 Bereits im Oktober 1886 hatte es vier Aufführungen des Herrig’schen Stücks mit über 4000 Zu320 Vgl. Moser, Patriotische und historische Festspiele, 62 f. 321 Otto Devrient war der Sohn des Schauspielers Eduart Devrient, dessen 1850 entstandener überschwänglicher und weit verbreiteter Bericht über das Oberammergauer Passionsfestspiel vom Wunsch nach Wiederentdeckung einer vermeintlich authentischen und intakten deutschen Volkskultur getragen ist. Otto Devrients Lutherfestspiel wurde 1883 in Jena uraufgeführt, für dessen jährliche Aufführung sich eine Gesellschaft unter Führung des Gymnasialdirektors Gustav Richter bildete. Vgl. Devrient, Luther ; Francois, Oberammergau, 283; Erdmann, Lutherfestspiele, 151. 322 Gantner, Festumzug, 30. 323 Vgl. Dibelius, Das königliche Predigerseminar, 285. 324 Vgl. Wattrodt, Einweihung Schlosskirche, 62; „Lutherfestspiel 1892“, Akte 52, Stadtarchiv Wittenberg. 325 Vgl. Wattrodt, Einweihung Schlosskirche, 61.

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Besuch der Wittenberger Lutherstätten

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schauern gegeben, zur letzten war auch der Autor selbst angereist.326 Nicht immer betrieben die Wittenberger jedoch so viel Aufwand. Anlässlich des Melanchthon-Jubiläums 1897 fand sich eine kleine Gruppe Wittenberger Bürger unter Leitung des Hofbuchhändlers Wunschmann zusammen, um den Einakter Philipp Melanchthon von Fritz Blachny ohne Eintritt auf die Bühne zu bringen.327 Wunschmann hatte bereits 1889 die Initiative ergriffen und die Aufführung der Storch-Wollschlägerischen Lutherbilder im Namen des Evangelischen Bundes initiiert.328 Da Wittenberg über kein Theater verfügte, mussten verschiedene Säle der Stadt genutzt werden. 1886 und 1892 fanden die Vorstellungen in dem mit Bühne, Orchester und Orgel ausgestatteten Exerzierhaus der Kavalierskaserne statt, 1908 im Saal des Gasthofes Kaisergarten.329 Im Kriegsjahr 1917 hingegen war an eine aufwendig inszenierte und mehrfach wiederholte bürgerliche Selbstschau nicht mehr zu denken, sodass nicht mehr die bürgerlichen Eliten der Stadt, sondern die Mitglieder der evangelischen Jugendvereine Elisabeth Malos Einakter Der 31. Oktober 1517 in Wittenberg in der Turnhalle der Mittelschule ausschließlich vor ihren Altersgenossen aufführten.330

7. Besuch der Wittenberger Lutherstätten 7.1 Imagination und Realität In den vergangenen Jahren hat sich die Stadtgeschichtsforschung nicht nur den konkreten bildlichen und sprachlichen Darstellungen von Städten, sondern auch deren Wahrnehmung zugewandt, die sich in vielfältigen schriftlichen und visuellen Dokumenten niederschlägt. Daraus ergibt sich eine mögliche Interpretation von Vorstellungen, die explizit und implizit in die Texte und Bilder einflossen, denn „zum einen dient das Bild als Zeichen für Gegenstände und zum anderen als Zeichen für Wahrnehmungen.“331 Bilder konstruieren deshalb Wirklichkeit und offerieren Deutungen. In Wittenberg standen materieller Bestand und Wahrnehmung stets in einem scharfen Kontrast. Bereits Luther fühlte sich hier ,am Rande jeglicher 326 Vgl. Berichterstattung Wittenberger Kreisblatt, 23. und 31. Oktober 1886. 327 Vgl. Blachny, Philipp Melanchthon; Berichterstattung Wittenberger Zeitung vom 04., 16. und 19. Februar 1897. 328 Vgl. Berichterstattung Wittenberger Tageblatt vom 12., 15. und 16. November 1889. 329 Der Initiator war 1908 kein bürgerliches Komitee, sondern der Evangelische Bund. Vgl. Erfurth, Geschichte der Stadt Wittenberg, Teil 1, 151. 330 Vgl. Erfurth, Geschichte der Lutherstadt Wittenberg, Teil 2, 86. 331 Wiesing, Phänomene im Bild, 21; Ausführlich zu diesem Themenkomplex: Opll (Hg.), Bild und Wahrnehmung der Stadt.; Guckes, Stadtbilder und Stadtrepräsentationen.; Johanek, Bild und Wahrnehmung der Stadt.

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Zivilisation‘ und Melanchthon flüchtete sich ins Raumlose, indem er den Ort als einen ,Konvent der Gelehrten‘ begriff und diesen sogar für die Beschreibung des himmlischen Paradieses heranzog. Die lateinische Überschrift einer Stadtansicht aus der Cranachwerkstadt weist Wittenberg als „ruhmreiche Stadt Gottes, Sitz und Burg der wahren katholischen Lehre, Hauptstadt des sächsischen Kurfürstentums, die berühmteste der Universitäten in Europa und den bei weitem heiligsten Ort des letzten Jahrtausends“ aus.332 Die akademischen Festredner des ersten Reformationsjubiläums 1617 priesen Wittenberg als ein evangelisches Jerusalem und deutsches Zion.333 Graphiken des späten 16. Jahrhunderts stellen Themen des Neuen Testaments vor die Silhouette Wittenbergs.334 Die Wahrnehmung Wittenbergs war also stets verbunden mit der Kopräsenz einer Stadt, die nie existierte. Der Erinnerungsort entstand aber nicht nur aus einer ästhetisierten Topographie, denn Standorte sind Teil einer Identität. Ein Ort als ein sinnlich wahrgenommenes Konkretum wird durch seine Bauwerke und ihre Anordnung bestimmt. Die räumliche Fassbarkeit des kollektiven Gedächtnisses spielt eine wichtige Rolle. Erst Bauwerke vermitteln das notwendige Maß an Stabilität und Dauerhaftigkeit und gießen Stadtgeschichte und -Identität in feste Formen, indem sie das kollektive Gedächtnis im Raum verankern. Die über fünf Jahrhunderte unveränderte Stadtansicht mit Schlosskomplex im Westen, den Doppeltürmen der Stadtkirche im Zentrum sowie Universität und Lutherhaus im Osten hat sich tief in die Vorstellungswelt der Deutschen eingeprägt, denn „Bilder stehen der Einprägungskraft des Gedächtnisses näher und der Interpretationskraft des Verstandes ferner als Texte.“335 Die elbseitige Stadtansicht konnte deshalb als ein fester Bildbestand selbst Teil der Denkmallandschaft werden: Im Tympanon über der bronzenen Thesentür knien Luther und Melanchthon vor der elbseitigen Silhouette der Stadt. Der von Süden kommende Besucher oder auch Durchreisende erlebt diese Stadtsilhouette Wittenbergs getreu der berühmten Merian-Ansicht.336 „Sinnmuster werden in räumlich-geographischen Beziehungen und Bereichen gesucht, das Phänomen als Bild und Gestalt in situ wahrgenommen“,337 beschrieb Nicolas Sombart die Funktionsweise dieser topographischen Hermeneutik. Die Er-

332 Beispiele zitiert bei: Rhein, Luther – Ein Genius Loci?, 19 – 22.; Luthers Anspielung auf Wittenbergs zivilisatorische Randlage in: Luther, Tischrede, 23. 11. 1532, WA TR 2, 669. 333 Vgl. Ligniez, Das Wittenbergische Zion. 334 Siehe graphische Darstellung „Die Taufe Christi mit Luther und der kurfürstlichen Familie in der Elbe vor der Silhouette Wittenbergs“, Holzschnitt von Jacob Lucius (1557) Abgebildet in: Krüger, Lutherstadt Wittenberg, 19. 335 Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 220. 336 Bis auf wenige Ausnahmen zeigen alle Stadtansichten Wittenbergs die Ansicht von Süden. Eine Übersicht aller historischen Stadtansichten bietet: Krüger, Lutherstadt Wittenberg. 337 Sombart, Nachrichten aus Ascona, 107.

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innerung erhielt vergegenständlichte Fixpunkte, wodurch sich die Potentiale der Sinnzuschreibung erhöhten.338 Das graphische Stadtbild setzte die spezifische Struktur der Stadt plausibel in Szene. Die visuelle Wahrnehmung des Betrachters, die sein Verhältnis zur Stadt mitbestimmt, verbindet sich mit dem Bild, das über Jahrhunderte hinweg von ihr entworfen wurde: Als von Geschichte und Geschichten durchtränkter, kulturell kodierter Raum bildet die Stadt einen Vorstellungsraum, der den physikalischen insofern überlagert, als er durch die begleitenden Bilder und Texte hindurch erlebter und erfahrener Raum ist.339 (Rolf Lindner, 2008)

In Wittenberg zieht sich die Diskrepanz zwischen Zu- und Beschreibung wie ein roter Faden durch die Stadtgeschichte. Zu Beginn des Fremdenverkehrszeitalters war es nicht nur der historische Bestand – die Bauten der Reformationszeit, der Sammlungsbestand des Lutherhauses oder das künstlerische Erbe der Cranachzeit –, der den Besucher in die Stadt zog. Einmal angekommen, wurde die Stadt oft als „ein kahles und frierendes Nest“ wahrgenommen, es war „dürftig, reizlos, kahl und ungewöhnlich elend“, wie der Theaterkritiker Alfred Kerr anläßlich eines Kurzbesuchs in seinem Tagebuch festhielt.340 Auch dem Kurator des Lutherhauses Karl Dunkmann erschien Wittenberg „dürftig und armselig“.341 Verschiedene Beschreibungen amerikanischer Wittenbergbesucher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in denen die Lutherpilger ihrer Enttäuschung Ausdruck verleihen, bestätigen dieses Bild ebenfalls.342 „Und doch gibt es in Mitteldeutschland kaum eine Stadt, die wegen ihrer Erinnerung eher einen Besuch verdiente als Wittenberg“,343 heißt es in den Kursächsischen Streifzügen. Deren Autor erkannte, dass der Reiz Wittenbergs in den von der Stadt ausgegangenen weltgeschichtlichen Ereignissen des 16. Jahrhunderts begründet lag, und nicht im Eindruck, den der Ort auf Besucher im späten 19. Jahrhundert machte. Anziehend wirkte nicht der Bestand, sondern der Mythos, „die Erinnerungen an die Macht geistiger und weltlicher Wissenschaft, die in versunkenen Tagen dort geblüht.“344 Die Differenzierung zwischen tatsächlichem Bestand und mythologisch aufgeladener Wahrnehmung spitzte der Wittenberger Superintendent Friedrich Orthmann in einem 1919 publiziertem Text unter Verwendung der Formulierung des

338 339 340 341 342 343 344

Vgl. Bollenbeck, Weimar, 213. Lindner, Textur, ,imaginaire‘, Habitus, 86 ; Siehe auch: Lindner, Vorüberlegungen. Rühle, (Hg.), Alfred Kerr, 209 – 211. Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 56. Vgl. Lehmann, A Pilgrimage to Wittenberg. Otto Eduart Schmidt, Kursächsische Streifzüge, 289. Rühle, Alfred Kerr, 209.

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Lutherhallenkurators Karl Dunkmann noch zu, indem er die ,Aura des authentischen Ortes‘ über die materiellen Relikte der Vergangenheit stellte: Der Reiz der Lutherstadt liegt freilich nicht darin, dass uns hier oder da unmittelbare Erinnerungen an Luther entgegentreten. Die Luther-Reliquien, die Wittenberg in seinen Mauern birgt, sind doch verhältnismäßig nicht nur gering an Zahl, sondern auch bedeutungslos gegenüber dem gewaltigen Eindruck, der sich hier unwiderstehlich in das Herz des Wanderers legt, dem Eindruck nämlich, dass er hier gekämpft und gelebt hat, dass er in diesen Straßen, in der Collegienstraße, in der Bürgermeisterstraße, in der Jüdengasse, die heute noch unverrückt daliegen, gegangen ist, seine Freunde zu besuchen, und die von der Pest Befallenen zu trösten; dass er insbesondere den Weg zur Schlosskirche unzählige Male zurückgelegt hat.345 (Friedrich Orthmann, 1919)

Die Präsenz eines genius loci macht sich nicht nur daran fest, dass er verehrt und beschworen wird, sondern dass über ihn, symbolisch aufgeladen, gesprochen und geschrieben wird. Für die Sinngebungen und Bedeutungen, die durch Geschichte, Architektur und kollektive Erinnerung in die Stadtlandschaft eingeschrieben werden, spielen Imaginationen und Bilder eine Rolle, die vor allem durch Literatur, Kunst und Film entworfen wurden und Vorstellungen von konkreten Städten bestimmen, denn auch sie „prägen das Vokabular der Wahrnehmung des Stadtraums.“346 Die moderne Stadtforschung versteht deshalb den städtischen Raum nicht als bloßes materielles Behältnis, sondern als Produkt des Zusammenspiels von materiellen und diskursiven Prozessen.347 Auch das Medium der Literatur ist in diesen Konstruktionsprozess einbezogen, denn es liefert Sehmuster für den Stadtraum, die sich zu orientierungsund handlungsleitenden Images verdichten können.348 So trat an die Stelle der historisch genauen Beschreibung ein Kanon gefestigter Imaginationen, der sich über Erzählungen, Legenden und Mythen auf besondere Weise in das kulturelle Gedächtnis einschrieb.349 Es handelt sich um Assoziationen, Mythen, Legenden und Zuschreibungen, die einen narrativen Raum formen, der den physischen Raum der Stadt überlagert. Bei Kerr wird der Mythos nicht nur aus dem Luthergedenken, sondern auch aus der kanonischen Literatur ge345 Orthmann, Luther und Wittenberg, 58. Orthmann gibt wortwörtlich einen Text von Karl Dunkmann aus dem Jahr 1911 wieder, ohne die Quelle anzugeben. Vgl. Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 56. 346 Lindner, Perspektiven der Stadtethnologie, 289. 347 Vgl. Löw, Soziologie der Städte, Einleitung. 348 Astrid Erll entwarf ein Modell, um Literatur als Medium des kulturellen Gedächtnisses zu konzipieren. Sie plädiert dafür, die Besonderheiten des Symbolsystems Literatur herauszuarbeiten, da Literatur eine wichtige Funktion für die kollektive Identität erfülle. Vgl. Erll, Literatur und kulturelles Gedächtnis. 349 Siehe: Akbar, Genius Loci, 35.

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speist; er verweist nicht nur auf Luther, sondern auch auf Faust.350 Auch Gurlitt erinnert an die literarischen Verknüpfung: „Es ist wohl nicht Zufall, dass Shakespeare den tiefsinnigen Dänenprinzen gerade in Wittenberg sich ausbilden ließ, in der Stadt des Luther und des Faust.“351 Dem Kunsthistoriker war es „wertvoll zu erkennen, dass die Sage Faust, den großen Zweifler, nach Wittenberg versetzte, Luther und Melanchthon an die Seite.“352 An dieser Stelle wird deutlich, dass das Stadtbild sich nicht nur auf historiographischer, sondern auch auf literarischer Überlieferung gründet. Ersteres beruht auf einer archivierten, dokumentierten, faktischen Realität, Letzteres auf der Imagination. Fiktion und historisch Verbürgtes werden dem jeweiligen Bedürfnis entsprechend herangezogen; das narrative Baugerüst bedient sich aus der Fiktion und erweist sich oft als stabiler als die materielle Substanz. Die mythische Narration verleiht dem Ort so eine Sakralität, die sich der Banalität des touristischen Betriebs entgegenstemmt. Mag der Anblick der Lutherstadt beim Durchschreiten auch eine Enttäuschung sein, so schadet dies nicht automatisch dem von ihr ausgehenden Mythos.

7.2 Das Jubiläum als touristische Initialzündung Die seit 1617 in Wittenberg gefeierten Reformationsjubiläen waren stets auf den städtischen Binnenraum ausgerichtet gewesen und hatten ausschließlich die ortsansässige Bevölkerung sowie, bis zur Auflösung der Hohen Schule, die Angehörigen der Universität einbezogen. Erst die Feiern des 400. Geburtstages Luthers 1883 und die Einweihung der wiedererrichteten Schlosskirche anlässlich des 375. Jahrestages des Thesenanschlages 1892 wurden auch zu massentouristischen Ereignissen, die sich nicht mehr auf Festgottesdienste, Ansprachen und Reden sowie Gemeindeabende einer überschaubaren Lokalöffentlichkeit beschränkten. Die beiden evangelischen Jubelfeste lockten erstmals tausende von auswärtigen Besuchern in die Stadt: „Zu allen Stadteingängen strömte die Fluth der Gäste herein und aus den ankommenden Eisenbahnzügen wälzten sich ganze Lawinen von solchen der festlich geschmückten Stadt zu.“353 Die Jubiläen dienten der touristischen Initialzündung und verliehen dem Fremdenverkehr gewaltige Impulse. Die Ausrichtung der zentralen Feiern des evangelischen Deutschlands im September 1883 und vor allem die Anwesenheit des Kaisers und vieler herausragender nationaler und internationaler Würdenträger bei der Schlosskircheneinweihung 1892 erforderten Maßnahmen, um die Stadt ansehnlicher zu machen. Besucher vorangegangener Jahrzehnte hatten sich immer wieder 350 351 352 353

Rühle, Alfred Kerr, 209. Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 3. Ebd., 54. Howald, Der historische Festzug 1883, 3.

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enttäuscht über den Zustand der Luthergedenkstätten geäußert. „Wittenberg is now a mean little town“, hatte beispielsweise Harriet Beecher Stowe geschrieben, „all looks poor and low“. Ihr Bruder, der sie auf der Reise nach Wittenberg begleitet hatte, war in seiner Kritik noch einen Schritt weiter gegangen: Das Lutherdenkmal stand „in a filthy marketplace surrounded by dirty, stinking butchers’ stalls and ugly unwashed men and women.“ Ein Jahrzehnt später bezeichnete ein weiterer amerikanischer Besucher, Henry W. Bellows, Wittenberg als „dull and mouldy“, Luthers Haus als „grim, melancholy old place.“354 Viel musste deshalb getan werden, um auf touristische Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Dazu wurde eine abgestufte Organisation geschaffen, die in einen Hauptausschuss sowie in Unterausschüsse für die Unterbringung der Gäste, den Festzug und weitere Aufgabenbereiche untergliedert war. Die im Festkomitee und seinen Unterorganisationen versammelten kleinstädtischen Eliten hatten sich insbesondere um die Sauberkeit im öffentlichen Raum gekümmert und die Verbindungsstraße zwischen Bahnhof und historischem Zentrum sowie Rathaus und Reformatorendenkmäler auf dem Markt mit Tannengrüngirlanden schmücken lassen. Die im Vorfeld ergriffenen Maßnahmen gingen jedoch über rein kosmetische Bemühungen hinaus, denn die bürgerlichen Feste des späten 19. Jahrhunderts gerieten „in den Sog von Vergnügen und Freizeit, von Konsum und Kommerzialisierung, ja von Tourismus.“355 So sahen die Wittenberger Initiatoren der Reformationsjubiläen in den Festivitäten ein werbewirksames Spektakel und bezogen erstmals in der Jubiläumsgeschichte der Stadt die Anwerbung von auswärtigen Gästen in die vorbereitenden Planungen ein. Eine in diesem Zusammenhang wichtige Eigenschaft des Festes war sein Aufführungscharakter : Bei den historischen Festzügen, dem feierlichen Einzug in die Kirche oder der Einholung der Gäste handelte es sich nicht einfach um Handlungen, sondern um Vorführungen für ein intendiertes Publikum, dass sich erstmals aus einer quantitativ bedeutsamen Anzahl von Fremden zusammensetzte. An die Gäste aus der Fremde richteten sich die vielen preiswerten Andenken und Jubiläumsdevotionalien, beispielsweise Festzeitungen, Postkarten und Erinnerungsmünzen. Sie repräsentieren erste Ansätze einer ökonomischen Verwertung des historischen Erinnerns. Davon profitierte in erster Linie der örtliche Einzelhandel, denn vor allem die kleinen Verleger, Papierwarenhändler und Fotographen boten in ihren Läden eigene touristische Artikel an. Der Tourismus ist auch eine Industrie der Bilder. So hingen in den Schaukästen Bildreproduktionen der visuell schönsten Ereignisse, die zur Beglaubigung der Teilnahme am Fest erworben werden konnten. Außerdem bot der Händler Kimstädt fotografische Ansichten der Lutherstadt in verschiedenen Ausführungen an. Neben den Ansichtskarten und Fotografien 354 Alle Beispiele zitiert in: Lehmann, A Pilgrimage to Wittenberg, 232 ff. 355 Hettling/Nolte (Hg.), Bürgerliche Feste, 30.

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sind auch Souvenirs augenfällige Gegenstände mit Erinnerungswert und Behelfsmittel zu Konstruktion von Erinnerung. Das Kaufhaus Strensch offerierte Luther- Büsten, -Statuen, -Medaillen, -Fahnen und -Alben sowie Tassen, Kuchenteller, Thermometer und andere Gegenstände mit Portraits oder historischen Ansichten der Stadt. Wunschmanns Buchhandlung ergänzte das Angebot durch Imitationen von Luthers Trauring und Spottmünzen aus der Reformationszeit.356 In späteren Jahren war vor allem der heimatgeschichtlich sehr interessierte Buchhändler und Verleger Max Senf Urheber kleinerer Publikationen, die anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten erschienen. Wittenbergs Kleingewerbe hatte die ökonomische Bedeutung des Fremdenverkehrs entdeckt. In einer Festbeschreibung des Jubiläums 1883 heißt es, alles im Fest sei historisch, nur die Preise hätten etwas „unheimlich modernes“.357 Rückblickend auf das Fest 1892 wird berichtet, es „schlängeln sich überall Verkäufer von Festzeitungen und Denkmünzen.“358 Als Souvenirs privatisierten und individualisierten die angebotenen Devotionalien die Erinnerung und transferierten das Festgeschehen ins private Haus, denn die Teilnehmer versuchten, durch den Erwerb von Andenken und Mitbringseln das Erlebnis in den Alltag zu verlängern. Die mobilen Miniaturdenkmäler sind materielle Zeugen des Erlebnisses; sie haben das gewonnene Bild des Besuchers vielfach „verkleinert, vervielfältigt, teilbar und verteilbar“ gemacht und bewahrten es.359 Mit dem Erwerb versicherten sich die Besucher nachträglich der Authentizität des Erlebnisses. Die retrospektive Berichterstattung verknüpfte das Gelingen des Festes mit dem touristischen Zuspruch und machte das auswärtige Interesse zum Gradmesser des Erfolgs. So war es üblich, in den Festberichten die Wichtigkeit der Feier an der Zahl der mit der Eisenbahn beförderten Teilnehmer zu messen. Zur Feier des 400. Geburtstags des Reformators reisten beispielsweise 3338 auswärtige Gäste mit der Eisenbahn an und blieben,360 „bis das Danklied ,Nun danket alle Gott‘ auch diesen [letzten – Anm. d. Verf.] Teil der Feier beendete und die fremden Gäste dem Bahnhof zueilten, um daheim zu erzählen von dem wundervollen Fest, dass sie in Wittenberg mitgefeiert.“361 Über die Aufgabe der Beförderung hinaus trug die Eisenbahn so zur überregionalen Verbindung und damit neben der Presseberichterstattung entscheidend zur überregionalen Wahrnehmung einer Feier bei.362 Ähnlich der materialisierten Formen der Bewahrung von Erinnerung mittels Souvenir

Vgl. Wittenberger Luther-Fest-Zeitung 1883, Annoncen örtlicher Händler, 15 f. Howald, Der historische Festzug 1883. Wattrodt, Einweihung Schlosskirche, 26. Ausführlich wird diese Wirkung von Reisesouvenirs beschrieben in: Träger, Der Weg nach Walhalla, 222. 360 Siehe: Howald, Der historische Festzug 1883, 3. 361 Howald, Der historische Festzug 1883, 22. 362 Vgl. Hartmann, Der historische Festzug, 138. 356 357 358 359

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unterstrich auch die kommunikative Nachbereitung die Authentizität des Erlebten. Aus dem Ansturm der Besucher anlässlich der Reformationsjubiläen 1883 und 1892 ließ sich in der Kaiserzeit jedoch kein permanenter Gästestrom generieren. Die enge Verknüpfung der reformationsgeschichtlichen Erinnerung mit dem historischen Jubiläum bescherte der Stadt bestenfalls eine punktuelle Aufmerksamkeit: „Nur festliche Begebenheiten vermögen sie für einige Zeit in den Vordergrund des Interesses zu stellen“,363 erkannten bereits die Berichterstatter der zeitgenössischen Presse. In Wittenberg ließ man sogar einige Chancen ungenutzt verstreichen. Weder der 400. Geburtstag Melanchthons im Jahr 1897 noch das Gründungsjubiläum der Universität 1902 wurden im großen Rahmen festlich begangen. Die Umgestaltung des Melanchthonhauses erfolgte beispielsweise nicht im Vorfeld, sondern im Anschluss an das Jubiläum. Bereits im 19. Jahrhundert zeichnete sich ab, dass Wittenberg nie den Rang von Touristendestinationen wie Heidelberg, Rothenburg ob der Tauber oder Nürnberg erreichen würde und bestenfalls als Etappenort auf dem Weg von Berlin nach Süden gelten konnte: „Abseits der großen Heerstraßen der Touristen liegt die Lutherstadt“,364 heißt es zeitgenössisch. Als Indikator touristischer Bedeutsamkeit können Reiseführer gelten, denn sie trugen dazu bei, Orte in touristische Attraktionen zu verwandeln. Eine Attraktion ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sie im Reiseführer erwähnt wird. Für die Rheinlande und angrenzende Gebiete hat der Baedecker bis 1905 bereits 30 Auflagen erfahren und Heidelberg mit einer Beschreibung sowie einer Stadtkarte gewürdigt. Der Baedeker Süddeutschland mit einer Stadtbeschreibung Nürnbergs und Rothenburgs lag 1912 in der 31. Auflage vor.365 Von einer derartigen publizistischen Präsenz war Wittenberg weit entfernt. Der Stadt fehlten schlicht die notwendigen Voraussetzungen für einen dauerhaft pulsierenden Fremdenverkehr. Sie wurde als „dürftig, reizlos, kahl“366 empfunden. Die Stadt war ohne herausragende landschaftliche oder städtebauliche Reize und lag bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts eingeklemmt in die engen Festungsanlagen, mit einem weit vor den Toren liegenden Bahnhof. Touristische Attraktionen entstanden erst mit der musealen Eröffnung der Lutherhalle 1883 und der Einweihung der neu errichteten Schlosskirche 1892. Sie unterstreichen das Bemühen um eine an touristische Parameter geknüpfte überregionale Aufmerksamkeit. Die Stadt erhielt durch diese beiden Denkmalschwerpunkte allerdings eine ästhetisierte Topographie, die sich ausschließlich auf die reformationsgeschichtliche Vergangenheit bezog und diese visuell aufbereitete. Die touristische Monokultur ist bereits 1883 beschrieben 363 364 365 366

Fischer, Die Lutherstadt Wittenberg, Spalte 430. Ebd., Spalte 430. Vgl. Baedeker, Die Rheinlande; Baedeker, Süddeutschland. Rühle, Alfred Kerr, 210.

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worden: „Außer den Erinnerungen an Luther und die Reformation hat die Stadt keine erhebliche Bedeutung.“367

7.3 Formen des touristischen Besuchs

Über Jahrhunderte hinweg hatte die Imagination Wittenbergs als einem Referenzort der protestantischen Kirchengeschichte genügt, denn der evangelische Glaube ist vielerorts raumlos und bedarf nicht der Vermittlung des Ortes. Außerdem waren nur wenige bereit, sich auf eine lange und beschwerliche Fahrt in der Postkutsche einzulassen. Erst mit der verbesserten Erreichbarkeit der Stadt durch die Eisenbahn wuchs das Bedürfnis, den Raum sinnlich-konkret zu erfahren. Wittenberg wurde im 19. Jahrhundert durch den Ausbau als reformationshistorische Denkmallandschaft sowie den Anschluss an den modernen Fernverkehr vom Rang einer historischen Projektion zu einem Projekt der Gegenwart erhoben. Die Bedeutung des Ortes ging jetzt weit über den Rahmen einer zugeschriebenen Aura, dem sprichwörtlichen spiritus loci, hinaus. Die Menschen suchten nach dem Fass-, Greif- und Erlebbaren, nach der konkreten Substanz, aus der sich Symbol, Sinn und Identität ableiten ließen. Das Erinnerte verlangte nach Gegenwärtigkeit, was im Ergebnis zu einem Drang nach räumlicher Unmittelbarkeit und materieller Anteilnahme führte: Und wenn wir dann vor den Lutherstätten stehen, wenn wir das Kloster, die Schloßkirche, die Stadtpfarrkirche und auch das Rathaus betreten, dann ist es uns, als riefen die Steine unter unseren Füßen, was das für ein geweihter Boden ist, der uns trägt.368 (Karl Dunkmann, 1911)

Das Erlebnis der Denkmallandschaft setzte ein funktionierendes Verkehrssystem voraus. Der moderne Fremdenverkehr begann in Wittenberg mit dem Anschluss an das Schienennetz der Eisenbahn.369 1841 erhielt die Stadt einen ersten Bahnhof, der es Reisenden ermöglichte, direkt in die Lutherstadt fahren zu können.370 Die Eisenbahn bot eine schnelle und preiswerte Beförderung der Besucher.371 Günstige Sonntagsfahrkarten der Reichsbahn boten den anliegenden Großstädtern die Gelegenheit, Wittenberg im Rahmen eines Tagesausflugs zu besuchen. Mit dem Bau der Elbbrücke wurde der Bahnhof 1859 367 Die Wittenberger Festtage, Neue Preußische Zeitung, Beilage, 11. 09. 1883. 368 Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 56 f. 369 Auf den Umstand der zentralen Verkehrslage Wittenbergs mit einem Eisenbahnanschluss bereits in der Frühphase des Eisenbahnwesens, der für den Besuch von hoher Bedeutung war und die Lutherstadt erst zu einem erfahrbaren Erinnerungsort machte, wies Grald Chaix hin. Vgl. Chaix, Die Reformation, 15. 370 Vgl. Erfurth, Vor 100 Jahren, 71 – 74. 371 Vgl. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise.

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von der West- auf die Ostseite der Stadt verlegt, sodass der Besucher in den darauf folgenden 100 Jahren sein Besichtigungsprogramm in der Regel an der Luthereiche und dem Lutherhaus begann und am Ende an die Schlosskirche mit der Thesentür gelangte: Wenn der Besucher unseres Wittenberg mit der Bahn gekommen durch das dort zunächst liegende Elsterthor die Stadt betritt, dann fällt ihm gleich links das große imposante Gebäude samt dem dazugehörigen Seitenflügel und Hintergebäude in die Augen.372 (Hermann Stein, 1883)

Bereits der Stadtschreiber Andreas Meinhardi hatte in seiner fiktiven Werbeschrift für die neu gegründete Universität von 1507 diese Richtung eingeschlagen.373 Erst mit dem Beginn des automobilen Zeitalters kehrte sich die Besuchsrichtung um, denn die im Autobus oder privatem Fahrzeug Anreisenden beginnen ihren Besuch meist an der Schlosskirche.374 Nicht nur die verbesserte Erreichbarkeit, sondern auch der Ausbau Wittenbergs zu einer reformationsgeschichtlichen Denkmallandschaft führte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer stärkeren Frequentierung durch auswärtige Besucher, denn er garantierte die Anschaulichkeit der Stadt. Die Etablierung eines Museums im Lutherhaus 1883, die Umgestaltung der Schlosskirche zum Denkmalsbau 1892 und die Neueinrichtung von Melanchthons Wohn- und Studierstube nach 1897 stellten wichtige Meilensteine der Etablierung einer touristischen Infrastruktur dar. „Aber Museen giebt’s aller Orten. Man reist nicht nach einem solchen von Berlin, Leipzig oder Dresden nach Wittenberg“,375 schrieb Gurlitt 1902. Entscheidend für die Anziehungskraft des Lutherhauses war die Inszenierung des Sammlungsbestandes, die beispielsweise im Zusammenhang mit dem der Lutherhalle 1911 überlassenen Brief des Reformators an Karl V. betrieben wurde.376 1913 fragte die Baedecker-Redaktion, wann und in welchem Rahmen der Brief endlich ausgestellt würde.377 Die erstmals im Jahr 1906 erstellte Besucherstatistik des Lutherhauses belegt ein stetig steigendes Interesse auswärtiger Besucher an dem Museum bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Während im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts jährlich rund 10.000 Besucher kamen, stieg diese Zahl auf rund 372 Stein, Geschichte des Lutherhauses, 4. 373 Vgl. Treu (Hg.), Über die Lage, die Schönheit und den Ruhm. 374 Seit den 1990er Jahren befindet sich das städtische Verkehrsamt „Wittenberg-Information“ gegenüber der Schlosskirche und empfängt Besucher der Stadt. 375 Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 65. 376 Ausführlich bei Laube, Lutherbrief an den Kaiser. 377 Redaktion des Baedecker „Nordostdeutschland“, 11. 11. 1913., Archiv StLU; Betrachten konnten die Besucher den Brief in der 1916 eröffneten neugestalteten Ausstellung. Im gleichen Jahr ist er auch erstmals abgebildet worden. Vgl. Schreckenbach/Neubert, Martin Luther, 97 – 99.

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20.000 im Jahr 1913.378 Eine stärkere Reglementierung der Besichtigung wurde deshalb notwendig. So wurden beispielsweise Öffnungszeiten fixiert. Im Sommer konnte das Museum von 8 Uhr morgens bis 7 Uhr abends, im Winter von 9 Uhr morgens bis 5 Uhr abends besichtigt werden.379 Das Melanchthonhaus stand Besuchern täglich in den Vormittagsstunden sowie nachmittags ab 14 Uhr offen.380 Hatte Cornelius Gurlitt im Jahr 1902 noch geschrieben, dass die Besichtigung des Lutherhauses „gegen die üblichen Führertrinkgelder“381 möglich sei, wurden ab 1906 erstmals offiziell Eintrittspreise erhoben. Mit 25 Pfennig waren diese recht moderat, der Eintritt ins Melanchthonhaus betrug 50 Pfennig.382 Auch in der Schlosskirche war ein Eintritt zu zahlen, was oft für Unmut sorgte.383 Mit dem Ausbau der Eisenbahn wurde Raum immer weniger sinnhaftkörperlich als vielmehr als eine Funktion der Zeit und der Geschwindigkeit erfahren. „Mit der Geschwindigkeit, die eine Maschine ermöglicht, hat sich die raumzeitliche Perspektive des Menschen geändert“384, schrieb Paul Virilio. Wittenberg war nur Durchgangsstation, die man wahrnahm und der man eventuell einen kurzen Besuch abstattete: Wie mancher Reisender eilt nicht im Schnellzug an der ,Station Wittenberg‘ vorüber, ohne mehr als höchstens einen Blick zum Fenster hinaus zu werfen. Und doch handelt es sich um einen der geschichtlich wichtigsten Orte Deutschlands. Hier und da steigt ein Fremder aus, besichtigt flüchtig das Lutherhaus, bisweilen auch noch kurz die Schlosskirche, um dann mit dem nächsten Zug weiter zu fahren.385 (Julius von Pflugk-Hartung, 1909)

Das neue Verkehrsmittel veränderte die Wahrnehmung von Raum und Zeit. Versteht man die touristische Reise als eine Zeitreise in die Vergangenheit, so wurde mit der Bahn eine passende Zeit-Maschine erfunden.386 Durch das technische Schrumpfen der Entfernungen waren Reiseziele nicht mehr das Ergebnis einer allmählichen, oft abwechslungs- und hindernisreichen Annäherung. Nun waren nicht nur rasche Orts-, sondern auch Zeitwechsel möglich.387 Mit der Reise an einen anderen Ort war deshalb auch die Reise in eine andere Epoche verbunden. Der Besucher entfloh für eine Weile dem hekti378 379 380 381 382 383 384 385 386 387

Vgl. Laube, Lutherhaus Wittenberg, 249. Vgl. Woerl’s Illustrierter Führer 1907, 21. Vgl. Erfurth, Führer durch die Lutherstadt 1917, 32. Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 55. Vgl. Woerl’s Illustrierter Führer 1907, 21 ff. Vgl. Beschwerdebrief Henry Happold aus Berlin, September 1913, in: Akte 36, Archiv Predigerseminar Wittenberg. Virilio, Die Eroberung des Körpers, 45. Pflugk-Harttung, Aus dem Lutherhause, 137. Vgl. dazu Spodes Interpretation der touristischen Reise als Zeitreise, in: Spode, Der moderne Tourismus, 73 ff. Vgl. Träger, Metamorphosen des Reisens, 185.

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schen Betrieb des Industriezeitalters, um in Wittenberg in das Reformationszeitalter eintauchen zu können: „Wer […] die geweihte Stätte betritt, dem müssen sich eine reiche Fülle von Gedanken aufdrängen, die ihn das Gewoge der Gegenwart für eine Weile vergessen lassen und in die Zeiten vergangener Tage zurückversetzen“,388 schrieb Stein 1883. Und der sächsische Denkmalpfleger Cornelius Gurlitt beendete den von ihm verfassten Stadtführer folgendermaßen: „Wenige Stunden nachdem ich die Lutherhalle verlassen hatte, dampfte ich wieder in die Riesenhalle des elektrisch erleuchteten Anhalter Bahnhofs ein. Der Lärm des 19. Jahrhunderts umfing mich wieder.“389 Viel Zeit nahmen sich die Besucher aber nicht für ihre Zeitreise. So beklagte sich der Schlosskirchenküster Lehmann, der in Personalunion auch als Sammlungsaufseher und Fremdenführer des Lutherhauses tätig war, dass viele der rund 3000 jährlich von ihm herumgeführten Besucher ungeduldig gewesen seien, da sie ihren nächsten Zug nicht verpassen wollten.390 Der Kurator der Lutherhalle Julius Jordan warb hingegen auch für einen kurzen Zwischenstopp auf der Fahrt von Berlin nach Leipzig oder Halle: „Jeder Zug hält in Wittenberg. 2 bis 3 Stunden reichen für einen ersten Besuch.“391

8. Vom Glaubens- zum Nationalhelden 8.1 Die Erweiterung des Lutherhauses Nachdem das Lutherhaus im Jahr 1883 nach umfangreichen Umbauten eröffnet worden war, kam es zu einem Jahrzehnte währenden musealen Stillstand, der vor allem mit der Zuordnung des Hauses zum Predigerseminar erklärt werden muss. Dessen Direktorium hat „teils entschieden und aktiv, teils vorsichtig und abwartend die Errichtung und den Ausbau des Museums“392 hintertrieben, weil es die Nutzung des Gebäudes für die Zwecke des Seminars wohl lieber gesehen hätte. Auch das preußische Herrscherhaus hatte nach der Einweihung durch den Kronprinzen rasch das Interesse verloren und sich dem Projekt der wiederherzustellenden Schlosskirche gewidmet. Anlässlich deren Einweihung 1892 fand im Großen Hörsaal ein Frühstück für den Kaiser statt und die Sammlungen wurden nicht beachtet.393 Erst mit der 1912 erfolgten Berufung von Julius Jordan zum Konservator, der eng mit dem preußischen Regierungspräsidenten Wolf von Gersdorff zusammenarbeitete, verlor das Haus allmählich seinen Charakter einer Ver388 389 390 391 392 393

Stein, Geschichte des Lutherhauses, 45. Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 67. Vgl. Stellungnahme Schlosskirchenküster Lehmann vom 29. 05. 1907, in Archiv StLu. Jordan, Aus der Lutherhalle, 29. Treu, Wittenbergs Entwicklung zur Lutherstadt, 61. Vgl. Jordan, Zur Geschichte der Sammlungen, 7.

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wahrstätte reformationsgeschichtlich relevanter Zeugnisse und gewann die Gestalt eines modernen Museums.394 Der bis dahin ohne museologische Dramaturgie präsentierte Sammlungsbestand wurde schrittweise geordnet und den Erfordernissen moderner Ausstellungskonzeptionen entsprechend in Szene gesetzt. In den Jahren des Ersten Weltkriegs wurde der museal genutzte Bereich des Lutherhauses zudem erweitert, mit dem Ziel, das Museum „aus dem engen Rahmen einer lokalen Sehenswürdigkeit“ herauszuheben und es „auszugestalten zu einer nationalen, in allen Gauen unseres Vaterlandes bekannten Weihestätte“,395 wie der Konservator schrieb. Anlass für die Erweiterung und Schlüsselereignis eines ausstellungskonzeptionellen Umdenkens bildete die Schenkung eines Lutherbriefes an Karl V., den der amerikanische Industriemagnat und Sammler J.P. Morgan auf einer Auktion im Jahr 1911 erworben hatte, um ihn anschließend dem deutschen Kaiser Wilhelm II. zu schenken. Dieser reichte den wertvollen Autographen an die Lutherhalle weiter, um deren Sammlungsbestand um ein weiteres Schlüsseldokument der Reformationsgeschichte zu erweitern. Die Existenz des Lutherbriefes war lange bekannt gewesen und bereits 1842 war eine deutsche Übersetzung publiziert worden.396 Durch den hohen Kaufpreis und die Gabe an Kaiser Wilhelm II. wurde das Dokument jedoch gleichsam ,veredelt‘ und es stellte sich die Frage einer angemessenen Musealisierung, mit der zum einen der unschätzbare Wert des Briefes unterstrichen werden sollte, zum anderen der Kaiser als Schenker gewürdigt werden musste.397 Eine simple Einreihung in die Sammlungsbestände hätte diesem Anspruch nicht genügt. In diesem besonderen Falle forderte der Vorsitzende des Lutherhallen-Kuratoriums, der preußische Regierungspräsident Wolf von Gersdorff, einen „wirklich würdigen Ort für den Schrein des kaiserlichen Geschenks.“398 Der von Gersdorff gewünschte Schrein war in Form eines an das Lutherhaus angefügten Erkers bereits vorhanden und ließ den besonderen Ort auch von außen erkennbar werden. Er markiert die Luthergedenkhalle, die im ersten Stockwerk des Lutherhauses, links vom Wendelstein, aus drei neu hinzugewonnenen Ausstellungsräumen gewonnen werden konnte. Ihr Pendant findet die Gedenkhalle auf der rechten Seite des Wendelsteins, wo sich, ebenfalls in der ersten Etage, die Lutherstube befindet. Diese ist mit einem Baldachin ebenfalls von außen markiert worden. Für den gestifteten Brief wurde ein Bronzerahmen entworfen, dessen ikonographische Gestaltung eine preußisch-lutherische Heilsgeschichte vermittelt. Verstärkt wurde die angestrebte preußische Deutungshoheit über die Reformationsgeschichte durch die 394 Julius Jordan amtierte 1912 – 1928 als Konservator der Lutherhalle, Wolf von Gersdorff war zwischen 1910 – 1945 Vorsitzender des Kuratoriums. 395 Jordan, Feier im Lutherhause, 90. 396 Die 1842 publizierte Übersetzung abgedruckt in: Schreckenbach/Neubert, Martin Luther, 183. 397 Vgl. Laube, Lutherbrief an den Kaiser, 275 ff. 398 Schreiben Wolf von Gersdorffs an das preußische Kultusministerium vom 9. 9. 1913, in; Archiv StLu.

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wandgestaltende farbliche Ausschmückung des Erkers, in dem der Brief wie in einem Reliquiar präsentiert werden konnte. In der Mitte des Erkerbogens thronte der preußische Adler.399 Der Text sollte so zum mythischen Gegenstand werden und eine kultische Handlung oder besondere Verehrung auf sich ziehen.400 Ein Besucher schrieb wenige Jahre später : „Um dieses Stück […] weht noch der heiße Atem jener weltgeschichtlichen Stunde ,Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen! ‘“401 Mit der Eröffnung der Luthergedenkhalle erhielt das Museum einen dritten Kernbereich, der neben die Aula mit den Kurfürstenbildern und die Lutherstube trat, um „die hohe Weihe eines solchen Ortes in die rechten Bahnen zu leiten“402 und zwischen denen die anderen Ausstellungsräume zwangsläufig abfielen. Zusätzlich aufgewertet wurde dieser neu geschaffene Kernbereich durch einen frühen Thesendruck, eine Leihgabe der Kirchengemeinde Zeitz. „Wieder wie Verheißung und Erfüllung, so stehen sich beide Glanzstücke gegenüber.“403 Zusammen mit bekannten Lutherdarstellungen aus der Cranachwerkstatt sowie weiteren greifbaren Gegenständen wurde hier eine aussagekräftige Synthese zwischen Schrift und Bild hergestellt, wie der Museumsfachmann und spätere Reichskunstwart Edwin Redslob anerkennend urteilte.404 Der erste hauptamtliche Direktor des Museums, der 1930 ins Amt berufene Oskar Thulin, hat diese Konzeption zwanzig Jahre später aufgegriffen und das Prinzip der Anschauung durch eine Verbindung von ,Wort‘ und ,Ding‘ auf die gesamte Ausstellung übertragen. Die Einweihung der erneuerten Lutherhalle fand im Juli 1916 statt und stieß auf überregionale Resonanz.405 „Durch sie wird Wittenberg noch mehr als bisher als die Lutherstadt unter den Lutherstätten ausgezeichnet“406, jubelte die Lokalpresse. Flaggenschmuck auf dem Rathaus und den Türmen der Stadtkirche verlieh der Stadt im dritten Kriegsjahr ein festliches Antlitz. Aus diesem Anlass war auch erstmals ein von Julius Jordan verfasster 12–seitiger gedruckter Führer erschienen, mit dessen Hilfe sich Besucher die Sammlung selbst erschließen konnten.407 Zur überregionalen Wahrnehmung der Lutherhalle trug ferner ein 1916 erschienener Bildband von Paul Schreckenbach

399 Vgl. Berichterstattung über Eröffnung der Erweiterten Lutherhalle von Julius Jordan, Leipziger Illustrierte Zeitung vom 20. Juli 1916, 91 – 94; Laube, Lutherbrief an Kaiser, 275 ff. 400 Vgl. beispielsweise mit dem Urtext der amerikanischen Verfassung, die von amerikanischen Bürgern nicht nur als rechtliche Grundlage des Gemeinwesens, sondern vielfach als eine Art ,Offenbarung‘ und ,Reliquie‘ betrachtet wird. Vgl. Krüdewagen, Die Selbstdarstellung des Staates, 190 ff. 401 Emil Grundmann, Wanderungen durch die Lutherstadt Wittenberg, 12. 402 Riemer, Lutherstätten der Provinz Sachsen, 28. 403 Jordan, Feier im Lutherhause, 93. 404 Vgl. Redslob, Die Lutherhalle in Wittenberg, 153 – 156. 405 Vgl. Bericht Jordans in der Leipziger Illustrierten Zeitung Nr. 3812 vom 20. Juli 1916, 91 – 94. 406 Berichterstattung auf Titelseite der Lokalpresse, Allgemeine Zeitung, 16. Juli 1916. 407 Vgl. Jordan, Lutherhalle Wittenberg 1916.

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und Franz Neubert bei,408 dessen Fotografien in den Folgejahren in vielen wissenschaftlichen Publikationen, aber auch populären Illustrierten wie der Gartenlaube oder Daheim abgedruckt wurden und das Museum fest in der Kulturlandschaft Deutschlands verankerten. Erst jetzt war aus dem Sammlungsdepot ein wirkliches Museum geworden, das dauerhaft am öffentlichen Zuspruch als Kernkriterium der Bewertung eines Museums gemessen werden konnte. 8.2 Enttäuschte Hoffnung: Das Reformationsjubiläum 1917 Die Planungen und Vorbereitungen für eine groß angelegte Gedächtnisfeier des 400. Jubiläums von Luthers Thesenanschlag reichten bis weit in die Jahre vor 1914 zurück. Das Ziel bestand in einer Selbstdarstellung des Protestantismus, die dessen prägende Kraft in Geschichte und Gegenwart in das Bewusstsein der kulturellen Öffentlichkeit rücken sollte. Die Hauptfeier war am 31. Oktober in Wittenberg vorgesehen.409 In Vorbereitung des Jubiläums hatte der Verkehrsverein erstmals einen Stadtführer publiziert,410 der von einem ebenfalls 1917 herausgegebenen aufwendig gestalteten Buch über die Stadtkirche ergänzt wurde.411 Planungen zur Umgestaltung der Kirche und die 1916 abgeschlossene Umgestaltung der Lutherhalle standen ebenfalls im Zeichen des Jubiläums. Im April des vorletzten Kriegsjahres 1917 traf in Wittenberg jedoch die Mitteilung ein, [dass – Anm. d. Verf.] die für den 31. Oktober in Wittenberg geplante Reformationsgedenkfeier der deutschen evangelischen Kirchen in Gegenwart Seiner Majestät des Kaisers und der evangelischen deutschen Fürsten infolge des Krieges und insbesondere wegen der Verkehrs- und Verpflegungsschwierigkeiten für Wittenberg aufgehoben werden müsse.412

Die Enttäuschung darüber war groß in der Stadt, deren Bürgerschaft sich auf eine Neuauflage der prächtigen Feierlichkeiten anlässlich der Schlosskircheneinweihung 1892 gefreut hatte. Nicht nur die kriegsbedingten Verkehrs- und Verpflegungsschwierigkeiten, sondern vor allem politische Gründe führten zu einer Abkehr von den ursprünglichen Planungen. „Historische Bezugspunkte, die Grundsatzdebatten auslösen und zur Formierung konträrer sozialer Gruppen führen“, waren in der politischen Ausnahmesituation des Ersten Weltkrieges „als Anlass für 408 An der Entstehung der mit 384 Bildern außergewöhnlich reich illustrierten Publikation wirkten der Konservator Julius Jordan und der Vorsitzende des Kuratoriums Wolf von Gersdorff eifrig mit, wofür ihnen im Vorwort gedankt wird. Siehe: Schreckenbach/Neubert, Martin Luther, VI. 409 Vgl. Albrecht, Zwischen Kriegstheologie und Krisentheologie, 485. 410 Vgl. Erfurth, Führer durch die Lutherstadt 1917. 411 Vgl. Schmidt/Winkler, Die Stadtkirche. 412 Wiedergegeben in: Doden (Pfarrer), Die Vorbereitungen, 7.

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Feste wenig geeignet“.413 Neben dem Streben nach innerer Geschlossenheit schließen Feier und Krieg sich aber auch prinzipiell aus. Die auf Einheit des Volkes bedachte Reichsführung war deshalb weder an repräsentativen Festveranstaltungen noch an konfessionellen Spannungen interessiert. Das im evangelischen Teil des Kaiserreiches begangene Lutherjubiläum 1917 sollte vielmehr den Charakter einer stillen Bekenntnisfeier erhalten, um den mit den Katholiken im Reich geschlossenen Burgfrieden nicht zu gefährden. „Hat uns doch der ungeheure Weltkrieg mit ihnen fest zusammengeschlossen in deutsch-nationalem Empfinden, in gemeinsamem Wirken für das Wohl des Vaterlandes“,414 wie selbst die Wittenberger Feiergemeinde zugestehen musste. Im Zusammenhang mit dem Jubiläum 1917 war eine kaum überschaubare Flut von Publikationen entstanden und es findet sich kaum ein denkbares Thema im Zusammenhang mit dem Wittenberger Reformator, das nicht behandelt worden wäre.415 Am häufigsten traktiert wurde jedoch das Sujet ,Luther und Deutschland‘. Der Reformator wurde zum exemplarischen Deutschen stilisiert,416 eine konfessionell dominierte Inanspruchnahme war deshalb unerwünscht. Der Kurator des Lutherhauses, Julius Jordan, formulierte: Die größten Geister, die das deutsche Volk hervorgebracht hat, ein Friedrich der Große, ein Kant, ein Goethe, ein Bismarck, sind, so verschieden sie in Art und Entwicklung sein mögen, nicht denkbar ohne den geistigen Nährboden, den Martin Luther für sie alle geschaffen hat; und wenn heute unsere Front in Not und Tod unerschüttert steht, wenn jeder Soldat, von unserem herrlichen Hindenburg bis zum schlichten Landwehrmann gleichsam das Lutherwort verkörpert: ,Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen! ‘, dann wird man wohl stolz sagen dürfen, dass sie alle, welcher Konfession sie auch sein mögen, mit einem Tropfen lutherischen Geistes gesalbt sind.417

Da führende Staats- und Kirchenvertreter kein Interesse an einer prunkvollen Reformationsfeier der gesamten evangelischen deutschen Nation in Anlehnung an die Ereignisse von 1883 und 1892 hatten, musste die Wittenberger Festgemeinde sich mit einer bescheidenen lokalen Feier begnügen. Städtische Repräsentanten hielten sich auffällig zurück, sodass die Stadtkirchengemeinde zum Hauptinitiator der Feierlichkeiten wurde. Im Festausschuss stellte sie mit 10 von insgesamt 28 Mitgliedern die größte Fraktion. Der Magistrat entsandte fünf Teilnehmer, hinzu kamen die Vertreter der Schulen, des Kreises, der Garnison, des Predigerseminars sowie des Kriegervereins.418 Miklautz, Feste: Szenarien der Konstruktion kollektiver Identität, 203. Doden, Die Vorbereitungen, 9. Vgl. Maron, Luther 1917. Vgl. Albrecht, Zwischen Kriegstheologie und Krisentheologie, 489 f; Greschat, Reformationsjubiläum 1917, 422 f. 417 Jordan, Feier im Lutherhause, 90. 418 Vgl. Die Reformationsfeier 1917. 413 414 415 416

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Abb. 18 Die nationale Aufladung Luthers im Ersten Weltkrieg

Auch das Festprogramm zeigt eine klare Absage an eine prunkvolle Jubelfeier. Der Wittenberger Superintendent Orthmann hatte im Vorfeld den „deutschen Propheten“ Luther beschworen und im Namen der Kreissynode zu einem Reformationsfest ohne äußerlichen Festglanz und prunkvoller Feier, tönende Lieder und Reden aufgerufen. An ihre Stelle sollten „stille Innerlichkeit“ und die „Vertiefung unseres Glaubenslebens“ treten, wozu „zunächst größere Treue im Besuch unserer Gottesdienste, in der Benutzung unserer Bibel und unseres Gesangbuches“ gehörten.419 Orthmann sah in der „kraftvollen Bewährung des evangelischen Glaubenslebens“ den „einzig durchschlagenden Protest“ gegen die ausgerechnet im Reformationsjubiläumsjahr 1917 erfolgte endgültige Aufhebung der 1872 erlassenen Jesuitengesetze.420 In diesem Sinne wurde das Festprogramm von kirchlichen Veranstaltungen dominiert. Auf die Einleitung durch eine Abendmahlsfeier an den Reformatorengräbern sowie einer liturgischen Vorfeier am Nachmittag des 30. Oktober folgte am Haupttag ein Kindergottesdienst, eine kurze Feier vor der Thesentür, ein vormittäglicher Festgottesdienst in der Stadt-, sowie ein nachmittäglicher Festgottesdienst in der Schlosskirche. Die evangelischen Christen Wittenbergs erwartete außerdem noch ein Gemeindeabend, der aus zwei kurzen reformationshistorischen Vorträgen der halleschen TheologieProfessoren Friedrich Loofs und Karl Eger sowie einer musikalischen Einrahmung bestand.421 419 Aufruf Kreissynode Wittenberg 1917, in: Akte A II 202, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 420 Ebd. 421 Vgl. Akte 140, Stadtarchiv Wittenberg; Doden, Der Gemeindeabend.

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Die beiden einzigen nichtkirchlichen Programmpunkte bildeten eine Feier auf dem Lutherhof sowie eine öffentliche Feier auf dem Marktplatz. Die Vertreter von rund 40 staatlichen und kirchlichen Institutionen legten Kränze am Lutherdenkmal nieder und folgten der Ansprache des Bürgermeisters. Während die Feier auf dem Marktplatz allen Interessierten offen stand, waren zur Feier im Lutherhaus 129 Gäste geladen worden. Auch hier zeigt die Gästeliste das Desinteresse führender Vertreter von Staat und Kirche an einer herausgehobenen Feier. Die Festgemeinde im Lutherhaus setzte sich überwiegend aus lokalen Repräsentanten zusammen.422 Die Initiatoren des Festtages hatten die Wittenberger Behörden, Geschäftsleute und Fabrikbesitzer aufgefordert, am 31. Oktober in der Zeit von 9 bis 12 Uhr Arbeit und Geschäfte ruhen zu lassen, obwohl der Tag in Preußen kein allgemeiner Feiertag war.423 Die Schließung sollte die besondere Bedeutung des Tages unterstreichen und es den Arbeitern und Angestellten ermöglichen, am Festgeschehen teilzunehmen. Dass sich dennoch nur rund 400 Bürger zur öffentlichen Feier auf dem Marktplatz in den Mittagsstunden des 31. Oktober einfanden424, belegt den begrenzten Erfolg des Appells. Kriegsgründe dürften für die mangelnde Resonanz ebenso eine Rolle gespielt haben wie die bereits dargelegten Schwierigkeiten, den Reformationstag in Preußen als einen besonderen Feiertag zu etablieren. Bereits 1917 erkannten die Verantwortlichen, dass die Aneinanderreihung von Reformationsfesten mit immer gleichen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen und äußerlichen Gestaltungselementen zur „Gefahr der Eintönigkeit und des Überdrusses“ führen könne.425 Wohl auch deshalb gab es erstmals in der Wittenberger Jubiläumsgeschichte ein vom eigentlichen Festverlauf losgelöstes Angebot, dass sich speziell an die Jugend der Stadt richtete. Nach Geschlecht getrennt, erlebte die männliche Jugend am 28. Oktober eine Vorfeier, die weibliche Jugend am 4. November eine Nachfeier. Höhepunkt beider Veranstaltungen war die Aufführung von Elisabeth Malos Einakter Der 31. Oktober 1517, ein Lutherstück, das von einigen jungen Wittenbergern einstudiert worden war.426 Auch die im Felde stehenden Wittenberger Männer hatte man bedacht und ihnen durch die Kirchengemeinde Grüße und Schriften zukommen lassen.427 Dass Anteilnahme am und Einbeziehung in die Reformationserinnerung nicht einseitig verlief, belegt ein im Wittenberger Stadtkirchenarchiv aufbewahrter Kartengruß aus dem Kriegsgefangenenlager Bohemia in Astrahan. Der deutsche Kriegsgefangene Willy Müller sandte von dort folgende Zeilen an den Festausschuss in Wittenberg: „Einen Glückwunsch zur Feier des 422 423 424 425 426 427

Vgl. Knolle (Hg.), Die Reformationsjubelfeier in Wittenberg 1917. Aufruf des Gemeindekirchenrats, Wittenberger Allgemeine Zeitung, 30. Oktober 1917. Vgl. Berichterstattung, Wittenberger Allgemeine Zeitung, 2. November 1917. Doden, Die Vorbereitungen, 8. Vgl. Knolle (Hg.), Die Reformationsjubelfeier in Wittenberg 1917. Vgl. Doden, Die Vorbereitungen, 23 f.

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400jährigen Reformationsfestes am 31. Oktober sendet, aus dem fernen Osten, ein evangelischer Kriegsgefangener, seit dem 14. Juni 1915 in Gefangenschaft.“428 Hier zeigt sich, dass die städtische Gemeinschaft nicht auf den Ort Wittenberg beschränkt blieb, sondern als eine Bewusstseinsgemeinschaft gefasst werden muss, die sich auf der gemeinsamen Vergangenheit gründete. Um das Jubiläum nicht auf vorübergehende Festfreuden zu beschränken, sondern eine nachhaltige Wirkung zu erreichen, gründete die Stadtkirchengemeinde eine Kurrende. Hierbei erinnerte sie an Luthers Betätigung als Kurrendesänger in Eisenach, während seiner Schulzeit im Hause Cotta. Auch in Wittenberg hatte eine jahrhundertealte Tradition des Kurrendegesangs bestanden, die allerdings Mitte des 19. Jahrhunderts erloschen war. 1917 sollte diese wiederbelebt werden. Der Versuch, eine dauerhafte Einrichtung mit dem Jubiläum zu verknüpfen, zeugt von den Bemühungen der Initiatoren, einen Mehrwert zu schaffen, welcher der Einwohnerschaft zugute kommen sollte. Zwanzig Knabenstimmen brachten fortan allsonntäglich unter Leitung eines Lehrers „das Edelgut des Liedschatzes unserer evangelischen Kirche“429 auf verschiedenen Höfen und Plätzen der Stadt zu Gehör.

428 Postkarte Willy Müller, in: Akte A II 201, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 429 Vgl. Knolle, Liturgisch-Musikalisches, S. 28.

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II. Mehr Tradition als Aufbruch: Die Zeit der Weimarer Republik 1. Reformationserinnerung unter neuen Bedingungen 1.1 Das Ende der Einheit von Thron und Altar – Die Identitätskrise nach 1918 Der Untergang des Kaiserreichs und die darauf folgenden revolutionären Ereignisse waren für die deutschen Protestanten mit einer schmerzhaften Erfahrung verbunden. Nachdem sie seit der Aufklärung zunächst die Abtrennung einer religiösen Sinnprovinz mittels Verkirchlichung betrieben hatten und daraufhin als Kulturprotestanten die kirchlichen Institutionen allmählich abwerteten, standen sie in der Gefahr, den Staat zur Kirche zu machen. Die Abdankung des deutschen Kaisers, das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments und die politische Herrschaft der ehemals als Vaterlandsverräter diskreditierten Sozialdemokraten sowie des politischen Katholizismus ließ dies jedoch nicht mehr zu und bedeuteten einen tiefen Mentalitätsbruch. Aus protestantischer Sicht war der Zusammenbruch und der Wechsel der Verfassung 1918 – 19 mit dem Abbruch einer Kultur verbunden, für die man bislang noch keinen Ersatz und keine Fortsetzung sah.1 Die Mehrheit der Wittenberger Bürger wurde in ihrem Selbstverständnis durch das Ende der preußischen Monarchie besonders stark erschüttert, denn sie war dem preußischen Staat und Königshaus durch den Ausbau zur Lutherstadt im Laufe des 19. Jahrhunderts in einzigartiger Weise verbunden gewesen. Das Schicksal ihrer Stadtgemeinschaft war viel enger mit den Geschicken der Hohenzollern-Monarchie verwoben gewesen als das anderer Städte des Reiches. Als Referenzort preußisch-deutscher Geschichtspolitik hatte Wittenberg hohes Ansehen genossen und eine wichtige Rolle im Kaiserreich gespielt – die in keinerlei Verhältnis zu Bevölkerungszahl oder ökonomischer Potenz gestanden hatte. Mit dem Ende der alten Ordnung folgte der Sturz in die Bedeutungslosigkeit – abzulesen beispielsweise am Desinteresse der politischen Führung der Weimarer Republik an der Sache Luthers und der Reformation. Oft hatten die Hohenzollern der Stadt ihre Aufmerksamkeit geschenkt, während politische Repräsentanten der Republik nie in der Stadt Luthers erschienen. Deshalb erlebten die Wittenberger den 1918 eingetrete-

1 Kuhlemann beschreibt die Zeitenwenden 1918 und 1945 als traumatische Erfahrungen. Vgl. Kuhlemann, Protestantische ,Traumatisierungen‘.

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nen Kontinuitätsbruch unmittelbar als eine Verlustgeschichte, als einen Schicksalsschlag. Wie schwer es den Wittenbergern fiel, den scharfen Bruch des Jahres 1918 anzuerkennen, offenbaren die autobiographischen Notizen Erich Wickerts, der um 1930 Schüler am örtlichen Melanchthon-Gymnasium war : „Wir lebten nicht in den wilden zwanziger Jahren, sondern noch tief im 19. Jahrhundert. Nicht nur wir, auch die Stadt“2, beschrieb er das Phänomen der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“3. Für seine Lehrer endete die deutsche Literatur mit Rilke und sie missbilligten die Berliner „Asphaltliteratur“. In der bildenden Kunst kamen sie über den Jugendstil nicht hinaus. Die Pensionswirtin warnte den jungen Wickert vor der Lektüre der Buddenbrooks, da darin die evangelischen Pastoren alle lächerlich und komische Figuren wären.4 Diese sechzig Jahre später zu Papier gebrachten Erinnerungen illustrieren das geistige Klima der Stadt in den 1920er Jahren. „Der Staat hat sich mehr und mehr von der Stadt zurückgezogen“, konstatierte der Kunst- und Architekturhistoriker Cornelius Gurlitt 1931 in einem Wittenberg-Aufsatz und fragte zugleich: „Wer schafft Ersatz?“.5 Der Verlust der Monarchie, die Begründung der ungeliebten Republik und der verhasste Vertrag von Versailles ließ die Bedeutung des Mikrokosmos Stadt wachsen. Als „vertrauter Erfahrungsraum“ konnte sie Sicherheit in Zeiten des rasanten Wandels bieten, Identität schaffen und „damit auch auf Größeres, auf die Nation, ausstrahlen“.6 In Wittenberg bot sich vor allem die Reformationserinnerung an, um einen engen Zusammenhang zwischen Stadt und Nation herzustellen. Kommunalpolitiker der 1920er Jahre beschworen allerorten die Rolle der Städte und Kommunalverwaltungen als Zellen zur Genesung des Reiches. Wittenberg besann sich auf seine ,Selbstheilungskräfte‘ und forcierte die Rückbesinnung auf das Erbe der Reformation in bis dahin nicht gekanntem Maße, denn die Genesung gelang vor allem durch Rückgriff auf die Vergangenheit. Städte als Kontinuitätsmaschinen produzieren eine Geschichte des Zusammenhangs auch in Zeiten von Brüchen. Kommunale Gemeinschaften, so der Stadtsoziologe Rolf Lindner in Fortführung der Theorien Pierre Bourdieus, würden „vor allem durch ihre Historie […] geprägt, die nur noch punktuell in der Gegenwart wirksam sein muss, gleichwohl aber das Gepräge der Stadt weiter charakterisiert.“7 Mittels Reformationserinnerung ließ sich ein enger Zusammenhang zwischen Stadt und Nation herstellen, der in der Brückenfunktion zwischen Staat und Gesellschaft lag. „Luther war noch immer in der Stadt“,8 schrieb Wickert. Der Mythos der Lutherstadt stand den 2 3 4 5 6 7 8

Wickert, Mut und Übermut, 60. Geyer, Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Vgl. Wickert, Mut und Übermut, 62. Gurlitt, Die Lutherstadt Wittenberg, 1931, 263. Brunner, Stralsund, 1. Linder, Vorüberlegungen zu einer Anthropologie der Stadt, 186. Wickert, Mut und Übermut, 62.

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politischen Kräften der Beharrung zur Seite und wurde von diesen entsprechend instrumentalisiert.

1.2 Luther als zentrale Selbstbildressource Die Identität einer Stadt dient der Konstruktion kollektiver Zusammengehörigkeit und beinhaltet auch stets ein Moment der Integration oder Abgrenzung. „So wie sich personale Identität durch die Definition des Verhältnisses zu anderen Individuen ausbildet, wird kollektive Identität in erster Linie durch die Differenz zu den imaginierten Identitäten anderer Gruppen konstituiert.“9 Dabei muss Identität nicht als statischer Zustand, sondern eher als ein gerichteter Prozess verstanden werden, der gewisse Stadien durchläuft und durch Krisen und Verunsicherungen geprägt ist. Neben dem Fokus auf den Prozesscharakter kollektiver Identitätsbildung sollte die auf einen Ort bezogene Gruppenidentität aber auch als illusorische Form von Gemeinschaftlichkeit verstanden werden. Hiermit ist der Versuch einer Stabilisierung in Situationen und Phasen erhöhter Mobilität und sozialen Wandels gemeint, bei dem es darauf ankommt, den Anschein des Traditionellen, seit jeher Verbürgten und im Alltag Unhinterfragbaren zu vermitteln. Die dadurch hergestellte, imaginierte Gemeinschaft soll möglichst viele Vorstellungen, Interpretationen und Wertorientierungen teilen und hierdurch soziale Realität konstituieren. Bezogen auf stadtregionale Kontexte ist es angebracht, von einer Wechselwirkung zwischen städtischer Eigenlogik und kollektiven Bildern, die zu dem Raum entworfen werden, auszugehen. Städtische Selbstdarstellung soll bei den Adressaten Wirklichkeit konstruieren und in deren Köpfen eine kognitive Landkarte entstehen lassen, um das Handeln von Menschen und Institutionen in diesem Sinne zu beeinflussen. Sie transportiert Werthaltungen und Grundeinstellungen über den kommunalen Kontext hinaus und dient deshalb als Mechanismus, gesellschaftliche Strukturen und gesellschaftlichen Wandel zu interpretieren.10 In einer Stadtrepräsentation werden dabei stets zeittypische Motive und Bewusstseinslagen sichtbar,11 weil Städte sich als Bewusstseinsgemeinschaften ihrer Einwohner konstituieren und bestimmte Vorstellungen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Inszenierungspraxis eines Stadtmythos ihren Ausdruck finden. In Ablehnung des Zusammenbruchs der alten Ordnung 1918 haben die Wittenberger Deutungseliten den mit dem alten Wittenberg verbundenen Mythos der Wiege der Reformation über eine wirklichkeitsbezogene Vorstellung gestellt. Sie schätzten die Veränderungen in der modernen Stadt ge9 Bergem, Kultur als Identitätsgenerator, 189. 10 Vgl. Stremmel, Städtische Selbstdarstellung, 336. 11 Vgl. Rosseaux, Zeitrhythmen und performative Akte, 3 ff.

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ring oder ignorierten sie völlig. Für die Inszenierung des gewünschten Stadtbildes griffen sie stattdessen aus einer Fülle historischer Ereignisse ein Moment heraus, dessen Bedeutung sie für den Fortgang der Geschichte als entscheidend ansahen und präsentierten Wittenberg fast ausschließlich als einen weltgeschichtlich bedeutsamen Ort des 16. Jahrhunderts. Luther und die Reformationsgeschichte wurden so zu den zentralen Selbstbildressourcen und das propagierte städtische Leitbild produzierte Selbstverständnis und Orientierung. Dem Vordenker der Erinnerungskultur Maurice Halbwachs folgend zeigt sich im historiographischen Eklektizismus Wittenbergs, dass Vergangenheit nie als solche zu überdauern vermag, sondern immer nur unter den Rahmenbedingungen einer kulturellen Gegenwart rekonstruiert werden kann.12 Die enorme Anziehungskraft des mit der Stadt Wittenberg verbundenen Luther-Mythos in den 1920er Jahren ist als Ausdruck einer Suchbewegung zu begreifen, die eine als defizitär empfundene Gegenwart zu überwinden trachtete. In Wittenberg fand die Kultivierung der gebrochenen Erinnerung nach 1918 – dem Zusammenbruch einer idealen Welt protestantischer Kulturentfaltung – ihren sozialen Ort folglich nicht nur im lieu de mmoire, sondern war Ausdruck eines milieu de mmoire,13 denn Stadt und Bürgertum waren eins in der Sicht des tendenziell monarchistisch und stark protestantisch geprägten Milieus. Die Honoratiorengesellschaft Wittenbergs referierte historische Ereignisse im Hinblick auf ihre gegenwärtige politische Ordnungsproblematik und stellte die Erinnerung somit in den Dienst der Gegenwart.14 Der hier geübte Rückgriff auf die Geschichte bot die Chance, den Anspruch auf Deutungshoheit zu legitimieren. Die Verengung des Selbstbildes diente zwei Zielen: Zum einen sollte mit dem Verweis auf die Rolle Wittenbergs in der Reformationsgeschichte dem gefühlten Bedeutungsverlust der Stadt entgegengewirkt sowie ein möglichst hohes Maß an nationaler Aufmerksamkeit eingefordert werden. Zum anderen diente die Konzentration auf Luther einer Stärkung der Binnenhomogenität innerhalb der alteingesessenen Bürgerschaft, die durch ihre gemeinsame Zugehörigkeit zur evangelischen Stadtkirchengemeinde miteinander verbunden war. Das Ausblenden anderer Komponenten städtischer Realität ermöglichte die weitere (Selbst-)Legitimierung der Herrschaft bürgerlicher Honoratioren. Den Vertretern anderer Interessen gelang es demgegenüber nicht, wesentlichen Einfluss auf die öffentliche Formulierung städtischer Selbstbilder zu nehmen oder eventuelle Gegenbilder durchzusetzen. In den von der Wittenberger Honoratiorengesellschaft als Krisenzeit empfundenen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gewann die Identität ihrer Stadt an Kontur, da aufgrund des strukturellen Wandels nun nicht mehr ge12 Vgl. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. 13 Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, 11. 14 Zu dieser ,Erinnerungspolitik‘ siehe: Rosseaux, Zeitrhythmen und performative Akte, 3 ff.

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wiss war, was im Zentrum stand. Die positiv besetzte Eigengeschichte wurde als Ausweis von Stabilität inszeniert und daraus zugleich der Anspruch auf Zukunftsfähigkeit und Fortdauer abgeleitet.15 Hier zeigt sich der konstruktive Aspekt von Erinnerung: Sie hilft, die Gegenwart wahrzunehmen, gibt ihr einen Sinn und ordnet sie zwischen Vergangenheit und Zukunft ein. Für den städtischen Mythos galt deshalb: Die Überlieferung steht nicht nur im Dienst der Denkmalpflege, sondern setzt auch der Erinnerung ein Monument, das für die Zukunft gedacht ist.16 Die erste Reformationsfeier nach Kriegsende, das im Dezember 1920 begangene Jubiläum der Verbrennung der Bannandrohungsbulle, sollte „nicht bloß ein Erinnerungstag der Vergangenheit“, sondern „ein Segenstag für Gegenwart und Zukunft“ sein.17 Die Idee einer Geburt der Zukunft aus der Gegenwart der Vergangenheit bestimmte das zeitgenössische Denken vollends. Der 400–jährige Zeitraum zwischen Luther und der Gegenwart wurde als Periode angesehen, die Tradition und Legitimität verbürgte; auch in den kommenden 400 Jahren sollte der Reformator nicht vergessen sein. Wenige Jahre später ließ der Oberbürgermeister mit bekennerischem Gelöbnis an den Eingang der Diele des renovierten Rathauses schreiben: Bleib Rathaus in neuem Gewande Ein Fels in Fried und Gefahr Blick stolz in lutherische Lande Für weitere 400 Jahr.18

Neben der Selbstbildressource Luther haben weitere mögliche Anknüpfungspunkte an die Topographie oder Eigengeschichte im Sinne einer Identitätskonstruktion in den 1920er Jahren keinerlei Rolle gespielt. Hierfür hätte sich die Lage an der Elbe, die Bedeutung als Industriestandort, vor allem aber die Universitätsgeschichte angeboten. Der Blick auf die Wittenberger Museumslandschaft zeigt jedoch beispielhaft, dass die beiden zentralen Ziele städtischer Selbstdarstellung, äußere Repräsentation und nach innen gerichtete Integration, ausschließlich auf ein konfessionell gebundenes Publikum ausgerichtet waren. So gab es zwar seit 1883 ein reformationsgeschichtliches Museum, welches durch die 1898/99 etablierte Gedenkstube im Melanchthonhaus sowie dem ausgesprochenen Museumscharakter der 1892 neu gestalteten Schlosskirche ergänzt wurde. Eine stadtgeschichtliche Sammlung als Verwalter des Gedächtnisses der Stadt sowie als Ort der Außendarstellung und des städtischen Selbstbewusstseins existierte jedoch erst, nachdem sich im Jahr 1910 ein Heimatverein konstituiert hatte, der eine bescheidene Aus15 Zur Stabilisierung institutioneller Ordnungen mittels Metageschichte vgl. Melville und Vorländer (Hg.), Geltungsgeschichten. 16 Vgl. Klaus Graf, Ursprung und Herkommen. 17 Ansprache Oberbürgermeister Wurm, in: Wittenbergs Feier der Tat, 34. 18 Walbe, Lutherstadt Wittenberg, 10.

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stellung initiierte.19 Darüber hinaus umfasste das 1916 eingerichtete Wittenberg-Zimmer des Lutherhauses einige Aspekte der Stadthistorie.20 „Aus diesem Zimmer wird sich wohl allmählich eine Wittenberger ortsgeschichtliche Sammlung entwickeln, die später als selbstständiger Organismus neben die Luthersammlung treten könnte“,21 spekulierte Edwin Redslob 1917 in einem Beitrag für die Zeitschrift Museumskunde. Dies geschah jedoch nicht, denn die Stadt Wittenberg hat es in den 1920er Jahren unterlassen, die Sammlungen zu kommunalisieren und durch eigene Archivbestände zu ergänzen. Bereits Gurlitt hatte 1902 beklagt, dass […] Wittenberg nicht einmal eine brauchbare Chronik besitzt, obgleich sein Archiv im besten Zustand ist, dass die alte, weltberühmte Universitätsstadt keinen Gelehrten fand, der ihrer Geschichte sich gewidmet hätte; ja dass nicht einmal ein für seine Heimat begeisterter Bürger zur Feder griff, um schlecht und recht zu schildern, wie das Stadtwesen anwuchs und wie es kam, dass gerade dort am Elbestrande eine der größten Geistesthaten des deutschen Volkes sich abspielen sollten.22

Als Ergebnis hätte ein stadtgeschichtliches Museum die Bewohner mit der Lokalhistorie vertraut machen können, um eine Gemeinschaft zu stiften, die über Konfessions- und Klassengrenzen hinweg ging, indem sie sich mit dem Territorium der Stadt und ihren Institutionen identifiziert hätte. Die Beschränkung auf die Reformationsgeschichte erschwerte jedoch die Identifikation der gesamten Bevölkerung mit ihrer Stadt und retardierte den Transformationsprozess von einer kulturprotestantischen Bürger- zu einer ortsbezogenen Einwohnergemeinde. Nach außen gedacht hätte sich vor allem die Universitätsgeschichte als ergänzende Selbstbildressource angeboten, um die als defizitär empfundene Gegenwart zu überwinden und daraus einen Anspruch auf Zukunftsfähigkeit abzuleiten: „Jedem Deutschen ins Herz geschrieben bildet Wittenberg eine jener nationalen Weihestätten, an und aus der auch das besiegte und in den Staub getretene Vaterland Lebensmut und Zukunftshoffnung schöpfen mag“,23 urteilte Walter Friedensburg, Verfasser der bis heute umfangreichsten 19 Der 1910 gegründete Verein für Heimatkunde und Heimatschutz zeigte zunächst im zweiten Stock des Rathauses eine kleine heimatbezogene Ausstellung, die dann 1913 – 1928 in der Fronleichnamskapelle neben der Stadtkirche präsentiert wurde. Seit 1928 werden Räumlichkeiten im Wittenberger Schloss für Museumszwecke genutzt. Vgl. Gottfried Krüger, Das Wittenberger Heimatmuseum, 7. 20 Das Wittenberg-Zimmer als eine Ausstellungsabteilung der Lutherhalle ist vom Kurator Julius Jordan 1916 eingerichtet worden. Thematisch in vier Bereiche unterteilt, gab es Auskunft über die Schlosskirche, die Universität Wittenberg, Wittenberger Stadtansichten sowie über die Geschichte des Lutherhauses und des Augusteums. Vgl. Jordan, Geschichte der Sammlungen der Lutherhalle, 55. Ders., Lutherhalle Wittenberg. Führer 1919, 15 f. 21 Redslob, Die Lutherhalle in Wittenberg, 155. 22 Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 1 f. 23 Friedensburg, Von den Professoren und Studenten, 36.

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Universitätsgeschichte.24 Die Stadt hatte zwar im Ergebnis der Napoleonischen Kriege und des Übergangs von Sachsen nach Preußen im Jahr 1817 ihre Hohe Schule verloren, wodurch drei Jahrhunderte Universitätsgeschichte zu Ende gegangen waren. Dennoch wurde sie auch im 20. Jahrhundert als Universitätsstadt wahrgenommen, wie exemplarisch die schriftliche Anfrage einer jungen Frau vom Februar 1947, ob der Universitätsbetrieb schon wieder aufgenommen sei und man ihr die Immatrikulationsunterlagen senden könne, zeigt.25 In der städtischen Selbstwahrnehmung und Außendarstellung wurde dieses wichtige Kapitel der Stadthistorie jedoch ausgeblendet; die Stadt trat 1925 sogar aus dem 1917 gegründeten Freundeskreis der Universität Halle-Wittenberg aus.26 Das mit der Auflösung der Alma Mater verbundene Ende der akademischen Tradition in Wittenberg 1817 bedeutete einen Verlust. In Stadthistorien werden jedoch gern Erfolgsgeschichten präsentiert, Verlustgeschichten hingegen meist verschwiegen. Bedacht werden muss in diesem Zusammenhang auch, dass das Ende des Universitätsstandortes mit der Angliederung der Stadt an Preußen zusammenfiel und der preußische Staat letztendlich für die Schließung der Hochschule verantwortlich war. Die erfolgreiche Integration Wittenbergs in den preußischen Staat sowie das fruchtbare Verhältnis zwischen den Hohenzollern und der Stadt im 19. Jahrhundert verhinderten jedoch eine anhaltende Larmoyanz bezüglich des Verlustes, der stattdessen den Franzosen zugeschrieben wurde: „Französische Fremdlingsherrschaft auf deutschem Boden bereitet der altehrwürdigen Leucorea ein jähes Ende.“27 Aus diesen Gründen spielte die universitäre Vergangenheit in der Selbstwahrnehmung und Außendarstellung Wittenbergs keine Rolle.

1.3 Luther als Alleinstellungsmerkmal – Die Konkurrenz zu anderen Lutherstätten Städte konstituieren sich als Bewusstseinsgemeinschaften ihrer Einwohner. Diese haben, genau wie Individuen, das Bedürfnis nach Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit. Je mehr sich Städte in ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrem urbanen Lebensstil anpassen, desto stärker wird der Wunsch nach Einzigartigkeit. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert sahen sich Kommunen immer mehr im direkten Wettbewerb untereinander um Einwohner, Wirtschaftskraft und Besucher und begannen damit, Alleinstellungsmerkmale hervorzuheben.28 Die Historie einer Stadt liefert für die Durchsetzung dieses 24 25 26 27 28

Vgl. Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg. Schreiben vom 6. 2. 1947, in: Akte 3744, Stadtarchiv Wittenberg. Vgl. Akte 3569, Gesellschaft der Freunde der Universität, Stadtarchiv Wittenberg. Jordan/Kern, Die Universitäten Wittenberg und Halle, 7. Vgl. Schott, Pensionärsstadt-Kunststadt-Industriestadt; Andreas Mai, Stadt als Produkt.

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Bestrebens in der Regel das Material. Positiv herausragende Episoden der Eigengeschichte werden dabei besonders betont, Niederlagen und unrühmliche Kapitel gern verschwiegen. So bildete die Reformationsgeschichte den Schwerpunkt der Wittenberger Außendarstellung in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, die Universitätsgeschichte hingegen spielte keine Rolle. Die Reformationshistorie hob Wittenberg aus der Menge vergleichbarer Städte heraus. Luther und die Reformation bildeten aber nicht per se ein Alleinstellungsmerkmal. Auch Eisleben, Erfurt, Eisenach oder Worms konnten auf eine lange Tradition der memoria lutheri verweisen, die sich via Denkmal, Museum, Jubiläumstradition oder Besucherstrom konstituierte und damit weit über den Rahmen des genius loci hinausging. Alle zentralen Lutherstätten haben in den 1920er Jahren versucht, ihren Platz in der Reformationsgeschichte aufzuwerten oder als bedeutsam darzustellen. Dies geschah nicht nur mit Blick auf den aufstrebenden Fremdenverkehr. Neben den Veränderungstendenzen in physischer Struktur, ökonomischer Funktion und sozialer Mobilität bewirkte auch der Wettstreit mit konkurrierenden Städten eine Dynamisierung der ,Bilder‘ von der eigenen Stadt. Die Stabilität und Validität tradierter Bilder war zunehmend fragil geworden und die Akteure sahen sich gezwungen, ihre Bilder häufiger und deutlicher zu explizieren. Sie sahen sich aufgerufen, in Diskurse einzugreifen und eine bewusste Imagepolitik zu betreiben, die anderweitige Ziele und Maßnahmen der Stadtentwicklungspolitik begleiten und unterstützen sollten. Die Stadt Halle hat beispielsweise das eigene reformatorische Erbe wiederentdeckt29 und Luther als protestantischen Schutzheiligen für den gefährdeten Universitätsstandort genutzt.30 In Erfurt, die laut zeitgenössischer Fremdenverkehrswerbung „bestimmendste [Stadt – Anm. d. Verf.] für den werdenden Reformator“31, diente Luther als ein wichtiges touristisches Markenzeichen sowie für Zwecke der Stadtbildbewahrung.32 Um gegen die Konkurrenz der anderen Lutherstädte bestehen zu können, musste Wittenberg sich etwas einfallen lassen, getreu der von Oberbürgermeister Wurm ausformulierten Losung: „Alles für unsere liebe Lutherstadt. Vorwärts in der Welt, voran Wittenberg“.33 Da die traditionellen Formen öffentlicher Würdigung – Denkmal, Museum, Straßenbenennung, Erinnerungstafel – erschöpft waren und überdies wenig Möglichkeiten boten, sich gegenüber anderen Lutherstädten wirkungsvoll absetzen zu können, griffen die Lokalpolitiker mittels Stadtratbeschluss 1922 zum Namenszusatz Lutherstadt, der den Alleinstellungsanspruch deutlich machte.34 Als Folge wurde

29 30 31 32 33 34

Vgl. Reichelt, Die Lutherbildnisausstellung. Vgl. Reichelt, Martin Luther als evangelischer Schutzheiliger. Erfurt. Luther-, Blumen- und Domstadt, 82. Vgl. Escherich, Städtische Selbstbilder und bauliche Repräsentation, 52 f. und 208 f. Rede Oberbürgermeister Wurm, abgedruckt in: Wittenberger Tageblatt, 4. 12. 1928, 2. Wittenberg nahm hier eine Entwicklung vorweg, die für das systematische Identitätsmarketing

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die Stadt mittels Applikation eines Narrativs semantisch programmiert. Sie vermengte Überlieferungen mit Erwartungen der Besucher. Hierbei handelt es sich um einen ortsbezogenen Prozess, der nicht nur an einem Ort stattfindet.35 Nicht nur der neue Name, sondern eine Vielzahl von Jubiläumsveranstaltungen und Reformationsfeiern sollten den Anspruch der Stadt, die erste unter den Lutherstädten zu sein, untermauern, denn „das Besondere einer Stadt wächst aus ihrer kulturellen Überschussproduktion.“36 Die ,Festivalisierung‘ der Reformationsgeschichte eröffnete die Chance, auch über den innerstädtischen Rahmen hinaus Deutungshoheit zu praktizieren und das Selbstbild mit der möglichen Fremdwahrnehmung in Einklang zu bringen. Die Wittenberger Honoratiorengesellschaft versuchte, die gewünschte Botschaft auf symbolischer Ebene sowie durch Rituale zu vermitteln und somit zu einem Impulsgeber für die Lutherehrung auch in anderen Lutherstädten zu werden. So fand beispielsweise die erste öffentliche Feier eines reformationsgeschichtlichen Jahrestages nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, das 400. Jubiläum der Verbrennung der Bannandrohungsbulle im Dezember 1920, in der Lutherstadt an der Elbe statt. Nachfolgende Jubiläumsfeste in Wittenberg und anderen Lutherstädten orientierten sich an dieser ,Auftaktveranstaltung‘ für ein wahres ,Feuerwerk‘ ähnlicher Ereignisse. So lässt sich beispielsweise der Modellcharakter Wittenbergs für eine Feier in Eisenach im darauf folgenden Jahr belegen.37 Aber auch die Teilnahme der Bürgermeister von Eisenach, Erfurt, Halle und Worms an den Invokavit-Feiern 1922 unterstrich den Anspruch Wittenbergs, eine führende Rolle bei der Jubiläumsgestaltung zu spielen.38 Das Bestreben, die Einzigartigkeit der Lutherstadt herauszustellen, hatte nicht zuletzt auch eine ökonomische Relevanz. Das Ende als bedeutender preußischer Garnisonsstandort 1918 stellte das kleinstädtische Gewerbe vor wirtschaftliche Herausforderungen, denen mit einem pulsierenden Fremdenverkehr begegnet werden sollte. Die Stadt versuchte, sich als Standort überregionaler Tagungen und Versammlungen zu etablieren, um den Tourismus anzukurbeln. So erfuhr die geplante Gründung einer Lutherakademie in Sondershausen beispielsweise eine scharfe Ablehnung durch die Wittenberger Repräsentanten im Vorstand der Luthergesellschaft; sie wollten dieser Konkurrenzeinrichtung jegliche Unterstützung ihrer national agierenden Organisation verwehren, „da alle solche Pläne und Bestrebungen ihren na-

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deutscher Städte der Gegenwart charakteristisch ist, denn ohne spezifische Attribute scheint lokale Identität mittlerweile defizitär. Vgl. Hinrichs, Der Blick von Stadtplanern, 173. Vgl. Löw, Soziologie der Städte, 99 f. Hatzfeld, Erst macht die Stadt Kultur, 12. Vgl. Schreiben Magistrat Eisenach an Wittenberg vom 04. Januar 1921, in: Akte 151, Stadtarchiv Wittenberg. – Das 1994 ins Leben gerufene Wittenberger Stadtfest „Luthers Hochzeit“ diente ebenfalls wieder als Vorbild für Eisenachs „Luther. Das Fest“. Vgl. Knolle, Die Invokavitfeier 1922 in Wittenberg.

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türlichen und notwendigen Mittelpunkt in der Lutherstadt haben müssten.“39 Jenseits des Tagungstourismus buhlte die Stadt um weitere Besucher. „Die Lutherstadt, wie sie sich heute gern nennt“,40 begann in den 1920er Jahren, kommunale Strategien der Werbung, Außendarstellung und Wirtschaftsförderung im Sinne eines modernen Stadtmarketings zu entwerfen. Der Verweis auf die herausragende Bedeutung in der Reformationsgeschichte diente hierbei als Differenzkriterium und Alleinstellungsmerkmal. Im Rahmen neuer Fremdenverkehrskonzepte kooperierte Wittenberg zwar erstmals mit Erfurt, Eisenach oder Eisleben in Fragen der Vermarktung. Besuchern wurden Reisen durch Luthers Land offeriert. Auf der Frühjahresmesse 1927 in Leipzig und auf der Magdeburger Theaterausstellung 1927 gab es beispielsweise einen gemeinsamen Stand der Lutherstädte41 und in Vorbereitung auf das Jubiläum 1933 hatten sich Vertreter einzelner Lutherstädte in Halle getroffen42 und sogar einen gemeinsamen Prospekt entworfen. Für die Ausstellungsabteilung Luther in Mitteldeutschland auf der Dresdner Messe Reisen und Wandern 1929 versuchte die Stadt hingegen, allein aufzutreten oder zumindest „in geeigneter Weise die Vorrangstellung Wittenbergs zu wahren.“43 Auch die Feier des Jubiläums der Augsburger Konfession bot Anlass zur Zusammenarbeit. Im Anschluss an die Hauptfeier in Augsburg Ende Juni 1930 hatte ein aus diesem Anlass konstituiertes Festkomitee der mitteldeutschen Lutherstädte weitere Feiertage im Stammland der Reformation vorgesehen, um den vielen internationalen Besuchern auch die Besichtigung der Lutherstätten zwischen Eisenach und Wittenberg zu ermöglichen. „Für die Lutherstadt Wittenberg war dies die günstige Gelegenheit, seinen Weltruf hinauszutragen in alle Lande“,44 resümierte die Presse das Ereignis. Die gemeinsame Vermarktung im Vorfeld verlief deshalb stets unter der Bedingung, „dass die Lutherstadt Wittenberg als Wiege der Reformation genügend gewürdigt wird“,45 wie es in einem Brief an das Erfurter Stadtverkehrsamt heißt. In seiner Rede anlässlich der Augustana-Feier 1930 betonte Oberbürgermeister Wurm zudem, es sei „in unserer Bürgerschaft und unserer Stadtverwaltung der aufrichtige Wunsch und Wille vorhanden, Wittenberg als Lutherstadt in der

39 Protokoll der Vorstandssitzung der Luthergesellschaft vom 21. Mai 1932, in: Akte 100, Vorstand, Sitzungen und Mitgliederversammlungen 1918 – 1997, Archiv Luthergesellschaft Wittenberg. 40 Gurlitt, Die Lutherstadt Wittenberg 1931, 257. 41 Vgl. Akte 1652, Ausstellungen und sonstige Veranstaltungen, Stadtarchiv Wittenberg 42 Der für Verkehrs- und Werbefragen zuständige Magistratsrat Becker vertrat Wittenberg auf dem Treffen am 16. Dezember 1932 in Halle. Vgl. Bräuer, Der urdeutsche und tief christliche Reformator, 546. 43 Schreiben an den Oberbürgermeister von Wittenberg vom 26. 03. 1929, in: Akte 1670, Stadtarchiv Wittenberg. 44 Pressebericht über Wittenberger Augustanafeiern vom 4. 7. 1930, in: Akte 1470, Stadtarchiv Wittenberg. 45 Schreiben des Magistrats an Stadtverkehrsamt Erfurt vom 23. 12. 1927, in: Akte 1652, Stadtarchiv Lutherstadt Wittenberg.

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Welt voranzustellen. […] Dass die feste Burg evangelischen Glaubens nur Wittenberg sein kann, bedarf keiner Begründung.“46

1.4 Ein anerkannter Mittelpunkt evangelischen Lebens Städtische Selbstbilder entstehen in einem wechselseitigen Prozess von Selbstbeobachtung und Fremdeinschätzung. Gegenstand der Einschätzung sind die Merkmale der Stadt, die für städtische Selbstbilder Rückversicherungen bieten und gleichzeitig als Ausgangspunkte für eigene Vorstellungen dienen können. Das Bild der anderen war für Wittenberg nach dem Epochenbruch des Jahres 1918 ein wichtiger Orientierungsrahmen. Obwohl die Stadt ihre Stellung als Universitätsstadt und Hüterin der Cathedra Lutheri zu Beginn des 19. Jahrhunderts verloren hatte, blieb sie ein anerkannter Mittelpunkt kirchlichen Lebens. Die Stadt leuchte „als ein hell strahlender Höhepunkt des deutsch-evangelischen Lebens“,47 beschwor der Superintendent Friedrich Ortmann den Mythos Wittenbergs. Insbesondere nach 1918 wurde die Stadt aufgrund ihrer Symbolträchtigkeit zum gern genutzten Ort zentraler Veranstaltungen des Protestantismus sowie zur Gründungsstätte evangelischer Vereinigungen und Institutionen, die Luthers Werk für die Gegenwart fruchtbar machten. „Jedes Staatsleben, jede Kirche, jede geistige Bewegung hat ihre Symbole. Städte und Stätten werden Symbole und die Lutherstadt Wittenberg ist das Symbol, der symbolische Ort des Protestantismus“,48 erklärte der 1930 ins Amt berufene erste hauptamtliche Direktor der Lutherhalle. Den Auftakt bildete die Gründung der Luthergesellschaft in der Aula des Melanchthon-Gymnasiums im Jahr 1918.49 Vor dem imposanten Wandbild Luther in Worms wurde der Gründungsaufruf des Jenaer Professors und Literaturnobelpreisträgers Eucken vom Wittenberger Pfarrer Theodor Knolle verlesen: „Der gegebene Sitz einer solchen Gesellschaft wäre natürlich Wittenberg, das somit eine bleibende Aufgabe schönster Art erhielte.“50 Eucken hatte in seinem 1917 in der Wittenberger Stadtkirche anlässlich der Reformationsjubiläumsfeier gehaltenen Vortrag Was kann Luther heute dem deutschen Volke sein? erstmals die Gründung einer Luthergesellschaft angeregt.51 Die Gesellschaft sah ihre Aufgabe in der Wissensvermittlung über Lu46 Rede des Oberbürgermeisters vom 04. Juli 1930, gehalten auf dem Lutherhof, in: Akte 1670, Stadtarchiv Wittenberg. 47 Orthmann, Luther und Wittenberg, 58. 48 Stellungnahme von Oskar Thulin, abgedruckt in Wittenberger Zeitung vom 11. 09. 1933. 49 Vgl. Düfel, Voraussetzungen, Gründung und Anfang der Luthergesellschaft, 8 f. 50 Gründungsaufruf von Eucken, in: Akte 3746, Luthergesellschaft, Stadtarchiv Wittenberg; siehe auch: Düfel, Voraussetzungen, Gründung und Anfang der Luthergesellschaft. 51 Vortrag gehalten am 14. November 1917 als letzter von sechs Beiträgen im Reformationsjubiläumsjahr 1917, in: Doden, Vorbereitungen Reformationsfeier 1917, 11.

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thers Leben und Werk.52 Erreicht werden sollte dies unter anderem durch die Unterstützung der musealen Arbeit der Lutherhalle,53 damit „die Schätze, welche schon heute die Lutherhalle besitzt, […] mehr als bis dahin dem ganzen Volke nahe kommen.“54 Die Kommunalpolitik verband mit der Gründung die Hoffnung, dass Wittenberg seine „Eigenart als Lutherstadt“ bewahren könne und nicht zum „Industriebezirk“ herabsinke.55 Am Himmelfahrtstag 1922 unterzeichneten die Väter des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes die Gründungsurkunde auf dem aus der Lutherstube geholten und zwischen den Gräbern Luthers und Melanchthons in der Schlosskirche aufgestellten Tisch. Die beiden Reformatoren sollten so post mortem an historischer Stätte zu Kronzeugen der Gründung berufen werden. Die Verwendung des bereits von Luther genutzten Tisches sollte ebenfalls die Legitimität des Gründungsaktes unterstreichen. Als mythisch aufgeladener Gegenstand verwies er nicht nur symbolisch auf den Mythos, sondern trug ihn sogleich in sich, weil er eine materialisierte Erinnerung an die Reformation darstellte. Vor der Unterzeichnung hatten sich die Vertreter der 28 deutschen Landeskirchen in der Wohnstube Luthers im Schwarzen Kloster, von der seit alters die Festzüge in Wittenberg ihren Ausgang nahmen, versammelt und „eine kurze Wegstärkung durch Bibelwort, Lutherwort, Lutherlied“56 geholt. „Luthers Lied und Luthers Wort, Luthers Haus und Luthers Kirche, Luthers Tisch und Luthers Grab, Luthers Zeugnis und Luthers Glaube“ gaben dem Kirchenbund „das Gepräge“.57 Der Kirchenbund war keine Bekenntnisgemeinschaft und auch keine Reichskirche, sondern sollte nach dem Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments die gemeinsamen Interessen der evangelischen Landeskirchen vertreten. Die Wahl des Gründungsortes legitimierte die Aufgaben und Ansprüche des Bundes mittels historischen Verweises, denn „kein anderer Ort war für die bedeutungsvolle Tat des Zusammenschlusses der evangelischen Landeskirchen besser geeignet als die Geburtsstätte der evangelischen Kirche, die Lutherstadt Wittenberg“58 und es erschien den Zeitgenossen „wie etwas Selbstverständliches, dass die Versammlung in Wittenberg zusammentrat […] und dass der Bund in Wittenberg geschlossen wurde.“59 Ebenfalls in den 1920er Jahren entstand das Deutsche Pfarrhausarchiv in 52 Das von der Gesellschaft herausgegebene Lutherjahrbuch ist zu einem wichtigen Hilfsmittel der Reformationsforschung geworden. Die in den 1920er Jahren erschienene Zeitschrift Luther sollte hingegen Aspekte der Reformationsgeschichte unter populärwissenschaftlichen Gesichtspunkten verbreiten. 53 Paragraph 2, Punkt 4 der ersten Satzung der Luthergesellschaft, Abschrift in Akte 17, Archiv StLu. 54 Entwurf des Gründungsaufrufs von Eucken, in: Akte 3746, Stadtarchiv Wittenberg. 55 Rede Oberbürgermeister Schirmer, in: Beiblatt „Die Gründung der Luthergesellschaft“ des Wittenberger Tageblattes, 28. 9. 1918. 56 Knolle, Kirchenbund und Luthergesellschaft, 68. 57 Ebd., 69. 58 Erfurth, Geschichte der Lutherstadt Wittenberg, Teil 2, 123. 59 Otto Eduart Schmidt, Kursächsische Streifzüge, 319.

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Wittenberg. Seit der Eheschließung Luthers mit Katharina von Bora im Jahr 1525 hatte das evangelische Pfarrhaus seinen Siegeszug bei der Eroberung des deutsche Geistes- und Kulturlebens angetreten. Vor allem im 19. Jahrhundert wurde es von der protestantisch geprägten Bildungsschicht zu einem zentralen Topos der historischen Erzählung und des Geschichtsbildes verklärt. Es stand für geistigen Fortschritt, bürgerliche Lebensform und kulturelle Nationsbildung. Das als Produkt des Hochzeitsjubiläums 1925 gegründete Wittenberger Pfarrhausarchiv60 institutionalisierte die ,Leistungsschau‘ des Evangelischen Pfarrhauses mittels Bibliothek sowie kleiner Ausstellung und pflegte ein idealisiertes Weltbild protestantisch-preußischer Kulturhegemonie.61 Wittenberg bot sich für dieses Projekt normativer Eigengeschichtsschreibung in besonderer Weise an. Obwohl es bereits vor 1525 Eheschließungen evangelischer Pfarrer gegeben hatte, „bleibt Luther der Begründer des evangelischen Pfarrhauses“,62 wie der Gründer der Sammlung, Pfarrer August Angermann, schrieb. Nach dem Ende des Kaiserreichs speiste die Institution Evangelisches Pfarrhaus antiwestliche, antidemokratische und antikatholische Ressentiments und kompensierte den Wegfall des landesherrlichen Regiments sowie der evangelischen Kulturhegemonie: „Der tiefe Zweifel des evangelischen Deutschland an Republik und Demokratie […] waren über die Anhänglichkeit an das Pfarrhaus und seine Bedeutung für die deutsche Nation sprachlich aussagbar und kommunizierbar.“63 Anlässlich der Tagung des Mitteldeutschen Verkehrsverbandes in Wittenberg im April 1933 wiesen die Initiatoren darauf hin, dass die zahlreichen Veranstaltungen der protestantischen Kirche „immer und immer wieder die überragende Bedeutung Wittenbergs als Wirkungsstätte des großen Reformators“64 bewiesen habe und sie verbanden damit die Hoffnung, diese Erfolgsgeschichte fortschreiben zu können. Die Bemühungen, Wittenberg zur zentralen Stätte des deutschen Protestantismus zu machen, fanden bereits wenige Monate später ihren Höhepunkt. Im Zusammenhang mit der Wahl des neuen Reichsbischofs Müller, dem Führer der Glaubensbewegung Deutsche Christen, auf der in Wittenberg stattfindenden Nationalsynode entstand die Hoffnung, zum Bischofssitz aufzusteigen. Trotz des hohen Interesses kirchlicher Einrichtungen und Institutionen am evangelischen Symbolort Wittenberg kann die Stadt nicht als bloße Reproduktionsfläche für deren Interessen gelten. Die vielfältigen, von Wittenberg selbst ausgehenden Ambitionen, den protestantischen Erinnerungsort in ein neues kirchliches Gravitationszentrum zu verwandeln, sind vielmehr ein Beleg für die kommunale Selbstbehauptung und Autonomie, wie sie in städ60 61 62 63 64

Vgl. Meiser, Das Lutherhaus in Eisenach, 58 f. Vgl. Janz, Das evangelische Pfarrhaus. Angermann, Was für Männer, 8. Weichlein, Pfarrhaus, 650. Vgl. Die Tagung des Mitteldeutschen Verkehrsverbandes in der Lutherstadt Wittenberg am 29. und 30. April 1933, Wittenberger Zeitung, 29. 04. 1933.

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tischen Selbstdarstellungen der Zeit generell unterstrichen wurden.65 Städtische Institutionen und Initiatoren standen hinter den meisten Projekten, verantworteten ihre Umsetzung, gewannen außerstädtische Förderer oder banden sie mit ein. Der seit 1919 forcierte lokalpatriotische Einsatz, Wittenberg zur ersten Adresse unter den Lutherstätten zu machen, deckte sich mit den Interessen des politischen Protestantismus im Reich, der Wittenberg als Symbolort schätzte und nutzte.

1.5 Wittenberg und der politische Protestantismus im Reich Die Inszenierungsumstände der Einweihung der Wittenberger Schlosskirche 1892 sowie der Verkauf von Ablegern der Luthereiche als Anti-BorromäusSpende 1910 zeigen exemplarisch, dass die Konflikte zwischen Protestanten und Katholiken im späten Kaiserreich sich allmählich von der staatlichamtskirchlichen Ebene auf die Bühne eines ,Vereinskonfessionalismus‘ verlagert hatten.66 Mit dem Ende des Kaiserreichs hörte dieser Konfessionskampf nicht auf, sondern wurde mit Vehemenz weitergeführt. Ein Blick auf das Wirken des politischen Protestantismus in Wittenberg zeigt, wie die Lutherstadt zugleich Bühne und Gegenstand der Auseinandersetzung wurde. Die Protagonisten des politischen Protestantismus verschrieben sich dem Kampf um die nationale Deutungshoheit, der in entscheidendem Maße durch den Rückgriff auf die Reformation bestimmt war. Für sie stand die Vorstellung von der Nation als eine durch den evangelischen Glauben gewordene politische Ordnung im Mittelpunkt.67 So heißt es im Grundsatzprogramm des Evangelischen Bundes, der stärksten Interessensvertretung, er „will sammeln und einigen, was deutsch und evangelisch ist. […] Er erfüllt seine Aufgabe als Dienst am deutschen Volkstum, am deutschen Protestantismus und an der evangelischen Kirche.“68 Die mit dem Ende des Kaiserreichs erfolgte Trennung von Thron und Altar ist als massiver Einflussverlust erfahren worden, denn in den Augen der nationalkonservativen Protestanten saßen nun im Reich die alten Gegner Katholizismus und Sozialdemokratie an den Schalthebeln der Macht.69 Wir haben die geschichtliche Linie gezogen von Worms, Wittenberg, Wartburg nach dem glorreichen Bismarckschen Versaillestag am 18. Januar 1871 und sahen und

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Vgl. Schott, Zukunft und Geschichte der Stadt, 322 ff. Vgl. Blaschke, Das deutsche Kaiserreich, 186. Vgl. Kaiser, Der Evangelische Bund und die Politik 1918 – 1933. Grundsatzprogramm, zitiert in: Fleischmann-Bisten, Der Evangelische Bund, 133. Vgl. Tanner, Protestantische Demokratiekritik; Jacke, Kirche zwischen Monarchie und Republik.

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sehen auch heute noch, und gerade nach dem Bruch dieser Linie, das tiefste Geheimnis der deutschen Volksgeschichte in der Reformation […]70,

heißt es 1927 in einer Festschrift des Evangelischen Bundes. Für zentrale Veranstaltungen nutzte der Bund oft die Lutherstädte, um seine Botschaft symbolpolitisch zu untermauern.71 In Wittenberg plante er zu diesem Zweck die Einrichtung eines kirchlichen Hospizes.72 Die Gedächtnisfeier am Todestag Luthers 1930 fand in Kooperation zwischen dem Bund und der Stadtkirchengemeinde statt.73 Aber nicht nur die evangelische Stadtkirchengemeinde, sondern auch die Stadtverwaltung begegnete ihm stets entgegenkommend und unterstützte dessen Vorhaben, aus Wittenberg eine ,Aufmarschstadt‘ zu machen. Im Mai 1926 begrüßte der Oberbürgermeister beispielsweise die Teilnehmer der Bundesfahrt an der Luthereiche,74 zwei Jahre später konnte er an der gleichen Stelle 1700 Bundesaktivisten, im Jahr darauf 800 Teilnehmer einer organisierten Fahrt des Bundes in der Lutherstadt willkommen heißen.75 Das Bild bürgerlich-protestantischer Weltanschauung vom deutschen Nationalhelden Martin Luther wies eine speziell antifranzösische Komponente auf,76 weshalb „die deutsche Geschichte der Gedenktage oft auch eine Geschichte antifranzösischer Gedenktage“77 ist. Bereits die Corpsstudenten des Wartburgfestes 1821 hatten, in Anlehnung an Luthers Verbrennung der päpstlichen Bannandrohungsbulle, den napoleonischen Code civil als Symbol der Fremdherrschaft ins Feuer geworfen.78 Vom Joche befreit nannte diesbezüglich der Wittenberger Lokalhistoriker Richard Erfurth sein vaterländisches Festspiel, das anlässlich des einhundertsten Jahrestages der preußischen Erstürmung Wittenbergs und der Vertreibung der Franzosen aus der Stadt

70 Kremers, 40 Jahre Evangelischer Bund, 13. 71 1927 nahm der Wittenberger Bürgermeister Wurm an der Generalversammlung des Evangelischen Bundes in Eisenach teil und zeichnete in seiner Rede einen Zusammenhang zwischen der gefühlten „Gefährdung der Wiege der Reformation“ und der Weigerung der preußischen Staatsregierung, der Stadt den Namenszusatz „Lutherstadt“ offiziell zu gestatten. Vgl. Berichterstattung in: Eisenacher Zeitung, 8. Oktober 1927. 72 Vgl. Erfurth, Die Lutherstadt Wittenberg 1927, 8. 73 Vgl. Gedrucktes Programm, in: Akte A II 411, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 74 Vgl. Programm Bundesfahrt des Evangelischen Bundes am 13. Mai 1926, Akte 1366, Stadtarchiv Wittenberg. 75 Vgl. Sammlung Presseausschnitte [ohne genaue Quellenangabe] in: Akte 194, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 76 Vgl. Lehmann, Martin Luther als deutscher Nationalheld, 59. 77 Bergmann, Gedenktage, Gedenkjahre und historische Vernunft, 29. 78 Das deutsche Nationalbewusstsein hatte sich in der Gegnerschaft zur französischen Fremdherrschaft erst 20 Jahre nach der Französischen Revolution als politische Kraft entwickelt. Es musste sich nicht gegen die Kirche als zentrale Macht des Ancien Regime behaupten, sondern stand vielmehr gegen die anti- oder a-christlichen Strömungen der Revolution. Dies ist eine der Hauptgründe für den engen Konnex von christlichem Traditionsbestand und deutscher Nationalbewegung. Vgl. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, 319; Nipperdey, Der Kölner Dom als Nationaldenkmal, 165.

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entstanden war.79 1895 war in der Stadt neben der Luthereiche eine Sedanseiche gepflanzt worden, „zur Erinnerung an den ruhmreichen Krieg, der die Hoffnung Luthers auf ein einiges Deutschland unter einem deutsch-protestantischen Kaiser herbeigeführt hat.“80 Der Sieg über die Franzosen und die Einheit des Reiches unter protestantischer Führung waren hier mittels pflanzlicher Erinnerungszeichen beschworen worden. Der Ausgang des Ersten Weltkriegs verstärkte diese ,anti-welsche‘ Tendenz. Anlässlich des 400. Jubiläums des Wormser Reichstags führte der Wittenberger Superintendent in seiner Festpredigt aus, dass eine zweifache Not zur Feier in Wittenberg veranlasse. Mit der inneren Not waren die Mitteldeutschen Arbeiteraufständen 1921, mit der äußeren Not die französischen Truppen im Westen des Reiches gemeint.81 Die innerhalb der Wittenberger Bürgerschaft herrschenden Ressentiments gegenüber dem westlichen Nachbar Deutschlands, die sich vor allem aus der Erfahrung der Befreiungskriege speisten, bildeten für die Vorstellungen des Evangelischen Bundes einen wirkungsvollen Resonanzboden. So erinnerte das Wittenberger Tageblatt seine Leser im Vorfeld der Feier des Jubiläums der Verbrennung der Bannandrohungsbulle an der Luthereiche im Jahr 1920 daran, dass französische Soldaten während der Napoleonischen Kriege die erste Luthereiche gefällt hatten und zog eine Verbindungslinie zur Besetzung des Rheinlandes: „Nach den Kulturleistungen, welche die Franzosen heute im besetzten Gebiete vollbringen, kann man sich über diese Heldentat ihrer Vorfahren nicht wundern.“82 Katholiken, denen die versuchte Fällung der Luthereiche im Jahr 1904 angelastet wurde, und Franzosen wurden, ganz im Sinne der durch den Evangelischen Bund zum Ausdruck gebrachten Überzeugungen, gleichsam als Feinde eines evangelischen Reiches identifiziert: „Die Spuren der Denkmalsschändung, die sich jener der Franzosen würdig zur Seite stellt, sind heute noch zu sehen“,83 schrieb das Blatt. Der Verweis auf die Reformationshistorie diente auch an anderer Stelle der Ausdeutung des zeitgenössischen Geschehens: Im Festgottesdienst der Augustana-Feier 1930 zog der Superintendent Meichßner in seiner Predigt eine Parallele zwischen der ,Befreiung der Evangelischen‘ in Augsburg 1530 und der Befreiung des Rheinlandes von der französischen Besetzung 1930.84 Nicht nur die antifranzösische Rhetorik, sondern auch die Ablehnung der ,Weimarer Verhältnisse‘ einte die Akteure des politischen Protestantismus im Reich, die Wittenberg als Bühne und Aktionsfeld nutzten. Wittenberg wurde 79 Vgl. Erfurth, Vom Joche befreit. 80 Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 60. 81 Vgl. Berichterstattung Gedächtnisfeier „Luther in Worms“, Wittenberger Allgemeine Zeitung, 20. April 1921. 82 Wittenberger Tageblatt vom 18. Dezember 1920. 83 Ebd. 84 Vgl. Presseausschnitt zur Augustana-Feier 1930 [ohne genaue Quellenangabe] archiviert in: Akte 194a, Archiv Stadtkirche Wittenberg.

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zu einem politischen Mythos, der seinen Anhängern suggerierte, mit dem Zurück zu alten Werthaltungen und Zuständen sei ein Ausweg aus der Krise möglich. „In der Zusammenarbeit der Vereinigungen, die doch am gleichen Strang ziehen und nur verschiedene Wege nach dem gleichen Ziel wandern“,85 trafen sich in der Stadt Gleichgesinnte. Die Auseinandersetzung um die offizielle Verwendung des Doppelnamens Lutherstadt Wittenberg zeigt exemplarisch, wie der Kampf des Alten gegen das Neue in erster Linie zu einem Kampf um Worte, um die semantische Besetzung von Schlüsselbegriffen wurde.86 Seit einem Stadtratsbeschluss des Jahres 1922 bezeichnete Wittenberg sich offiziell als Lutherstadt, die Ortsbezeichnung ist aber auch schon in älteren Publikationen zu finden. Hilfestellung bei der Durchsetzung kam von offizieller kirchlicher Stelle: Ohne die Genehmigung des preußischen Innenministeriums abzuwarten, wies der Evangelische Oberkirchenrat in Berlin seine Dienststellen an, die Benennung zu verwenden, wodurch sie sich rasch verbreitete.87 Die Landesregierung Preußens stand dem neuen Stadtnamen ablehnend gegenüber und der Kampf um den Namenszusatz führte zu einer Auseinandersetzung zwischen der sozialdemokratischen preußischen Staatsführung und dem konservativen, in großen Teilen dem politischen Protestantismus des Evangelischen Bundes zugetanen Wittenberger Bürgertum. Wie eng diese Namensgebung mit politischen Auseinandersetzungen verbunden war, verdeutlicht ein Zeitungsbericht über eine 1927 auf einer Tagung des Bundes gehaltene Rede des Wittenberger Bürgermeisters: Über die bolschewistischen und ultramontanen Gefährdungen der Heimatstadt Luthers sprach der Oberbürgermeister von Wittenberg. Wie gefährdet die Wiege der deutschen Reformation in der Gegenwart tatsächlich ist, beleuchtet schlagend die Tatsache, dass es der Stadt […] verboten ist, den Namen ,Lutherstadt Wittenberg‘ zu führen.88

Auf der Generalversammlung des Bundes in Eisenach stellten die Delegierten sich mit einer Entschließung hinter die Forderung Wittenbergs, den neuen Namen offiziell anerkennen zu lassen.89 85 Beitrag „Luthererinnerungsfeiern“, in: Luther. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft, 1921, 36 – 55, hier 53. 86 Dies zeigt sich beispielsweise auch anhand der Namensgeschichte der Universität Halle-Wittenberg, der die sozialdemokratische preußische Staatsführung ihren ursprünglichen Namenspatron ,Friedrich‘ nahm. Die Universität entdeckte parallel hierzu ihren ,Schutzheiligen‘ Luther, was 1933 zu einer Neubenennung nach dem Reformator führte. Vgl. Reichelt, Martin Luther als evangelischer Schutzheiliger, 150ff; Vgl. auch Schlosser, Das Deutsche Reich ist eine Republik. 87 Vgl. Junghans, Martin Luther und Wittenberg, 157. 88 Berichterstattung über eine Tagung des Evangelischen Bundes, in: Eisenacher Zeitung, 8. Oktober 1927. 89 Vgl. Schreiben des Evangelischen Bundes an Oberbürgermeister Wurm vom 28. 09. 1927, in: Akte 3566, Stadtarchiv Wittenberg.

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Die preußische Staatsregierung und die Vertreter Wittenbergs führten über Jahre hinweg einen Kleinkrieg um den Namenszusatz, wie das amtliche Schreiben des preußischen Vizeregierungspräsidenten Freygang an den Oberbürgermeister vom 20. 12. 1928 beispielhaft belegt. Darin forderte der Oberregierungspräsident der Provinz Sachsen, das an einer Einfahrtsstraße installierte Hinweisschild Lutherstadt Wittenberg abnehmen zu lassen.90 Der Oberbürgermeister fügte sich schließlich der amtlichen Anweisung und ließ es dann im Januar 1929 durch das Schild „Besucht unsere Lutherstätten“ ersetzen.91 Erst unter veränderten politischen Vorzeichen erteilte die preußische Staatsführung der Stadt schließlich 1938 die amtliche Genehmigung, den Namenszusatz Lutherstadt offiziell verwenden zu dürfen.92 Noch fünf Jahre nach dem Ende der Weimarer Republik klingt die lokalpatriotische Verbitterung über die preußische Sozialdemokratie mit: Die Wittenberger hatten sich lange genug darum bemüht. In der Systemzeit waren jedoch alle Anträge vergeblich gewesen. Jetzt empfindet man nun mit Recht tiefe Befriedigung über die in dem Namen ausgesprochene Anerkennung. Damit verbindet sich der entschlossene Wille, Versäumnisse der Vergangenheit wieder gut zu machen.93

1.6 Die internationale Ausstrahlung der Lutherstadt Die wechselseitigen Aufladungen Wittenbergs mit verschiedenen Modellen imaginierter Gemeinschaft machten nicht an nationalen Grenzen halt, sodass dem politischen Protestantismus im Reich nicht die alleinige Deutungshoheit überlassen blieb. Die Bedeutung Wittenbergs für Protestanten in aller Welt hatte die Stadt davor bewahrt, allein als nationaler Symbolort zu gelten, denn die Lutherstadt wurde im 20. Jahrhundert auch zu einem evangelischen Schaufenster zur Welt. Für die Lutheraner Nordamerikas und Skandinaviens kamen ganz andere Sinnzuschreibungen in Betracht. Für sie stand Wittenberg für eine konfessionelle, aber nicht zwingend nationalprotestantische Gemeinschaft. In einer Zeit der außenpolitischen Isolation Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg bildeten die konfessionellen Gemeinsamkeiten insbesondere mit den neutralen skandinavischen Staaten sowie die Anknüpfungspunkte an das nordamerikanische Luthertum wichtige Mittel zu deren Überwindung. Die ,Luther-Memoria‘ ist im 20. Jahrhundert mehrfach mobilisiert worden, um zeitgenössische politische Interessen des eigenen Landes durchzusetzen. Ein Beispiel hierfür sind die zahlreichen Vortragsreisen des Lutherhallen-Direktors Oskar Thulin nach Skandinavien und Ungarn in den 90 Schreiben des Vizeregierungspräsidenten des Regierungsbezirks Merseburg vom 20. 12. 1928, in: Akte 1655, Stadtarchiv Wittenberg. 91 Aktenvermerk, in: Akte 1655, Stadtarchiv Wittenberg. 92 Erlass des Reichsinnenministeriums vom 18. 3. 1938. 93 Es geht vorwärts in Wittenberg, Wittenberger Tageblatt, 6. Mai 1938.

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1930er und frühen 1940er Jahren, um die Verbundenheit mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu stärken.94 In den 1920er Jahren war es Ausdruck des kommunalen Selbstbewusstseins, dass aus den Reihen städtischer Repräsentanten selbst die nationale Funktion der Stadt herausgehoben wurde.95 Die Stadt Wittenberg hat in den 1920er Jahren gewiss keine ,Reichsaußenpolitik‘ betrieben, war sich aber ihrer besonderen Bedeutung für die Beziehungen zum protestantischen Ausland durchaus bewusst. Vor allem die zwischen 1920 und 1932 zahlreich begangenen Reformationsjubiläen hatten eine Brückenschlagfunktion. Die Anregung für eine internationale Feier des Invocavit-Jubiläums im März 1922 war vom schwedischen Erzbischof Nathan Soederblom gekommen.96 Der Wittenberger Pfarrer Theodor Knolle lobte im Nachgang „die Berührung der deutschen Kirche mit dem Luthertum des Auslands“97, die durch das aktive Bemühen Wittenbergs um internationale Beteiligung und Ausstrahlung zustande gekommen sei und einen „Merkstein auf dem Wege der übernationalen Beziehungen des Protestantismus“98 bedeute. „Die Anwesenheit von zahlreichen Vertretern der evangelischen Kirchen im In- und Ausland gab der Feier eine über die Grenzen Deutschlands hinausreichende Bedeutung“,99 resümierte der Stadtchronist Richard Erfurth. Die internationalen Besucher sowie das übernationale Interesse werteten die Wittenberger Feierlichkeiten auf. So waren beispielsweise der Erzbischof von Uppsala Soederblom sowie der Bischof von Wisby bei der ersten Reformationsfeier in Deutschland nach Kriegsende im Dezember 1920 anwesend.100 Soederblom wurde zwei Jahre vor der Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn zum Ehrenbürger Wittenbergs ernannt, denn er hatte bei einem seiner Besuche erklärt, die Lutherstadt gehöre „zu den wahrhaftigen Pilgerstätten der Menschheit“101 und der „Meridian der Christenheit“ ginge „nicht nur durch Rom und Jerusalem, sondern auch durch Wittenberg“.102 Die dänische Kirche sowie der Evangelische Oberkirchenrat in Wien hatten 1920 ebenfalls Einla94 Vor allem die 1941 von Oskar Thulin anlässlich der Reformationsfeier der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg gehaltene Rede, in der er rhetorisch eine ,Tour d’Europe‘ des europäischen Luthertums unternahm, zeigt dessen zeitgenössische Instrumentalisierung. Thulin stellte den Reformator als Initiator einer neuen europäischen Geschichtsepoche vor, der zur nationalen Persönlichkeit für die Völker Skandinaviens und Finnlands, des Baltikum, der Slowakei, Ungarns und bei einzelnen Völkern des Balkans geworden sei. Vgl. Thulin, Volkstum und Völker in Luthers Reformation. 95 Vgl. Schott, Zukunft und Geschichte der Stadt, 322. 96 Knolle, Lübeck-Stuttgart-Wittenberg, 37. 97 Knolle, Die Invocavit-Feier in Wittenberg, 65. 98 Knolle (Hg.), Die Invocavitfeier 1922, 22. 99 Erfurth, Geschichte der Lutherstadt Wittenberg, Teil 2, 121. 100 Schmale, Die Feier der Verbrennung der Bannandrohungsbulle, 41. 101 Beitrag Soederblom auf der Invocavit-Feier in Wittenberg 1922 abgedruckt in: Knolle (Hg.), Die Invocavitfeier 1922, 2. 102 Zitiert in: Walbe, Lutherstadt Wittenberg, Vorwort.

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dungen erhalten, blieben den Feierlichkeiten jedoch fern.103 Zwei Jahre später nahmen sie bei den Invocavit-Feiern neben zahlreichen weiteren internationalen Gästen aus Norwegen, Finnland, dem Baltikum, Ungarn und den Vereinigten Staaten jedoch teil.104 Das lutherische St. Olaf College in Minnesota ersuchte um Übersendung von Informationsmaterialien zu der Feier 1920, um ein eigenes Fest nach Wittenberger Vorbild zu veranstalten und gleichzeitig die Verbundenheit mit der Wiege der Reformation zum Ausdruck zu bringen.105 Zehn Jahre später nahm der Chor von St. Olaf an den hiesigen Augustana-Feiern teil und gab ein Konzert in Wittenberg.106 Aus den Kontakten erwuchs aber nicht nur ideelle Aufwertung, sondern mitunter auch materielle Unterstützung. So ist für das Jahr 1922 der Versuch dokumentiert, einen amerikanischen Freundeskreis der Lutherhalle aufzubauen, um den Ausbau des Museums zu finanzieren.107 Auch für den Fremdenverkehr war das ausländische Luthertum von Bedeutung. Neben Amerikanern kamen vor allem Schweden nach Wittenberg, wovon zahlreiche in deutscher, englischer und schwedischer Sprache erschienenen Publikationen zeugen. Für die Skandinavier war in der Stadtkirche 1931 mit der Gedenkplatte für Gustav Adolf ein besonderer Erinnerungsort geschaffen worden,108 um die konfessionellen Gemeinsamkeiten zu unterstreichen.109 Außerdem sollte mittels einer Sonderausstellung in der Lutherhalle „Wittenberg zum gewissen Mittelpunkt und Ausgangspunkt der Feiern“110 des Gustav-AdolfJahres 1932 gemacht werden, wie es in einem Protokoll der Vorstandssitzung des Lutherhallenbeirats heißt. Für den 5. November 1932 war eine Vorfeier mit zahlreichen Ehrengästen aus Schweden mit Versammlung in der Lutherstube vorgesehen.111 Vor allem der Direktor des Museums, Oskar Thulin, engagierte sich für den Ausbau von Kontakten nach Skandinavien, ins Baltikum und nach Ungarn.112 Zahlreiche Delegationen, Schüleraustauschgruppen und offizielle Besuchstermine zeugen vom regen Besuchsverkehr, der auch außenpolitisch gewünscht war. Die Wittenberger Festaktivitäten wurden jedoch nicht überall positiv auf103 Vgl. Wittenbergs Feier der Tat, 10 f. 104 Vgl. Knolle (Hg.), Die Invocavitfeier 1922, 23. 105 Brief St. Olaf College an Magistrat Wittenberg, 18. August 1920, in: Akte 151, Stadtarchiv Wittenberg. 106 Planungen Augustana-Feier, in: Akte A II 206, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 107 Vgl. Schreiben T.H. Lamprecht an Julius Jordan vom 17. November 1922, in: Akte 40, Lutherhalle 1921 – 24, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 108 Vgl. Akte 1669, Stadtarchiv Lutherstadt Wittenberg. 109 Vgl. Artikel „Die schwedischen Gäste in der Lutherhalle“, in: Der Rundfunkhörer, Nr. 46, 11. November 1932. 110 Abschrift Protokoll Vorstandssitzung des Lutherhallenbeirats vom 18. Juni 1931, in: Akte 2, Archiv StLu. 111 Vgl. Berichterstattung Wittenberger Tageblatt, 23. 03. 1932. 112 Thulin, Volkstum und Völker in Luthers Reformation; ders., Lutherstadt Wittenberg – für uns und für die anderen Völker.

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genommen. So musste der Kurator der Lutherhalle in einem an ihn gerichteten Brief aus der Tschechoslowakei folgende Zeilen lesen: „Feiert man rasch die kurze Zeit Euren Luther, der von Euch ganz treffend ausrief: ,Wir Deutschen sind Deutsche und bleiben Deutsche, dass heißt Säue und unvernünftige Wesen. ‘“113

2. Um- und Ausbau der Denkmallandschaft 2.1 Ein authentischer Erinnerungsort? Vorstellungen über die Nutzung und Deutung des Raumes sind für die Analyse affektiver Haltungen und symbolischer Formen von hoher Bedeutung, um Erkenntnisse über die typischen Phänomene einer Epoche zu gewinnen. Diese Phänomene sind stets politisch, da in ihnen auch immer wieder dominierende Ordnungsvorstellungen repräsentiert sind. In den jeweils vorherrschenden Varianten solcher Ordnungsvorstellungen spiegeln sich gesellschaftliche Machtverhältnisse wieder, zugleich werden ihre soziale Konstruktion und ihre Konflikthaftigkeit fassbar. In den dementsprechenden wissenschaftlichen Diskursen haben Stadt- und Bauplanungen bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt, sodass die „Geschichte der Steine und Mauern“114 meist unverbunden neben der Mentalitätsgeschichte steht. Aus architektur- und städtebaulicher Perspektive können soziale Distinktionsmodi jedoch auch hinsichtlich ihrer Prägekraft auf die formale physische Gestalt von Räumen untersucht werden, denn Architektur- und Städteplanungen drücken ganz offen die Interessen ihrer Urheber aus und sind wichtige Informationsquellen über die Akteure selbst sowie ihre Adressaten, über ihre Selbstbilder und Werthaltungen.115 Mit dem Ausbau Wittenbergs zur reformationshistorischen Denkmallandschaft im 19. Jahrhundert war eine „immer mehr um sich greifende Erinnerungssucht an die reformatorische Epoche“116 verbunden gewesen. Im zeitgenössischen Vergleich hierzu steht die Besinnung Weimars auf das klassische Erbe, Dresdens auf das Zeitalter Augusts des Starken oder Heidelbergs, wo vieles an die romantische Vergangenheit erinnert. Weimar sei die Wirkungsstätte Goethes und Nürnberg die Heimat Dürers, aber keine deutsche Stadt könne sich rühmen, so eng mit einer großen Persönlichkeit verbunden zu sein wie Wittenberg mit Martin Luther, verkündete der Wittenberger Bürgermeister Friedrich Schirmer 1918 in seiner Rede anlässlich der 113 114 115 116

Pressebericht, in: Wittenberger Allgemeine Zeitung, 21. 12. 1920. Stambolis, Städtebaulicher Umbruch und lokale Identität, 383. Vgl. Guckes, Ordnungsvorstellungen im Raum, 661 f. Laube, Lutherhaus Wittenberg, 46.

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Gründung der Luthergesellschaft.117 Diese Analogie aufgreifend, formulierte der Pfarrer der Wittenberger Stadtkirche: Wie das Weimar Schillers und Goethes, wie das Sanssouci Friedrichs des Großen, so wird das Wittenberg Luthers einem Geschlecht nach dem anderen die Wahrheit des Wortes einprägen: ,Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht für alle Zeiten‘.118

Der Ausbau der reformationsgeschichtlichen Denkmallandschaft war im 19. Jahrhundert auf der Grundlage eines von bürgerlichen und monarchischen Kräften gemeinsam getragenen Geschichtsdiskurses erfolgt, der in Wittenberg mit der Grundsteinlegung für das Lutherdenkmal 1817 begonnen hatte und in der ab 1922 seitens der Kommunalpolitik erfolgten Benennung als Lutherstadt Wittenberg seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Ab den 1920er Jahren wurden dann zunehmend ökonomisch-touristische Beweggründe ausschlaggebend für die Reformationsmusealisierung Wittenbergs. Der amerikanische Kulturgeograph Joshua Hagen beschreibt diese aktiv-partizipierende Rolle des Fremdenverkehrs als einen „interactive process between locals and tourists where meanings, symbolic representations, and even the built environment are negotiated“119. Für den gebauten Raum heißt das, dass er zielgerichtet um eine Ebene erweitert wird, die der Konstituierung kommunikativer Prozesse dient und ihn im gewünschten Sinn lesbar macht. Die Mehrzahl der Wittenberg-Besucher in den 1920er Jahren kam aus einem dezidiert protestantischen Milieu und erwartete, an der Elbe eine ,feste Burg lutherischen Glaubens‘, ein Freilichtmuseum der Reformationsgeschichte, präsentiert zu bekommen. Es suchte die Aura der Authentizität. Dies galt insbesondere für den Bautenkanon, denn mit der Architektur einer Stadt verknüpfen sich schließlich Herkunftsgeschichten. Wer eine Stätte sucht, lässt sich nicht mit einer Stelle abspeisen, denn Gedächtnisorte sind nicht nur Überreste von Vergangenheit.120 Erst der Bautenkanon eines Erfahrungsraumes schafft die historische Aura, die das Erlebnis der Vergangenheit anzuregen vermag. Er produziert Vertrautheit und ein breites Identifikationsangebot, das weit über die Bedeutung des spiritus loci hinausgeht. Eine Stadt besteht aber nicht nur aus Bauten und architektonischen Strukturen, sondern auch aus ihren Geschichten. Bilder und Narrative sind Bestandteile des figuralen Raumes. Nichtmaterielles bestimmt deshalb die Wirklichkeitsdeutung an einem Ort entscheidend mit. Das, was als Wittenberg vor den Besuchern stand, war ein Bild, eine Imagination, denn „Städte sind nicht nur real erfahrbare Orte gegenwärtigen Geschehens, sondern stets auch 117 Vgl. Rede Dr. Schirmer, gehalten bei Gründungsfeier der Luthergesellschaft am 26. 09. 1918, abgedruckt in: Wittenberger Tageblatt, 28. September 1918. 118 Orthmann, Luther und Wittenberg, 58. 119 Hagen, Preservation, Tourism, and Nationalism, 292. 120 Vgl. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, 17.

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imaginierte und konstruierte Orte, die recht verschiedene Raumdimensionen und Zeithorizonte umfassen.“121 Die touristische Reise in eine Stadt zielt meist in die Vergangenheit. Auch für die konfessionellen Erbauungsbesucher war der Besuch Wittenbergs eine Reise in eine andere Zeitdimension. Maurice Halbwachs hat darauf hingewiesen, dass der Gläubige sich seiner Zeit nur dann entziehen kann, wenn er seinen Blick auf die Entstehungsepoche der Religion richtet, der er angehört.122 Wittenberg trug diesem Gedanken zunächst durch die Applikation des semantischen Narrativ ,Lutherstadt‘ Rechnung, denn die ,Verortung‘ historischer Epochen findet auch durch Semantisierung statt.123 Die erlebnisorientierte Erwartungshaltung der Besucher bestimmte die Erfahrung von Raum. Auf der Suche nach einer idealisierten Welt des 16. Jahrhunderts verlangten die Wittenberg-Besucher deshalb nach einem Ort, der ihren Vorstellungen von der Reformationszeit entsprach. Dieser Erwartungshaltung stand zu Beginn der 1920er Jahre die vielfach geäußerte Klage über mangelnde historische Authentizität entgegen. Die Vossische Zeitung schrieb in ihrer Reisebeilage:124 „Wittenberg ist nicht mehr das, was man eine historische Stadt nennt.“ Die Besucher würden an „langweiligen Zäunen und geschmacklosen Häusern“125 entlang schreiten. Die Kritik bezog sich meist auf die in der synkretistischen Stilart des Historismus dekorierten Denkmalprojekte des 19. Jahrhunderts, denen der Dresdner Architekt und Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt in seinem Wittenberg-Büchlein bereits 1902 mit dem Vorwurf der „üppigen, aufdringlichen Stimmungsmacherei“ sowie einer „falschen Stilechtheit“ begegnet war.126 Unmut erregten aber auch verschiedene Modernisierungsprojekte, vor allem der Einbau von Ladengeschäften in den Erdgeschossen der alten Bürgerhäuser, „der den Anschein erweckte, als ob man es mit modernen Bauten zu tun hätte“,127 wie es in einem zeitgenössischen Aufsatz heißt. Zu diesem Eindruck trug auch der „moderne Aufputz“ vieler alter Häuser bei, der „nur sehr äußerlich angeklebt ist“ und von dem Gurlitt bereits 1902 hoffte, „dass man ihn wohl einmal wieder abnehmen wird, wenn die Tage besseren Geschmacks auch für Wittenberg anheben.“128 Der Kunsthistoriker schlussfolgerte: „Die echte Lutherzeit zu erkennen, das ist der 121 Saldern, Symbolische Stadtpolitik, 29. 122 Vgl. Halbwachs, Gedächtnis und soziale Bedingungen; Jan Assmann schreibt diesbezüglich, Kollektive schaffen und sichern zum Zweck einer Identitätsstabilisierung Orte, die Schauplätze ihrer Interaktionsformen abgeben, aber auch Symbole ihrer Identität und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung sind. Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 39. 123 Vgl. Pott, Orte des Tourismus, 118. 124 Als erste deutsche Zeitung bot die Vossische Zeitung ihren Lesern ab 1904 eine Reisebeilage an. Vgl. Endlich Urlaub! Die Deutschen reisen, 10. 125 Berichterstattung über Jubiläumsfeier anlässlich Verbrennung der Bannandrohungsbulle in Vossische Zeitung vom 11. Dezember 1920. 126 Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 59. 127 Gottfried Krüger, Das Stadtbild Wittenbergs zu Luthers Zeit. 128 Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 14 f.

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Hauptwunsch der Wittenberg Besuchenden“129 und er erhoffte beispielsweise den Rückbau der „kunstmörderischen Verschönerung“130 des frühen 19. Jahrhunderts in der Stadtkirche. Er beurteilte auch die Umbauten des Lutherhauses kritisch und klagte, die preußische Bauverwaltung habe aus dem Gebäude ein „Schlösschen mit allerhand romantischem Firlefanz“ gemacht, in dem „nicht mehr Luther und seine Zeit, sondern die Friedrich Wilhelms IV. und Stülers“131 zu den Besuchern sprächen. In Übereinstimmung mit zahlreichen Zeitgenossen und als Ergebnis seiner Beschäftigung mit Stadtbildqualitäten verschiedener historischer Orte in Europa schloss Gurlitt, dass der gewünschte Charakter sowie die Suggestivkraft der historischen Stadt höher anzusetzen seien als die städtebaulichen Surrogate des 19. Jahrhunderts.132 Gurlitts Aussagen hatten Gewicht, denn er hatte sich intensiv mit Wittenberg beschäftigt und 1902 einen der ersten Stadtführer verfasst.133 Noch 1930 wurde er von der Kommunalverwaltung um einen touristisch intendierten Wittenberg-Aufsatz für Westermanns Monatshefte gebeten.134 Während Detlef Ipsen in seinen „Raumbildern“ behauptet, dass weitgehend unerforscht sei, wie städtische Identität zu baulichen Eingriffen in den Stadtraum führt,135 zeigen andere Studien, dass „jede Form der Stadt- und Raumgestaltung – auch die real existierende – auf fiktive Momente“ reagiert.136 Die gewünschte Rezeption eines historischen Stadtraums, deren pointierte Zuspitzung in Wittenberg zunächst durch die Applikation des semantischen Narrativs Lutherstadt erfolgt war, setzte ein ikonologisches Verständnis von Raum voraus. Die Wittenberger Deutungseliten begaben sich auf die Suche nach dem „Stadtbild Wittenbergs zu Luthers Zeit“,137 das der langjährige Vorsitzende des Heimatvereins in einem Zeitungsbeitrag beschrieb. Sie beantworteten die Kritik der mangelnden Authentizität mit dem Versuch, den vermeintlich ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Die Besucher sollten einen authentischen Eindruck des 16. Jahrhunderts vermittelt bekommen. Zahlreiche bauliche Maßnahmen wurden ergriffen, um den Erwartungen der Touristen zu entsprechen. Die Stadtbildpflege erhielt hierbei den Vorrang vor der Substanzerhaltung, denn letzten Endes kam es vor allem auf das Bild der 129 130 131 132

133 134 135 136 137

Gurlitt, Die Lutherstadt Wittenberg, Westermanns Monatshefte, 258. Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 11. Ebd., 59. Gurlitt hat sich in einer zwischen 1901 und 1912 herausgegebenen Reihe Historische Städtebilder mit den Raumqualitäten zahlreicher europäischer Städte von historischer Bedeutung beschäftigt und 1920 ein viel gelesenes Handbuch des Städtebaus herausgeben, das als Kompendium der bis dahin gefassten und konkretisierten Idealvorstellungen bezeichnet werden kann. Zum historisch-denkmalpflegerischen Städtebau, insbesondere zur Rolle Gurlitts, vgl. Kristiana Hartmann, Städtebau um 1900; Speitkamp, Die Verwaltung der Geschichte, 76 – 82. Vgl. Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902. Vgl, Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1931. Ipsen, Raumbilder, 107. Geiger, Imaginäre Architekturen, 9. Gottfried Krüger, Das Stadtbild Wittenbergs zu Luthers Zeit.

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Stabilität, Dauerhaftigkeit und Materialität des Ortes, weniger auf die historische Genauigkeit an. Symbolische Orte einer Gruppe dienen schließlich nicht dazu, Fakten zu vermitteln, sondern sie sollen gesellschaftliche Anschauungen über die Vergangenheit aus der Sicht der Gegenwart festhalten. Erste Schritte in diese Richtung waren bereits mit der Ende des 19. Jahrhunderts ,wiederhergestellten‘ Melanchthonstube und der wenige Jahre später erfolgten Balkenbeschriftung im Durchgang zum Lutherhaus getan worden, deren altertümlichem Schein Karl Dunkmann bereits 1911 erlag: „Gleich beim Eintritt in das hohe altertümliche Portal des Augusteums werden wir zurückversetzt in alte Zeiten.“138 Aus kommunaler Sicht bildete die Mitte der 1920er Jahre erfolgte Sanierung des Rathauses die wichtigste städtebauliche Maßnahme. Der beeindruckende Renaissancebau sollte unter Bewahrung der äußeren Hülle zu einem modernen Verwaltungsgebäude umfunktioniert werden. Großer Wert wurde auf die Gestaltung des Äußeren gelegt und die Veränderungen der vorangegangenen Jahrhunderte beseitigt, um den Bau des 16. Jahrhunderts wiederzugewinnen und auf diesem Weg das Gebäude fest in die reformatorische Denkmallandschaft der Stadt zu integrieren.139 Der Symbolwert eines Denkmals gewann hier Vorrang vor dem Geschichtswert seiner Originalsubstanz. Die Reise in eine andere Zeitdimension sollte der Besucher aber nicht nur visuell antreten, sondern mit allen Sinnen erfahren. Zu diesem Zweck war der Einbau eines Glockenspiels geplant, welches Luthers Choral Ein feste Burg und Paul Gerhards Kirchenlied Befiehl Du Deine Wege Einheimischen und Besuchern zu Gehör bringen sollte.140 Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an den Kosten. Zahlreiche weitere Beispiele belegen das Bemühen Wittenbergs, zu einer vermeintlichen historischen Authentizität des 16. Jahrhunderts zu gelangen, indem die gebauten Bilder der Vergangenheit in die Architektur der Gegenwart eindrangen.141 Die Stadtväter beschränkten sich allerdings nicht auf die 138 Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 60. – Der Mitbegründer der Luthergesellschaft und spätere Hamburger Bischof Theodor Knolle gibt in einem populärwissenschaftlich verfassten Aufsatz den Hinweis auf diese 1909 in Wittenberg vorgenommene Historisierung des Stadtraums durch das Anbringen von Lutherzitaten im Durchgang zum Lutherhaus. Vgl. Knolle, Legendäre Lutherworte, 114 – 120. 139 Vgl. Walbe, Lutherstadt Wittenberg, 7 f; Das Rathaus der Lutherstadt Wittenberg. Wiederherstellung und Umbau, in: Konstruktion und Ausführung. Deutsche Bauzeitung Nr. 83, 15. 10. 1927. 140 Vgl. Berichterstattung Generalversammlung des Evangelischen Bundes in Eisenach, Wittenberger Tageblatt, 11. 10. 1927. – Vergleichbares hat beispielsweise in Rothenburg ob der Tauber stattgefunden, wo 1910 die Meistertrunkuhr an der Ratstrinkstube am Markt eingeweiht wurde. Vgl. Kamp, Die touristische Entdeckung Rothenburgs, 260. 141 Die Herausforderungen des Stadtumbaus erzeugten um 1900 in vielen geschichtsbewussten Kommunen Gegenmaßnahmen, um das historische Stadtbild zu erhalten. Den Wittenberger Bemühungen nach dem Ersten Weltkrieg gingen vergleichbare Initiativen in Städten wie Lübeck, Bremen, Hildesheim oder Nürnberg weit voraus. Altstadt ist deshalb nicht nur das Überbleibsel eines Modernisierungsprozesses, sondern dessen Produkt. Vgl. Brix, Fassadenwettbewerbe; Vinken, Zone Heimat.

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bloße Wiederherstellung eines baulichen Urzustandes der noch existierenden historischen Gebäude, denn „die Mythisierung hat ihren Feind in der genauen geschichtlichen Rekonstruktion.“142 Stadtbild- und Denkmalpflege der Zeit zeigen, wie weit die tonangebenden Eliten davon entfernt waren, die Altstadt als erhaltenswertes Realbild wahrzunehmen. Die bauliche Überlieferung wurde zu einem interpretierbaren, verwertbaren und inszenierbaren Konstrukt. So weist der in den 1920er Jahren entstandene Neubau der Stadtsparkasse am Markt typische Renaissanceelemente auf, um sich in seiner äußeren Form in den Rahmen des Marktplatzes mit seinen alten Giebeln einzufügen.143

Abb. 19 Der Neubau der Stadtsparkasse

Der kastenartige Dachaufbau der Ratsschenke, ein historisches Gebäude neben dem alten Rathaus, wurde ebenfalls ersetzt durch einen Giebel, der mit den Zwerchhäusern des Rathauses korrespondiert.144 Auf diese Weise entstand eine pittoreske Fassadenwelt am Wittenberger Markplatz, die frei gestaltet wurde und nicht auf direkte historische Vorbilder zurückgreifen konnte. Ähnliches gelang auf dem benachbarten Arsenalplatz, an dessen Rand sich 142 Rehberg, Dresden als Raum des Imaginären, 92 143 Vgl. Walbe, Lutherstadt Wittenberg, 9. 144 Im Dachgeschoss des Hauses befand sich der Betraum der jüdischen Gemeinde Wittenbergs. Die architektonische Veränderung zugunsten eines Renaissance-Ziergiebels ist vor 1928 erfolgt, wie eine anlässlich des in diesem Jahr stattfindenden Wittenberger Lichtfestes angefertigte Postkarte zeigt.

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Abb. 20 Nordwestecke Marktplatz vor dem Neubau der Stadtsparkasse

Abb. 21 Nordwestecke Marktplatz mit Neubau der Stadtsparkasse

Einrichtungen der städtischen Feuerwehr befanden. Der hinter der neu erbauten Desinfektionsanstalt errichtete Feuerwehrübungsturm erhielt auf der stadtzugewandten Seite das Aussehen eines Kirchturms. Er markierte den Standort des in der Reformationszeit aufgelösten Franziskanerklosters und fügte sich perfekt in die historische Kulisse der Altstadt ein. Die Gestaltung nahm außerdem Bezug auf die Turmhauben der Stadtkirche.145 Für den Schlosskomplex gab es ebenfalls entsprechende Pläne. Der brandenburgische Landeskonservator Erich Blunck kritisierte in einem 1929 in Wittenberg gehaltenen Vortrag über Denkmalpflege und religiöse Kunst das „abstrakt wissenschaftlich formale Stilechte“ des Historismus, „wofür die 145 Vgl. Dokumentation der baulichen Veränderungen in der Fachpresse, in: Deutsche Bauzeitung 48 (1931), 440 f.

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Abb. 22 Ratsschenke vor dem Umbau (links) Abb. 23 Ratsschenke mit Renaissancegiebel (rechts)

Abb. 24 Nordseite Arsenalplatz mit Schauseite des Feuerwehrübungsturms

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Abb. 25 Rückseite des Feuerwehrübungsturms

Schlosskirche in Wittenberg ein besonders bezeichnendes Beispiel“ sei.146 „Weit mehr würde mir die Wiederherstellung der ursprünglichen Form des Turms gefallen, wie sie uns Lukas Cranach überliefert hat“,147 hatte bereits 146 Blunck, Aufgaben moderner Denkmalpflege, 102. 147 Otto Eduart Schmidt, Kursächsische Streifzüge, 307.

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Schmidt in seinen Kursächsischen Streifzügen geschrieben. Und auch Gurlitt hätte die Sichtbarmachung des Renaissanceschlosses unter „Wahrung des Wenigen, was sich an Formen aus der ersten Bauzeit erhielt“,148 begrüßt. Nach der Auflösung der Garnison hatte die Kommune das ehemalige kurfürstliche Schloss gekauft, um es „würdig auszubauen […] und den geräumigen Bau für evangelisch-kirchliche Zwecke nutzbar zu machen.“149 Über die Gründung eines Kirchlichen Forschungsheimes für Weltanschauungskunde 1927 sowie die Ansiedelung des Evangelischen Pfarrhausarchivs kam man aber nicht hinaus. In der Stadt sollte ein Erlebnisraum großer emotionaler Dichte geschaffen werden, der als dauerpräsente Eigenbildressource der alteingesessenen Wittenberger Bürgerschaft dienen konnte und zugleich den Erwartungshaltungen der Besucher entsprechen sollte. Hierbei ging es nicht nur um die Sehnsucht nach verloren geglaubter Größe und Bedeutung, sondern auch um die materielle Konstruktion kultureller Zuversicht einer gesellschaftlichen Gruppe, die sich auf der Verliererseite wähnte und sich folglich in einer Krisensituation befand. Das überlieferte Wittenberg wurde deshalb in den 1920er Jahren als modellierte Erinnerung in den Dienst der Vorstellungen und Bedürfnisse der Gegenwart gestellt. Nicht nur bauliche Maßnahmen, sondern auch zahlreiche Gedenktafeln an den Hausfassaden dienten diesem Zweck. Bereits im 19. Jahrhundert hatte man am Melanchthon-, Cranach- und Bugenhagenhaus damit begonnen, in den 1920er Jahren wurde die Zahl der Tafeln erhöht.150 Gleichzeitig verzichteten die Stadtväter auf den Bau einer elektrischen Straßenbahn, die vom Hauptbahnhof entlang der historischen Meile zwischen Lutherhaus und Schlosskirche bis zum Industrievorort Piesteritz geführt hätte. Vor allem das Predigerseminar und der Superintendent wandten sich entschieden gegen das Projekt. Sie fürchteten die ästhetische Beeinträchtigung des Stadtbildes und die Störung des Gottesdienstes durch die vorbeifahrende Bahn. Außerdem sahen sie durch die geplante Verlegung der Bahngleise zwischen der Schlosskirche und dem Kaiser-Friedrich-Denkmal auf dem Schlossplatz die „ideelle Einheit zwischen Kirche und Kaiser“ beeinträchtigt.151 Die Bahn mit ihren Gleisanlagen und dem elektrischen Oberbau hätte das Bild des alten Wittenberg empfindlich gestört und außerdem die Arbeiterschaft der Vororte enger an die Stadt gebunden, weshalb die Kommune sich den kirchlichen Bedenken schließlich anschloss. Nicht alle Pläne der Wittenberger zur baulichen Umgestaltung der Lutherstadt konnten in den 1920er Jahren realisiert werden. Der Kommentar eines Radiojournalisten, der die Stadt 1922 mit „griesgrämigem, missfarbi148 149 150 151

Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1931, 264. Vgl. Erfurth, Geschichte der Lutherstadt Wittenberg, Teil 2, 132 f. Vgl. Das Wittenberg von heute, Blätter für die Heimatgeschichte Nr. 13, November 1933. Abschrift Schreiben an Stadtverwaltung aus dem Jahre 1919, in: Akte 76, Archiv Predigerseminar Wittenberg.

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gem, zerfurchten und zerfallenem Bröckelgesicht“ wahrgenommen hatte, bezeugt dennoch den erfolgreichen Versuch der Wittenberger Stadtväter, das Bild der alten Lutherstadt zu bewahren beziehungsweise in die gewünschte Form zu bringen. Acht Jahre nach seinem ersten Besuch lobte der Reporter die erfolgreich betriebene Stadtbild-Kosmetik der Wittenberger Bürger und bereute nicht, „dem lockenden Sirenenruf ,Besucht die Lutherstadt Wittenberg‘ doch noch einmal gefolgt zu sein.“152

2.2 Die Stadtkirche: Von der Gebrauchskirche zum Denkmal Die Wittenberger Stadtkirchengemeinde schloss sich dem Bestreben zur Rückgewinnung der Stadt Luthers an und entschied sich Mitte der 1920er Jahre für eine Umgestaltung des Innenraums ihrer Kirche. Erste Pläne hierfür hatte es schon im Vorfeld des Reformationsjubiläums 1917 gegeben; sie blieben aber aufgrund der Belastungen des Ersten Weltkriegs unausgeführt.153 Im Gegensatz zur Schlosskirche mit Thesentür und Luthergrab hatte die Stadtkirche als Gemeindekirche bis zur Umgestaltung keine ausgeprägte Symbol- und Denkmalfunktion. In einem 1917 erschienenen Buch über sie heißt es, das schlichte Gotteshaus nehme sich gegenüber der stolzen Schlosskirche überaus bescheiden aus.154 Im Kontext der symbolpolitischen Aufwertung zielten die Umbaumaßnahmen deshalb auch darauf ab, der Stadtkirche den Charakter einer reinen ,Gebrauchskirche‘ zu nehmen, sie stärker als bisher als Teil der Wittenberger Denkmallandschaft zu etablieren und damit auch für Touristen zu öffnen. In einem Plakatdruck wurde die Notwendigkeit der Erneuerung ausdrücklich mit dem „neu erstarkten kirchlichen Bewusstsein“ erklärt, „das für Wittenberg in einem bisher ungeahnten Besuch seiner Lutherstätten durch Scharen evangelischer Wittenbergpilger seinen Ausdruck findet.“155 Während die Lutherhalle und die Schlosskirche jedoch zum touristischen Pflichtprogramm gehörten, hatte die Stadtkirche bis dahin abseits des Interesses gestanden.156 Die unterschiedliche Frequentierung der drei genannten Lutherstätten indiziert ein im Umbaujahr 1928 herausgegebener Führer. Während für die Lutherhalle sowie die Schlosskirche feste Öffnungszeiten angegeben sind, heißt es dort bezüglich 152 In: Radiomitschnitt vom 26. 10. 1930, in: Akte 1670, Stadtarchiv Lutherstadt Wittenberg. 153 Vgl. Knolle, Liturgisch-Musikalisches, 27; Schriftverkehr zu geplantem Umbau in Akte A II 201, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 154 Vgl. Schmidt/Winkler, Stadtkirche Wittenberg, 11. 155 Plakatdruck „Die Erneuerung der Stadt- und Pfarrkirche im Jahr 1928“ vom 29. Juni 1928, in: Akte 1039, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 156 „Hier und da steigt ein Fremder aus, besichtigt flüchtig das Lutherhaus, bisweilen auch noch kurz die Schlosskirche, um dann mit dem nächsten Zug weiter zu fahren“, heißt es in einem 1909 erschienenen Aufsatz. Siehe: Pflugk-Harttung, Aus dem Lutherhause, 137.

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der Stadtkirche recht unverbindlich: „Zur Besichtigung der inneren Kirche wende man sich an den Kirchendiener.“157 Im Rahmen der Umgestaltung wurden die unter dem italienisch-preußischen Architekten Carlo Ignazio Pozzi zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die Kirche gelangten Einbauten durch eine schlichte, sich gegenüber dem historischen Bestand sehr zurücknehmende Inneneinrichtung ersetzt. Der gesamte Innenraum erhielt einen monochromen Farbanstrich, der keinerlei historistische Farbigkeit mehr zuließ. Dem beabsichtigten Raumeindruck ordnete man auch das erneuerte Gestühl unter, welches niedrig gehalten und einfarbig-grau gestrichen wurde, um nicht störend in Erscheinung zu treten.158 Im Mittelpunkt sollten fortan die Gestaltungselemente des 16. Jahrhunderts stehen, vor allem der von Cranach gemalte Altar. Durch seine Verschiebung konnte der Besucher die ebenfalls bemalte Rückseite betrachten. Der neue, schlicht gehaltene Rahmen fasste die Bildtafeln ein, fiel aber selbst kaum ins Auge, während die alte Einrahmung, „ein Ungeheuer von architektonischem Aufbau“,159 die Bilder erdrückt hatte. Berücksichtigt wurden bei der Neugestaltung des Innenraums der Kirche Forderungen des zeitgenössischen Denkmalschutzes nach „Einheitlichkeit des Maßstabes“, gleichem „Rhythmus der Formelemente“ und „Zusammenklang der Farbe“, wie der für den Umbau verantwortliche Architekt Erich Blunck schrieb. Blunck schlussfolgerte: „Wo diese Forderungen zur Grundlage des Gestaltens gemacht sind, schließt sich Altes und Neues so stark zusammen, dass sich die neuen Teile nicht auf den ersten Blick, sondern erst bei einhergehender Betrachtung als moderne Zutaten bemerkbar machen.“160 Auf diese Weise wurde ein Raum geschaffen, an dem das Erlebnis der reformatorischen Vergangenheit stattfinden konnte. Der langjährige Direktor der Lutherhalle, der Kunsthistoriker und Theologe Oskar Thulin, lobte einige Jahre später in einem Beitrag die gelungene Wiederherstellung. Die Restaurierung der Kirche in den 1920er Jahren habe „kaum Neues zugefügt, sondern in gelungener Weise den Raum als solchen, möglichst in der reformatorischen Form, zur Geltung gebracht, der seinen schönsten Schmuck in den Denkmälern und Bildwerken der Reformationszeit“ habe, schrieb Thulin.161 Er hob vor allem die zurückgewonnene ,Monumentalität‘ des Innenraums sowie das schlichte Grau-Weiß der Wandtönung hervor, das mit der 1936 – 1938 erfolgten Neugestaltung der Erfurter Augustinerkirche vergleichbar sei: „Auch hier galt, das echte Alte zu erhalten und die notwendigen Erneuerungen im alten Geist durchzuführen.“162 Besonderer Streit entzündete sich bei der Erneuerung der Stadtkirche um den Standort der historischen Lutherkanzel sowie einiger aus der Cranachwerkstatt stammenden Epitaphien, der Spannungen zwischen staatlichem 157 Woerl Reisehandbücher, 1928, 11 f und 26. 158 Vgl. Walbe, Lutherstadt Wittenberg, 7. 159 Gurlitt, Die Lutherstadt Wittenberg 1902, 12.

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Abb. 26 Altar mit alter Einrahmung

Primat und kirchlicher Autonomie in Fragen der Denkmalpflege und des Kulturgutschutzes offenlegte.163 Kanzel und Bilder waren im 19. Jahrhundert in das Lutherhaus gelangt, gehörten aber rechtlich weiterhin der Stadtkirchengemeinde.164 Diese forderte nun die Rückgabe mit dem Argument der Authentizität des Standortes: „Die Bilder sagen den Besuchern mehr an der 160 Blunck, Aufgaben moderner Denkmalpflege, 98. 161 Thulin, Die Lutherstadt Wittenberg und Torgau, 23. 162 Thulin, Erneuerte Lutherstätten, 70. – Zum Umbau der Erfurter Augustinerkirche in den 1930er Jahren vgl. Escherich, Mark, Beispiele des Umgangs, 300 ff. 163 Zum diesem Grundsatzkonflikt vgl. Speitkamp, Die Verwaltung der Geschichte, 363 f. 164 Vgl. Abschrift eines Schreibens des Kuratoriumsvorsitzenden von Gersdorff an das preußische Kultusministerium in Berlin vom 06. 01. 1930, in: Akte 2, Archiv StLu.

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Abb. 27 … und mit dem neuen Rahmen

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Stätte, an der ihre historische Bedeutung von selbst gegeben ist“,165 heißt es in einem Schreiben des Superintendenten. Letztendlich einigten sich beide Parteien auf die Rückgabe der Epitaphien. Der Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt pries in einem feuilletonistischen Aufsatz 1931 die zurückgekehrten „Erinnerungszeichen aller Art an die Vergangenheit […] in der mit großem Geschick erneuerten Stadtkirche.“166 Die Kanzel verblieb jedoch im Museum. Am Standort der Lutherkanzel im Kirchenschiff wurde stattdessen ein heute verschwundenes Lutherrelief aus Gips angebracht, welches auf den besonderen Ort lutherischer Predigt und Verkündigung hinweisen sollte. Mit dieser Markierung verband sich der Kern des Selbstverständnisses der einzig dem Wort Gottes verpflichteten evangelischen Christen. In der Gipsausführung blieb das Relief allerdings ein Provisorium und wurde 1955 wieder entfernt.167

Abb. 28 Stadtkirche vor dem Umbau

Durch die Umgestaltung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erfuhr die Wittenberger Stadtkirche eine Metamorphose: Neben die Glaubensvermittlung trat nun ausdrücklich die Aufgabe, Erinnerung zu bewahren. Die Kirche selbst wurde zum Museum und warb fortan mit der einzigartigen CranachGalerie. Mittels fester Öffnungszeiten, touristischer Publikationen und Kirchenführungen öffnete die Gemeinde einen Rahmen für Praktiken, die als museal gelten können. Die schleichende Transformation des Gotteshauses von 165 Abschrift Schreiben von Maximilian Meichßner, in: Akte A II 1039, Archiv Stadtkirche Lutherstadt Wittenberg. 166 Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1931, 264. 167 Vgl. Kammer, Reformationsdenkmäler, 174.

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Abb. 29 … und nach dem Umbau 1928

einem Ort des Kults in ein museal genutztes Gebäude indiziert das allmähliche Verschwinden eines milieu de mmoire, eines glaubensstarken evangelischen Stadtbürgertums, für das Religion und Kultur noch eine Einheit gebildet hatte. Die Selbstverständlichkeit, mit der die reformatorische Vergangenheit als Bestandteil der eigenen Welt erschien, schwand. An ihre Stelle trat der Versuch, diese Vergangenheit zumindest materiell zu bewahren und sie als einen lieu de mmoire zu musealisieren. Der Umbau der Kirche im ,reformatorischen Geist‘ erzeugte eine Aura des authentischen Ortes, die den gewünschten Erinnerungsprozess anregen sollte und die Zeit der Reformation wenigstens für einen kurzen Moment wieder in die Gegenwart zurückholen konnte. Voraussetzung hierfür sei jedoch „nicht Erkenntnis sondern Anschauung“, denn „wahres Sehen löst Gefühle aus und setzt die Seele in Bewegung“,168 schlußfolgerte der für den Umbau verantwortliche Architekt. Er erkannte, dass gerade Visuelles und Sinnliches auch da zu wirken vermögen, wo das rationale Argument nicht hinreicht.169 Erst durch diesen sinnlichen Zugang konnten das Erlebnis der Vergangenheit im Gedächtnis haften bleiben und die gefühlte Wirklichkeit gesellschaftsbildend wirken. Eingriffe in die Materialität einer Denkmallandschaft allein, wie sie in der Stadtkirche erfolgten, genügen jedoch nicht zur Schaffung eines Erlebnis168 Blunck, Aufgaben moderner Denkmalpflege, 104. 169 Zum Verhältnis von rationaler und sinnlicher Ebene siehe auch: Korff, Bildwelt Ausstellung, 323.

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raums. Dieser entsteht erst unter der Bedingung, dass er von Besuchern frequentiert wird, die sich auf den Mythos einlassen und ihn erfahren wollen. Schließlich hatten die Wittenberger den aufwendigen Umbau vor allem mit dem Verweis auf die auswärtigen Gäste begründet. Die Stadtkirche blieb jedoch auch wenige Jahre nach der Umgestaltung weit abgeschlagen in der touristischen Gunst, denn die Schlosskirche zog in den frühen 1930er Jahren mehr als dreimal so viele Besucher, die Lutherhalle sogar mehr als viermal so viele Gäste an.170 Daran änderte auch die 1931 in den Kirchenboden eingelassene Gedenkplatte für Gustav Adolf nichts, die man in Vorbereitung auf dessen vierhundertsten Todestag im darauf folgenden Jahr installiert hatte, um skandinavische Besucher nicht nur nach Lützen ziehen zu lassen, sondern auch nach Wittenberg, und insbesondere in die Stadtkirche, zu locken.171

2.3 Die Schlosskirche: Denkmal oder Gotteshaus? Seit ihrer Entstehung ist die Wittenberger Schlosskirche stets mehr als ein einfaches Gotteshaus gewesen. Als Teil des von Friedrich dem Weisen um 1500 errichteten Schlosskomplexes diente sie zunächst der Ausstellung der kurfürstlichen Reliquiensammlung und bildete bereits vor der Reformation ein Pilgerziel der Christenheit. Der von Lukas Cranach dem Älteren illustrierte Katalog des Wittenberger Heiltums von 1509 beinhaltet eine Außenansicht der Kirche und gilt als erste bildliche Darstellung der Stadt. Neben der Funktion als Hofkapelle und Reliquienaufbewahrungsstätte diente das Gebäude aber auch als Universitätskirche und beherbergt die Gräber Luthers, Melanchthons und weiterer Wittenberger Professoren. Nach dem Verlust der Universität bekam das 1817 gegründete Predigerseminar die Kirche zur Nutzung übertragen. Gleichzeitig erfüllte sie für etwa ein Jahrhundert die Funktion einer Garnisonskirche. Die Doppelfunktion einer Kandidaten- sowie Soldatenkirche wurde ergänzt durch die touristische Bedeutung, die ihr vor allem nach der 1892 abgeschlossenen prachtvollen Umgestaltung zu einem ,Pantheon des Protestantismus‘ zukam. Als Ergebnis fungierte das Gebäude gleichzeitig als Kirche und als Museum, die Rolle des Rezipienten blieb somit ungeklärt. Bereits ein 1914 erschienener Führer greift dies auf: „Was man an der Schlosskirche tadelt, dass sie durch überreichen Schmuck die einer evangelischen Kirche notwendige Schlichtheit verloren habe, dass aus dem Gotteshaus eine Gedächtnishalle geworden sei, das ist ihr einzigartiger Vorzug.“172 Eine Kirche verlangt versammelte Gläu170 Besucherzahlen für die Jahre 1931 und 1932: Stadtkirche 4375 / 3650, Schlosskirche 13823 / 14629, Lutherhalle 20040 / 16138 – Vgl. auch: Der Fremdenbesuch in unserer Lutherstadt, Wittenberger Zeitung, 07. 06. 1933. 171 Vgl. Die schwedischen Gäste in der Lutherhalle, Der Rundfunkhörer Nr. 46, 11. 11. 1932. 172 Alfred Schmidt, Die Schlosskirche zu Wittenberg, 33.

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bige, ein Museum Besucher. In den 1920er Jahren machte sich ein Missverhältnis zwischen beiden Benutzerkategorien besonders bemerkbar. Durch den Wegfall der Militärgarnison 1918 war dem Gotteshaus ein Großteil jener Nutzer abhanden gekommen, die dort sonntags das Wort des Herrn verkündet bekamen. Die Schlosskirche wurde zur „Kandidatenübungskirche“173 degradiert, in der die angehenden evangelischen Pfarrer während ihrer Ausbildung am Predigerseminar vor einer recht überschaubaren Menschenschar standen: „Auch in diesem Semester waren es nur immer ganz wenige, die außer den Brüdern die Seminargottesdienste in der Schlosskirche besuchten“,174 beklagte einer der Seminaristen. Im Gegensatz zur regelmäßigen Frequentierung der Schlosskirche zum Zweck des Gottesdienstbesuchs nahm ihre touristische Nutzung durch den Aufschwung des Fremdenverkehrs in den 1920er Jahren zu. Die Anwesenheit einer aktiven Kultgemeinde ist jedoch aus touristischer Sicht ein Authentizitätsmerkmal der besuchten Stätte, was sie von künstlich errichteten oder nicht mehr genutzten sakralen Orten unterscheidet. Rituelle Praxis wird dabei zu einem Teil der von einem Ort repräsentierten Erinnerung.175 Ohne praktizierten Kult fehlte der Kirche jene „Aura des Authentischen“176, die ein wichtiger Bestandteil eines Erlebnisraums ist. Die enttäuschten Reaktionen der Besucher angesichts leerer Kirchenbänke war es dann auch, die verschiedene Kircheninstanzen die Gründung einer Schlosskirchengemeinde anregen ließen. So formulierte der Generalsuperintendent der Kurmark und spätere Bischof von Berlin-Brandenburg Otto Dibelius eine entsprechende Forderung mit Verweis auf einen Zeitungsartikel im Lutherischen Herold, in dem ein amerikanischer Besucher sein Erstaunen über die sonntäglich verwaiste Kirche geäußert hatte.177 Auch Vertreter des für die Schlosskirche zuständigen Predigerseminars sowie der überregionalen Kirchenadministration artikulierten gegen Ende der 1920er Jahre mehrfach Forderungen, eine Schlosskirchengemeinde zu gründen. Hatten die Wittenberger Pfarrer der Stadtkirchengemeinde eine Transformation ihres Gotteshauses von einer Gebrauchskirche in einen museal genutzten Bestandteil der reformationsgeschichtlichen Denkmallandschaft betrieben, bildete sich in Bezug auf die Schlosskirche ein umgekehrtes Verlan173 Begriff mehrfach verwendet als Argument für die Einrichtung einer Schlosskirchengemeinde. Vgl. Schreiben Predigerseminar an Konsistorium vom 8. Juni 1929, in: Akte 455, Archiv Predigerseminar Wittenberg; Mitteilung des Gemeindekirchenrates der Stadtkirchengemeinde über Beschluss der Auspfarrung der Schlosskirchengemeinde vom 5. April 1948, in: Akte A II 7, Schlosskirchengemeinde, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 174 Bericht der Seminargemeinschaft des Predigerseminars zu Wittenberg. April 1933 – April 1934. Erstattet von der Alten Bruderschaft, in: Akte S 977/6095, Seite 13, Archiv StLu. 175 Ausführlich bei: Stausberg, Religion im modernen Tourismus, 137. 176 Hettling, Das Denkmal als Fetisch, 50. 177 Vgl. Brief Otto Dibelius an Predigerseminar vom 13. Februar 1930, Pressebericht aus Lutherischem Herold beiliegend, in: Akte 455, Archiv Predigerseminar Wittenberg.

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gen. Nur als Gemeindekirche könne sie „jedem etwa geplanten Zugriff von römischer Seite entzogen“ werden, „in unbestrittenem und unbestreitbaren Gebrauch der Evangelischen stehen und aufhören, nur ein Denkmal zu sein.“178 Der Plan der Gründung einer eigenständigen Schlosskirchengemeinde konnte schließlich im Jahr 1948 vollzogen werden und wurde begründet mit der Notwendigkeit, „der Kirche wieder eine ihrer geschichtlichen Bedeutung entsprechende Verwendung zu geben.“179

2.4 Die Lutherhalle: Professionalisierung der Museumsarbeit Für die Lutherhalle begann die Zeit der Weimarer Republik mit einer Katastrophe. Diebe waren in der Neujahrsnacht des Jahres 1919 in das Museum eingedrungen und hatten zahlreiche Münzen und Medaillen sowie das Septembertestament, die Erstausgabe von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments, entwendet.180 Die Stücke tauchten zwar nach kurzer Zeit wieder auf, aber der Einbruch hinterließ tiefe Spuren auf Seiten der Museumsverantwortlichen. Sicherheitsbedenken waren in den 1920er Jahren stets präsent und trugen dazu bei, dass das Museum sich nicht für untere soziale Schichten öffnete, sondern ein bildungsbürgerlicher Tempel blieb. Die Erkundung der Ausstellung erfolgte, wie bereits in der Kaiserzeit, mittels Führung und Erläuterung, also unter Aufsicht. Im Laufe der 1920er Jahre setzte sich beim Kuratorium der Lutherhalle die Erkenntnis durch, dass es einer veränderten Leitung des Museums bedurfte. Von professioneller Museumsarbeit konnte bis dahin nicht die Rede sein. Als Teil des Predigerseminars oblag dessen Direktor die Leitung und Verwaltung des Museums. Da dieser Theologe war und zudem die Ausbildung der Predigerseminarkandidaten im Mittelpunkt seiner Arbeit stand, wurde die Lutherhalle stets etwas stiefmütterlich behandelt. Ab 1926 erfolgten dann erste Überlegungen in Richtung einer stärkeren Eigenständigkeit des Museums. So wurde die Einrichtung einer Direktorenstelle erwogen, die letztendlich mit dem Kunsthistoriker und Theologen Oskar Thulin 1930 besetzt werden konnte. Der preußische Staat erklärte sich bereit, zwei Drittel des Gehaltes zu übernehmen.181 Was im Jahr 1655 als museum lutheri mit Bezug auf die Lutherstube begrifflich entstanden war, wurde institutionell letztlich erst 1930 etabliert. Mit der Professionalisierung schwand der Einfluss der Evangeli178 Schreiben Predigerseminar an Konsistorium vom 8. Juni 1929, in: Akte 455, Bl. 29, Archiv Predigerseminar. 179 Mitteilung des Gemeindekirchenrates der Stadtkirchengemeinde über Beschluss der Auspfarrung der Schlosskirchengemeinde vom 5. April 1948, in: Akte A II 7, Schlosskirchengemeinde, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 180 Vgl. Schriftverkehr Einbruch Lutherhaus, in: Akte 27, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 181 Vgl. Schreiben des Oberkirchenrats in Berlin, 27. Juni 1929, in: Akte 44, Archiv Predigerseminar Wittenberg.

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schen Unionskirche beziehungsweise des Predigerseminars auf die Museumsarbeit und es begann ein lange währender und konfliktreicher Prozess, der schließlich zur Staatlichen Lutherhalle führen sollte.182 Das Predigerseminar richtete seine Aufmerksamkeit auf einen kleinen Kreis von Eingeweihten. Solange die Lutherhalle institutionell eng an das Seminar angebunden war, prägte diese Herangehensweise auch die Museumsarbeit. Erst die 1930 beginnende institutionelle Unabhängigkeit ermöglichte die Erkenntnis, dass es im Museum darauf ankommt, die Reformation via Objekt und Bild auch einem kirchen- und bildungsfernen Publikum anschaulich nahe zu bringen.183 Thulin erweiterte die Museumsarbeit, die bis dahin auf die Begehbarkeit des Hauses und auf die selektive Ausstellung des zur Verfügung stehenden Sammlungsbestandes beschränkt geblieben war, indem er aus der Lutherhalle eine Bildungsinstitution machte und ihr neue Besucherkreise erschloss. „Mehrtägige Kurse für pädagogische Akademien, Pfarrer, Lehrer sowie andere Kreise sowie Vortragstätigkeiten in den verschiedensten Städten Deutschlands“184 unterstrichen zudem den Anspruch des Museums, als Bildungs- und Kultureinrichtung überregionale Bedeutung zu erlangen. Um finanziell unabhängiger von Staat und Kirche agieren zu können, wurde ein Freundeskreis der Lutherhalle gegründet, „der es sich zur Aufgabe gemacht hat, überall im Land die für die Lutherhalle und ihre Ziele interessierten Kreise, Einzelpersönlichkeiten und Synoden, zur wenn auch noch bescheidenen Mitarbeit zu sammeln.“185 Angesichts knapper Finanzausstattung war der neue Museumsdirektor für die Umsetzung seiner Pläne dringend auf zusätzliche Mittel angewiesen. Noch 1933 beklagte er öffentlich, dass das Geld nicht einmal für die Beheizung aller Räume reiche.186 Die Mitglieder des Freundeskreises sollten die Museumsarbeit mit ihren Beiträgen unterstützen und erhielten im Gegenzug jährlich eine „Bild- oder Buchgabe aus der Reformationszeit in bester Nachbildung“187 überreicht. Hier verknüpfte Thulin geschickt verschiedene Aspekte der modernen Museumsarbeit. Die Jahresgaben waren Souvenirs, welche die Lutherhalle ab 1930 zunehmend in Eigenregie entworfen und vertrieben hat, um durch die kommerzielle Verwertung eine weitere Einnahmequelle zu erschließen.

182 Offizielle Bezeichnung des reformationsgeschichtlichen Museums ab 1972 bis zum Ende der DDR-Zeit 183 Vgl. Laube, Der Kult um die Dinge, 13. 184 Abschrift Protokoll Vorstandssitzung des Lutherhallenbeirats vom 18. Juni 1931, in: Akte 2, Archiv StLu. 185 Ebd. 186 Vgl. „Die Wittenberger Lutherhalle in neuer Gestalt“, Wittenberger Zeitung, 04. 04. 1933. 187 Faltblatt „Freunde der Lutherhalle“, Wittenberg nach 1930, in: Archiv StLu.

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2.5 Das wissenschaftliche Prinzip der Anschauung Auswahl und Präsentation der Ausstellungsstücke waren unter dem neuen Lutherhallen-Direktor erheblichen Veränderungen unterworfen, die in einer erfolgreichen Kombination von Wort und Bild, Text und ,Ding‘ mündeten. Hatten im Kaiserreich und auch noch in der Zeit der Weimarer Republik die schriftlichen Quellen und Zeugnisse der Sammlung den Teil dominiert, den die Besucher gezeigt bekamen, setzte Thulin nun verstärkt auf andere Vermittlungsformen: „Geschichte treiben und studieren in voller Anschaulichkeit vor den Dokumenten der Zeit, vor Buch und Handschrift, Portrait und jeglicher Art von Bildgestaltung in Holzschnitt und Kupferstich, Medaille und Gemälde, das ist ja der Sinn der Lutherhallensammlung“,188 resümierte er bereits im ersten Amtsjahr sein Vorhaben. Die bis zur Ära Thulin gepflegte Praxis der Schriftenpräsentation resultierte zunächst aus dem zur Verfügung stehenden Sammlungsbestand des Hauses, denn das materielle Erbe der Reformation besteht hauptsächlich aus Papier ; gegenständliche Quellen sind weniger zahlreich vorhanden. Aber auch die Tatsache, dass Reformationsgeschichte prinzipiell schwer ,ansichtig‘ zu machen ist, spielt eine wichtige Rolle: Der Protestantismus ist eine ausgeprägte Wortreligion und hat eine sprachbildende Kraft entfaltet.189 Evangelische Christlichkeit als Lesekultur basiert auf dem reformatorischen Prinzip des sola sciptura und lässt sich nicht angemessen musealisieren. Allerdings bildet die Schrift nach Jan Assmann „von Haus aus und auf weite Strecken ein Medium der Erinnerung.“190 Das von der Theologie ausgehende Schriftprinzip findet sich folglich auch im Wittenberger Stadtraum wieder. Der 1892 fertig gestellte Schriftzug am Turm der Schlosskirche bereitet beispielsweise mit dem Lutherchoral Ein feste Burg ist unser Gott den Ankömmling auf seinen Wittenbergbesuch vor, während er auf der anderen Seite der Stadt seit 1909 mit Lutherzitaten auf den Besuch des Lutherhauses eingestimmt wird.191 Die bronzene Thesentür gibt Luthers 95 Thesen wieder. Das über der Tür angebrachte Tympanongemälde ist hingegen das einzige Beispiel für einen bildlichen Bezug zur Reformation, verweist aber mittels Bibel und Augsburger Konfession in den Händen Luthers und Melanchthons auch wieder auf das 188 189 190 191

Thulin, Bildanschauung zur Confessio Augustana, 115. Vgl. Friedrich-Wilhelm Graf, Protestantische Wortkultur heute. Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 107. Folgende Lutherzitate finden sich auf den Querbalken im Durchgang des Augusteums, welchen jeder Besucher der Lutherhalle durchqueren muss: „Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott durch ihn eine große Tat will“ und „Ich hab einmal des Papstes Decret allhier zu Wittenberg verbrannt, und ich wollts wol noch einmal verbrennen.“ Zitiert in Knolle, Legendäre Lutherworte; Der erste, 1916 erschiene Führer durch die Sammlungen des Lutherhauses gibt die Worte im Torweg des Augusteums ebenfalls wieder. Vgl. Jordan, Lutherhalle Wittenberg. Führer 1916.

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Schriftprinzip.192 Gleiches gilt für die beiden Reformatorenstandbilder auf dem Marktplatz der Stadt. Die bibliozentrisch begründete Ablehnung der Tradition im Protestantismus führte zu einer Bevorzugung des Textes als letztlich durch Gott gestiftete Erkenntnisquelle. Getreu dem reformatorischen Prinzip des sola scriptura wurde auch die erinnerte Eigengeschichte stets unter Schriftauslegung interpretiert und heilsgeschichtlich verortet.193 Diese biblische Tradition greift ein Zitat des Hebräerbriefes im Großen Hörsaal des Lutherhauses programmatisch auf: „Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben, […] und folget ihrem Glauben nach.“ (Hebräer 13,7) Auf dem Primat der Schrift beruhe, so erklärt Wolfgang Reinhard für den Bereich der klassischen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, das Misstrauen gegenüber einer bild- und objektzentrierten Sichtweise sowie die Textlastigkeit der historischen Forschung.194 Die einseitige Konzentration auf das Wort verstellte mitunter den Blick auf die Ganzheitlichkeit des Menschen, was sich auch bei der musealen Präsentation der Reformationsgeschichte im Lutherhaus zeigte. Hier war in weiten Teilen der Ausstellung sowohl auf den sinnlichen Zugang zu vergangenem Geschehen als auch auf didaktische Motive im Sinne eines Museums als ,Lernort‘ weitgehend verzichtet worden; von den Besuchern wurde erwartet, dass sie mit Luthers Biographie und dem breiten Kontext der Reformationsgeschichte bereits vertraut waren. Das Museum selbst diente als ein ,Ort der Vergewisserung‘, an dem bereits vorhandene Wissensbestände bestätigt werden sollten. Auf der Grundlage des von Oskar Thulin formulierten ,wissenschaftlichen Prinzips der Anschauung‘195 wurde die Ausstellungskonzeption ab 1930 jedoch schrittweise umgestaltet. Mit Thulin war 1930 ein Theologe und Kunsthistoriker ins Amt gelangt, der das zur Verfügung stehende Quellenmaterial erweitern wollte. Er beklagte den durch „intellektuelle Einseitigkeit der Kirche“ hervorgerufenen „volkspädagogischen Verlust der Bildhaftigkeit in Erkenntnis und Unterricht“196 und sprach sich stattdessen dafür aus, künstlerische Quellen stärker in die museale Präsentation einzubeziehen. 192 Friedrich von Quast, der den Entwurf für die Tür beigesteuert hat, schrieb über das von Prof. von Klöding aus Berlin ausgeführte Tympanongemälde: „Auf goldenem einfach gemusterten Grunde ist in der Mitte der gekreuzigte Christus dargestellt, als Kern des ganzen Reformationswerkes, zu dessen Seiten rechts (vor Christo) Luther, zur Linken Melanchthon, verehrend knien, jeder Christo die besten Gaben darbringend, die er in Seinem Namen der Christenheit geben durfte, Luther die geöffnete Heilige Schrift in deutscher Sprache, Melanchthon die 1530 zu Augsburg gereichte Confession.“ Zitiert in: Scharfe, Evangelische Andachtsbilder, 187. 193 Sandl schreibt von einer „Einbeziehung der historisch-konkreten Welt in die theologischexegetische Sinnkonstitution.“ Vgl. Sandl, Interpretationswelten der Zeitenwende, 27 – 37, v. a. 34. 194 Vgl. Reinhard, Martin Luther und der Ursprung der historistischen Geschichtswissenschaft; Siehe auch: Korff, Bildwelt – Ausstellung – Die Darstellung von Geschichte im Museum. 195 Thulin, Das wissenschaftliche Prinzip, 176 – 198. 196 Thulin, Das Lutherbild der Gegenwart, 124.

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Insbesondere das Luther-Bildnis wurde zu seinem Forschungsschwerpunkt;197 in einem 1932 publizierten Wittenberg-Buch widmete er dem Thema sogar ein eigenes Kapitel.198 Die Lutherhalle wurde unter Thulin eine „fast selbstverständliche Studienstätte im besonderen für alle Lutherbildnisfragen.“199 Sein Mentor Johannes Ficker, der als Hallescher Lehrstuhlinhaber den Ausbau des Lehrangebots im Bereich Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst forciert hatte,200 lobte 1932 deshalb in einem Artikel über die Lutherhalle, dass „vor allem das Bildnis jetzt in ganz anderer Fülle und Mannigfaltigkeit schaubar geworden [sei – Anm. d. Verf.] aus dem Reichtum der Sammlung, die ungefähr 2400 Lutherbilder umfasst.“201 An die Stelle der die Luthergedenkhalle einrahmenden Handschriftenzimmer trat eine Dokumentation der Geschichte des Lutherbildes.202 Dem Beispiel der Lutherbildnisausstellung in Halle 1931 folgend,203 ergänzte Thulin im Wittenberger Museum die bildlichen Darstellungen des Reformators durch Proben von dessen Handschrift und eine Übersicht seines schriftstellerischen Gesamtwerks. Das Bild wurde für Thulin eine eigenständige Quelle der Kirchen- und Zeitgeschichte.204 Allerdings wurden die Kunstwerke nur illustrativ herangezogen; ihm ging es nicht um die kunstgeschichtliche Einordnung der Bildquellen, sondern um deren kirchlich-theologische Betrachtung. Der Theologe obsiegte hier über den Kunsthistoriker, denn „die Funktion des Bildes in der evangelischen Kirche war eine Dienstleistung am Wort“,205 wie Stefan Laube in seiner Museumsgeschichte formulierte. Thulin hat zwar die ästhetische Eigenmacht der Kunstwerke erkannt, ihnen aber ebenso wenig wie den baulichen Zeugnissen der Reformationszeit einen eigenen Wert beigemessen; sie bildeten vielmehr die Kulisse für die Akteure der Weltgeschichte:206 „In über 2400 Lutherbildern – der größten Lutherbildnissammlung der Welt – spiegelt sich seines Geistes Gestalt wieder“,207 warb der Direktor in einem Faltblatt. Damit gewann der Reformator an Bedeutung gegenüber seinem Werk. Die strukturellen Zusammenhänge der Reformationsgeschichte, die als solche schwierig zu durchschauen waren, sollten in dramatische individuelle Handlungen umgeformt werden. Komplexe Strukturen wurden in Erlebnisse überführt und das Interesse an der Dramatik hat die geschichtlichen Ereig197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207

Vgl. Thulin, Wie sah Luther aus? Vgl. Thulin, Die Lutherstadt Wittenberg und Torgau, 37 – 40. Thulin, Das Lutherbild der Gegenwart, 132. Vgl. Stephan, Die Stumme Fakultät, 105 – 109. Ficker, Der Ausbau der Lutherhalle in Wittenberg. Vergleich der Ausstellungsführer von Jordan/Thulin: Jordan, Lutherhalle Wittenberg. Führer 1919; Thulin, Kleiner Führer durch die Lutherhalle 1934. Vgl. Reichelt, Lutherbildnisausstellung Halle. Vgl. Thulin, Das wissenschaftliche Prinzip, 176 – 198. Laube, Lutherhaus Wittenberg, 30. Vgl. Hennen, Von sinnwidrigen Um- und Ausbauten, 11. Faltblatt „Freunde der Lutherhalle“, Wittenberg nach 1930.

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nisse überformt. Grundlage hierfür war die Vorstellung, dass das Vergangene nur erfahrbar und erfassbar wäre, wenn es auf erzählende Weise vermittelt und auf dramatisierbare Ereignisse reduziert würde, die Luthers Biographie entnommen wurden. Die museale Zuspitzung auf die Person des Reformators erreichte dann ihren Kulminationspunkt im Jahr 1933, als der „Gegenwärtige Luther“208 im Zentrum des Interesses stand.

3. Die Jubiläumsfeiern als Ausdruck gesellschaftlicher Konflikte 3.1 Das Fest als Mittel der Standortbestimmung und Selbstvergewisserung Erinnerungsgemeinschaften werden in Festkulturen besonders deutlich. Die öffentliche Festkultur Wittenbergs in den 1920er Jahre eröffnete den Trägerschichten eine Möglichkeit, das aus Traditionsüberhängen gespeiste Selbstbild als Lutherstadt effektvoll in Szene zu setzen. Außergewöhnlich an den Fest- und Jubiläumsaktivitäten in den 1920er und frühen 1930er Jahren war vor allem deren Dichte, sodass zahlreiche Anlässe den Deutungseliten die Möglichkeit gaben, Selbstbilder ihrer Stadt zu entwerfen. In keinem Jahrzehnt davor sind die Ereignisse der Reformationsgeschichte so intensiv gefeiert worden wie in den Jahren der Weimarer Republik. Neben den bereits etablierten Feieranlässen wie dem Jubiläum des Augsburger Bekenntnisses 1930 wurde erstmals der Verbrennung der Bannandrohungsbulle im Dezember 1920 sowie des Wormser Reichstages 1921 gedacht. Luthers Wiederkehr von der Wartburg wurde 1922 ebenfalls feierlich begangen.209 Der Katharinentag 1925 erinnerte an die Hochzeit des Reformators und stellte Luthers Bedeutung als Begründer des evangelischen Pfarrhauses heraus.210 Mit dem Gedenken an den Todestag Friedrichs des Weisen im gleichen Jahr wurde aber auch ein weiterer Protagonist außerhalb der theologischen ,Kernmannschaft‘ gewürdigt.211 Die Erinnerung an das Jubiläum der Deutschen Messe am Reformationstag 1926 sowie die Vierhundertjahrfeier von Luthers Katechismus 1929 sollten Wittenberg einen Platz in der liturgischen Erneuerungsbewegung des 20. Jahrhunderts sichern.212 Das gesteigerte Feierbedürfnis Wittenbergs in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg kann nicht nur mit der Enttäuschung über die kriegsbedingt be208 Vgl. Thulin, Der gegenwärtige Luther, 2 – 4. 209 Akte 145, Besondere Feierlichkeiten 1912 – 1924, Stadtarchiv Wittenberg. 210 Aus diesem Anlass gab der Pfarrer der Stadtkirche eine Broschüre heraus und die Luthergesellschaft veranlasste die Prägung einer Gedenkmünze. Vgl. Knolle, Luthers Heirat; Mitteilungen der Luthergesellschaft 1925. 211 Akte 151, Besondere Feierlichkeiten 1924 – 1932, Stadtarchiv Wittenberg. 212 Vgl. Erfurth, Geschichte der Lutherstadt Wittenberg, Teil 2, 149; Programm Katechismusfeier am 20. Januar 1929 in Akte A II 411, Archiv Stadtkirche Wittenberg.

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scheiden ausgefallenen Feierlichkeiten des Jubiläums 1917 erklärt werden, welche jetzt nachgeholt werden sollten. Die Expansion der Jubiläumsfeierlichkeiten in den Jahren der Weimarer Republik indiziert vielmehr, dass das Bedürfnis nach Vergewisserung sowie der Wunsch einer Stabilisierung nationalprotestantischer Identität mittels Rückgriff auf die Historie trotz politischer, sozialer und wirtschaftlicher Brüche noch zunahmen. Warum und auf welche Weise ein Jubiläum begangen wird, sagt deshalb nur wenig über das historische Ereignis selbst aus, weitaus mehr dagegen über die aktuelle Bedürfnislage und politische Situation der jeweiligen Gegenwart. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit erzeugt hier jenen „Spiegel der Geschichte, in dem sich die Gegenwart wahrnehmen, sich zu sich selbst verhalten und mit sich selbst umgehen kann.“213 Wesentliche Triebfeder der Jubiläumseuphorie war das Bemühen der gesellschaftlichen Führungsschichten der Stadt, das Maß an überregionaler Aufmerksamkeit zurückzuerobern, das man nach 1918 verloren glaubte. Wenn Stefan Laube in seiner Museumsgeschichte des Lutherhauses feststellt, Wittenberg habe schon immer im Interesse überregionaler Obrigkeiten gestanden,214 so gilt dies für die Zeit zwischen 1919 und 1932 mit Sicherheit nicht. Die Weimarer Republik war arm an politischer Bindungskraft, jedoch reich an Gedenkveranstaltungen. So genossen Beethoven 1927, im Jahr darauf Dürer, 1929 Lessing und 1932 Goethe die Aufmerksamkeit der Nation und wurden von den politische Eliten unter organisatorischer Führung des Reichskunstwarts Edwin Redslob, der die Republik durch Feste und Jubiläen inszenierte, entsprechend gewürdigt.215 Luther und Wittenberg fanden hingegen keinen Eingang in den Kalender der offiziellen kulturpolitischen Würdigung der Republik, obwohl Redslob mit der Lutherstadt durchaus vertraut war.216 Die politische Obrigkeit Weimars zeigte dennoch der Stadt die kalte Schulter und vermochte es nicht, dem Staat auf dem Gebiet der Reformationserinnerung die repräsentative Würde zu geben, die den noch stark dynastisch geprägten Wittenbergern so viel bedeutete. Es gab nach Niederlage und Revolution keinen Ersatz für den ,Pomp‘ und das ,Gepränge‘ des Kaiserreichs. Bürgermeister Wurm sprach gar von einer „Gefährdung der Wiege der Reformation“.217 Das republikanische Aufmerksamkeitsvakuum versuchten die lokalen Deutungseliten mit einer Vielzahl von Festaktivitäten zu füllen, denen sie über den Rahmen der Kommunalpolitik hinaus auch eine nationale und internationale Bedeutung zuschrieben. Stets legten sie Wert darauf, die in Wittenberg begangenen Jubiläumsfeiern als überregional bedeutsam darzustellen. Dies 213 214 215 216 217

Rüsen, Historische Sinnbildung durch Erzählung, 527. Vgl. Laube, Lutherhaus Wittenberg, 49. Vgl. Welzbacher, Edwin Redslob, 207; Siehe auch: Speitkamp, Erziehung zur Nation. Vgl. Redslob, Die Lutherhalle in Wittenberg. Berichterstattung über eine Tagung des Evangelischen Bundes, in: Eisenacher Zeitung, 8. Oktober 1927.

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geschah durch Einladung möglichst vieler hochrangiger Gäste. Zur InvocavitFeier 1922 erschienen beispielsweise Vertreter der evangelischen Kirchen Nordamerikas, Skandinaviens, Ungarns, Österreichs und der Tschechoslowakei, aber auch Repräsentanten von dreizehn deutschen Universitäten und zahlreichen freien kirchlichen Organisationen.218 Außerdem gab das städtische Festkomitee anlässlich der Feiern jeweils ein aufwendig gestaltetes Büchlein mit ausführlichem Festprogramm, Hintergrundinformationen und Teilnehmern heraus, welches nicht nur an den städtischen Binnenraum gerichtet war, sondern vor allem für die Vielzahl der auswärtigen Gäste die Erinnerungswürdigkeit der Wittenberger Feier materialisierte. Die Präsenz des Alten im Neuen war aber nicht schiere materiale Persistenz, wie sie sich beispielsweise in der Wittenberger Denkmalpolitik äußerte, sondern geistige Aneignung und Übertragung, der die in den Reformationsfeiern ausgeübten Riten dienten. Deshalb war der Festverlauf stets mit einer politischen Botschaft verbunden. Sehr bewusst ging es um geistige Standortbestimmung.219 So zeigte die Inszenierungspraxis der Jubiläen die Ablehnung der neuen politischen Ordnung, in der die Republik an die Stelle des Kaiserreichs getreten und die Trennung von Staat und Kirche endgültig vollzogen worden war. Das Ziel der Wittenberger Honoratiorengesellschaft bestand hingegen in der Bewahrung tradierter Ordnungsvorstellungen. Die Stadt Wittenberg als Ort der Identifikation, als Raum der Wahrnehmung und der Kommunikation ist ein Kontinuum, das eine Geschichte des Zusammenhangs auch in einer Epoche der Zäsuren und Brüche produzieren sollte. Geht man von Maurice Halbwachs’ These der sozialen Verfasstheit der Erinnerung aus, so führt dies zu der Schlussfolgerung, dass nicht nur Inhalte, sondern auch die Techniken des Erinnerns zeitgebunden sind. Die Fest- und Jubiläumsaktivitäten im Wittenberg der 1920er Jahre zeigen, mit welchen Mitteln die Deutungseliten der Stadt ihre grundlegenden Prinzipien und Leitideen als verbindlich zu postulieren versuchten. Gerade im Medium des Festes wurde die Sichtbarmachung dieser Leitideen besonders deutlich, denn hier wurden Ordnungsbehauptungen und Geltungsansprüche auf dem Weg einer Verbindung von sozialem und symbolischen Handeln und Verhalten verkörpert.220 So beschloss das Festkomitee zur Vorbereitung des Jubiläums der Verbrennung der Bannandrohungsbulle im Jahr 1920, von der Aufforderung zum Beflaggen abzusehen. Viele Wittenberger hätten gern die alten Fahnen der Kaiserzeit hervorgeholt. Mit den Farben der Republik war in ihren Augen hingegen kein Staat zu machen und wer die Flagge missachtete, meinte die Republik.221 Die Weimarer Reichsverfassung hatte die Frage der Staats218 Vgl. Erfurth, Geschichte der Lutherstadt Wittenberg, Teil 2, 119. 219 Zur politischen Lagerbildung und deren rituellen Inszenierung in der Weimarer Republik vgl. Bonte, Werbung für Weimar?, 100 und 129 f. 220 Vgl. Hettling, Erlebnisraum und Ritual, 420; Hettling, Das Denkmal als Fetisch, 50. 221 Vgl. Sitzungsprotokoll Festkomitee vom 3. Dezember 1920, in: Akte 151, Feierlichkeiten 1920/ 21, Stadtarchiv Wittenberg; Erfurth, Geschichte der Lutherstadt Wittenberg, Teil 2, 113.

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flagge zwar zugunsten von Schwarz-Rot-Gold geregelt. Dennoch wurde sie von den Rechtsparteien sowie der äußersten Linken nie akzeptiert, weshalb die neuen Farben nicht zum selbstverständlichen Hoheitszeichen des Deutsche Reiches, sondern zu einem Gesinnungsausweis beziehungsweise zur Parteifahne der Weimarer Koalition wurden. Die Beflaggung des öffentlichen Raumes wurde deshalb zu einer permanenten, von der Öffentlichkeit stets registrierten Kraftprobe, zu einem „symbolischen Bürgerkrieg“.222 In Wittenberg griff man, nach einer kurzen Phase der Unsicherheit, wieder zur vertrauten Symbolpolitik des Kaiserreichs. So marschierten die Studenten bei der Invocavit-Feier 1922 „in vollem Wichs und mit flatternden Fahnen“ der alten, 1918 untergegangenen Ordnung in die Stadtkirche ein. Sie sorgten für eine patriotische Note des Jubiläums, für das notwendige Maß an politischer Emotionalität und schufen in den Augen der Betrachter „ein weihevolles Bild, als dieser Festzug protestantischer Prägung bis hin zu den Altarplätzen einzog.“223 Die hier erfolgte Zuschreibung wirkte über eine kulturelle Kodierung. Mittels weniger Zeichen und Signale wurden komplexe gesellschaftliche Semantiken abgerufen beziehungsweise mobilisiert. Dies konnte gelingen, weil diese historisch eingeübt und kollektiv aufrufbar waren und zugleich an aktuelle Denkweisen und Symbole anknüpften.224

3.2 Das Reformationsjubiläum als Integrationsmechanismus Jan Assmann erklärt, das kulturelle Gedächtnis reiche über den Begriff der Tradition hinaus. Während Tradition nur als Weitergabe bestimmter Kenntnisse an die nächste Generation zu definieren sei, umfasse das kulturelle Gedächtnis auch den Prozess der Weitergabe und die eng mit der Tradition verknüpfte Selbstdefinition der betroffenen Gruppen.225 Mit Verweis auf die moderne Traditionsforschung soll auf die von Assmann gemachte Differenzierung verzichtet und kulturelles Gedächtnis und Tradition synonym verstanden werden, denn Traditionen hängen aufs Engste mit dem Gedächtnis zusammen. Ähnlich dem Gedächtnis dienen sie der Organisation der Vergangenheit in Bezug auf die Zukunft.226 Der Soziologe Anthony Giddens fasst diesen Gedanken folgendermaßen zusammen: 222 Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik, 295; Schumann verweist auf die Bedeutung weithin sichtbarer Symbole wie Fahnen sowie Abzeichen und Uniformen, welche die Funktion erfüllten, ,Freund und Feind‘ unterscheiden zu können. Vgl. Schumann, Politische Gewalt, 309 f; Zum Flaggenstreit siehe auch: Hattenhauer, Deutsche Nationalsymbole, 22 – 29. 223 Knolle, Die Invocavit-Feier in Wittenberg, 65. 224 Ausführlich bei: Kaschuba, Geschichtspolitik und Identitätspolitik, 23 f. 225 Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 23 f. 226 Vgl. Burke, Was ist Kulturgeschichte?, 41 und 123 – 125; Grieve und Weiss, Illuminating the Half-Life of Tradition; Sarot, Counterfactuals and the Invention of Religious Tradition; Giddens, Tradition in der posttraditionalen Gesellschaft.

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Tradition […] stellt eine Orientierung an der Vergangenheit dar, so dass sie einen starken Einfluss auf die Gegenwart gewinnt […], hat aber auch etwas mit der Zukunft zu tun, da eingespielte Praktiken zur Strukturierung der Zukunft verwendet werden.227

Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Erkenntnis, dass erst Traditionen als eine mögliche Überlieferungsweise des Vergangenen die Integrationskraft entfalten können, die Geschichte allein nicht aufbringen kann. Insofern stellen Traditionen und Geschichte die Vergangenheit in unterschiedlicher Weise in Beziehung zur Gegenwart.228 Traditionen sind das organisierende Medium des kulturellen Gedächtnisses. Sie sind stets an Rituale geknüpft, die der Erhaltung und Übertragung von Traditionen dienen. Deshalb gilt: Erst das Erlebnis stiftet Tradition als Voraussetzung für Erinnerung. Die in Wittenberg begangenen Reformationsjubiläen der 1920er Jahre sollten, nach innen gerichtet, Integrations- und Kohäsionsprozesse unterstützen und Bindungen erzeugen. Es sollte das Bewusstsein geschaffen werden, zu einem gemeinsamen Ganzen zu gehören und für gemeinsame Werthaltungen zu stehen. Für das Gemeinwesen Stadt spielten die Feste im Sinne von Ritualen eine wichtige Rolle, denn „Rituale binden Tradition in die Praxis ein.“229 In ihnen wurde in den 1920er Jahren Gemeinsamkeit bekundet und städtische Identität vergewissert. „Entsprechend sind Traditionen ein identitätsstiftendes Medium […] und liefern jenes Urvertrauen, das für die Kontinuität von Identitäten so wichtig ist.“230 Die gemeinsame Identität Wittenbergs war vor allem eine konfessionell gebundene. Sie stellte eine wichtige Klammer zwischen den heterogen strukturierten Einkommens- und Besitzklassen des Wittenberger Stadtbürgertums dar und sorgte für Binnenhomogenität und Außenabgrenzung.231 Der 1911 entstandene Bericht über die kirchlichen Zustände in der Provinz Sachsen hebt die überdurchschnittliche Kirchenbindung der Bevölkerung des bis dahin wenig industrialisierten Kurkreises hervor. Hier sei „die alte kirchliche Sitte noch eine Macht im Volksleben.“232 Die enorme Zahl der Kirchenaustritte nach 1918 gefährdete jedoch den erstrebten Zusammenhalt: In den ersten zwei Jahren nach Kriegsende waren in der Stadt mit rund 23.000 Einwohnern233 700 evangelische Gemeindemitglieder ausgetreten, in den Industrievororten Kleinwittenberg und Piesteritz mit zusammen 8.000 Einwohnern sogar 1.500.234 Vor allem die Arbeiterschaft 227 228 229 230 231

Giddens, Tradition, 450. Vgl. Motzkin, Gedächtnis-Tradition-Geschichte. Giddens, Tradition, 451. Ebd., 464 f. Der Begriff des Bürgers verlor zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend an Trennschärfe, sodass sich ab der Weimarer Republik die soziale Basis nicht mehr genau abgrenzen lässt. 232 Zitat aus: Bericht über die kirchlichen und sittlichen Zustände, 341. 233 1913 lebten in Wittenberg 23074 Menschen. Vgl. Kirchner, Die wirtschaftliche Entwicklung der Lutherstadt Wittenberg, 75. 234 Vgl. Erfurth, Geschichte der Lutherstadt Wittenberg, Teil 2, 10 und 119.

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kehrte der Institution Kirche den Rücken, während die „protestantische Kirchentreue mit dem Grad an ,Bürgerlichkeit‘ zunahm.“235 Die Abstinenz des, wenn auch in Wittenberg kaum vorhandenen, gehobenen Bürgertums sowie der Verlust der Arbeitermassen resultierte in einer für die soziologische Struktur des kirchlichen Protestantismus in der Weimarer Republik charakteristischen Ausrichtung auf die mittelständischkleinbürgerlichen Schichten,236 aus denen sich die gesellschaftlichen Deutungseliten Wittenbergs rekrutierten. Die häufigen Reformationsfeiern der 1920er Jahre verstärkten diesen Trend. Sie sollten als Integrationsmechanismus in die städtische und kirchliche Gemeinschaft dienen, weshalb sich die Einladung zur Katechismusfeier 1929 beispielsweise ausdrücklich an „alle Evangelischen in Stadt und Land“ richtete.237 Kirchliche und städtische Interessen waren hierbei wechselseitig verschränkt, denn kommunale und kirchliche Institutionen kooperierten stets organisatorisch und finanziell bei der Ausgestaltung der Jubiläumsfeiern. Die Stadtkirchengemeinde beteiligte sich zum Beispiel mit 3.000 Reichsmark an den Kosten der Bannbullenfeier 1920, während die Stadt 12.000 Reichsmark zur Verfügung stellte.238 Vorbereitung und Durchführung der Feste verstärkten zudem die Vernetzung der Beteiligten und konnten damit bestehende Sozialstrukturen verstetigen. Mittels emotionaler Selbstvergewisserung und kirchlichem Aktivismus sollte der als Bedrohung empfundenen Auflösung tradierter, konfessionell begründeter Bindungen Einhalt geboten werden, die im alten Kurkreis und insbesondere in Wittenberg vor dem Ersten Weltkrieg stärker als in anderen Teilen der Kirchenprovinz Sachsen ausgeprägt gewesen waren und erst nach 1918 brüchig zu werden drohten.239 Hierbei setzten die Initiatoren auf die im Jubiläum verwurzelte Gedächtnispraxis. Sie entspricht einem doppelten anthropologischen Bedürfnis: Der Suche nach Orientierung und der Vergewisserung von Identität. In der koordinierten Erinnerung bestätigten die mitwirkenden Individuen ihre Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen kulturellen Identität.240 Der städtische Raum lieferte die dafür notwendige Voraussetzung, denn die Vergangenheit der Stadt, vor allem die Reformationsgeschichte des 16. Jahrhunderts sowie die Integration in das preußische Staatsgebilde auf dem Wege der Reformationsmemoria des 19. Jahrhunderts, bot wichtige Bezugspunkte für die Selbstvergewisserung der Wittenberger Bürgerschaft. Die 235 Diese von Manfred Gailus anhand einer Untersuchung protestantischer Sozialmilieus in Berlin gemachte Feststellung trifft auch auf Wittenberg zu, wie die Austrittszahlen belegen. Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus, 67. 236 Vgl. Jacke, Kirche zwischen Monarchie und Republik, 311 ff. 237 Programm Katechismusjubiläum 1929, in: Akte II 411, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 238 Vgl. Berichterstattung Sitzung Festkomitee, Wittenberger Tageblatt, 21. 10. 1920. 239 ,Entkirchlichung‘ und ,Entchristlichung‘ waren Begriffe, die bereits vor 1918 in keiner kirchlichen Standortbestimmung der Provinz Sachsen fehlten. Vgl. Pollmann, Kirche und Gesellschaft in der Provinz Sachsen. 240 Vgl. Aleida Assmann, Jahrestage, 314.

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„Vorstellungen von gemeinsamer Vergangenheit als Beschwörungsformeln des Zusammenhalts in der Gegenwart“ waren der „kulturelle Kitt“,241 den jede Gesellschaft benötigt, um von dauerhafter Art zu sein. Von der außergewöhnlichen Dichte der jubiläumszyklischen Aktivitäten in den Jahren der Weimarer Republik erhofften die Initiatoren aus Stadt- und Kirchengemeinde sich vor allem eine erhöhte Präsenz und Wirksamkeit der Feierlichkeiten. Es wurde aber auch die Regelhaftigkeit und Dauer der feiernden Personengruppe beziehungsweise Institution unter Beweis gestellt. „Wiederholung […] holt die Zukunft in die Vergangenheit zurück und bedient sich der Vergangenheit, um die Zukunft zu rekonstruieren“,242 beschreibt Anthony Giddens das Verhältnis der zeitlichen Ebenen. Aus der signalisierten Dauer wurde ein Geltungsanspruch für die Zukunft abgeleitet. So kam es zu einer Ausweitung des Traditionskanons, zu einer Verkürzung der Inszenierungsintervalle und einer Verdichtung der Jubiläumsanlässe, die den Prozess der Selbststabilisierung einer durch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen fragil gewordenen Stadtgemeinschaft sowie die Identitätsbildung als Lutherstadt beschleunigen sollten.243 Die Initiatoren griffen, zumindest bei der erstmaligen Jubiläumsfeier von Ereignissen der Reformationsgeschichte, zum Mittel der von Eric Hobsbawm postulierten Invention of Tradition.244 Mit einem Bündel von Praktiken ritueller und symbolischer Natur, die darauf abzielten, bestimmte Verhaltensweisen und Werthaltungen durch Wiederholung zu festigen, sollte die vermeintliche politische und soziale Instabilität kompensiert werden. Hobsbawms Ansatz, zwischen erfundenen und echten Traditionen zu unterscheiden, ist allerdings insofern problematisch, als auch eine erfundene Tradition auf Altes zurückgreift und eine echte Tradition bei der Weitergabe stets neu konstruiert wird. So orientierten sich die Initiatoren bei der Ausgestaltung der Jubiläumsfeiern an den großen Festereignissen der Kaiserzeit, vor allem an der Kommunalfeier anlässlich des 400. Geburtstags des Reformators im Oktober 1883 und den Feierlichkeiten zur Einweihung der Schlosskirche 1892. Auch in den 1920er Jahren gab ein sich eigens konstituiertes Festkomitee, bestehend aus den geisteswissenschaftlich gebildeten Eliten sowie den Repräsentanten des kleinstädtischen Unternehmertums, den Orientierungsrahmen der Feier vor. Glockenschlag, Singen der Kurrende, Lutherspiel, Festgottesdienst und Gemeindeabend gehörten zu den Kernbestandteilen des traditionellen, betont konfessionsgebundenen Feierkanons und lassen sich teilweise bis zum Beginn des reformatorischen Jubiläums 1617 zurückverfolgen. „Glockenschlag acht schmetterten die Klänge des Trutzliedes über den 241 Sandl/Eibach (Hg.), Einleitung, 16. 242 Giddens, Tradition, 450. 243 Winfried Müller spricht in diesem Zusammenhang von „Selbstreferenzialität“. Vgl. Müller, Instrumentalisierung und Selbstreferenzialität. 244 Vgl. Hobsbawm/Ranger (Hg.), The invention of tradition; Hobsbawm, Das Erfinden von Tradition.

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Marktplatz“, um den ersten Festtag zu eröffnen, heißt es in einer Beschreibung der Feier im Dezember 1920: „An solchem Luthergeist wollen und werden wir noch genesen.“245 Trotz der Zweifel an Hobsbawms These ist sein Hinweis auf die Konstruktion von Tradition für ihre Instrumentalisierung entscheidend für die Analyse des Wittenberger Jubiläumseifers. Die ,erfundenen‘ Traditionen waren allerdings nicht nur von oben verordnete Produkte einer gesellschaftlichen Elite zur Kontrolle der Massen, wie Hobsbawm unterstellt. Instrumental waren vielmehr die Wittenberger selbst, die die Reformationserinnerung massentauglich machten und mittels Festinflation einen Erlebnisraum großer emotionaler Dichte schufen. Deshalb erscheint es sinnvoll, die Erfindung von Tradition als einen interaktiven Prozess zu verstehen, der die aktive Beteiligung einer Mehrheit der Einheimischen sowie der Besucher voraussetzt. In den Festen ist stets ein Abbild gesellschaftlicher Hierarchien beziehungsweise ein normatives Modell abzulesen, nach dem gesellschaftliche Wirklichkeit geformt werden sollte. Die Wittenberger Reformationsfeiern als ein auf den binnenstädtischen Raum orientierter Integrationsmechanismus sollten deshalb nicht nur Kohäsionsprozesse befördern und Bindungen erzeugen, sondern auch die soziale Ordnung innerhalb des städtischen Binnenraums abbilden. Sie vermittelten den Teilnehmern nicht nur das Gefühl der Zugehörigkeit, sondern machten die gesellschaftliche Ordnung für alle sichtbar und unmittelbar erfahrbar, indem das Fest jedem seinen Platz zuwies. Dies geschah vor allem über ein symbolisches kohärentes Ausdruckssystem, denn „symbolische Schranken und Grenzziehungen sind das, was die Erfahrungen des Menschen ordnet.“246 So nahm beispielsweise die minutiös geplante Aufstellung der Festteilnehmer an der Luthereiche bei der Ansprache anlässlich der Jubiläumsfeier der Verbrennung der Bannandrohungsbulle im Dezember 1920 eine deutliche soziale Grenzziehung vor. Die Teilnehmer und Zuschauer standen nicht als Volksmasse um die Luthereiche als Ort des Geschehens, sondern hatten im Vorfeld ihren Standort zugewiesen bekommen. Städtische Honoratioren und besondere Gäste standen getrennt von den ständisch gegliederten Stadtbürgern. Gymnasiasten wurden wiederum gegenüber den Mittelschülern privilegiert. Gleiches galt auch für den sich anschließenden Festzug von der Luthereiche zur Stadtkirche. Für den Gottesdienst und die Weihefeier hatten die Veranstalter farbig gekennzeichnete Einlasskarten verteilt, die jedem Teilnehmer einen seinem Rang entsprechenden Platz zuwiesen und eindeutige soziale Beziehungen unterstrichen.247 Durch die Etablierung dieser sozialen Ordnung innerhalb der Festgemein245 Schmale, Feier Bannandrohungsbulle, 38. 246 Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, 25; Siehe auch 36. 247 Vgl. Protokoll Sitzung Festausschuss mit detailliertem Plan der Aufstellung an der Luthereiche, Akte 151, Stadtarchiv Wittenberg; Burghardt hebt hervor, dass Reformationsjubiläen in einer „Tradition des unmittelbar der Sozialdisziplinierung verpflichteten Festtyps“ stehen. Siehe Burghardt, Reformations- und Lutherfeiern, 217.

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schaft wurden vergangene Erfahrungen und künftige Erwartungen miteinander verknüpft. 3.3 Arbeiter außen vor Eine zentrale Funktion des kulturellen Gedächtnisses nach Jan Assmann ist die Schaffung von Gruppenidentität.248 Gerade die im Fest organisierte Erinnerung ermöglicht der Gruppe „ein Bewusstsein von Einheit und Eigenart, von Identität und positiver Selbstsicht.“249 Im Sinne der von Jan Assmann postulierten Identitätssicherung führte die Erinnerungspolitik der Wittenberger Bürger aber auch zu einer bewussten Ausgrenzung von bestimmten Bevölkerungs- und Besuchergruppen. Die Grenzziehung erfolgte in Wittenberg gegenüber dem neu angekommenen Industrieproletariat, das als massive Bedrohung empfunden wurde. Die Beschreibung des gesellschaftlichen Wandels in den Industriebezirken der Kirchenprovinz Sachsen von 1911 trifft auch auf die Fabrikgemeinden vor den Toren der Lutherstadt Wittenberg zu: Der Kirchbesuch sowie die Feier des heiligen Abendmahls nehmen erschreckend ab. Ganze Familien entsenden kein Glied mehr zur Kirche. Eine gänzliche Entfremdung vieler vom Wort Gottes ist zu konstatieren. […] Leute, die mit dem Gesangbuch durch die Straße gehen, werden verspottet. Die Anhänger der Sozialdemokratie hetzen die Jugend gegen die Kirche auf.250

Der im 19. Jahrhundert einsetzende graduelle Übergang von einer Bürger- zu einer Einwohnergemeinde war im Wittenberg der 1920er Jahre noch nicht abschließend vollzogen worden.251 Wickert schreibt, Wittenberg sei „eine Stadt des Bürgertums mit einer kleinen Schicht älterer Intellektueller“252 gewesen, was mit der retardierten Entwicklung zu einem modernen Stadtgefüge erklärt werden kann. Entfestung, städtebauliche Expansion und Industrialisierung hatten erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt. Von den damit verbundenen urbanen und sozialen Veränderungen hatte Wittenberg sich geographisch durch die Schaffung eines unbebauten Immunitätsbereiches in der Form der zu einem Grüngürtel umgestalteten ehemaligen Wallanlagen abgegrenzt. Der soziale Wandel, insbesondere die sich aus urbaner Expansion und Industrialisierung ergebenden Veränderungen in der Bevölkerungszusammensetzung, ließ sich jedoch nicht dauerhaft aufhalten und wurden in den Jahren der Weimarer Republik erstmals deutlich spürbar. Dies hatte nicht nur für die soziale, sondern auch für die konfessionelle Zusammensetzung Folgen, denn die ursprünglich bestehende, herkunftsbezogene Homogenität der Vgl. Jan Assmann, Erinnern um dazuzugehören. Kuhlemann, Erinnerung und Erinnerungskultur, 33. Bericht über die kirchlichen und sittlichen Zustände, 338. Vgl. allgemein zu diesem Transformationsprozess: Saldern, Vom Einwohner zum Bürger ; Schmuhl, Bürgertum und Stadt, 226. 252 Wickert, Mut und Übermut, 61.

248 249 250 251

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Stadtbevölkerung wies ein starkes konfessionelles Element auf. Die große Mehrheit der alteingesessenen Wittenberger Bürgerschaft war auch Mitglied der Stadtkirchengemeinde.253 Auch deshalb bildeten in den 1920er Jahren Kirchenfeier, Volksfest und politische Versammlung in Wittenberg noch eine Einheit. Die Mechanismen der Exklusion wurden durch die rasante Veränderung der Sozialstruktur Wittenbergs, die in den Augen der Alteingesessenen eine Bedrohung darstellte, in Gang gesetzt. Durch den Bau der Stickstoffwerke vor den Toren der Stadt während des Ersten Weltkriegs war die erst spät eingesetzte Industrialisierung der Stadt beschleunigt worden.254 Die Neuhinzugekommenen veränderten die soziale und konfessionelle Zusammensetzung der Stadt innerhalb weniger Jahre erheblich. Aus der sehr bürgerlichen, streng evangelischen Provinzstadt in Preußen wurde eine Industriestadt und „an die Stelle des Kleinbürgertums, das behaglich dahinlebte, traten unruhige Arbeitermassen“,255 heißt es in einer wenige Jahre später entstandenen Dissertation über die wirtschaftliche Entwicklung Wittenbergs. Auf der politischen Ebene blieben die Neueinwohner ausgeschlossen, denn der Industrievorort Piesteritz wurde erst 1950 Teil der Stadt Wittenberg. Am öffentlichen Leben nahmen sie dennoch Teil, was zu enormen Konflikten zwischen alteingesessenen Bürgern und zugezogenen Arbeitern führte. Der öffentlich-städtische Raum wurde gleichsam zu einer Arena für Auseinandersetzungen, in denen es um Herrschaftsfragen in Stadt und Staat ging.256 Diese Auseinandersetzungen wurden in Wittenberg auf dem Feld der Reformationserinnerung geführt. Die Fest- und Jubiläumskultur Wittenbergs bot den kirchlich gebundenen Stadtbürgern Gelegenheit, die eigene Dazugehörigkeit zu demonstrieren sowie Ablehnung und Exklusion anderer Bewohner zu vermitteln. Einerseits war dies den Feieranlässen geschuldet, die sich ausschließlich auf Reformationsjubiläen bezogen. Konfessionell neutrale Feiern hatten im Festkalender Wittenbergs zwischen 1919 und 1932 keine Priorität. Andererseits machte die Programmgestaltung der Feierlichkeiten, für die ausschließlich die alteingesessenen kleinstädtischen Eliten zuständig waren, die Integration unmöglich. So heißt es in einer begleitenden Publikation der ersten Reformationsfeier nach Kriegsende: „Zu einer Lutherfeier gehört Gottesdienst und Beteiligung

253 Mit ,Wittenberger Bürgertum‘ ist keinesfalls eine homogene Sozialformation gemeint, denn dieses stellte ein heterogenes Konglomerat von Besitz- und Erwerbsklassen dar. Gemeinsam ist ihnen jedoch zumeist Geburt und Sozialisation in Wittenberg sowie die Zugehörigkeit zur evangelischen Stadtkirchengemeinde. 254 Die Industrialisierung Wittenbergs hatte erst nach 1890 eingesetzt. In den ersten zwanzig Jahren verzehnfachte sich die Zahl der Arbeiter auf rund 5.000, bei einer Gesamtbevölkerung von rund 20.000 Einwohnern. Die Ansiedlung der Stickstoffwerke 1915 erhöhte die Zahl der Arbeiter nochmals erheblich. Vgl. Schöber, Der Wandel der lokalen Wirtschaft. 255 Kirchner, Die wirtschaftliche Entwicklung der Lutherstadt Wittenberg, 79. 256 Vgl. Saldern, Stadt und Öffentlichkeit, 4.

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der Gemeinde.“257 In Fortschreibung der Festtraditionen der Kaiserzeit, vor allem der drei großen Jubiläen 1883, 1892 und 1917, bestand das Programm aller Wittenberger Jubiläumsfestivitäten in der Zeit der Weimarer Republik fast ausschließlich aus einem kirchlich ausgerichteten Feierkanon. Hierzu zählten neben dem Festgottesdienst auch das Glockengeläut, das Turmblasen, bei dem Lutherchoräle erschallten, sowie das Singen der Kurrende vor der Thesentür oder auf dem Markt. Hinzu kamen die Gemeindeabende der Stadtkirchengemeinde und mitunter eine Weihefeier, ein reformationsgeschichtlicher Vortrag oder ein Festspiel mit Lutherstück. Volksfestelemente hingegen, die auch anderen Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit der Beteiligung geboten hätten, spielten nur eine untergeordnete Rolle. Ein Beispiel für die Austragung der Konflikte zwischen der alteingesessenen Stadtbürgergemeinde und der neu hinzugekommenen Arbeiterschicht liefert das Fest anlässlich des 400. Jahrestages der Verbrennung der Bannandrohungsbulle im Dezember 1920. Zunächst entbrannte ein Streit um die Kosten, denn das linke Lager zeigte sich eher an sozialpolitischen Fragen der Gegenwart interessiert, während die in Wittenberg dominierenden bürgerlich-nationalen Kräfte eine möglichst repräsentative Selbstdarstellung der Stadt wünschten. Die kleine sozialdemokratische Minderheit im Stadtrat begrüßte zwar die Feierlichkeiten, bevorzugte allerdings eine stille Feier und kritisierte die hohen Kosten von 12.000 Reichsmark, die man doch wohl besser für Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse aufwenden solle.258 Durch die obrigkeitsstaatliche Vereinnahmung Luthers im 19. Jahrhundert war der Reformator in der politischen Arbeiterbewegung zudem in Misskredit geraten. Das Festkomitee, dem neben den städtischen Vertretern und lokalen Gewerbetreibenden vor allem führende Köpfe der Stadtkirchengemeinde, des Predigerseminars sowie der Luthergesellschaft angehörten, entschied sich allerdings für ein möglichst groß angelegtes, repräsentatives Fest anlässlich des Jubiläums. Im Fest versuchten die verschiedenen Lager, öffentliches Terrain mit Symbolen und entsprechend konnotierten Handlungen zu besetzen. Die Einladungspolitik oder die Auseinandersetzung um Fahnen und Flaggen gestalte sich deshalb spannungsgeladen. Der Wittenberger Bürgermeister lud beispielsweise in einem Schreiben an den Rektor der Universität in Halle zur Teilnahme ein, bat aber darum, dass die Chargierten nicht im vollen Wichs erscheinen mögen. Als Grund gab er die stark vertretene Arbeiterschaft an, mit der es gegebenenfalls zu Auseinandersetzungen kommen könne. Er täte dies zu großem Bedauern, da er selbst „ein alter, begeisterter Hallenser Waffenstudent“ gewesen sei.259 Aber nicht nur die alteingesessenen Wittenberger 257 Wittenbergs Feier der Tat, 7. 258 Pressebericht über Festvorbereitungen, in: Volksstimme Halle, 24. September 1920. 259 Schreiben des Wittenberger Oberbürgermeisters an den Rektor der Universität Halle-Wittenberg, in: Akte 151, Feierlichkeiten 1920/21, Stadtarchiv Wittenberg.

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selbst, auch eine Vielzahl der Besucher konnten und wollten ihr tradiertes Bild von der Wiege der Reformation nicht von den Rauchschloten und Arbeitermassen der Industriestadt trüben lassen. So lobte der Autor eines Berichtes im Lutherischen Herold, dem in Philadelphia erschienenen Presseorgan der lutherischen Kirche in Amerika, zunächst die „schlichte, reine, sonntäglichfeierliche und bürgerliche“ Stadt, um dann mit „Scham und Gram und Schmerz“ einen Arbeiteraufzug an der Luthereiche beobachten zu müssen: „Einst hattest Du die Reformatoren in Deinen Mauern, heute hast Du die Kommunisten.“260 3.4 Lutherfestspiel und Volkskultur Manfred Hettling wies im Hinblick auf die moderne Bürgertumsforschung darauf hin, dass sich die Transformation von Bürgerlichkeit im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht nur mit der Zerstörung materieller Werte durch Weltkrieg und Inflation und mit dem Zerfall der bis dahin geltenden politischen Ordnung, sondern auch mit den Herausforderungen der Massenkultur verband.261 Die Parallelität des Zerfalls politischer und sozialer Ordnungsmuster und der Veränderung klassischer bürgerlicher Kulturvorstellungen durch eine neuartige Massenkultur der 1920er Jahre lassen einen Blick auf das in Wittenberg praktizierte Lutherfestspiel lohnenswert erscheinen. Als bereits im Kaiserreich übliche kulturelle Ausdrucksform handelte es sich um eine eingeübte Routine, die sich unter den Bedingungen der Nachkriegszeit hinsichtlich der Aufführungspraxis sowie der Funktion innerhalb des Wittenberger Festkalenders jedoch veränderte. In Wittenberg setzte man nach dem Ende des Kaiserreichs die Tradition der Lutherstücke nicht einfach fort. Jetzt stand nicht mehr die szenische Darstellung Luthers als Kulturkämpfer im Mittelpunkt, sondern die Inszenierungspraxis wurde vor allem von den zeitgenössischen kulturpolitischen Kontroversen beeinflusst. Die kommerzialisierte Massenkultur, die in den Jahren der Weimarer Republik ihren Durchbruch erzielt hatte, wurde von kulturkonservativen ,Geistern‘ als Bedrohung empfunden. In deren Augen untergrub sie die öffentliche Moral und Sitte und beschleunigte die Entwurzelung der Menschen.262 Als Gradmesser für ,echte‘ Kultur galten hingegen die Pflege von Religion und Sittlichkeit sowie die Wertschätzung von Bodenständigkeit und ähnlichen Tugenden. Volkskulturelle Praxisformen wurden deshalb als eine mögliche Alternative gesehen, um den mit den Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen verbundenen Entwurzelungs- und 260 Presseveröffentlichung im Lutherischen Herold, Organ der lutherischen Kirche in Amerika, erschienen am 31. 10. 1929 in Philadephia, Ausschnitt in: Akte 455, Blatt 9, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 261 Vgl. Hettling, Eine anstrengende Affäre, 227. 262 Vgl. Saldern, Kunst für’s Volk; Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens, 197 ff.

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Existenzängsten entgegenwirken zu können.263 Heimat- und Bürgerspiele waren Bestandteil dieser Volkskultur, die von den bürgerlichen Kulturkonservativen der Weimarer Republik als Alternative zur entstehenden modernen Massenkultur gehandelt wurde, weil sie einer genuinen Verbindung zwischen Kunst und Volk zu entsprechen schienen. Hiermit verbunden war die Sehnsucht nach sozialer Harmonie als Gegenmodell zu den als Zersetzung und Krise empfundenen Individualisierungs- und Mobilisierungstendenzen in der industriellen Massenkultur.264 Der konfessionellen Deutung der Spiele wurde deshalb eine kulturhistorische angefügt, sodass diese sich zu einer Projektionsfläche deutscher Identitätswünsche und -vorstellungen entwickelte: Es handelt sich ja um kein Theater, kein Unterhaltungsstück, sondern um eine Angelegenheit, die viel Arbeit und volle Hingabe erfordert, die lange vor- und nachwirkt und die Spieler innerlich beschäftigt. […] Das gilt zunächst von den Spielern, aber bei ihrem Zusammenhang mit dem Volk wirkt das weiter […],265

wurden die Wittenberger Erfahrungen 1920 von einem Gymnasiallehrer zusammengefasst. Nicht allein die Bedeutung in der Reformationsgeschichte, auch ihre Provinzialität machten die Lutherstadt zu einem idealen Aufführungsort. Während andere Völker ihre nationale Identität wesentlich in den Kapitalen verorteten, war im föderalen Deutschland meist die Provinz der Hauptverhandlungsort der Nationalidentität. Außerdem sah das kulturell tonangebende Bürgertum seit dem 19. Jahrhundert in der Kleinstadt einen stabilisierenden Gegenhalt im oftmals als Bedrohung empfundenen Modernisierungsprozess.266 Soziale Konflikte schienen hier beispielsweise im Ideal einer klassenlosen Bürgergemeinschaft aufgehoben. Sozialer Frieden, regionale Verwurzelung und nationaler Horizont bildeten deshalb in den Augen vieler Zeitgenossen vor allem in der Provinzstadt eine harmonische Einheit.267 In der Lutherstadt stießen die volkskulturellen Praxisformen auf großen Zuspruch. Bereits 1892 war die Bildung einer Festspielgemeinde angeregt 263 Rudy Koshar beschrieb dieses Phänomen als „longing for a mythic sense of national history and historical totality, especially among conservatives and nationalists”. Koshar, Germany’s Transit Pasts, 116. 264 Vgl. Saldern, Massenfreizeitkultur im Visier, 28 f; Zur zeitgenössischen theologischen Einordnung dieses Volksbegriffes sowie zu einer in den Vorstellungen von Volksgemeinschaft zum Tragen kommenden Sehnsucht nach sozialer Harmonie vgl. Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens, 246 ff. 265 Bericht Dr. Kliche in: Wittenbergs Feier der Tat, 76. 266 Dieses Empfinden wurde beispielsweise von Paul Althaus in seinem Vortrag „Kirche und Volkstum“ auf dem Königsberger Kirchentag 1927 reflektiert. Er beklagte darin, das Volkstum sei krank durch den Geist der Zivilisation, der sich insbesondere an den Phänomenen ,Entwurzelung‘ und ,Entheimatung‘ festmachen lasse. Sinnbild dieser modernen Lebensform war für ihn die Großstadt. Siehe: Althaus, Kirche und Volkstum, 205. 267 Vgl. Hagen, Preservation.

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Abb. 30 Die Wittenberger Spielgemeinschaft von 1920

worden, die weitere Lutherstücke auf die Bühne bringen sollte.268 Diese Idee wieder aufgreifend, stellten die Initiatoren der Feier von 1920 Überlegungen an, jährlich ein durch Laien bestrittenes Reformationsspiel zur Aufführung zu bringen, um die „dauernde Wachhaltung der in glücklicher Form geweckten Erinnerung an die Reformationszeit“269 sicherzustellen. Auch die Luthergesellschaft hatte sich die Förderung der Festspiele auf die Fahne geschrieben. Um „Luther im Ganzen seines Wesens und Wirkens der Gegenwart immer aufs neue nahezubringen“,270 wollte sie auch zum Mittel der Festspiele greifen und diese unterstützen.271 Zur Unterstützung dieses Anliegens wurde 1922 in Wittenberg die Vereinigung für Volkstümliche Reformationsspiele272 gegründet, nachdem in Deutschland allein 1921 zehn Lutherdramen anlässlich des Wormser Reichstags-Jubiläums entstanden waren.273 Hier zeigt sich, dass „Bürgerlichkeit und Massenkultur nicht in ein einfaches Gegenüber gebracht und als Gegensatz gedacht werden“274 können, denn klassische bürgerliche Kulturvorstellungen lassen sich keineswegs nur im Zusammenhang mit Hochkultur denken, sondern schließen auch eine Öffnung gegenüber massenwirksameren kulturellen Ausdrucksformen ein. Ein Teilnehmer der Feier anlässlich des Jubiläums der Verbrennung der 268 Vgl. Wattrodt, Einweihung Schlosskirche 1892, 62. 269 Schreiben Bürgermeister Wurm an Stadtverwaltung Eisenach als Reaktion auf Bitte, Lutherfilm zu unterstützen, 18. August 1922, in: Akte 3749, Stadtarchiv Wittenberg. 270 Satzung der Luthergesellschaft e.V. von 1930, Artikel 1. 271 Vgl. Satzung Luthergesellschaft 1930, Artikel 2, Punkt 9. 272 Vgl. Pasternak, 177 Jahre. 273 Vgl. Karnick, Luther als Bühnenfigur, 258. 274 Hettling, Eine anstrengende Affäre, 227.

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Banndrohungsbulle im Dezember 1920 schrieb, die Wittenberger hätten durch ihre „opferwillige Bereitschaft“ das Lutherspiel am Vorabend des Festes ermöglicht.275 Den Vordenkern ging es weniger um eine touristische Vermarktung als um die Stärkung des ortsbezogenen und konfessionellen Gemeinschaftssinns der alteingesessenen Wittenberger Gemeinde: Es muss dahin kommen, dass in den Bürgerschaften der Lutherstädte an den Erinnerungstagen der Reformation derartige Volksspiele Sitte werden. […] In Wittenberg haben wir mit dem Festspiel einen Versuch gemacht, und der ist gelungen; wir wollen fortfahren […],276

resümierte der Festausschuss das Spiel anlässlich der Lutherfeier 1920. Durch Gemeinschaftsgeist sollte die Bürgergemeinschaft sinnlich erfahrbar gemacht werden. Nach dem Vorbild des seit 1881 in Rothenburg ob der Tauber aufgeführten Festspiels Der Meistertrunk, der seit 1906 in dreijährigem Turnus unter Einbeziehung der Bevölkerung zur Aufführung gelangten Landshuter Fürstenhochzeit sowie des bis ins Jahr 1634 zurückreichenden Passionsspiels in Oberammergau sollten regelmäßig stattfindende Lutherfestspiele „zu einer Angelegenheit aller Bürger“ werden, wie der Gymnasiallehrer Dr. Kliche vorschlug.277 Rund achtzig Laiendarsteller wirkten 1920 bei den insgesamt vier Aufführungen von Friedrich Lienhardts Lutherstück Luther auf der Wartburg mit, während die Inszenierung sowie die Lutherrolle einem professionellen Schauspieler, Friedrich von Strom aus Berlin, übertragen wurden.278 Bei der Aufführung von Hans Herrigs Luther Ende Oktober 1921 schlüpfte hingegen ein Kandidat des Predigerseminars in die Hauptrolle.279 Das Laienspiel band das Publikum eng an die mitwirkenden Darsteller. Der gemeinsame Gesang Ein feste Burg ist unser Gott am Schluss des 1920 aufgeführten Lutherstücks ließ die Grenzen zwischen den Bühnenprotagonisten und dem Auditorium endgültig fallen.280 Viele deutschnational gesinnte Akteure erhofften sich durch die Laienbeteiligung noch eine zweite Wirkungsdimension: „die Verstärkung deutsch-nationalistischer Identitätsbildung – gestützt auf die beiden Säulen Volk und Gemeinschaft.“281 In diesem Sinne fand am Reformationstag 1930 das Festspiel Luther in Worms statt, zu dem der Superintendent „alle

275 Schmale, Feier Bannandrohungsbulle, 38. 276 Wittenbergs Feier Dezember 1920, 76. 277 Vorschlag Dr. Kliche auf Gedächtnisfeier „Luther in Worms“, vgl. Berichterstattung Wittenberger Allgemeine Zeitung, 20. 4. 1921. 278 Akte 151, Feierlichkeiten 1920/21, Stadtarchiv Wittenberg. 279 Aufgeführt am 26., 28. und 30. Oktober in Balzers Festsaal. Vgl. Erfurth, Geschichte der Lutherstadt Wittenberg, Teil 2, 119. 280 Vgl. Wittenbergs Feier Dezember 1920, 48. 281 Saldern, Kunst für’s Volk, 170.

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evangelischen Einwohner“ eingeladen hatte.282 Und anlässlich des Sterbetags von Luther im Februar 1932 initiierte die Luthergesellschaft in Zusammenarbeit mit der Gemeinde in der Stadtkirche die Aufführung einer Wittenberger Passion.283 Da Wittenberg im Gegensatz etwa zu Oberammergau nicht über ein Festspielhaus verfügte und auch kein Theatergebäude hatte, stand für die Bühnenstücke kein fester Spielort bereit. Bei der Aufführung des Lutherfestspiels von Hans Herrig anlässlich der Schlosskircheneinweihung 1892 hatte das Exerzierhaus der Kavalierskaserne als Spielstätte gedient. Die Aufführung 1908 fand im Saal des Kaisergartens, einem Gasthof, statt. 1920 und 1921 nutzte man Balzers Festsäle. Perspektivisch dachten die Initiatoren aber auch an Freiluftaufführungen: „Warum soll am Jahrestage der Augsburgischen Konfession das Spiel nicht im Freien stattfinden?“, fragte einer der Mitwirkenden der Aufführung 1920.284 Schließlich erkannten die Wittenberger in der Mitte der 1920er Jahre die Bühnenqualität des Schlosshofes und nutzten ihn am 5. Mai 1925 für ein Konzert anlässlich des Todestages von Friedrich dem Weisen.285 Erst mit der Entdeckung des Schlosshofes als Spielstätte wurde die Festspielidee in den städtischen Raum eingepflanzt, denn durch diese Entscheidung konnte das Festspiel Bezug nehmen zur Denkmallandschaft.286 Diese Verknüpfung bezog die Gestaltung des Raums ebenso wie dessen Nutzung als Ort für Aufführungen und Inszenierungen ein. Der Ort erfuhr durch seine Einbindung in das Schauspiel eine Neudeutung, bei der das schon angelegte symbolische Potential des Raumes verstärkt wurde. Fortan legte sich Wittenberg auf diese Spielstätte fest. Der Direktor der Lutherhalle formulierte hierzu 1934 in einem Leserbrief, erschienen in der Kirchenpresse: In der Lutherstadt Wittenberg […] fordert der Schlosshof mit dem echten historischen Hintergrund des Schlosses, seinen spätgotischen Treppenaufgängen und Altanen sowie der historischen Schlosskirche mit den Gräbern Luthers und Melanchthons sowie der Kurfürsten und der Thesentür nicht nur jeden Spielfachmann, sondern nahezu jeden Laien zu dem Gedanken einer Freilichtbühne als Grundlage einer Feierstätte heraus.287

282 Zeitungsberichterstattung Reformationsfeier 1930, gesammelt in: Akte 194a, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 283 Schreiben Luthergesellschaft an Magistrat mit Bitte um Kostenübernahme des Fehlbetrags, März 1932, in: Akte 1664, Stadtarchiv Wittenberg. 284 Wittenbergs Feier Dezember 1920, 75. 285 Vgl. Schreiben Volkshochschule Wittenberg an Bürgermeister vom 5. 5. 1925, Akte 131, Stadtarchiv Wittenberg. 286 Vgl. mit Hoffmanns Fallstudie zu Salzburg: Hoffmann, Stadt und Festspiel, 150 f. 287 Thulin, Eine Lanze für Wittenberg.

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4. Aufbruch in den modernen Fremdenverkehr 4.1 Moderne Fremdenverkehrsstrukturen Die 1920er Jahre markieren eine Schwellensituation in der Entwicklung des modernen Fremdenverkehrs. Reisen, bis dahin ein Privileg gehobener sozialer Schichten, wurde nun zu einem Massenphänomen. Eine Voraussetzung hierfür waren Beschäftigungsverhältnisse, die eine klare Trennung von Arbeit und Freizeit ermöglichten. Hierzu zählen verbindliche Arbeitszeitregelungen und tarifliche Urlaubsansprüche, von denen erst in den 1920er Jahren größere soziale Schichten profitierten.288 Eine weitere Voraussetzung für den beginnenden Massentourismus stellte eine schnelle und preiswerte Beförderung der Besucher dar.289 Günstige Sonntagsfahrkarten der Reichsbahn ermöglichten es den Großstädtern beispielsweise, Wittenberg im Rahmen eines Tagesausflugs zu besuchen. Die Stadt Wittenberg zeigte zu diesem Zweck 1926 auf dem Hauptbahnhof Halle mittels großflächiger Plakatwerbung Präsenz.290 Veränderte Rahmenbedingungen kommunaler Arbeit erforderten neue Präsentationsweisen. Planmäßige Kommunikation war nun das Gebot der Stunde. In vielen deutschen Städten entstanden in den 1920er Jahren die für einen professionellen Tourismus notwendigen Voraussetzungen, zu denen die Einrichtung von Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit und Fremdenverkehrsbüros sowie ein differenziertes städtisches Publikationswesen gehörten.291 Aber auch der Auftritt auf Reisemessen und eine professionelle Tourismuswerbung zählten dazu. Die rasante Entwicklung des Fremdenverkehrs war kein Selbstläufer, sondern wurde durch Stadtimagewerbung und gezielte Maßnahmen städtischer Verkehrs- und Verschönerungsvereine befördert. Die kommunalen Bemühungen wurden somit zu einem konstitutiven Merkmal des modernen Fremdenverkehrs. So sind beispielsweise 75 Prozent aller städtischen Tourismusabteilungen zwischen 1918 und dem Ende der Weimarer Republik gegründet worden.292 Die Stadt Wittenberg kann zu den Vorreitern der touristischen Entwicklung gezählt werden, denn wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs etablierten sich moderne Fremdenverkehrsstrukturen. Allerdings verlief diese Entwicklung recht unkoordiniert und ein durchschlagender Erfolg blieb aus. So entstanden drei Parallelorganisationen – ein städtisches Fremdenverkehrsbüro, ein kirchlicher Verkehrsverein und eine private Initiative des Kaufmanns Mühlpfort – die sich alle die touristische Vermarktung der Stadt 288 Vgl. Knoll, Reisen als Geschäft, 339 ff. 289 Vgl. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. 290 Für einen Zeitraum von drei Jahren mussten 120 Reichsmark an die Reichsbahn gezahlt werden. Vgl. Akte 1659, Stadtarchiv Wittenberg. 291 Vgl. Schott, Zukunft und Geschichte der Stadt, 323. 292 Vgl. Keitz, Reisen als Leitbild, 71.

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Abb. 31 Wittenberger Stand auf der Leipziger Messe 1928

und ihres reformatorischen Erbes auf die Fahnen geschrieben hatten.293 Der Hauptgrund für die Zersplitterung der Wittenberger Fremdenverkehrsaktivitäten ist in der unterschiedlichen Haltung der Wittenberger Oberbürgermeister zu suchen. Der bis Juni 1920 amtierende zweite Bürgermeister Fritz Thelemann stand einem kommunalen Engagement ablehnend gegenüber und begrüßte die privatwirtschaftlichen Unternehmungen des Kaufmanns Mühlpfort mit dem Argument, „eine kaufmännische Hand“ sei „in diesen Angelegenheiten besser als ein Beamter“.294 Mühlpfort versuchte, an Vorkriegstraditionen anzuschließen, indem er neben dem auf eigene Rechnung betriebenen Verkehrsbüro einen Verkehrsverein etablieren wollte, der die touristischen Aktivitäten des 1900 gegründeten Haus- und Grundstücksbesitzervereins wieder aufnehmen sollte.295 Dieser hatte im Jubiläumsjahr 1917

293 Hervorragend dokumentiert in den Akten zu den Verkehrsangelegenheiten, Nr. 1650 – 1664 und 1685, Stadtarchiv Wittenberg. 294 Berichterstattung über Einwohnerversammlung zur Gründung eines Verkehrsvereins, Wittenberger Allgemeine Zeitung, 1. Februar 1920. 295 Im Jahr 1912 war erstmals der Versuch unternommen worden, einen Verkehrsverein zu gründen: „Seine Aufgabe soll darin bestehen, durch passende Reklame den Fremdenbesuch zu fördern und den Fremden durch Geschäftsstellen Rat und Auskunft zu erteilen“, berichtete das Wittenberger Tageblatt am 25. 10. 1912.

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beispielsweise einen Stadtführer publiziert.296 Der ab 1920 amtierende Oberbürgermeister Wurm präferierte im Unterschied zu seinem Amtsvorgänger ein städtisches Verkehrsbüro und sein beständiges Engagement für die touristische Erschließung der Stadt zeigt, dass er im Fremdenverkehr ein wichtiges Handlungsfeld der Kommunalpolitik sah. Mit der Einrichtung einer Städtischen Geschäftsstelle für Werbetätigkeit und Auskunftserteilung im Jahr 1926 war den privatwirtschaftlichen Bemühungen letztendlich kein dauerhafter Erfolg beschieden.297 Parallel hierzu engagierten sich auch kirchliche Akteure. Die drei genannten Akteure handelten aus völlig unterschiedlichen Motivationen heraus, denn in Wittenberg ging die Bedeutung des Fremdenverkehrs stets über den Rahmen rein ökonomischer Beweggründe hinaus. Der Besuch der Stadt war mit einer politischen Botschaft verbunden. So erhoffte die Stadt durch ihr kommunales Engagement für den Luthertourismus eine Kompensation für den nach 1918 erlittenen Aufmerksamkeits- und Bedeutungsverlust. Oberbürgermeister Wurm schrieb deshalb zum Geleit eines Wittenberger Stadtführers, die „vornehme Pflicht der Kommunalverwaltung“ bestünde darin, durch „Einwirkung auf die Verkehrswerbung und die Erschließung eines ergiebigen, lebhaft pulsierenden Reisestromes“ den Kampf um die „Wiedereroberung der deutschen Wirtschafts- und Kulturgeltung“ zu führen.298 Der Geschäftsmann Mühlpfort versuchte hingegen, an der alten gewerblichen Mittelstandspolitik festzuhalten und Rahmenmaßnahmen der öffentlichen Hand zu verhindern,299 denn staatliche und kirchliche Institutionen sollten sich nicht in Belange der freien Wirtschaft einmischen. So formulierte er noch 1933 in einem Schreiben an die Stadtratsfraktion der NSDAP, dies sei aus seiner Sicht „nicht nur unnötig, sondern für eine Kirchenbehörde nicht angebracht. Die Kirchen sollten sich meines Erachtens nur um die ihnen zugewiesenen Aufgaben kümmern.“300 Die kirchlichen Aktivitäten gründeten jedoch nicht vordergründig auf gewerblichen Interessen, sondern auf das seit dem 16. Jahrhundert fest verankerte Bewusstsein der Geistlichkeit, ein „Erinnerungshoheit beanspruchendes und ausübendes Milieu für die Geschichte protestantischer Identität“ zu sein.301 Diesen Anspruch vertraten die evangelischen Geistlichen nun auch auf 296 Vgl. Erfurth, Führer durch die Lutherstadt Wittenberg 1917. 297 Vgl. Antwortschreiben Magistrat Wittenberg auf Anfrage Merseburgs bezüglich Nützlichkeit eines Verkehrsbüros, 22. 2. 1928, Akte 1658, Stadtarchiv Wittenberg. 298 Vorwort des Oberbürgermeisters in: Erfurth, Die Lutherstadt Wittenberg und ihre Umgebung 1927. 299 Das kommunale Eindringen in eine Domäne, die bis dahin von Verkehrs- und Verschönerungsvereinen, Hoteliers, Gastronomen und Kaufleuten beherrscht war, ist keine Wittenberger Besonderheit, sondern charakteristisch für viele deutsche Städte. Vgl. Keitz, Reisen als Leitbild, 77. 300 Schreiben Mühlpfort an Stadtratsfraktion der NSDAP vom 15. März 1933, Akte 1664, Stadtarchiv Wittenberg. 301 Sandl, Protestantische Identität und Erinnerung, 16.

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dem für alle Beteiligten neuen Gebiet des Fremdenverkehrs. Der Tourismus verhieß ihnen im Rahmen der institutionalisierten Mnemotechnik einen Innovationsschub, denn lebendige Erinnerung ist nie rein kognitiv-intellektuell bestimmt, sondern hat auch eine affektive Dimension, die mittels althergebrachter Formen – Gottesdienst, Konfirmandenstunde, Gemeindeversammlung – immer weniger bedient werden konnte. Folglich warben die Pfarrer für einen evangelischen Pilgertourismus nach Wittenberg, der stark von der berufsständischen Krisenmentalität des von Karl-Wilhelm Dahm beschriebenen Pastorennationalismus geprägt war.302 Der ab 1926 für den Kirchlichen Verkehrsverein verantwortliche Pfarrer Geibel argumentierte, dass „gerade nach dem Umsturz in allen Schichten des evangelischen Volkes ein starkes Verlangen erwacht“ sei, „sich auch die äußeren Schauplätze der Reformation zu verdeutlichen.“303 Stadtkirchengemeinde und Predigerseminar als Hüter aller zentralen Wittenberger Gedenkorte der Reformation sahen sich hier in einer besonderen Pflicht, welche sie vor allem durch ihr verbalkommunikatives Vermittlungs- und Darstellungsmonopol zu erfüllen versuchten. Gruppenführungen durch das Lutherhaus oder die Schlosskirche wurden stets von Kirchenmitarbeitern oder freiwilligen Helfern des kirchlichen Verkehrsvereins durchgeführt.304 Aber auch an touristischen Publikationen waren Kirchenvertreter beteiligt. Superintendent Friedrich Orthmann hatte im Jubiläumsjahr 1917 einen Stadtführer verfasst, der 1925 eine zweite Auflage erfuhr.305 Und der Magdeburger Generalsuperintendent bewarb in der Kirchenpresse einen Wittenberg-Bildband als pädagogisch wertvoll, weil dieser aus dem „Durcheinander von Zahlen und Daten“ der Reformationsgeschichte ein „persönliches Erlebnis“ machen würde.306 Nach dem vorläufigen Ausscheiden des Kaufmanns Mühlpfort in der Inflationszeit setzten die Fremdenverkehrsabteilung der Stadt und der kirchliche Verkehrsverein in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auf Arbeitsteilung und Kooperation.307 Während Letzterer sich vor allem um die Kirchenge302 Vgl. Dahm, Pfarrer und Politik. 303 Geibel, Die Wittenbergfahrer, 23. 304 Dies galt auch für Gruppen, die keinen dezidiert kirchlichen Hintergrund hatten. Ein Besuchsankündigungsschreiben der Deutschen Buchhändler-Lehranstalt Leipzig belegt, dass man sich für den alljährlichen Besuch Wittenbergs mit rund 80 Teilnehmern an Pfarrer Sievers vom Kirchlichen Verkehrsverein mit Bitte um Führung durch das Lutherhaus wandte. Siehe Schreiben Deutsche Buchhändler-Lehranstalt an Lutherhaus, 25. Oktober 1929, in: Akte 4, Archiv StLu. 305 Vgl. Orthmann, Wittenberg in Wort und Bild. 306 Buchbesprechung „Lutherstadt Wittenberg“, in: Provinzialkirche, Monatsblatt für die Vertreter der Kirchengemeinden der Provinz Sachsen, Nr. 3, 15. März 1927. 307 1921 hat Mühlpfort bereits den Vorsitz des Verkehrsvereins an den Buchdruckereibesitzer Adolf Tietze abgeben müssen, in der Inflationszeit dann sein Verkehrsbüro aufgegeben, um zunächst als Angestellter der Firma EDEKA, ab 1925 dann als Konkursverwalter tätig zu sein. Nach 1933 war er wieder auf eigene Rechnung mit einem Ladengeschäft aktiv. Vgl. Mitteilung an die Mitglieder vom Mai 1921, Akte 3548, Stadtarchiv Wittenberg; Brief Mühlpfort an Stadtratsfraktion der NSDAP vom 15. März 1933, Akte 1664, Stadtarchiv Wittenberg.

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meinden, Chöre und weitere konfessionell gebundene Gruppen kümmerte, erschloss die Stadt neue Besuchergruppen. Durch Auftritte auf Tourismusmessen, Werbung in Printmedien, öffentliche Hinweistafeln und Radiobeiträge versuchten die Kommunalpolitiker, Automobilisten für einen Sonntagsausflug in die Lutherstadt zu gewinnen. Gern griff die Fremdenverkehrswerbung hierfür auf das Zitat des ehemaligen amerikanischen Botschafters Andrew Dickson White in Berlin zurück: Den größten Genuss verschafften mir die Besuche solcher Orte, die sich durch irgend eine Denkwürdigkeit eine bleibende Stätte in der Geschichte gesichert hatten. Das Studium der Geschichte Deutschlands, dem ich in früheren Jahren eifrig obgelegen, hat diesen Sinn in mir geweckt. Berlin am Sonnabend abends zu verlassen und den Sonntag in einem dieser Städtchen zuzubringen, war ein herrliches Vergnügen.308

In einer Presseveröffentlichung des Jahres 1928 heißt es: „Infolge der Nähe zu den Großstädten bereitet Wittenberg für einen Sonntagsausflug die denkbar günstigste Gelegenheit zu genussreichen Stunden an geweihter Stätte.“309 Die Verknüpfung von tradierten und modernen konstitutiven Elementen des Wittenberger Fremdenverkehrs – der Sonntagsausflug als modernes touristisches Erlebnis und der sakral aufgeladene Besuch einer geweihten Stätte – wird auch an anderer Stelle deutlich. Da touristische Orte nicht einfach existieren, sondern geschaffen werden, setzten die Verantwortlichen 1928 mit Wittenberg im Lichterglanz ganz neue Akzente: Mit Scheinwerfern wurden in der Adventszeit die Sehenswürdigkeiten der Stadt illuminiert, außerdem der erste öffentliche Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz aufgestellt und Schaufenster beleuchtet.310 Die Anregung zu dem Unternehmen kam von Oberbürgermeister Wurm, der bei seinem Eisenachbesuch von der nächtlich angestrahlten Wartburg begeistert war. Als weiteres Vorbild mag auch die ,Lutherkonkurrenz‘ in Erfurt gedient haben, wo 1927 das Bautenensemble des Doms und der Severikirche probeweise elektrisch erleuchtet worden war, um den historischen Ort öffentlichkeitswirksam zu kennzeichnen und dadurch 308 Das Zitat ist der Autobiographie Whites entnommen und wurde von Kommunalpolitikern zum Zweck der Fremdenverkehrswerbung in den 1920er Jahren mehrfach genutzt, um Sonntagsausflügler für einen Besuch der Lutherstadt zu gewinnen. Der Wortlaut wurde geringfügig verändert, aus „Städtchen“ wurde beispielsweise „Stätte“. Vgl. White, Aus meinem Diplomatenleben, 104; Das Zitat wird beispielsweise in einer Rundfunkansprache des Oberbürgermeisters verwendet. Vgl. „Die Lutherstadt Wittenberg. Rundfunkvortrag auf der Deutschen Welle gehalten am Bußtag 1927 von Oberbürgermeister Wurm“, Text als Broschüre herausgegeben von der Stadtverwaltung Wittenberg. 309 Anzeige im Deutschen Reichsadressbuch 1928, Akte 1651, Stadtarchiv Wittenberg. 310 In der zweiten Hälfte der 20er Jahre lockten zunächst Großstädte Besucher mit Lichtwochen. Den Anfang machte Frankfurt am Main mit der Aktion „Der Main leuchtet“, die deutsche Hauptstadt folgte mit „Berlin im Licht“ und Hamburg präsentiere sich als Hansestadt „im Weihnachtslicht“. Wittenberg ist die erste mittelgroße Stadt im Reich, die auf diese moderne Fremdenverkehrswerbung setzte. Vgl. Keitz, Reisen als Leitbild, 102 f; Für die lokalen Planungen: Akte 1652, Stadtarchiv Wittenberg.

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einen markanten Anziehungspunkt für den Fremdenverkehr zu schaffen.311 Die gesteigerte Anziehungskraft des illuminierten städtischen Raumes hatte allerdings mehr mit der magischen Wirkung des Lichtes als mit dem künstlich sichtbar gemachten Objekt zu tun.

Abb. 32 Wittenberg im Lichterglanz

Auch wenn die Wittenberger Lichtwoche keinen direkten Bezugspunkt zum reformatorischen Erbe der Stadt hatte und als ein vom Luthertourismus völlig losgelöster Versuch der Fremdenverkehrswerbung gesehen werden muss, bemühten sich die Organisatoren um den Brückenschlag zwischen Tradition und Moderne: „Und nun, du altes Wittenberg, das bereits vor mehr als 400 Jahren der Welt hellen Schein gab, das auch jetzt wieder gezeigt hat, wie sehr es bestrebt ist, vorwärts zu schreiten,“312 hieß es in einer Presseveröffentlichung anlässlich des Ereignisses. Es wurde außerdem darauf hingewiesen, dass die erste Straßenbeleuchtung der Stadt anlässlich des Universitätsjubiläums 1802 installiert worden war. Bewusst griff man auf ein altes Deutungsmuster zurück: Mittels Hell-Dunkel-Metaphorik wurde in den ersten nachreformatorischen Jahrhunderten in der heilsgeschichtlichen Deutung der Reformationsgeschichte das Licht des Evangeliums der päpstlichen Finsternis entge311 Vgl. Escherich, Städtische Selbstbilder, 208. 312 Artikel „Wittenberg im Lichterglanz“, in: Wittenberger Zeitung, 10. Dezember 1928.

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gengehalten.313 Wittenberg präsentierte sich als „Ort des neuen Lichts nach einer Phase des verdunkelten Glaubens“.314

4.2 Protestantische Pilger? Die Wallfahrt nach Wittenberg Die enge Verbindung von Pilgerwesen und Ablasshandel hatte Wallfahrten für die Reformatoren problematisch gemacht. Die reformatorische Kernbotschaft der Rechtfertigung durch den Glauben allein schließt den Gedanken aus, der Gnade Gottes durch eigene Leistungen ,nachzuhelfen‘. Luther hatte auf seiner ,Dienstreise nach Rom‘ selbst Erfahrungen als christlicher Pilger gesammelt und äußerte sich später mehrfach negativ über das Pilgerwesen. Im Protestantismus spielten Wallfahrten deshalb lange Zeit keine Rolle; sie wurden vielfach als katholisch oder sogar widergöttlich abgetan. Erst im 20. Jahrhundert kam es zu einer Wiederbelebung der Pilgeridee im Protestantismus, der durch die massentouristische Erschließung der Stätten der Reformationsgeschichte, aber auch die Entstehung der Evangelischen Kirchentage der Weg geebnet wurde. Die vom Katholizismus losgelöste Vorstellung einer Wallfahrt war bereits im Zusammenhang mit den Nationaldenkmälern im 19. Jahrhundert weit verbreitet.315 Sie erfuhr in den 1920er Jahren in Wittenberg eine konfessionelle Ausprägung, denn mit dem Aufkommen des Massentourismus entwickelte sich für viele evangelische Christen die Reise zu den Stätten der Reformation zu einer modernen Form der Pilgerreise. Wittenberg sollte, „wie dem gläubigen Muselmanen die Prophetenstadt Mekka, jedem Protestanten, dem seine Stellung zur Kirche nicht Schall und Rauch ist, ein Ziel der Herzenssehnsucht“316 sein, denn es gehöre „zu den wahrhaftigen Pilgerstätten der Menschheit“.317 So etablierte sich nach dem Ersten Weltkrieg ein Pilgertourismus nach festem Muster, der als „Wallfahrt nach Wittenberg“ bezeichnet wurde und vor allem Kirchengemeinden, aber auch Gruppen freier kirchlicher Verbände wie der Frauenhilfe oder dem Männerwerk, in Sonderzügen Sonntag für Sonntag in die Lutherstadt führte. Die in den 1920er Jahren populär werdende Wittenbergfahrt unterschied 313 Der Hell-Dunkel-Topos in der Reformationserinnerung wird beispielsweise durch verschiedene polemische Flugblätter verdeutlicht: „Luther, ein Liecht an duncklen Orten“ (Leipzig 1617), „Eigentliche Abbildung des Leuchters wahre Religion“ (1617), „Luther, die Leuchte des Evangeliums haltend“ (Augsburg 1717), „Papst und Teufel versuchen vergebens, das Licht des Evangeliums auszublasen“ (1730), „Luther zieht die Bibel aus dem Dunkel hervor“ (1730) Vgl. Scharfe, Evangelische Andachtsbilder, 184. 314 Vgl. Rhein, Luther – Ein Genius Loci, 22. 315 Vgl. Träger, Der Weg nach Walhalla, 219. 316 Artikel „Wittenberg und unsere Zeit. Ein Tagebuchblatt von Dr. Erdmann Müller“, in: Unterhaltungsblatt des Reichsboten Berlin, Nr. 141, 18. September 1919, 562. 317 Knolle, Invocavitfeier Wittenberg, 66.

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sich jedoch grundsätzlich von der altgläubigen Pilgerpraxis: Der Protestantismus ist auf Verinnerlichung angelegt und kultiviert kein tendenziell magisches Weltverständnis, das dem sinnlichen Kontakt zu den ,heiligen Dingen‘ eine spirituelle Kraft zurechnet. Dennoch war vor allem den Lutheranern eine Vergewisserung mittels äußerer Zeichen nie fremd. Auf dem Weg der Veranschaulichung sowie des persönlichen Erlebens unternahm der evangelische Pilger den Versuch, sich „Zugänge zu Person und Werk Luthers zu erschließen, die durch eine rein intellektuelle Wissensvermittlung verborgen bleiben.“318 „Möge ihm unsere Lutherstadt, der symbolische Ort des Protestantismus, zu einem kostbaren Tag inneren Besinnens und Erlebens verhelfen“,319 fasst der Schlusssatz eines touristischen Prospekts beide Aspekte zusammen. Protestantische Frömmigkeit basiert demnach nicht auf dem Glauben an heilige Gegenstände oder Orte. Der erlebnisgestützte sinnliche Zugang ist zwar ein zentraler Bestandteil, dennoch bleibt sie das Ergebnis bildungsbürgerlicher Prägung. Die Betonung des Aspektes der Bildung und die Negierung jeglichen Heiligenkultes unterscheidet den evangelischen Wallfahrer deshalb vom katholischen Pilger, wie Karl Dunkmann, 1907 bis 1911 verantwortlich für das Lutherhaus, treffend beschrieb: „Das dann folgende Zimmer ist ausgestattet mit Reliquien von Luther, nicht solchen, die wir abergläubisch verehren, aber solchen, die uns in seine Zeit zurückversetzen und seine Person näher bringen.“320 Obwohl die Akteure sich der behaupteten Kompatibilität von protestantischem Streben nach Vergeistigung und Verinnerlichung einerseits, räumlicher Unmittelbarkeit und materieller Anteilnahme anderseits stets versicherten, schwang in ihren Ausführungen die Angst vor einem katholischen Heiligenkult oft mit. Luthers „mirakulös bereicherte“ Lebensgeschichte und -Legende liefert hierfür den Grund: „Die Pestkranken stecken ihn nicht an, der Blitz kann ihm nichts anhaben […] Auch das Attribut, das ihn stets bezeichnet (der Schwan), scheint ihn dem ikonologischen Gesetz der Heiligenbilder zu unterwerfen.“ Hinzu kommt „die den Lutherbildern angehängte mirakulöse Qualität der Unverbrennbarkeit.“321 Der Autor der 1892 anlässlich der Schlosskircheneinweihung erschienenen Festschrift sieht sich deshalb gezwungen zu betonen, „dass die evangelische Kirche weit davon entfernt [sei], aus einem Menschen einen Heiligen zu machen.“322 Die in der Wittenberger Wallfahrtsterminologie oft beschworene Heiligkeit sollte nicht auf einem religiösen, sondern einem geschichtlichen Festerlebnis Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 266. Prospekt „Lutherstadt Wittenberg“ [ohne Datum, 1930er Jahre] Dunkmann, Das Lutherhaus in Wittenberg. Scharfe, Über die Religion, 130 f; Scharfe sieht bei allen Parallelen jedoch ein wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen dem katholischen Heiligenkult sowie der protestantischen Lutherverehrung. Letztere habe nie dazu geführt, dass Luther in die Rolle des Mittlers zwischen den Gläubigen und Gott getreten sei und sie bei diesem Fürbitte einlegen sollen. 322 Witte, Die Erneuerung der Wittenberger Schlosskirche, 95. 318 319 320 321

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gründen. Zu erwarten war keine direkte, wundertätig-spirituelle Wirksamkeit des ,heiligen‘ Ortes, aber der Besuch der Wirkungsstätte Luthers sollte dennoch einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Bereits die Inschrift der in Jena aufbewahrten Grabplatte des Reformators weist auf die Besonderheit eines evangelischen Denkmals hin: „Non cultus sed memoria causa.“ Auf Wittenberg bezogen fasste ein Berliner Journalist das Ansinnen folgendermaßen zusammen: Denkmäler gibt es in dieser Stadt, die andeuten, dass man fromm und dankbar sein, aber nicht heilig sprechen wolle. […] Hier ist auch keine Bank, die zum Knien und Ruhen von der Wallfahrt Anlass gibt. Hier versteht nur derjenige Luther, der ihn begreift als den wahrheitssuchenden Menschen.323

Charakteristisch für den Wittenberger Fremdenverkehr der 1920er Jahre war nicht der individuelle Besuch der Lutherstätten, sondern der kollektiv durchgeführte konfessionelle Erbauungsbesuch großer Kirchengruppen. Die Besuchergruppen waren überzeugt davon, dass ein die soziale Identität förderndes Narrativ dauerhafter ist, wenn diese Erzählung über die Vergangenheit mit einem bestimmten Ort verbunden wird, der ,erlebt‘ werden kann. Als konkreter Schauplatz wurde der Erinnerungsort Wittenberg zu einer Stätte, an der die Gruppe ihre Vergangenheit kennen lernte und ihre kollektive Identität ,inszenierte‘. Auf diese Weise entwickelte sich die ,Wallfahrt nach Wittenberg‘ zu einer historisch konsolidierten konfessionellen Sozialisierung.324 Organisatorisch gelenkt und inhaltlich ausgestaltet wurde der frühmoderne Gruppentourismus von einer Geistlichkeit, die als ,Hüter der Tradition‘ die Erinnerungshoheit für die Geschichte protestantischer Identität beanspruchte.325 Geistliche erscheinen hier auch deshalb als besondere Erinnerungsspezialisten, weil Gedenken eine theologische und religiöse Grundkategorie sowie eine elementare Handlung des Glaubens darstellt. Indem sich die Pfarrer in ihrem Amt auf die fundierenden Erzählungen der eigenen Konfessionsgeschichte beziehen und diese zusammen mit ihrer Gemeinde vergegenwärtigen, dienen sie der lebendigen Pflege des kulturellen Gedächtnisses und verleihen diesen Erzählungen eine normative und formative Kraft.326 Hier offenbart sich die spezifische Korrelation von Erinnerungsarbeit und Identitätsbildung, die von ihnen durch den konfessionellen Erbauungsbesuch Wittenbergs hergestellt wurde. In Wittenberg standen auf der Anbieterseite die Akteure des kirchlichen Verkehrsvereins, auf der Nachfrageseite Pfarrer, Kantoren und Älteste der besuchenden Gemeinden, die in wechselseitiger Abstimmung ein festgelegtes Besuchsprogramm organisierten. 323 Artikel „Luthers Stadt gestern und heute“, Berliner Tageblatt, 12. 09. 1933. 324 Petermann untersucht diese Kollektivsozialisation anhand der Erinnerungsstätten des Ersten Weltkriegs. Petermann, Rituale machen Räume, 60. 325 Vgl. Sandl, Protestantische Identität, 16. 326 Vgl. Arens, Anamnetische Praxis; Cancik/Mohr, Erinnerung/Gedächtnis.

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Vor allem die Mitwirkung der Stadtkirchengemeinde an der touristischen Entwicklung Wittenbergs, die durch eigenständig herausgegebene Werbeschriften, Direktkontakte zu Kirchengemeinden und weitere Maßnahmen des Kirchlichen Verkehrsvereins charakterisiert ist, resultierte in einem relativ starren Besuchskanon: Meist treffen die Wittenbergfahrer in Sonderzügen von 500 bis über 2000 Teilnehmern vom Frühjahr bis in den Herbst hinein fast allsonntäglich gegen 8 Uhr auf dem Bahnhof ein. […] Nachdem sie sich vor dem Empfangsgebäude geordnet haben, ziehen sie – sehr oft von den eigenen Posaunenchören begleitet – in wenigen Minuten zwischen den Bahndämmen entlang durch die Unterführung.327 (Fehling, 1928)

Die Begrüßung der Besuchergruppen erfolgte an der Luthereiche oder auf dem Hof des Lutherhauses, an die sich der Gottesdienstbesuch in der Schlosskirche anschloss, oft verbunden mit einer Kranzniederlegung auf dem Luthergrab. Nach dem gemeinschaftlichen Kirchgang folgte eine kurze Führung durch das Lutherhaus, Zeit für das Mittagessen und ein bis zwei Stunden Freizeit am frühen Nachmittag, die zu einem Spaziergang durch den die Altstadt umfassenden Grüngürtel genutzt wurden. „Ein gemeinsames Lied und ein kurzer Abschiedsgruß in dem dämmrigen Raum der Kirche oder auf dem Markt vor dem alten Rathaus geben den weihevollen Schluss.“328 Dieses stereotype Besuchsprogramm329 entsprach ganz den Forderungen des kirchlichen Verkehrsvereins, der darum bemüht war, den touristischen Wittenbergbesuch vom „Niveau des Vergnügungsunternehmens auf die Höhe der religiös-kirchlichen Feier zu erheben“.330 Momente der klassischen Bildungsreise wurden zu diesem Zweck mit spirituellen Elementen der Wallfahrt verknüpft, um das Vorbild Luther mit Leib und Sinnen erfassen zu können und sich auf einer anderen Ebene als rein gedanklich mit ihm zu beschäftigen. „Nicht der Propheten Gräber zu schmücken oder zu ihnen zu wallfahren, ist die Aufgabe der Erben der Reformation nach vier Jahrhunderten, sondern den Geist der Propheten lebendig fortwirken zu lassen in Gegenwart und Zu327 Fehling, Die Wittenbergfahrer, 29. 328 Geibel, Wittenbergfahrer, 23. 329 Die Kirchgemeinde Radebeul hat im April 1928 die Lutherstadt mit 800 Teilnehmern besucht und einen kleinen Bericht publiziert, der den Ausflug anschaulich beschreibt. Er kann als exemplarisch für alle ,Wallfahrten nach Wittenberg‘ gelten. Siehe: Schmidt, Wittenbergfahrt der Kirchgemeinde Radebeul; Ein weiteres Beispiel ist die Wittenberg-Fahrt der Gemeinde Coswig bei Dresden mit 700 Teilnehmern im September 1927, über die die Lokalpresse ausführlich berichtet. Siehe: Wittenberger Tageblatt vom 9. September 1927; In der darauf folgenden Woche berichtet die Lokalpresse, die Kirchengemeinde Wolfen habe mit 150 Teilnehmern „in üblicher Weise“ die Wittenberger Lutherstätten besichtigt. Siehe Wittenberger Tageblatt vom 16. September 1927. 330 Geibel, Wittenbergfahrer, 23.

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kunft“,331 beschrieb der Superintendent die Aufgabe des kirchlichen Wittenbergtourismus. Auf dem Höhepunkt der evangelischen Wallfahrtsbewegung kamen jährlich etwa 30.000 Gruppentouristen, die mit Hilfe und Unterstützung des Kirchlichen Verkehrsvereins die Lutherstätten besuchten.332 Dessen Vorsitzender, der langjährige Superintendent Maximilian Meichßner, wies in einem Schreiben auf die intensive Werbetätigkeit hin: „Ich habe im vorigen Jahre alleine 1500 Werbeschriften versandt. Ferner organisiere ich die Führungen durch die Lutherhalle (an manchen Sonntagen stelle ich allein für die Lutherhalle 7 Führer).“333 Die Wirkungsstätte Luthers ist dadurch zu einem Massenanziehungspunkt kirchlich gebundener Kreise, zu einer Pilgerstätte des deutschen Luthertums geworden, sodass der Direktor der Lutherhalle 1933 verkünden konnte: Eins aber scheint mir, sollte im Leben nicht nur eines jeden Pfarrers und Gemeindeältesten, sondern eines jeden evangelischen Deutschen und Christen überhaupt nicht fehlen: Dass er an einem Tage seines Lebens an den entscheidungsreichen Stätten der Lutherstadt Wittenberg weilte.334

Das Besuchsprogramm ließ kaum Spielräume für individuelle Ausgestaltung zu. Der kollektive Besuch der Lutherstätten sollte vielmehr als gemeinschaftsstiftendes Erlebnis erfahren werden, um dem Zurücktreten der Gemeinschaftsdimension des neuzeitlichen protestantischen Glaubens etwas entgegenzusetzen. Gemeinschaft wurde durch die „Wallfahrt nach Wittenberg“ innerhalb der Gruppe konstituiert, denn durch das kollektiv erfahrene Erlebnis erhöhten sich das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Reisegruppe sowie die Verbundenheit mit der eigenen Kirchengemeinde. Die Erinnerung an das Gemeinschaftsunternehmen verband die Teilnehmer über Jahre hinaus,335 denn das Erlebnis konstituierte die Erinnerung, indem es für die Betreffenden eine bleibende Bedeutung erzeugte: Wittenberg „wird Erinnerungsstätte bleiben allen für die Tiefe deutsch-christlicher Geistesart empfänglichen Gemütern“,336 resümierte der Wittenberger Superintendent 331 Orthmann, Wittenberg in Wort und Bild, 81. 332 Diese Zahl wird für das Jahr 1926 angegeben. Bis 1929 blieben die Besucherzahlen relativ stabil, ab 1930 sanken sie rapide. Vgl. Erfurth, Die Lutherstadt Wittenberg 1927, 8. 333 Brief Meichßner an das Evangelische Konsistorium der Provinz Sachsen, 11. 12. 1928, zitiert in: Laube, Lutherhaus Wittenberg, 276. 334 „Die Lutherhalle Wittenberg“, Druckblatt verfasst von Oskar Thulin anlässlich des Jubiläums 1933, in: Akte 3748 Stadtarchiv Wittenberg. 335 Leider liegen keine Angaben über die soziale Herkunft der Teilnehmer einer ,Wallfahrt nach Wittenberg‘ vor. Aus den hohen Teilnehmerzahlen ist jedoch zu schließen, dass alle sozialen Schichten in die touristische Unternehmung eingebunden waren. Das bürgerliche Privileg des Reisens begann, sich zugunsten eines Massentourismus aufzulösen. Die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinde bildete hier die Klammer, welche die Gruppe zusammenhielt. 336 Orthmann, Luther und Wittenberg, 58.

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Friedrich Orthmann. Verbundenheit stellte sich aber auch über den Rahmen der Heimatgemeinde hinaus ein. Der gemeinschaftliche Besuch der Wiege der Reformation steigerte die Kollektividentität lutherischer Christen, untermauerte die Abgrenzung nach außen und stärkte die Binnenhomogenität der Konfessionsgemeinschaft.

4.3 Pathos der Erklärung und Verkündung Viel Zeit blieb den Besuchern Wittenbergs nicht. Die kurze Skizzierung des stereotypen Besuchsprogramms der Wittenberg-Wallfahrer zeigt, dass diese nur wenige Stunden in der Wiege der Reformation verweilten. Aber auch Einzelbesuchern war Wittenberg meist nur ein Tagesausflug aus einer der benachbarten Großstädte wert. Da wesentliche Fragen der touristischen Infrastruktur bis in die 1920er Jahre hinein ungeklärt geblieben waren, stießen sie oft auf unüberwindbare Schwierigkeiten. Während Wittenberg sich auf angekündigte Besuchergruppen in aller Regel vorbereitet hatte und diese die zur Verfügung stehende Aufenthaltszeit im Rahmen des im Vorfeld festgelegten Besichtigungs- und Erlebnisprogramms gut ausnutzen konnten, stand der Individualtourist oft vor verschlossenen Türen: Da die Öffnungszeiten der Schlosskirche von den Angaben der Baedecker-Ausgabe von 1908 abweichen, habe er 1922 und 1926 vor verschlossenen Türen gestanden und wolle nun nicht noch einmal nach Wittenberg kommen, schreibt beispielsweise ein Besucher in einem Beschwerdebrief.337 Die lokalen Entscheidungsträger waren sich des Problems durchaus bewusst. In einer Sitzung des Vorstands des Lutherhallenbeirats am 3. Oktober 1926 forderte Oberbürgermeister Wurm deshalb, Führungen durch die Sammlungen auch in der Mittagszeit anzubieten, da die Besucher sich nur einen Tag in der Lutherstadt aufhielten.338 Die Forderung Wurms indiziert, dass eine wirklich individuelle Besichtigung der Lutherstätten Wittenbergs auch in den Jahren nach 1918 nicht der Regelfall war. Zwar hatte die Wittenberger Allgemeine Zeitung 1916 berichtet, dass im Zuge der Erweiterung der Ausstellung die Führung durch die Sammlungen des Lutherhauses aufhörte. An dessen Stelle sei ein gedruckter, zwölfseitiger Führer getreten.339 Aber auch nach 1916 bekam wohl die Mehrheit der Besucher sowohl die Schlosskirche als auch das Lutherhaus mittels Führung gezeigt, denn es gab „niemand, der diese Sammlung auf einem ein337 Akte 36, Bl. 54, Archiv Predigerseminar. 338 Protokoll der Vorstandssitzung des Lutherhallenbeirats, 03. 10. 1926, in: Akte 42, Archiv Predigerseminar Wittenberg. – Der Vorschlag wurde zunächst nicht umgesetzt. Ein 1928 gedruckter Führer gibt eine zweistündige Mittagspause an, erst ein 1938 erschienener Führer weist für die Lutherhalle im Sommerhalbjahr von 9 bis 18 Uhr durchgehende Öffnungszeiten aus. Vgl. Woerl Reisehandbücher 1928, 11; Führer durch die Lutherstadt Wittenberg 1938, 17. 339 Berichterstattung über die erweiterte Ausstellung in: Wittenberger Allgemeine Zeitung, 18. Juli 1916.

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zigen Rundgang zu überschauen oder gar zu erfassen vermöchte.“340 Angesichts der Fülle des gezeigten Materials und der mangelnden museumspädagogischen Aufbereitung im Lutherhaus sowie einer Darstellungspraxis der Reformationsgeschichte in der Schlosskirche, die auf szenische Vermittlung weitgehend verzichtete, bestand ein enormer Erklärungsbedarf, der nur durch eine Führung oder zumindest einen gedruckten Führer abgedeckt werden konnte. Über rein pragmatische Aspekte hinaus haftet der Partizipationsstruktur des Evangelischen aber auch das Pathos der Erklärung und Verkündung an, was das zähe Festhalten an gewohnten Vermittlungsformen erklärt. Verantwortlich für die Führungen in der Schlosskirche waren deren Küster, seine Frau und bisweilen ein Schlosskirchendiener. Küster Lehmann übte bis in die 1930er Jahre hinein auch das Amt des Sammlungsaufsehers im Lutherhaus aus.341 Das Evangelische Predigerseminar als verantwortliche Institution für beide Einrichtungen beteiligte sein Personal an den Eintrittsgeldern und Führungsgebühren, weshalb dieses an möglichst vielen geführten Gästen interessiert war.342 Wiederholt ist es auch zur Unterschlagung von Eintrittsgeldern seitens des Schlosskirchenküsters gekommen.343 Im Melanchthonhaus war der dort wohnende Lehrer der Lutherschule für die Führungen verantwortlich,344 außerdem übernahmen ab Mitte der 1920er Jahre die freiwilligen Helfer des Kirchlichen Verkehrsvereins Führungen in der Stadt und im Lutherhaus. Diese wurden ab 1932 für diese Tätigkeit vom Direktor der Lutherhalle weitergebildet.345 Nicht bei allen Besuchern stieß die offerierte Erklärung jedoch auf Gegenliebe. So beschwerte sich der Berliner Polizeipräsident nach einem Wittenberg-Ausflug am Karfreitag 1915: „Meine Absicht, mich dort einer der Bedeutung des Tages entsprechenden Stimmung hinzugeben, wurde durch das belästigende Angebot des Küsters oder dergleichen, mich zu führen, zu340 Grundmann, Wanderungen durch die Lutherstadt, Vorwort. 341 Von den Führungen war der Sammlungsaufseher nach der Erweiterung der Ausstellung 1912 zwar befreit worden, hatte aber als Sammlungsaufseher weiterhin Interessierten die Schränke zu öffnen, Mappen vorzulegen und mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Vgl. Geänderte Geschäftsordnung, Punkt VIII, von Gersdorff, 22. 06. 1912, Aktenbestand StLu. 342 Eine Abrechnung für das Jahr 1934 weist 3.771 RM Eintrittsgelder für die Schlosskirche aus. Hiervon wurden 1.800 RM Jahresgehalt für den Küster sowie weitere 1.000 RM für dessen Beteiligung an den Eintrittsgeldern aufgewandt. Vgl. Schreiben des Predigerseminars an den Provinzialkonservator vom 13. 10. 1935, in: Akte Schlosskirche, Archiv Landesamt für Denkmalpflege Halle; Siehe auch: Dienstanweisung Küster Schlosskirche, Akte 36, Bl. 60 und 61; Dienstanweisung Sammlungsaufseher Lutherhalle, in: Akte 44, Archiv Predigerseminar. 343 Vgl. Schriftliches Schuldeingeständnis und Bereitschaft zur Zahlung einer Strafe seitens Schlosskirchenküster, in: Akte 33, Verrechnung von Eintrittsgeldern, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 344 In einem 1928 erschienenen Führer heißt es: „Das Melanchthonhaus ist sehr sehenswert. Der Führer wohnt im Haus.“ Woerl Reisehandbücher. Wittenberg, 24. 345 Vgl. Bericht über Sitzung des Kirchlichen Verkehrsvereins, Wittenberger Zeitung, 26. 11. 1932.

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nichte gemacht.“346 Der Autor der Kursächsischen Streifzüge beklagte sowohl die „barschen Worte“ der Führerin im Lutherhaus als auch die Zurückweisung des Stadtkirchenküsters, der die nähere Betrachtung des Cranachaltars verbot, „damit nicht der Teppich beschmutzt werde.“347 Und Cornelius Gurlitt gelang es im Lutherhaus „nicht ohne Kampf, die beredte Führerin, welche im Tonfall des Eingelernten die Sehenswürdigkeiten erklären wollte, zum Schweigen zu bringen.“348 Auch für den Zeitraum der 1920er Jahre lassen sich im Archiv des Evangelischen Predigerseminars viele Beschwerdebriefe finden, in denen Besucher ihren Protest gegen eine aufgezwungene Führung oder eine unwürdige Darstellung artikulierten. So schrieb ein Besucher im Jahr 1929 an den Oberbürgermeister, es wäre ihm darauf angekommen, „in ihrer Stadt die schönen Eindrücke durch systematische Besichtigungen der historischen Städten zu vertiefen.“ Während er die „sorgfältige Darstellung, nicht ohne Pointen“ des Stadtkirchenführers lobt, fällt sein Urteil über die Erklärungen des Küsters der Schlosskirche jedoch vernichtend aus.349 Die Führungen und Erklärungen richteten sich vor allem an ein gebildetes Publikum, denn Reisen galten bis weit in das 20. Jahrhundert als bürgerliches Privileg. Der für den kirchlichen Verkehrsverein verantwortliche Pfarrer Geibel hatte zwar von „allen Schichten des evangelischen Volkes“350 geschrieben, die nach Wittenberg kommen sollten und der Ortsvorsitzende der Luthergesellschaft Dr. Kliche argumentierte, die in den Kriegsjahren von Julius Jordan erneuerte Ausstellung im Lutherhaus sei „so geordnet und ausgelegt, dass sie auch zu dem einfachen Manne redet.“351 Dennoch fühlten sich vor allem bildungsbürgerliche Kreise angesprochen, wie die Standesangaben im für den Zeitraum 1910 bis 1928 vorliegenden Fremdenbuch der Stadtkirchengemeinde belegen.352 Versteht man Religion „streng formal als ein kulturelles Deutungssystem“,353 werden hier kulturelle Werte sichtbar, die in enger Verbindung mit dem Bürgertum stehen. „Ein Besuch Wittenbergs bringt jedem Gebildeten unvergessliche Eindrücke“,354 brachte eine zeitgenössische Werbebroschüre die Zielgruppenorientierung auf den Punkt. Die Initiatoren bauten auf den dem Kulturprotestantismus innewohnenden „Trieb zur Selbstdarstellung“.355 Nach Pierre Bourdieus kultursoziologischen Ana346 Schreiben an Evangelischen Oberkirchenrat Berlin, weitergeleitet an Predigerseminar, Mai 1915, in: Akte 36, Bl. 51, Archiv Predigerseminar. 347 Otto Eduart Schmidt, Kursächsische Streifzüge, 294. 348 Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 55. 349 Abschrift Brief von Heinrich Wahle an Oberbürgermeister vom 23. 08. 1929, in: Akte 33, Verrechnung von Eintrittsgeldern, Bl. 5 und 7, Archiv Predigerseminar. 350 Geibel, Wittenbergfahrer, 27 f. 351 Wittenbergs Feier der Tat, 76. 352 Vgl. Fremdenbuch der Stadt- und Pfarrkirche Wittenberg 1910 – 1928, Akte II, 193a, Archiv Stadtkirchengemeinde Wittenberg. 353 Wehler, Nationalismus, 32. 354 „Die Heimatkunst“, hg. vom Deutschen Bund für Heimatkunde, Jg. 2, Heft 3, 1920. 355 Preul, Aspekte eines kulturprotestantischen Bildungsbegriffs, 155.

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lysen war Bildung im 19. Jahrhundert auch in den Dienst sozialer Distinktionsstrategien getreten und fungierte als Waffe im Kampf der sozialen Klassen. Bildung und Geschmack dienten als legitime Begründung sozialer Hierarchie.356 In der protestantischen Nationaldenkmallandschaft Lutherstadt Wittenberg objektivierte sich deshalb nicht nur die konfessionelle Gemeinschaft, sondern, bedingt durch ihren Besuch oder ihr Fernbleiben, auch die soziale Ordnung der die Nation bildenden Gesellschaft.357

356 Vgl. Bordieu, Kapital und Bildungskapital. 357 Vgl. Tacke, Denkmal im sozialen Raum, 19.

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III. Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus 1. Die Beschwörung eines Mythos 1.1 Der gegenwärtige Luther – die geistige Linie von Braunau nach Wittenberg Die mit Hilfe von Jahrestagen und Jubiläen praktizierte Kommemoration historischer Ereignisse und Personen kann sich stärker dem Pol der Geschichtlichkeit oder dem des Mythos zuneigen. Dies hängt davon ab, ob die Vergegenwärtigung eines Ereignisses der Vergangenheit eher die Form einer historischen Erinnerung oder einer mythischen Erneuerung annimmt.1 Eine dem Pol des Mythos zugewandte Vergegenwärtigung von Vergangenheit handelt nicht von den Ereignissen selbst, sondern vielmehr von deren Bedeutsamkeit für den weiteren Verlauf der Geschichte. Moderne politische Mythen sind deshalb künstlich und bewusst inszeniert. Sie dienen der Stabilisierung und Legitimierung von Herrschaftsverhältnissen. Vergangenheit verwandelt sich hierdurch in einen Bürgen der Gegenwart, denn im Mythos gibt es keine absolute Zeit.2 Verschiedene Zeitebenen gehen ineinander über, Vergangenheit und Gegenwart werden eins und resultieren im Versuch, Geschichte durch Übergeschichte zu überwinden. Dieser Ausstieg aus dem historischen Zeitmodell führte im NS-Staat zu einer Konjunktur von Mythen, die sich mit überzeitlichen Begriffen wie Blut, Raum oder Rasse verbinden ließ.3 Im Lutherjubiläum 1933 ging es in der Reformationserinnerung um eine mythische Erneuerung, denn der Vollzug der rituellen Würdigung Luthers war darauf ausgerichtet, die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzuheben. Der mythenbezogene Umgang mit der reformationsgeschichtlichen Vergangenheit Wittenbergs entstand zwar nicht erst im Kontext der Ereignisse des Jahres 1933, erfuhr aber mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten eine Zuspitzung.4 Die Würdigung Luthers stand 1933 im Zeichen einer Gleichsetzung von Politik und Religion, Protestantismus und Nationalsozialismus, Neuem Bund und Führerstaat. Hierfür wurde Wittenberg einerseits als Referenzort des Mythos genutzt, andererseits wurde der Mythos zum Zweck der Legitimierung der nationalsozialistischen Machtergreifung 1 2 3 4

Vgl. Aleida Assmann, Jahrestage, 310. Vgl. Münkler, Politische Mythen, 127 f. Vgl. Geyer, Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, 186. Vgl. hierzu allgemein: Hardtwig, Die Krise des Geschichtsbewusstseins.

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auch in der Lutherstadt selbst beschworen: „Hat man sich früher erinnern müssen oder wollen, so ist heute in der Gegenwart die Vergangenheit neu erstanden und zum eigenen Erlebnis geworden. […] Wittenberg ist selbst zur Stätte einer Weltanschauung geworden“,5 resümierte der Berichterstatter der Lokalpresse die Jubiläumsereignisse. Im Mythos gehen aber nicht nur verschiedene Zeitebenen ineinander über, sondern auch Personen können sich verwandeln oder verschiedene Gestalt annehmen.6 Die Presseberichterstattung im Jubiläumsjahr griff die seit der Antike gepflegte Tradition der Doppelbiographie auf und sah in Luther einen als „typologisch zu verstehenden Vorentwurf für Hitler“.7 So suchte die Titelseite der anlässlich des 450. Luthergeburtstags erschienenen Jubiläumsausgabe des Wittenberger Tageblattes „Parallelen zu ziehen zwischen Martin Luther, dem Reformator der Kirche, und dem Volkskanzler Adolf Hitler, dem Reformator des Staates“.8 Der Völkische Beobachter behauptete sogar, „dass Wittenberg und Braunau eine geistige Linie darstellen und das Luther, der Wegbereiter des Deutschtums, in Adolf Hitler seinen Vollender gefunden“9 habe. Der Luther-Mythos wurde unmittelbare Gegenwart und der Reformator ein Kampfgenosse Hitlers, des neuen ,Heilsbringers‘.10 Geschichte sollte über die Zwischenstation des Mythos religiöse Züge annehmen. Die Initiatoren bedienten sich hier einer Grundeigenschaft des Mythos: die überaus große Beständigkeit, die seine Ausbreitung in Raum und Zeit ermöglicht sowie die Unabhängigkeit von lokalen und epochalen Bedingungen.11 Durch die erzählende Wiederholung soll sich der Adressat über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg verbunden fühlen mit den Gestalten des Mythos. Auch in der Lutherstadt deuteten die städtischen Eliten die politischen Ereignisse des Jahres 1933 als Zeitenwende und zogen Parallelen zum Reformator. So äußerte der Superintendent Meichßner in einer die Lutherfeiern 1933 vorbereitenden Besprechung, dass der Geist Luthers in unserer Zeit wieder mächtig geworden sei.12 Und der Direktor des Lutherhauses Thulin wies der Gestalt des Reformators eine politische Aktualität zu und wollte im Museum „zur Erinnerungsstätte die Stätte lebendiger Gegenwartskräfte schaffen.“13 In seiner Antrittsvorlesung an der Universität Halle-Wittenberg hatte er betont, nicht nur an historischer Stätte an vergangenes Geschehen

Berichterstattung über Jubiläumsfeier in Wittenberger Tageblatt vom 20. 09. 1933. Vgl. Schmid, Der Mythos-Begriff, 40 – 42. Bräuer, Die Lutherfestwoche, 449 f. Artikel „450 Jahre Luther“, Titelseite Wittenberger Tageblatt, 09. 09. 1933. Artikel „Protestantentag alljährlich in Wittenberg“, Völkischer Beobachter, 17. 09. 1933. Zu Hitlers pseudoreligiöser Verklärung vgl. Schreiner, Politischer Messianismus; Kershaw, Der Hitler-Mythos, 27 ff. 11 Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, 165. 12 Protokoll Gespräch Jubiläumsvorbereitung, in: Akte 1660, Stadtarchiv Lutherstadt Wittenberg. 13 Protokoll der Lutherhallenvorstandssitzung am 4. Juni 1936, Akte 6, Archiv StLu.

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198 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus erinnern zu wollen, sondern dieses ,gegenwärtig‘ zu machen.14 Er sah im Museum kein bloßes Archiv der Vergangenheit. In einer Presseveröffentlichung zur umgestalteten Lutherhalle heißt es stattdessen, die von Thulin gestaltete Sonderausstellung Der lebendige Luther zum Lutherjubiläum 1933 sei nicht mehr nur auf Zeigen von Erinnerung beschränkt, sondern „ziele darauf ab, gleichsam den Geist der Reformation sichtbar zu machen.“15 Die Aufhebung der Nichtidentität zwischen Vergangenheit und Gegenwart bezweckte auch das anlässlich des Jubiläums auf dem Wittenberger Schlosshof aufgeführte Theaterstück Propheten. Es verließ „das Geisterreich der geschichtlichen Vergangenheit“, um „zu einem starken Aufruf der lebendigen Gegenwart“16 zu werden. In diesem Sinne richteten der NS-Bürgermeister Faber sowie ein Sprecher der evangelischen Kirche, Oberkonsistorialrat Peter, am Eröffnungstag der Lutherfeier 1933 das Wort an die versammelte Stadtjugend und deuteten die nationalsozialistische Machtergreifung als eine Hinwendung des deutschen Volkes zu Gott: „Der Redner schloss mit einem Appell an die Jugend der Lutherstadt, die herrliche Sache des Dritten Reiches voranzutragen, getreu dem Erbe des Reformators.“17 Auch hier wurde der Mythos wieder unmittelbare Gegenwart und der neue nationalsozialistische Staat das tausendjährige Reich der Johannes-Apokalypse. Die Zuhörer sollten sich mit dem grundlegenden Sachverhalt und den gesellschaftlichen Gruppen, für den die mythische Gestalt steht, identifizieren. Zugleich wurde der Zuhörer durch diese Identifikation Teil der Erzählung und erhielt seinen Platz in dem kosmologischen Geschehen, das der beschworene Mythos wiedergab und das seinem Dasein eine neue Bedeutung verlieh.

1.2 Wittenberg als exponierte Bühne eines nationalsozialistischen Luthermythos? Der Verzicht auf mythische Geschichtsbilder als Legitimation der gegenwärtigen Politik hatte sich für die Demokraten der Weimarer Republik als Standortnachteil erwiesen. Im Gegensatz hierzu rekurrierten die Darstellungsformen der Nationalsozialisten auf ein neues Paradigma, das Paradigma einer politischen Religion.18 Zur Legitimation der Machtergreifung Hitlers war der NS-Staat auf die öffentlichkeitswirksame Präsentation und Vermittlung seiner politischen Mythen in vergleichsweise hohem Maße angewiesen. Der protestantische Traditionskanon bot den Nationalsozialisten hierfür im Jahr ihrer Machtergreifung vielfältige Anknüpfungspunkte, um die geschichtslose 14 15 16 17 18

Vgl. Thulin, Das wissenschaftliche Prinzip. Vorankündigung der Sonderausstellung in der Lutherhalle in Wittenberger Zeitung, 4. 4. 1933. Rintelen, Frühling über Deutschland, 10. Artikel „Eröffnung der Luther-Festtage“, in: Magdeburgische Zeitung, 10. 09. 1933. Vgl. Behrenbeck, Gefallenengedenken.

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nationalsozialistische Revolution durch das Aufzeigen der Parallele zur Reformation historisch zu erden. Der Tag von Potsdam in der Garnisonskirche, der das Dritte Reich mit Orgelklängen und protestantischen Chorälen einläuten sollte, sei hier als nur ein herausragendes Beispiel genannt.19 Auch in Wittenberg hätte der Nationalsozialismus auf die reformatorische Vergangenheit rekurrieren können. Ein Beispiel ist das Ereignis der Verbrennung der Bannandrohungsbulle sowie des Kanonischen Rechtes durch Luther vor dem Elstertor im Dezember 1520. Sowohl die Luthereiche als auch die 1909 angebrachte Beschriftung eines Querbalkens in der Tordurchfahrt des Augusteums zum Lutherhaus hielten die Erinnerung daran wach.20 Vielen Wittenbergern wird in den 1930er Jahren auch die Erinnerungsfeier des Jahres 1920 präsent gewesen sein. Während die Bücherverbrennung auf dem Platz gegenüber der Berliner Humboldt-Universität als Re-Inszenierung des Wittenberger Geschehens im Jahr 1520 sowie der Verbrennung des napoleonischen Code civil durch die studentischen Teilnehmer des Wartburgfestes 1821 angelegt war und das aus einer ,Bewegung‘ hervorgegangene Regime die rebellisch-revolutionäre Symbolpolitik des Reformators gezielt inszenierte,21 unterblieb in Wittenberg 1933 jedoch ein symbolisches Autodaf. Einen zweiten möglichen Anknüpfungspunkt stellen Luthers Spätschriften dar, vor allem die1543 erschiene Schrift Von den Juden und ihren Lügen. Der Antijudaismus im Luthertum wurde von den NS-Ideologen oft als Legitimation für ihre auf rassisch-biologischem Antisemitismus beruhende Politik missbraucht. Einer der ersten Nationalsozialisten Wittenbergs, der im Fremdenverkehr der 1920er Jahre aktive Kaufmann Mühlpfort, hatte sich intensiv für einen Ausschluss jüdischer Besucher engagiert und bereits 1921 auf den Giebel seines am Stadteingang gelegenen Verkehrsbüros ein haushohes Hakenkreuz malen lassen, das den vom Bahnhof zu den Lutherstätten strömenden Besuchern sofort ins Auge fallen musste. Der Stadtverwaltung war es erst nach einem Jahr, in Vorbereitung auf die Invocavit-Feier 1922, gelungen, das Hakenkreuz beseitigen zu lassen.22 Mit der Gründung der Wittenberger Ortsgruppe der NSDAP 1925 häuften sich die antisemitischen Ausfälle in der Stadt, erhielten aber vor 1933 keinen breiten Zulauf. Die nationalsozialistische Massenveranstaltung am 4. Mai 1929 mit einem Vortrag des vom Landeskirchenamt Hannover vom Dienst suspendierten NS-Theologen Ludwig Münchmeyer zum Thema Das veruntreute Erbe Dr. Martin Luthers und was würde Luther heute tun? blieb die Ausnahme.23 Einerseits blieben die Nationalsozialisten vor 1933 in Wittenberg kommunalpolitisch insignifikant, andererseits war die jüdische Bevölkerung mit rund 70 Einwohnern im Ver19 20 21 22

Zum ,Tag von Potsdam‘ vgl. Freitag, Nationale Mythen und kirchliches Heil. Hinweis auf Beschriftung in Knolle, Legendäre Lutherworte, 114 – 120. Vgl. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, 320 ff. Vgl. Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, Nr. 6 vom 24. März 1922, 40 und Nr. 9/10 vom 16. Mai 1922, 63 f. 23 Vgl. Presseberichterstattung in der Wittenberger Zeitung vom 3. Mai 1929.

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200 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus hältnis zur Gesamtbevölkerung von 25.000 Bürgern sehr klein.24 Innerhalb der Wittenberger Bürgerschaft war der Antisemitismus kein beherrschendes Thema, was nicht nur der bescheidene Zulauf für die NSDAP, sondern auch die Ablehnung der lokalen Presse, Anzeigen der Nationalsozialisten zu drucken, bezeugt.25 Diese Situation änderte sich erst 1933, als Mühlpfort erneut in Aktion trat und beispielsweise die Verteilung der Schilder „Juden unerwünscht“ an Wittenberger Geschäftsinhaber organisierte.26 Bei allen Bemühungen nationalsozialistischer Luther-Rezeption, soweit sie sich der Wittenberger Öffentlichkeit darstellten, spielten die groben antijüdischen Ausfälle des Reformators zumindest bis 1938 keine prominente Rolle.27 Eine Ausnahme bildet die Gedenkfeier am Todestag des Reformators 1936 in der Stadtkirche zu dem Thema Luther und die Juden, bei der Superintendent Meichßner das Judenbild Luthers reflektierte.28 Das an der Stadtkirche angebrachte Steinrelief, als Judensau bezeichnet, hätte einen lokalen Anknüpfungspunkt an die judenfeindliche Politik des Dritten Reiches geboten, spielte jedoch weder bei den Reformationsfeiern noch in den touristischen Publikationen eine besondere Rolle. Ein 1938 vom städtischen Verkehrsamt herausgegebener umfangreicher Führer widmet dem Sandsteinrelief einen Absatz und beschreibt dessen Aussehen sowie den vermutlichen Ursprung ohne explizite Verbindung zur Ideologie des NS-Staates: Unter dem Dache an der Südostecke befindet sich ein altes Sandsteinrelief, das wegen seiner Eigenart die besondere Aufmerksamkeit erweckt. Es stellt eine Sau dar, der ein Rabbiner das Bein hochhebt, um in den Bürzel zu sehen, während zwei Judenknaben an der Sau säugen und ein dritter das Ferkel, das zur Mutter will, beiseite schiebt. Darüber stehen die Worte ,Rabbini Schemhamphoras‘, deren Bedeutung unklar ist. Die Entstehungsgeschichte des sonderbaren Bildwerks ist unbekannt; man kommt aber wohl der Wirklichkeit am nächsten, wenn man annimmt, dass das ganze eine Verspottung der Juden bedeutet und aus dem Jahr 1304 stammt, da die Juden in diesem Jahr aus Wittenberg vertrieben wurden.29

Auch das zeitliche Zusammenfallen der Reichspogromnacht mit der Feier von Luthers Geburtstag im November 1938 ist von den Rednern des Tages sowie in der nachfolgenden Presseberichterstattung nicht in einen Zusammenhang

24 Vgl. Kabus, Juden der Lutherstadt, 11. 25 Vgl. Plakatdruck der Ortsgruppe Wittenberg der NSDAP vom 10. Oktober 1929, der die Weigerung der Wittenberger Zeitungsverleger Wattrodt und Tietze anprangert, einen Aufruf zu einer Massenveranstaltung der Nationalsozialisten abzudrucken. Abgedruckt in Kabus, Juden der Lutherstadt, 12. 26 Vgl. Fotographische Abbildung in: Kabus, Jüdische Schicksale in Wittenberg, 247. 27 Vgl. Kabus, Vor 50 Jahren, 4. 28 Vgl. Berichterstattung über Luthergedenkfeier am 18. Februar 1936 in der Stadtkirche, Wittenberger Tageblatt, 19. 02. 1936. 29 Führer durch die Lutherstadt Wittenberg 1938, 27.

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gestellt worden.30 Zwei Jahre später, im März 1940, fand allerdings in der Lutherstadt die erste Arbeitstagung des in Eisenach von Walter Grundmann geleiteten Instituts für die Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben statt. ,Höhepunkt‘ der Tagung war die Übergabe eines „entjudeten“ Neuen Testamentes in der historischen Lutherstube.31 Dennoch muss auf der Basis des vorliegenden Quellenbefundes davon ausgegangen werden, dass Wittenberg zwischen 1933 und 1945 nur in wenigen Fällen zu einer exponierten Bühne nationalsozialistischer Ideologie über die Stadtgrenzen hinaus geworden ist. Obwohl Historie und materielle Substanz verschiedene Anknüpfungspunkte hierfür geboten hätten, blieb es bei einer rhetorischen Beschwörung des Mythos, eine Re-Inszenierung unterblieb zumeist.

2. Reformationsjubiläen im NS-Staat 2.1 Staatspolitisches Desinteresse Die bisher von der Historiographie vorgelegten Erkenntnisse zu den Lutherfeiern 1933 in verschiedenen Städten des deutschen Reiches machen deutlich, dass es zumindest im Jubiläumsjahr kein methodisch einheitliches Vorgehen gab, um Luther für das Dritte Reich nutzbar zu machen.32 Die Gründe hierfür sind vielfältig. Ideologische Vorbehalte gegenüber der christlichen Religion, die Propagierung einer deutschen Volksgemeinschaft über konfessionelle Gräben hinweg sowie der Beginn der Auseinandersetzungen zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche können hierfür ebenso als Erklärungshilfe herangezogen werden wie die geringe Vorbereitungszeit, die den neuen Machthabern zur Verfügung stand. Auch wenn bisher noch keine systematische wissenschaftliche Begründung für das Phänomen vorliegt, bleibt festzuhalten, dass der NS-Staat 1933 keine einheitliche Haltung zum Umgang mit dem Erbe der Reformation und den aus ihr erwachsenen Kirchen gefunden hatte und dessen Eliten bei den Jubiläumsfeiern deshalb wenig Präsenz zeigten. Auch die Wittenberger Jubiläumsfeiern mussten ohne ranghohe Funktionäre des Dritten Reichs auskommen. Ein Grund hierfür ist, dass die Lutherstadt ebenso wenig wie die Provinz Sachsen nationalsozialistische Hochburgen waren.33 Erst der politische Machtwechsel 1933 drängte auch in der Lutherstadt die alteingesessenen kleinbürgerlichen Eliten zugunsten nationalsozialistischer Funktionäre zurück. Waren bis zur Kommunalwahl im März 30 31 32 33

Vgl. Presseauschnitte in: Kabus, Juden der Lutherstadt, 95 f. Vorgang ausführlich dargestellt in: Prolingheuer, Der Lutherisch Deutsch-Christliche Weg, 72 f. Vgl. Bräuer, Das Lutherjubiläum 1933 und die deutschen Universitäten, 154 ff. Vgl. Schmiechen-Ackermann/Kaltenborn (Hg.), Stadtgeschichte in der NS-Zeit, 3.

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202 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus 1933 der Bürgerblock und die Vereinigung der Angestellten, Beamten und Mieter mit zusammen neunzehn von dreißig Mandaten tonangebend, konnten die Nationalsozialisten die Zahl ihrer Mandate von zwei auf vierzehn steigern und die erstgenannten kommunalpolitischen Vereinigungen nur noch fünf Sitze erringen. Die SPD hielt sich bei bescheidenden drei Sitzen, die KPD büßte einen Sitz ein und erhielt fünf Mandate.34 Damit erreichten die Nationalsozialisten nicht vor März 1933 maßgeblichen Einfluss auf die Wittenberger Kommunalpolitik. Gestaltungshoheit erlangten die Nationalsozialisten in Wittenberg jedoch erst, nachdem der seit 1919 amtierende Oberbürgermeister Wurm im April 1933 wegen fingierter Korruptionsvorwürfe zwangsbeurlaubt und im Mai inhaftiert worden war.35 Nach der erzwungenen Ausschaltung des erst 1932 wiedergewählten Stadtoberhauptes erfolgte die ,braune‘ Machtübernahme in Wittenberg durch die Amtseinführung des Coburger NS-Funktionärs Werner Faber. Dieser lud gemeinsam mit seinem Parteigenossen, dem Lutherhallendirektor Oskar Thulin, in einem auf den 9. August 1933 datierten Einladungsschreiben Adolf Hitler persönlich zu den Lutherfesttagen ein. Darin bekundeten beide unverhohlen ihre Sympathie für den neuen Machthaber : „Mächtig steht der Mann von Wittenberg heute vor dem deutschen Menschen der nationalen Revolution, der aus tiefster Wahlverwandtschaft den Glaubenskämpfer vergangener Jahrhunderte grüßt.“36 Andere Lutherstädte waren deutlich schneller. So hatten die Eislebener Initiatoren der dortigen Lutherfestwoche im August bereits im Frühjahr 1933 Einladungen an Hitler, Goebbels und weitere führende Staats- und Parteifunktionäre geschickt. Letztendlich, nach einem „Wechselbad von Sympathie und Distanz“,37 musste Eisleben jedoch ohne die politische ,Prominenz‘ des Dritten Reiches feiern. In Halle hatte die Universität mit Kultusminister Bernard Rust einen ehemaligen Hallenser Studenten zur Teilnahme an der Namensverleihung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gebeten, dieser schickte jedoch nur seinen Ministerialdirektor.38 Wittenberg erging es nicht besser, denn die führenden Köpfe des Dritten Reiches kamen auch nicht in die Lutherstadt an der Elbe. Die holprige nationalsozialistische Machtübernahme sowie die zeitlich äußerst knapp übermittelte Einladung können die Abwesenheit Hitlers und weiterer führender Nationalsozialisten in Wittenberg aber nur teilweise erklären. Hinzu kommt der im Sommer 1933 vollzogene Kurswechsel Hitlers in Fragen der Kirchenpolitik. In einer vor hohen Parteifunktionären auf dem 34 Vgl. Berichterstattung über Wahlergebnisse in Wittenberger Zeitung, 13. März 1933. 35 Der Nationalkonservative Wurm (DNVP) amtierte seit 1919 und war 1932 für weitere 12 Jahre ins Amt gewählt worden. Im April 1933 wurde er wegen Korruptionsvorwürfen zwangsbeurlaubt und im Mai inhaftiert. Er beging im Sommer 1933 Selbstmord. Vgl. Berichterstattung Wittenberger Zeitung vom 21. April 1933 (Beurlaubung) und 12. Mai 1933 (Inhaftierung). 36 Zitiert in: Bräuer, Wittenberger Luther-Festtage 1933. 37 Bräuer, Lutherfestwoche Eisleben, 409. 38 Vgl. Reichelt, Martin Luther als evangelischer Schutzheiliger, 155.

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Obersalzberg gehaltenen Rede hatte der Diktator proklamiert, der Staat solle weiterhin Kontakt zu den Kirchen pflegen, die Partei sich jedoch zurückhalten und Distanz wahren.39 Deshalb schickte die Reichsregierung mit dem parteilosen Finanzminister Schwerin-Krosigk einen bürgerlichen Vertreter des Kabinetts nach Wittenberg. Außerdem erschien der Innenminister Wilhelm Frick, der bis 1935 innerhalb der Reichsregierung für die Kirchenpolitik verantwortlich war.40 Einziger ranghoher Parteivertreter war der aus Halle angereiste Gauleiter Rudolf Jordan.41 Die Organisatoren hatten sich von der zahlreichen Anwesenheit der Repräsentanten weltlicher Macht einen besonderen Höhepunkt des Festes versprochen, der die Bedeutung der Stadt herausstellen und mehr Besucher anziehen sollte. Diese beschränkten sich jedoch darauf, Grußtelegramme und Glückwünsche zu schicken, die in der lokalen Presse veröffentlicht wurden.42

2.2 Das Lutherjubiläum als Besuchermagnet Die Wittenberger Lokalpolitiker setzten 1933 nicht nur auf politische Prominenz, sondern auch auf eine Belebung des beinahe zum Stillstand gekommenen Fremdenverkehrs. Waren auf dem Höhepunkt des evangelischen Pilgertourismus in den Jahren 1926 bis 1928 noch bis zu 30.000 Gruppenbesucher in die Stadt gekommen, reisten 1932 nur noch 9.000 Wittenbergfahrer an,43 von denen 2.327 durch Mitwirkende des Kirchlichen Verkehrsvereins geführt wurden.44 Durch „das Lutherjahr, das neben und vor anderen Städten und Stätten in Wittenberg besonders festlich begangen“45 werden sollte, erhofften sich die Kommunalpolitiker eine Trendwende und bewarben vor allem die im September stattfindenden Jubiläumsfeiern massiv. Das Fest richtete sich mehr als je zuvor nach ,außen‘ und die Organisatoren maßen der Fremdenverkehrswerbung entsprechende Bedeutung zu. Im Vorfeld hatten sie auf 2.000 Bahnhöfen Plakate kleben lassen, 50.000 amtliche Bildpostkarten in Auftrag gegeben und außerdem 7.000 schriftliche Einladungen an Kirchengemeinden und kirchliche Organisationen der Umgebung, Fremdenver-

39 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Nationalsozialismus und Kirche, 127 – 131. 40 Vgl. Neliba, Wilhelm Frick, 128 – 137. 41 Vgl. Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten 1933, hg. von der Stadtverwaltung Wittenberg 1934, Einleitung. 42 Vgl. Illustrierte Fest-Ausgabe zur Kursächsischen Tageszeitung anlässlich der Luther-Festtage sowie Sonder-Festausgabe der Wittenberger Zeitung. 43 Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten 1933, hg. von der Stadtverwaltung Wittenberg 1934, 28 f. 44 Vgl. Berichterstattung über Sitzung des Kirchlichen Verkehrsvereins in Wittenberger Zeitung vom 26. 11. 1932. 45 Friedrich Richter, Der Gang durch Wittenberg, 4.

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204 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus kehrsämter und weitere Institutionen geschickt.46 Der Festausschuss versuchte, größere Verbände für Tagungen in der Lutherstadt zu gewinnen und gründete einen Unterbringungsausschuss, der sich um private Gästebetten kümmern sollte.47 Der Haus- und Grundbesitzerverein forderte seine Mitglieder auf, sich durch das Schmücken ihrer Häuser aktiv in das Jubiläumsgeschehen einzubringen. Im Rathaus wurde im August ein Verkehrsamt mit öffentlicher Auskunftsstelle für die auswärtigen Besucher eingerichtet,48 das auch über das Jubiläumsjahr hinaus Bestand hatte.49 „Wenn wir nicht den Fremden etwas ganz besonderes bieten, ist das Urteil über den Fremdenverkehr in Wittenberg gesprochen“,50 befürchtete der Hausund Grundbesitzerverein. Das Schreckensszenario des Vereinsvorsitzenden bestätigte sich nicht, denn vor allem die Jubiläumsfeier im September erwies sich als Publikumsmagnet. In einer Zeitungsrückschau auf die Festtage heißt es: „Der Name Wittenbergs ist durch die Festtage für Tausende mit einem persönlichen Erleben verknüpft und wird durch die Berichterstattung weitere Tausende zu einer Besuchsfahrt veranlassen.“51 Berücksichtigt man das Medienecho, so konnten sich die Wittenberger nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen. In einer Pressesammlung des Archivs des Lutherhauses befinden sich rund fünfzig Zeitungsausschnitte, welche die überregionale Resonanz belegen.52 Außerdem wurden die Wittenberger Feierlichkeiten mittels Rundfunk und Filmaufnahmen der Wochenschau in das gesamte Reichsgebiet übertragen.53 Dabei überließen die Wittenberger Organisatoren die mediale Aufmerksamkeit nicht dem Zufall, sondern ergriffen selbst die Initiative. Der Museumsdirektor hatte eine Sondernummer der in Leipzig herausgegebenen Illustrierten Zeitung initiiert, die sich vor allem an die „Gebildeten im weitesten Sinne“ richtete und insbesondere Lehrern und Pfarrern für Unterrichtszwecke dienen sollte.54 Die Festtage wurden ein voller Erfolg und trafen beim Publikum auf großen Zuspruch. Insgesamt wurden 44.700 Festplaketten verkauft, die den Zutritt zu 46 Vgl. Akte 1663 „Verkehrswerbung 1933“, Stadtarchiv Wittenberg; Pressebericht „Lutherfesttage vom 9.–13. September“, Wittenberger Zeitung, 30. 08. 1933. 47 Vgl. Berichterstattung über vorläufige Planungen der Festtage, Wittenberger Zeitung, 18. 07. 1933. 48 Brief Mühlpford an Stadtverwaltung vom 11. August 1933, in: Akte 1664, Stadtarchiv Wittenberg; Berichterstattung in Wittenberger Zeitung, 24. August 1933; Siehe auch: Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten 1933, hg. von der Stadtverwaltung Wittenberg 1934, 28 f. 49 Ein 1938 erschienener Reiseführer weist auf ein Stadtverkehrsamt im Rathaus hin. Vgl. Führer durch das Gebiet des Landesfremdenverkehrsverbandes Mitteldeutschland, 46. 50 Zitat des Vorsitzenden des Haus- und Grundbesitzervereins Müller bei einer Versammlung im August 1933, Berichterstattung Wittenberger Zeitung vom 25. August 1933. 51 Rückschau auf die Festtage in Wittenberger Tageblatt, 03. November 1933. 52 Vgl. Sammlung Presseausschnitte, in Akte 3, in Archiv StLu. 53 Berichterstattung über Luther-Fest in: Wittenberger Tageblatt, 08. September 1933. 54 Schreiben Thulins vom 14. Februar 1933, zitiert in: Bräuer, Wittenberger Luther-Festtage, 548.

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Abb. 33 Faltblatt für internationale Besucher des Lutherjubiläums

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206 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus den Marktfestspielen ermöglichten. Dies entsprach in etwa dem Doppelten der Einwohnerschaft Wittenbergs. An allen Festtagen bot die Reichsbahn verbilligte Sonntagsfahrkarten für Interessierte aus den umliegenden Großstädten an.55 Insgesamt besuchten mehr als 18.000 auswärtige Gäste die Stadt, doppelt so viele wie im gesamten Jahr 1932.56 Große Reisebüros wie beispielsweise Scherl aus Berlin beteiligten sich erstmals an der Vermarktung des Jubiläums, indem sie eigene Besuchsprogramme zusammenstellten.57 Hierdurch begann ein Wittenberger Gruppentourismus, der erstmals nicht an kirchliche oder staatliche Institutionen gekoppelt war, sondern einzig auf ökonomischem Kalkül basierte. Intensiv hatte Wittenberg sich um neue Zielgruppen bemüht. Waren bei vorangegangenen Jubiläumsfeierlichkeiten vor allem kirchliche Verbände angesprochen worden, bewarb das Festkomitee nun auch die politischen Gruppierungen des NS-Staates. So ergingen im Vorfeld Einladungen nicht nur an Kirchengemeinden, sondern auch an Ortsverbände der NSDAP, der Hitlerjugend und des Stahlhelms. Die Konzentration auf die Jugend am Vorabend des Festes sowie auf die Gruppe der Frauen am vorletzten Tag der Feierlichkeiten unterstützte ebenfalls die Strategie einer Ausweitung der Besucherzielgruppen. In Sonderzügen und Bussen reisten rund 8000 Frauen in die Lutherstadt, um am Jubiläumsgeschehen teilzunehmen. Mit Verweis auf das evangelische Pfarrhaus und das Vorbild Katharina von Bora wurde auf der zentralen Kundgebung auf dem Wittenberger Marktplatz ein Rollenmodell propagiert, welches dem Frauenideal der nationalsozialistischen Ideologie entsprach.58 Im anschließenden Festgottesdienst in der Schlosskirche betonte der Prediger, jede Frau könne „ihrem Volke die Tat der Mütterlichkeit tun, ob sie nun verheiratet oder unverheiratet sei.“59

2.3 Die Volksgemeinschaft feiert Die politischen Veränderungen des Jahres 1933 blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Ausgestaltung und das Programm des Jubiläums anlässlich des 450. Geburtstages Martin Luthers. Die neuen Machthaber übernahmen in der Frage der Fest- und Jubiläumsgestaltung zwar vieles von ihren Vorgängern im Amt, setzten aber auch neue Akzente, die den Charakter der in Wittenberg begangenen Reformationsjubiläen nachhaltig verändert haben. Die Gussform der Vergangenheit formte die damalige Gegenwart, ließ aber auch Spielraum 55 Vgl. Lutherfesttage vom 9.–13. September, Wittenberger Zeitung, 30. 08. 1933. 56 Zeitungsbericht, 03. November 1933; Bericht über die Verwaltung 1933, 28 f. 57 Vgl. Annoncen des Reisebüros Scherl in verschiedenen Tageszeitungen vom September 1933, Pressespiegel Lutherhaus in Archiv StLu. 58 Vgl. Berichterstattung über Festtage, Wittenberger Tageblatt, 12. September 1933. 59 Predigt Pfarrer Hermenau, zitiert in: Tag der deutschen Frau. Große Kundgebung auf dem Lutherfest in Wittenberg, Der Reichsbote, Berlin, 17. 09. 1933.

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für Innovationen. Die Beibehaltung traditioneller Feierelemente Wittenbergs – Festgottesdienst, Glockengeläut, Singen der Kurrende – verweist zunächst auf eine typische Eigenschaft des institutionellen Mechanismus Jubiläum: Das in festen Abständen wiederholte historische Erinnern führt zu selbstreferentiellen Effekten, denn die Initiatoren orientieren sich an vorangegangenen Jubiläumsfeiern und reproduzieren sie.60 Traditionen ändern sich zwar dauernd, schreibt der Soziologe Anthony Giddens, aber es gibt „immer irgendein stabiles Element. Ein Glaubenssatz oder eine bestimmte Praktik, die als traditionell bezeichnet werden, haben die Aura der Integrität und Kontinuität, die sie gegenüber Veränderungen resistent macht.“61 1933 wurde der Traditionsfeierkanon von zwei innovativen Elementen eingerahmt, die in einem direkten Bezug zur nationalsozialistischen Feierpraxis standen: Während der Fackelzug der Jugend mit anschließender Großkundgebung auf dem Marktplatz am Abend des Eröffnungstages den ersten nationalsozialistischen Akzent setzte, bildete ein weiterer Festaufmarsch der Wittenberger Handwerksinnungen, zu dem die Ortsgruppenleitung der NSDAP aufgerufen hatte, den letzten Höhepunkt der Wittenberger Luthertage.62 Der neue, nationalsozialistische Bürgermeister Werner Faber war 1933 aus Coburg gekommen und musste sich in die kommunalen Verhältnisse erst einarbeiten. Faber stand also wenig Zeit für die Vorbereitungen zur Verfügung. Außerdem konnte er kaum auf Erfahrungen und Netzwerke seiner Partei zurückgreifen, weil diese in der Wittenberger Kommunalpolitik bis 1933 keine Rolle gespielt hatte. Im Ergebnis musste sich die nationalsozialistische Führung mit den bis 1933 tonangebenden bürgerlich-konservativen Kräften arrangieren und war auf die Zu- und Mitarbeit der Wittenberger Honoratiorengesellschaft angewiesen. Dem sich erst im Juli 1933 konstituierenden Festausschuss gehörten deshalb sowohl Vertreter des bürgerlichen Lagers wie der Bankier Gröting, der städtische Fremdenverkehrsverantwortliche Becker, der Direktor des Predigerseminars Hage und der erst im April 1933 der NSDAP beigetretene Direktor des Lutherhauses Thulin als auch langgediente NS-Funktionäre wie der neue Oberbürgermeister Faber und der NSDAPReichstagsabgeordnete Fritz Tiebel an.63 Die Art ihrer Zusammenarbeit spricht dafür, dass sich alte und neue Führungsgruppen der Stadtgesellschaft bei der Gestaltung des Festes miteinander verbündeten, anstatt sich konfliktreich aneinander zu reiben.64 Im Unterschied zu den Jubiläumsfeiern vor 1933, die auf den Ausschluss einer Teilbevölkerung gezielt hatten, bestand das Hauptanliegen der Lutherfesttage vom 9. bis 13. September 1933 in der Einbindung möglichst aller 60 61 62 63 64

Vgl. Müller, Instrumentalisierung und Selbstreferentialität. Giddens, Tradition, 450. „Amtliche Bekanntmachung der NSDAP“, in: Wittenberger Zeitung, 09. 09. 1933. Bräuer, Wittenberger Luther-Festtage 1933, 556. Eine vergleichende Festanalyse anderer Städte der Region bestätigt dieses Bild. Vgl. Minner, Integration oder Bruch?.

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208 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus Bewohner der Stadt, mit Ausnahme der jüdischen Bevölkerung. Es galt, den prophetischen Führer des deutschen Volkes zu feiern. Zu diesem Zweck sollte der Reformator „über alle konfessionellen Bindungen hinweg [als – Anm. d. Verf.] der große Deutsche schlechthin“65 dargestellt werden, wie NS-Bürgermeister Faber forderte. Der für die Ausgestaltung verantwortliche städtische Beamte schlussfolgerte: „Oberster Grundsatz ist: Während der Lutherfesttage kein Bürger und kein Fremder, ob jung oder alt, ohne Festzeichen.“66 Bereits die Festvorbereitungen indizieren, wie dieses Ziel erreicht werden sollte. So wurden unter dem Direktor der Lutherhalle Thulin „volkstümlich wirksame Plakate und Festabzeichen“67 geschaffen, die auf alle Bevölkerungsgruppen einladend wirken sollten und keinerlei konfessionelles Konfliktpotential aufwiesen. Zu den Feierlichkeiten vor 1933 hatte man hingegen oft ausdrücklich nur die evangelischen Bürger der Stadt eingeladen. „Nicht im Stile überlebter Zeiten wollen wir gedenken“, formulierte der Reichsinnenminister Wilhelm Frick in einer Grußbotschaft an die Wittenberger, denn „Erinnerungsjahre boten früher einmal bürgerlicher Bequemlichkeit eine willkommene Ausflucht, um mit pomphaften Reden die Weigerung zu verdecken, innerlich mitzugehen im Sturmschritt überragender Persönlichkeiten.“68 Als Hauptangriffspunkt galten hier Denkmuster bürgerlicher Saturiertheit sowie das Bemühen um soziale Exklusivität beziehungsweise Abgrenzung gegenüber unterbürgerlichen Schichten, die nun in der neuen Festgestaltung überwunden werden sollten. Für die Vertreter des neuen Regimes war das Bürgertum nicht mehr positiv besetzt und dessen Werthaltungen sollten im Fest nicht mehr als ausschließlich vorbildhaft dargestellt werden. Stattdessen wurden ,Gemeinschaftsgeist‘ und ,Gemeinnutz‘ beschworen, die auf die gesamte Volksgemeinschaft bezogen waren.69 Um das integrative Ziel des Festes zu erreichen, bereicherten zahlreiche neue Angebote das Festprogramm, die den konfessionell nichtgebundenen Interessierten sowie der wachsenden katholischen Gemeinde Wittenbergs die Teilnahme ermöglichten. Vor allem Volksfestelemente, die in keinem besonderen Bezug zu Wittenberg, Luther und der Reformationsgeschichte standen, ergänzten den Feierkanon. Auf dem Marktplatz wurde Einheimischen und Besuchern in den Abendstunden ein bunt gemischtes Unterhaltungspro65 Ansprache NS-Oberbürgermeister Faber bei Festakt im Lutherhaus, zitiert in Wittenberger Tageblatt, 11. September 1933. 66 Lutherfesttage vom 9.–13. September, Wittenberger Zeitung, 30. 08. 1933. 67 In Anlehnung des Lutherdenkmals von Schadow sowie des Steinreliefs des Katharinenportals am Wittenberger Lutherhaus wurde ein Brustbild entwickelt, das auf den Plakaten des Jubiläums 1933 Verwendung fand. Diese Abbildung ist auch in den folgenden Jahren von der Wittenberger Stadtverwaltung zu Werbezwecken genutzt worden. Vgl. Thulin, Das Lutherbild der Gegenwart, 135. 68 450 Jahre Luther, Wittenberger Tageblatt, 9. 09. 1933. 69 Kathrin Minner konstatiert diese Festrhetorik der 1930er Jahre für alle von ihr untersuchten Städte auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt. Vgl. Minner, Stadt der Bürger, 155 f.

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gramm geboten, welches aus Tanzveranstaltungen, Kegelbahn und Maibaum, Marktfestspielen mit Schaustellern, Töpfer- und Spinnschauwerkstatt, Marktherold und Nachtwächter sowie dem Ausschank des traditionellen Kuckucksbiers bestand. Der historische Markt mit seinen Buden, Tanzflächen und Vergnügungsofferten bildete für viele Besucher den Höhepunkt der Feierlichkeiten und machte das Jubiläum auch für kirchenferne sowie konfessionell anders orientierte Gruppen attraktiv. Pate stand hierbei die Erkenntnis, dass politische Indoktrination umso besser wirkte, wenn sie durch Unterhaltungsangebote aufgelockert wurde. Das Volksfest sollte sich durch Momente der Entspannung und guten Laune auszeichnen, fernab jeder konfessionellen oder politischen Rhetorik. Die volkstümliche Gestaltung der Feierlichkeiten implizierte einerseits eine möglichst breite Beteiligung der Bevölkerung, andererseits die Inszenierung als erlebnisreiches Ereignis. Gelöste Fröhlichkeit und nationales Gemeinschaftsgefühl waren die Kombination, die sowohl nach außen, gegenüber den Besuchern, als auch nach innen, gegenüber der Lokalöffentlichkeit, vermittelt werden sollte. Mit den Jubiläumsfeierlichkeiten wurde das Bild einer geeinten Bürgergemeinschaft als Volksgemeinschaft beispielhaft für die ganze deutsche Nation öffentlichkeitswirksam inszeniert. Vorrangiges Ziel war es, Bilder von sozialer Egalität und Mobilität zu erzeugen: „Hier spürt man, dass Standesunterschiede verwischt, ausgelöscht sind in treuem Gelöbnis zum Führer und seiner nationalsozialistischen Weltanschauung“,70 resümierte der Berichterstatter der Lokalpresse. Der konfessionelle Charakter der Feier wurde zu diesem Zweck zurückgedrängt, um die postulierte Volksgemeinschaft nicht zu gefährden. In Wittenberg vollzog sich somit symbolpolitisch der Übergang der Stadt von einer dezidiert evangelischen Bürger- zu einer konfessionsneutralen Einwohnergemeinde. Die bis 1933 tradierte Verbindung von sozialer und mentaler Struktur wurde durch eine neue symbolische Vision der Gesellschaft durchbrochen. Die Festkultur ist ein Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse. Mit dem Auseinanderfallen von Stadt- und Kirchengemeinde musste sich auch der Charakter der Feste ändern. Wittenberg hatte sich dieser Entwicklung bis in die Zeit der Weimarer Republik vehement entgegengestemmt, sodass der Kurswechsel erst 1933 erfolgte. In diesem Jahr wurde der Grundstein zu einer neuen Festkultur gelegt, welche unterschiedliche Gruppeninteressen besser bediente, aber dennoch an der Ganzheitlichkeit im Festerleben festhielt. Im zeremoniellen Teil des Gottesdienstes wurde ein Teil der Festgemeinde dem feierlich-sakralen beziehungsweise patriotisch-ergreifenden Anliegen gerecht. Der Unterhaltungsteil des Volksfestes auf dem Markt deckte hingegen das Bedürfnis nach Ausgelassenheit und Geselligkeit ab und konnte alle Teilöffentlichkeiten gleichermaßen ansprechen.71 Durch diese Mischung er70 Berichterstattung vom Lutherfest, Wittenberger Tageblatt, 11. September 1933. 71 Vgl. Schader (Hg.),Nationale Festkultur in der Gegenwart, 22 ff.

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210 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus reichte das Lutherjubiläum eine integrative Wirkung, die weit über die alteingesessene evangelische Kernbevölkerung hinausreichte, ohne diese zu verprellen. 2.4 Der Erlebnisraum im Nationalsozialismus Für die Gestaltung von Jubiläumsfeierlichkeiten bildet die Vergangenheit das Grundmuster für die Gegenwart, denn die Akteure orientieren sich stets an vorangegangenen Jubiläen. Im Idealfall reproduziert jede Generation ihre Vorgängerin hinsichtlich der Wirkungsmächtigkeit der Feier, aber auch in Bezug auf das zu Erinnernde schlechthin. Scheitert sie bei diesem Bemühen, so ist sie in ihrem Selbstverständnis hinter dem Vorbild zurückgeblieben. In der Realität wird die jeweilige Gegenwart allerdings nicht vollständig durch die Vergangenheit determiniert. Die selektive Auswahl aus der unendlichen Menge dessen, was erinnert wird oder erinnert werden kann sowie die Techniken, mit deren Hilfe historische Erinnerung generiert wird, bieten genügend Leerstellen, die Innovationen möglich machen.72 Halbwachs’ These zufolge erwächst die Validität der auf diesem Weg konstituierten Jubiläumstradition deshalb erst aus der fortwährenden Praxis der Interpretation, durch die die Vergangenheit aus der Gegenwart heraus aktiviert wird.73 Die Nationalsozialisten betrachteten Vergangenheit als einen Fundus von Überresten und Traditionen, aus denen sie sich selektiv bedienten. Pflege erfuhr er dort, wo er in die eigene Zukunftsvorstellung passte. Die im Zusammenhang mit dem Systembruch 1933 stehende Enttraditionalisierung ist deshalb nicht per se als Verschwinden von Tradition zu begreifen, sondern als Neukonstituierung, die mit den Veränderungen sozialer Organisation und Kommunikation einhergingen. In diesem Sinne füllten die Gestalter der Wittenberger Lutherfeierlichkeiten 1933 die sich bietenden Leerstellen, um einen nationalsozialistischen Erlebnisraum zu schaffen, der sowohl dem Gebot der Kontinuität als auch den politischen Anforderungen des Jahres 1933 gerecht werden konnte. Der Verlauf der Lutherjubiläumsfeierlichkeiten zeigt, wie die Tradition an die neuen politischen Erfordernisse angepasst wurde. Der Kernbestand der tradierten Wittenberger Festtradition hatte weiterhin Bestand, wurde aber um neuartige Elemente ergänzt, deren Höhepunkt die Massenkundgebung für die Wittenberger Jugend auf dem Marktplatz darstellte.74 Die Wirkung des Erlebnisraumes hängt entscheidend von dessen Standort ab. Während ein geschlossener Raum einem Ritual eher weihevolle Exklusivität verleiht, wirkt ein großer Platz stärker auf die Allgemeinheit bezogen. Die Jubiläumsfeierlichkeiten des Kaiserreichs und der Weimarer Republik waren 72 Ausführlich bei: Hobsbawm, Wieviel Geschichte braucht die Zukunft, 24 ff. 73 Vgl. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. 74 Vgl. Lutherfesttage vom 9.–13. September, Wittenberger Zeitung, 30. 08. 1933.

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hierarchisch organisierte Rituale, deren Handlungsräume meistenteils von der allgemeinen Öffentlichkeit abgegrenzte Bereiche darstellten. Festgottesdienste, Gemeindefeiern und Weihestunden fanden in der Regel in den geschlossenen Räumen der Kirchen statt. Das auf Gleichrangigkeit zielende Feierritual des Jahres 1933 lässt sich jedoch auf dem für jedermann zugängigen Wittenberger Marktplatz verorten, auf dem die Volksgemeinschaft jenseits von Klassenschranken zusammenkommen konnte.75 An dieser Inszenierungspraxis lassen sich aber auch die forcierte Trennung zwischen kirchlicher und weltlicher Sphäre und die Entwicklung eines genuin religiösen Kults des Nationalsozialismus gut ablesen.76 So waren die Initiatoren auf die Unterstützung kirchlicher Würdenträger nicht angewiesen, denn die Ausgestaltung lag in den Händen der neuen nationalsozialistischen Machthaber. Kirchlichen Organisatoren wurde von diesen bestenfalls eine assistierende Rolle zugeschrieben, denn der NS-Staat war überzeugt davon, auf die kirchliche Legitimierung seiner Herrschaft verzichten zu können. Das Bild der Veranstaltung prägten uniformierte Verbände; die Teilnehmer marschierten größtenteils in HJ-Uniformen und wurden von den Mitgliedern der evangelischen Jugendorganisationen begleitet, die an ihrer bündischen Kleidung erkennbar waren. Massenveranstaltungen unter freiem Himmel mit ständig wachsenden Teilnehmerzahlen und einer permanenten Steigerung monumentaler und überwältigender Mittel stellten im Dritten Reich eine eifrig betriebene politische Technik dar, denn im politischen Zeremoniell fand die Beteiligung der Massen an der Politik statt.77 Durch dort vollzogene „politische Akte, Reden und Gesten wird das Massenpublikum emotional in die Politik hineingezogen, aber zugleich auch gegenüber politischen Veränderungen gefügig gemacht.“78 Es bestätigt politische Entscheidungen durch seinen Auftritt im Ritual und durch konformes Verhalten innerhalb einer Massenchoreographie. Vor allem junge Menschen waren offen für die emotionale Ansprache einer nationalsozialistischen Kultfeier und konnten vom sinnlichen Eindruck einer Großkundgebung überwältigt werden. Eröffnet wurden die Feierlichkeiten im September 1933 deshalb durch den Fackelzug der Jugend, der als Bewegungsritual Veränderung und Dynamik darstellte. Die Initiatoren griffen hier auf gewachsene Bräuche und Traditionen zurück, denn bereits 1883 hatte ein ähnlicher Fackelzug stattgefunden. Während die daran Beteiligten sich jedoch an die seit dem Reformationsjubiläum 1617 gebräuchliche Festzugsroute zwischen Lutherhaus und Schlosskirche gehalten und damit an der bürgerlichen Festzugstradition orientiert hatten, begann der Fackelzug 1933 als 75 Katrin Minner bietet im Kapitel ,Bewährte Räume – neue Orte? Die Topographie des Festes‘ einige grundsätzliche Überlegungen zur Verortung von Festen innerhalb eines Stadtraums. Vgl. Minner, Stadt der Bürger, 87 – 95. 76 Vgl. Gamm, Der braune Kult. 77 Vgl. Mosse, Die Nationalisierung der Massen, 240 ff. 78 Edelmann, Politik als Ritual, 13.

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212 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus nationalsozialistische Prozession am Gymnasium und mündete in eine Abschlusskundgebung auf dem Marktplatz.79 Er fand damit 1933 eine Zuspitzung und zählt zu den innovativen Festbestandteilen, die charakteristisch für die nationalsozialistische Inszenierungspraxis sind. Winfried Müller spricht in diesem Zusammenhang von einer „Hypertrophierung“ der Feierpraxis.80 Fackelzug und Volksversammlung eigneten sich in besonderer Weise zum gemeinsamen Vollzug und erzeugten eine Stimmung, die alle Teilnehmer verband. Der Einzelne erlebte die Verinnerlichung von Ideen, kollektiven Erinnerungen und Weltdeutungen, mit denen er in den Alltag zurückkehrte.81 Mit Hilfe der hergestellten Atmosphäre wurde auf der Handlungsebene das Hauptanliegen der Feier, die integrative Wirkung zur Bildung einer Volksgemeinschaft, wirkungsvoll unterstützt. Der Umzug vermittelte allen Beteiligten das Gefühl, als Mitwirkende am Festgeschehen beteiligt zu sein und stellte den NS-Staat als eine ,verschworene Gemeinschaft‘ dar.82 Das ,Erlebnis der Volksgemeinschaft‘ förderte die Identifizierung mit den Inhalten und Veranstaltern und die als ästhetisches Erlebnis gestaltete Gleichförmigkeit trug dem Anspruch einer Überwindung von Klassen in der neuen Volksgemeinschaft Rechnung. Diesem Ansinnen wohnte ein doppelter Exklusionsgedanke inne: Wer aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen war, feierte nicht mit und wer nicht mitfeierte, schloss sich aus.83 Die Wittenberger Denkmallandschaft wurde wirkungsvoll in die Inszenierungspraxis integriert, indem die „tausendköpfigen Scharen der Wittenberger Jugend sich rings um das von Fackeln umloderte Monument des Reformators“84 versammelten. Die Dunkelheit war ein wichtiger Koeffizient für die gewünschte Erzeugung einer sakralen Atmosphäre jenseits der kirchlichen Sphäre, denn sie veränderte den städtischen Raum als Bühne des Geschehens und setzte ihn in ein anderes Licht.85 Friedrich Richter empfahl 1933 seinen Lesern nicht umsonst einen abendlichen Gang durch Wittenberg, damit „alles Hässliche und nur Neumodische schwindet“.86 Die nächtliche Stunde und der Einsatz von Fackeln verstärkten den zeremoniellen Charakter der Feiern auf sinnlicher Ebene und waren von besonderer Wirkung auf Teilnehmer und Beobachter. Licht übt auf Menschen eine anziehende Wirkung aus und ist ein altes Mittel zur Konditionierung der Massen, denn es verwandelt die Realität in Illusion und täuscht den Blick. In Wittenberg diente das Anstrahlen der Stadtkirchentürme mittels Scheinwerfer als ein weiterer visueller Multipli79 Ausführlicher Bericht in: Eröffnung der Lutherfesttage, Magdeburgische Zeitung, 10. 09. 1933. 80 Begriff gebraucht in: Müller, Kontinuität nach der Katastrophe?; Zur nationalsozialistischen Inszenierungspraxis vgl. Behrenbeck, Durch Opfer zur Erlösung. 81 Vgl. Vondung, Magie und Manipulation. 82 Vgl. Gamm, Der braune Kult, 157. 83 Vgl. Behrenbeck, Durch Opfer zur Erlösung. 84 Eröffnung der Lutherfesttage, Magdeburgische Zeitung, 10. 09. 1933. 85 Vgl. Thöne, Das Licht der Arier. 86 Richter, Der Gang durch Wittenberg, 4.

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kator, wobei an die Erfahrungen des 1928 inszenierten Ereignisses Wittenberg im Lichterglanz angeknüpft werden konnte. Zur Wirkungsverstärkung stellten die Anwohner des Marktplatzes rote Lämpchen auf ihre Fensterbänke, um das Stadtzentrum in eine besondere Atmosphäre zu tauchen. Auch tagsüber bildete der Wittenberger Stadtraum unter nationalsozialistischen Vorzeichen die Kulisse für die politische Inszenierung. Bereits bei vorangegangenen Jubiläumsfeierlichkeiten war die Stadt mittels Fahnen, Flaggen und Tannengrün reich geschmückt worden. Während es vor 1933 den Hauseigentümern, Mietern und Ladenbetreibern jedoch selbst überlassen geblieben war, ihre Fassaden und Schaufenster nach eigenen Vorstellungen zu dekorieren, legten die Organisatoren bei der Ausschmückung des Stadtraumes im Jahr 1933 großen Wert auf Einheitlichkeit. Denkmale dienten im NSStaat nicht mehr vorrangig der individuellen Betrachtung, sondern waren Teil einer Massenkommunikation und bildeten die Kulisse für das politische Ritual.87 Mehrfach wies das Festkomitee in der Presse darauf hin, dass „jeglicher geschmackloser Kitsch vermieden“ werden solle, denn „nur Einheitlichkeit und künstlerische Gestaltung der Ausschmückung erzielen die gewünschte Wirkung“.88 Um den Haubesitzern die Dekorationsarbeit zu erleichtern, stellte die Stadtverwaltung Tannengrün zur Verfügung. Gärtnerfirmen banden dieses zu Girlanden und verkauften sie zu einem geringen Preis. Die politischen Führer der Weimarer Republik hatten oft die Notwendigkeit attraktiver Symbole und repräsentativer Handlungen in einem komplexen politischen System verkannt. Diese ästhetische Lücke besetzten die Nationalsozialisten durch Fahnen, Zeichen und Uniformen. Die Häufung dieser symbolischen Gegenstände steht für die Allgegenwart der damit verbundenen Instanz oder Idee. Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft war deshalb aufgefordert, beispielsweise im Unterschied zu den Feiern im Dezember 1920, ihre Anteilnahme durch den möglichst flächendeckenden Fahnenschmuck zu zeigen. „Vier verschiedene Papierfähnchen zu weiterem Schmuck“ konnten in den örtlichen Papeterien ebenfalls „billigst“89 erworben werden. Der letzte Handgriff zum Festschmuck am Haus blieb zwar den Bürgern vorbehalten, doch setzte ein nicht unerheblicher psychologischer Druck ein. Die Beflaggung wurde zur „selbstverständlichen Pflicht“90 erklärt und sollte die Beteiligung der gesamten Stadtgemeinde bekunden. In der örtlichen Presse erging ein Aufruf, „die Häuser mit reichlich Flaggenschmuck zu versehen und dadurch zu bekunden, dass sich die Bevölkerung unserer Stadt der Bedeutung des Tages […] bewusst ist“,91 denn nur „wenn die Straßen von Fahnen wehen, wenn bunte Aufzüge den Marktplatz füllen, wenn Musik und Gesang die 87 88 89 90 91

Vgl. Thamer, Nationalsozialismus und Denkmalskultur. Lutherfesttage. Häuserschmuck, Wittenberger Zeitung, 05. 09. 1933. Lutherfesttage vom 9.–13. September, Wittenberger Zeitung, 30. 08. 1933. Ebd. Presseausschnitt in Akte 4049, Stadtarchiv Lutherstadt Wittenberg.

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214 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus Herzen erheben, […] vermögen festliche Tage beglückende, berauschende Eindrücke zu hinterlassen.“92 Entziehen konnte sich dem Festtrubel und der damit verbundenen Inszenierung kein Bürger, denn „so eine kleine Stadt feiert ganz anders, als Berlin oder Frankfurt feiern können. So eine kleine Stadt steht bis zum letzten Einwohner unter dem Bann des Festes. […] Kein Haus ohne Fahne.“93 Neben dem Marktplatz als Aufmarscharena bildeten vor allem Lutherhof und Lutherhaus im Jubiläumsjahr den Schauplatz für die Inszenierung nationalsozialistischer Macht. Am Treppenturm des Museums flatterte neben der evangelischen Kirchen- auch die Hakenkreuzfahne und demonstrierte die symbolische Inbesitznahme und Umdeutung deutscher Geschichte. Hier sollte die Gegenwart mit der Vergangenheit verschmelzen. Baudenkmäler waren prädestiniert, als historische Kulisse der politischen Gegenwart einen überzeitlichen Rahmen zu verleihen. Die einfache Putzfassade, die Oskar Thulin zu Beginn der 1930er Jahre anstelle des Stülerschen Quaderputzes hatte auftragen lassen, beglaubigte als vermeintlich authentische Fassade das aktuelle Ereignis und steigerte es ins Zeitlose. Sie verschaffte der historischen Kulisse genügend Leerstellen, die, je nach Anlass, besetzt werden konnten: „Dieselbe Festversammlung vor der Quaderputzfassade Stülers hätte längst nicht dieselbe Suggestivkraft besessen“,94 argumentiert die Kunsthistorikerin Insa Christiane Hennen. Das nationale Denkmal wandelte „sich vom Anschauungsobjekt zum geheiligten Raum, der mit der (aktuellen) gemeinschaftlichen, rituellen Handlung zu einem Gesamtkunstwerk“ verschmolz.95 Festzuhalten bleibt, dass das Lutherjubiläum 1933 als Bindemittel zur Herstellung einer einheitlich denkenden, fühlenden und handelnden Volksgemeinschaft dienen sollte. Zu diesem Zweck rückte der liturgische Rahmen, in dem es präsentiert und gemeinsam gefeiert beziehungsweise erlebt wurde, ins Zentrum der propagandistischen Bemühungen.96 Hierbei galt: Die großen politischen rituellen Inszenierungen „werden von Mythen erzeugt, Mythen können aber ihrerseits ohne Liturgien nicht lange bestehen.“97 Die Jubiläumsgestaltung fungierte als ein Medium für ein ideologisches Orientierungsangebot und als Herrschaftsinstrument, indem es „die für das Sakrale typischen, sich gegenseitig ergänzenden Gefühle des ,tremendum‘ und des ,fascinosum‘“ erzeugte.98 Den neuen Machthabern gelang es auf diese Weise zumindest punktuell, eigene politische Akzente zu setzen, die den kirchlichen Charakter des Jubiläums zugunsten einer politischen Instrumentalisierung zurückdrängten. 92 93 94 95 96 97 98

Richter, Ein Gang durch Wittenberg, 4. Wittenberg – Lutherstadt, Frankfurter Zeitung, 13. September 1933. Hennen, Von sinnwidrigen Um- und Ausbauten, 15 f. Raith, Der heroische Stil, 52. Vgl. Behrenbeck, Kult um die toten Helden, 275. Bizeul, Theorien der politischen Mythen und Rituale, 19. Ebd. 17.

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2.5 Lutherfestspiele und NS-Thingstättenbewegung An die Tradition der Lutherfestspiele in Wittenberg anknüpfend, erkannten die Nationalsozialisten deren propagandistisches Potential und versuchten, regelmäßig stattfindende sommerliche Festspiele in den Wittenberger Festkalender zu integrieren. Bereits 1932 war ein Lutherspiel als Teil des Wittenberger Veranstaltungsprogramms der Deutsch-Völkischen Freiheitsbewegung, einer Gruppierung der NSDAP, vorgesehen.99 Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde der Reichsbund der deutschen Freilicht- und Volksschauspiele gegründet, der alle existierenden Freilichtbühnen kategorisierte und zu einem Entwicklungsmotor der Thingstättenbewegung wurde.100 Die nationalsozialistischen Kulturpolitiker sahen im Thingspiel die Chance, eine genuin nationalsozialistische Kunstform zu entwickeln, die die Massenspiele der konfessionellen Vorläufer abgewandelt übernehmen und quantitativ überbieten sollte.101 In diesem Zusammenhang sind auch in Wittenberg Verhandlungen zur Etablierung einer Thingstätte auf dem Schlosshof geführt worden. „Wunderbar ist der Spielplatz: eine breite Empore zwischen den abgeschrägten Ecken des Hofes“,102 lobte ein Journalist der überregionalen Presse. Vor Ort erkannte vor allem der Direktor der Lutherhalle den Wert des Schlosshofes und forderte eine „evangelische Feierstätte und evangelisches Festspiel“.103 Das Thingspiel bildete inhaltlich und formal eine neue, genuin nationalsozialistische Form des Theaters und sollte als Massenschauspiel unter freiem Himmel eine Alternative zum traditionellen bürgerlichen Drama darstellen. Eine treibende Kraft war der Dichter Hanns Johst, der als einer der profiliertesten Kulturpolitiker des Dritten Reiches gilt und Präsident der Reichsschrifttumskammer war.104 Er forderte den Abschied von der traditionellen Guckkastenbühne und eine physische Kommunikation zwischen dem Geschehen auf der Bühne und im Zuschauerraum. Die von ihm vorgeschlagenen kultischen Inszenierungsformen erprobten die Einbeziehung von Natur- und Nationaldenkmälern, die die Distanz zwischen Bühne und Zuschauern aufheben sollten. Das Thingspiel sollte außerdem zu einem neuen, revolutionären Theater einer politisch-kultischen Massenbewegung führen:105 99 Vgl. Aktenvermerk vom 12. Januar 1932, betrifft geplante Versammlung der Deutsch-Völkischen Freiheitsbewegung vom 2. bis 4. September 1932 mit 800 Teilnehmern, Akte 1670, Stadtarchiv Wittenberg. 100 Vgl. Einleitung Broschüre „Nationale Festspiele auf deutschen Freilichtbühnen“, hg. von der Reichszentrale für den deutschen Reiseverkehr 1934. 101 Vgl. Menz, Sprechchor und Aufmarsch, 336. 102 Wittenberg – Lutherstadt, Frankfurter Zeitung, 13. September 1933. 103 Thulin, Eine Lanze für Wittenberg. 104 Zu Johst vgl. Düsterberg, Hanns Johst. Der Barde der SS. 105 Vgl. Johst, Ich glaube! Bekenntnisse.

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Abb. 34 Der Wittenberger Schlosshof als Spielstätte Das neue Deutschland verlangte nach einem politisch repräsentativen Theater. Es brauchte eine Darstellung der Volksgemeinschaft und öffentliche Repräsentation der Macht und Einheit des neuen Staates. […] Der Deutsche sollte sich einmal nicht mehr als Privatmensch und isoliertes Individuum, sondern als Teil der Öffentlichkeit und Volksgemeinschaft erleben und in aktiver Teilnahme daran in Erscheinung treten.106 (Wilhelm von Schramm, 1934)

Die Tradition der Lutherspiele sowie die Freiluftbühne auf dem Schlosshof machten Wittenberg zu einem herausragenden Experimentierfeld der nationalsozialistischen Thingstättenbewegung. Anlässlich des Lutherjubiläums 1933 wurde auf dem Schlosshof das bereits elf Jahre zuvor von Hanns Johst geschriebene Theaterstück Propheten aufgeführt, das dem Wittenberger Magistrat vom Münchner Kaiser-Verlag empfohlen worden war.107 Während jedoch bei den Festspielen in der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik jeweils Bürger der Stadt als Laienschauspieler mitgewirkt hatten, ist Johsts Bühnenwerk mit professionellen Darstellern des Dessauer FriedrichTheaters aufgeführt worden.108 Nicht die Einbindung der Stadtgemeinde durch Laienkunst, sondern die perfekte Inszenierung stand jetzt im Mittelpunkt des Anliegens, um „berauschende Eindrücke zu hinterlassen, […] wenn Dichters Wort und Schauspielers Kunst die Gestalten einer verehrungswür106 Schramm, Neubau des deutschen Theaters, 39. 107 Vgl. Schreiben Kaiser-Verlag an Wittenberger Magistrat vom 1. 3. 1933, zitiert in Bräuer, Wittenberger Luther-Festtage 1933, 547. 108 Vgl. Rintelen, Frühling über Deutschland, 10.

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digen Vergangenheit vor unsere Seele und Sinne zaubern“.109 Für die Inszenierung wurden Symbole und Rituale der politischen Kundgebungspraxis genutzt, zu denen beispielsweise Fahneneinzüge und Sprechchöre zählen. Die auf die Bühne stürmenden Bauern schleuderten Luther ihre Sozialkritik entgegen. Der Reformator begegnete ihnen lautstark mit dem Pöbelvorwurf, kurz darauf begrüßte er einen bewaffneten Haufen als Bundesgenossen seiner heiligen Sache.110 Zum stärksten Mitspieler wurde der genius loci selbst, denn am Ende des Stücks läuteten die Glocken der Schlosskirche und die Orgel begleitete den von Publikum und Schauspielern gemeinsam gesungenen Lutherchoral. Johst wollte mit seinem Stück nicht nur neuartige ästhetische, sondern auch religiöse Bedürfnisse bedienen. Dem „profanen Spiel“ der Festtage wurde der „heilige Ernst“ des Theaterstücks entgegengesetzt, wie es in der Berichterstattung der Frankfurter Zeitung heißt,111 denn: „Es ist unsere Sache, die es verhandelt.“112 Der Einsatz professioneller Schauspielkunst sowie die Berichterstattung in der nationalen Presse zeigen, dass die Inszenierung nicht ausschließlich auf den städtischen Binnenraum orientiert war, sondern sich erstmals an ein überregionales Publikum richtete. Bereits in den 1920er Jahren waren in Wittenberg Stimmen laut geworden, sich an der Tradition des Oberammergauer Passionsfestspiels oder des Meistertrunks in Rothenburg ob der Tauber anzulehnen, aber das touristische Potential erkannten die Wortführer nicht. Erst die politischen Instrumentalisierungsinteressen der Nationalsozialisten, verbunden mit den ökonomischen Beweggründen der Wittenberger Lokaleliten, stellten das Festspiel in das Zentrum der touristischen Bemühungen. Die Lutherfestspiele 1933 sollten auswärtige Besucher in die Stadt locken, um alle sechs Vorstellungen zu füllen. Zur ersten Vorstellung erwartete Wittenberg beispielsweise Schulklassen aus Berlin.113 Scherls Reisebüro bot anlässlich des Lutherjubiläums 1933 zwei große Sonderfahrten aus Berlin an, die auch die Teilnahme am Festspiel auf dem Schlosshof vorsahen.114 Mit insgesamt 14.587 Zuschauern erreichte das Lutherstück einen Besucherrekord.115 Die Aufführungen der Kaiserzeit hatten nur rund ein Drittel dieser Zahl erreicht. Der große Erfolg der volkskulturellen Aufführungen auf Freilichtbühnen, 109 Richter, Der Gang durch Wittenberg, 4. 110 Zu Johsts Stück: Weigand-Abendroth, Luther – kein Held der Bühne, 253 f; Razum, Luther im zeitgenössischen Drama. 111 Wittenberg – Lutherstadt, Frankfurter Zeitung, 13. September 1933. 112 Rintelen, Frühling über Deutschland, 10. 113 Lutherfesttage, Wittenberger Zeitung, 05. 09. 1933. 114 Angeboten wurden Hin- und Rückfahrt ab Berlin am 9. und am 10. September 1933 für 4,90 Mark. Für weitere 60 Pfennig konnten die Teilnehmer sich die Lutherstätten zeigen lassen, für 75 Pfennig dem Festspiel zusehen. Vgl. Annoncen des Reisebüros Scherl in verschiedenen Tageszeitungen vom September 1933, Pressesammlung Archiv StLu. 115 Bericht amtliche Pressestelle des Magistrats, Archiv Stadtkirche Wittenberg.

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218 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus vor Kirchen und auf Schloss- oder Burghöfen in den 1930er Jahren ließ sich jedoch weder in Wittenberg noch an anderen Orten zu Gunsten der NSThingstätten ummünzen.116 So inszenierte man im Jubiläumsjahr der Bibelübersetzung 1934 mit August Strindbergs Luther. Die Nachtigall von Wittenberg einen Klassiker und rückte von den Vorstellungen eines nationalsozialistischen Volkstheaters wieder ab. Aber auch 1934 wurde am Schlosshof als Spielstätte sowie dem Einsatz von professionellen Schauspielern festgehalten. Unterstützung erfuhr die Wittenberger Spielgemeinschaft in diesem Fall vom Staatstheater Halle.117 Das Freilufttheater wurde zwischen dem 25. August und dem 2. September durch volksfestartige Darbietungen ergänzt, die den überkonfessionellen Charakter stärken sollten und sich nicht an das evangelische Wittenberg118, sondern an die propagierte Volksgemeinschaft richteten. In Anlehnung an die Jubiläumsgestaltung 1933 wurden den Besuchern HansSachs-Spiele, Chorgesänge und Darstellungen des Volkslebens aus der Reformationszeit geboten.119 Die große Resonanz bei zurückliegenden Spielen ließ die Initiatoren bereits zu Beginn der Spielsaison 1934 an eine Wiederholung alle zwei bis drei Jahre denken.120 Der Lutherhallendirektor legte ein Verzeichnis möglicher Lutherdramen an, die hierfür in Frage kamen.121 Allerdings bestätigten sich die Erwartungen nicht, denn die Lutherfestspiele 1934 waren schlecht besucht.122 Außerdem musste Thulin 1935 einräumen, dass der Schlosshof noch nicht den Vorstellungen einer Thingstätte entsprach und die Etablierung einer solchen „unter dem erschwerenden Gesichtspunkt des sogenannten ,Konfessionellen‘ eine solche Festlegung auf größere Schwierigkeiten stoßen wird als noch im vergangenen Jahre.“123 In Wittenberg hat es in den Jahren nach 1934 deshalb kein Lutherfestspiel mehr gegeben, auch wenn ein 1938 vom Stadtverkehrsamt herausgegebener Führer den Schlosshof als Freilichtbühne für Festspiele ausweist.124 116 Im Gau Halle-Merseburg, zu dem auch Wittenberg gehörte, schufen die Nationalsozialisten vier genuin neue Thingstätten in Halle, Bad Schmiedeberg, Schildau und Freyburg und versuchten außerdem, bereits erprobte Spielstätten für die Thingstättenbewegung umzufunktionieren. Vgl. Lindenberg, Die erste Thingstätte, 197 f; Rischbieter, Theaterpolitik, 40. 117 Programmblatt Luther-Festspiele 1934: „400 Jahre Deutsche Bibel – Deutsche Schriftsprache“, hg. von Bürgermeister Faber und Superintendent Meichßner, Wittenberg 1934. 118 1930 hatte der Superintendent Meichßner noch ausdrücklich „alle evangelischen Einwohner“ zum Festspiel Luther in Worms eingeladen. Vgl. Zeitungsberichterstattung Reformationsfeier 1930, Akte 194a, Akte Stadtkirche. 119 Vgl. Berichterstattung über die Lutherbibelausstellung und die Festspiele in: Wittenberger Tageblatt, 24. 08. 1934. 120 Ebd. 121 Vgl. Verzeichnis Lutherspiele in Akte 13, Archiv StLu. 122 Vgl. Rupieper/Sperk (Hg.), Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei, 189 f. 123 Schreiben Thulins an die Deutsche Evangelische Kirche, 07. 08. 1935. Zitiert in Laube, Lutherhaus Wittenberg, 320. 124 Vgl. Führer durch die Lutherstadt Wittenberg 1938, 65.

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2.6 Weitere Jubiläumsfeiern im NS-Staat Auf das Lutherjubiläum 1933 folgten zwei weitere Jubiläumsanlässe, die in Wittenberg feierlich begangen wurden: Die 400. Jährung der Erstausgabe von Luthers Bibelübersetzung 1934 und der 450. Geburtstag Johannes Bugenhagens 1935. Beide Feiern unterschieden sich von ihren Vorgängern vor allem dadurch, dass die alte Wittenberger Honoratiorengesellschaft sich nicht mehr federführend an der Organisation beteiligte. Im Kaiserreich und der Weimarer Republik war die Gestaltung der Jubiläen eine Angelegenheit des städtischen Bürgertums und der evangelischen Kirche gewesen. Aus diesen beiden Kräften rekrutierten sich die Persönlichkeiten, die die Vorbereitungen der Feierlichkeiten stets in die Hand genommen hatten. Kommunal- und Kirchenvertreter sowie die führenden Köpfe des lokalen Gewerbes waren in einem bürgerlichen Festausschuss zusammengekommen, um sich gemeinsam auf den Rahmen, Umfang und Ablauf des zu feiernden Jubiläums zu einigen. Ab 1933 setzte jedoch eine Professionalisierung der Jubiläumsplanungen ein, deren Organisatoren sich nun qua Amt damit beschäftigten. So luden beispielsweise zu den Lutherfestspielen 1934 der NS-Oberbürgermeister Faber, der Superintendent Meichßner sowie der Direktor der Lutherhalle Thulin ein.125 Letzterer beteiligte sich an der inhaltlichen Ausgestaltung des Jubiläums jeweils durch eine thematisch passende Sonderausstellung, die von ihm überregional beworben wurde.126 Organisationsrahmen, Einladungspraxis und Publizistik indizieren, dass die breite Einbeziehung der bürgerlichen Eliten der Stadt mittels Festkomitee keine Voraussetzung mehr für Jubiläumsfeierlichkeiten war. Diese Entwicklung korreliert mit dem veränderten Charakter kommunaler Selbstverwaltung im Dritten Reich. Neben der Neubesetzung von Führungspositionen wurde auch die verfassungsmäßige Stellung der Kommunen in der Deutschen Gemeindeordnung im Januar 1935 neu geregelt.127 Die beamtenrechtliche Bindung des Bürgermeisters, aber auch die 1935 erfolgte Schaffung einer Beamtenstelle für den Direktor der Lutherhalle, die auch als Ergebnis von dessen Eintritt in die NSDAP sowie des Beginns des kommunalpolitischen Wirkens im Wittenberger Stadtrat gesehen werden muss,128 schränkten die kommunalen Handlungsspielräume deutlich ein, indem die Nationalsozialisten deren Organe enger an Partei und Staat banden. Der dichter werdende Staatsinterventionismus verhinderte eine breit angelegte Beteiligung städtischer Eliten,

125 126 127 128

Vgl. Werbeblatt Lutherfestspiele, in Archiv StLu. Vgl. Thulin, 400 Jahre Deutsche Lutherbibel. Vgl. Schott, Zukunft und Geschichte der Stadt, 325. Vgl. Korrespondenz von Gersdorff betreffs Direktorenstelle Thulin 1933, in: Akte 8, Archiv StLu; Siehe auch Sammlung Unterlagen zu Thulin in: Akte 24, Archiv StLu.

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220 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus die bis dahin ein wichtiges Instrument kommunaler Selbstbestimmung gewesen war. Die bereits 1933 erprobte Mischung aus kirchlichem Feierkanon und Volksfestelementen wurde auch beim Bibeljubiläum im darauf folgenden Jahr beibehalten, um der ganzen ,Volksgemeinschaft‘ die Teilnahme zu ermöglichen. Vor allem das allabendliche Marktfest mit Hans-Sachs-Spielen und Volksleben aus der Lutherzeit sowie die Aufführung von August Strindbergs Lutherfestspiel auf dem Schlosshof sollten Besucher auch jenseits des kirchlich gebundenen evangelischen Stammpublikums anlocken. Dies war auch möglich, weil der Verweis auf die Bedeutung von Luthers Bibelübersetzung für die deutsche Sprache für die gesamte Kulturnation relevant war. Schließlich galt die Reformation den Nationalsozialisten vor allem deshalb als Markstein deutscher Geschichte, weil sie sich als volkssprachliche autochthone Kultur aus dem Bann des lateinisch-christlichen Abendlandes gelöst habe.129 Das Jubiläum bot reichlich Gelegenheit für vermeintlich unpolitische Vergnügungen und Festerlebnisse; auf eine allzu offensichtliche Instrumentalisierung für die Sache des Dritten Reiches hatte man verzichtet. Es scheint sich in Wittenberg eine Konstellation zu bestätigen, die auch von anderen städtischen Jubiläumsfeierlichkeiten in diesem Zeitraum bekannt ist: Die konkrete Ausgestaltung wurde dem kommunalen Behördenapparat sowie staatlichen Institutionen überlassen, während die NSDAP sich im Hintergrund hielt und auf deren politische Inanspruchnahme weitgehend verzichtete.130 Die Bugenhagenfeier 1935 blieb weit hinter ihren Vorgängern zurück, denn die Jubiläumseuphorie in Wittenberg hatte sich in der Mitte der 1930er Jahre deutlich abgekühlt. Außerdem ließ sich die Erinnerung an den ersten evangelischen Pfarrer der Stadtkirchengemeinde kaum für nationalsozialistische Zwecke instrumentalisieren. Träger der Feierlichkeiten war die Stadtkirchengemeinde in Zusammenarbeit mit der theologischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg.131 Die Kommune beteiligte sich im Gegensatz zu vorangegangenen Jubiläumsfeiern nicht mehr. Das Reformationsjubiläum hatte seine in den 1920er Jahren aktuelle Rolle als Integrationsmechanismus einer verunsicherten Altbevölkerung Wittenbergs, als Mittel kommunaler Identitätsstabilisierung sowie als Ausgrenzungsmechanismus gegenüber neu hinzugezogenen Arbeiterschichten verloren. Zahlreiche Repräsentanten des öffentlichen Lebens, unter ihnen der Landrat, der Direktor der Stickstoffwerke und der Wittenberger Kaufmann Holzhausen, hatten die Einladung zu den

129 Vgl. Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis, 84. 130 Vgl. Brunner, Stralsund, 125; Saldern, Stadtfeiern, Stadtfeiern im 20. Jahrhundert, 332; Minner, Städtische Erinnerung und neue Machthaber. 131 Vgl. Broschüre „Johannes Bugenhagen: Feier der Kirchengemeinde Wittenberg in Gemeinschaft mit der theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zur 450. Wiederkehr des Geburtstages ihres ersten evangelischen Stadtpfarrers“, Wittenberg 1935.

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Die Wittenberger Kirche im Dritten Reich

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Feierlichkeiten 1935 folglich abgesagt.132 Diese beschränkten sich auf einen Festgottesdienst, eine Feierstunde im Bugenhagensaal mit kurzen Vorträgen der halleschen Theologieprofessoren Friedrich Karl Schumann und Ernst Wolf sowie einen Gemeindenachmittag in Balzers Festsaal.133

3. Die Wittenberger Kirche im Dritten Reich 3.1 Wittenberg als zentraler Ort des deutschen Protestantismus In den Jahren der Weimarer Republik hatte es in Wittenberg zahlreiche Versuche gegeben, die Kulisse der reformationshistorischen Denkmallandschaft mit Leben zu füllen. Neben der Etablierung eines evangelischen Pilgertourismus hatten die Stadtväter sich bemüht, einen evangelischen Tagungs- und Kongressbetrieb zu etablieren. Hierbei setzten sie vor allem auf die 1919 in der Stadt gegründete und dort bis in die 1940er Jahre ansässige Luthergesellschaft. An deren Arbeit anknüpfend initiierte der 1930 ins Amt berufene Direktor der Lutherhalle Oskar Thulin mehrtägige Seminare und Tagungen, die in Zusammenarbeit zwischen Museum und Predigerseminar in Wittenberg stattfanden. Hierfür waren die Schaffung kleinerer Konferenzräume im Augusteum, die Einrichtung einer Wohnung im Melanchthonhaus sowie die Schaffung von Unterbringungsmöglichkeiten im Schloss angedacht.134 In der vormaligen Residenz Friedrichs des Weisen war bereits das in der Mitte der 1920er Jahre gegründete Kirchliche Forschungsheim untergebracht, das sich vor allem der Beziehung zwischen Religion und Naturwissenschaften widmete und damit ein gegenwartsrelevantes kirchliches Thema besetzte. Auf dem Weg zu einem zentralen Ort des Protestantismus in Deutschland hatte Wittenberg also in den Jahren der Republik gewaltige Fortschritte gemacht, aber der Durchbruch war der Stadt bis dahin nicht gelungen. Mit den politischen Veränderungen des Jahres 1933 erhielten die Wittenberger Ambitionen neuen Auftrieb, denn sie bedeuteten auch für die evangelischen Kirchen Deutschlands eine Zäsur. Die aus den Kirchenwahlen des Jahres vielerorts siegreich hervorgegangen Deutschen Christen favorisierten eine grundsätzliche Neuordnung der kirchlichen Strukturen. Ihre Euphorie im Jahr 1933 ist deshalb nicht nur rückwärtsgewandt, als Reflex der Negation der Weimarer Verhältnisse, zu verstehen. In den konkreten Erwartungen, die sich mit der Herrschaftsübernahme durch die Nationalsozialisten verbanden, spielte vor allem die Hoffnung auf einen Zusammenschluss der zahlreichen 132 Vgl. Schriftverkehr Vorbereitung Bugenhagenfeier 1935, in: Akte A II 207, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 133 Vgl. Programm Bugenhagenfeier 1935, in: Akte A II 207, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 134 Protokoll der Lutherhallenvorstandssitzung am 4. Juni 1936, in: Akte 6, Archiv StLu.

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222 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus evangelischen Landeskirchen zu einer National- oder Reichskirche eine Rolle.135 Bereits 1922 hatten die 28 evangelischen Landeskirchen in Wittenberg den Deutschen Evangelischen Kirchenbund gegründet, der allerdings unter dem Vorbehalt der uneingeschränkten Autonomie der einzelnen Landeskirchen bestand. Die 1933 angestrebte Neuordnung sollte deutlich weiter gehen. Die neue Geschlossenheit der Nation könne, so die Vorstellung vieler Akteure der Deutschen Christen, ihr kirchliches Pendant in der Überwindung des kirchenpolitischen Partikularismus finden. Der Wittenberger Superintendent Meichßner formulierte stellvertretend für andere: „Wir können im Jahr des Heils 1933 nur immer wieder bitten, dass er unserem Volke und unserer Kirche echtes Führertum schenke und Volk und Kirche erwecke zum Gehorsam gegen sein Wort.“136 Mit der Neuordnung ging die Frage nach dem Zentrum der ersehnten Reichskirche einher, zu dem sich die Stadt Wittenberg hätte entwickeln können. Wittenbergs Kommunalpolitiker und Kirchenvertreter verbanden mit der kirchenpolitischen Entwicklung des Jahres 1933 deshalb die Hoffnung, wieder zu einem zentralen Ort des evangelischen Lebens in Deutschland zu werden. Nährboden erhielten derartige Wittenberger Ambitionen durch die Presseberichterstattung. Das neue Deutschland habe „Potsdam als das Symbol der geschichtsverpflichteten Tradition dem deutschen Volke zurückgegeben und Nürnberg zum Zentrum der Bewegung erhoben, die das neue Deutschland erzwang“,137 schrieben etwa die Hallischen Nachrichten und setzten gedanklich fort, dass Wittenberg fortan zum evangelischen Zentrum des neuen Reiches werden könne. Auch die internationale Presse berichtete dementsprechend: So bezeichnete beispielsweise die in Paris erscheinende Zeitung Le Temps Wittenberg als „la future capitale du protestantisme allemand.“138 Wittenberg als Symbolort des deutschen Protestantismus war stets Ausgangspunkt dieser Spekulationen, die von den lokalen Vertretern zusätzlich befeuert wurden. NS-Bürgermeister Faber formulierte, Luther und sein Wittenberg mögen „neben den Namen der großen Deutschen, die Potsdam und Weimar, Nürnberg und München zu örtlichen Symbolen der geistigen und kulturellen Schöpferkraft gemacht haben“,139 stehen. Und Lutherhallendirektor Thulin forderte: Wie Schweden neben Stockholm Uppsala, wie England neben London Canterbury, wie Dänemark neben Kopenhagen Roskilde, so braucht die deutsche Kirche neben 135 136 137 138

Vgl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, 355 ff. Meichßner, Echtes Führertum und echte Revolution, 5. Lutherglocken über Wittenberg, Hallische Nachrichten, 12. 09. 1933. Les fÞtes  l’honneur de Luther dans Wittenberg, la future capitale du protestantisme allemand, Le Temps, 12. 09. 1933. 139 Ansprache NS-Oberbürgermeister Faber bei Festakt im Lutherhaus, zitiert in Wittenberger Tageblatt, 11. September 1933.

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Die Wittenberger Kirche im Dritten Reich

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Berlin, leicht erreichbar und für Deutschland zentral gelegen, eine Lutherstadt Wittenberg, in der an den historischen Lutherstätten Tagungen und Schulungen, Kundgebungen und Entscheidungen, abseits vom Getriebe der Großstadt, von den Quellen her getroffen und bis zu den Herzen hingeleitet werden können.140

Mit den Überlegungen des im September 1933 ins Amt gelangten Reichsbischofs Müller, Wittenberg zum Bischofssitz zu machen, erfuhren die Bemühungen der Wittenberger Stadtväter weiteren Auftrieb. Nicht zufällig fanden dessen Wahl und Amtseinführung in der Lutherstadt statt. Aus Wittenberger Sicht schien die Hoffnung auf symbolische sowie tatsächliche Aufwertung der Rolle der Stadt im kirchlichen Leben Deutschlands zusätzlich genährt: „Wieder steht unserer Stadt eine besondere Auszeichnung bevor – ein Ereignis von kirchengeschichtlicher, ja von weltgeschichtlicher Bedeutung wird sich in ihren Mauern abspielen“,141 kündigte die Lokalpresse die Nationalsynode an. In Ergänzung hierzu versuchte die in Wittenberg ansässige und mit der Stadt besonders verbundene Luthergesellschaft im Oktober 1933, Müller zum Schirmherrn der Organisation zu machen, um einen weiteren Pflock im Ringen um den Sitz des Reichsbischofs einzuschlagen und Müller institutionell stärker an den Standort Wittenberg zu binden.142 Bei einem Empfang in der Lutherhalle anlässlich des 50–jährigen Bestehens des Museums äußerte Müller, er hoffe, dass der Reichsbischof in den Mauern der Stadt residieren werde und dass alle großen kirchlichen Verhandlungen ihren Ausgang und Höhepunkt in Wittenberg erfahren würden.143 Diese Hoffnung artikulierte er bei den Feiern im September erneut und verband sie mit dem Wunsch, neue kirchliche Formen könnten die Steigerung des Innenlebens des deutschen Volkes begünstigen.144 Geschickt stellte das Büro der Einstweiligen Leitung der Evangelischen Kirche Deutschlands den Wittenbergern unmittelbar vor der Inthronisationszeremonie den Besuch des Reichspräsidenten, des Kanzlers und weiterer Vertreter der Reichsregierung in Aussicht.145 Tatsächlich schickten diese aber nur Glückwunschtelegramme.146 Müller wollte mit seinem Auftritt nicht nur den Lokalpatrioten schmeicheln, sondern versuchte, die Symbolwirkung Wittenbergs als anerkanntes Zentrum des deutschen Luthertums für eine gleichschaltende Vereinheitlichung der evangelischen Kirchen Deutschlands unter seiner Führung 140 Thulin, Eine Lanze für Wittenberg. 141 Wittenberger Tageblatt, 19. September 1933. 142 Vgl. Sitzungsprotokoll des geschäftsführenden Ausschusses der Luthergesellschaft vom 24. 10. 1933, Akte 100, Vorstand, Sitzungen und Mitgliederversammlungen 1918 – 1997, Archiv Luthergesellschaft Wittenberg. 143 Vgl. Bericht über die Verwaltung 1933. 144 Vgl. Wittenberg – Sitz des Reichsbischofs, Montagspost Berlin, 11. 09. 1933. 145 Vgl. Schreiben des Büros der Einstweiligen Leitung der Evangelischen Kirche Deutschlands an Magistrat Wittenberg vom 18. September 1933, in: Akte 4043, Stadtarchiv Wittenberg. 146 Der Text der Telegramme Hitlers und des preußischen Kultusministers Bernhard Rust abgedruckt in: Kretzschmar (Hg.), Dokumente zur Kirchenpolitik, 136.

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224 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus zu nutzen. Passend hierzu forderten die Wittenberger Vertreter der Glaubensbewegung Deutsche Christen in einem Wahlaufruf anlässlich der bevorstehenden Kirchenwahlen, dass der Reichsbischof seinen Sitz in der Lutherstadt zu nehmen habe.147 Der erhoffte Aufstieg Wittenbergs zum zentralen Ort der evangelischen Kirchen des Reiches verband sich nicht nur mit der Erwartung, Reichsbischofssitz zu werden. Im Zusammenhang mit den Feiern des Jahres 1933 sowie der in Wittenberg stattfindenden Nationalsynode erwog der Reichsarbeitsausschuss des Lutherjubiläums, seine Tätigkeit fortzusetzen, um der Forderung gegenüber der neuen Reichsregierung, den Reformationstag zum Staatsfeiertag zu machen, Nachdruck zu verleihen. Außerdem sollte alljährlich am 31. Oktober ein Deutscher Protestantentag in Wittenberg stattfinden.148 Diese, als Kirchentag konzipierte, Veranstaltung sollte dazu beitragen, „Wittenberg als den Wallfahrtsort des Protestantismus der ganzen Welt auszugestalten.“149 3.2 Die Wahl des Reichsbischofs Müller Die kritische Reflexion des wechselseitigen Verhältnisses von Religion und Politik efolgte in den lutherischen Kirchen meist in Krisensituationen, in denen politische Rahmenbedingungen sich radikal veränderten und infolgedessen das bis dahin geltende Selbstverständnis der Kirchen sich Anfragen ausgesetzt sah. Hiermit verbunden war die Notwendigkeit der Legitimation, Abgrenzung oder Neuverortung gegenüber einer sich verändernden weltlichen Ordnung.150 Die in Wittenberg im Jahr 1933 betriebene enge Verzahnung einer innerkirchlichen Angelegenheit – die Amtseinführung eines Bischofs – mit den Aktivitäten einer städtischen Öffentlichkeit gibt Aufschluss drüber, wie stark der deutsche Mehrheitsprotestantismus bezüglich der nationalsozialistischen Diktatur dem Pol der Legitimation zuneigte. Bei der 1933 in Wittenberg betriebenen Bischofskür handelte es sich nicht nur um einen Bereich der Politik innerhalb der Kirche, sondern auch um eine Sozial- und Mentalitätsgeschichte religiöser Orientierung und politischen Verhaltens. Eine besondere Rolle spielten dabei die kirchlichen Amtsträger. Manfred Gailus, Spezialist für die Erforschung der Rolle protestantischer Religionsgemeinschaften im Nationalsozialismus, weist in seiner Habilitationsschrift über das protestantische Sozialmilieu am Beispiel Berlins darauf hin, dass die entscheidenden Impulse zur Nazifizierung der Gemeinden meist von den 147 Berichterstattung der Wittenberger Zeitung vom 21. Juli 1933. 148 Vgl. Presseberichterstattung: Der deutsche Luthertag, Wittenberger Zeitung, 29. 08. 1933; Protestantentag alljährlich in Wittenberg, Völkischer Beobachter, 17. 09. 1933. 149 Wittenberg wird Wallfahrtsort aller Protestanten der Welt, Wittenberger Zeitung, 17. 11. 1933. 150 Vgl. Duchrow/Huber (Hg.), Die Ambivalenz der Zweireichelehre; Duchrow (Hg.), Zwei Reiche und Regimenter.

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Die Wittenberger Kirche im Dritten Reich

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Pfarrern und nicht, wie vielfach behauptet, von der Partei gegeben wurden.151 Ihr Amtsverständnis speist sich vor allem aus der Funktion des Predigers, und als solcherart öffentliche Redner beanspruchen sie einen Gestaltungsspielraum, der das Verhältnis von Religion und Politik entscheidend mitbestimmen kann. Der Amtsanspruch der evangelischen Pfarrer ist stets von politischem Gewicht, weil sie das Recht behaupten, sich auch zur Amtsführung der weltlichen ,Obrigkeit‘ zu äußern. Dies schließt die Möglichkeit der Affirmation ebenso wie die der Obrigkeitskritik und der Aufkündigung des Gehorsams ein. Auch in Wittenberg erwiesen sich die evangelischen Geistlichen im Jahr 1933 als Stützen des neuen Regimes. So konstatierte der Superintendent Meichßner bei einer Kundgebung der Glaubensbewegung Deutsche Christen im Juli, dass bei den bevorstehenden Wahlen der Kirchenparlamente eigentlich nicht mehr abgestimmt werden müsse, da in Wittenberg nur diese auf der Liste standen: „Als Pfarrer der Gemeinde und als Superintendent des Kirchenkreises habe ich den Wunsch, dass wir uns geschlossen hinter die Glaubensbewegung Deutsche Christen stellen.“152 Die Veranstaltung, eine suggestive Mischung des Religiösen und des Politischen, wurde mit dem Lutherchoral Ein feste Burg eröffnet und mit dem Absingen des Horst-Wessel-Liedes „als Zeichen der Verbundenheit zum NS-Staat“ beendet.153 Die Wittenberger Kirchenvertreter hatten mit ihrer nationalistischen Geschichtstheologie die christliche Eschatologie mit einer nationalen Heilslehre vermengt und liefen nun Gefahr, den Staat selbst zur Kirche zu machen. Bereits früh und sehr eindeutig hatten sie sich auf die Seite der Deutschen Christen gestellt. Mittels religiöser Aufladung des Politischen hatten sie die ,deutsche Revolution‘ der Nationalsozialisten ausdrücklich in der Hoffnung begrüßt, sie werde zur Wiederherstellung eines protestantisch-christlichen Staatsverständnisses führen.154 Die Entfernung eines den Nationalsozialisten missliebigen Pfarrers aus dem Amt, wie beispielsweise im September 1933 in der Eislebener St. Annen- Kirchengemeinde geschehen,155 fand im systemkonformen Wittenberg nicht statt. Dass der evangelische Klerus der Stadt keinerlei Berührungsängste mit den neuen politischen Machthabern hatte, zeigte aber auch die Art und Weise der kirchlichen Beteiligung an den Jubiläumsfeierlichkeiten zum 450. Geburtstag des Reformators. Von den Türmen der Stadtkirche und der Schlosskirche

151 152 153 154

Vgl. Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Zitiert in Berichterstattung der Wittenberger Zeitung vom 21. Juli 1933. Ebd.; Horst Wessel war Sohn eines evangelischen Pfarrers. Vgl. allgemein: Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 1, 624ff; Zur Rolle Müllers in diesem Transformationsprozess der evangelischen Kirchen vgl. Schneider, Reichsbischof Ludwig Müller, 147 – 152. 155 Vgl. Onnasch, Waren die Existenzbedingungen in beiden Diktaturen vergleichbar?, 350 f; ders.: Pfarrer und Gemeinde im Kirchenkampf der Kirchenprovinz Sachsen.

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226 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus wehten „die Kirchenfahnen und die Fahnen der nationalen Erhebung.“156 Nicht nur der Flaggenschmuck, sondern auch die Ausgestaltung einiger Festbestandteile zeigt, dass es an Kooperationswillen zwischen Kirchenvertretern und NS-Funktionären nicht mangelte. Für den feierlichen Zug kirchlicher Würdenträger vom Hotel Goldener Adler am Marktplatz zum Festgottesdienst in der Stadtkirche standen SA-Männer Spalier.157 Und der vom Kantor beklagte Mangel an Männerstimmen zur musikalischen Ausgestaltung wurde durch den Einsatz von zwanzig SA-Männern behoben.158 Ein derart vorgeprägtes Milieu verhieß der zwei Wochen nach den Jubiläumsfeierlichkeiten in Wittenberg stattfindenden Nationalsynode gute Erfolgsaussichten. Die Eröffnung wurde mit allem nationalsozialistischen Pomp vollzogen und fand unter Beteiligung der Fahnenabordnungen der SA, SS und des Stahlhelms statt, obwohl hochrangige Parteifunktionäre des NS-Staates, wie bereits zwei Wochen zuvor beim Lutherjubiläum, nicht in Wittenberg vertreten waren.159 „Schon am Vortag spürte man die ernste, feierliche und doch festliche Stimmung“, schrieb das Presseorgan der Deutschen Christen. Unzählige Fahnen seien gehisst worden: „Das Schwarz-Weiß-Rot, die alte deutsche Fahne, das kämpfende Banner der nationalsozialistischen Erhebung, die violetten Kreuze auf weißem Grund – die evangelischen Kirchenfahnen.“160 Das Hotel Goldener Adler war zum „Führer-Quartier“161 ernannt worden und der Rektor des Katharinen-Lyzeums hatte veranlasst, dass hunderte Schüler aller Wittenberger Bildungseinrichtungen beim feierlichen Zug der Festgesellschaft Spalier standen.162 Die Kür des Königsberger Wehrkreispfarrers Ludwig Müllers zum Reichsbischof durch die sechzig Delegierten glich „in ihrem äußeren Gepräge einer mittelalterlichen Kaiserwahl“.163 Auch die Wittenberger Gemeinde nahm an dieser Zeremonie aktiv teil, die von Manfred Gailus als „einschneidendes protestantisches Massenerlebnis“ und Großereignis beschrieben wurde. An dieser Stelle vollzog sich „die vorwiegend emphatische Zustimmung zum radikalen ,nationalen Aufbruch‘ als bereitwillig einsetzende Selbsttransformation in Richtung eines regimeangepassten, einvernehmlichen, völkischen Protestantismus.“164 Die Grundstimmung lässt sich mit den Begriffen Freude, Jubel und Euphorie beschreiben, vergleichbar der Aufbruchsstimmung der Jahre 1870/71 und 1914.165 Berühmt 156 Berichterstattung in Wittenberger Zeitung, 11. September 1933. 157 Vgl. Wittenberger Zeitung, 11. September 1933. 158 Brief Kantor an Bürgermeister Faber vom 30. 08. 1933, in: Akte 4049, Stadtarchiv Lutherstadt Wittenberg. 159 Vgl. Schneider, Reichsbischof Müller, 152. 160 Evangelium im Dritten Reich, Sonntagsblatt der Deutschen Christen Nr. 41, zitiert in: Goette, Die Propaganda der Glaubensbewegung Deutsche Christen, 127. 161 Berichterstattung Wittenberger Tageblatt vom 27. September 1933. 162 Vgl. Berichterstattung Wittenberger Tageblatt vom 26. September 1933. 163 Goette, Propaganda der Glaubensbewegung, 127. 164 Gailus, Von der selbstgewählten hundertjährigen Gefangenschaft der Kirche, 514. 165 Vgl. Becker, Protestantische Euphorien.

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Die Wittenberger Kirche im Dritten Reich

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geworden ist das Foto Müllers, das ihn, die Hand zum Hitlergruß gehoben, zusammen mit dem NS-Oberbürgermeister Faber sowie den Angehörigen der Wittenberger NS-Standarte 20 auf den Portalstufen des Rathauses zeigt. Widerspruch gegen die Bischofswahl sowie deren Inszenierung erfolgte nur von außen. So brachte Dietrich Bonhoeffer am 27. September 1933 etwa 2000 Flugblätter An die Nationalsynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Wittenberg in die Stadt, um sie zu verteilen.166 Als Bonhoeffer anlässlich der Wahl des Reichsbischof Müllers in der Schlosskirche dem Gruß des 1. Theologensturm Deutschlands – eine aus 110 Theologiestudenten Sachsens gebildete SA-Einheit – beiwohnte, soll ein Freund ihm zugeraunt haben, nun glaube er an die „Realrotation“ der Gebeine Luthers in dessen Grab.167 Bonhoeffer und weitere Mitstreiter der sich formierenden Bekennenden Kirche konnten sich in Wittenberg jedoch kaum Gehör verschaffen.

3.3 ,Kirchenkampf‘ in Wittenberg Die Unterstützung der Wittenberger Amtskirchenträger für das neue Regime war wesentlich mit der Hoffnung verbunden, den Einfluss- und Bedeutungsverlust der Kirche aufhalten oder sogar umkehren zu können. Der Generalsuperintendent der Provinz Sachsen rief in der lokalen Presse dazu auf, Luthers Gedächtnis im „deutschen Jahr 1933 mit umso tieferer Dankbarkeit zu feiern“, hätten sich doch leicht „die hereinbrechenden Wogen des Bolschewismus und der organisierten Gottlosigkeit hemmungslos über unser Land ergießen können.“168 Die Indifferenz der Protagonisten der Weimarer Republik gegenüber der Wiege der Reformation sowie der Verlust des Status als Volkskirche, der in Wittenberg angesichts der Transformation von einer bekenntnisstarken Bürger- in eine kirchenferne Einwohnergemeinde drohte, schien in den Augen der Kirchenvertreter die Identität Wittenbergs als ,feste Burg lutherischen Glaubens‘ zu gefährden, und sie begrüßten den Machtwechsel deshalb euphorisch. Schnell hatte sich bei den Wittenberger Pfarrern nach der ersten Begeisterung des Jahres 1933 Ernüchterung eingestellt. Die Hoffnung, Wittenberg zu einem Zentrum des Kirchenlebens auszubauen, zerschlug sich bald, denn die Stadt wurde nicht zum Sitz des Reichsbischofs. Auch die gehegte Erwartungshaltung, die städtische als eine konfessionelle Gemeinschaft bewahren zu können, bestätigte sich nicht. Durch den raschen Ausbau zu einem wichtigen Standort der Rüstungsindustrie gewann die Stadt neue Einwohner hinzu, die das Lager der Kirchenfernen stärkten und den Einfluss der Stadtkirchengemeinde schwächten. Hinzu kam eine Welle von Kirchenaustritten 166 Vgl. Kabus, Dietrich Bonhoeffer in Wittenberg, 59. 167 Eberhardt Bethge, Dietrich Bonhoeffer, 374. 168 Luther und wir, Wittenberger Zeitung, 10. September 1933.

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228 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus vor allem in den Jahren 1933 und 1934, wofür die Wittenberger Pfarrer auch das neue politische Regime verantwortlich machten. So wurden beispielsweise bei der Verlesung der Kirchenaustrittsliste des Jahres 1935 von der Kanzel die SA- und SS-Führer mit ihren Dienstgraden genannt, was auf heftigen Protest stieß und zu einem Beschwerdebrief Heinrich Himmlers an die Wittenberger Kirchengemeinde führte.169 Der politische Machtwechsel bewirkte eine institutionelle Schwächung kirchlicher Einrichtungen, von der vor allem das Evangelische Predigerseminar betroffen war. Als erstes seiner Art im Jahr 1817 gegründet, hatte sich die Seminargemeinschaft stets ein besonderes Maß an Unabhängigkeit bewahrt. Als Hüter eines letzten universitären Traditionszipfels in Wittenberg, als Verwalter der Schlosskirche und kirchlicher Interessensvertreter bezüglich des Lutherhauses spielte das Seminar zudem eine wichtige Rolle in der Wittenberger Denkmallandschaft. Zusammen mit weiteren kirchlichen Ausbildungseinrichtungen in Preußen wurde es am 15. März 1934 auf Anordnung des Reichsbischofs Müller geschlossen.170 Ziel war die Auflösung der rechtlichen und organisatorischen Selbstständigkeit der Kirche sowie die Verschmelzung mit dem nationalsozialistischen Staat, zu der auch die Einflussnahme auf die Pfarrerausbildung gehörte. Die am 22. Oktober 1934 ins wiedereröffnete Wittenberger Seminar einberufenen sechsundzwanzig Kandidaten mussten eine Erklärung unterschreiben, durch die sie direkt dem Reichsbischof unterstellt wurden. Fünfzehn Kandidaten widerriefen wenige Tage darauf jedoch ihr Einverständnis und mussten das Seminar verlassen. Auf diese Weise ist die traditionsreiche kirchliche Bildungsstätte gleichgeschaltet worden.171 Die Unterbrechung des Jahres 1934 bedeutete eine entscheidende Zäsur in der Geschichte des Seminars, die das Ende einer traditionellen Besonderheit Wittenbergs herbeiführte. Dies gilt vor allem für die Seminargemeinschaft als einer unabhängigen, mit besonderen Rechten ausgestatteten Korporation. 1937 wurde zudem die zunächst im ehemaligen Wohnhaus des Reformators, später im Wirtschaftgebäude des Fridericianums untergebrachte Lutherschule,172 die als Seminarübungsschule den Kandidaten die Gelegenheit einer pädagogischen Ausbildung gegeben hatte, auf staatliches Betreiben geschlossen.173 Nicht nur die kirchlichen Ausbildungsstätten, sondern auch die reguläre 169 Vgl. Rupieper/Sperk (Hg.), Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei, 189 f.; Brief Himmler in Akte A II 260, Archiv Stadtkirche. 170 Vgl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 2, 13. 171 Vgl. Akte 472, Wiedereröffnung Predigerseminar, Archiv Predigerseminar Wittenberg; Onnasch, Um kirchliche Macht und geistliche Vollmacht, 138; Katharina Bethge, Die Ausweisung der Kandidaten der Theologie; Eberhard Bethge, In Zitz gab es keine Juden, 83 – 87. 172 Die Lutherschule wurde 1834 eröffnet und war institutionell an das Predigerseminar angebunden. Vgl. Dibelius, Das königliche Predigerseminar zu Wittenberg, 205 ff. Zur Lutherschule vgl. Akte 228, Archiv Predigerseminar. 173 Vgl. Ehrke, Im Übergang; Kabus, Die Wittenberger Lutherschule.

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Oskar Thulin und die Lutherhalle

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Amtskirche wurde zu einem Ort des ,Kirchenkampfes‘.174 Als Folge der sich zuspitzenden Konfrontation zwischen Anhängern der Bekennenden Kirche und Unterstützern der Deutschen Christen war ein innerkirchliches Machtvakuum entstanden. Um in der Frage des Kirchenregiments zu einer Lösung zu kommen, bildete sich eine mittlere Gruppe, deren Gründungstagung im Juni 1937 unter Anwesenheit von einundfünfzig Pfarrern und Laien in der Lutherstadt stattfand und die sich Wittenberger Bund nannte. Mit dreizehn Vertretern stellte die Kirchenprovinz Sachsen die meisten Mitglieder der Tagung, unter ihnen befand sich auch der Leiter des Predigerseminars Hermann Hage. Der um die Erhaltung der Volkskirche besorgte Bund setzte sich die Überwindung der innerkirchlichen Konfrontationslinien sowie die Bildung einer geistlichen Leitung zum Ziel, erreichte dies aber ebenso wenig wie das unter Führung des Wittenberger Superintendenten Meichßner entstandene Superintendentenkollegium.175 Neben kirchlichen Amtsträgern unternahmen auch staatliche Stellen den Versuch einer innerkirchlichen Befriedung und brachten zu diesem Zweck wiederholt Wittenberg als protestantischen Symbolort ins Gespräch. Ein Beispiel hierfür ist die 1939 erwogene Ansiedlung des in Eisenach von dreizehn evangelischen Landeskirchen gegründeten Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben des deutschen Volkes mit dem erklärten Ziel, es dem Protektorat der Thüringer Deutschen Christen zu entziehen und „auf ganz breiter Basis zu arbeiten.“176 Reichskirchenminister Kerrl formulierte: „Ich will das Institut nicht in Eisenach haben. Es soll nach Wittenberg, das wird sonst eine DC-Sache.“177 Letztendlich konnte aber auch der permanente Verweis auf den Symbolort Wittenberg nicht die staatlich gewünschte mentale und institutionelle Einheit der Kirche herstellen.

4. Oskar Thulin und die Lutherhalle 4.1 Der lebendige Luther – Ein Personalmuseum entsteht Mit der Anstellung des ersten hauptamtlichen Direktors Oskar Thulin begann für die Lutherhalle eine neue Ära. Der Theologe und Kunsthistoriker gab dem 174 Gailus spricht jedoch von einer „Entzauberung“ des Erinnerungsortes ,Kirchenkampf‘. Für ihn handelt es sich dabei um einen „changierenden, unzulässig selektiven und mit falschen suggestiven Potentialen aufgeladenen Epochenbegriff.“ Siehe Gailus, Keine gute Performance, 100. 175 Vgl. Onnasch, Um kirchliche Macht, 213 – 240. 176 Zitat des Gründungsrektors Siegfried Leffler in einer Besprechung über die Umsetzung der Godesberger Erklärung mit dem Ziel der innerkirchlichen Befriedung. Vgl. Grünzinger und Nicolaisen (Hg.), Dokumente zur Kirchenpolitik, 352. 177 Mitschrift Besprechungsprotokoll in: Ebd., 351.

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230 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus Museum in seiner fast vierzig Jahre währenden Amtszeit ein neues Profil und prägte den Umgang mit den Lutherstätten weit über den Rahmen des Museums hinaus.178 Die Gründungsväter der Lutherhalle hatten nie wirklich ausformulieren können, ob in Wittenberg ein Epochen- oder Personenmuseum entstehen sollte. Bereits die Namensgeschichte zeigt, dass sie bis unmittelbar vor der Eröffnung 1883 zwischen einer Luther- und einer Reformationshalle schwankten.179 Auch die ,Unbekümmertheit‘ der Ankaufspolitik der ersten Jahrzehnte zeigt, dass es weder eine kohärente Sammlungspolitik noch ein stringentes Ausstellungskonzept gegeben hatte und dass man ständig zwischen einem Reformations- und einem Luthermuseum schwankte.180 Noch ein von Superintendent Friedrich Wilhelm Orthmann in den Jahren des Ersten Weltkriegs verfasster Stadtführer formulierte, dass die Lutherhalle „nicht nur der Person des Reformators, sondern der ganzen Geschichte der Reformation und ihrer weittragenden Einwirkungen auf das geschichtliche Leben insbesondere des deutschen Volkes“181 gewidmet sei. Oskar Thulin hat mit seiner Konzentration auf das Lutherbild sowie einer Baupolitik, die den vermeintlich authentischen Charakter des Lutherhauses wieder hervorbringen sollte,182 diese Frage zugunsten eines Personalmuseums entschieden. So setzte er sich beispielsweise über die Bezeichnungen Kurfürstensaal oder Aula hinweg und gebrauchte den von ihm bevorzugten Begriff Großer Hörsaal, um den zentralen Raum des Hauses eng an die akademische Biographie Luthers zu binden.183 Kennzeichnend für dessen Museumsarbeit wurde ein Denkmuster, in dem sich die Personalisierung der Geschichte und die Instrumentalisierung der geschichtlichen Person verschränkten. Dank einer stark emotionalisierten Präsentation sollten die Besucher am vermeintlichen Lebensalltag des Reformators teilhaben, denn

178 Thulin trat seinen Dienst als Pfleger der Lutherhalle am 1. Januar 1930 an. Im Jahr darauf durfte er sich Direktor der Sammlungen der Lutherhalle nennen und blieb in diesem Amt bis 1969. Neben seiner Tätigkeit als Museumsdirektor übernahm er an den Universitäten in Halle und Leipzig Lehrtätigkeiten, wirkte als Dozent des Wittenberger Predigerseminars, war in den 1930er Jahren in die Kommunalpolitik der Stadt involviert und verfasste zahlreiche Monografien und Aufsätze über die mitteldeutschen Lutherstätten. 179 Vgl. Fix, Lutherhaus-Reformationshalle-Lutherhalle. 180 Vgl. Kornmeier, Die Lust, Worte zu kaufen, 216. – Auch ein Jahrhundert später ist diese Frage in Wittenberg noch nicht endgültig entschieden worden, wie die Diskussion um eine Reformationsdekade vs. einer Lutherdekade, die zum großen Jubiläum des Thesenanschlags im Jahr 2017 führen soll, zeigt. 181 Orthmann, Wittenberg in Wort und Bild, 19. 182 Zur Baupolitik siehe folgendes Kapitel. 183 In den Publikationen der Kaiserzeit ist meist von einer „Aula mit Kurfürstenbildern“ oder einem „Kurfürstensaal“ die Rede. Vgl. exemplarisch hierfür : Schreckenbach/Neubert, Martin Luther, 59; In den Jahren der Weimarer Republik setzte sich allmählich die Bezeichnung „Großer Hörsaal“ durch. Jordan gebraucht beide Begriffe und schreibt „Aula oder großer Hörsaal“. Vgl. Jordan, Lutherhalle Wittenberg 1919, 10; Richard Erfurth benutzt ausschließlich den Begriff „Großer Hörsaal“, Vgl. Erfurth, Die Lutherstadt Wittenberg 1927, 44.

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Oskar Thulin und die Lutherhalle

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durch diese sinnliche Aufladung blieb die Erinnerung länger haften. So formulierte die Fremdenverkehrswerbung 1938: Nur wer einmal selbst die Räume seines Wirkens betreten hat, seine Wohnstube, die hervorragende Sammlung der Lutherhalle, nur der ahnt die ungeheure Arbeit dieses gewaltigen Menschenlebens, er fühlt seine Wirkung über die Jahrhunderte hinweg und wird die alte Lutherstadt […] mit innerer Bereicherung verlassen.184

Durch ein verändertes Museumsprofil, aber auch durch Vorträge und Führungen half Thulin, „dass die Lutherstätte zur Sprache der Gegenwart auch die Sprache der Vergangenheit fügte, eine Vergangenheit, die nicht tot ist, sondern lebendig hineinwirkt in die Geschichte unseres Volkes und in die Geschichte unserer Herzen“,185 wie er selbst formulierte. Luthers Aufgabe bestand für ihn vorrangig darin, die Vergangenheit und deren Hineinwirken in die Gegenwart zu rechtfertigen. Mit seiner auf einen ,lebendigen Luther‘ bezogenen Rhetorik stand der Theologe Thulin ganz in der Tradition der Lutherrenaissance, deren Vertreter im Reformator und dessen Theologie einen Kraftquell in einer als krisenhaft empfundenen Gegenwart sahen und sich damit gegen Tendenzen einer Relativierung Luthers im Historismus wandten.186 Die von Thulin konzipierte Sonderausstellung anlässlich des Jubiläums 1933 sollte daher „dem Menschen unserer Tage zeigen […] wie verblüffend gegenwärtig uns der Umkreis der Themen erscheint“, denn „Luthers Wort an seine Zeit ist ein Wort an unsere Zeit.“187 Der Direktor der Lutherhalle trat im Sinne einer mythischen Erneuerung mit seiner musealen Annäherung an den ,lebendigen Luther‘ dem modernen geschichtlichen Bewusstsein entgegen, welches auf dem Erlebnis der Nichtidentität von Vergangenheit und Gegenwart gründet. In der heilsgeschichtlich orientierten Sichtweise der ersten nachreformatorischen Generationen hatte Luther die immergültige Wahrheit, die im Laufe der Zeit getrübt worden war, wiederhergestellt. Der Nachwelt blieb es überlassen, standhaft daran festzuhalten, um das ungebrochene Kontinuum einer reformatorischen Heilsgeschichte zu bewahren. Mit der Aufklärung verschob sich jedoch die Perspektive und es rückte die konkrete Andersartigkeit der Vergangenheit sowie die unaufhebbare Differenz der Zeiten stärker ins Bewusstsein.188 Hinter diesen Bewusstseinsstand ist der Museumsdirektor 1933 zurückgetreten, 184 Führer durch das Gebiet des Landesfremdenverkehrsverbandes Mitteldeutschland, hg. vom Landesfremdenverkehrsverband Mitteldeutschland, Magdeburg 1938, 39. 185 Die Luthergesellschaft lädt Dichter und Theologen nach Wittenberg, 4. 186 Ein Hauptvertreter der Lutherrenaissance, der Kirchenhistoriker Karl Holl, hatte 1917 in einer programmatischen Schrift die These formuliert, wer Luther gedenke, der komme in Kontakt „mit einem Lebendigen“. Siehe: Holl, Was verstand Luther unter Religion?, 1; Vgl. auch: Kaufmann, Anmerkungen zu generationsspezifischen Bedingungen und Dispositionen, 37 – 44. 187 Thulin, Der gegenwärtige Luther, 2. 188 Vgl. Burkhardt, Reformations- und Lutherfeiern, 227.

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232 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus indem er einzelne Bestandteile des Reformationsgeschehens aktualisierte und den Ereignissen des 16. Jahrhunderts eine zeitgenössische Relevanz zuordnete: „Tut dies zu meinem Gedächtnis, meint nicht, uns an ein vergangenes Ereignis zu erinnern, sondern dass dieses vergangene Ereignis für uns Gegenwart wird“,189 formulierte er 1933. „Nicht die Zeit vor 100 oder 200 Jahren war so luthernah wie die heutige“,190 hieß es an anderer Stelle. Als Ergebnis mutierte der Reformator in einer Einschätzung des ,Lutherhallen-Historiographen‘ Stefan Laube „zu einem geschichtslosen deutschen, unmittelbar gegenwärtigen Mythos“.191 Durch die Konzentration auf die Person des Reformators machte Thulin aus der Lutherzeit eine Geschichte von Helden und Führern, um den Führerstaat als Erfüllung deutscher Geschichte begreif- und begehbar zu machen: „Die Räume 12 bis 14 bringen noch einmal ein lebendiges Bild der Reformationszeit, und zwar aufgrund des Führerprinzips“,192 formulierte er in einer Handreichung für Museumsbesucher. „Männer, Führer erst machen Geschichte“,193 schrieb er an anderer Stelle. Weiter heißt es: „In der deutschen Selbstbesinnung unserer Tage muss […] manche Schlacke vom Edelmetall im Feuer getrennt werden. Größer stehen da die geistigen Führer unserer Volksgeschichte vor uns.“194 Bei der von ihm angestrebten „Sichtbarmachung der Reformationsgeschichte in den führenden Männern“ konnte sich Thulin jedoch nicht darauf beschränken, Luthers Biographie in das Zentrum der Ausstellung zu stellen.195 Er war im Sinne einer zeitgenössischen Aktualisierung vielmehr bestrebt, den jungen, kämpfenden Martin Luther in den Vordergrund zu rücken. In einem 1941 für das Lutherjahrbuch verfassten Artikel beklagte er, dass im 19. und frühen 20. Jahrhundert fast ausschließlich Luther in seinen letzten Lebensjahren, als Patriarch seiner Kirche, präsentiert worden war. In der Wittenberger Lutherhalle habe er mit seinem Amtsantritt deshalb erste Schritte zur Wiederanknüpfung an volkstümliche Lutherdarstellungen des Helden und Kämpfers unternommen.196 Der Direktor griff hier Forderungen auf, die schon in den 1920er Jahren erhoben worden waren. So hatte es sich insbesondere die in Wittenberg gegründete Luthergesellschaft, die die Unterstützung des Lutherhauses in ihrem Programm stehen hatte, zur Aufgabe gemacht, Luther „im kräftigen Mannesalter“ und als „Kämpfernatur“197 in Szene zu setzen.198 189 Thulin, Der gegenwärtige Luther, 4. 190 Berichterstattung über Jubiläum ,50 Jahre Lutherhalle‘, Wittenberger Tageblatt, 20. September 1933. 191 Laube, Inszenierte Jubelgeschichten, 112. 192 Thulin, Kleiner Führer durch die Lutherhalle. 193 Thulin, Lutherland, 140. 194 Thulin, Erneuerte Lutherstätten, 68. 195 Thulin, Das wissenschaftliche Prinzip, 9. 196 Vgl. Thulin, Das Lutherbild der Gegenwart, 123 f. 197 Berichterstattung über Luthergesellschaft, Wittenberger Zeitung, 20. April 1921.

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Oskar Thulin und die Lutherhalle

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Thulins Lutherbild der Gegenwart stand unter dem Eindruck des „Weltkriegserlebnis“, der „völkischen Erneuerung im Nationalsozialismus“ und der „allgemeinen geistigen Wandlung durch die Jugendbewegung“,199 wie er selbst schrieb. Zum Abschluss seiner Hallenser Antrittsvorlesung zählte er die Themen auf, die in der Ausstellungskonzeption fortan eine zentrale Rolle spielen sollten und die jeweils auch Anknüpfungspunkte an die zeitgenössische politische Situation boten: „Wucher und Zins, Ehefragen, Judenfrage, Erwartung des Weltgerichts, Kampf von Staat und Kirche gegen soziale Laster, östliche Kriegsgefahr durch die Türken“.200 Der klare Parteigänger der NSDAP201 nahm auch zur nationalsozialistischen Rassenpolitik Stellung und kritisierte beispielsweise den „stark ostisch geratenen Rassetypus“202 der neu geschaffenen Lutherbüste im Eingangsbereich der Halleschen Universität. Luther sei „rassisch Mitteldeutscher, sächsisch-thüringischen Geschlechts“,203 formulierte er und knüpfte damit an herkunftskundliche Forschungen des ersten nationalsozialistischen Rektors der halleschen Universität Hans Hahne an.204 In der Ausstellung der Wittenberger Lutherhalle spielte dieser Aspekt keine exponierte Rolle, allerdings war im geplanten Erweiterungsbau die Darstellung des Themas Luthers Vorfahren und Nachkommen vorgesehen.205

4.2 „Vom wertlosen Überbau vergangener Generation befreit“ – Die Baupolitik206 Als Oskar Thulin im Jahr 1930 sein Amt als Museumsdirektor antrat, fand er ein seit der Eröffnung 1883 nur unwesentlich verändertes und zum Teil beschädigtes Haus vor. Der quaderförmige neoklassizistische Außenputz des 19. 198 Auch für die Vertreter der Lutherrenaissance, insbesondere für Karl Holl, standen der junge Luther und dessen Rechtfertigungstheologie im Zentrum des Interesses. 199 Thulin, Das Lutherbild der Gegenwart, 125. 200 Thulin, Das wissenschaftliche Prinzip, 11. 201 Thulin verlor 1945 seinen Lehrstuhl an der Universität Halle-Wittenberg aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP und SA. Vgl. Hartmut Mai, Prof. D. Dr. Oskar Thulin, 114. 202 Thulin, Das Lutherbild der Gegenwart, 130. 203 Ebd. 204 Vgl. Reichelt, Die Lutherbildnisausstellung in Halle 1931, 100 f; Nachdem seit dem 19. September 1941 auch die sogenannten Reichsjuden den Gelben Stern tragen mussten, kommentierte Thulin in seiner anlässlich der Reformationsfeier der Universität Halle-Wittenberg am 10. November 1941 gehaltenen Rede kühl: „Seine [Luthers – Anm. d. Verf.] prophetische Natur sah in den Juden geradezu das Musterbeispiel eines Volkes, das sich verhärtet hat in seiner pharisäischen Selbstgerechtigkeit und Anmaßung, und das Gott nun endgültig als Volk des Untergangs preisgegeben hat.“ Siehe: Thulin, Volkstum und Völker in Luthers Reformation, 15. 205 Vgl. Vorentwurf zum Ausbau der Lutherhalle in Wittenberg, Januar 1938, Akte 33, Archiv StLu. 206 Die Grundidee für dieses Kapitel geht auf Insa Christiane Hennens bisher noch unveröffentlichten Aufsatz „Von sinnwidrigen Um- und Ausbauten der letzten Jahrhunderte befreit. Oskar Thulin und der Mythos der Lutherstätten“ zurück, der an dieser Stelle herzlich gedankt sei.

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234 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus Jahrhunderts wies große Schäden auf. In den Museumsräumen beherrschten Dekorationselemente der Neogotik aus der Kaiserzeit das Bild. Die Ausstellungsräume dominierten optisch die dort ausgestellten Objekte.207 Ziel Thulins war deshalb zum einen die bauliche Erneuerung der Außenhaut des Gebäudes, zum anderen die vollständige Umgestaltung der musealen Präsentation. Sämtliche angestrebten Veränderungen sollten dem Zweck dienen, „das Lebenswerk des Reformators sichtbar und lebendig zu machen“, wie der Museumsdirektor 1940 selbst resümierte.208 Im Mittelpunkt der Bemühungen Thulins stand die Beseitigung der unter dem preußischen Architekten Friedrich August Stüler vorgenommenen Veränderungen des Lutherhauses, bei der durch eingreifende Restaurierung das Baudenkmal dem Stilideal des späten 19. Jahrhunderts gefügig gemacht worden war.209 Thulins Kritik an der Restaurierungspraxis Stülers war keineswegs neu. Bereits der Vordenker der modernen Denkmalpflege Cornelius Gurlitt hatte 1902 im Lutherhaus ein „Schlösschen mit allerhand romantischem Firlefanz, Erkern und Giebeln, Kuppeltürmen“ gesehen, das „nach einer Dekoration aus dem Freischütz gemacht sein“ könnte und dessen Mauerflächen sich „eine zwecklose Quaderung gefallen lassen“ mussten.210 Dehios Handbuch der Kunstdenkmäler diagnostiziert, das Bauwerk habe „einen gänzlich falschen Charakter“ erhalten.211 In einem 1927 erschienenen, aufwendig gestalteten Bildband heißt es, die Restaurierungsarbeiten seien „nicht immer von glücklicher Hand geleitet“ worden.212 „Das Ganze atmet die Flachheit und Plattheit der mittleren Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts“, liest man an anderer Stelle.213 Und einer der Amtsvorgänger Thulins im Amt des Konservators, Karl Dunkmann, äußerte sich ebenfalls kritisch, mochte aber über „das Schloss mit Kuppel, Erker, Türmen und Giebeln […] und florentinischer Quaderung […] nicht streiten.“214 Im Gegensatz zu den negativen Äußerungen seiner Vor207 Zur Problematik, einen ,Lutherstil‘ zu finden, dessen Architektur und künstlerische Ausgestaltung den Reformator für die Betrachter späterer Jahrhunderte am ehesten vergegenwärtigt, siehe: Steffens, Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert, 339 – 342. 208 Thulin, Erneuerte Lutherstätten, 71. 209 Stüler hatte in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts die Entwürfe für die Umgestaltung des Lutherhauses zum repräsentativen Museum angefertigt. Dem zeitgenössischen Geschmack folgend, orientierte er sich am Stil der Neogotik. Die Umbauarbeiten sowie die Ausgestaltung der Museumsräume zogen sich jedoch bis zur Eröffnung im Jahr 1883 hin. Eine fundamentale Kritik dieser Bau- und Restaurierungspraxis des 19. Jahrhunderts hat Georg Dehio 1905 in seiner vielzitierten Straßburger Rede Denkmalschutz und Denkmalpflege im neunzehnten Jahrhundert geliefert. Vgl. Dehio, Denkmalschutz und Denkmalpflege im neunzehnten Jahrhundert. 210 Gurlitt, Lutherstadt Wittenberg 1902, 59. – Gurlitt gilt als Nestor der sächsischen Denkmalpflege und als einer der einflussreichsten Kunst- und Architekturkritiker um 1900. Vgl. Paul, Cornelius Gurlitt. 211 Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, 321. 212 Berthold (Hg.), Lutherstadt Wittenberg, 19. 213 Otto Eduart Schmidt, Kursächsische Streifzüge, 293. 214 Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 61.

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gänger war Thulins Kritik jedoch nicht rein ästhetisch begründet. Sie entsprach vielmehr dem zunehmenden Einfluss einer völkischen Geschichtsdeutung, die im Historismus eine Stilentartung sah. Zeitgenossen waren weniger radikal im Umgang mit dem Erbe: Edwin Redslob sprach sich beispielsweise für die Beibehaltung der historistischen Ausgestaltung des Museums aus, denn „auch das ist Sprache der Geschichte“.215 Thulins Umgang mit dem baulichen Erbe zeigt, dass Geschichte nicht nur das Gegenstandsfeld des Denkmal- und Kulturgutschutzes ist, sondern dieser selbst ein Ergebnis geschichtlicher Prozesse darstellt und diesen unterworfen ist. Denkmalpfleger interpretieren und verändern deshalb Geschichte.216 Anhand der Übereinstimmung ideologischer Grundüberzeugungen und architektonischer Leitbilder der Bau- und Restaurierungspraxis des Wittenberger Lutherhauses in den 1930er Jahren zeigt sich außerdem, dass Denkmalpflege kein politisch voraussetzungsloses Handwerk ist, sondern stets zeitspezifischen Maximen unterliegt.217 Als soziale Praxis wie in ihrem Ergebnis bietet sie stets eine Mischung konkurrierend-widersprüchlicher Aneignungen kulturell begründeter Raumbezogenheit. Es ist deshalb „unbestreitbar, dass politische Gesichtspunkte auch im NS-Staat für die Frage der Erhaltungswürdigkeit […] von Bedeutung waren, und dass sogar methodische Fragestellungen der Restaurierungspraxis in Relation zu politischen Grundhaltungen standen.“218 Anfang der 1930er Jahre wurde zunächst der schadhafte Quaderputz an der Nord- sowie Südseite durch einen einfachen Kellenputz ersetzt. Bei der Neueindeckung des Treppenturmes verschwanden die Fialen sowie die Kreuzblume.219 Thulins Pläne bezüglich der Außengestaltung gingen aber noch viel weiter. So sollten auch die kleinen Zwerchhäuser durch Schleppgauben ersetzt und die Schornsteinköpfe sowie die Eckgiebel in vereinfachter Form ausgeführt werden. Als Vorlage dienten ihm eine romantische Lithographie der Hofseite sowie mehrere Zeichnungen,220 die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden waren und den Zustand des Gebäudes vor den Veränderungen unter Stüler dokumentierten. Das Ideal der Stilreinheit und das NS-Ideal der Rassereinheit waren hier kongenial. An die in den 1920er Jahren begonnene Suche der Lokaleliten nach dem „Stadtbild Wittenbergs zu Luthers Zeit“221 anknüpfend, missachtete der Museumsdirektor die im Objekt gespeicherten Entwicklungsspuren und begab sich auf die Suche nach ver-

215 Redslob, Lutherhalle in Wittenberg, 153. 216 Vgl. Lipp, Denkmalpflege und Geschichte, 132 f. 217 Für die im NS-Staat gepflegte Praxis der Denkmalpflege vgl. Fleischner, Schöpferische Denkmalpflege. 218 Scheck, Denkmalpflege und Diktatur, Einleitung. 219 Vgl. Thulin, Erneuerte Lutherstätten, 70. 220 Lithographie abgedruckt in: Gottfried Krüger, Die Lutherstadt Wittenberg im Wandel des Jahrhunderte, 70. 221 Gottfried Krüger, Das Stadtbild Wittenbergs, 5.

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236 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus

Abb. 35 Lutherhaus mit schadhaftem Quaderputz

Abb. 36 … und mit einfachem Kellenputz

meintlicher Authentizität.222 Er entwickelte die Idee einer „Herauslösung des Denkmals aus der kausalen Zeitachse seiner Existenz, die man durchaus mit

222 Vgl. Raith, Der heroische Stil.

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Oskar Thulin und die Lutherhalle

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der Mythisierung der Geschichte durch den Nationalsozialismus vergleichen kann.“223

Abb. 37 Katharinenportal mit altem Quaderputz

Oskar Thulin beschränkte seine Bemühungen zugunsten eines Rückbaus der Umformungen des 19. Jahrhunderts jedoch nicht auf die Außenansicht des Gebäudes. Im Inneren setzte sich fort, was er bei der Ersetzung des Quaderputzes durch einen dem Urbild vermeintlich näheren Rauputz bezweckt hatte. Zu diesem Zweck wurden die mehrfarbig gehaltenen Holzpaneele übermalt und die historistisch gestalteten Wandverzierungen mit einem monochromen Farbanstrich versehen. Die parallel zu den Umgestaltungsaktivitäten im 223 Fleischner, Schöpferische Denkmalpflege, 14.

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238 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus

Abb. 38 … und mit erneuertem Kellenputz

Wittenberger Lutherhaus vorgenommenen denkmalpflegerischen Maßnahmen an der mit der Biographie des Reformators eng verbundenen Erfurter Augustinerkirche weisen in eine ähnliche Richtung und belegen, dass Thulins Vorstellungen im Umgang mit der Lutherstätte nicht singulär waren, sondern dem Zeitgeist entsprachen. Auch in Erfurt war die Beseitigung der ,hässlichen‘

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Oskar Thulin und die Lutherhalle

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und ,stilistisch falschen‘ Zutaten des 19. Jahrhunderts das Hauptmotiv der Restaurierungsbemühungen, über die sich Thulin lobend äußerte.224 Passend zu seinen Umbauplänen lieferte Thulin den einleitenden Artikel Der gegenwärtige Luther für eine Sondernummer der Illustrierten Zeitung, die anlässlich des Jubiläums im August 1933 erschien und in der er, Mussolini zitierend, den Gedanken der Beseitigung des „wertlosen Überbaus vergangener Generationen“ betont.225 Der Museumsdirektor kannte die Bautätigkeiten des italienischen Diktators aus eigener Anschauung, denn er hatte sich 1927 bis 1929 als Stipendiat in Italien aufgehalten. In der Ewigen Stadt hatte Mussolinis faschistische Bewegung tief in die urbane Struktur eingegriffen, um die baulichen Überreste der Antike freizulegen. Auf die gewachsene historische Substanz wurde kein Wert gelegt; sie fiel dem baulichen Rekurs auf die Antike vielfach zum Opfer.226 Auch Thulin maß den baulichen Ergänzungen und Veränderungen, die das Lutherhaus zwischen der Reformationsepoche und dem Beginn seiner Amtszeit überformt hatten, wenig Beachtung bei. Er insistierte auf die eine, für ihn entscheidende, Epoche der Reformationsgeschichte und negierte somit die Bedeutung des Lutherhauses als diachrones Zeugnis der Rezeptionsgeschichte. Das Haus sollte „in vorbildlicher grundlegender Restaurierung von sinnwidrigen Um- und Ausbauten der letzten Jahrhunderte befreit und im alten Zustand des entscheidenden Reformationsjahrhunderts, soweit irgend möglich, wiederhergestellt [werden – Anm. d. Verf.], sodass heute stärker denn je der Atem der Lutherzeit“ die Besucher umfangen könne.227 Tatsächlich gehört die vom Museumsdirektor betriebene Restaurierungspolitik zu einer „Art Denkmalpflege, die zwar vorgab, das wertvolle Original zum Sprechen zu bringen, dabei aber oft mehr über ihre eigene Zeit verriet.“228 Der Zweite Weltkrieg beendete vorerst Thulins ambitioniertes Bauprogramm, welches nicht nur die Umgestaltung des Bestandes, sondern auch Ergänzungsbauten vorgesehen hatte. So blieb die geplante Erweiterung des dreiseitig bebauten Lutherhofes auf der stadtauswärts gewandten Ostseite durch einen im modifizierten Renaissancestil entworfenen und sich am historischen Westflügel orientierenden Neubau unausgeführt. Bereits 1930 hatte Thulin vorgeschlagen, den am Augusteum dreißig Jahre zuvor angefügten „unförmigen, modernen Ostgiebel, der dem Organismus des ganzen Baus nicht entspricht, beseitigen zu lassen.“229 Beide Maßnahmen, die Beseitigung 224 Vgl. Escherich, Beispiele des Umgangs, 300ff; Thulin, Erneuerte Lutherstätten, 70. 225 Thulin, Der gegenwärtige Luther, 148 – 150. 226 Vgl. Schieder, Die Repräsentation der Antike im Faschismus, 707ff; Hennen, Thulin als Denkmalpfleger. 227 Thulin, Erneuerte Lutherstätten, S. 69; Vgl. auch Unterlagen Bausachen 1930er Jahre, in: Akte 5, Archiv StLu. 228 Magirius, Geschichte der Denkmalpflege, 170. 229 Protokoll der Besprechung baulicher Veränderungen am Lutherhaus, Melanchthonhaus und Augusteum am 25. Oktober 1930, Protokollabschrift vom 19. Januar 1931, Akte 6, Archiv StLu.

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240 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus des Giebels und der Ergänzungsbau, hätten zu einer einheitlichen Gestaltung an der Ostflanke des historischen Stadtraumes geführt.

Abb. 39 Luftaufnahme Lutherhaus und Augusteum

Abb. 40 Modell mit geplantem Ergänzungsbau und beseitigtem Ziergiebel

Thulin griff mit seiner geplanten Ostseitengestaltung des Lutherhauses das von Vordenkern der Denkmalpflege wie Cornelius Gurlitt propagierte Bild der

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Oskar Thulin und die Lutherhalle

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,Alten Stadt‘ als Ausdruck einer unangetasteten heilen Welt auf. Dies galt nicht nur in Bezug auf deren Kritik an den Veränderungen und baulichen Zufügungen des Historismus, sondern auch an einer vermeintlich maßstabverletzenden, a-historischen Freilegung historischer Monumente, die Gurlitt als „Bloßstellung“ bezeichnet hatte und der er ein idealisiertes Raumkontinuum entgegenhielt.230 Kristiana Hartmann schreibt in diesem Zusammenhang von einer „langen Geschichte nationalsozialistischer Gärungen“ sowie einer „Kongruenz der Vorlieben“ zwischen den jeweiligen Kritikern des modernen Urbanismus um die Jahrhundertwende und während des Nationalsozialismus. Diese hätten sich jeweils auf eine propagierte „Gemütlichkeit, Traulichkeit und Stimmungsfülle der alten Stadt“ bezogen.231 Die 1938 angebotene Sonderausstellung Die Lutherstadt Wittenberg im Bilde unterstützte das Anliegen Thulins ebenso wie der im Jahr darauf erschienene Sonderband Die Lutherstadt Wittenberg im Wandel des Jahrhunderte.232 Durch die angestrebten baulichen Veränderungen sollten Ideale einer organischen Einheit oder einer völkischen Ganzheit befördert und das Unbehagen an der Moderne verringert werden.233 „Einheitliche Gesinnung wurde mit geordneter Baukultur gleichgesetzt“, schlussfolgerte Susanne Fleischner in ihrer Arbeit über ,schöpferischen‘ Denkmalschutz im Dritten Reich. „Entsprechend wurden die rigorosen Bauordnungen, die Zunft- und Handwerksordnungen des Mittelalters als vorbildlich hingestellt.“234 Die Vorliebe der Nationalsozialisten für mittelalterliche Raum- und Organisationsstrukturen als Revision der Moderne im Hinblick auf den Städtebau wird deshalb auch in der Straßenumbenennung Wittenbergs deutlich, denn als semantische Markierungen können Straßennamen bauliche Veränderungen mit dem herrschenden Gedächtnis einer Epoche in Verbindung bringen.235 Mittels Umbenennung beispielsweise der Post- in die Fleischerstraße im Jahr 1935 sollte in der Nähe des Lutherhauses an mittelalterliche Handwerks- und Zunfttraditionen erinnert werden.236 Im geplanten Ergänzungsbau des Lutherhauskomplexes sollte das Deutsche Pfarrhausarchiv untergebracht werden, das sich bis dahin im Wittenberger Schloss befunden hatte. Die These vom Pfarrhaus als dem seelisch-geistigen Mittelpunkt und Luthers Familiengründung als Ursprungsmythos ist seit dem 230 Gurlitt, Handbuch des Städtebaus, 26. 231 Hartmann, Städtebau um 1900, 110 und 93; Vgl. Lipp, Denkmalpflege und Geschichte, 156. 232 Vgl. „Die Lutherstadt Wittenberg im Bilde“, Presseartikel von Richard Erfurth, Juni 1938, archiviert in Akte 6, Archiv StLu; Gottfried Krüger, Die Lutherstadt Wittenberg im Wandel der Jahrhunderte. 233 Vgl. Vinken, Zone Heimat, 147ff; Guckes, Ordnungsvorstellungen im Raum, 682 f; Fleischner, Schöpferische Denkmalpflege, 8. 234 Fleischner, Schöpferische Denkmalpflege, 30. 235 Vgl. Sänger, Geduldet und geehrt, 88. 236 Vgl. Protestbrief Anwohner Poststraße an Oberbürgermeister vom 20. Mai 1935, in: Akte 3834, Benennung von Straßen und Plätzen 1934 – 1946, Stadtarchiv Wittenberg.

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242 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus 19. Jahrhundert zu einem zentralen Bestandteil des deutschen Geschichtsbildes geworden,237 sodass die Nachbarschaft des nunmehr ganz auf dessen Biographie zugeschnittenen Lutherhauses und einer zentralen Dokumentationsstelle der Geschichte und Wirkungsmacht des Evangelischen Pfarrhauses sich durchaus angeboten hätte. Lutherhalle und der Reichsbund der deutschen Pfarrvereine hatten ursprünglich die Kosten gemeinsam tragen wollen, aber nach dem Zerwürfnis beider Projektpartner aufgrund von Presseberichten sowie als Folge des Kriegsausbruchs scheiterte der geplante Bau endgültig. Das Pfarrhausarchiv ist 1950 dann nach Eisenach gelangt.

4.3 Museale Innovationen Bis weit in die 1920er Jahre war die Wittenberger Lutherhalle vor allem ein Hort bildungsbeflissener Kulturprotestanten gewesen. Erst unter Oskar Thulin änderte sich der Adressat des Museums. Der neue Direktor hatte sich vom unter seinem Vorgänger im Kuratorenamt gepflegten „aristokratischen Charakter eines Museums und seines Publikums“238 erfolgreich emanzipiert und versuchte, möglichst viele Besucher in das Museum zu locken, um aus der elitären Bildungsstätte eine massenwirksame Attraktion zu machen. An die Stelle des Individuums trat die Gemeinschaft, an die Stelle des Gebildeten das politisierte Volk. Anlässlich des Besuchs aller Mitarbeiter der Wittenberger Stadtverwaltung – Arbeiter, Angestellte und Beamte – lobte die Lokalzeitung den unter Thulin in Angriff genommenen „Ausbau der wahren Volksgemeinschaft“ im Museum.239 Die Lutherhalle sollte nicht länger ein Tempel des Bildungsbürgertums, sondern ein Hort deutscher Kultur sein, mit der die gesamte Volksgemeinschaft vertraut gemacht wurde. Das Konzept der Volksgemeinschaft als Gegenmittel des Klassenkampfes von links wurde hier auch in Kultur- und Bildungsfragen propagiert. Als Ergebnis stiegen die Besucherzahlen in bis dahin ungekannte Höhen und das Museum legitimierte seine Existenz erstmals über den öffentlichen Zuspruch, den es erfuhr. Zum Zwecke eines Erfolgsnachweises der von Thulin geleisteten Arbeit wurde die Öffentlichkeitsarbeit intensiviert und professionalisiert. So sollte beispielsweise der für das Jahr 1935 erarbeitete Tätigkeitsbericht des Museums erstmals „gedruckt und zur Propaganda genutzt werden.“ In gleichem Zusammenhang regte das Kuratorium eine Aufstockung der Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit an.240 Außerdem wurden zum ersten Mal in der Museumsgeschichte relativ genaue Besucherstatistiken erhoben. Diese belegen, dass Thulin großen Erfolg hatte mit seinem Bemühen, das Haus 237 238 239 240

Vgl. Janz, Das evangelische Pfarrhaus, 221. Laube, Das Lutherhaus Wittenberg, 289. Berichterstattung Wittenberger Tageblatt vom 28. 06. 1934. Protokoll der Lutherhallenvorstandssitzung am 4. Juni 1936, Akte 6, Archiv StLu.

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Oskar Thulin und die Lutherhalle

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für breite Bevölkerungsschichten zu öffnen.241 Am Reformationstag wurde kein Eintritt erhoben, was beispielsweise am 31. Oktober 1932 mehr als eintausend Besucher in das Museum lockte.242 Zu besonderen Anlässen war das Museum in den Abendstunden geöffnet, „um auch denen, die [während der regulären Öffnungszeit – Anm. d. Verf.] durch ihren Beruf ferngehalten sind, Gelegenheit zum Besuch zu geben.“243 Selbst für die Ankaufspolitik war die Massenwirksamkeit ein entscheidendes Kriterium, wie die letztendlich vergeblichen Verhandlungen um den Erwerb von Luthers Testament von der Budapester evangelischen Gemeinde zeigen.244 Thulin wies darauf hin, „dass in Wittenberg jährlich vierzigtausend Besucher, unter ihnen dreitausend ausländische, dieses Kleinod der deutschen Reformation zu sehen bekämen, während es in Budapest in einem Geldschrank verwahrt liegt.“245 Um die neuen Zielgruppen zu erreichen, setzte der passionierte Museumsmann für die Vermittlung seines gegenwärtigen Lutherbildes moderne Medien ein. Mit authentischem Material, aber auch unter Einsatz imaginationsfördernder Mittel versuchte er, ein anschauliches Bild der Vergangenheit vor die Augen der Museumsbesucher zu bringen. Mittels populärwissenschaftlicher Publikationen, journalistischer Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften, Diaschauen und Filmvorführungen wollte er auch den ,einfachen‘ Mann für das Thema begeistern. Die anlässlich des Jubiläums 1933 konzipierte Sonderausstellung wurde vorab eifrig beworben, indem Thulin eine LutherSondernummer der Illustrierten Zeitung initiiert hatte.246 Der von ihm verfasste Beitrag verstand sich ausdrücklich als eine Hinführung zur Ausstellung. Zum Zweck einer höheren Publikumsresonanz wurde in der 1932 neu gestalteten Dauerausstellung erstmals zwischen Laien- und Fachpublikum differenziert. Im ersten Stockwerk sollten vor allem zahlreiche Bilder ein Massenpublikum in ihren Bann ziehen, „dem die Einzelheiten der Reformationsgeschichte nicht mehr vollständig im Gedächtnis sind.“247 Im zweiten Stockwerk hingegen wurde einem interessierten Fachpublikum die ,museale Flachware‘ präsentiert.248 Da verschiedene Exponate aus dem Refektorium in das zweite Stockwerk verlagert wurden, bot sich dieser Raum nun für Sonderausstellungen an, die dem Museum beständig neue Aufmerksamkeit sichern sollten. Zuvor hatte es 241 Vgl. Besuchsstatistiken des Lutherhauses Wittenberg, die für die Jahre 1937 – 1941 exakte Zahlenangaben machen. Mit rund 33.000 gezählten Besuchern erreichten die Besucherzahlen des Museums 1937, verglichen mit den geschätzten Zahlen der Vorjahre, einen Höhepunkt und fielen dann wieder ab. Siehe statistische Erfassung des Museumsbesuchs im Archiv StLu. 242 Akte A II 194, Band 2, Archiv Stadtkirchengemeinde Lutherstadt Wittenberg. 243 „Die Lutherstadt Wittenberg im Bilde“, Presseartikel von Richard Erfurth, Juni 1938, archiviert in Akte 6, Archiv StLu. 244 Vgl. Fabiny, Martin Luthers letzter Wille, 53 – 62. 245 Thulin, Die Lutherhalle. Reformationsgeschichtliches Museum, 64. 246 Vgl. Thulin, Der gegenwärtige Luther, 148 – 150. 247 Artikel „Die Wittenberger Lutherhalle in neuer Gestalt“, Wittenberger Zeitung, 04. 04. 1933. 248 Vgl. Ficker, Der Ausbau der Lutherhalle in Wittenberg.

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244 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus eine vergleichsweise inkohärente Zusammenstellung präsentiert, die oftmals nur die Zufälligkeit des Sammlungsbestandes widerspiegelte. Thulin trat diesem Zustand nun mit entschieden konzipierten Ausstellungen entgegen, welche die Einzelereignisse der Reformationsgeschichte durch thematisch darauf zugeschnittene Präsentationen bedachten und damit einen musealen Erinnerungsmechanismus in Gang setzten. Den Auftakt machte eine kleine Ausstellung zum Jubiläum der Augsburger Konfession im Jahre 1930. Eine Gustav-Adolf-Ausstellung 1932, Der gegenwärtige Luther 1933, eine Bibelausstellung 1934, eine Bugenhagenausstellung 1935, Die Lutherstadt Wittenberg im Bilde 1938 und Gutenbergs Triumph in Luthers Reformation 1940 verknüpften ein jeweils aktuelles reformationsgeschichtliches Jubiläum mit der Museumsarbeit.249 Im Jubiläum nahm das Historische deshalb den Schein des Aktuellen ein. Auch so konnte Thulin den Ereignissen der Vergangenheit eine zeitgenössische Relevanz zuordnen. Die Ausstellungen luden Besucher immer wieder ein, etwas Neues zu entdecken. Außerdem boten sie dem Museumsdirektor die Möglichkeit, wechselnde Sammlungsbestände des überreichen Bestandes präsentieren zu können. Die bis dahin eingelagerten oder in der Ausstellung wenig beachteten Objekte wurden für ein vorübergehendes Ereignis neu arrangiert. Auf diese Weise schienen sie der Vergangenheit entlaufen und in der Gegenwart angekommen zu sein, sodass sie die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit auf sich ziehen konnten.250 Deutlicher als je zuvor traf der Museumsdirektor eine Auswahl, ordnete und systematisierte und zeigte dadurch, in welcher Beziehung das Vergangene und das Gegenwärtige, das Nahe und das Ferne standen. Der Vergleich zwischen Thulins Baupolitik und den von ihm vorangetriebenen musealen Innovationen weist scheinbar scharfe Gegensätze auf. Während der Museumsdirektor das historische Gebäude wieder auf einen vermeintlichen Urzustand des 16. Jahrhunderts zurückführen wollte, bediente er sich moderner Medientechniken und führte ein neuartiges ,Besuchermanagement‘ ein. Die effektive Zurschaustellung des ,Mythos Luther‘ hing aber wesentlich von der modernen Medialisierung ab. Der in den 1930er Jahren einsetzende Modernisierungsschub machte aus einem ,Riesenspeicher der Erinnerung‘ einen ,Tempel der Schaulust‘. Im Gegenzug erfuhren Markt und Medien als Kulturvermittler eine Aufwertung. Dies führte einerseits zu einer Aufhebung von sozialen Grenzziehungen und Zugangsbeschränkungen. Andererseits gilt es zu berücksichtigen, dass die mit Markt und Medien verbundene Ökonomie der Aufmerksamkeit sich punktuell und kurzfristig auf immer neue Reize einzustellen hat und außerdem ein wachsenden Adressa249 Die ersten Sonderausstellungen hatten noch in Räumen der ersten Etage stattgefunden, ab dem Bibeljubiläum 1934 nutzte Thulin dann das umgestaltete Refektorium. Vgl. Laube, Lutherhaus Wittenberg, 308. 250 Vgl. Schlaffer, Die Gelehrten auf dem Markt; ders., Gedenktage.

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tenkreis ansprechen muss. In diesem Kontext betrachtet, drohte dem Museum die Gefahr einer Trivialisierung der Bestände. Da der Adressat fortan nicht mehr nur im lutherischen Konfessionsmilieu zu suchen war, konnte das Museum der Aufgabe einer Suche nach Orientierung und Vergewisserung einer spezifisch lutherischen Identität nicht mehr vollends gerecht werden.

4.4 Museumsarbeit jenseits der Stadtgrenzen An erste Bemühungen in den frühen 1930er Jahren anknüpfend, sollte die Wittenberger Lutherhalle nicht mehr auf die Kernfunktion eines Museums – Archiv und Ausstellung – beschränkt bleiben. „In Verfolg dieser Gedanken soll in der Lutherhalle keine Museumsarbeit geleistet werden, in der alles konserviert und verkapselt wird, was wir von Luther haben.“251 Der Museumsdirektor versuchte, „eine akademische Stätte der reformationsgeschichtlichen Forschung“ sowie einen lebendigen Ort des Austauschs auch über den engen Rahmen der Theologen- und Historikerzunft hinaus zu etablieren.252 Anknüpfend an die Wittenberger Bemühungen der 1920er Jahre, die Stadt zu einem Mittelpunkt des evangelischen Lebens zu entwickeln, fanden nach 1930 beispielsweise viele der Sitzungen des geschäftsführenden Ausschusses der Luthergesellschaft in der Lutherhalle statt. Für die auf der Sitzung im Mai 1932 erstmals besprochene Einrichtung von Kursen bot Thulin Räumlichkeiten in seinem Haus an. So wurde das Refektorium im Erdgeschoss als Vortragssaal für Volksbildungsveranstaltungen und zum Zweck der akademischen Fortbildung umgestaltet; ein weiterer Ausbau der Seminarräume war für das Jahr 1936 geplant.253 Außerdem sind im Melanchthonhaus Zimmer für Gäste eingerichtet worden.254 Erste Impulse des Jahres 1932 aufgreifend, fanden in den darauf folgenden Jahren in den Räumlichkeiten der Lutherhalle mehrere Tagungen statt, die durchaus auch kritischen Stimmen ein Podium gaben. So erteilte beispielsweise der Theologe Georg Merz aus Bethel in einem Vortrag durch Rückgriff auf Luthers Bibelübersetzung eine theologisch begründete Absage an die nationalsozialistische Rechtsauffassung, die allgemeingültige Menschenrechte in Frage stellte.255 Ihren Höhepunkt erlebten die Wittenberger Tagungen im Jahr 1935: Im März wurde zu einer Juristentagung und einer Volksdeutschentagung, im Oktober zu einer Dichtertagung eingeladen, um in einem überregionalen Rahmen die Verknüpfung zwischen Luther und ver251 Berichterstattung zum Bibeljubiläum in der Lutherhalle, Kursächsische Zeitung, 16. 06. 1934. 252 Rede Thulins anlässlich der Lutherfesttage in Wittenberg, in: Wittenberger Zeitung, 11. 09. 1933. 253 Vgl. Brief des Evangelischen Oberkirchenrats Berlin an Thulin, 23. 04. 1936, Akte 475, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 254 Vgl. Schreiben Lutherhalle an Rat der Stadt Wittenberg vom 14. 4. 1954, Archiv StLu. 255 Vgl. Merz, Gesetz Gottes und Volksnomos bei Martin Luther.

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246 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus

Abb. 41 Das Refektorium als Vortragssaal

schiedenen Wissenschaftsbereichen jenseits von Theologie und Kirchengeschichte zu thematisieren.256 Ebenfalls im Oktober 1935 fand eine Theologenversammlung statt und am Reformationstag ließ der Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten Hanns Kerrl die Gründung der Wittenberger Kurse bekannt geben, zu denen Pfarrer aus dem gesamten Reich nach Wittenberg kommen sollten.257 Anfang März 1940 versammelten sich schließlich 600 Teilnehmer der ersten Arbeitstagung des von elf evangelischen Landeskirchen getragenen und in Eisenach ansässigen Instituts für die Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben in Wittenberg. Der gastgebende Direktor der Lutherhalle beteiligte sich mit einem Lichtbildervortrag und stellte die Lutherstube für die Übergabe eines „entjudeten“ Neuen Testaments zur Verfügung.258 Oskar Thulin erhob erstmals in der Museumsgeschichte der Wittenberger Lutherhalle den Anspruch, über den Bezugsrahmen der Wittenberger Denkmallandschaft hinaus als Gedenkstätte von nationaler Bedeutung wahrgenommen zu werden. Kamen die Besucher nicht nach Wittenberg, so ging das Museum zu ihnen. Im Rahmen der Ausstellung Deutsches Volk – Deutsche Arbeit, die 1934 unter großem Propagandaaufwand in Berlin gezeigt wurde, bot sich der Lutherhalle die Gelegenheit, in der mit Das Reich der Deutschen 256 Vgl. Tagungsbericht „Die Luthergesellschaft lädt Dichter und Theologen nach Wittenberg“, in: Luther. Vierteljahresschrift der Luthergesellschaft, 17 (1935), 1 – 4; Akte 460 „Wittenberger Kurse“, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 257 Vgl. Grünagel (Hg.), Evangelische Theologie vor deutscher Gegenwart; Satzung Wittenberger Kurse, Akte 7, Archiv StLu. 258 Vgl. Prolingheuer, Der Lutherisch Deutsch-Christliche Weg, 73.

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Oskar Thulin und die Lutherhalle

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bezeichneten Ehrenhalle einige Glanzstücke des Museums einer großen Öffentlichkeit zugängig zu machen. Wittenberg schickte nicht nur zahlreiche Originalschriften der Reformatoren, sondern auch den Tisch aus der Lutherstube und eine Ausgabe der Lutherbibel von 1534 nach Berlin. Thulin nutzte die Gelegenheit, Propagandaminister Goebbels die Bibel in die Hand zu geben.259 „Nur schweren Herzens hat sich die Lutherhalle zur Leihgabe dieses kostbaren Denkmals entschließen können. Aber die Hunderttausende, die aus dem ganzen Reich und aus dem Ausland kommen, […] sollen auch in Ehrfurcht vor dem Luthertisch stehen.“260 Auch an der Deutschland-Ausstellung 1936 anlässlich der Olympischen Spiele in Berlin beteiligte sich die Lutherhalle,261 auf der 1940 in München ausgerichteten Ausstellung Kampf um Deutsche Größe war sie ebenfalls präsent und zeigte dort beispielsweise den Gipsabdruck des Lutherreliefs vom Katharinenportal.262 Die temporär begrenzten Ausstellungsableger wurden ergänzt durch Unterrichts- und Schulungsmaterialien, die die Lutherhalle unter Ausnutzung der Faszination für neue Medientechniken ebenfalls in alle Teile Deutschlands trugen. Für das 1934 stattfindende Jubiläum der Bibelübersetzung wurde beispielsweise der fast einstündige Film Die heilige Schrift deutsch produziert.263 Anschauungsmaterial bot aber auch ein von Thulin entwickelter Stehbandfilm mit einundsiebzig Bildern und Typoskript, der die Wittenberger Lutherhalle einem fernen Publikum vorstellte.264 Hier setzte sich fort, was im 19. Jahrhundert mit dem historischen Festzug und vor allem den Lutherfestspielen begonnen hatte: Die historische Erinnerung wurde visualisiert, um die narrativen Tendenzen bildlich zu unterlegen und damit auch jenseits der Ebene des abstrakten Verstehens einen Zugang zur Reformationsgeschichte zu bieten. Neben der musealen Expansion über Wittenbergs Stadtgrenzen hinaus versuchte Thulin aber auch, die Welt des Luthertums nach Wittenberg zu holen. In zahlreichen Vorlesungen, Reden und Pressebeiträgen hatte er auf die Bedeutung der Reformation für verschiedene Völker aufmerksam gemacht und über den „deutschen Propheten“ geschrieben, den er „zum Helden vieler Nationen werden ließ.“265 Luther wurde als Initiator einer neuen europäischen Geschichtsepoche vorgestellt, der zur nationalen Persönlichkeit für die Völker Skandinaviens und Finnlands, des Baltikums, der Slowakei, Ungarns und 259 Vgl. Die Wittenberger Lutherhalle in der Berliner Ausstellung, Wittenberger Zeitung, 25. 04. 1934. 260 Luther auf der Ausstellung ,Deutsches Volk – Deutsche Arbeit, in: Luther. Vierteljahresschrift der Luthergesellschaft, 16. Jg., München 1934, 33 – 34, hier 34. 261 Vgl. Tätigkeitsbericht Lutherhalle, in B 37, Teil 1, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 262 Vgl. Korrespondenz und Meldebögen Ausstellung Deutsche Größe in München 1940, in: Akte 8, Archiv StLu; Hagemeyer (Hg.), Deutsche Größe, 148 ff. 263 Vgl. Thulin, Die Lutherhalle. Reformationsgeschichtliches Museum. 264 Vgl. Dokumente zur Produktion des Anschauungsmaterials in Akte 12, Archiv StLu. 265 Thulin, Die Lutherstadt Wittenberg und Torgau, 31.

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248 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus einzelner Völker des Balkans geworden sei. Die besondere Berücksichtigung Schwedens ist auch im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Bemühungen zu sehen, den ,artverwandten‘ Norden als Einflusssphäre auszubauen. Und mit dem Verweis auf die Rolle der Reformation zur Stärkung des geschwächten deutschen Volkstums in der Diaspora Osteuropas wurde indirekt der Hinweis gegeben, welche Rolle das Museum im Rahmen der nationalsozialistischen Ostexpansion spielen könnte.266 Passend hierzu erarbeitete Thulin ein Ausstellungskonzept für einen geplanten Erweiterungsbau des Lutherhauses, in dessen Ehrensaal „das Luthertum Deutschlands als Mutterland der Reformation nicht nur geschichtlich, sondern außenpolitisch sehr aktuell in Erscheinung treten“ sollte. Mit seinem Konzept wollte er der „in allen außerdeutschen, germanischen, lutherischen Kirchen immer stärker hervortretende Aktivität des Anglizismus“ entgegentreten, welche die bisherige kirchliche und kulturelle „deutsche Vormachtstellung zu brechen“ versuche.267 Er fasste das Ziel folgendermaßen zusammen: „Das Deutschland […] in der Welt auch als ,Lutherland‘ gilt, ist nicht nur ein geistiges, sondern auch ein weltpolitisches Vermächtnis des deutschen Volkes, das nicht aufgegeben, sondern in alle Zukunft erfüllt werden soll.“268

4.5 Die neuen Wittenberg-Fahrer Während in den 1920er Jahren nie eindeutig geklärt werden konnte, wer in Wittenberg die Gestaltungshoheit über den städtischen Fremdenverkehr innehatte, übernahm die öffentliche Hand ab dem Jahr 1933 die Initiativgewalt. Die Stadt eröffnete im Luther-Jubiläumsjahr ein Verkehrsamt im Rathaus, das nicht nur als Auskunftsstelle diente, sondern auch touristische Publikationen in Auftrag gab269 und die Organisation des Fremdenverkehrs endgültig zu einer kommunalen Aufgabe erklärte. Hieran konnte auch der energische Protest des seit den frühen 1920er Jahren in der NSDAP aktiven Kaufmanns Mühlpfort nichts ändern. Mühlpfort hätte 1933 gern an seine frühere Gewerbetätigkeit auf dem Gebiet des Fremdenverkehrs angeknüpft und erneut ein eigenes Verkehrsbüro eröffnet. Von der Kommune forderte er hierfür einen städtischen Zuschuss in festgelegter Höhe zur Deckung der Personalund Sachkosten. Im Gegenzug bot er an, die Stadtkasse an Überschüssen aus Souvenirverkäufen zu beteiligen. Außerdem warb er in Schreiben an die Stadtverwaltung und an die örtliche Vertretung der NSDAP damit, sich bereits früh für einen Ausschluss von Juden aus dem Wittenberger Fremdenverkehr 266 Thulin, Lutherstadt Wittenberg – für uns und für die anderen Völker ; ders., Volkstum und Völker in Luthers Reformation. 267 Vorentwurf zum Ausbau der Lutherhalle in Wittenberg, Januar 1938, Akte 33, Archiv StLu. 268 Thulin, Erneuerte Lutherstätten, 68. 269 Zum Beispiel: Die Lutherstadt Wittenberg. Deutschland-Bildheft 1933; Führer durch die Lutherstadt Wittenberg 1938.

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sowie Gewerbeleben eingesetzt zu haben.270 Seine federführende Tätigkeit bei der Boykott-Aktion gegen jüdische Händler im März 1933 unterstrich diese Gesinnung,271 die ihm jedoch nicht den erhofften Erfolg bescherte. Da der Wittenberger Fremdenverkehr wegen der Symbolwirkung des Ortes immer einen stark politischen Charakter hatte, konnten private Kräfte nicht zum Zug kommen.272 Die Initiativen des dritten Wittenberger Tourismusakteurs, des Kirchlichen Verkehrsvereins, gingen nach 1933 merklich zurück. Die erprobte Zusammenarbeit zwischen den kommunalen Tourismusverantwortlichen und dem Kirchlichen Verkehrsverein bestand zwar weiterhin, verlor aber als Folge der Professionalisierung der Museumsarbeit im Lutherhaus an Bedeutung. So lässt sich für den Bereich des Direktkontaktes zu den Besuchern ein Rückzug der Kirchenvertreter nachweisen: Während in den 1920er Jahren die Betreuung der Reisegruppen vor allem in den Händen des Kirchlichen Verkehrsvereins gelegen hatte, ergriff nun der neue Museumsdirektor Thulin die Initiative. Von den dreihundertfünfundachtzig Gruppen, die 1937 die Lutherhalle besuchten, waren über dreihundert Gruppenbesuche direkt von der Lutherhalle organisiert.273 Auch im Bereich der Fremdenverkehrswerbung erfolgten nach 1933 keine nennenswerten Initiativen der Stadtkirchengemeinde mehr, während der Lutherhallendirektor in touristischen Publikationen regelmäßig zu einem Besuch der Wiege der Reformation einlud und sich um den Kontakt zum Mitteldeutschen Verkehrsverband kümmerte.274 Im Ergebnis verlor die Stadtkirchengemeinde ihre bis 1933 geltende Gestaltungshoheit über den Wittenberger Fremdenverkehr. Hatte zu Beginn des modernen Fremdenverkehrszeitalters der konfessionelle Erbauungsbesuch im Vordergrund gestanden, so erfolgte unter den veränderten politischen Bedingungen der 1930er Jahre eine Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses auf den Wittenberg-Tourismus, denn nicht nur auf Anbieter-, sondern auch auf Nachfragerseite kam es zu Veränderungen. Die postulierte Volksgemeinschaft veränderte Wittenbergs Charakter einer dezidiert evangelischen Destination und der Anteil der Kirchengemeinden ging deutlich zurück. Zunächst war der Rückgang vor allem eine Folge der Weltwirtschaftskrise,275 aber auch nach 1933 hat sich die Zahl der kirchlichen Gruppen bei insgesamt steigenden Besucherzahlen nicht wesentlich erhöht. Statt der evangelischen Kirchengemeinden, die zu einer Wallfahrt nach Wit270 Vgl. Schreiben Mühlpfort an Stadtratsfraktion der NSDAP vom 15. März 1933 und Schreiben an Stadtverwaltung vom 11. August 1933, in: Akte 1664, Stadtarchiv Wittenberg. 271 Vgl. Kabus, Jüdische Schicksale in Wittenberg, 247. 272 Vgl. Reichelt, Luthertourismus in Wittenberg im 20. Jahrhundert, 298. 273 Vgl. Tätigkeitsbericht Lutherhalle Wittenberg für das Jahr 1937, Akte B 37, Teil 1, Archiv Stadtkirche Wittenberg und Aktenbestand Archiv StLu. 274 Zum Beispiel: Thulin, Lutherland; Siehe auch Korrespondenz in Akte 13, Archiv StLu. 275 Vgl. „Die Tagung des Mitteldeutschen Verkehrsverbandes in der Lutherstadt Wittenberg am 29. und 30. April 1933“, Wittenberger Zeitung, 29. 04. 1933.

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250 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus tenberg aufgebrochen waren, kamen nun vermehrt gleichgeschaltete Verbände, die ihre Mitglieder in Sonderzügen zu Großveranstaltungen in die Lutherstadt sandten. So fand beispielsweise im Juni 1937 das Reichsmännertreffen statt, zu dem sich 3.650 Teilnehmer aus allen Teilen Deutschlands in die Lutherstadt begeben hatten.276 Das Reichsmännerwerk war anlässlich des 450. Geburtstags des Reformators am 10. November 1933 gegründet worden, um evangelische Männer-, Jünglings- und Standesvereine gleichzuschalten und in die Glaubensbewegung der Deutschen Christen zu integrieren.277 Im Gruppentourismus traten neben die kirchlich gebundenen Organisationen vor allem Verbände der NSDAP und des Stahlhelms, Angehörige der Hitlerjugend und des Bundes Deutscher Mädels sowie der NS-Frauenschaften. Ausschlaggebend für die neuen Wittenberg-Fahrer war nicht das konfessionelle Interesse. Sie richteten ihren Blick vielmehr auf die „deutschen Volkserinnerungsstätten, deren nationale Bedeutung besonders tief im Volksbewusstsein wurzelt“, wie es in einem Schreiben des Mitteldeutschen Verkehrsverbandes heißt.278 In diesem Zusammenhang veränderten sich auch die Besichtigungsgewohnheiten der Wittenberg-Besucher. Die Teilnahme am Gottesdienst oder eine kurze Andacht in der Schlosskirche gehörten nun beispielsweise nicht mehr automatisch zum Besuchsprogramm. Auch der touristische Besuch der Schlosskirche nahm in den 1930er Jahren um rund ein Sechstel ab.279 Der Rückgang der Eintragungen in das Gästebuch der Stadtkirche ab 1935 indiziert ebenfalls, dass die ,evangelische Wallfahrt‘ nach Wittenberg an Bedeutung für den Fremdenverkehr verlor.280 Die Besucherzahlen im Lutherhaus stiegen ab dem Lutherjubiläumsjahr hingegen stark an. 1931 zählte die Lutherhalle 20.040 Besucher, 1932 ging diese Zahl auf 16.138 zurück.281 Im Jahr 1936, für das genaue statistische Angaben vorliegen, konnte das Museum mit insgesamt 33.199 Besuchern die Zahl der Gottesdienstbesucher und Touristen in der Schlosskirche um rund 5.000 Besucher überrunden.282 Im ,Windschatten‘ der Lutherhalle gewann auch das Melanchthonhaus als Teil der touristischen Infrastruktur an Bedeutung.283

276 Vgl. Reichsmännertreffen, Wittenberger Zeitung, 18. 06. 1937; Ein zweites Treffen fand am Himmelfahrt-Wochenende 1939 in Wittenberg unter der Losung „Männer vor Gott!“ statt. Siehe gedruckter Aufruf, Privatarchiv Silvio Reichelt. 277 Vgl. Bürger, MännerRäume bilden, 122 f. 278 Schreiben Mitteldeutscher Verkehrsverband vom 31. 08. 1933, in Akte 13, Archiv StLu. 279 Gottesdienstbesucher und Touristen 1933: 32.000, 1934: 23.000, 1935: 35.000, 1936: 28.000, 1937: 25.000, 1938: 24.000, 1939: 26.000; Siehe Akte 474, Bl. 50, Archiv Predigerseminar. 280 Vgl. Gästebuch Stadtkirche, Eintragungen 5. Juli 1929 – 14. Oktober 1937, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 281 Vgl. Beitrag „Der Fremdenbesuch in unserer Lutherstadt“, Wittenberger Zeitung, 07. 06. 1933. 282 Vgl. Tätigkeitsbericht Lutherhalle 1937, in B 37, Teil 1, Archiv Stadtkirche. 283 Vgl. 1939 geschlossener Dienstvertrag zwischen Universitätsverwaltung und Ehepaar Seidel. Gegen eine jährliche Zahlung von 384 RM mussten das Ehepaar Hausmeister- und Pförtnerpflichten erfüllen, das Sterbezimmer mindestens vier Stunden täglich Besuchern offen halten

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Dennoch wurde Wittenberg nicht in die nationalsozialistische Tourismuspolitik eingebunden, in deren Zentrum die Organisation Kraft durch Freude stand. Diese bot im Zeitraum 1933 bis 1939 neben 7,4 Millionen Urlaubsreisen auch 38 Millionen Tages- und Zweitagesfahrten an.284 Wittenberg hätte also durchaus als Destination für die Urlauberzüge aus Berlin oder den Industriezentren Sachsens und Frankens dienen können, tat es aber nicht. Die Stadt wurde nicht zu einem Ort des organisierten Massengleichschritts, obwohl konfessionell begründete Pilgerfahrten oder individuellen Bildungsreisen nach 1933 an Bedeutung verloren. Die reformationshistorische Denkmallandschaft ließ sich nur bedingt zum Symbol deutscher Identität stilisieren und auch schlecht als Machtarchitektur des Nationalsozialismus inszenieren. Deshalb war Wittenberg keine offizielle KDF-Destination und wurde im Gegensatz etwa zu den altdeutschen Modellstädten Nürnberg oder Rothenburg ob der Tauber nicht massentouristisch erfahrbar gemacht.285 Fremdenverkehrsorte wie Oberammergau oder Rothenburg konnten sich im Ergebnis zwar über einen erhöhten Besucherzuspruch freuen, verloren aber ihre touristische Autonomie. So wurden beispielsweise die Eintrittspreise für die Passionsfestspiele 1934 drastisch gesenkt, um auch dem einfachen Volksgenossen die Teilnahme zu ermöglichen. In Rothenburg übernahm die NS-Urlaubsorganisation Kraft durch Freude 1935 sogar das städtische Verkehrsamt und in Stralsund hat sie gemeinsam mit dem dortigen Verkehrsamt das Festprogramm des Stadtjubiläums entworfen.286 Eine derart intensive Einmischung in städtische Angelegenheiten erfolgte in Wittenberg nicht, hier blieben die Lokaleliten Hauptentscheidungsträger des Fremdenverkehrs. Die Tourismuswerbung der 1930er Jahre nannte zwar „zehntausende Deutsche und tausende ausländische Besucher […] der ganzen evangelischen Welt“,287 die nach Wittenberg kämen. Der Blick auf die Statistik relativiert diese Einschätzung jedoch. Ausländische Besucher spielten in Wittenberg, wie in den vorangegangen Jahrzehnten auch, nur eine untergeordnete Rolle. So weist die Besucherstatistik des Lutherhauses für das Jahr 1936 lediglich 1.948 Ausländer bei einer Gesamtbesucherzahl des Museums von 33.199 aus.288 Für die gesamte Stadt wurde die Besucherzahl auf etwa 75.000 geschätzt.289 Anlässlich der Olympischen Spiele in Berlin weilten in diesem Jahr außergewöhnlich viele Ausländer in Deutschland und nutzten ihren Aufenthalt auch zu einem touristischen Besuchsprogramm. In Vorbereitung darauf wurde die Wittenberger Denkmallandschaft ansehnlicher gemacht, indem beispiels-

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und ein Gästezimmer für das Lutherhaus zur Verfügung stellen. Siehe Vertrag in Akte 15, Archiv StLu. Vgl. Spode, Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit, 18. Zu Rothenburg siehe v. a. Hagen, Preservation, Tourism and Nationalism. Vgl. Ders., 189 ff.; Brunner, Stralsund. Eine Stadt im Systemwandel, 124. Führer Landesverkehrsverband Mitteldeutschland 1938, 39. Vgl. Tätigkeitsbericht Lutherhalle, in B 37, Teil 1, Archiv Stadtkirche. Vgl. Führer durch die Lutherstadt Wittenberg 1938, 5.

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252 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus weise die Reformatoren-Standbilder auf dem Marktplatz eine Entrostung erfuhren und einen neuen Anstrich erhielten.290 Für die anderen Friedensjahre des Dritten Reichs kann davon ausgegangen werden, dass der Ausländeranteil geringer war. Wie bereits in den 1920er Jahren besuchten, neben Gästen aus der englischsprachigen Welt, vor allem Reisende aus Schweden die Wittenberger Lutherstätten.291

4.6 Wider Kitsch und Tand: Erinnerungszeichen Erinnerung macht sich vielfach an Gegenständen und Orten fest – auch an Gütern und Plätzen des Konsums.292 Mit den erstandenen Souvenirs und Mitbringseln beglaubigt der Besucher schließlich seine Teilnahme am Erlebnis und nimmt ein Stück des Erlebnisraums in Form eines Miniaturdenkmals mit nach Hause. Er setzt sich mit diesen Devotionalien seiner Besichtigung ein Denkmal in die eigenen vier Wände.293 Die Überlieferung der Teilnahme an einem Erlebnis manifestierte sich im 20. Jahrhundert wie nie zuvor in der wachsenden Kommerzialisierung. „Und so ist Wittenberg internationales Reiseziel geworden, sodass man auch massenhaft sogenannte Luther-Andenken kaufen kann, die sogar in der allerkitschigsten Form angeboten werden“,294 resümierte ein Lokalreporter im Jubiläumsjahr 1933 die touristische Entwicklung. Mit einer Zunahme des Fremdenverkehrs sowie der damit verbundenen quantitativen Ausweitung kommerzieller Angebote endete das Zeitalter exklusiver Bürgerlichkeit im Stil des 19. Jahrhunderts und die bürgerliche Gesellschaft wurde endgültig zu einer Welt der Konsumenten.295 Gegen die wachsende Kommerzialisierung regte sich aber auch Widerstand, der im Kampf gegen Verunstaltung durch Kommerz, Kitsch oder Reklame seinen Ausdruck fand. „Jeder Wittenbergfahrer hat den Wunsch, aus der Lutherstadt ein Erinnerungszeichen mit nach Hause zu nehmen“, um das Besuchserlebnis mittels Souvenir nachbereiten und sich der Authentizität der touristischen Erfahrung nachträglich versichern zu können, erkannte der Lokalhistoriker Richard Erfurth in einem Pressebeitrag 1938. Er erhob gleichzeitig die Forderung, „den guten Geschmack zu pflegen und an Stelle des üblen Kitsches das Wertvolle, das wirklich Schöne, die wahre Kunst zu set290 Vgl. Kammer, Melanchthondenkmal, 27. 291 Vgl. dreisprachiges Büchlein: Die Lutherstadt Wittenberg. Deutschland-Bildheft. 292 Pierre Nora hat in seinem monumentalen Werk über die französischen Erinnerungsorte auch einzelne Orte des Konsums aufgenommen, ohne aber spezifisch darüber zu reflektieren. Beispiele hierfür sind „Le Caf“, „La vigne et le vin“ und „La gastronomie“. 293 Vgl. Träger, Der Weg nach Walhalla, 222. 294 Das Wittenberg von heute. Ein Beitrag zum Lutherjahr, Blätter für die Heimatgeschichte Nr. 13, November 1933. 295 Vgl. Siegrist, Ende der Bürgerlichkeit.

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Oskar Thulin und die Lutherhalle

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zen.“296 Statt billiger Massenware sollten den Gästen künstlerisch hochwertige Andenken offeriert werden. Dies galt vor allem für Produkte, die das Konterfei des Reformators zeigten. Ästhetisierte Vergegenwärtigungsstücke wurden in der Regel von den behördlich verfassten Trägern der Reformationserinnerung akzeptiert oder sogar selbst in Auftrag gegeben. Je stärker jedoch Luthers Bild nur ein Etikett für eine Ware bildete und damit den rein kommerziellen Aspekt verdeutlichte, desto skeptischer standen die Amtsträger diesen Produkten gegenüber. Bereits in den 1920er Jahren hatten Stadtverwaltung und Stadtkirchengemeinde sich bemüht, anspruchsvolle Erinnerungszeichen anzubieten und den Markt nicht allein den ausschließlich kommerziell agierenden Gewerbetreibenden zu überlassen. Mehrere hochwertige touristische Publikationen waren auf Initiative der Kommune zustande gekommen. Mitunter sind sie auch von kirchlichen Stellen, beispielsweise als Lehrwerk für den Konfirmandenunterricht, empfohlen worden. Der Magdeburger Generalsuperintendent hob in seiner Empfehlung für eine 1927 erschienene, aufwendig gestaltete Bildmappe mit achtundvierzig Kunstdrucken ausdrücklich die affektive Wirkung der Bilder hervor. Die Herausgeber zielten auf die emotionale, weniger auf die rationale Beeinflussung der Betrachter, die das Erlebnis als Voraussetzung von Erinnerung beförderte: Wer die Bilder […] in einem Wechselrahmen wochenweise den Konfirmanden vor Augen führt, der bringt ihnen zwang- und mühelos ein Stück religiöser Heimatkunde nahe. […] Wie wird dem Beschauer an diesen Bildern die Reformationsgeschichte aus einem Durcheinander von Zahlen und Daten zu einem persönlichen Erlebnis.297

Oskar Thulin hat in den 1930er Jahren an den Gedanken des volkspädagogisch sinnvollen Souvenirs für Lehr- und Unterrichtszwecke angeknüpft, die einen sinnlichen Zugang zu den Wittenberger Lutherstätten bieten sollten. Die von ihm betriebene Kombination von Wort und Bild, Text und ,Ding‘ im Ausstellungskonzept der Lutherhalle lässt sich an den offerierten Erinnerungszeichen ablesen. Vor allem das Bild in Malerei und Plastik gegenüber der Druckschrift sprengte in seinen Augen „die Grenze des innertheologischen Kreises, der Gebildetenschicht“298 und trug die Sache Luthers in breite Bevölkerungskreise. Als Kunsthistoriker brachte Thulin ein Gespür für die Verwertbarkeit visueller Reformationszeugnisse mit. So entstand in den 1930er Jahren beispielsweise eine Vielzahl kommerziell verwertbarer Erinnerungen, die den Wittenberger Reformator auch in den Wohnstuben präsent werden ließen: 296 Die Lutherstadt Wittenberg im Bilde, Presseartikel von Richard Erfurth, Juni 1938, archiviert in Akte 6, Archiv StLu. 297 Buchbesprechung „Lutherstadt Wittenberg“, in: Provinzialkirche, Monatsblatt für die Vertreter der Kirchengemeinden der Provinz Sachsen, Nr. 3, 15. März 1927. 298 Thulin, Das Lutherbild der Gegenwart, 148.

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254 Führerkult und Lutherinszenierung – Die Zeit des Nationalsozialismus „Tausende von Farbdrucken haben inzwischen den Weg in das evangelische Haus gefunden, auch durch die Drucke der Lutherhalle“,299 resümierte deren Direktor und bezog sich auf durch das Museum herausgebrachte farbliche Wiedergaben verschiedener Lutherportraits aus der Cranachwerkstatt sowie eine Reproduktion des auf Christus weisenden Luthers auf der Predella der Wittenberger Stadtkirche.300 Außerdem wurde das Portrait-Relief Luthers am Katharinenportal als wandschmückender Gipsabdruck vertrieben,301 der mit dem Original die Plastizität gemeinsam hatte und beispielsweise auch auf der 1940 in München gezeigten Ausstellung Deutsche Größe als Exponat diente.302 Thulin nutzte die Erkenntnis, dass Souvenirs die Erinnerung nicht nur wach halten, sondern gleichzeitig formen. Die Anbieter können deshalb den Eindruck der Besucher nachhaltig beeinflussen, indem sie Geschichte verfügbar machen. Bereits für die Reformationszeit galt, was der Kunsthistoriker Martin Warnke in seinem Buch Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image folgendermaßen umschrieb: „Luthers Bildnis ist als Bestandteil des reformatorischen Kampfes immer wieder von Interessen mitgestaltet worden.“303 Thulins Interesse bestand darin, über den engen Kontext des Museums hinaus das Antlitz des jungen, kämpfenden Luthers zu popularisieren und es in die vier Wände des heimischen Betrachters zu bringen. Die Lutherhalle entwickelte sich in Konkurrenz zum freien Markt in den 1930er Jahren zum Anbieter hochwertiger Erinnerungszeichen, um einerseits den billigen Kitsch durch niveauvolle Mitbringsel zu ersetzen, andererseits die sich daraus ergebenden Einnahmemöglichkeiten für das Museum zu erschließen. Bis zur Pensionierung des Schlosskirchenküsters Lehmann 1935 war der Andenkenhandel des Lutherhauses ein Geschäft, das der Sammlungsaufseher auf eigene Rechnung betrieben hatte, um sein mageres Gehalt aufzubessern.304 Angeboten wurden vor allem Postkarten, aber auch Lutherbüsten aus Metall, Holz oder Porzellan,305 seit 1916 offerierte das Lutherhaus überdies einen kleinen gedruckten Führer durch die Ausstellung.306 Ab Oktober 1935 lag das Angebot von touristischen Erinnerungszeichen jedoch vollständig in der Hand des Museums und wurde stark erweitert.307 Die Ausweitung des Angebots an Erinnerungszeichen erfasste nicht nur den Reformator selbst. 1937 erschien eine aufwendig illustrierte, farbige Wandkarte Deutschland – Lutherland im Format 120x150 cm, welche die Lutherstätten mittels volkstümlicher Szenen verbildlicht. Die Stätten der Reformationsge299 300 301 302 303 304 305 306 307

Ebd., 132. Vgl. Rückblickender Bericht von Thulin aus dem Jahr 1948, in Aktenbestand StLu. Vgl. Thulin, Das Lutherbild der Gegenwart, 135. Vgl. Hagemeyer, Deutsche Größe, 148. Warnke, Cranachs Luther, 61. Vgl. Dienstanweisung Sammlungsaufseher Lutherhalle, in: Akte 44, Archiv Predigerseminar. Vgl. Laube, Lutherhaus Wittenberg, 201. Vgl. Jordan, Führer durch die Lutherhalle 1916. Vgl. Tätigkeitsbericht Lutherhalle 1937.

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Oskar Thulin und die Lutherhalle

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schichte sind darauf en miniature abgebildet und erzählen mittels Darstellung der Protagonisten und ihrer Werke im Sinne des ,lebendigen Luthers‘ eine Geschichte, die „unvergesslich durch die lebendige Anschauung bleibt“.308 Thulin erhoffte sich durch die Publikation eine Resonanz, die bis in die Schulen, Gemeindesäle und Arbeitszimmer reichen sollte, denn „was eine Wittenberg-Fahrt an Eindrücken vermittelt, soll so nach verschiedenen Seiten vertieft werden können.“309

308 Thulin, Deutschland – Lutherland. Eine farbige Wandkarte, S. 26. 309 Thulin, Die Lutherhalle. Reformationsgeschichtliches Museum, S. 10.

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Exkurs: Die Lutherstadt Wittenberg ,zwischen den Zeiten‘ 1945 – 1949 1. Kontinuität nach der Katastrophe? Der Blick auf die eigene Vergangenheit hat sich in Deutschland mit der Epochenschwelle des Jahres 1945 radikal verändert und führte auch zu einer Neubewertung des historischen Ranges großer Gestalten der nationalen Geschichte. Ob sie weiterhin als Referenzbasis zu gebrauchen waren, schien zumindest fragwürdig. Der in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur vollzogene Zivilisationsbruch, der in der totalen Niederlage Deutschlands endete, führte nach Kriegsende zu einem Katastrophendiskurs, für den Friedrich Meineckes einflussreiches Werk Die deutsche Katastrophe stellvertretend steht.1 Die Betonung eines Bruchs mit dem Vorangegangenen und eines absoluten Neuanfangs wurde in der Formel von der ,Stunde Null‘ umschrieben.2 Winfried Müller spricht in diesem Zusammenhang von einer Konstruktion von Diskontinuität.3 In der Diskussion über Martin Luthers historische Bedeutung äußerten vor allem Männer, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland vertrieben worden waren, neue Akzente. Sie drängten auf eine Revision des tradierten nationalprotestantischen Lutherbildes und setzten sich mit der Frage auseinander, ob die Deutschen sich angesichts der gemachten Erfahrungen weiterhin auf den Wittenberger Reformator berufen könnten. Thomas Mann charakterisierte Luther in einer im Frühjahr 1945 in der Library of Congress in Washington D.C. gehaltenen Rede als eine Persönlichkeit, die gute und schlechte deutsche Traditionen verbinde. Den Literaten befremdete vor allem das Antirömische und Antieuropäische im Denken und Handeln Luthers.4 Die wirkungsvollste Exilsichtweise stammte von Alexander Abusch, der mit einer verhängnisvollen historischen Kontinuitätslinie argumentierte, an deren Anfang Luther, an deren Ende jedoch Hitler gestanden habe.5 Die in der unmittelbaren Nachkriegszeit virulent geführte Debatte um den 1 Vgl. Meinecke, Die deutsche Katastrophe; Meineckes Buch gehört zu den zahlreichen zwischen 1945 und 1948 erschienenen Schriften, die die vielfältigen Diskurslinien des politischen Denkens der Nachkriegszeit abbilden. Eine exemplarische Analyse findet sich bei: Greven, Politisches Denken in Deutschland nach 1945. 2 Vgl. Aleida Assmann und Frevert, Geschichtsvergessenheit, 97 ff. 3 Vgl. Müller, Kontinuität nach der Katastrophe?, 554. 4 Vgl. Mann, Deutschland und die Deutschen. 5 Vgl. Abusch, Irrweg einer Nation; Zu Abuschs Deutungsschema der deutschen Vergangenheit siehe: Greven, Politisches Denken in Deutschland nach 1945, 222 – 236.

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Kontinuität nach der Katastrophe?

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Stellenwert Luthers in der deutschen Geschichte schlug sich auch im lokalen Diskurs Wittenbergs nieder, stellte die grundsätzliche Bedeutung Luthers und der Reformation für kommende Generationen aber nicht in Frage.6 Bereits im Juli 1945 machte der Direktor der Lutherhalle die Kontinuitätslinien deutlich, indem er die Reformationserinnerung für gegenwärtige Zwecke aktualisierte, aber keinerlei kritische Distanzierung von alten Geschichtsbildern und Traditionen erkennen ließ. Die Betonung der bleibenden Rolle Wittenbergs als herausragender protestantischer Erinnerungsort blieb im lokalen Diskurs unhinterfragt: Die geistigen Kräfte der lutherischen Reformation, die Wittenberg zum symbolischen Ort des Weltprotestantismus gemacht haben und in ihrer Wirkung weit über die Grenzen der Konfessionen hinausgehen, werden auch für den Aufbau Europas, auf den unsere Gedanken jetzt gerichtet sind, von größter Bedeutung sein.7 (Oskar Thulin, 11. 07. 1945)

Die materielle und personelle Situation begünstigten eine Kontinuität nach der Katastrophe. Wittenbergs Denkmallandschaft hatte den Krieg weitgehend unbeschadet überstanden. In den Kriegsjahren hatte man wichtige Kunstschätze der Stadt durch zahlreiche Maßnahmen geschützt. Die Thesentür war eingemauert worden, der Cranachaltar der Stadtkirche durch eine Kopie ersetzt, die Reformatorenstandbilder auf dem Markt ausgelagert und die Depotbestände und Ausstellungsgegenstände der Lutherhalle waren in elf Dörfer der Umgebung sowie den Tresor der Stadtsparkasse gelangt.8 Innerhalb weniger Monate gelang es, die Schutzmaßnahmen rückgängig zu machen. Oskar Thulin bemühte sich unmittelbar nach Kriegsende, die Sammlungsbestände rasch in das weitgehend unzerstörte Lutherhaus zurückzubefördern. Allerdings war ein kleiner Teil der ausgelagerten Sammlung verschwunden.9 Auch der Cranachaltar gelangte wieder zurück in die Stadtkirche und die Standbilder der Reformatoren befanden sich im Februar 1946 wieder auf ihren Sockeln. In personeller Hinsicht blieben mit dem Superintendenten Meichßner und dem Lutherhallendirektor Thulin zwei Schlüsselfiguren der Erinnerungspolitik im Amt. Maximilian Meichßner war durch seine kurzzeitige Inhaftierung durch die Gestapo als Folge der Beteiligung seines Sohnes Joachim am Hitlerattentat vom 20. Juli 1944 als eine Wittenberger Autorität auch nach dem Ende des Dritten Reichs anerkannt und setzte auf die Kontinuität der reformationsgeschichtlich begründeten Feierpraxis in Wittenberg. Für den Re6 Zur Debatte vgl. Lehmann, Protestantisches Christentum, Siehe v. a. Kapitel IV „Muss Luther nach Nürnberg? Deutsche Schuld im Lichte der Lutherliteratur 1946/47“, 64 – 80. 7 Abschrift Schreiben von Thulin an Oberbürgermeister vom 11. 07. 1945, in: Akte 7, Archiv StLu. 8 Schutzmaßnahmen dokumentiert in: Akte 4096, Grabmäler großer Deutscher 1942, Stadtarchiv Wittenberg. 9 Vgl. Kabus, Schätze der Lutherhalle.

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Exkurs: Die Lutherstadt Wittenberg ,zwischen den Zeiten‘ 1945 – 1949

formationstag 1945 bat er die Behörden um die Genehmigung eines Schulgottesdienstes mit Verweis auf die „seit Jahrhunderten übliche“ Tradition.10 Außerdem ersuchte er um die Erlaubnis zur Verwendung der evangelischen Kirchenfahnen sowie die, bereits in den Vorkriegsjahren übliche, Möglichkeit einer Übertragung des Festgottesdienstes am 31. Oktober im Radio.11 Im Gegensatz zu Meichßner wog die politische Belastung des Lutherhallendirektors Thulin schwer. Aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP wurde er zunächst von seiner unmittelbaren Leitungstätigkeit entbunden, die ein politisch unbelasteter Gymnasiallehrer übernahm.12 Der Epochenbruch 1945 hatte für die Museen in der sowjetischen Besatzungszone die Beseitigung bestehender Trägerschaftsmodelle zur Folge und die Lutherhalle geriet in die Obhut der Kommune.13 Thulins Tätigkeit scheint von der Entbindung als offizieller Direktor unberührt geblieben zu sein, denn bereits im Juli 1945 wandte er sich an den Oberbürgermeister mit der Bitte um finanzielle Unterstützung, die im September auch gewährt wurde.14 Wenige Monate nach der Besetzung Wittenbergs durch sowjetische Truppen gelang es Thulin am 18. Februar 1946 anlässlich des 400. Todestages von Luther, mit einer Sonderausstellung über dessen Totenbildnis das Museum wiederzueröffnen.15

2. Das Luthergedenken am 18. Februar 1946 Der 400. Jahrestag des Todes von Luther eröffnete die Möglichkeit, die in Wittenberg gepflegte Reformationserinnerung fortzuschreiben und sie zugleich an die besonderen Gegebenheiten der unmittelbaren Nachkriegszeit anzupassen. Gegen den Diskurs von der ,Stunde Null‘ und einem Überdenken der vergangenheitsbezogenen Referenzbasis stellten die Entscheidungsträger in der Lutherstadt die institutionelle Verfasstheit des Jubiläumsmechanismus, der auf größere Zeiträume und ein Kontinuum des Erinnerns angewiesen ist. Die Wittenberger Bürgerschaft versicherte sich dieses Kontinuums am Vorabend des Gedenktages, indem der Gymnasiallehrer Dr. Kliche im Rahmen eines Gemeindeabends der Stadtkirchengemeinde auf „400 Jahre Luther“ 10 Brief an Amt für Volksbildung vom 19. 10. 1945, in: Akte A II 411, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 11 Vgl. Brief an Leipziger Rundfunk in: Akte A II 411, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 12 Vgl. Personalangelegenheiten 1949 in: Akte 15, Archiv StLu. 13 Zum Wechsel der Trägerschichten der Museen in der sowjetischen Besatzungszone vgl. Scheunemann, Gegenwartsbezogenheit und Parteiname, 37 ff. 14 Vgl. Abschrift Schreiben von Thulin an Oberbürgermeister vom 11. 07. 1945 mit Bitte um 1500 Reichsmark, handschriftlicher Vermerk vom 05. 09. 1945 mit Hinweis auf Gewährung von 1000 Reichsmark, in: Akte 7, Archiv StLu. 15 Vgl. Wiedereröffnung Lutherhalle, in: Akte 39, Archiv StLu.

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Das Luthergedenken am 18. Februar 1946

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zurückblickte.16 Das Wesen des historischen Jubiläums besteht aber nicht nur aus dem Rückblick auf vergangenes Geschehen. Der institutionelle Mechanismus vergegenwärtigt die Vergangenheit, indem er die Gegenwart mit aktuellem Sinn erfüllt und daraus einen Geltungsanspruch für die Zukunft ableitet.17 Dieser Gesetzmäßigkeit wurde im Gedenken in Wittenberg Rechnung getragen, indem der Berliner Bischof Otto Dibelius in seiner Ansprache am Grab des Reformators beispielsweise darauf hinwies, „dass das Evangelium noch lebendig in unserer Mitte fortlebt, so, wie Luther es verkündet hat. Wir sehen aufwärts, nicht rückwärts. […] Luther ist kein Toter, sondern ein Lebendiger.“18 Zeitvorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind keine abstrakten Kategorien. Es handelt sich vielmehr um veränderbare Sinnhorizonte.19 Die Form des Erinnerns im historischen Jubiläum unterliegt deshalb einem Wandel und umfasst auch die Frage, welche Stellung zu vorangegangenen Jubiläen bezogen wird. Die Gestaltung des Gedenkens im Jahr 1946 veränderte sich, denn an die Vorläufer der Jahre 1883 bis 1933 konnte nicht bedenkenlos angeknüpft werden. Diese waren auf die Affirmation bestehender staatlicher Ordnungen und gesellschaftliche Verhältnisse angelegt gewesen. Für die Initiatoren des Gedenkens von 1946 stand dies schon deshalb nicht zur Debatte, weil tradierte staatliche Ordnungsschemata bestenfalls rudimentär, neue Ordnungsvorstellungen aber noch nicht existierten. Der Kieler Kirchenhistoriker Johannes Schilling schreibt in diesem Zusammenhang von einem „Jubiläum zwischen den Zeiten“.20 Die prinzipiell anders gelagerte Erinnerungspraxis anlässlich eines Totengedenkens korrespondierte aber auch mit der Ausnahmesituation des Jahres 1946. Die „auf die Produktion von freudiger Zustimmung angelegten Inszenierungsformen historischer Jubiläen“21 schienen in dieser Situation gänzlich ausgeschlossen.22 Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren Jubiläumsakteure vor allem darauf bedacht gewesen, positiv besetzte Kontinuitätslinien hervorzuheben. Anlässlich der Gedenkfeier 1946 erschien es jedoch notwendig, im öffentlichen Gedenken auch Fehlentwicklungen und Irrwege aufzuzeigen. Die Wiederaufstellung der Standbilder von Luther und Melanchthon auf dem Marktplatz ermöglichte die „Konstruktion von Diskontinuität“.23 Beide Denkmäler hatte man 1942 in Kellergewölben des nahen Luthersbrunn, ein Gasthaus vor den 16 17 18 19 20 21 22

Programm 400. Todestag Luther 1946, in: Akte A II 208, Archiv Stadtkirche Wittenberg. Vgl. Flügel, Zeitkonstrukte im Reformationsjubiläum, 77 f. Ansprache Dibelius, in: Akte A II 208, Archiv Stadtkirche Wittenberg. Vgl. Aleida Assmann, Zeit und Tradition, 1. Schilling, Luther 1946, 184. Müller, Kontinuität nach der Katastrophe, 554. Hartmut Lehmann betont hingegen eher die Kontinuität des Gedenkens 1946 im Vergleich zu den Jubiläen der Jahre 1883, 1917 und 1933. Vgl. Lehmann, Katastrophe und Kontinuität, 132. 23 Zur Konstruktion von Diskontinuität vgl. Müller, Kontinuität nach der Katastrophe, 560.

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Exkurs: Die Lutherstadt Wittenberg ,zwischen den Zeiten‘ 1945 – 1949

Toren der Stadt, untergebracht. Wittenbergs erster Nachkriegsbürgermeister erinnerte an das „Ende des Krieges mit all seinen Schrecken“ und interpretierte in einer kurzen Ansprache das „Untertauchen während des Hitlerregimes im Dunkel eines Kellers“ als ein „Symbol für den Terror und Gewissenszwang dieses Regimes.“24 In Anlehnung an Luthers Gewissensfreiheit nahm er das Gedenken als Anlass zur Mahnung: Möge das Gedenken an diese beiden Großen unserer Geschichte uns eine ständige Mahnung sein, unser Gewissen niemals wieder durch Zwang und Terror vergewaltigen zu lassen. Möge es in uns immer das Bewusstsein an eine höhere Gerechtigkeit wach halten und uns den Weg des Rechts und des Friedens weisen.25 (Oskar Gerischer, 18. 02. 1946)

Während das Gedenken im Jahr 1946 die Affirmation bestehender staatlicher Ordnungen und gesellschaftliche Verhältnisse ausschloss, vollzog sich die uneingeschränkt positive Haltung der Akteure zur lokalen Ebene kontinuitätsorientiert. Oberbürgermeister Gerischer begrüßte die Rückkehr der beiden „Künder des deutschen Wesens“ auf den Marktplatz als „Schutzherren und Wahrzeichen unserer alten, lieben Lutherstadt“ und bekannte sich gleichzeitig zur „hohen Verantwortung […] als Hüterin der verpflichtenden Tradition“ des reformatorischen Erbes.26 Aus der Wahrnehmung dieser Verantwortung leiteten die Wittenberger Akteure den Anspruch auf überregionale Aufmerksamkeit ab und wollten sich nicht mit einer auf die Lokalöffentlichkeit beschränkten Feier begnügen. Der Einladung zur Teilnahme am Luthergedenken war der Berliner Bischof Dibelius gefolgt, während die Bischöfe der sächsischen sowie thüringischen Landeskirchen im Vorfeld abgesagt hatten.27 Vertreter der Kirchenprovinz Sachsen aus Magdeburg, der Landeskirche Anhalt sowie der Martin-Luther-Universität Halle waren jedoch in die Lutherstadt gekommen und hatten einen Kranz am Grab des Reformators niedergelegt.28 Der Evangelische Bund Brandenburg gedachte des Reformators ebenfalls mit einem Kranz.29 Gästen wie Einheimischen wurde neben einer kurzen Gedenkveranstaltung am Grab des Reformators sowie der Ansprache des Bürgermeisters auf dem Marktplatz anlässlich der Wiederaufstellung der Reformatorenstandbilder ein Festgottesdienst in der Stadtkirche, die Wiedereröffnung der Lutherhalle mit 24 Ansprache Oberbürgermeister Gerischer am 18. 02. 1946, in: Akte A II 208, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Vgl. Antwortschreiben aus Dresden und Eisenach in: Akte A II 208, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 28 Vgl. Abschrift Zeitungsbericht von Arthur Lenz in: Akte A II 208, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 29 Vgl. Schreiben Evangelischer Bund an Superintendenten vom 03. 02. 1946, in: Akte A II 208, Archiv Stadtkirche Wittenberg.

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Ein Neubeginn nach alten Mustern

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einer Sonderausstellung sowie die abendliche Aufführung von drei Bachkantaten in der Stadtkirche geboten. Der Festtag endete traditionell mit dem Singen des Lutherchorals Ein feste Burg ist unser Gott.30

3. Ein Neubeginn nach alten Mustern Das Luther-Gedenken anlässlich seines Todestages hat den Erinnerungsort Lutherstadt Wittenberg gefestigt, denn es zeigte sich, dass die seit 1617 bestehende Kette reformationsgeschichtlicher Erinnerung nicht abgerissen war. Sowohl kommunale als auch kirchliche Instanzen bezeugten durch ihre Beteiligung ihr Interesse an Kontinuität. Wittenberg bewies mittels auswärtiger Gäste, Kranzniederlegungen und Radioberichterstattung einmal mehr seine überregionale Anziehungskraft. Gleichzeitig erhielt der Erinnerungsort durch die Wiederaufstellung der Reformatorendenkmäler und die Wiedereröffnung der Lutherhalle am 18. Februar 1946 bedeutende Elemente seiner Materialität zurück. Die im kriegszerstörten Nachkriegsdeutschland einmalige Geschlossenheit der Denkmallandschaft gab sogar Anlass zur ,Korrektur‘ historischer Irrtümer. Im Jahr 1948 wurde ernsthaft erwogen, die originale Grabplatte Luthers, die aufgrund der ernestinischen Niederlage im Schmalkaldischen Krieg 1547 in die Jenaer Michaeliskirche gelangt war, doch noch von ihrem inzwischen bombengeschädigten ,Zwischenquartier‘ in Jena an den ursprünglichen Bestimmungsort, die Wittenberger Schlosskirche, zu überführen.31 Die von Wittenberg am Gedenktag ausgehende Botschaft, ein lebendiger Ort evangelischen Glaubens und praktizierter Reformationserinnerung zu sein, half in den darauf folgenden Jahren bei der Rückkehr zur Normalität. Wittenberg begann, wieder zu einem Ort regen evangelischen Lebens zu werden. Das nach Kriegsende in seinem Bestand gefährdete Evangelische Predigerseminar konnte in der Lutherstadt verbleiben und in das von ihm seit 1817 genutzte Augusteum zurückkehren.32 Einer drohenden Verlegung nach Berlin stemmten die Wittenberger Befürworter sich mit dem Argument entgegen, dass

30 Vgl. Abschrift Zeitungsbericht von Arthur Lenz in: Akte A II 208, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 31 Vgl. Schriftverkehr in Akte 502, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 32 Das Predigerseminar hatte 1817 aus dem Bestand der alten Universität das Augusteum zur dauerhaften Nutzung erhalten. Nach 1945 waren im Gebäude das Finanz-, Kataster- und Gewerbeamt untergebracht worden.

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Exkurs: Die Lutherstadt Wittenberg ,zwischen den Zeiten‘ 1945 – 1949

[…] man gar nicht genug kirchliches Leben nach Wittenberg legen kann. Je mehr es uns gelingt, Wittenberg wieder zu einem kirchlichen Mittelpunkt zu machen, umso mehr werden die Kandidaten in das Geschehen der Kirche einbezogen.33

Den Neubeginn hat schließlich Propst Wolfgang Staemmler auf den Weg gebracht. Im November 1946 zogen fünfzehn Kandidaten in das alte Seminargebäude und sicherten den Stellenwert der Lutherstadt als kirchliche Ausbildungsstätte.34 Die 1948 gegründete und dem Seminar angegliederte Schlosskirchengemeinde stärkte das Predigerseminar und ermöglichte gleichzeitig eine Neuorientierung der Ausbildung. Ergänzt wurden die bereits bestehenden kirchlichen Einrichtungen durch die in Wittenberg erfolgten Gründungen einer evangelischen Predigerschule der Kirchenprovinz Sachsen, eines Katechetischen Oberseminars sowie der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in den Nachkriegsjahren. Die Weiterarbeit der Lutherhalle war durch den Verbleib Oskar Thulins im Direktorenamt ebenfalls gesichert. Trotz seiner politischen Vorbelastung aufgrund mangelnder Distanz zum nationalsozialistischen Staat hatte er sich als anerkannter Reformationsfachmann und Museologe unentbehrlich gemacht. Thulin setzte den bereits in den 1930er Jahren begonnenen Kurs fort und öffnete das Haus auch für soziale Schichten jenseits des protestantischen Bildungsbürgertums. So gründete er 1947 einen Arbeitskreis der Lutherhalle, dem etwa siebzig Laien angehörten.35 Die von Thulin betriebene Öffentlichkeitsarbeit sowie eine zweite, heimatorientierte, Sonderausstellung nach Kriegsende sicherten der Lutherhalle einen festen Platz im Wittenberger Kulturleben. Die Ausstellung war in Zusammenarbeit mit dem Künstler Erich Viehweger gestaltet worden und zeigte dessen Graphiken und Bilder Wittenberger Stadtansichten, die auch Besucher jenseits des protestantischen Kernpublikums für die Arbeit der Lutherhalle interessierten.36 In dieser Epoche materieller und ideeller Verluste stand das ,Heimatliche‘ hoch im Kurs und stellte ein ,Identifikationsarsenal‘ dar.37 In Rückbesinnung auf ein unpolitisches Stück Vergangenheit ging es darum, Erinnerungen wach zuhalten und städtische Identität zu wahren. Eine weitere, 1947 eröffnete Sonderschau der Lutherhalle anlässlich des 450. Jahrestages der Geburt von Philipp Melanchthon zeigt einmal mehr, dass der reformationshistorische Jubiläumsmechanismus in Wittenberg weiterhin funktionsfähig war. Im Gegensatz zu seiner Vorkriegstätigkeit verzichtete Oskar Thulin jedoch auf eine Aktualisierung der Reformationsgeschichte. Unter dem Titel Philipp Melanchthons Leben und Wirken präsentierte er keine 33 Brief an den Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin, Januar 1948, in: Akte 494, Predigerseminar Wittenberg. 34 Vgl. Freybe, Leben und Lernen auf Luthers Grund und Boden, 85. 35 Vgl. Thulin, Die Wittenberger Lutherhalle. Ein Wandel. 36 Vgl. Ausstellungsplakat und Dokumentation in Akte 24, Archiv StLu. 37 Vgl. Holtmann, Heimatbedarf in der Nachkriegszeit.

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Ein Neubeginn nach alten Mustern

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interpretierende Ausstellung. Im Mittelpunkt der mit originalen Melanchthon-Autographen, zeitgenössischen Drucken sowie fotographischen Wiedergaben bedeutender Kunstwerke reich bestückten Schau standen dagegen Aussagen Luthers und Melanchthons übereinander.38 Das Programm des Jubiläumstages im Februar bestand aus einem Festgottesdienst in der Stadtkirche, einer Kranzniederlegung am Grab Melanchthons durch Vertreter der Stadt und der Kirche und einer Festveranstaltung in der Aula des Gymnasiums. Die beiden Gymnasiallehrer Dr. Kroemer und Dr. Kliche betonten in ihren Reden die Kontinuität der humanistischen Tradition der nach dem Praeceptor Germaniae benannten Bildungseinrichtung in dessen Sinne und deuteten die Zeit der NS-Diktatur als Zivilisationsbruch.39 Auch Oberbürgermeister Gerischer berief sich auf den Humanisten: Das Wirken Melanchthons beweise, dass bleibende geschichtliche Entscheidungen nicht mit dem Schwert, sondern mit den Waffen des Geistes errungen würden.40 Wittenberg gelang es schnell, wieder zum Symbolort des Protestantismus zu werden und überregionale Ausstrahlungskraft zu entfalten. Eine Präsentation der Lutherhalle auf dem Kirchentag in Berlin im Jahr 1951 sowie auf dem Treffen des Lutherischen Weltbundes in Hannover im Jahr darauf bezeugt das anhaltende nationale Interesse an der Wiege der Reformation.41 Wittenberg blieb aber nicht nur als Symbolort, sondern auch als Fremdenverkehrsdestination gefragt. Die Gründung eines städtischen Verkehrsamts als KWU-Verkehrs- und Werbebüro indiziert die Relevanz der Lutherstadt als touristisches Ziel.42 Bereits 1946 hatte Thulin anlässlich der Wiedereröffnung der Lutherhalle mit Martin Luthers letzte Tage und letzte Bildnisse eine aufwendig bebilderte Schrift herausgegeben, die den Besuchern der Sonderausstellung eine materielle Erinnerung bot.43 Im darauf folgenden Jahr publizierte der Lutherhallendirektor ein weiteres touristisches Büchlein und bekundete damit seinen Anspruch auf Mitsprache bei der Entwicklung des Wittenberger Fremdenverkehrs.44 Ein im gleichen Jahr erschienenes zweites Heft über die Wittenberger Lutherstätten mit einer Auflage von fünftausend Stück lässt auf einen regen Besuchsverkehr in der Lutherstadt schließen.45

38 Vgl. Faltblatt „Luther- und Melanchthonworte. Schrifttafeln der Melanchthon-Sonderausstellung der Lutherhalle anlässlich des 450. Geburtstages von Philipp Melanchthon“, archiviert in Akte 16, Archiv StLu. 39 Vgl. Artikel „Melanchthons 450. Geburtstag“, in: Freiheit, 24. 02. 1947. 40 Vgl. Kammer, Das Melanchthondenkmal, 26. 41 Vgl. Thulin, Die Wittenberger Lutherhalle. Ein Wandel. 42 Vgl. Faltblatt Lutherstadt Wittenberg von 1950. 43 Vgl. Thulin, Martin Luthers letzte Tage. 44 Thulin, Die Wittenberger Lutherstätten. 45 Vgl. Lange, Stadt- und Schlosskirche zu Wittenberg.

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IV. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in der DDR 1. Wandlungen städtischer Geschichtsbilder in den 1950er und 1960er Jahren 1.1 Von der Luther- zur Chemiestadt Städtische Selbstbilder sind „wirkungsmächtige Ideen dessen, was die Identität einer Stadt ausmacht, […] welche Verhaltensweisen in ihr und welche Politikmaßnahmen für sie angemessen sind.“ Diese Bilder sind deshalb sozial konstruiert und abhängig von den Interessen der Gruppen, die sie konstruieren.1 Martin Luther hatte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt der städtischen Selbstbildkonstruktion Wittenbergs gestanden. Die ,Lutherstadt‘ hatte als Identifikationsangebot an eine politisch und konfessionell relativ homogen strukturierte alteingesessene Stadtbevölkerung gedient, die sich dem graduellen Wandel Wittenbergs zur Arbeiter- und Industriemetropole lange Zeit vehement widersetzt hatte. Nach 1945 änderte sich die Lage jedoch grundlegend. Die führenden Köpfe der Kommunalverwaltung wurden ausgetauscht. Auch Lehrer und Verwaltungsbeamte verloren vielfach ihre Stellung und ein Teil des Wirtschaftsbürgertums verließ die Stadt. Pfarrer hingegen konnten kaum noch Mitspracherechte bei außerkirchlichen Fragen geltend machen. Außerdem waren die gefürchteten „unruhigen Arbeitermassen“2 der vor den Toren der Stadt liegenden Industriekommune Piesteritz durch Eingemeindung im Jahr 1950 zu Wittenberger Bürgern geworden und hatten die soziale und konfessionelle Bevölkerungszusammensetzung der Stadt entscheidend verändert. Innerhalb von wenigen Jahren verschwand das den ,Erinnerungsort Lutherstadt Wittenberg‘ tragende milieu de mmoire fast vollständig. An seine Stelle traten neue Deutungseliten, die nicht für die Kontinuität der Erinnerungspolitik, sondern für einen radikalen Neubeginn standen. Die diskursiven Anstrengungen der neuen Führungselite zur Konstruktion und Verankerung einer neuen kollektiven Identität im Osten Deutschlands waren zu Beginn der Geschichte des zweiten deutschen Staates auf einen Bruch bisheriger Identitätskonstruktionen gerichtet. Dies bedeutete für Wittenberg, die bis dahin geltende und tief verwurzelte Identifikation der Stadt 1 Guckes, Städtische Selbstbilder im Widerstreit, 148. 2 Kirchner, Die wirtschaftliche Entwicklung, 79.

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mit dem Erbe der Reformation zu überdenken. Ein Städtebild müsse „historisch richtig gesehen werden“ und „säkulare Auffassungen und Gesichtspunkte stärker berücksichtigen“, hieß es beispielsweise in einem 1959 entstandenen Gutachten zum Manuskript eines Wittenberg-Buches von Oskar Thulin. Der Satz des Autors „Das völlig neue, aber im Sinne des Gesamtbildes wiederhergestellte Innere des Rathauses birgt manche Erinnerung an vergangene Zeit, Sinnbilder des selbstbewussten und glaubensstarken Bürgertums“ wurde als „idealistische, bürgerliche Geschichtsauffassung“ verurteilt und zurückgewiesen.3 „Man kann Wittenberg nur als Lutherstadt sehen“,4 gab sich der Lutherhallendirektor im Vorwort des 1960 in veränderter Form erschienenen Städteprofils unbeirrbar. Obwohl also der radikale Bruch mit der Vergangenheit nicht durchsetzbar war und die ,Lutherstadt‘ nicht verdrängt werden konnte, musste sie doch in Konkurrenz zu anderen Deutungsmustern treten. Im Zuge der gewünschten Umorientierung sollte eine Einbindung der Lokalgeschichte in die große sozialistische Metaerzählung erfolgen, um das kommunikative Gedächtnis der Bewohner zu überschreiben, denn „wer über das Gedächtnis einer Gemeinschaft verfügt, der verfügt auch über ihr politisches Selbstverständnis, über die Werte und Normen, ihre Zukunftsperspektive und ihre politische Agenda.“5 Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hatte die Idee einer Geburt der Zukunft aus der Gegenwart der Vergangenheit das zeitgenössische Denken der Lutherstädter bestimmt. Die Wittenberger Deutungseliten hatten für die Inszenierung eines gewünschten Stadtbildes bis dahin vor allem auf die reformatorische Vergangenheit gebaut und Luther und Melanchthon zu den zentralen Selbstbildressourcen kommunaler Identität gemacht. Die neuen Herrscher setzten ganz andere Schwerpunkte bei ihrem Griff in das Repertoire der Vergangenheit, denn die Gestalt der historischen Erinnerung hängt nicht nur von der Menge der herangezogenen Fakten ab. Entscheidend ist vielmehr, wie diese figuriert werden, welche Aspekte hervorgehoben und welche vernachlässigt werden und schließlich auch, welche Zusammenhänge hergestellt werden. So brachte Heinrich Kühne, der Direktor des neu etablierten Heimatmuseums, in einer an die Stadtbevölkerung gerichteten Werbeschrift diesen Gedankengang wie folgt auf den Punkt: Aus der Fülle der reichen geschichtlichen Vergangenheit können wir schöpfen und müssen nur verstehen, in der rechten Proportion zueinander diese gesellschaftlichen

3 Aktennotiz Besprechung Manuskript „Die Lutherstadt Wittenberg und ihre reformatorischen Gedenkstätten“, in: Akte 23, Archiv StLu. – Dieser Satz wurde von Thulin bereits in seinem 1932 erschienenen Wittenberg-Buch verwendet. Vgl. Thulin, Die Lutherstadt Wittenberg und Torgau, 20. 4 Thulin, Die Lutherstadt Wittenberg und ihre reformatorischen Gedenkstätten, 12. 5 Münkler, Das kollektive Gedächtnis der DDR, 458.

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Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in der DDR

Veränderungen unseren Besuchern richtig aufzuzeigen, damit sie besser die Gesetzmäßigkeiten unserer heutigen Entwicklung erkennen.6

An die Stelle der Reformationszeit sollte nun mit „Wittenbergs Weg von einer Lokalgewerbestadt zu einer modernen Industriestadt“7 ein neuer Schwerpunkt der historischen Erinnerung treten. Der Versuch, die Namensgebung in Chemiestadt Wittenberg zu verändern, belegt diesen Wandel städtischer Geschichtsbilder, die weniger auf Tradition und Denkmalpflege, sondern vielmehr auf Wissenschaft und Fortschritt orientiert waren. In dieser fordistisch geprägten Fortschrittsperspektive war wenig Platz für Geschichte und Tradition nach bis dahin geltenden Maßstäben. Gerade Traditionslosigkeit wurde zur Voraussetzung des sozialistischen Modernisierungsprojekts. Der Leiter des Heimatmuseums schlussfolgerte daraus: Dass für uns dabei auch die Perspektive für die kommenden Jahre im Zuge der Verwirklichung des Chemieprogramms von größter Wichtigkeit ist […] ist zwar allgemein bekannt, doch muss dies auch als Aussage im Museum seine Widerspiegelung finden.8

Zum ersten Mal tauchte die Bezeichnung Chemiestadt nachweislich auf dem Programmheft des Pionierbezirksfestes 1959 auf und wurde in den 1960er und 1970er Jahren wiederholt in den öffentlichen Diskurs eingespeist.9 Der in Vorbereitung des Reformationsjubiläums 1967 modernisierte Hauptbahnhof sollte zum Beispiel mit seinen „farbenfreudig gestalteten Wänden Wärme und Geborgenheit ausstrahlen und davon künden, dass Wittenberg eine Chemiestadt ist.“10 Die Illustrierte NBI feierte 1974 die Errichtung neuer Industrieanlagen im Stickstoffwerk als „sozialistische Renaissance“ einer „Chemiearbeiterstadt“.11 Den letzten Versuch einer Umbenennung machte die Stadtverwaltung 1977 mit der entsprechenden Aufschrift auf den Bussen des öffentlichen Nahverkehrs. Nach heftigen Protesten aus der Bevölkerung mussten die auf die Chemiestadt hinweisenden Busbeschriftungen jedoch wieder entfernt werden.12 Die im Zeitraum von rund zwanzig Jahren immer wieder auflodernde Debatte um die Chemiestadt zeigt, dass die nach 1945 in Amt und Würden gekommenen neuen Deutungseliten zwar prinzipiell neue Selbstbilder entwerfen konnten, dies jedoch noch nichts über deren Wirkungsmächtigkeit aussagt. Das kollektive Gedächtnis hat sich in seiner longue dure vielfach als resistent gegenüber Infragestellungen erwiesen. In Wittenberg bestanden die Kühne, Das Heimatmuseum. Ebd. Ebd. Programm Pionierbezirksfest 8.–10. 07. 1959, Karton Schlosskirche I, in: Archiv Predigerseminar Lutherstadt Wittenberg. 10 Bericht über Bahnhofsumbau in: Freiheit vom 6. März 1967. 11 Behrendt, Reformation einer Stadt, 14. 12 Vgl. Rhein, Luther – Ein Genius Loci, 19. 6 7 8 9

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alten Selbstbilder im Hintergrund fort und konnten nicht so ohne weiteres überschrieben werden. Die Reformationszeit und ihre herausragenden Persönlichkeiten und Ereignisse spielten auch weiterhin eine zentrale Rolle in der städtischen Repräsentation und Identitätsstiftung, wie sich beispielsweise an der in den 1950er Jahren fortgesetzten Ausschilderung zahlreicher Häuser der Altstadt mit Hinweisen auf wichtige Bewohner meist aus dem 16. Jahrhundert zeigt.13 Auf eine bereits im 19. Jahrhundert begonnene und in den 1920er Jahren verstärkte Tradition zurückgreifend, wurde hierdurch die reformationshistorische ,Aufladung‘ der Stadt forciert und die Denkmallandschaft im Sinne eines Freilichtmuseums erweitert. Hierfür setzten sich vor allem die in Wittenberg verbliebenen ,bürgerlichen‘ Vertreter ein.14 Deutlich zeigte sich in Wittenberg, dass Kernbestandteile des ,bürgerlichen‘ Geschichtsbildes, die aus der Zeit vor 1933 stammten und die Jahre des Nationalsozialismus überdauert hatten, auch nach 1945 bestehen blieben. Traditionelle Werthaltungen und Kulturvorstellungen hatten weiterhin normativen Charakter und entfalteten eine enorme Prägekraft nach außen.15 Erklärt werden muss dies mit der physischen Präsenz der alten ,Lutherstadt‘, die im Krieg kaum Verluste erfahren hatte. Außerdem wirkten die institutionelle Kontinuität kirchlicher Einrichtungen und ihr Festhalten an alten Selbstbildern sowie das nicht nachlassende Interesse einer Weltöffentlichkeit, die Wittenberg nie als Chemie-, sondern ausschließlich als Lutherstadt wahrgenommen hat, im Sinne einer Deutungskontinuität städtischer Geschichtsbilder. Nicht zu unterschätzen ist ferner die graduell steigende Akzeptanz des Erbes der Reformation seitens der neuen Machteliten, die vom kulturellen Kapital der Lutherstadt profitieren wollten. Der Stoff, aus dem städtische Bilder gerannen, konnte somit auf einen immer wieder reproduzierten narrativen Raum zurückgreifen, in dem sich die Vorstellungen von dem, was Wittenberg ausmacht, manifestierten.

1.2 Wittenberg als gesamtdeutscher Erinnerungsort Das Wittenberger Universitätsjubiläum im Jahr 1952 bot dem neu gegründeten Arbeiter- und Bauernstaat eine erste Gelegenheit, sich in Wittenberg als Hüter deutscher Geschichte und Kultur zu präsentieren, denn Martin Luther 13 Im Jahr 1959 veranlasste die Stadtverwaltung sogar die Anfertigung und Anbringung einer repräsentativen steinernen Namenstafel am Gebäude der Universität (Leucorea). Siehe Schreiben Bürgermeisterin Teichmann an Institut für Denkmalpflege Halle vom 08. 11. 1959, in: Akte 445 Wittenberg-Altstadt, Archiv Amt für Denkmalpflege Halle. 14 Der Wittenberger Notar A. Hoffmann reklamierte für sich die Urheberschaft der Emailletafeln und wies auf sein vierzigjähriges Engagement in dieser Sache hin. Siehe Schreiben Hoffmann an Institut für Denkmalpflege Halle vom 22. 09. 1959, in: Akte 445 Wittenberg-Altstadt, Archiv Amt für Denkmalpflege Halle. 15 Vgl. Guckes, Städtische Selbstbilder, 150.

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blieb „für Halle-Wittenberg historisch anschlussfähig“.16 Die neuen Machteliten knüpften damit an eine alte, aber in der preußischen Epoche Wittenbergs fast zum Erliegen gekommene Tradition an. Als eine der ersten Hochschulen im Alten Reich hatte die Alma Mater Wittenbergensis den einhundertsten Jahrestag ihrer Gründung im Jahr 1602 begangen. Diese Feier diente auch als Wegbereiter für die ab 1617 stattfindenden Reformationsfeiern.17 Mit der Auflösung der Wittenberger Universität beziehungsweise ihres Zusammenschlusses mit der preußischen Friedrichs-Universität in Halle zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlosch die Tradition der Gründungsfeier jedoch, denn Wittenberg sank von einer sächsischen Universitätsstadt zu einer preußischen Provinzstadt im Regierungsbezirk Merseburg herab. Weder für das Jahr 1852 noch für 1902 lassen sich umfangreiche Jubiläumsaktivitäten in Halle oder Wittenberg belegen.18 Gefeiert wurden stattdessen die Jahrestage der Vereinigung 1867 und 1917. Für die Universität in der benachbarten Saalestadt spielte das Wittenberger Erbe lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle,19 während die Stadt an der Elbe die Schließung der Universität als Verlustgeschichte begriff und in der kollektiven Erinnerung verschwieg. Die im 19. Jahrhundert entstandene Loyalität Wittenbergs zu Preußen verbot zudem eine intensive Würdigung der akademischen Tradition, denn letztendlich war die Schließung des Universitätsstandortes ein Ergebnis preußischer Politik. Erst mit dem Ende der Hohenzollernmonarchie 1918, vor allem aber mit dem Verschwinden Preußens von der deutschen Landkarte 1947 veränderte sich die Einstellung des Staates zur Wittenberger Universitätstradition, denn landesherrschaftliche Rücksicht musste nun nicht mehr genommen werden. Die zusammengefasste Darstellung der Geschichte der Wittenberger Universitätsjubiläen zeigt, dass nicht der Anlass an sich den Ausschlag zum Fest gibt, sondern der Wille, ein solches zu begehen. Der Regierung in Ostberlin war das Jubiläum 1952 so wichtig, dass sie der theologischen Fakultät der Universität in Halle die Planungshoheit entzog und in die eigenen Hände nahm.20 Vorsitzender des staatlichen Festkomitees wurde Paul Wandel, der erste Volksbildungsminister der DDR. Gleichzeitig entbanden staatliche Stellen die Kirchengemeinde von ihrer Mitwirkung am Festakt, sodass bei-

Bruch, Universität – ein deutscher Erinnerungsort, 98. Vgl. Ligniez, Legitimation durch Geschichte; Müller, Erinnern an die Gründung. Vgl. Pasternak, 177 Jahre, 32 – 34. Erst in einer Situation existentieller Bedrohung, welche die Universität Halle in den 1920er Jahren durchlebte, entdeckten die Hallenser Professoren das Wittenberger Erbe erneut und beriefen sich darauf. Mit dem Verweis auf die Bedeutung als Bewahrer der Lehrstühle Luthers und Melanchthons sollte der Universitätsstandort an der Saale gerettet werden. Vgl. Reichelt, Martin Luther als evangelischer Schutzheiliger. 20 Vgl. Schreiben an Meichßner vom 2. März 1952 und Abschrift Schreiben Superintendent Meichßner an Otto Dibelius vom 2. Oktober 1952, in: Akte A II 74, Archiv Stadtkirche Wittenberg.

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spielsweise auf die Wittenberger Kantorei verzichtet wurde.21 Die Feier 1952 hatte einen dezidiert gesamtdeutschen Charakter und zahlreiche Würdenträger westdeutscher Universitäten, unter anderem Heidelberg, Tübingen, Marburg, Göttingen, Bonn, Münster, Kiel und Mainz, waren eingeladen, dem Festakt in Wittenberg beizuwohnen.22 In der Stadt Luthers traf sich die gesamtdeutsche Bildungselite und unterstrich das Bekenntnis Ostberlins zur gesamtdeutschen Kulturnation. Für die museale Grundierung sorgte eine Sonderausstellung im Refektorium der Lutherhalle.23 Die Vorstellung, ein Erinnerungsort der gesamten deutschen Nation zu sein, kam aber nicht nur im Universitätsjubiläum 1952, sondern auch in der Präsenz der Lutherhalle jenseits der Wittenberger Stadtgrenzen zum Ausdruck. Im Verhältnis zu anderen Wittenberger Institutionen bewahrte sich das Museum unter Leitung des über internationale Kontakte verfügenden Direktors Oskar Thulin seine gesamtdeutsche Funktion als Forschungs- und Besuchsort und konnte sich beispielsweise anlässlich des Evangelischen Kirchentages in Berlin 1951 mit der Sonderausstellung Luthers Reformation im Aufbruch der Neuzeit einer breiten Öffentlichkeit präsentieren. Die Ausstellung wurde zu einem Publikumsmagneten. Sie wurde ein Jahr später anlässlich der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Hannover erneut gezeigt und zog dann weiter nach Frankfurt am Main, Hamburg und Nürnberg.24 Oskar Thulin setzte hier eine bereits in den Vorkriegsjahren begonnene museale Expansionsstrategie fort. In einem 1953 erschienenen Presseportrait der Ost-CDU-Zeitung Neue Zeit wird seine Tätigkeit im Vorstand der Luthergesellschaft ebenso herausgehoben wie der Vorschlag, Wittenberg zum nächsten Tagungsort der in Hamburg ansässigen Gesellschaft zu machen, „um auch hier Brücken zu bauen zu den Glaubensbrüdern im Westen.“25 Wenige Jahre später hatte sich die Situation geändert, denn die DDR band Geschichts- und Vergangenheitspolitik an ausgesprochen aktuelle Bedürfnisse und ging mit der doppelten Blockbindung 1955 zu einer Abgrenzungspolitik über. Unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen konnte Wittenberg kein gesamtdeutscher Erinnerungsort mehr sein, denn die hier gepflegte Reformationserinnerung sollte nun nicht mehr alle Deutschen miteinander verbinden. Vor allem die grenzüberschreitenden institutionellen Verbindungen der Kirchen wurden durch staatliche Maßnahmen behindert. Für die evangelischen Kirchen waren „Zonengrenzen zunächst keine Kirchengrenzen“ und sie sahen ihre Aufgabe darin, eine „geistig-kulturelle 21 Vgl. Schreiben Dekan Theologie Halle an Superintendent Meichßner vom 30. September 1952, in: Akte A II 74, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 22 Vgl. Berichterstattung in Freiheit vom 20. 10. 1952; Schriftverkehr Universitätsjubiläum in: Akte A II 209, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 23 Vgl. Dokumentation Sonderausstellung Universitätsjubiläum in Akte 16, Archiv StLu. 24 Vgl. Thulin, Die Wittenberger Lutherhalle. Ein Wandel; Siehe auch Schriftverkehr zur Wanderausstellung in: Akte 16, Archiv StLu. 25 Sein Steckenpferd ist die Kunstgeschichte, Neue Zeit vom 8. September 1953.

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Abb. 42 Programmheft des Universitätsjubiläums 1952

Klammer der wirtschaftlich und politisch getrennten Deutschen“26 zu übernehmen. In den ersten Jahren der deutschen Zweistaatlichkeit hatte beispielsweise das Predigerseminar Wittenberg als eine gesamtkirchliche Ein26 Lepp, Tabu der Einheit, 215.

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richtung der Evangelischen Kirche der Union auch Vikare aus der Bundesrepublik aufgenommen. Noch im Sommerkurs des Jahres 1954 befanden sich zwei Vikare aus Westfalen im Seminar. Im Jahr darauf lehnten die DDR-Behörden jedoch den Antrag auf Aufnahme eines jungen Theologen aus der westfälischen Landeskirche mit der Begründung ab, dies könne erst nach einer Wiedervereinigung genehmigt werden.27 Nicht nur die evangelische Kirche, sondern auch andere mit Wittenberg verbundene Institutionen bekamen die neue Abgrenzungspolitik Ostberlins zu spüren. Der Wunsch der Luthergesellschaft, anlässlich der 1957 in (West-) Berlin stattfindenden Jahrestagung einen Tagesausflug zum Ort ihrer Gründung zu unternehmen, scheiterte beispielsweise an ,Einreiseschwierigkeiten‘.28 Die DDR-Behörden beschlagnahmten außerdem Broschüren der Gesellschaft und unterbanden endgültig deren gesamtdeutsche Ambitionen.29 Das im gleichen Jahr geplante Konzert der Kantorei Eutin in der Wittenberger Stadtkirche musste abgesagt werden, weil den Musikern aus Schleswig-Holstein die Einreise verweigert worden war.30 Dementsprechend stark ging die Zahl westdeutscher Besucher in der Wiege der Reformation bereits vor dem Mauerbau 1961 zurück. Auch nach dem Mauerbau waren die DDR-Behörden auf strikte Abgrenzung gegenüber Einrichtungen der Bundesrepublik bedacht und wollten keinesfalls an die gesamtnationalen Traditionen Wittenbergs anknüpfen. Zu diesem Zweck griffen die Behörden auch in die Materialität der Wittenberger Denkmallandschaft ein. Um 1960 verlor beispielsweise die Schlosskirche einen wichtigen Bestandteil ihres Charakters als protestantisch-deutsches Nationaldenkmal, indem die in den Kirchenfenstern enthaltenen Städtewappen neu geordnet wurden.31 Ein Teil der Wappen war bereits 1935 bei der Detonation in einem nahe Wittenberg gelegenen Sprengstoffwerk zu Bruch gegangen. Die in den frühen 1960er Jahren erfolgte Neuordnung zielte darauf ab, die ursprünglich geltende landsmannschaftliche Systematik zu zerstören, um die lokalgeschichtliche Identifikation der aus allen Teilen Deutschlands kommenden Besucher zu erschweren.32 Institutionell lässt sich das Streben nach Eigenstaatlichkeit ebenfalls nachvollziehen. So scheiterten Versuche der Stadt Kronach, anlässlich des Cranach-Jubiläums 1972 auf das die beiden Städte Verbindende aufmerksam zu machen, am energischen Widerstand der DDR-Verantwortlichen. Die Mitglieder des sich 1953 konstituierten Deutschen Cranach-Komitees der DDR Vgl. Schriftverkehr Februar und März 1955, in: Akte 504, Archiv Predigerseminar Wittenberg. Vgl. Schriftverkehr Wittenbergfahrt der Luthergesellschaft, in Akte 18, Archiv St Lu. Vgl. Schriftverkehr Luthergesellschaft in Akte 17, Archiv StLu. Vgl. Aktennotiz August 1957, in: Akte A II 74, Archiv Stadtkirche Wittenberg. Vgl. Schriftverkehr des Instituts für Denkmalpflege des Bezirks Halle 1958 – 61, in: Akte Wittenberg Schlosskirche, Archiv Landesamt Halle. 32 Vgl. Kapitel 4.1. ,Konzeption als Protestantisches Pantheon‘ im Kaiserreich-Abschnitt vorliegender Arbeit.

27 28 29 30 31

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hatten die in Wittenberg und Weimar erfolgte Würdigung des Renaissancemalers noch „im Zeichen [ihres – Anm. d. Verf.] Kampfes um Einheit, Freiheit und Demokratie“ begangen und den „von Patriotismus erfüllten […] Gestalter des deutschen Menschen und der deutschen Landschaft“ gefeiert.33 Im Vorfeld des Cranach-Jubiläums 1972 beschied der Direktor der Lutherhalle Michael Krille hingegen dem Kronacher Stadtarchivar schriftlich, „dass bei der notwendigen Abgrenzung der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik von der imperialistischen Bundesrepublik Deutschland eine gegenseitige Information oder gar eine Zusammenarbeit zwischen Wittenberg und Kronach völlig ausgeschlossen“34 sei und die Lutherhalle selbst die Beantwortung wissenschaftlicher Anfragen des Stadtarchivs Kronach verweigere, denn „die Erbe-Rezeption des sozialistischen Staates bietet keinen Anknüpfungspunkt und hat inhaltlich keinen Zusammenhang mit den CranachFeierlichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland.“35 Cranach sollte vielmehr in der „sozialistischen Gesellschaft eine Heimstatt“ bereitet werden, wie es im Vorwort des Bürgermeisters für eine Publikation über den Maler heißt.36

1.3 Das evangelische Wittenberg Eng verbunden mit der Frage, ob Wittenberg nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein gesamtdeutscher Erinnerungsort bleiben würde, war die Frage nach der Bedeutung als Ort evangelischen Lebens. Auch unter den Bedingungen des DDR-Sozialismus blieb Wittenberg eine christlich geprägte Stadt. Bedeutende Institutionen der evangelischen Kirche, zu denen das Predigerseminar, die Propstei und das Kirchliche Forschungsheim zählten, waren hier angesiedelt. Mehrere in den ersten Nachkriegsjahren gegründete kirchliche Bildungseinrichtungen bezogen sich auf den reformatorischen genius loci. „Wittenberg und die Reformation haben Wesentliches zu unserer Art beigetragen“,37 schrieb der Rektor der von 1948 bis 1960 in Wittenberg ansässigen Evangelischen Predigerschule der Kirchenprovinz Sachsen, die 1949 – 1950 durch ein Katechetisches Oberseminar ergänzt wurde. Hinzu kam die in der Lutherstadt gegründete Evangelische Akademie, die allerdings 1952 nach Magdeburg verlegt wurde und erst 1997 wieder nach Wittenberg zurückkehrte.38 Mittels gemeinnütziger Einrichtungen wie dem Paul-Gerhardt-Stift, einem Krankenhaus der Diakonie, mehreren Kindergärten oder der Friedhofsverwaltung blieb die Kirche im Stadtalltag präsent. Für den SED-Staat 33 Erklärung des Deutschen Lucas-Cranach-Komitees, in: Deutsche Cranach-Ehrung 1953, 10. 34 Mitteilung Krille an Rat der Stadt Wittenberg über Schreiben an Stadtarchiv Kronach vom 30. 07. 1971, in: Akte 47, Archiv StLu. 35 Schreiben Krille an Stadtarchiv Kronach, 10. 02. 1972, in: Akte 47, Archiv St Lu. 36 Vorwort Bürgermeister Merker, in: Kühne, Lucas Cranach der Ältere. 37 Wolfgang Staemmler, zitiert in Kittel, Die Evangelische Predigerschule, 13. 38 Vgl. Pasternack, 177 Jahre, 134.

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bildete das ,Evangelische Wittenberg‘ eine doppelte Herausforderung: Zum einen stellte das Festhalten an gesamtdeutschen Vorstellungen die staatliche Existenz der DDR in Frage, zum anderen untergrub der gelebte christliche Glauben das von der SED vertretene weltanschauliche Deutungsmonopol. Die über Jahrhunderte gepflegte enge Kooperation staatlicher und kirchlicher Stellen bei der Pflege und Bewahrung Wittenbergs als Wiege der Reformation war erstmals in der Geschichte der Stadt einer offenen Konfrontation gewichen. Die staatlichen Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung der Hauptsehenswürdigkeiten Wittenbergs blieben durch kirchliche Eigentums- und Nutzungsrechte begrenzt, weil Stadt- und Schlosskirche als zentrale Kernbestandteile der Denkmallandschaft außerhalb staatlicher Zugriffsmöglichkeiten lagen. Allerdings verfügte die Kommune als Eigentümerin des Schlosskomplexes über Mitspracherechte, denn das Evangelische Predigerseminar war seit 1817 lediglich Exklusivnutzer des Gebäudes. Die Gründung einer eigenständigen Schlosskirchengemeinde 1948 erfolgte auch zur Abwehr von staatlichen Zugriffen.39 Ähnlich kompliziert erschienen die Rechtssituation im Fall der Stadtkirche, deren Turmhauben sich seit dem 16. Jahrhundert in städtischem Besitz befinden, sowie die Verfügungsgewalt über die Lutherhalle. Überlegungen, das Lutherhaus als Museum der Frühbürgerlichen Revolution zu etablieren, scheiterten am energischen Widerstand der Kirche, die ihre Einfluss- und Mitspracherechte auf das Museum bei jeder sich bietenden Gelegenheit unterstrich sowie an der personalen Kontinuität, die Oskar Thulin als Direktor des Hauses 1930 – 1969 repräsentierte.40 Thulin verstand, wie bereits in den Vorkriegsjahren, das Werben um evangelische Besucher als einen wichtigen Teil seiner Arbeit. Der Lutherhallendirektor wandte sich beispielsweise 1952 in einem Werbeblatt „an das evangelische Pfarramt“ und warb für eine Wittenbergfahrt: „Und über alle Vertiefung des so nötigen Wissens vom Anliegen der Reformation hinaus wird auch etwas von ,Gemeinde‘ mitwachsen im gemeinsamen Verweilen, im Anschauen und im Gottesdienst an den ehrwürdigen Stätten.“41 Er erkannte, dass nicht nur die mittels Besichtigung gewonnene Erkenntnis, sondern vor allem das an den Raum gebundene Erlebnis die gewünschte Erinnerung erzeugt. Programmatisch formulierte er in einer 1956 erschienenen touristischen Broschüre: „Die Lutherhalle mit ihren Tausenden von Bildnissen, Handschriften und Drucken der Reformationszeit vertieft noch das Erlebnis, das die historische Stätte in ihrer Unmittelbarkeit schon für jeden Besucher be39 Zur Herauslösung der Schlosskirchengemeinde aus der bis 1948 geltenden Zuständigkeit der Stadtkirchengemeinde vgl. Akte A II 7, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 40 Vgl. Schriftverkehr und Dokumentation Leitertätigkeit Lutherhalle 1945 – 60, in: Akte 23, Archiv StLu. 41 „Besucht die Wittenberger Lutherhalle“, Werbeblatt an das evangelische Pfarramt 1952, in: Archiv StLu.

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deutet.“42 Im Vorfeld des Reformationsjubiläums 1967 versicherte er der Herrnhuter Brüdergemeine: „[…] habe ich u. a. auch Luthers Großen Hörsaal im Rahmen der Neugestaltung so hergerichtet, dass das gesamte Lutherleben anschaulich sichtbar gemacht wird.“43 Staatliche Stellen setzten dem Ausbau Wittenbergs zu einer evangelischen Pilgerdestination jedoch enge Grenzen. So beschwerte der Lutherhallendirektor sich 1956 darüber, dass fünf Sonderzüge mit evangelischen Besuchergruppen nicht genehmigt worden seien.44 Mitunter wurden die Wittenberg-interessierten Gruppen auch gegen ihren Willen nach Wörlitz gebracht und erst zum Schluss ihrer Tagesfahrt für eine Stunde zu den Lutherstätten gefahren, wie das Beispiel einer Freiberger Kirchengemeinde aus dem Jahr 1963 belegt.45 Nicht nur durch das Fernhalten von Kirchengruppen, sondern auch mittels Eingriffe in die touristische Infrastruktur versuchte die Kommunalverwaltung, den weiteren Ausbau Wittenbergs zu einer evangelischen Destination zu verhinderten. So wurde beispielsweise das Melanchthonhaus 1954 als eigenständiges Heimatmuseum in Regie der Stadt etabliert und so weitgehend dem Einfluss Thulins und der Lutherhalle entzogen. Im gleichen Jahr scheiterte der Plan der Adolph-Stoecker-Stiftung aus Berlin Weißensee, das zwischen dem Augusteum und dem Hauptpostgebäude gelegene Hotel Klosterhof zu kaufen und zu erweitern, um es als ökumenisches Begegnungszentrum für Christen aus Ost und West einzurichten. Hierdurch sollten die in Wittenberg bestehenden kirchlichen Einrichtungen gestärkt werden, weshalb der Direktor des Predigerseminars Wolfgang Staemmler um die Unterstützung seitens der Kommunalpolitik gebeten hatte.46 Ähnliche Überlegungen führten einige Jahre später zu einem ambitionierten Neubauprojekt auf dem Grundstück des Hotels, das Räumlichkeiten für mehrere kirchliche Institutionen sowie Unterbringungsmöglichkeiten für kirchliche Gäste vorsah. Der kreuzartige Grundriss des Hauptgebäudes und ein Dachreiter als Glockenturm hätten die physische Präsenz des evangelischen Wittenberg unterstrichen. Die staatlichen Stellen waren jedoch mit der räumlichen Dominanz kirchlicher Einrichtungen nicht einverstanden und verhinderten beide Projekte. Selbst auswärtigen Besuchern blieb die widerständige Haltung der Kommunalverwaltung nicht verborgen: Es war mein Vorrecht während dieses Besuches in Wittenberg, die städtischen Behörden darauf aufmerksam zu machen, dass die Lutheraner in allen Kontinenten der Welt sich persönlich mit dieser Stadt verbunden fühlen und dass mehr als siebzig 42 Thulin, Lutherstätten in Wittenberg, 16. 43 Schreiben an Herrnhuter Brüdergemeinde vom 7. 11. 1966, in Akte 22, Archiv StLu. 44 Brief Thulin an Rat der Stadt, 02. Januar 1956, in: Akte 45, Archiv StLu. Siehe auch Liste gestrichener Autobusfahrten, Akte 46, Archiv StLu. 45 Schriftverkehr Besuch Lutherhalle in: Akte 46, Archiv StLu. 46 Vgl. Schreiben Predigerseminar an Oberbürgermeisterin Teichert vom 8. September 1954, in: Akte 509, Archiv Predigerseminar Wittenberg.

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Wandlungen städtischer Geschichtsbilder in den 1950er und 1960er Jahren 275 Millionen Menschen in der Welt […] die Ereignisse sehr genau verfolgen, die sich an diesen Ursprungsstätten ihres Glaubens abspielen. Es war mein deutlicher Eindruck, dass weder der weltweite Charakter der Lutherischen Kirche noch die Intensität des historischen Interesses ihrer Glieder von diesen lokalen Behörden recht erfasst worden war.47 (Richard Solberg, 1957)

Solbergs Aussage bestätigt einmal mehr, dass „jede Gruppe, die sich als solche konsolidieren will, bestrebt [ist – Anm. d. Verf.], sich Orte zu schaffen und zu sichern, die nicht nur Schauplätze ihrer Interaktionsformen abgeben, sondern Symbole ihrer Identität und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung.“48 Eng verbunden mit dem Ausbau Wittenbergs zu einer evangelischen ,Pilgerdestination‘ waren Fragen der Deutungshoheit sowie der Vermittlung von Wittenberg-bezogenen Wissensbeständen. Mit der Zunahme des Reiseverkehrs nach Wittenberg sind ab den späten 1950er Jahren die ersten sogenannten Stadtbilderklärer ausgebildet und durch das Staatliche Reisebüro am Markt Stadtführungen vermittelt worden. Deren Leistungen entsprachen allerdings auch nicht immer den ideologischen Vorgaben eines Fremdenverkehrs unter DDR-Bedingungen. Eine interne Einschätzung des Feriendienstes des FDGB formulierte hierzu folgendermaßen: Wenn auch die Heimattümelei bei Vorträgen fast überwunden ist, entspricht die Arbeit der Reiseleiter des Deutschen Reisebüros […] inhaltlich noch nicht den Anforderungen. Es gibt immer wieder Beschwerden, dass politisch ungeeignete Kader versuchen, das Neue in der Entwicklung zu verschweigen und rückständige Auffassungen verbreiten.49

Die Stadtverwaltung beklagt außerdem, dass „durch schlechte organisatorische Lenkung der Stadtführer des Reisebüros […] das Wohn- und Sterbehaus des großen Humanisten [Melanchthon – Anm. d. Verf.] oftmals im Schatten des Lutherhauses und der Schlosskirche“50 bleibe. Die Auswahl der Stadtführer sowie die in den geführten Rundgängen zu vermittelnden Inhalte boten immer wieder Anlass für Konflikte. So blieb in Wittenberg lange umstritten, ob die städtischen Führer des Reisebüros auch in den Kirchen führen durften. Bereits 1967 erwog das Predigerseminar beispielsweise in Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum die Ausbildung 47 Pressebeitrag des amerikanischen Theologen Richard Solberg, der 1949/50 als Beauftragter für Religionsangelegenheiten des amerikanischen Hochkommissars in Berlin tätig gewesen war. Dieser hatte gemeinsam mit einem lutherischen Kirchenmann aus Indien Wittenberg besucht und veröffentlichte anschließend einen Bericht in: Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 22 (1957). 48 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 39. 49 Bundesvorstand des FDGB, Präsidium, Bericht über den bisherigen Verlauf der Reisezeit 1959, 7. 9. 1959, DY 34, Archivnummer 26086, Bundesarchiv Berlin, Anlage 1, 7. 50 Stand der Museumsarbeit am Schluss des Jahres 1964, in: Akte 28, Archiv StLu.

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Abb. 43 Modellzeichnung für Wittenberger ,Haus der Kirche‘

von Kirchenführern für die Schlosskirche, um den Küster zu entlasten.51 Im gleichen Jahr offerierten Mitglieder der Stadtkirchengemeinde geführte Rundgänge durch Wittenberg für kirchliche Gäste der Jubiläumsfeiern.52 Verbunden mit der ,Stadtbilderklärung‘ war das Deutungsmonopol zur Reformationsgeschichte. So heißt es in einer 1972 ergangenen Anweisung des Leiters der Lutherhalle, Führungen im Museum werden ausschließlich von 51 Aktennotiz über Besuch Stadtsekretär Lippert im Predigerseminar am 23. 05. 1967, in Archiv Predigerseminar Lutherstadt Wittenberg. 52 Vgl. Schriftverkehr Reformationsjubiläum 1967 in: Akte B 37b, Archiv Stadtkirchengemeinde.

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dafür zugelassenen Personen gemäß „der wissenschaftlichen Orientierung der Erbe-Rezeption der DDR“53 durchgeführt. Allenfalls gegenüber hochrangigen Besuchern aus dem westlichen Ausland war man zu einem pragmatischen Kurs bereit. Der nachträglich protokollierte Besuch des Präsidenten der Lutheran Church of America 1973 vermerkt beispielsweise, die Verantwortlichen Starke und Krille hätten „den marxistischen Kurs des Hauses im Interesse jeglicher Konfliktvermeidung nicht ausgesprochen, aber den Charakter des Hauses als staatliche Bildungseinrichtung deutlich hervorgehoben.“54 Nicht nur geführte Rundgänge durch die Wittenberger Denkmallandschaft, sondern auch touristische Publikationen durften nicht zu ,kirchenlastig‘ geraten, andernfalls wurden die Manuskripte zurückgewiesen. Diese Erfahrung musste Oskar Thulin mit seiner geplanten Veröffentlichung Die Lutherstadt Wittenberg und ihre reformatorischen Gedenkstätten machen, die ein konventionelles Städtebild, jedoch keine „religiöse Darstellung der Geschichte“55 sein durfte. Der vom Predigerseminar erteilte Auftrag zur Herstellung von Postkarten der Schlosskirche scheiterte hingegen an der fehlenden Druckerlaubnis und einem Papierkontingent, das für die Erfüllung kirchlicher Wünsche nicht ausreichte.56 Das evangelische Wittenberg als ein Grundpfeiler städtischer Identität, der die historische Darstellung und Deutung der Stadt bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts geprägt hatte, sollte keine dominierende Rolle mehr spielen. Ausgetragen wurden die Konflikte zwischen staatlichen und kirchlichen Stellen vor allem auf dem Feld der Eigentums- und Nutzungsrechte, die auch immer zu Machtdemonstrationen wurden. Im Jahr 1955 wollte das Wohnungsamt den Kreisstaatsanwalt ausgerechnet im Bugenhagenhaus einquartieren und damit zum Nachbarn des Superintendenten machen.57 Im gleichen Jahr warnte die Kirchenkanzlei davor, das vom Predigerseminar angestrebte, von der Kommune als Gebäudeeigentümer jedoch abgelehnte Fotografierverbot in der Schlosskirche zu einer Machtfrage zu machen.58 Die Seminaroberen hatten mit dem Verbot erreichen wollen, dass „wild fotografiert wird und Veröffentlichungen geschehen, die der Bedeutung des Bauwerks und der Gedenkstätte nicht angemessen sind.“59 Im Jahr 1959 wurde dem Kirchlichen 53 Vermerk vom 05. 05. 1972 von Michael Krille, in: Akte 47, Archiv StLu. 54 Vermerk vom 25. 07. 1973 von Michael Krille, in: Akte 34, Archiv StLu. 55 Aktennotiz der Besprechung beim Ministerium für Kultur, Abteilung Literatur und Buchwesen, am 10. 4. 1959, in: Akte 23, Archiv StLu. Das Buch ist 1960 bei der Evangelischen Verlagsanstalt erschienen: Thulin, Die Lutherstadt Wittenberg und ihre reformatorischen Gedenkstätten. 56 Vgl. Schriftverkehr zwischen Predigerseminar und Firma Foto-Schoch 1955, in: Akte 522, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 57 Vgl. Schreiben Gemeindekirchenrat an Wohnungsamt vom 7. 03. 1955, in: Akte A II 53, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 58 Vgl. Schreiben Oberkonsistorialrat Pettelkau an Predigerseminar vom 16. 12. 1955, in: Akte 522, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 59 Schreiben Predigerseminar an Foto-Schoch vom 13. 06. 1955, in: Akte 522, Archiv Predigerseminar Wittenberg.

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Forschungsheim seitens der Stadt der Mietvertrag für die im Schloss genutzten Räumlichkeiten gekündigt.60 Es gab auch Streit um die Frage, für welche Zwecke die Kirchtürme genutzt werden können. Die Wittenberger Stadtverwaltung sowie die Kreisleitung der SED versuchten mehrfach, diese für das Abwerfen von Flugblättern und für Fanfarenblasen oder das Aufhängen von Transparenten zu nutzen,61 wogegen kirchliche Instanzen protestierten: „Es geht nicht an, dass mit dem Turmblasen eine Ideologie vertreten wird, die der Inschrift des Turmes ,Ein feste Burg‘ widerspricht.“62 Der Gemeindekirchenrat der Stadtkirchengemeinde wies in einem Schreiben an die Stadtverwaltung auf diesbezügliche Parallelen zwischen Hitlerjugend und FDJ hin und bat, das Fanfarenblasen zu unterlassen.63 Die sozialistischen Stadtväter hingegen wünschten die Eroberung der symbolischen Raummacht, die nicht mehr nur kirchlich dominiert sein sollte.

2. Die Denkmallandschaft zwischen Wandel und Kontinuität 2.1 Industriestadt im Sozialismus Die Welt ist anders geworden. Zwar grüßt noch immer die alte Silhouette den Ankommenden, mit den beiden Stadtkirchentürmen, dem hohen Helm der Schlosskirche, doch nicht minder bestimmen im Westen die hohen Industrieschornsteine das Bild […],64

fasst der Direktor des Wittenberger Predigerseminars die Veränderung der Lutherstadt zusammen. Davon wurde auch die visuelle Repräsentation Wittenbergs beeinflusst. Während das elbseitige Stadtpanorama über Jahrhunderte hinweg von der Schlosskirche im Westen und dem Lutherhaus im Osten begrenzt worden war, erfuhr diese Stadtansicht auf den Publikationen der Kommunalverwaltung in den 1950er Jahren eine ,industrielle‘ Erweiterung, die den veränderten Realitäten Rechnung trug. Die Stadt hatte sich seit den Jahren des Ersten Weltkriegs zu einem bedeutenden Industriestandort gewandelt. Der beschleunigte Aufbau der Rüstungsindustrie, die Flüchtlingsströme nach 1945 sowie die Eingemeindung des Industrievorortes Piesteritz im Jahr 1950 veränderten das Bild und den Charakter der Lutherstadt inner60 Vgl. Gensichen, Von der Kirche zur Gesellschaft, 172. 61 Vgl. Schreiben vom 14. 10. 1963 von Leiterin Haus der Pioniere mit Information, hierzu von der Kreisleitung der SED beauftragt worden zu sein, in: Karton Schlosskirche II, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 62 Aktennotiz zu Telefonat zwischen Direktor Predigerseminar und Dr. Brendler vom Juni 1970, in: Akte Schlosskirchengemeinde, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 63 Vgl. Schreiben GKR an Rat der Stadt vom 5. Mai 1960, in: Akte A II 74, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 64 Wätzel, Neues will werden, 48.

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halb weniger Jahrzehnte nachhaltiger als die Entwicklung der davor liegenden Jahrhunderte. Insbesondere die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an die Macht gelangten neuen politischen Eliten hatten wenig Interesse an Kontinuitätslinien. Ziel des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft war nicht die Reparatur der abgerissenen historischen Kontinuität, nicht die Wiederherstellung, sondern die Überwindung von Geschichte. „Die ,neue‘ Geschichte der DDR suchte […] die überlieferte ,alte‘ Geschichte dieses Teils Deutschlands zu desinteressieren, zu verdrängen, zu vergessen, ja zu tilgen.“65 Dieses Ansinnen wird nicht zuletzt im Stadtbild sichtbar, wo Neues ohne die Bindung an das Vergangene entstehen sollte. Nicht der Fortbestand der Bürgerstadt in der Geschichte, sondern der Aufbau der ,sozialistischen Stadt‘ stand im Zentrum des Bemühens.

Abb. 44 Silhouette der Wittenberger Altstadt

Abb. 45 Stadtansicht mit ,industrieller Erweiterung‘

Stadtleitbilder in der frühen DDR hatten sich vom vormaligen Ideal der ,schönen alten Stadt‘ entfernt und propagierten eine ,nachgeholte Moderne‘.66 Sie standen im Kontext des Glaubens an die Gestaltbarkeit des Menschen und die Planbarkeit der Gesellschaft. Eingriffe in die Raumstruktur und Architektur boten in vielen Orten den hierfür notwendigen Gestaltungsspielraum, um den radikalen Bruch mit der bürgerlichen Stadt durchzusetzen. Diesem Ziel diente auch die neue Sinnzuschreibung des Zentrums, dessen vormals prägende Handels- und sonstigen Einrichtungen des Kapitals durch neue, für

65 Lipp, Denkmalpflege und Geschichte, 157 f. 66 Vgl. Brandt, Geschichte der Denkmalpflege, 275.

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die sozialistische Gesellschaft wichtige Bauten ersetzt werden sollten.67 In der Architektur- und Stadtplanungsgeschichte sind die ,Modellstädte des Sozialismus‘ hinlänglich untersucht worden. Nimmt man aber „das sozialistische System als eine mit dirigistischen Mitteln ins Werk gesetzte ,Vorwegnahme‘ eines Zukunftsentwurfs politischer und gesellschaftlicher Wertorientierungen in den Blick“, so erscheint die Frage nach den alten, weitgehend intakt gebliebenen Stadtzentren weitaus aufschlussreicher für die städtebauliche Umsetzung des Sozialismus, denn hier prallten ,neue Gesellschaft‘ und ,alte Strukturen‘ unmittelbar aufeinander.68 Auf die sich daraus ergebenden Konflikte, insbesondere auf das ,konservativ‘ geprägte Verhältnis der Bewohner einer Stadt zur Materialität derselben, hat Detlef Ipsen hingewiesen: Im Allgemeinen sollte man davon ausgehen, dass räumliche (und auch zeitliche) Orientierungsmuster langlebig, geradezu persistent sind und die Beziehung der Menschen zu ihnen konservativ. Jede Änderung in den grundlegenden Mustern der Architektur, des Städte- und Gartenbaus, jede Änderung der regionalen Muster der Landnutzung sind daher untrügliche Hinweise auf qualitative Sprünge und Risse in der gesellschaftlichen Organisation.69

Wittenberg präsentierte sich nach 1945 als weitgehend intaktes Stadtzentrum, welches für eine bauliche Neugestaltung im Sinne einer sozialistischen Stadt wenig Raum bot. Die im Zuge der preußischen Lutherverehrung des 19. Jahrhunderts errichteten oder umgestalteten Bauwerke beherrschten das Stadtbild und machten eine Dominanz sozialistischer Repräsentationsorte unmöglich.70 Auf die bauliche Unterstreichung einer sozialistischen Stadtentwicklung wollten die nach 1945 in Amt und Würden gelangten Stadtväter in Wittenberg dennoch nicht verzichten, denn den Bewohnern stehen „mit den Bauten und dem Stadtbild die städtischen Machtstrukturen in ihrer dinglichen Gestalt symbolhaft vor Augen. Diese können ein jeweils spezifisches Verhalten einfordern“ und es „entstehen spezifische Handlungsmuster, soziale Beziehungen und Atmosphären, die im Normalfall die Machtverhältnisse stützen.“71 Die neue Stadt sollte deshalb nicht an die geschichtlich und funktional überholte Struktur der historisch überlieferten Lutherstadt anknüpfen. Insbesondere die preußische Denkmalpolitik war den neuen Machthabern ein Dorn im Auge: „Aus einer bewusst von oben gesteuerten Tendenz heraus wurden oftmals unter dem Deckmantel von Preußens Gloria wirkliche historische Werte unserer großen Vergangenheit dem Volke verzerrt dargeboten“,72 lautete ihr Urteil. Ein Zeitungsbericht forderte dazu auf, in Wittenberg „mit den geistigen Trümmern“ aufzuräumen, indem die „Kult67 68 69 70 71 72

Vgl. Betker, Der öffentliche Raum in der ,sozialistischen Stadt‘, 156. Marek, Sozialismus in der alten Stadt, 36; Vgl. auch Adam, Nationale Totenbeschwörung. Ipsen, Raumzeichen – Raumsymbole, 59. Zu sozialistischen Repräsentationsorten vgl. Saldern, Inszenierte Einigkeit, 14 f. Rodenstein, Die Eigenart der Städte, 272 f. Ein Wort zur Denkmalpflege, Wittenberger Rundblick Nr. 9/1963.

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stätten der Hohenzollern, die ihren Ruhm mit dem Verdienst der Reformation verbrämen wollten“,73 durch Eingriffe in die Denkmallandschaft in ihrer Wirkung reduziert werden sollten. Schauplatz des sozialistischen Gestaltungswillens wurde in den 1950er Jahren das Schlossplatz-Ensemble. Hier entschieden sich die Stadtväter für die Errichtung eines Chemiepavillons nach Entwürfen von Erwin Zink, der optisch mit dem gewachsenen Architekturensemble bricht und absichtlich als Fremdkörper in die historische Altstadt gesetzt wurde. In einer architekturgeschichtlichen Einordnung heißt es, der Pavillon „bezeugt das stadtbaugeschichtliche Verständnis seiner Entstehungszeit, das sich bewusst der historischen Kontinuität widersetzt.“74 Der im Jahr 1959 nach Abriss der Knopfschen Mühle, einem Gründerzeitgebäude, entstandene neue Leitbau sollte die industrielle Entwicklung der Stadt sowie die Arbeiterbewegung als neue gesellschaftliche Gestaltungskraft verkörpern. Die Wahl des Standortes fand vor allem im Hinblick auf Wittenbergs überregionale Bedeutung als Fremdenverkehrsdestination statt. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein hatte fast jeder Rundgang am Elstertor im Osten der Stadt begonnen und an der Schlosskirche geendet. Die Lage des Bahnhofes bedingte die Ost-West-Ausrichtung des Stadtrundgangs. Erst die zunehmende Automobilisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sorgte für eine Umkehr des Besucherstroms, der jetzt vor allem auf der Westseite der Stadt, an der Schlosskirche, eintraf. Besucher, die in die Lutherstadt strömten und als einen ersten Höhepunkt ihres Rundgangs die Thesentür erblickten, sollten auch mit der Industriegeschichte der Stadt, der Entwicklung der Arbeiterbewegung sowie den Errungenschaften sozialistischer Wirtschaftsplanung konfrontiert werden. Der Wittenberger Chemiepavillon wurde ein Jahr nach der Chemiekonferenz der SED in Leuna und sowie dem V. Parteitag der SED errichtet, auf dem neue Richtlinien für die chemische Industrie der DDR diskutiert worden waren. Mittels einer Architektursprache, die Anschluss an die westliche Moderne suchte, sollte für die Produkte des exportorientierten Wittenberger Stickstoffwerkes geworben werden. Das Gebäude weist große Ähnlichkeit mit zeitgenössischen Ausstellungsbauten der Leipziger Messe auf und stellte die staatlich gelenkte Wirtschaft der DDR als innovativ, leistungsfähig und wettbewerbsorientiert dar. Die sich auf den stadteinwärts liegenden, hoch aufragenden Brandgiebeln hinter dem Pavillon befindende stilisierte Darstellung von Industrieanlagen sowie die Beschriftung „10.000 Chemiearbeiter

73 Die Wittenbergische Nachtigall, Liberal-Demokratische Zeitung, Nr. 299, Weihnachtsausgabe 1957; In anderen Städten agierten die neuen Machteliten in ihrem Umgang mit der preußischdeutschen Vergangenheit weitaus radikaler. Erinnert sei nur an die Sprengung des Hohenzollernschlosses in Berlin (1950), des Potsdamer Stadtschlosses (1960) oder der Potsdamer Garnisonskirche (1968). 74 Titze, Moderne Architektur unter Denkmalschutz, 132.

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des Kreises Wittenberg kämpfen für die Erfüllung des Chemieprogramms“ korrespondierten mit dem Zweck des Baus.75

2.2 Das Lutherhaus als Hort der Traditionspflege Während den neuen Machteliten am westlichen Stadteingang, am Schlossplatzensemble, eine sozialistische ,Überschreibung‘ des städtischen Raumes gelang, sahen sie sich am östlichen Stadtentree mit der Lutherhalle als einer ,uneinnehmbaren Festung bürgerlicher Geschichtspflege‘ konfrontiert. Thulin schrieb 1956 von einer „in sich abgeschlossenen Welt um den alten Lutherhof“,76 derer die staatlichen Verantwortungsträger kaum habhaft werden konnten. Diese Reformationsgedenkstätte Wittenbergs bedeutete für die DDR-Machthaber ein schwieriges Erbe, denn sie war tief im bürgerlichen Denkmalverständnis des 19. Jahrhunderts verwurzelt. Mit Oskar Thulin stand zudem ein international anerkannter Lutherfachmann an der Spitze der Museums, der sich entschieden gegen eine marxistische Umdeutung der Reformationsgeschichte wehrte. Thulins Position war stark, weil er von den Kirchen massiv unterstützt wurde und weil er hervorragende Verbindungen ins Ausland pflegte.77 Eine weitere Hürde für Eingriffe in das Museum bildete die Rechtssituation des Lutherhauses. Ursprünglich aus dem Eigentum der Universität hervorgegangen, wurde es vom Evangelischen Predigerseminar sowie dem 1952 aufgelösten Wittenberger Universitätsfonds verwaltet.78 Die Kirche hatte sich 1930 bei Einrichtung eines Direktorenpostens auch bereit erklärt, ein Drittel des Gehaltes zu übernehmen. Nach 1945 erklärte die Kommune das Museum zum städtischen Besitz und wies sämtliche Mitspracherechte kirchlicher Stellen zurück. Die von ihr abgelehnten, aber dennoch weiterhin fließenden Gehaltszahlungen der Kirche wurden auf ein Sperrkonto eingezahlt.79 Erschwerend kam hinzu, dass wichtige Exponate wie beispielsweise die Lutherkanzel sich im Besitz der Stadtkirchengemeinde befanden oder Eigentum des Predigerseminars waren. Als Druckmittel forderte beispielsweise Superintendent Meichßner im November 1952 die Herausgabe dieser Exponate.80 75 Vgl. Postkarte von 1961; Eine Fotografie von 1968 dokumentiert eine Veränderung der Beschriftung: „Unsere Produkte: ein Begriff in 43 Ländern der Erde“ und „Piesteritzer Erzeugnisse von Ruf und Qualität“ empfingen nun die Besucher der Lutherstadt. Vgl. Titze, Moderne Architektur, 133. 76 Thulin, Das Lutherhaus mit Lutherstube, 44. 77 Vgl. Winter, Die evangelische Kirche der Union, 328 ff. 78 Der Wittenberger Universitätsfonds war nach der Auflösung des Hochschulstandorts Wittenberg zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründet worden. Er verwaltete Ländereien, Immobilien sowie Stiftungen und Stipendien, die an die alte Universität gebunden waren. 79 Vgl. Schreiben Kirchenkanzlei EKU vom 11. Januar 1958, in: Akte 48, Archiv StLu. Siehe auch Etat-Aufstellung Lutherhalle 1951 – 1965 in Akte 27, Archiv StLu. 80 Vgl. Schreiben Meichßner an Lutherhalle vom 12. 11. 1952, in: Akte 47, Archiv StLu.

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Abb. 46 Blick vom Schlossturm: im Vordergrund die abgerissene Knopfsche Mühle

Staatliche Stellen versuchten, auf dem Weg der fachlichen Kritik Thulins Stellung zu schwächen. Bereits 1952 kritisierte Harry Kieser, der Denkmalpflegereferent der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, ein Vorläufer des DDR-Kultusministeriums, die mangelhafte Darbietung der

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Abb. 47 Der 1959 errichtete Chemiepavillon von oben

Sammlung, ihre übermäßige Fülle, die dürftige Beschriftung sowie fehlende Interpretation – und somit die unzureichende ideologische Konformität.81 Dem Vorwurf einer übermäßigen Fülle der gezeigten Objekte begegnete Thulin mit einer Bereinigung der Innenausstattung und setzte damit einen musealen Kurs fort, den er bereits in den 1930er Jahren begonnen hatte. Das Prinzip ,Weniger ist mehr‘ sollte das „historische Bild der Reformationsepoche nun verständlicher, einfacher, aber auch eindrücklicher für den Besu81 Vgl. Laube, Das Lutherhaus, 328.

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Abb. 48 Der Große Hörsaal (Aula) in der Kaiserzeit

Abb. 49 … und in den 1960er Jahren

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cher“82 machen. Eine deutlich reduzierte Auswahl an Ausstellungsstücken wurde fortan an weiß gestrichenen Wänden aufgehängt oder in Vitrinen gezeigt, sodass Exponate und Ausstellungsort in den neu gestalteten Räumlichkeiten in keiner Beziehung mehr standen. Einzig die Lutherstube als wohl authentischster Raum erfuhr im Vorfeld des Lutherjubiläums 1967 konservatorische Aufmerksamkeit. Während sich die Kritik zunächst vordergründig auf museologische Aspekte gestützt hatte und Thulin durchaus Entgegenkommen zeigte, wurden in den folgenden Jahren immer mehr ideologische Argumente gegen die Präsentation des Lutherhauses angeführt, denn der Institution des historischen Museums kam als einem Ort der ,Geschichtspropaganda‘ außerhalb von Universität und Schule eine eminente Bedeutung zu. Eine interne Einschätzung des Kultusministeriums kam 1958 zur Einschätzung, dass von Thulin „eine wissenschaftliche Darstellung der Lutherhalle nach unserer Geschichtsauffassung nicht zu erwarten“ sei und er alles tue, „um die Lutherhalle als einen ,Wallfahrtsort der evangelischen Christenheit‘ […] zu erhalten.“83 Die Bedeutung des Fremdenverkehrs ist für die Zeit nach 1945 weniger im Bereich der Wirtschaft als vielmehr im Bereich der Politik zu verorten, denn die überwiegend als Tagesbesucher in die Stadt strömenden Gäste erzielten wenig ökonomische Effekte. Aufgrund der hohen symbolischen Bedeutung des Ortes für viele Millionen Protestanten stand Wittenberg im Zentrum weltweiter Aufmerksamkeit und zog Besucher auch aus dem westlichen Ausland an. Thulin schrieb 1956, die Lutherhalle öffne sich „den Besuchern, die oft aus fernen Ländern kommen und denen wie uns Martin Luther […] zum getreuen Eckehard eines männlichen und starken Christusglaubens“84 geworden sei. Der Museumsdirektor erhielt durch die internationale Aufmerksamkeit nicht nur Gestaltungsfreiheiten, die weit über die Möglichkeiten anderer Museen in der DDR hinausgingen,85 sondern versuchte durch die Pflege seiner Kontakte zu Kirchen- und Bildungseinrichtungen im In- und Ausland auch, die Bedeutung seines Museums und damit die eigene Position aufzuwerten: Bei den meisten Gläubigen lutherischer Prägung ist das Bestreben festzustellen, wenigstens einmal in ihrem Leben an der Wirkungsstätte ihres Reformators weilen zu können. Durch Werbungen mit dem Schrifttum der Lutherhalle, durch Anschreiben interessierter und einflussreicher Personen (Bischöfe, Superintendenten usw.) haben wir immer wieder mit gutem Erfolg versucht, an Menschen heranzukommen, für die die Thematik unseres Museums von großer Wichtigkeit und innerer Bedeutung ist.86 (Oskar Thulin, 1966) 82 83 84 85 86

Thulin, Neugestaltete Räume, 180. Zitiert in: Fleischauer, Die Enkel, 160. Thulin, Lutherstätten in Wittenberg 1956, 16. Vgl. für andere Museen: Scheunemann, Gegenwartsbezogenheit und Parteiname. Manuskript Oskar Thulin 1966, in: Akte 29, Archiv StLu.

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Diese Kontakte machten Thulin unangreifbar und verhinderten, dass die Staatsmacht ihre Vorstellungen durchsetzen konnte. Die 1959 von der in Hamburg erscheinenden Zeitung Die Welt aufgestellte Behauptung, aus dem Lutherhaus ein „bolschewistisches Revolutionsmuseum“ zu machen,87 wurde beispielsweise in der örtlichen Presse umgehend dementiert, um einen Imageschaden zu vermeiden.88 Im darauf folgenden Jahr betonte der Direktor in einem Pressebeitrag, die Gestaltung der Ausstellung sei „ohne irgendwelche Einflussnahme oder gedankliche Auferlegung von außen her, in voller Selbstständigkeit“89 erfolgt. Dennoch geriet das Museum in den 1960er Jahren erneut in den Blickpunkt des Staates. So sollte Thulin mit Gerhard Brendler ein wissenschaftlicher Berater mit marxistischem Geschichtsverständnis an die Seite gestellt werden, der auch für dessen Nachfolge vorgesehen war. Dies scheiterte jedoch an Bedenken des Wittenberger Bürgermeisters Siegfried Merker sowie an den energischen Protesten der evangelischen Kirche in der Provinz Sachsen. Die taktischen Erwägungen der staatlichen Stellen kamen auch in einem Gespräch zwischen ranghohen Vertretern des Kultusministeriums und Bischof Jänicke zum Ausdruck : „Dem Staat liegt es gar nicht daran, bezüglich der Lutherhalle etwas von den Auseinandersetzungen sichtbar zu machen, die aus der Haltung des Marxismus und seinem Geschichtsbild im Blick auf die Reformation erwachsen könne.“90 Für Brendler wurde im Jahr 1965 schließlich die Stelle eines Generalbevollmächtigten für die Reformationsstätten in der gesamten DDR mit Sitz in Wittenberg geschaffen und er wurde nach dem Reformationsjubiläum 1967 zum Leiter des ebenfalls neu geschaffenen Direktoriums der Museen der Stadt Wittenberg ernannt.91 Auch nach der gescheiterten Machtübernahme riss die Kritik nicht ab. Dem Brief des Wittenberger Bürgermeisters an das Kultusministerium vom 11. Januar 1967 ist zu entnehmen, dass einige namentlich nicht erwähnte Historiker der Universität Leipzig Thulin in seiner Eigenschaft als Lutherhallendirektor kritisierten, weil die Ausstellung ihrer Meinung nach nicht den wissenschaftlichen und ideologischen Anforderungen entsprechen würde.92 Letztendlich ist Thulin zwei Jahre nach dem Reformationsjubiläum aus Altersgründen aus dem Amt geschieden. Es entbrannte erneut ein Streit um die 87 Vgl. Zonenregierung greift nach der Wittenberger Lutherhalle. Umwandlung in ein Revolutions-Museum?, Die Welt vom 2. Juni 1959; siehe auch: Kein volkseigener Luther, Christ und Welt vom 11. Juni 1959. 88 Vgl. Schmutzige Hetze der Westjournaille. Bürgermeisterin von Wittenberg widerlegt Lügen der Westpresse, Freiheit vom 6. Juni 1959, Titelseite; Siehe auch: Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun, Interview mit Thulin, Freiheit vom 31. 10. 1959. 89 Thulin, Die Brunnenstube der Reformation. 90 Abschrift Gesprächsprotokoll über Besprechung am 19. 03. 1965 in Akte 35, Archiv StLu. 91 Vgl. Roy, Luther in der DDR, 162 f; Fleischauer, Die Enkel, 160 f. 92 Zitiert in: Roy, Luther in der DDR, 162.

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Deutungshoheit über die Reformationsgeschichte an der historischen Stätte. Ein neues Statut sowie eine neue Leitung sollten fortan die Pflege des progressiven Erbes der frühbürgerlichen Revolution sicherstellen.93 Der internationale Widerstand vor allem aus den skandinavischen Ländern sowie der Evangelischen Kirche führte jedoch zur Gründung eines Theologischen Arbeitskreises für reformationsgeschichtliche Forschung (TARF), der dazu beitrug, die Kontinuität des Museums zu wahren. Nicht der marxistische Historiker Brendler, sondern Michael Krille, ein Theologe, trat im April 1969 die Nachfolge Thulins an.94 Auch wenn der staatliche Machtanspruch mit der gleichzeitig erfolgten Anbringung des Schildes „Staatliche Lutherhalle“ deutlich gemacht wurde, verschwand die Wittenberger Lutherhalle für einige Jahre aus dem Blickfeld des Staates.95

2.3 Das Melanchthonhaus als Korrektiv Während in Weimar Goethe und Schiller auf einen gemeinsamen Sockel gestellt wurden, um eine „kontrastharmonische Geistesgemeinschaft“ zu bilden, wurde die Wittenberger Memorialarchitektur auf Distanz zwischen Luther und Melanchthon angelegt. Die beiden Reformatorendenkmäler auf dem Markt, aber auch die Grabmäler in der Schlosskirche sollten sowohl die Idee der Eigenständigkeit als auch der Ebenbürtigkeit vermitteln. Sie wurden hierdurch „subtil als einander nah und doch jeweils ganz eigenständig erinnert.“96 Dennoch stand Melanchthon in Wittenberg immer im Schatten Luthers, denn seine Würdigung folgte fortwährend Mustern der Lutherehrung. Grabplatte, Denkmal und museal gestaltete Wohn- und Wirkungsstätte, aber auch die Melanchthonjubiläen des späten 19. und 20. Jahrhunderts orientierten sich mit zeitlicher Verzögerung stets an dem, was zuvor zu Ehren Luthers geschehen war. Die zeitversetzte Parallelität der auf beide Reformatoren bezogenen Erinnerungskultur liegt vor allem in der Trägerschicht von Erinnerung begründet. Stadt, Staat und Kirche hatten in Wittenberg über Jahrhunderte hinweg meist ,an einem Strang‘ gezogen. Erst unter den Bedingungen der auf Distanz zu Kirche und Religion angelegten DDR wurde der Versuch unternommen, Melanchthon von der Memoria Lutheri loszulösen. Als Folge begann das Melanchthonhaus erstmals in seiner Geschichte ein wirkliches museales Eigenleben. Im Herbst 1953 hatte die Stadt Wittenberg zunächst entschieden, in dem Gebäude ein Heimatmuseum zu etablieren, wogegen der Direktor der 93 Rhein, Deponieren und Exponieren, 65. 94 Michael Krille hatte zuvor das 1966 eingerichtete Sekretariat geleitet, welches die Koordination der kirchlichen Vorbereitungen des Reformationsjubiläums 1967 übernahm. 95 Vgl. Fleischauer, Die Enkel, 163 f. 96 Friedrich-Wilhelm Graf, Im Himmel lässt sich gut reden.

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Lutherhalle verschiedene Einwände erhob. Bereits 1937 hatte er in einer Besprechung Ansprüche geltend gemacht und bei der evangelischen Kirchenleitung das Einverständnis erwirkt, dass „das Haus entsprechend der Anregungen der Leitung der Lutherhalle ausgebaut werden“97 solle. Thulin befürchtete, dass die Reformationserinnerung gegenüber einer stadtgeschichtlichen Präsentation ins Hintertreffen geraten könnte und das Haus seinen Charakter als Gedenkstätte für Philipp Melanchthon verlieren würde. In einem Schreiben an die Kommunalverwaltung 1954 artikulierte er seine Bedenken: Im Rahmen der offiziellen Lutherstättenführungen kann ja doch die Besichtigung des Heimatmuseums nicht verpflichtend gemacht werden, da die ausführlichen Besichtigungen der Lutherhalle, der Stadtkirche, des Melanchthonhauses, des Marktplatzes mit Rathaus und einzelnen alten Häusern, wie Cranachhaus u. a., bereits ein Besichtigungsprogramm überreich ausfüllen.98 (Oskar Thulin, 14. 04. 1954)

Das Wittenberger Heimatmuseum entstand aus der Sammlung des von Gottfried Krüger 1910 gegründeten Vereins für Heimatkunde und Heimatschutz, die an unterschiedlichen Orten Wittenbergs gezeigt worden war und nach Kriegsende in städtisches Eigentum überführt wurde. Damit bekannte sich die Stadt erstmals zu einer Präsentation ihrer Eigengeschichte über den reformationsgeschichtlichen Kontext hinaus. Heimatgeschichte war in den 1950er Jahren jedoch nur in der richtigen ,Dosierung‘ erwünscht und sollte keinesfalls an die partikularistischen Traditionen der bürgerlichen Landesgeschichte anknüpfen.99 Es galt vielmehr, die Orts- und Regionalgeschichte als Pendant zur DDR-Nationalgeschichte darzustellen. Die Ausrichtung des Melanchthonhauses als Heimatmuseum und insbesondere die Integration der Industrie- und Arbeitergeschichte in die Dauerausstellung entsprachen deshalb dem von Max Steinmetz entwickelten Konzept einer marxistischen Regionalgeschichte.100 Fünf Ausstellungsvitrinen im Eingangsbereich mit „Produkten des Stickstoffwerkes“ und Bildern von „Menschen der Produktion mit den Ergebnissen ihrer Arbeit“ sollten die Brücke zur Gegenwart bilden. Geplant war 1959 außerdem ein Raum für die Darstellung der Geschichte der Arbeiterbewegung, um „die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Ablauf der Geschichte“ besser wiedergeben zu können.101 Die Kombination der musealen Erinnerung an Melanchthon und die ideologisierte Darstellung der Stadtgeschichte konnte jedoch nicht dauerhaft 97 Schreiben Oberkirchenrat Berlin vom 23. Januar 1937, in: Akte 35, Archiv Predigerseminar Wittenberg. 98 Schreiben Lutherhalle an Rat der Stadt Wittenberg vom 14. 4. 1954, in Akte 16, Archiv StLu. 99 Vgl. Midell, Geschichtswissenschaft in Sachsen 1945 – 1989. 100 Vgl. Karlheinz Blaschke, Die ,marxistische‘ Regionalgeschichte. 101 Zur Wittenberger Museums-Werbe-Woche: Das Heimatmuseum im Melanchthonhaus, Freiheit, 15. 04. 1959.

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unter einem Dach stattfinden, denn „die gestaltende Konzeption sowie die symbolische Botschaft waren umso effektiver, je weniger man sich dabei auf die historischen Reste einzulassen hatte.“102 „Ach Bürger von Wittenberg […], warum verlegt ihr nicht euer Heimatmuseum?“,103 fragt Christa Johannsen in ihrem 1967 erschienenen Stadtportrait. Die Wittenberger Kulturpolitiker beschlossen schließlich eine räumliche Trennung.104 Dies geschah weniger aus Sorge um eine angemessene Würdigung des Mitreformators als vielmehr im Bestreben, der Entwicklung Wittenbergs zu einer Stadt im Sozialismus genügend Raum geben zu können: Wir müssen uns fragen, ob wir unter den jetzigen Umständen der räumlichen Beschränktheit den Weg zum sozialistischen Museum weiter beschreiten können. Schließlich sind wir das einzige historische Museum im ganzen Kreisgebiet, in dem auch die Entwicklung im Sozialismus allumfassend darzustellen sein wird.105 (Plananalyse der Museen Wittenbergs 1965)

Als Ergebnis dieser Überlegungen wurde die Stadtgeschichte in Räume des Wittenberger Schlosses ausgelagert. Die Lutherhalle als bis dahin einziger Ort der Musealisierung der Reformationsgeschichte wurde im Jubiläumsjahr 1967 durch ein zweites Reformationsmuseum im Melanchthonhaus ergänzt. Dies geschah nicht nur aus Respekt vor dem Praeceptor Germaniae, sondern vor allem als Korrektiv zu der nach Staatsauffassung allzu kirchlich geprägten Lutherhalle, deren Direktor noch im Melanchthonjubiläumsjahr 1960 die aus diesem Anlass von ihm konzipierte Sonderausstellung im eigenen Haus hatte zeigen können.106 Im Hinblick auf das Reformationsjubiläum 1967 waren die staatlichen Kulturpolitiker nicht mehr bereit, Thulin und seiner vermeintlich kirchennahen Lutherhalle die Deutungshoheit über den großen Humanisten zu überlassen.107 Die Etablierung des Melanchthonhauses in der Wittenberger Museumslandschaft ist eng mit dem Heimatforscher Heinrich Kühne verbunden, der zunächst für die stadtgeschichtliche Abteilung, später auch für Melanchthon zuständig war. Kühne hatte keine klassische geisteswissenschaftliche Ausbildung genossen und konnte seinem Kollegen Thulin im benachbarten Lutherhaus auf dem Gebiet der Reformationsgeschichte keinesfalls ,das Wasser reichen‘. Er zeichnete sich aber durch großes Engagement und eine beachtliche Sammelleidenschaft aus und wurde über viele Jahrzehnte hinweg zu 102 103 104 105

Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, 220. Johannsen, Lutherstadt Wittenberg, 63. Vgl. Wießner, Zur Geschichte des Melanchthonhauses nach 1945. Information zur Plananalyse der Museen Wittenbergs 1965. Schlussfolgerungen aus den Analysen vom Schluss des Jahres 1964, in: Akte 28, Archiv StLu. 106 Vgl. Thulin, Die Lutherhalle heute. 107 Vgl. Heinrich Kühne: Grobdisposition zur Umgestaltung des Wittenberger Melanchthonhauses 1966/67, in Akt 54, Archiv StLu.

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einer festen Größe in der Wittenberger Heimatgeschichtsforschung.108 Der Fall Kühne belegt exemplarisch, dass für die Selbst- und Außendarstellung der Stadt im Kontext von Sammlungen, Heimatmuseen oder Stadtfesten in weit geringerem Maß auf geistesgeschichtlich ausgebildete Lokaleliten, vor allem Historiker, Archivare, Stadtchronisten, Pfarrer und Lehrer, zurückgegriffen wurde als in der Zeit vor 1945.109 Dies galt beispielsweise auch für die Konzeption des historischen Festzuges 1967, die man dem kommunistischen Widerstandskämpfer und Verfasser einer Luther-Triologie Hans Lorbeer überlassen hatte.110 Den Vertretern einer im alten Sinne traditionsbewussten und daher unerwünschten Geschichtskultur begegnete die neue politische Führungsklasse mit Skepsis und Distanz. Ideologische Konformität und die Bereitschaft zur Umsetzung der Vorgaben von oben waren wichtiger als wissenschaftliche Befähigung und intellektuelle Neugier.111 Das Melanchthonhaus bot den staatlichen Entscheidungsträgern die Möglichkeit einer reformations- und stadtgeschichtlichen Darstellung, die den zeitgenössischen politischen Vorstellungen entsprach, denn es wurde als Museum für den Humanisten und Universitätslehrer, nicht den Reformator Philipp Melanchthon etabliert.112 In einem Aufsatz für die Zeitschrift Neue Museumskunde konstatiert der Direktor des Museums Heinrich Kühne die einseitige, theologisch orientierte bürgerliche Geschichtsschreibung, die in Wittenberg betrieben wurde und betont, die neue Melanchthonausstellung solle nun zur „Vertiefung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes“ dienen. Es ginge folglich „nicht um die antiquarische Wissensvermittlung, sondern weltanschauliche Bildung.“113 Hier sollte auch „sein Einfluss auf die Weiterführung wissenschaftlicher Erkenntnisse“114 gezeigt werden, denn „das 16. Jahrhundert muss den Besuchern nach den neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnissen in museal gut gestalteter Form dargeboten werden, um die geistigen, politischen und sozialen Zusammenhänge klarzuma-

108 Ein Teil der Sammlung Kühne, die vor allem aus Zeitungsausschnitten und Wittenberg-bezogenen Publikationen besteht, liegt im Archiv der Stadtkirchengemeinde. Sie offenbart, dass Kühne zwar einen beachtenswerten Fundus zusammengetragen hat, diesen jedoch nicht immer nach wissenschaftlichen Kriterien archivierte. So fehlen beispielsweise oft Herkunftsnachweise, sodass die Verwendung als Quellenmaterial erschwert wird. Auch seine zahlreichen eigenen Publikationen zur Stadtgeschichte entsprechen nicht wissenschaftlichen Standards. 109 Vgl Hartmann, Der historische Festzug, 135. 110 Vgl. Fleischauer, Die Enkel, 102. 111 Vgl. Saldern, Sinfonie der Festtagsstimmung, 415; Scheunemann, Gegenwartsbezogenheit und Parteinahme, 250 ff. 112 Heinrich Kühne: Grobdisposition zur Umgestaltung des Wittenberger Melanchthonhauses 1966/67, in: Akte 34, Archiv StLu. 113 Heinrich Kühne: Erstentwurf des Aufsatzes über das neu gestaltete Melanchthonhaus, in: Sammlung Kühne Nr. 35, Archiv Stadtkirchengemeinde Wittenberg. 114 Artikel „Würdige Melanchthon-Erinnerungsstätte eröffnet“, in: Freiheit vom 27. Juli 1967.

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chen.“115 Der erste Gästebucheintrag korrespondiert mit dem staatlichen Anliegen. Das Museum sei erziehend, es festige und vertiefe das fortschrittliche Geschichtsbewusstsein, schrieb der stellvertretende Kultusminister der DDR Horst Brasch am 26. Juli 1967. Es erfülle ihn mit Stolz, in einer Zeit zu leben, in der das humanistische Streben Melanchthons verwirklicht und weitergeführt werde.116 Das Ziel des Melanchthon-Museums bestand darin, die politischen Herrschaftsverhältnisse nicht nur zu kommunizieren und die neuen Ordnungsvorstellungen abzubilden, sondern diese zugleich kulturell und sozial zu verankern. „Zwischen der geschichtspropagandistischen Intention und dem wirklichen Grad ideologischer Instrumentalisierung der Museen in der DDR lagen indes Welten“,117 bezweifelt Jan Scheunemann in seiner Arbeit über die regionale Museumspolitik des zweiten deutschen Staates die tatsächliche Wirksamkeit der Ausstellung. Bei den Wittenbergern fand das Melanchthonhaus zwar reichlich Zuspruch; es ist jedoch vor allem aufgrund vieler gezeigter Kuriositäten der Wittenberger Stadtgeschichte – die Hand der Giftmischerin Susanne Zimmermann, ein Teilstück der hölzernen Wasserleitung aus dem 16. Jahrhundert und ähnlichen Fundstücken – in bester Erinnerung geblieben.

3. Die Enkel fechten’s besser aus: Die Reformationsjubiläen 1960 und 1967 3.1 Die Melanchthon-Würdigung 1960 Während die Würdigung Johannes Bugenhagens im Jahr 1958 als eine innerkirchliche Angelegenheit behandelt wurde, die seitens der Kommune oder übergeordneter staatlicher Stellen keinerlei Aufmerksamkeit erfahren hatte,118 geriet mit dem Melanchthon-Jubiläum 1960 erstmals ein reformationsgeschichtlicher Jahrestag in das Blickfeld der DDR-Führung. Zum ersten Mal in der Geschichte Wittenbergs konkurrierten anlässlich des Melanchthon-Jubiläums zwei verschiedene Lager offen um die rechtmäßige Würdigung eines Protagonisten der Reformationsgeschichte. Die Forschung zum historischen Jubiläum als einem institutionellen Mechanismus hat gezeigt, dass sich 115 „Plandiskussion über den Stand und die Perspektive der Wittenberger Museen 1965 – 1970“, in: Akte 28, Archiv StLu. 116 Eintrag Gästebuch Melanchthonhaus, 26. 7. 1967, Archiv StLu. 117 Scheunemann, Gegenwartsbezogenheit und Parteiname, 15. 118 Vgl. Schriftverkehr Bugenhagenfest, in: Akten A II 210 und A II 412, Archiv Stadtkirche Wittenberg; Rhein weist darauf hin, dass der 400. Todestag Bugenhagens der Lokalpresse keinen Hinweis wert war. Vgl. Rhein, Bugenhagen und Wittenberg, 13.

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Konkurrenz produktiv auf das Reformationsjubiläum ausgewirkt hat. Während es jedoch bei der interkonfessionellen Konkurrenz des Alten Reiches vor allem um die Legitimität des zu feiernden Ereignisses ging,119 stand bei den in der DDR-Zeit begangenen Reformationsjubiläen stets die Frage im Mittelpunkt, wie die Reformation gewürdigt werden soll. Nicht mehr die interkonfessionelle Auseinandersetzung, sondern die Erinnerungskonkurrenz zwischen Staat und Kirche sowie die Systemkonkurrenz der beiden deutschen Staaten bildeten den Hauptantrieb reformationsgeschichtlichen Gedenkens im historischen Jubiläum.120 Staatliche und kirchliche Kräfte nutzten Wittenberg als Schauplatz einer Auseinandersetzung unterschiedlicher Reformationsgeschichtsbilder, die sich anhand getrennter Jubiläumsvorbereitungen und Veranstaltungen, aber auch anhand der Adressaten und unterschiedlicher thematischer Schwerpunkte festmachen lässt. Das Nebeneinander konkurrierender institutioneller Ordnungen und deren Umgang mit ein- und demselben Jubiläumsanlass eröffnen differenzierte Einblicke in deren Selbstverständnis.121 Die Beurteilung des Anteils von Philipp Melanchthon an der Reformation und von dessen Verhältnis zu Luther ist immer auch geprägt von Urteilen darüber, was das Wesen der Reformation ausmacht.122 Die reformatorische Bewegung war zugleich eine erziehende Bewegung, in deren Verlauf Schulen und Universitäten gegründet wurden. Die Pädagogik stand deshalb im Interesse sowohl der Reformation als auch des Humanismus. Der Praeceptor Germaniae war der Vertreter der Reformation, auf dessen humanistisches Vermächtnis sich die im Osten Deutschlands herrschenden Mächte mit demonstrativer Betonung beriefen. Mit Verweis auf das humanistische Erbe, dessen Wirksamkeit den ,Irrweg einer Nation‘123 nicht hatte aufhalten können, suchten sie sich einer bedeutsamen geistigen Tradition zu vergewissern. Geschichte wurde damit ein selbsttätiger Fortschritt und eine erzieherische Funktion zugesprochen und der institutionelle Mechanismus Jubiläum bot die Möglichkeit, das vom Marxismus abgeleitete neue Bild der deutschen Geschichte öffentlich zur Schau zu stellen. Hierdurch wurde die bis dahin gepflegte Sicht auf Melanchthon als einem Mitstreiter Luthers und Autor des Augsburger Bekenntnisses herausgefordert. Die Arbeit des staatlichen Festkomitees war eng mit der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg und dem bis 1959 amtierenden Rektor Leo Stern verbunden. Dieser hielt die Festrede bei der zentralen wissenschaftlichen Tagung in Halle und fungierte als Herausgeber der staatlichen Festschrift.124 Stern, dessen Äußerungen als offizielle Stellungnahme der DDR zur Reformationsgeschichte gewertet werden müssen, warf den evangelischen Kirchen 119 120 121 122 123 124

Vgl. Reichelt, Die Universität als Instrument der Konfessionalisierung. Vgl. Flügel, Konkurrenz um Reformation und Luther ; Ders., Konkurrenz um Luther. Vgl. Müller, Das historische Jubiläum, 2. Vgl. Oberdorfer, Zwischen Prinzipialisierung und Historisierung, 222. Vgl. Abusch, Irrweg einer Nation. Vgl. Stern, Philipp Melanchthon.

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vor, Luthers Lehre zu einseitig zu betonen und dabei das fortschrittliche humanistische Erbe Melanchthons in den Schatten zu stellen.125 Anlässlich des Jubiläums sollte dieses Bild korrigiert werden und deshalb versuchte die offizielle DDR-Geschichtsdarstellung in Abgrenzung zu Luther, Teile der Reformation zum ,humanistischen Erbe‘ des Arbeiter- und Bauernstaates zu erklären. Allerdings stieß die Vereinnahmung des Humanisten auch an Grenzen, denn dieser habe sich in die „Abstraktion von der unrühmlichen Wirklichkeit“ geflüchtet, wofür der „rein theologisch-theoretische Charakter der deutschen Reformation“ verantwortlich sei. Im Ergebnis stünden eine „fast religiöse Verehrung von Bildung und Erziehung“ sowie die „Preisgabe aller sozial-revolutionären Ansätze“,126 wie es wenige Jahre später in einer Publikation des Wittenberger Melanchthonhauses heißt. Der Sekretär des staatlichen Festkomitees Hübner schlussfolgerte in einem Beitrag in der Regionalpresse: Es darf nicht übersehen werden, dass einer Melanchthon-Ehrung gewisse Grenzen gesetzt sind, die aus der widersprüchlichen Haltung Melanchthons resultieren. […] Erst dem sozialistischen Humanismus blieb es vorbehalten, die klassenmäßigen Schranken des bürgerlichen Humanismus zu durchbrechen.127

Das staatliche Melanchthon-Komitee hatte sich am 11. Dezember 1959 in Halle konstituiert und bestand aus achtzehn Vertretern, zu denen auch die Wittenberger Bürgermeisterin Teichert sowie der Lutherhallen-Direktor Thulin gehörten.128 Dessen Planungen sahen für den 19. April eine Kranzniederlegung am Denkmal auf dem Marktplatz sowie am Grab in der Schlosskirche, die Eröffnung einer Sonderausstellung sowie einen Festakt im Haus der Schaffenden vor. Am folgenden Tag sollten in Halle ein universitärer Festakt sowie eine wissenschaftliche Tagung stattfinden. Die kirchlichen Kreise waren zunächst wenig geneigt, ein großes Melanchthonjubiläum zu feiern und wollten sich auf eine kleine Feier beschränken. Erst die Kenntnisnahme staatlicher Vorbereitungen, die weit über den Rahmen einer wissenschaftlichen Tagung hinausreichten, führte zu einem Meinungsumschwung auf Seiten der Kirchenvertreter. So war Oberkonsistorialrat Egon Pettelkau bei einem Wittenbergbesuch im Sommer 1959 aufgefallen, dass im Melanchthonhaus bereits eine Gedenkmedaille aus Böttcherzeug verkauft wurde, von der in der Meissner Porzellanmanufaktur eintausend Stück hergestellt worden waren.129 Am Ende einer Besprechung vor Ort zwischen Wittenberger Pfarrern, Vertretern der Landeskirche und der EKU im September 1959 hatte sich die kirchliche Seite auf eine Festwoche zwischen 125 126 127 128 129

Vgl. Stern, Martin Luther und Philipp Melanchthon. Steinmetz, Melanchthon, 5 f. Artikel „Melanchthon-Ehrung“, in: Freiheit, 19. April 1960. Vgl. Bräuer, Das Melanchthonjubiläum 1960. Vgl. Pressemitteilung Heinrich Kühne, Freiheit, 13. 02. 1960; Bräuer, Melanchthonjubiläum 1960, 92.

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dem 19. und dem 24. April 1960 geeinigt, die aus einem Festakt am 19., einer Pfarrertagung am 20. und 21., einer ökumenischen Tagung am 22. und 23. sowie einem Propsteikirchentag am 24. April bestehen sollte.130 Für Informationsübermittlung und Interessensabgleich sorgte der Lutherhallendirektor Oskar Thulin, der auf lokaler Ebene sowohl an den staatlichen als auch an den kirchlichen Vorbereitungen beteiligt war. Er hatte im eigenen Haus eine Sonderausstellung zu Melanchthon konzipiert.131 Die tatsächliche Situation beschönigend betonte Thulin in einem Rückblick auf das Jubiläum, die Feiern verliefen „nicht zweigleisig, sondern in einer vorher vereinbarten und dann auch großzügig durchgeführten zeitlichen Koordination.“132 Tatsächlich hatten sich beide Seiten nur auf einen Minimalkompromiss einigen können. Nachdem das staatliche Angebot, für die Wittenberger Veranstaltungen gemeinsam einzuladen, von Kirchenvertretern aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung bei der Würdigung von Melanchthons Schaffen abgelehnt worden war, einigten sich beide Seiten zumindest auf eine Abstimmung des Veranstaltungsplans, um Überschneidungen zu vermeiden.133 Während die staatliche Melanchthon-Ehrung in Halle und Wittenberg stattfand, konzentrierte sich die kirchliche Würdigung allein auf die Wiege der Reformation und wertete diese beispielsweise durch ein anspruchsvolles wissenschaftliches Programm auf. Dieses richtete sich vor allem an Theologen und Historiker, denen ein umfangreiches Vortragsprogramm geboten wurde. Die kirchlichen Veranstalter hatten hierbei auch das Grundmuster des Jubiläumsmechanismus im Hinterkopf, wonach eine „Geschichte von Ursprung und Abstammung, von Wende und Neuanfang, von Entwicklung und Kontinuität und von daran beteiligten Persönlichkeiten“ erzählt wird, „um mit der rhetorischen Figur von ,Erbe und Auftrag‘ eine Zukunftsperspektive“ zu eröffnen.134 Als Ergebnis diente die von kirchlichen Stellen praktizierte Melanchthonerinnerung im Jubiläumsjahr „der weiterführenden Erkenntnis geschichtlicher Bezüge“ und „nicht nur dem ehrenden Gedenken eines um Kirche, Theologie und geistige Bildung überhaupt einstmals hervorragenden Gelehrten“, wie der Vorwortschreiber des wissenschaftlichen Tagungsbandes betonte.135 Jenseits der wissenschaftlichen Würdigung Melanchthons wies das Programm der Festtage nur wenige Veranstaltungen auf, sodass der in der Lokalpresse verkündete „Gruß allen Gästen und Besuchern des In- und Auslandes, die anlässlich der Melanchthonfeierlichkeiten in unserer Stadt weilen“ 130 Vgl. Programm der Festtage in: Akte A II 211, Archiv Stadtkirche Wittenberg; Bräuer, Melanchthonjubiläum 1960, 93 ff. 131 Vgl. Thulin, Die Lutherhalle heute. 132 Thulin, Melanchthon-Tage 1960, 92. 133 Vgl. Bräuer, Melanchthonjubiläum 1960, 103. 134 Bergmann, Gedenktage, Gedenkjahre und historische Vernunft, 28. 135 Vgl. Elliger, Philipp Melanchthon, Vorwort.

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etwas übertrieben wirkt.136 Die Besucherzahlen der Lutherhalle, deren Direktor aus Anlass des Jubiläums eine Sonderausstellung konzipiert hatte, lassen jedenfalls nicht auf einen erhöhten Gästestrom schließen.137 Die wenigen sich an ein breites Publikum richtenden Angebote indizieren, wie das akademische Festprogramm auch, eine klare Trennung von Staat und Kirche. Während die Planungen des staatlichen Melanchthon-Komitees sich in Wittenberg auf eine Kranzniederlegung, die Eröffnung einer Sonderausstellung sowie einen Festakt beschränkten, hatten die Planer für die interessierte kirchliche Öffentlichkeit einen Festgottesdienst, einen Gemeindeabend sowie eine Gemeindefeier auf dem Lutherhof und ein Konzert des Leipziger Thomaner-Chores im Angebot.138 Zu Konflikten zwischen staatlichen und kirchlichen Stellen kam es vor allem auf dem Feld der Einladungspolitik. Die EKU hatte die Festplanungen federführend übernommen und wollte Vertreter möglichst vieler Landeskirchen beim Festakt in Wittenberg versammeln. Die Referenten für den geplanten Vortragsmarathon sollten ebenfalls aus allen Teilen Deutschlands kommen, um die Verbundenheit aller Christen über Grenzen hinweg zu demonstrieren.139 Dies war den auf die staatliche Eigenständigkeit bedachten DDR-Behörden ein Dorn im Auge. Aufgrund der parallel stattfindenden Veranstaltungen sahen die Staatsvertreter zudem im autonomen Vorgehen der Kirche die Legitimität ihrer eigenen Jubiläumsaktivitäten bedroht. Da die Kirche vor allem den Theologen Melanchthon würdigen wollte, während staatliche Stellen in dem Mitreformator in erster Linie den Humanisten und Lehrer sahen, ergaben sich Rivalitäten um die Deutungshoheit. Trotz vorsichtiger Versuche eines Interessensabgleichs im Vorfeld gelang es beiden Seiten letztendlich nicht, zu einer befriedigenden Lösung zu kommen. So sahen die Staatsvertreter im Fernbleiben der kirchlichen Repräsentanten beim Festakt, der Ausstellungseröffnung in der Lutherhalle und bei der Kranzniederlegung einen Affront. Lediglich der thüringische Landesbischof Mitzenheim war auf dem Markt sowie in der Lutherhalle anwesend. Dem Festakt sowie dem Festvortrag des marxistischen Reformationshistorikers Max Steinmetz mochte aber auch er nicht beiwohnen. Die kirchlichen Veranstaltungen hingegen wurden durch bürokratische Hürden bei organisatorischen Fragen sowie durch Einreiseverbote unter anderem für den Kieler Bischof Wilhelm Halfmann und den Direktor der Theologischen Abteilung des Lutherischen Weltbundes in Genf Vilmos Vajta behindert.140

136 Artikel „Melanchthon-Würdigung“, in: Freiheit vom 16. April 1960. 137 Die Besucherzahlen erreichten Mitte der 1950er Jahre rund 25.000, sanken bis 1960 auf weniger als 18.000 ab und stagnierten bis 1966 auf diesem Niveau. Erst 1967 erreichten sie mit fast 44.000 einen vorläufigen Rekord. Vgl. Besucherzahlen 1951 – 1967, in: Akte 48, Archiv StLu. 138 Vgl. Bräuer, Melanchthonjubiläum 1960, 93 ff. 139 Vgl. Planungsunterlagen des Jubiläums in: Akte A II 211, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 140 Vgl. Bräuer, Melanchthonjubiläum 1960, 112.

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3.2 450 Jahre Reformation – DDR-Geschichtspolitik in Wittenberg Institutionen und Personengruppen nutzen den institutionellen Mechanismus Jubiläum, um sich in regelmäßigen Abständen eines in der Vergangenheit liegenden Schlüsselereignisses ihrer Eigengeschichte zu erinnern, welches von großer Bedeutung für das Selbstverständnis der gedenkenden Institution ist und in Abhängigkeit davon aktualisiert wird.141 Voraussetzung für die kommemorative Würdigung im historischen Jubiläum ist ein positives Verhältnis zu diesem Schlüsselereignis. Da der zweite deutsche Staat in Anlehnung an Abuschs Irrweg einer Nation die Voraussetzung einer positiven Sicht auf Martin Luther nicht mitgebracht hatte, schien ein staatlich inszeniertes Reformationsjubiläum zunächst nicht selbstverständlich. Eine ideologische Kehrtwende war jedoch möglich, weil die Geschichtskultur in der DDR von einer Aufhebung der Trennlinie zwischen Politik und Geschichte geprägt war und sich höchste Entscheidungsträger in Fragen des Umgangs mit der Geschichte aktiv einmischten.142 Sie gingen von einer „strukturellen Heteronomie der Vergangenheit“143 aus, deren Erforschung vom jeweiligen politischideologischen Standpunkt der Gegenwart abhing. Unter den Bedingungen der DDR-Geschichtspolitik konnte das Lutherbild in den 1960er Jahren einschneidende Veränderungen erfahren, denn nun wurde das Traditionsverständnis des ostdeutschen Staates um den Wittenberger Reformator als eine zentrale Figur der deutschen Geschichte erweitert.144 Die Staats- und Parteiführung erhoffte sich vom 1967 begangenen Reformationsjubiläum eine Stabilisierungsleistung, denn „Legitimation ist das vordringlichste Anliegen des offiziellen oder politischen Gedächtnisses.“145 Das Anknüpfen an die bereits fest etablierte, auf Luther und die Reformationsgeschichte bezogene Erinnerungskultur schien hierfür aussichtsreicher als die in den 1950er Jahren praktizierte Konzentration auf Thomas Müntzer und den Bauernkrieg.146 Das Aufgreifen einer etablierten Erinnerungstradition sollte aber auch den Anspruch auf das ,richtige‘ Verständnis der Vergangenheit untermauern und einen Geltungsanspruch der eigenen Position für die Vgl. Müller, Das historische Jubiläum, 1 – 75; Mitterauer, Anniversarium und Jubiläum, 23 – 90. Vgl. Sabrow (Hg.), Geschichte als Herrschaftsdiskurs, 22. Sabrow, Auf der Suche nach dem materialistischen Meisterton, 64. Die marxistische Reformationsforschung hat die Ereignisse der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor allem als soziale Revolution zu interpretieren versucht und deren religiösen Gehalt heruntergespielt. Die Reformation wurde zu einer frühbürgerlichen Revolution uminterpretiert, deren Höhepunkt der Bauernkrieg war. Am Ende dieser revolutionären Traditionslinie der deutschen Vergangenheit verortete die DDR-Staatsmacht sich selbst. Zu den Wandlungen des marxistischen Lutherbildes vgl. Bräuer, Martin Luther in marxistischer Sicht; Grundlegend hierzu: Kühnhardt, Revolutionszeiten, hier v. a. Kapitel II „1517, Luther und Müntzer : Die These von der ,revolutionären Reformation‘“. 145 Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 138. 146 Vgl. Scheunemann, Reformation und Bauernkrieg. 141 142 143 144

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Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in der DDR

Abb. 50 Ansprache des Oberbürgermeisters beim Jubiläum 1967

Zukunft erheben.147 Insofern ging es darum, ein möglichst einheitliches Geschichtsbewusstsein herzustellen. Zunächst hatte sich die DDR-Geschichtswissenschaft vorsichtig über Melanchthon und den Humanismus der Reformationsgeschichte genähert, was in Wittenberg an der umfangreichen staatlichen Würdigung des Mitreformators im Jahr 1960 sowie an der musealen Aufwertung des Melanchthonhauses abzulesen ist. Es folgte eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Hauptreformator, die in einer 1967 entstandenen Lutherbiographie von Gerhard Zschäbitz ihren ersten Höhepunkt erfuhr.148 Das von Max Steinmetz mitverantwortete Konzept der Frühbürgerlichen Revolution ebnete schließlich den Weg für eine historische Einordnung Luthers, die nicht mehr ausschließlich vom Bauernkrieg ausging149 und in Wittenberg vor allem vom Bevollmächtigten für die Luthergedenkstätten Gerhard Brendler umgesetzt wurde.150 Zusammen waren die beiden Historiker für den wissenschaftlichen Teil der Jubiläumsfeier in Wittenberg verantwortlich.151 Brendler hatte außerdem im Auftrag des Rates der Stadt Wittenberg die Herausgabe von Materialien zur Frühbürgerlichen Revolution übernommen, die mit einem Geleitwort des DDR-Lutherbiographen Zschäbitz versehen waren.152 147 148 149 150 151 152

Vgl. Müller, Das historische Jubiläum, 3. Vgl. Zschäbitz, Martin Luther. Größe und Grenze. Vgl. Steinmetz, Probleme der frühbürgerlichen Revolution. Vgl. Brendler, Von Luther zu Müntzer ; ders., Reformation und Bauernkrieg, 206 ff. Vgl. Brendler/Steinmetz (Hg.), Weltwirkung der Reformation. Vgl. Brendler (Hg.), Die Reformation in Deutschland.

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Mit der Frühbürgerlichen Revolution entstand ein historisch-ideologisches Konzept, das Luther einen Platz im marxistischen Weltbild gewährte. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand vor allem Luthers Wirken bis zum Wartburgaufenthalt 1521 – 1522, welches als historisch fortschrittlich gewertet wurde. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Wittenberger Festumzug anlässlich des Reformationsjubiläums 1967 einzig Thesenanschlag und Bibelübersetzung bildlich darstellte. Auch im Jubiläumsjahr-Stadtführer anerkennt der Autor Heinrich Kühne „die unverrückbar große Leistung des Reformators“, aber der „große Riss und der tiefe Zwiespalt, wonach Luthers Taten nach dem Wartburgaufenthalt einzuschätzen sind“, kommen ebenfalls zur Sprache.153 Das Konzept der Frühbürgerlichen Revolution ermöglichte es auch, die deutsche Reformationsgeschichte über den Aspekt des Bauernkriegs hinaus in einen Sinnzusammenhang mit der russischen Oktoberrevolution 1917 einzubetten. Auch wenn Luthers Thesenanschlag im Mittelpunkt der Wittenberger Feierlichkeiten 1967 stand, konnte der 50. Jahrestag der Revolution nicht unberücksichtigt bleiben. Ein Vertreter der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg betonte bei den Wittenberger Feierlichkeiten, dass die Oktoberrevolution erst die Voraussetzung für die „Feier der Reformation im Geiste des Friedens und des sozialistischen Humanismus“ geliefert habe.154 Stärker als je zuvor wurde der politisch-ideologischen Ausrichtung des Festes ein hoher Stellenwert beigemessen. „Damit die unterdrückten Klassen in Deutschland ihre Lage und ihre Aufgaben […] besser erkennen, stellen wir die Vorbereitung und Durchführung […] in den Dienst unserer gegenwärtigen Aufgaben“,155 beschloss die SED-Kreisleitung und initiierte im Wittenberger Chemiepavillon gegenüber der Schlosskirche eine Ausstellung über die russische Oktoberrevolution. Auch Oberbürgermeister Merker verband die beiden historischen Ereignisse: In der kapitalistischen Gesellschaft konnte diese revolutionäre Hoffnung keine Erfüllung finden. Erst die Weltenwende des Roten Oktober in Russland leitete die endgültige Befreiung der Schöpferkraft des Menschen von der Ausbeutung und Unterdrückung ein. Wir danken es dieser Weltenwende, dass wir im Jahr 1967 erstmals in der deutschen Geschichte Reformationsfeiern im Sinne des Friedens und des Sozialismus begehen können.156 153 Kühne, Lutherstadt Wittenberg 1967, 13. 154 Artikel „Erbe der Humanisten im Volke wohl bewahrt“, Neues Deutschland, 30. 10. 1967. 155 „Vorbereitung und Durchführung des 450. Jahrestages der Reformation. Vortrag gehalten auf der Propagandistenkonferenz der Kreisleitung der SED Wittenberg, Dezember 1966“, in: Akte 34, Archiv StLu. 156 Zitat Merker, in: Materialien Reformationsjubiläum 1967 (Prospekte, Programme, Einladungen), Archiv Predigerseminar Wittenberg; Diese politisch gewünschte Kontextualisierung fand auch in einer Schrift über die Beziehung Maxim Gorkis zu Wittenberg ihren Ausdruck, die 1967 erschien. Im Vorwort verband Bürgermeister Merker ebenfalls die Ereignisse der Reformation mit der russischen Oktoberrevolution 1917. Vgl. Kühne, Maxim Gorki und die Lutherstadt.

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Um die Reformationsgeschichte aus dem engen Kontext der deutschen Nationalgeschichte zu lösen und sie in einen übernationalen Kontext einordnen zu können, erfanden die staatlichen Organisatoren des Jubiläums die Formel von der Weltwirkung der Reformation, welche der internationalen wissenschaftlichen Tagung in Wittenberg als Überschrift diente.157 Die Internationalität der Teilnehmer beschränkte sich allerdings auf Forscher aus den Ostblockstaaten. Der einzige westliche Referent war der US-Amerikaner Claude R. Foster,158 während aus der Bundesrepublik kein Wissenschaftler zur staatlich organisierten Tagung nach Wittenberg reiste.159 Hauptreferent war Max Steinmetz, der seinen Vortrag in den Dienst der DDR-Geschichtspolitik stellte und bekannte, die Arbeiter-und-Bauern-Macht habe „nicht die geringste Ursache, Luther und die Reformation unseren Gegnern zu überlassen.“160 Diese Sichtweise fand Eingang in die Lokalgeschichtsschreibung. Für Heinrich Kühne war der Grund der internationalen Tagung in Wittenberg in erster Linie die Tatsache, dass die Deutsche Demokratische Republik die frühbürgerliche Revolution als progressives Traditionselement ihrem Geschichtsbewusstsein einreihte, weil unser Staat Heimstatt aller fortschrittlichen, revolutionären und humanistischen Traditionen unseres Volkes ist.161

Internationale Ausstrahlung war Wittenberg eher auf dem Feld der DDRAuslandsdiplomatie sowie des Luthertourismus gewiss und wurde im Rahmen der Anerkennungskampagne des zweiten deutschen Staates noch gezielt gefördert. Ein viersprachiger Stadtführer band die in Wittenberg unter den Bedingungen der DDR gepflegte Reformationserinnerung an aktuelle politische Zielsetzungen: „Das Staatsbewusstsein unserer Republik wird weitgehend vom Geschichtsbewusstsein bestimmt“, ließ der Autor Gerhard Brendler die Besucher der Lutherstätten wissen, und wies auf die „gegen jeden Anschlag des westdeutschen Imperialismus“ gerichtete Politik sowie die „Solidarität mit den um ihre Freiheit und Unabhängigkeit kämpfenden Völkern“, insbesondere in Vietnam, hin.162 Vor allem die skandinavischen Länder standen im Fokus der Aufmerksamkeit und Wittenberg sollte nationale Repräsentationsfunktionen erfüllen. Anlässlich der finnischen Kulturtage in Wittenberg wurde auf die enge Beziehung der ,Stadt der Reformation‘ zu den nordeuropäischen Nachbarn verwiesen und unter Anwesenheit einiger Vertreter aus Helsinki eine Gedenktafel für den finnischen Reformator Mikael Agricola am 157 Vgl. Adolf Laube, Weltwirkung der Reformation; Vetter, Internationales Symposium, S. 86 ff. 158 Foster pflegte über Jahrzehnte hinweg hervorragende Kontakte zum DDR-Wissenschaftsbetrieb und übersetzte beispielsweise Gerhard Brendlers zu Beginn der 1980er Jahre entstandene Lutherbiographie. Brendler war zusammen mit Steinmetz Herausgeber des Tagungsbandes 1967. Vgl. Brendler, Martin Luther. Theology and Revolution. 159 Vgl. Fleischauer, Die Enkel, 136. 160 Vgl. Brendler/Steinmetz, Weltwirkungen, 4. 161 Kühne, Wittenberg, 1978, 14. 162 Brendler, Stadtführer Lutherstadt Wittenberg, 6.

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Wittenberger Lutherhaus enthüllt.163 Aus Schweden besuchten im September Abgeordnete des Stockholmer Reichstages die Lutherstadt.164 Neben den Direktkontakten ins Ausland nutzten die DDR-Oberen gezielt die internationalen Medien, um sich die Deutungshoheit über das Reformationsjubiläum zu sichern. Erinnerungsproduktion ist seit dem 20. Jahrhundert zunehmend medial bedingt und Erinnerungen werden medial gespeist. Medien aber halten die Erinnerung nicht nur wach, sondern formen sie zugleich.165 So hatte in Wittenberg bereits in den 1920er und 1930er Jahren die überregionale Berichterstattung die wohlwollende Unterstützung der Stadtväter erhalten, indem beispielsweise der Oberbürgermeister an einer Rundfunksendung mitgewirkt hatte. Die Initiatoren der Jubiläumsfeiern 1967 gingen noch einen Schritt weiter : Ein eigens eingerichtetes Pressezentrum Newspapers Informations (sic!) bot den Korrespondenten aus aller Welt in der Jubiläumswoche ideale Möglichkeiten, aus Wittenberg zu berichten.166 Die Lokalzeitung berichtete stolz über Journalisten und Vertreter von Universitäten aus aller Welt, die im Vorfeld der Jubiläumsfeierlichkeiten in die Stadt gekommen waren, um sich von ihr ein Bild zu machen.167 Nicht immer verließen sich jedoch westliche Berichterstatter auf das Bild, welches ihnen vor Ort staatlicherseits präsentiert wurde. So wandte sich das schwedische Fernsehteam an kirchliche Institutionen und erhielt vom Propst Unterstützung: „Wir wollen gern helfen, die viva vox evangelii in Blick auf unseren Reformator Martin Luther von der Versuchung eines zu sehr archaischen Verständnisses im öffentlichen Bewusstsein so weit als möglich frei zu halten.“168 Hintersinnig wurden die Fernsehleute auch aufgefordert, in den Buchhandlungen der Stadt zu schauen, ob Lutherbibeln und -Schriften angeboten würden.

3.3 Der Festumzug als Ausdruck einer sozialistischen Metaerzählung Jubiläen sind stets auch ,Hohezeiten‘ großer Metaerzählungen. Die hier gebündelte narrative Selbstinszenierung ist kein beliebiger Teil der Erinnerungskultur einer Gesellschaft, sondern fußt vielmehr auf einem imaginierten Grundgerüst, welches für alle Mitglieder einer Gemeinschaft als verbindlich dargestellt wird. Die Jubiläumsfeier bietet die Gelegenheit zur publikumswirksamen Vermittlung einer Erzählung, die Auskunft über das Woher, das Jetzt und das Wohin der jeweiligen Gesellschaft gibt. Diese narrative Selbst163 164 165 166 167 168

Vgl. Pressebericht, in: Freiheit, 18. September 1967, Titelseite. Pressebericht, in: Freiheit, 23. 09. 1967. Siehe: Aleida/Jan Assmann, Das Gestern und das Heute, 128. Pressebericht, in: Freiheit, 25. 10. 1967. Vgl. Artikel „Magnet Wittenberg“, in: Freiheit, 17. 02. 1967. Vgl. Schreiben von Propst Bernd an schwedisches TV vom 27. 07. 1966, in: Akte A II 563, Archiv Stadtkirche Wittenberg.

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thematisierung ist die Konstruktion eines Geschichts-, Gegenwarts- und Zukunftsbildes, das auf einer selektiven Auswahl von Topoi aus dem Wissensund Glaubensarsenal der Gemeinschaft basiert. Aufgabe solcher Metaerzählungen ist es, historische Sinnbilder zu stiften und mittels dieser die Integration der Mitglieder in die Gemeinschaft zu erreichen.169 Der Festzug eignet sich in besonderer Weise als Vermittlungsart und Darstellungsform von Metaerzählungen, denn er ermöglicht die Teilnahme vieler und das Zuschauen aller. „Begeht die Bürgerschaft ein wichtiges Fest, so ist der Festzug diejenige Form, die eine maximale Beteiligung sichert.“170 Am Wittenberger Festumzug 1967, der am 29.10. stattfand, wirkten rund 4.500 Bürger mit und mehr als 100.000 Zuschauer säumten die Straßen.171 Die Gestalter der Wittenberger Reformationsfeier 1967 erkannten, dass der Festzug die Möglichkeit bot, eine eingeführte mediale Form mit neuen Inhalten zu füllen und in den Dienst der politischen Propaganda zu stellen. „Geschichte im Festzug: brennend aktuell!“,172 titelte die Lokalpresse in ihrer Vorankündigung. Während in der Bundesrepublik Festzüge zur provinziellen Feierform für Stadtjubiläen herabgesunken waren, sah der „totalitäre Staat mit relativ junger nationaler Selbstständigkeit im historischen Festzug ein Mittel überregionaler Wirksamkeit und politischer Propaganda.“173 Hierbei offenbarte sich das Gespür der Organisatoren für die Anpassungsfähigkeit dieses Veranstaltungstyps. Während nämlich in den bürgerlichen Festzügen des 19. Jahrhunderts vor allem historische Deutungen abgerufen wurden,174 die als allgemein gültig und längst verbindlich galten, erfolgte im Festzug 1967 eine Schwerpunktverlagerung auf die allerjüngste Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Im 19. Jahrhundert war die repräsentative Selbstdarstellung Intention und die Geschichte ihre Erscheinungsform. Bezogen auf die Mitwirkenden hatten die Festzüge Ab- und Wunschbilder der lokalen Gesellschaft dargestellt. Der gelenkte Festzug 1967 stellte hingegen selbst ein Mittel der Politik dar und beschränkte sich auf die Darstellung des imaginierten Aufbaus einer ausschließlich historisch legitimierten und räumlich kaum fassbaren Gesellschaft. Die am Festzug Beteiligten setzten sich nicht mehr symbolisch in Beziehung zur Gesellschaft und das ehemals so wichtige Verhältnis von gesellschaftlichem Rang der Darsteller und ihrer Rolle im Zug war nur noch von 169 Ausführlich in: Jarausch/Sabrow, Meistererzählung’ – Zur Karriere eines Begriffs. 170 Hartmann, Der historische Festzug, 133. 171 Die angegebenen Zuschauerzahlen schwanken stark. Während in einem Pressebericht im Neuen Deutschland von 100.000 Zuschauern die Rede ist, nennt ein interner Bericht der Arbeitsgruppe Kirchenfragen des Zentralkomitees der SED nur 70.000 Zuschauer. Vgl. Pressebericht in Neues Deutschland, 31. 10. 1967; Bericht der Arbeitsgruppe Kirchenfragen vom 21. 11. 1967 (Bundesarchiv BA P DO 4/2428) zitiert in Flügel, Konkurrenz um Reformation und Luther, 262. 172 Artikel „Geschichte im Festzug: brennend aktuell!“, in: Freiheit, 30. 10. 1967. 173 Hartmann, Der historische Festzug, 164. 174 Vgl. Schweizer, Unserer Weltanschauung sichtbaren Ausdruck geben, 26.

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untergeordneter Relevanz. Die Darsteller wurden zu verkleideten Statisten reduziert, die eine erfundene Rolle in einem fiktiven Spiel einnahmen.175 Nicht nur im Bezug auf Rolle und Rang, sondern auch in Fragen der Organisation und Konzeption des Festzuges hatte sich die Bedeutung der lokalen Akteure verändert. 1967 blieb dessen Ausgestaltung, anders als bei den Festzügen der Kaiserzeit, nicht mehr der Initiative lokaler Akteure überlassen, sondern wurde durch ein politisches Konzept der Hauptorganisatoren vorgegeben. Das zuvor verbreitete Engagement von bürgerlichen Multiplikatoren war damit aus dem Fest verschwunden. An dessen Stelle traten eine Arbeitsgruppe des Rates der Stadt sowie zahlreiche volkseigene Betriebe und Produktionsgenossenschaften, die jeweils die Gestaltung einzelner Abschnitte übernahmen.176 Die Konzeption stammte von Hans Lorbeer, der als Arbeiterschriftsteller und Autor des wichtigsten DDR-Romans über Martin Luther, die Trilogie Die Rebellen von Wittenberg, bekannt geworden war. Nach 1945 hatte Lorbeer sich als alter kommunistischer Widerstandskämpfer in die Kommunalpolitik eingebracht und wurde Bürgermeister seines Geburtsortes Piesteritz, eine Industriesiedlung, die 1950 in der Stadt Wittenberg aufging.177 In seinem literarischen Schaffen ebenso wie mit seiner Festzugskonzeption spannte Lorbeer im Gegensatz zu einem auf die Reformationsepoche beschränkten Geschichtsbild „einen weiten Bogen aus Wittenbergs großer geschichtlicher Vergangenheit zu dem Wittenberg der Gegenwart.“178 Das ursprüngliche Drehbuch sah siebzig Bilder vor, an deren Ende jeweils eine Kompanie der Nationalen Volksarmee und der Roten Armee mit geschmückten Panzern hätte fahren sollen. Diese Pläne wurden jedoch nicht realisiert und der Umfang des Festzuges gekürzt.179 Von den verbliebenen insgesamt neunundfünfzig Bildern des Festzuges 1967 thematisierte das letzte Drittel Ereignisse des 20. Jahrhunderts, weitere zwölf bezogen sich auf das vorangegangene Säkulum.180 Damit wurde auf 175 Vgl. mit dem bürgerlichen Historienspektakel des 19. Jahrhunderts in Abschnitt 4.4. ,Der Fürstenzug – Eine Heerschau des protestantischen Adels’ im Kaiserreich-Kapitel. 176 Vgl. Pressebericht, in: Freiheit, 15. 08. 1967. 177 Vgl. Fleischauer, Die Enkel, 102 – 105. 178 Kühne, Lutherstadt Wittenberg 1967, 32. 179 Vgl. Fleischauer, Die Enkel, 156. 180 Die 59 Bilder wurden zu 14 Komplexen zusammengefasst: Komplex I „Weltliche und geistliche Feudalgewalten bedrücken das Volk“ (Bild 3 – 6), Komplex II „Der Reformator Martin Luther und seine Freunde“ (Bild 7 – 9), Komplex III „Der Bauernkrieg“ (Bild 10), Komplex IV „Die Obrigkeit“ (Bild 11 – 12), Komplex V „Das Bürgertum und das werktätige Volk“ (Bild 13 – 21), Komplex XI „Die Universität“ (Bild 22), Komplex XII „Der Dreißigjährige Krieg“ (Bild 23), Komplex VIII „Die Freiheitskriege“ (Bild 24 – 27), Komplex IX „Die bürgerlich-demokratische Revolution 1848/49 und die Anfänge der revolutionären Arbeiterbewegung (Bild 28 – 31), Komplex X „Der industrielle Aufschwung des 19. Jahrhunderts“ (Bild 32 – 35), Komplex XI „Die deutsche Arbeiterklasse besiegt das Sozialistengesetz“ (Bild 36), Komplex XII „Das Volk macht Geschichte“ (Bild 37 – 42), Komplex XIII „Die Nacht des Faschismus“ (Bild 43 – 47), Komplex XIV „Das neue Leben – Frieden, Demokratie und Sozialismus“ (Bild 49 – 59). Vgl. Begleitheft ,Festzug 450 Jahre Reformation 1517 – 1967‘.

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einen in der DDR-Geschichtswissenschaft herrschenden Denkansatz Bezug genommen, den der Zeithistoriker Martin Sabrow auf die Formel „Futurität statt Historiozität“ bringt.181 Der Festumzug verschob in seiner Konzeption die Perspektive der historischen Erinnerung. Während in Wittenberg der historische Festumzug 1883 als Apologie der Gegenwart, der Zug 1892 hingegen als Flucht in die Vergangenheit diente, war der Zug 1967 als Vorgriff auf die Zukunft gedacht. Anders ausgedrückt: Während im 19. Jahrhundert ein beruhigender Vergangenheitsbezug vorgeherrscht hatte, dominierte 1967 ein mobilisierender Zukunftsbezug. Die Organisatoren präsentierten 1967 das Zeitgeschehen entlang der Linien der sozialistischen Metaerzählung, die Zukunftsträchtiges in der Vergangenheit aufzeigen sollten. Herausgehoben wurden vor allem Ereignisse, die den proklamierten historischen Fortschritt bedingten. Die Befreiungskriege, die 1848er Revolution, die Novemberrevolution 1918 oder die Befreiung durch die Rote Armee im Jahr 1945 bildeten folglich auch Säulen des lokalen Geschichtsverständnisses. Identität und Individualität der Lutherstadt in Form von Lokalreferenzen wie das Ende der Universität 1817, die Pflanzung der Luthereiche 1830, die Einweihung der Schlosskirche 1892 oder die Verleihung des Namenszusatzes „Lutherstadt“ spielten indes keine Rolle, es dominierte stattdessen die Erfolgsgeschichte des sozialistischen Staates. Einzig das erste Drittel des Festzuges präsentierte Themen der Reformations- und Lokalgeschichte, die als ein Zeitalter des Kampfes der fortschrittlichen Kräfte gegen die Unterdrückung dargestellt wurde. Dem Deutungsschema der Reformation als Frühbürgerliche Revolution folgend, stellte der erste Komplex die weltlichen und geistlichen Feudalgewalten dar, die das Volk bedrückten. Berittene Fronvögte trieben die armen Bauern zur Feldarbeit, während der Kurfürst mit seiner Geliebten in der fürstlichen Kalesche folgte. Der Festzug 1883 hatte Friedrich den Weisen noch mit seiner „lieblichen Gemahlin“182 präsentiert. Unter den Bedingungen der DDR-Geschichtspolitik war aus dem geachteten Landesvater hingegen ein absolutistischer Fürst geworden. Die Darstellung Friedrichs zeigt deshalb, wie die jeweiligen idealpolitischen Vorstellungen personifiziert worden sind. Passend zu diesem Geschichtsbild behauptet der im Jubiläumsjahr erschienene Stadtführer, die fürstlichen Feudalherren wären die eigentlichen Nutznießer der Reformation Martin Luthers gewesen.183 Die Reformation und ihr Wittenberger Hauptprotagonist spielten im Festzug 1967 nur eine untergeordnete Rolle. Lediglich drei Bilder nahmen darauf Bezug: Der Thesenanschlag, Luthers Übersetzung des Neuen Testaments auf der Wartburg sowie Luthers Mitstreiter. Die vielschichtige und umstrittene Rolle, die der Reformator im Geschichtsverständnis der DDR der 181 Vgl. Sabrow, Auf der Suche, 64. 182 Howald, Der historische Festzug, 7. 183 Vgl. Kühne, Lutherstadt Wittenberg 1967, 14.

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Abb. 51 Festzug 1967: Fronvögte treiben die Bauern zur Feldarbeit

Abb. 52 Festzug 1967: Der Kurfürst in seiner ,Kalesche‘

1960er Jahre einnahm, stand einer prominenteren Platzierung entgegen.184 Beide dargestellten Ereignisse – Thesenanschlag und Bibelübersetzung – 184 In der bisher einzigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Wittenberger Festzug 1967 argumentiert der Autor Alexander Fleischauer, die Organisatoren hätten auf eine pro-

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wurden als Ereignisse interpretiert, die den „Auftakt zur frühbürgerlichen Revolution in Deutschland“ bildeten und „die Grundfesten des Feudalismus erschütterten.“185 Bis zum Wartburgaufenthalt 1521 – 1522 sei Luthers Wirken deshalb positiv zu werten, äußerte sich der in Wittenberg wirkende Generalbevollmächtigte für die Lutherstätten Gerhard Brendler.186 Das sich im Festzug anschließende Bild des Bauernkriegs bildete den ideologischen Konnex zum inhaltlichen Schwerpunkt des Zuges: Luthers Reformation geriet in die falschen Hände, die Revolution erlitt eine Niederlage, die sich jedoch mit der Hoffnung verband, dass die Enkel es besser ausrichten mögen. Dies war die vorgegebene Botschaft, die der Festzug vermitteln sollte und sie wurde als Transparent dem vorletzten Teil des Zuges auch vorangestellt.187 Die Gestaltung des Festzuges im Jubiläumsjahr 1967 zeigt, dass staatssozialistische Gedächtniskultur nicht einfach, wie in bürgerlichen Gesellschaften, ein Verweis auf Geschichte im Sinne einer Selbstvergewisserung mit Hilfe von Kontinuität, ritueller Wiederholung oder Re-Präsentation der Vergangenheit ist. Vielmehr extrapoliert der staatssozialistische Traditionsbezug aus der Vergangenheit die ,gesetzmäßig‘ in die Zukunft führenden Linien.188 Die DDR stellte sich folglich im Festzug als den ,Endpunkt‘ einer durchlaufenen Geschichte historischer Emanzipationskämpfe dar. Das vermittelte Weltbild wies eine starke historische Komponente auf und stützte sich auf eine als wissenschaftlich begründet angenommene und so auch propagierte Heilsgeschichte, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer ihre politischen Vorstellungen legitimierenden Metaerzählung über den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte verdichtet wurden. Ob diese Botschaft jedoch tatsächlich glaubhaft vermittelt werden konnte, erscheint allerdings fraglich. Ein leitendes Mitglied des Ökumenischen Rates in Genf berichtete im Norddeutschen Rundfunk von begeisterten Zuschauern angesichts der historischen Darstellungen: „Aber bei den Propagandawagen wurde es stiller. Die Leute liefen weg oder kommentierten freimütig – sei es auch leise. Die Schlagzeilen […] waren doktrinär und geschrieben wie für kleine Kinder.“189

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minentere Platzierung Luthers verzichtet, weil die Gefahr, sich „ideologisch in die Nesseln zu setzen“, zu groß gewesen sei. Vgl. Fleischauer, Die Enkel, 157. Text Begleitheft ,Festzug 450 Jahre Reformation 1517 – 1967‘, 7. Vgl. Roy, Luther in der DDR, 164. Siehe Fotografie in Fleischhauer, Die Enkel, Umschlagseite; Zugleich Motto des 48. Bildes, der den Komplex XIII „Das neue Leben – Frieden, Demokratie und Sozialismus“ eröffnete. Der einleitende Text des Komplexes im Begleitheft lautet: „Unter der Führung der Arbeiterklasse beseitigte das Volk die materiellen und geistigen Trümmer des Faschismus, baute eine antifaschistisch-demokratische Ordnung auf und führte den Sozialismus zum Sieg“. Vgl. Begleitheft ,Festzug 450 Jahre Reformation 1517 – 1967‘, 15. Vgl. Boyer/Henke/Skyba, Geltungsbehauptungen im Staatssozialismus, 351. Vollständiger Bericht: „Nach zwei Stunden historischem Umzug, wobei die ganze Geschichte Deutschlands an uns vorbeizog (und ,beim Himmel‘, nirgends hat man noch so viele Pferde wie in der DDR), kamen die Wagen mit den sogenannten ,fortschrittlichen Schlagzeilen‘ des neuen Regimes. Beim historischen Teil herrschte gute Stimmung. Um mich herum versuchten

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Abb. 53 Luthers Thesenanschlag

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3.4 Die kirchliche Feier und die nationale Frage Zum ersten Mal in der Geschichte der Reformationsjubiläen kam es 1967 in Wittenberg nicht zu einer Zurschaustellung protestantischen Selbstbewusstseins, denn die evangelische Kirche befand sich in einer ausgesprochenen Defensivposition. Im Gegensatz zu vorangegangenen Feiern konnte sie sich nicht mehr auf die Mehrheit der Stadtbevölkerung stützen, denn diese hatte ihr längst den Rücken gekehrt oder verhielt sich unbeteiligt und abwartend. Der bis dahin erprobte Schulterschluss der Kirchengemeinde und des Predigerseminars mit der Stadtverwaltung zwecks Vorbereitung und Durchführung der Feiern sowie die Unterstützung führender Köpfe der Bürgerschaft, die sich bei früheren Jubiläen mittels Festkomitee aktiv in die Planungen eingebracht hatten, fiel ebenfalls weg. Hierauf reagierten die Kirchenvertreter vor Ort beispielsweise, indem ein eigenes Organisationsbüro im Predigerseminar aufgebaut wurde, dass alle kirchlichen Veranstaltungen koordinierte.190 Die Planungen hierfür hatten bereits zwei Jahre vor dem Jubiläum begonnen.191 Die erzwungene organisatorische Eigenständigkeit vor Ort war jedoch nicht das größte Problem der Kirchenvertreter. Eine noch größere Herausforderung bildete die Jubiläumskonkurrenz des Staates, der sich in nie zuvor praktizierter Intensität in die örtliche Gestaltung der Feierlichkeiten einmischte und diese politisch instrumentalisierte. Die Würdigung von Luthers Thesenanschlag durch die evangelischen Landeskirchen am historischen Ort des Geschehens war mit der nationalen Frage eng verbunden. Obwohl die Existenzbedingungen der deutschen Protestanten in Ost und West sich zunehmend voneinander unterschieden, hielten die Kirchenführungen bis in die 1960er Jahre hinein an der gesamtdeutschen Kircheneinheit fest. Deshalb war es der erklärte Wille der evangelischen Landeskirchen, die zentrale Refordie Wittenberger und ihre 70.000 Gäste zu raten, was jeweils vorgestellt wurde. Das machte viel Spaß. Aber bei den Propagandawagen wurde es stiller. Die Leute liefen weg oder kommentierten freimütig – sei es auch leise. Die Schlagzeilen ließen namentlich nichts zu raten übrig. Sie waren doktrinär und geschrieben wie für kleine Kinder. Der sozialistische Staat zeigte sich auf diese Weise als vorreformatorisch.“ Bericht von Pfarrer Albert van den Heuvel im Norddeutschen Rundfunk am 4. 11. 1967, abgedruckt in: Wilkens, Die Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik, 210. 190 „Für das Reformationsjahr 1967 vorgesehene kirchliche Veranstaltungen“, Faltblatt., in: Akte A II 53, Archiv Stadtkirche Wittenberg; Einen Rückblick auf alle kirchlichen Angebote bietet: Vahl, Reformation nach 450 Jahren. 191 Die ostdeutschen Vertreter der EKD bildeten 1965 einen Sonderausschuss, um das Jubiläum vorzubereiten. Hierüber wurde in einem Schreiben vom 03. März 1965 die Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen der DDR (KKL) informiert und Vertreter der VELKD (Ost) zur Mitarbeit eingeladen. Ein gemeinsamer, vorbereitender Ausschuss konstituierte sich am 15. Juni 1965. Vgl. Flügel, Konkurrenz um Reformation und Luther, S. 246; Auf lokaler Ebene begannen die Vorbereitungen unmittelbar im Anschluss daran. Vgl. Kostenvoranschlag Gemeindekirchenrat an EKU vom 1. 09. 1965, in: Akte A II 53, Archiv Stadtkirche Wittenberg.

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mationsfeier 1967 in Wittenberg stattfinden zu lassen. Der Rat der EKD überließ den ostdeutschen Brüdern und Schwestern die Organisation und versuchte durch eine konziliante Haltung, die gesamtkirchliche Säkularfeier nicht zu gefährden.192 Für die SED-Führung stand das Reformationsjubiläum 1967 jedoch ganz im Zeichen der deutsch-deutschen Konfrontation sowie der Abgrenzungspolitik gegenüber der Bundesrepublik: Die Vorbereitungen zum 450. Jahrestag der Reformation sind so vorzubereiten und durchzuführen, dass […] die politische wie moralische Einheit unseres Volkes gestärkt wird. Das schließt ein, dass die Feiern zu diesem Anlass keinem Selbstzweck dienen, sondern im Zusammenhang mit den Aufgaben zur allseitigen Stärkung der DDR stehen.193

Bereits die Jubiläumsplakette aus Meissner Porzellan mit der Aufschrift „Lutherstadt Wittenberg – DDR“ sowie „450 Jahre Reformation – Komitee der DDR“ sollte unterstreichen, wer hier rechtmäßig feierte. Mit der Besetzung nationaler Symbole erhob die SED den Anspruch darauf, als rechtmäßiger Wahrer der positiv besetzten deutschen Nationalgeschichte zu gelten.194 Nach staatlichem Willen durfte in Wittenberg keine gesamtdeutsche Feier stattfinden. So konnte man in einer Pressemitteilung, die nach dem Jubiläum erschien, lesen: Die Reformationsfeiern in unserer Stadt [sind – Anm. d. Verf.] ausschließlich Angelegenheit des Staates beziehungsweise der evangelischen Landeskirchen in der DDR […] Das ist eine klare Sprache, die den Bonner Alleinvertretungs-Anmaßungen – wie Luther es sagen würde – den Wind aus den Segeln nahm.195

Bei den zur Mitwirkung Angesprochenen sollte auf diese Weise ein ,WirGefühl‘ entstehen und Zustimmung zu den Leitideen und Werthaltungen der feiernden Institution geweckt werden, um deren kollektive Identität als Bürger der DDR zu stärken. Innere Differenzen sollten auf diesem Wege eingeebnet werden, während nach außen die Abgrenzung des ,Wir‘ zum ,Anderen‘ erfolgte.196 192 Wolfgang Flügel hat die diesbezüglichen Akten im Evangelischen Zentralarchiv gesichtet. Aus ihnen geht hervor, dass die gesamtdeutsche EKD sich bei den Planungen im Interesse der OstWest-Kirchengemeinschaft zurückhielt und auf Parallelinszenierungen verzichtete. Die westdeutschen Landeskirchen planten zwar eigene Feiern, gingen aber im Oktober 1966 noch von einer zentralen Feier am 31. 10. 1967 in Wittenberg aus. Vgl. Flügel, Konkurrenz um Reformation und Luther, 250. 193 „Entwurf. Informationen über Probleme der Durchführung der Feiern zum 450. Jahrestag der Reformation in der DDR“, 8. 9. 1967, zitiert in: Fleischauer, Die Enkel, 39. 194 Vgl. Roy, Luther in der DDR, 152. 195 „Wittenberg – eine Reise Wert“ [Zeitungsartikel, undatiert, genaue Quelle unbekannt], gefunden in Archiv Haus der Geschichte Wittenberg. 196 Vgl. Mitterauer, Anniversarium und Jubiläum, 87 f; Müller, Das historische Gedächtnis, 3; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 134 ff.

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Zwecks Durchsetzung ihres auf Abgrenzung angelegten deutschlandpolitischen Kurses hat die DDR-Führung sich dem kirchlichen Wunsch einer einheitlichen Feier in Wittenberg widersetzt und war entschlossen, eine Loslösung der ostdeutschen Landeskirchen von der EKD durchzusetzen.197 Entgegen der ursprünglichen Zusicherung, bei der Vergabe von Einreisegenehmigungen für offizielle kirchliche Gäste großzügig zu verfahren, machte das Politbüro beispielsweise im August 1967 deren Anwesenheit bei den Feierlichkeiten in Wittenberg von der Ablehnung bundesdeutscher Alleinvertretungsansprüche und des amerikanischen Vietnamkriegs abhängig.198 Bereits im März 1967 hatte sich der Bischof der Kirchenprovinz über die Ausgrenzung offizieller kirchlicher Gäste aus dem Westteil Deutschlands beklagt.199 Auch gegenüber gewöhnlichen westdeutschen Besuchern waren die Behörden der DDR besonders repressiv. An den Besucherzahlen der Lutherhalle lässt sich die Politik der Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik ablesen: In den letzten vier Monaten des Jahres 1967 konnten dort beispielsweise 565 Besucher aus den Vereinigten Staaten und 358 Gäste aus Skandinavien, aber nur 361 Besucher aus dem westlichen Teil Deutschlands begrüßt werden.200 Während die SED-Führung gegenüber den Kirchenleitungen unmissverständlich auf der Durchsetzung ihres deutschlandpolitischen Kurses der Abgrenzung bestand, gab sie sich in anderen Fragen konzilianter, denn Jubiläumssituationen sagen auch etwas über die Akzeptanz institutioneller Ordnungen aus.201 Auch wenn den Kirchen die zentrale Inszenierungshoheit über das Reformationsjubiläum aus den Händen genommen worden war, besaßen sie einen beträchtlichen Einfluss auf dessen Gelingen. Durch Teilnahmeverweigerung wie beim Festakt der staatlichen Melanchthon-Würdigung 1960 197 Vgl. Roy, Luther in der DDR, 152. 198 1966 hatte der kirchliche Ausschuss eine 800 Personen umfassende Gästeliste vorgelegt. Die Staatsmacht verlangte jedoch im August 1967 eine Reduktion der kirchlichen Gästeliste der offiziellen Feierlichkeiten in Wittenberg auf 100 Teilnehmer. Diese durften Repräsentanten der westdeutschen Landeskirchen, jedoch nicht der EKD sein. Zugleich sollten die Einreisenden eine Erklärung unterzeichnen, wonach sie die Bonner Alleinvertretungsansprüche ablehnten und sich gegen den Vietnamkrieg aussprächen. Für Gäste aus anderen westlichen Ländern, vor allem den USA, sollte die Kirche schriftlich die Verantwortung übernehmen. Ausführlich bei Flügel, Konkurrenz um Reformation und Luther, 259 f; Siehe auch: Lepp, Erinnerungsgemeinschaft, 136; Goeckel, Die evangelische Kirche in der DDR, 280; Abdruck der Verfügung des DDR- Innenministeriums zur Einreise westdeutscher Besucher vom 28. 08. 1967 in: Wilkens, Die Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik, 190 f. 199 Vgl. Bericht von Bischof Johannes Jänicke vom 11. 03. 1967, in: Schulze (Hg.), Berichte der Magdeburger Kirchenleitung, 221. 200 Vgl. Besucherstatistik Lutherhalle Wittenberg für den Zeitraum 26. August – 28. Dezember 1967, in: Akte 48, Archiv StLu. 201 In der historischen Jubiläumsforschung hat die affirmative Wirkung von Jubiläen bisher im Vordergrund gestanden. Demgegenüber hat die Tatsche, dass Jubiläumssituationen auch etwas über die Akzeptanz institutioneller Ordnungen aussagen, bisher wenig Beachtung gefunden. Eine Ausnahme bietet: Flügel, Reformationsgedenken im Zeichen des Vormärz.

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oder Gegeninszenierungen konnte die mit dem Jubiläum verbundene Stabilisierungsleistung in Gefahr geraten. Missglückte Jubiläumsinszenierungen lassen jedoch die im System bestehenden ,Haarrisse‘ sichtbar werden.202 Deshalb war die Präsenz kirchlicher Vertreter im staatlichen Festkomitee sowie deren Anwesenheit bei zentralen Festakten und Veranstaltungen aus staatlicher Sicht notwendig. Um ein Scheitern des Jubiläums zu verhindern, hatten sich beide Seiten im Vorfeld arrangiert und auf parallele Veranstaltungen unter strikter Abgrenzung der jeweiligen Zuständigkeit verständigt. Als der Status Quo unmittelbar vor Beginn der Feierlichkeiten an der rigiden Einreisepraxis zu scheitern drohte und der Bischof der Kirchenprovinz Sachsen Johannes Jänicke den Konsens aufkündigte, vergab die SED-Führung als Zeichen des Entgegenkommens letztendlich mehr Einreisegenehmigungen an kirchliche Gäste als ursprünglich gewollt.203 Dennoch standen auf der insgesamt einhundertundzwanzig Namen umfassenden Liste vom 27. Oktober 1967 nur sechzehn Gäste aus der Bundesrepublik, jedoch achtzehn aus Großbritannien, elf aus den Niederlanden und sieben aus den Vereinigten Staaten204 – ein klares Indiz für den Erfolg des Versuchs der SED, die Kircheneinheit Deutschlands aufzuheben. Die kirchlichen Veranstaltungen fanden in Wittenberg 1967 wie vorgesehen statt, obwohl es hinter den Kulissen zu schweren Zerwürfnissen vor allem zwischen dem Bischof der Kirchenprovinz Sachsen Johannes Jänicke und den Vertretern des Staates gekommen war. Jänicke sowie der Wittenberger Propst Berndt waren am 21. September aus dem Festkomitee ausgetreten, hatten diesen Schritt jedoch nicht öffentlich gemacht.205 Um den Schein zu wahren, wurden die kirchlichen Veranstaltungen in den staatlichen Pressemitteilungen aufgeführt und der thüringische Landesbischof Moritz Mitzenheim saß beim Wittenberger Festzug sogar auf der Ehrentribüne. Mitzenheim war ein wichtiger Ansprechpartner der Regierungsstellen, denn in dem von ihm beschrittenen Thüringer Weg nahm er eine im Vergleich zu anderen Landeskirchen konziliantere Haltung gegenüber dem SED-Staat ein.206 Die Staatspartei war ihrem Ziel, die gesamtdeutsche Kircheneinheit demonstrativ auf202 Vgl. Müller, Das historische Jubiläum, 58. 203 Vgl. Jänicke, Ich konnte dabei sein, 227. 204 Vgl. Gästeliste, Stand 27. 10. 1967, in: Akte B 37b, Archiv Stadtkirche Wittenberg. Die in der Dokumentation der Lutherischen Monatshefte gemachten Zahlenangaben weichen hiervon ab, bestätigen aber das Gesamtbild. Dort heiß es, 44 der 500 aus der Bundesrepublik und 167 der insgesamt 350 aus dem westlichen Ausland eingeladenen Gäste hätten eine Einreisegenehmigung erhalten. Vgl. Dokumentation Reformationsjubiläum 1967, 563. 205 Vgl. Bericht von Bischof Johannes Jänicke auf der 2. Tagung der VI. Synode am 19. Oktober 1968, in: Harald Schulze (Hg.), Berichte der Magdeburger Kirchenleitung, 248. 206 Die Thüringer Landeskirche hatte im Mai 1966 ein separates Festkomitee gegründet, um die Feierlichkeiten auf der Wartburg im Mai 1967 vorzubereiten. Hierdurch konterkarierte sie das Bemühen der evangelischen Kirchen, gegenüber der Staatsmacht als Einheit aufzutreten. Vgl. Seidel, Thüringer Weg, 90 – 92.

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zuheben, in Wittenberg ein gutes Stück näher gekommen. Zwei Jahre später trennten sich die evangelischen Kirchen der DDR von der EKD, gründeten den Bund der evangelischen Kirchen in der DDR und akzeptierten den zweiten deutschen Staat als Ort ihres Handelns.207

3.5 Stadttradition und Leistungsschau Hinsichtlich der in Wittenberg begangenen Reformationsjubiläen hatten die kirchlichen Institutionen bereits im 19. Jahrhundert ihre Inszenierungshoheit zugunsten eines emanzipierten Bürgertums verloren, das in Form von Festkomitees die Gestaltungsinitiative übernommen hatte. In den 1920er und 1930er Jahren ging diese allmählich an eine professionalisierte Kommunalbürokratie über. Mit dem Ende der politischen Autonomie der kommunalen Ebene ergriffen nach 1945 übergeordnete staatliche Stellen die Initiative, denn lokale Handlungsspielräume und Gestaltungsfreiheiten bei Jubiläen und Stadtfesten hingen in der DDR wesentlich davon ab, wie unmittelbar zentrale Interessen berührt wurden. Vor allem bei Feiern von überregionaler Bedeutung ist eine starke Asymmetrie zugunsten des Staates zu beobachten, dessen Planungen des Reformationsjubiläums bereits 1964 begonnen hatten und sich in der Gründung eines Festkomitees 1966 konkretisierten. Die Interpretationshoheit wurde nicht mehr den Stadtbewohnern überlassen, sondern über eine institutionelle Anbindung auf der Grundlage zentraler Planung gesteuert: „Lokaler Stolz und staatliche Verpflichtung flossen zusammen“,208 beschrieb das Neue Deutschland die Jubiläumsorganisation. Das Wittenberger Reformationsfest ist deshalb als eine DDR-typische Staatsstadtfeier einzuordnen, bei der der Zentralstaat auf städtischer Bühne die Hauptrolle innehatte und kommunale Akteure zu Mitspielern degradierte.209 Die Festgestaltung sollte den Wandel der preußischen Provinzstadt zu einer aufstrebenden sozialistischen Industriemetropole versinnbildlichen. Zu diesem Zweck wurden große Anstrengungen unternommen, um das Stadtbild aufzuwerten. Dem Politikwissenschaftler Münkler zufolge wurde in der DDR „die Memorialkultur […] zeitlich und räumlich entgrenzt und überlagerte noch die profansten Räume der alltäglichen Lebenswelt“, um einen „offiziellen Geschichtsrahmen“ herzustellen, „der bis ins Detail hinein politisch geplant war und der ideologischen Leitung und Lenkung der Bevölkerung diente.“210 Hatte man in Vorbereitung auf das Wittenberger Melanchthonjubiläum 1960 lediglich dessen Wohnhaus neu verputzt,211 wies die Stadt vor dem Jubiläum 207 208 209 210 211

Vgl. Geissel, Der Weg zum DDR-Kirchenbund. Reformationsjubiläum in Wittenberg, Neues Deutschland, 25. 10. 1967. Vgl. Saldern, Inszenierte Einigkeit, 59. Münkler, Das kollektive Gedächtnis der DDR, 460 und 465. „Plandiskussion über den Stand und die Perspektive der Wittenberger Museen 1965 – 1970“, in: Akte 28, Archiv StLu.

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1967 insgesamt achtzig Baustellen auf. Hierzu gehörte der Umbau des Wittenberger Hauptbahnhofes, die Installierung einer modernen Straßenbeleuchtung, aber auch die Restaurierung der Reformatoren-Denkmäler auf dem Marktplatz und des Renaissance-Marktbrunnens. Von den insgesamt 500.000 Mark an städtischen Mitteln für die Sanierungsarbeiten an Gebäuden im Kommunalbesitz floss mit 200.000 Mark für den Gebäudekomplex Lutherhaus und Augusteum sowie 100.000 Mark für die Schlosskirche der Großteil in diese beiden touristischen Hauptanziehungspunkte.212 Außerdem wurden zahlreiche Einzelhandelsgeschäfte und gastronomische Einrichtungen in Regie der beiden staatlichen Handelsorganisationen Konsum und HO modernisiert. Hierzu gehörte das sich an der Ecke Markt und Collegienstraße befindende Kaufhaus Magnet und der neu eröffnete Wittenberger Hof, um ausgewählten Gästen eine adäquate Unterkunft bieten zu können.213 Wichtig war den Organisatoren, möglichst alle Teile der Stadtbevölkerung in die Feierlichkeiten einzubeziehen. Martin Luther sollte nicht nur den evangelischen Christen, sondern allen Wittenbergern gehören: In allen […] Wohnbezirken, den Betrieben und Institutionen, den Parteien und Massenorganisationen, ist die gesellschaftliche Arbeit so zu entwickeln, dass eine breite Einbeziehung unserer Bürger gewährleistet wird. Das erfordert, dass eine Vielzahl von differenzierten Veranstaltungen durchgeführt werden.214

Um das integrative Ziel zu erreichen, wurde in Anlehnung an bereits 1933 gemachte Erfahrungen das Reformationsjubiläum ,entkonfessionalisiert‘. Nicht der Festgottesdienst, sondern ein historisches Marktspektakel mit Volksfestcharakter bildete den Höhepunkt der Veranstaltungsreihe. Als unpolitischer Programmbestandteil lockten die Historischen Markttage mit mittelalterlicher Atmosphäre und zahlreichen außergewöhnlichen Verkaufsund Unterhaltungsangeboten Besucher aus der ganzen Region nach Wittenberg. An diesem Beispiel lässt sich die von Winfried Müller beschriebene Selbstreferentialität des institutionellen Mechanismus‘ Jubiläum ablesen:215 Die Initiatoren orientierten sich stets an dem, was ihre Vorgänger auch schon gemacht hatten und reproduzierten es. Die Gestaltung des historischen Marktes 1967 analog zum Markttreiben 1933 zeigt, dass diese Selbstreferentialität mitunter nahtlos in die Kopie überging.216 Die Markttage schufen einen 212 Zu Baumaßnahmen vgl. Interview Bürgermeister Siegfried Merker, in: Freiheit, 15. 09. 1967. 213 Vgl. Artikel „Gute Aussichten. Wittenberg wird würdiger Gastgeber sein“ und „So wird unser Bahnhof der Zukunft aussehen“, in Freiheit vom 8. 02. 1967 und vom 13. 02. 1967 sowie Berichterstattung in: Freiheit 02. 03. 1967. 214 „Entschließung der Teilnehmer des erweiterten Kreisausschusses der Nationalen Front des demokratischen Deutschland Wittenberg zur Vorbereitung und Durchführung der Feierlichkeiten im Jahr 1967“, 28. 09. 1967, in: Akte 22, Archiv StLu. 215 Vgl. Müller, Instrumentalisierung und Selbstreferenzialität des historischen Jubiläums. 216 Ein Vergleich der Aufstellpläne für den Marktplatz zeigt, dass die Organisatoren 1967 die Pläne aus dem Jahr 1933 als Blaupause genutzt haben. Siehe Planstudie zum Historischen Markt 1967

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Erlebnisraum abseits des DDR-Alltags, der nicht nur wegen der ungewohnten historischen Atmosphäre, sondern auch wegen des vielfältigen Warenangebots attraktiv war. Das Konzept stand exemplarisch für eine Stadthistorie im traditionellen Sinn und repräsentierte damit einen Geschichtsdiskurs, der auf große Resonanz bei Einheimischen und Besuchern stieß.217 Die hinter dem Rathaus aufgebaute ,Leistungsschau‘ der volkseigenen Industrie ergänzte das Marktspektakel und vermittelte das gewünschte Bild einer Wohlstandsgesellschaft, die auf der wirtschaftlichen Leistungskraft der DDR gründete.218

Abb. 54 Die Leistungsschau der volkseigenen Industrie

Die umfangreiche Vorbereitung des Reformationsjubiläums durch staatliche Stellen richtete sich nicht nur an die städtische Binnenöffentlichkeit. Wittenberg fungierte auch als Bühne, auf der sich der zweite deutsche Staat einer internationalen Öffentlichkeit präsentierte. Der Staat nutzte auf diesem Weg das symbolische Kapital der Stadt. Wer die politische Macht habe, besitze ein hohes Maß an symbolischer Macht und habe deshalb bessere Möglichkeiten bei der medialen Vermittlung, weist Raina Zimmering auf die Bedeutung von

in: Archiv Kinder- und Jugendtreff Wittenberg; Plan 1933, abgedruckt in Wittenberger Zeitung vom 5. 9. 1933. 217 In den 1960er Jahren boten derartige Geschichtsdiskurse aber auch ein gewaltiges Konfliktpotential, wie das Beispiel der Historischen Markttage in Leipzig 1965 zeigt. Vgl. Rembold, Eine Bühne der DDR-Außenpolitik, 303 ff. 218 Vgl. Planstudie zum Historischen Markt 1967, in: Archiv Kinder- und Jugendtreff Wittenberg.

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Herrschaft bei der Implementierung politischer Deutungen hin.219 Zur symbolischen Herrschaftsdemonstration wurde in Wittenberg die Ausschmückung des Stadtraums zentral gesteuert und beinhaltete stets das für das Jubiläumsjahr 1967 entworfene Logo. Bereits an den Zufahrtsstraßen grüßten Schilder die Besucher.220 In der Innenstadt waren internationale Fahnengruppen sowie beleuchtete Vitrinen mit touristischen Informationen in vier Sprachen aufgestellt. Die Stadtverwaltung forderte die Hausgemeinschaften auf, an den Festtagen im Oktober ihre Häuser mit Fahnen, Wimpelketten und Girlanden zu schmücken.221 Diese visuelle Präsentation sollte Sichtbarkeit, Offensichtlichkeit und Wahrheit suggerieren.222 Ziel war es, dass „tausende Ausländer, die, über unsere Republik oft schlecht informiert, die Lutherstadt besuchen […] ein Stück Wahrheit mehr über die DDR in ihre Heimat mitnehmen“ sollten.223 Die denkmalpflegerischen Maßnahmen an den Gedenkstätten, die bauliche Aufwertung des historischen Altstadtraums sowie üppige Schaufensterauslagen sollten die wirtschaftliche Leistungskraft des Sozialismus demonstrieren. Ein Pressebericht gab die beabsichtigte Botschaft folgendermaßen wieder : „Ein umfangreiches Warenangebot in bester Qualität demonstriert auch den ausländischen Besuchern eindeutig, wie unser Wohlstand dank der klugen Politik der Partei und des Fleißes der Werktätigen gewachsen ist“224 Das Interesse an ausländischen Besuchern diente aber nicht nur Propagandazwecken, denn auch ökonomisch wollte der Staat in Wittenberg von der internationalen Aufmerksamkeit profitieren. Bereits 1965 machte die Stadtverwaltung mit Hinweis auf die sehr kurze Vorbereitungszeit des zurückliegenden Melanchthonjubiläums darauf aufmerksam, für die bevorstehende Reformationsfeier in Skandinavien, den Niederlanden, den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik langfristig zu werben.225 Als Devisenbringer waren die internationalen Gäste hochwillkommen. Im Jubiläumsjahr wurde zu diesem Zweck einer der ersten Intershops der DDR im Hotel Wittenberger Hof eingerichtet, um mit der Kaufkraft westlicher Touristen harte Währungen in die staatlichen Kassen zu spülen.226 Das Gedenkmünzenangebot gegen Valuta diente dem gleichen Zweck.227 Dass Wunsch und Wirklichkeit allerdings oft auseinanderklafften, zeigt die 1966 entstandene Denkschrift des Lutherhallendirektors Thulin. Er beklagte, dass „Ausländer trotz ihres guten Willens Wittenberg als Ziel ihrer Sehnsucht nicht erreichen konnten, weil oft kurz219 220 221 222 223 224 225 226 227

Vgl. Zimmering, Mythen in der Politik der DDR, 34. Pressefoto, in: Freiheit, 7. 09. 1967. Pressebeitrag in: Freiheit, 26. 09. 1967. Vgl. Bormann, Urbane Erlebnisräume, 106. Pressebericht in: Neues Deutschland, 25. 10. 1967. Pressebericht in: Freiheit, 26. 10. 1967. „Information zur Plananalyse der Museen Wittenbergs“, in: Akte 28, Archiv StLu. Vgl. Böske, Abwesend anwesend, S. 217; Siehe auch: Zatlin, Consuming Ideology, 555 f. Vgl. Katalog Gedenkmedaillen zu den Nationalen Jubiläen 1967, in Akte 22, Archiv StLu.

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sichtige Entscheidungen die Erfüllung solcher Wünsche hinderten oder wenigstens verzögerten.“228 Nicht nur an politischen Vorgaben, sondern auch begrenzten touristischen Ressourcen scheiterte ein pulsierender Besucherstrom. „Es ist sehr bedauerlich, dass Wittenberg eine sehr geringe Bettenkapazität besitzt und dadurch mehrtägige Besuche in Wittenberg oft scheitern müssen“,229 konstatierte der Lutherhallendirektor 1966. Im Jubiläumsjahr zeigte sich besonders deutlich, dass Wittenberg den Anforderungen großer Zusammenkünfte nicht mehr gewachsen war. Das Problem mangelnder Hotelbetten versuchte die Stadtverwaltung mit 1.100 Betten in Privatquartieren und 320 Übernachtungsmöglichkeiten in Schlafwagenwaggons zu lösen.230 Außerdem wurden zahlreiche Gäste in Einrichtungen der benachbarten Kurstadt Bad Schmiedeberg untergebracht, wo auch der – aus staatlicher Sicht eher nebensächliche – ökumenische Empfang der evangelischen Kirche stattfinden musste.231

4. Erbe und Tradition – Eine differenzierte Sicht in den 1970er und 1980er Jahren 4.1 Heimat- und Regionalgeschichte Geschichtlichen Umbrüchen folgen meist verschärfte Legitimationskämpfe, bei denen institutionelle Leitideen neu formuliert werden müssen. Mit zunehmender Etablierung der neuen Verhältnisse wird dann die Aneignung der Vergangenheit im Horizont der eigenen Deutung programmatisch ausgebaut. In der DDR setzte ab den 1970er Jahren eine intensivere Beschäftigung mit den Teilen der Geschichte ein, die nicht nur die progressiven und zur Kontinuitätskonstruktion geeigneten Traditionen aufgriffen, sondern auch das ,weniger fortschrittliche Erbe‘ ins Blickfeld rücken ließen. Die Deutungseliten erkannten, dass die stützende Erzählung zur Konstruktion einer eigenständigen DDR-Identität nicht allein der antifaschistische Gründungsmythos sein konnte. Diese Neuorientierung steht in einem engen Zusammenhang mit der Suche des zweiten deutschen Staates nach verwendbaren Traditionsbeständen, die in eine eigene Nationalgeschichte eingebaut werden konnten.232 Eine große Bedeutung erlangte in der DDR die Heimat- und Regionalge228 Abschrift Schreiben Oskar Thulin, in: Akte 29, Archiv StLu. 229 Ebd. 230 Vgl. Interview Bürgermeister Siegfried Merker, in: Freiheit, 15. 09. 1967; Berichterstattung in Freiheit, 26. 09. 1967. 231 Dokumentation Reformationsjubiläum 1967 in: Lutherische Monatshefte 11 (1967), 562 – 566. 232 Vgl. Neuhäuser-Wespy, Erbe und Tradition in der DDR; Schulz, Die DDR-Geschichtswissenschaft in der Mitte der 70er Jahre.

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schichte. Der zweite deutsche Staat hat den traditionellen Regionalkulturen die Idee der Heimat, insbesondere der ,sozialistischen Heimat‘, entgegengesetzt. Das Konzept für eine marxistische Regionalgeschichte, die im Gegensatz zur bürgerlichen Landesgeschichte stand, fasste der Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte an der Universität Leipzig, Max Steinmetz, 1961 zusammen. Nach Steinmetz sollte sie stets in Verbindung mit überregionaler, nationaler und internationaler Geschichte bewertet werden. Kennzeichnend für diese Art der Historiographie war die verbreitete Einbeziehung von Laien, denn die kooperative Erforschung der Regionalgeschichte durch Laien und Fachleute sollte das sozialistische Heimatgefühl stärken.233 Indem Verbundenheit mit der engeren Heimat, mit Stadt und Region und ihrer Geschichte, gepflegt wurde, sollte die Verbundenheit mit der ,sozialistischen Heimat DDR‘ hergestellt werden. Durch eine geschickt gesteuerte Identitätspolitik konnte die Stadt auf diese Weise Bindungskräfte auslösen, die hervorzurufen dem Staat in gleicher Weise nicht möglich war. Ein Ziel der im Rahmen der Heimatpflege betriebenen Identitätspolitik hatte ursprünglich darin bestanden, traditionelle bürgerliche Milieus in der DDR an den zweiten deutschen Staat zu binden, um die Arbeiter- und BauernMacht von innen zu stabilisieren. Diese relative Rücksichtnahme konservierte alte Strukturen und gesellschaftliche Zusammenhänge und bildete den Ausgangspunkt für die Frage der Fortdauer und Resistenz traditionaler sozialer und kultureller Milieus.234 In Wittenberg hatte Oskar Thulin seit 1948 zum Lutherhallen-Arbeitskreis beispielsweise rund siebzig Laien zu Arbeitsabenden in das Refektorium des Museums eingeladen und der gewünschten Heimatbindung Rechnung getragen.235 Er verankerte das Museum hierdurch stärker im öffentlichen Bewusstsein der Stadt, behielt aber gleichzeitig die Deutungshoheit über die Reformationsgeschichte und schuf eine binnenstädtische Loyalitätsbasis, die ihm als Vertreter eines tradierten ,bürgerlichen‘ Geschichtsverständnisses bei den ideologischen Konflikten der 1950er und 1960er Jahre den Rücken stärkte. In den ausgehenden 1970er Jahren erlebte die lokale Geschichtsforschung im Kontext der „Historisierung des öffentlichen Bewusstseins“236 eine Aufwertung.237 Die Renaissance des historischen Regionalbewusstseins – wenngleich oftmals in folkloristischem Gewand – schien einen Bedarf an Identifikation befriedigen zu können, dem der SED-Staat immer weniger gerecht werden konnte. In Wittenberg ist diese Akzentverschiebung offensichtlich: Der ganz auf die Zukunft gerichtete zeitpolitische Impetus der 1950er und 233 Vgl. Sonnet, Heimat und Sozialismus, 122 f; Für die zeitgenössische DDR-Perspektive vgl. Walter Schmidt, Nationalgeschichte der DDR und das territorialstaatliche historische Erbe. 234 Vgl. Kleßmann, Die Beharrungskraft traditioneller Milieus in der DDR. 235 Vgl. Thulin, Die Lutherhalle heute. 236 Schulz, Die DDR-Geschichtswissenschaft, 228. 237 Vgl. Assmann/Frevert, Geschichtsvergessenheit, 242; Wolfrum, Geschichte als Waffe, 124; Brinks, Die DDR-Geschichtswissenschaft, 287 ff.

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1960er Jahre war zunächst mittels Chemiepavillon, fortschrittsorientierter Ausstellungspraxis im Heimatmuseum oder sozialistischem Festzug 1967 ansichtig gemacht worden. Ab den späten 1970er Jahren geriet hingegen der traditionelle Vergangenheitsbezug in das Blickfeld und in der Heimat- und Geschichtspolitik flossen Zeit- und Raumparadigma zusammen. In Wittenberg war mit der Busbeschriftung Chemiestadt im Jahr 1977 letztmalig versucht worden, die Kontinuität der Lutherstadt zu brechen. Das Scheitern des Versuchs stützt Rolf Lindners Konzept eines Habitus’ der Stadt. Er geht davon aus, dass Städte eine „singuläre Beschaffenheit“ haben und „prädisponiert“ seien „in ihrer Haltung gegenüber Einwirkungen von außen.“238 Beflügelt wurde das Interesse der Bewohner an ,ihrer‘ Lutherstadt durch Helmar Junghans’ 1979 erschienenes Buch Wittenberg als Lutherstadt,239 das für die Wittenberger eine vergleichbare Funktion hatte wie Fritz Löfflers Das alte Dresden für die Bewohner der sächsischen Metropole. So gründete beispielsweise der Kulturbund 1979 mit der Gesellschaft für Heimatgeschichte eine neue Sektion, die die Aktivitäten historisch interessierter Laien koordinierte und Heimatforscher unterstützte.240 Die Laienarbeit barg Chancen für eine außerhalb der wissenschaftlichen Institutionen angesiedelten ,Geschichte von unten‘. Das vermittelte Geschichtsbild lag nicht mehr auf einer Generallinie, sondern beruhte auf einem pluralen Diskurs als die Summe individueller Wahrnehmungen. Ungeachtet der konträr ausgerichteten Kompetenzen und Deutungshoheiten zeigten sich an dieser Stelle Handlungsräume, die inoffizielle, zum Teil auch ungewollte, Autonomien eröffneten. Ein wichtiges Ergebnis dieses Engagements in Wittenberg war die Veröffentlichung einer Reihe lokalgeschichtlicher Arbeiten, die von interessierten Laien verfasst worden waren, sich mit unterschiedlichen Themen der Stadtgeschichte auseinandersetzten und sich an ein breites Publikum richteten. Die Schriftenreihe des Stadtgeschichtlichen Museums Wittenberg begann 1977. Im Jahresrhythmus erschienen in der Reihe Arbeiten zum Wittenberger Stadtbild zur Zeit der Universität, zum Schloss, zum frühmodernen Gesundheits- und Sozialwesen, zum Röhrwasser, den Gedenktafeln und weiteren lokalgeschichtlichen Themen, die sich fast ausnahmslos auf die Stadtgeschichte vor der beginnenden Industrialisierung beschränkten.241 Ergänzt wurden die heimatgeschichtlichen Arbeiten von einer seit 1984 erscheinenden Schriftenreihe der Staatlichen Lutherhalle Wittenberg, in der über den reformationsgeschichtlichen Kontext des Museums hinaus Themen der Stadtgeschichte Berücksichtigung fanden. Außerdem erschienen zahlreiche Aufsätze in der 238 239 240 241

Lindner, Der Habitus der Stadt, 48. Vgl. Junghans, Wittenberg als Lutherstadt. Vgl. Dieter Schäfer, Denkmalpflege und Heimatgeschichte im Kulturbund, 201. Die Schriftenreihe des Stadtgeschichtlichen Museums Wittenberg begann 1977 und erschien im Jahresrhythmus bis 1991.

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vom Kulturbund herausgegebenen Reihe Aus Fläming, Aue und Heide.242 Die lokalgeschichtlichen Veröffentlichungen schufen einen Vorstellungsraum, der die Wahrnehmung Wittenbergs als historische Stadt prägte. Es zeigte sich, wie in einem narrativen Raum die historische Stadt als Ort der Identifikation, der Wahrnehmung und der Kommunikation gegen die moderne Industriestadt gestärkt wurde. Die historische Stadt und ihre Geschichte als wirkungsmächtiges Kontinuum wurden aber nicht nur in den Veröffentlichungen zur Lokalhistorie sichtbar, sondern übten auch Einfluss auf die Gestaltung von Jubiläen und Gedenktagen sowie auf die Entwicklung des Wittenberger Fremdenverkehrs in den 1980er Jahren aus. So wurde das Lutherjubiläum 1983 beispielsweise als volkstümliches Historienfest mit Zollschein, Stadtwache und Marktherold inszeniert.243 Die Sonderausstellung der Lutherhalle über die Mode zur Lutherzeit sowie eine historische Modenschau im Jahr 1987 deuteten eine vorsichtige Öffnung des Museums gegenüber alltagsgeschichtlichen Fragestellungen an und popularisierten das Wittenberg der Reformationszeit.244 Die Eröffnung der Sonderausstellung am Hochzeitstag Martin Luthers stärkte außerdem eine Tradition, die bereits ein Jahr zuvor begründet worden war. „Wir feiern Luthers Hochzeitstag – Begründung einer neuen Traditionsveranstaltung“ überschrieben die Autoren ihren Bericht in der hauseigenen Publikation und ahnten nicht, was sie da ins Rollen gebracht hatten.245 Wenige Jahre später setzten die Wittenberger Lokalpolitiker die Tradition fort und machten das Thema zum Anlass des Wittenberger Stadtfestes. Auch in anderer Hinsicht konnte Wittenberg nach der deutschen Wiedervereinigung auf die in den 1980er Jahren gelegten Grundlagen aufbauen. Viele Akteure sind als Stadtführer tätig gewesen, haben neue Generationen von Gästeführern ausgebildet und touristische Publikationen verfasst. Die Gründung zahlreicher historischer Vereine in den 1990er Jahren, die Tradition der historischen Wittenberger Stadtfeste sowie die Formierung einer heritage industry246 wurzelt in den Aktivitäten der 1980er Jahre und wurde konstitutiv für die gegenwärtige Repräsentation Wittenbergs als Lutherstadt. Das hohe lokalgeschichtliche Interesse zeigt, dass der Transport geschichtlicher Bilder generationen- und herkunftsübergreifend wirkte. Die stets auf die Reformationszeit rekurrierende Geschichte der Stadt konstituierte die Grundelemente eines systemübergreifenden kulturellen Gedächtnisses, das sich in ,Bildern‘ vom Wesen und Charakter Wittenbergs mani242 243 244 245 246

Vgl. Böhmer/Kirsten, Der Gemeine Kasten; Stiegler, Sieben Hemden gut und böse. Vgl. Reportage „Mit Zollschein ins Marktgetümmel“, Für Dich 46 (1983), 7 – 9. Vgl. Stiegler, Mode zur Lutherzeit. Vgl. Wir feiern Luthers Hochzeit, 62. Unter heritage industry ist die Vermittlung historischer Stoffe in Form von leicht zu konsumierenden, erlebnis- und emotionsorientierten Angeboten durch private Dienstleister zu verstehen. Eine ausführliche Erklärung des Phänomens liefert das Kapitel Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg in der Gegenwart.

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Abb. 55 Die historischen Markttage in den 1980er Jahren

festierte. Der Stadtsoziologe Rolf Lindner spricht in diesem Zusammenhang von einem „geistigen Kanal zwischen vergangener Erfahrung und zukünftigen Handlungen“ als „Matrix von Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmustern und als Prisma, durch das neue Erfahrungen gebrochen werden.“247 In Wittenberg hatte, ungeachtet mannigfaltiger ideologischer Überformungsversuche, das Aussterben einer die Stadt traditionell prägenden evangelischen Bürgerschicht nicht zu einer gründlichen Neuformierung tradierter Geschichtsbilder innerhalb der nächsten Generation geführt. Sie er247 Lindner, Textur, 87.

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wiesen sich vielmehr gegenüber allen Instrumentalisierungsversuchen als resistenter Stützpfeiler des Selbstverständnisses als Lutherstadt. Unter diesen Bedingungen konnte beim Lutherjubiläum 1983 zwar an das bereits 1967 praktizierte Konzept der Historischen Markttage angeknüpft werden, eine erneute Inszenierung einer sozialistischen Metaerzählung mittels Festzug war jedoch unmöglich, weil die DDR längst ihr utopisches Potential erschöpft hatte. 4.2 Der Gang durch das ,revolutionäre Wittenberg‘ Die große Resonanz der von bürgerlichen Schichten getragenen heimatgeschichtlichen Aktivitäten erregten Aufmerksamkeit und Misstrauen bei lokalen Repräsentanten von Partei und Staat. Nicht zuletzt die Schwerpunktsetzung auf traditionelle Themen der Stadtgeschichte drohte, die für die Herrschaftslegitimation so wichtige Geschichte der Partei und Arbeiterklasse zu überlagern. „Je weiter wir auf dem Weg des Sozialismus voranschreiten, desto notwendiger wird es, dass sich unsere Menschen mit der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung vertraut machen“,248 schlussfolgerte der Vorsitzende der SED-Kreisleitung. Die Deutungseliten des Sozialismus konnten schwerlich auf eine eigene Erinnerung verzichten, da diese ihr Recht auf Existenz begründete sowie ihren Zusammenhalt festigte.249 Lokal- und Heimatforscher hatten allerdings kaum über dieses Kapitel der Stadtgeschichte gearbeitet. So kam es zur Einrichtung von Kommissionen für Betriebsgeschichte in den volkseigenen Piesteritzer Industrieunternehmen250 und einer Kreiskommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der Kreisleitung der SED Wittenberg, die 1986 als ein Arbeitsergebnis einen „Gang durch das revolutionäre Wittenberg“ publizierte.251 Außerdem zeigten die SED-Funktionäre auch in den Veröffentlichungen des Kulturbundes Präsenz mittels politikgeschichtlicher Aufsätze.252 Die 1985 durch das stadtgeschichtliche Museum erarbeitete Chronik Wittenbergs ist ein weiterer Versuch, die Stadtgeschichte sozialistisch zu überschreiben und einen Bogen zu spannen von der „Besiedlung Wittenbergs unter urgesellschaftlichen Verhältnissen“ über den „vollentfalteten Feudalismus“ und die „kapitalistische Gesellschaftsordnung“ bis zum „Wittenberg im sozialistischen Aufbau“. „1983 ist das Karl-Marx Jahr“ wird beispielsweise der Abschnitt eines Jahresrückblicks eingeleitet, welches in der Erinnerung der Wittenberger eher als Lutherjahr präsent geblieben ist. „Das Wirken Martin Luthers prägte nicht unwesentlich unsere Stadt“, konzediert zwar der Autor in 248 249 250 251 252

Vorwort Albert Schulzki, in Lau, Geschichte vor der Haustür. Vgl. Lüdtke, Wer handelt? Die Akteure der Geschichte. Vgl. Oelschläger, Im Archiv geblättert. Lau, Geschichte vor der Haustür. Vgl. Lau/Schramm, Karl Venediger – ein Staatsanwalt des Volkes; Lau/Richter, Theophil Rybarczyk – ein kommunistischer Kommunalpolitiker.

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seiner Einleitung, aber „in der Gegenwart gibt sie das Bild einer pulsierenden Industriestadt ab, die unter der Arbeiter- und Bauernmacht einen enormen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung genommen hat.“253 Die Einmischung des staatsparteilichen Herrschaftsträgers SED in die Heimatgeschichtsschreibung verweist auf die Relevanz der Stadtrepräsentation für die kulturelle Dimension der Herrschaftspraktiken. Im 1986 erschienenen Gang durch das revolutionäre Wittenberg tritt die von der SED angestrebte Revision der in der Stadt sichtbaren Geschichte hervor, indem statt der ,klassischen‘ Information zu den Örtlichkeiten und Bauten Verknüpfungen mit Episoden aus der Geschichte des Arbeiterprotestes ausgebreitet werden.254 Die Akteure erzählten die städtische Vergangenheit in den Kategorien einer materialistischen Geschichtsentwicklung im Allgemeinen und einer siegreichen Geschichte der Arbeiterbewegung im Besonderen.255 Einen zentralen Platz nahmen beispielsweise die Mitteldeutschen Arbeiteraufständen 1921 ein, denen eine am Schloss angebrachte Gedenktafel gewidmet ist.256 Die entsprechenden Publikationen der Kreisgeschichtskommission und der Kommissionen für Betriebsgeschichte gerieten jedoch unversehens zu einer KPD-Geschichte, die wiederum ein Vorbote der SED darstellte. In ihnen wurde eine Fortschrittsgeschichte skizziert, die entsprechend des gängigen Geschichtsbildes nur im sozialistischen Aufbau und in einer kommunistischen Zukunft liegen konnte. Die Darstellung des Zeitabschnitts nach 1945 bestand deshalb nur noch aus repetierenden Aufzählungen von Erfolgsmeldungen, die auf Druck von oben auch Eingang in touristische Publikationen gefunden haben. In ihnen wurden der Erfolgsgeschichte Wittenbergs als sozialistische Stadt oft ebenso viele Seiten gewidmet wie der Reformationszeit, der das eigentliche Interesse der Wittenberg-Besucher galt.257 Auf subtile Art erfolgte der Hinweis auf den real existierenden Sozialismus durch ausführliche Verweise auf die nach 1945 entstandenen modernen Industrieanlagen, die Neubaugebiete und Infrastruktureinrichtungen. Der Leser eines 1978 erschienenen Stadtführers erfährt beispielsweise auch, dass das eintausendste Modell des Doppelwalzenstuhls der Bauart W60 in Wittenberg hergestellt worden war oder 2.219 Kindergartenplätze zur Verfügung standen.258 Dem Hort der Reformationsgeschichte wurde auf diese Weise eine Gegenwartsvision entge253 Schwarz, Chronik der Stadt Wittenberg, Zitate aus: Gliederung, Einleitung und Abschnitt 1983. 254 Lau, Geschichte vor der Haustür. 255 Vgl. allgemein: Sonnet, Heimat und Sozialismus, 124. 256 Das Schloss hatte 1921 als provisorisches Gefängnis für rund 1.000 inhaftierte Aufständische aus dem Mitteldeutschen Industrierevier gedient. Siehe: Lau, Geschichte vor der Haustür, 61 – 64. 257 Vgl. Brendler, Stadtführer Lutherstadt Wittenberg 1967; Kühne, Lutherstadt Wittenberg 1967; ders., Wittenberg 1978; ders., Lutherstadt Wittenberg 1981. 258 Kühne, Wittenberg 1978, 20.

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gengestellt, die den Besuchern aus aller Welt einen tatsächlich gelebten Sozialismus jenseits der Propaganda präsentieren sollte. Die Betonung der Erfolge beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft erklärt sich allerdings nicht zuletzt aus dem Bewusstsein ihrer Defizite.

Abb. 56 Geplante Neugestaltung des Marktplatzes mit Denkmal für Thomas Müntzer (rechts)

Nicht nur in gedruckter Form, sondern auch durch Eingriff in die Denkmallandschaft sollte die Geschichte Wittenbergs überschrieben werden. So gab es beispielsweise 1976 Pläne, die beiden Reformatorenstandbilder auf dem Marktplatz durch ein drittes Denkmal für Thomas Müntzer zu ergänzen.259 259 Dies sollte im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Marktplatzes erfolgen, die insbesondere eine Ersetzung des historischen Kopfsteinpflasters durch Betonelemente vorsah. Während die Planungen des Jahres 1976 noch ein drittes Denkmal vorsahen, enthielt die Überarbeitung 1977 keine Ergänzung der Standbilder. Vgl. Abbildungen Generalbebauungsplan Marktplatz Wittenberg 1976 und Städtebaulicher Leitplan 1977, in: Schauer, Historische Altstadt und ,Sozialistische Umgestaltung‘, 129.

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Das zuständige Institut für Denkmalpflege erfuhr hiervon lediglich auf informeller Ebene, erhob sofort Einspruch und machte auf „Probleme des Städtebaus als auch des Verständnisses der politischen Geschichte“260 aufmerksam. Aber die Neuinterpretation der Stadtgeschichte sollte nicht auf die Reformationszeit beschränkt bleiben. Die sozialistischen Deutungseliten versuchten insbesondere, den 1945 erfolgten Epochenbruch der Stadtgeschichte durch die Platzierung eines aussagekräftigen, ins Auge fallenden und zur Identifikation unmittelbar einladenden Denkmals zu versinnbildlichen. Hier trifft Ipsens Feststellung zu, denn […] durch das Arrangement der Dinge im Raum und durch konzeptionelle Planung schafft sich jede Gesellschaft für eine bestimmte Zeit ihre Muster der räumlichen Orientierung. Diese Muster von Raum und Zeit sind dann wiederum Orientierungsrahmen und grundlegende Voraussetzung für gezieltes Handeln und die Entstehung ,einsichtiger‘ Verhaltensmuster.261

Nach langer Suche wurde der gegenüber der Schlosskirche gelegene russische Soldatenfriedhof 1973 schließlich um einen als Monument der Befreiung dienenden Weltkriegspanzer ergänzt.262 Hier sollte „für nachfolgende Generationen die historische Wende durch den Sieg der ruhmreichen Sowjetarmee über die Faschisten und den Sieg der Arbeiterklasse über den deutschen Imperialismus“ durch ein entsprechendes Denkmal versinnbildlicht werden.263 Im Vergleich zur angrenzenden Schlosskirche als einem Beispiel der Denkmalpolitik des Kaiserreichs wird hier der Übergang der Denkmalintention von der Sinnstiftung zur Besinnung deutlich. Gerade der geschichtlich bedeutsame Ort der Schlosskirche schien für die ikonische Vermittlung eines kulturellen Gedächtnisses im Sinne einer sozialistischen Akzentsetzung besonders geeignet, denn hier begannen die Touristen in der Regel ihr Besichtigungsprogramm. Neben die Erinnerung an Luthers Thesenanschlag sollte die Erinnerung an ein weiteres Schlüsselereignis der Vergangenheit treten, das für den Fortgang der Geschichte als bedeutsam angesehen wurde. Das Denkmal wurde deshalb auch fest in die geführten Stadtrundgänge sowie das Souvenirangebot integriert. Adressaten der Gedenkstätte waren nicht nur die Wittenberg-Touristen, sondern auch die Bürger der Stadt. Zur rituellen Einbindung trafen sich dort einmal im Jahr Angehörige der Roten Armee und Repräsentanten von Wittenberger Betrieben zur Kranzniederlegung. Außerdem wurde der Brauch etabliert, dass junge Ehepaare nach dem Ja-Wort im Standesamt des Rathauses am Fuß des Denkmals Rosen pflanzten, um die gefallenen Sowjetsol260 Findeisen schreibt von „Gerüchten“, die ihm zugetragen worden seien. Vgl. Schreiben Findeisen an Rat des Bezirks, Abteilung Kultur, vom 01. 02. 1977, in: Akte 446 Wittenberg-Altstadt, Archiv Landesamt für Denkmalpflege Halle. 261 Ipsen, Raumzeichen – Raumsymbole, 58. 262 Vgl. Ein neues Denkmal am Ufer der Elbe, Freiheit, 14. 04. 1973. 263 Chronik unseres Denkmals, Freiheit, 03. 09. 1973.

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Abb. 57 ,Denkmal der Befreiung‘ an der Wittenberger Schlosskirche

daten zu ehren. Dass die Gärtnereien die Kränze im Februar 1990 aus alter Gewohnheit noch lieferten, die Betriebe jedoch die Sowjetsoldaten damit allein ließen,264 zeigt, dass die künstliche Implementierung eines neuen politischen Mythos in Wittenberg nicht funktioniert hat, denn „Mythen werden nicht erschaffen, sondern überliefert.“265 Das Beispiel belegt, wie fragil die Verbindung von Wahrzeichen und Identitätsbildung ist, denn politische Systemwechsel können sich durch Ikonoklasmus einerseits und Rekonstruktion andererseits manifestieren. Als öffentlich gesetztes Zeichen der eben überwundenen Machtverhältnisse wurde das Monument der Befreiung nach 1989 als unerträglich empfunden, erinnerte es doch an die kollektive Demütigung und verschwand mit dem alten Regime.

4.3 Die inhärente Widerständigkeit der Lutherstadt Wittenberg weist eine hohe Kontinuität des historischen Stadtbilds auf. Dennoch blieb im historischen Stadtkern keineswegs alles beim Alten. Es wurde zwar nur in wenigen Fällen – wie dem 1959 errichteten Chemiepavillon oder dem 1973 neben die Schlosskirche platzierten Weltkriegspanzer – das Neue zuspitzend in Kontrast zum Vorhandenen gesetzt. Neben der baulichen 264 Vgl. Schorlemmer, Die Wende in Wittenberg, 49 f. 265 Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden, 41.

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Akzentuierung einer ,sozialistische Stadt‘ lässt sich aber ein allmähliches Eindringen sozialistischer Stadtstrukturen feststellen, was zu einem graduellen Umdeutungs- oder Aneignungsprozess führen sollte. „Das kollektive Gedächtnis der DDR war omnipräsent“,266 konstatiert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler mit Blick auf die im Gedächtnis aufzubewahrende Erinnerung, die in den Stadtraum eingeschrieben wurde. Die sozialistischen Machtstrukturen fügten sich in die Stadt und ihren Alltagsbetrieb ein, ohne dass dies in jedem Fall als Akt der Überformung inszeniert wurde. Hierzu gehörten die Umbenennung von Straßen, das auf die Darstellung einer Entwicklungslinie zur sozialistischen Industriestadt orientierte Heimatmuseum im Melanchthonhaus, aber auch die graduelle Transformation der Eigentumsverhältnisse oder Gewerbetätigkeit. Es wurde darauf hingearbeitet, „der Stadt einen veränderten historischen Subtext zu unterlegen, der Berührungspunkte mit der selektiven Neubewertung“ der Wittenberger Denkmallandschaft aufwies, mit ihr aber „nicht gänzlich kongruent war.“267 Dieser Prozess stieß jedoch auch an Grenzen. Unter der Annahme, dass die ,gestaltete Topographie‘ als räumliche und bildliche Projektion der Gesellschaft, die sie bewohnt, zu lesen ist und die Ordnung wie auch die Gestalt des physischen Raums prinzipiell auf eine Stabilisierung dieser Gesellschaft mitsamt ihrer Handlungsmuster hinwirkt, kann der Wittenberger Altstadt eine ,inhärente Widerständigkeit‘ zugeschrieben werden. Die Stadtsoziologin Martina Löw beschreibt dieses Phänomen als eine sozial strukturierende Kraft materieller Arrangements.268 Die massive Präsenz baulicher Zeugnisse der Vergangenheit schränkte die Möglichkeiten, diese Vergangenheit für neue Sinnstiftungsangebote zu mobilisieren, ein. „Wir wollen erleben, wie der Raum der alten Stadt die Zeit zurückholt und wie unsere Gegenwart die alten Räume und Zeiten mit erneutem Blick betrachtet“,269 hatte der DDR-Chefarchitekt Hermann Henselmann bereits 1969 in einer Reisebeschreibung Wittenbergs formuliert. Je mehr die Tradition der Reformationserinnerung und die Pflege des damit verbundenen kulturellen Erbes in das Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten eindrang, desto differenzierter und distanzierter wurde mit dem Etikett der ,sozialistischen Stadt‘ umgegangen. Einflussreiche Teile der städtischen Öffentlichkeit sprachen lieber von der ,Stadt im Sozialismus‘.270 Der Meinungswechsel musste auch Folgen für den öffentlichen Raum der Lutherstadt haben. Während in den 1950er und 1960er Jahren verschiedentlich versucht worden war, die Lutherstadt Wittenberg ihrer dominierenden preußischen Überformung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu entkleiden, 266 267 268 269 270

Münkler, Das kollektive Gedächtnis der DDR, 459. Marek, Sozialismus in der alten Stadt, 40. Vgl. Löw, Soziologie der Städte, 104 f. Henselmann, Reisen in Bekanntes und Unbekanntes, 63. Vgl. Plato, Bedeutsame Ereignisse vor Ort, 272 f; Saldern, Alte und junge Stadt, 386.

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setzten sich ab den 1970er Jahren die Verfechter einer Bewahrung durch. Nachdem mit dem Weltkriegspanzer vor der Schlosskirche die emphatische Fortschrittsgewissheit der DDR-Oberen eine letzte Blüte erlebt hatte, wurde dieser Zukunftspathos in die Defensive des alltäglichen Kompromisses zwischen Alt und Neu gedrängt und nahm in der Honecker-Zeit den Charakter eines pragmatischen Sozialismus an. Der DDR-Stadtsoziologe Siegfried Grundmann versuchte diesen Paradigmenwechsel folgendermaßen zu rechtfertigen: Die Stadt der sozialistischen Gesellschaft, die ,sozialistische Stadt‘, ist auch dann existent, wenn sich an den übernommenen baulich-räumlichen Strukturen zunächst nichts geändert haben sollte, wenn die übernommenen Strukturen mit neuem Inhalt ausgefüllt wurden.271

Die unveränderte bauliche Gestalt eines öffentlichen Raums trägt jedoch dazu bei, die soziale Verortung und mentale Verfasstheit seiner Bewohner zu konservieren. Durch das ,Medium‘ des Ortes, also die Wirkung des Raums und eine erzählende Kommunikation über dessen Bedeutung, wird ein hermeneutischer Brückenschlag erzeugt, der die kulturhistorische Vergangenheit mit der realen Existenz der Gegenwart verbinden kann. Der Umgang mit den zentralen Projekten preußischer Denkmalpolitik des 19. Jahrhunderts zu Beginn der 1980er Jahre zeigt exemplarisch, dass dem radikalen Umgestaltungswunsch ein Bewusstsein für die Bewahrung des Überlieferten gewichen war und die Identität als ,Lutherstadt‘ über die ,Chemiestadt‘ obsiegt hatte. Infolgedessen kam es zur absichtsvollen Traditionssetzung, zu einer schrittweisen Aneignung auch des ,kulturellen Erbes‘ der ehemals ungeliebten Preußenzeit. Durch die öffentlich praktizierte Erinnerung, beispielsweise ermöglicht durch das Wiederaufstellen von Denkmälern, wurde eine ,Erinnerungslücke‘ getilgt.272 In Wittenberg geschah dies durch eine Aufwertung der überlieferten Denkmallandschaft. So wurden am Baudenkmal Lutherhaus zahlreiche Veränderungen der vorangegangenen Jahrzehnte rückgängig gemacht und mit der Wiederherstellung des Großen Hörsaals im Zustand des Jahres 1883 ein bedeutendes Monument der preußischen Denkmalpolitik rekonstruiert. Auch das andere Großprojekt der preußischen Lutherehrung des 19. Jahrhunderts, die Wittenberger Schlosskirche, rückte in den 1980er Jahren wieder in den Blickpunkt. Eine Neuverglasung der unteren Kirchenfenster, für die die Künstlerin Renate Brömme Portraits von dreizehn europäischen Reformatoren entworfen hatte, löste das Bauwerk allerdings aus dem nationalstaatlichen Diskurs und stärkte dessen Charakter als internationale Gedenkstätte der Reformation.273 Dies geschah im Interesse der DDR-Führung, die das Jubiläum für internationale Auf271 Siegfried Grundmann, Die Stadt, 207. 272 Vgl. Assmann/Aleida/Frevert, Geschichtsvergessenheit. 273 Vgl. Harksen, Die Schlosskirche zu Wittenberg.

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merksamkeit und Anerkennung nutzen wollte. Ursprüngliche Pläne des Wittenberger Predigerseminars, die Reihe der ,Heroen‘ bis ins 20. Jahrhundert fortzusetzen und beispielsweise auch John Wesley, William Penn, Nathan Soederblom, Albert Schweitzer und Martin Luther King in die gläserne Portraitgalerie aufzunehmen, konnten sich jedoch nicht durchsetzen.274 Beispielhaft wird hier dennoch deutlich, dass Form und Inhalt eines Denkmals nicht fest aneinander gebunden sind und dessen symbolische Aufladung sich ebenso ändern kann wie seine äußeren Merkmale. Von ,ganz oben‘, auf Anweisung Erich Honeckers, erfolgte 1983 auch die Anordnung, neben die ,kränkelnde‘ Luthereiche einen neuen Baum zu pflanzen und damit einen Memorialort zu bewahren, der in der Vergangenheit meist im Sinne einer nationalistischen Luthererinnerung besetzt worden war.275 Eng verbunden mit der Identität Wittenbergs als ,Lutherstadt‘ ist die Frage der Gestaltung des öffentlichen Stadtraums, denn hier vollziehen sich Handlungen und Repräsentationen, die Identifikationsangebote unterbreiten und durch diese wiederum das Stadtbild im Sinne eines Wittenberg zugeschriebenen Charakters prägen. Auch hier setzte sich das Primat des Bewahrens gegenüber dem Willen zur Umgestaltung durch. Die offizielle Architekturgeschichtsschreibung der DDR vermerkte hierzu 1981: War noch vor wenigen Jahren die Auffassung verbreitet, dass ausschließlich auf die Baudenkmale Rücksicht zu nehmen ist und bestenfalls benachbarte Bauten in ihrem Äußeren angeglichen werden müssen, setzt sich mehr und mehr die Auffassung durch, dass der bestehende Grundcharakter bestimmter für das gesellschaftliche Leben bedeutsamer Räume zu respektieren ist und oft ganze Straßenfolgen im Stadtzentrum in ihrem städtebaulich-architektonischem Charakter zu erhalten sind.276

Die Perspektive der Eigenlogik von Städten richtet sich deshalb auch auf die materielle Ebene der städtischen Funktionsweise, mit der die Eigenart der Stadt hinsichtlich ihres Alltagslebens, des Stadtbildes und der daraus resultierenden Atmosphäre in Zusammenhang steht.277 Mit der zentralen Einkaufsmeile zwischen Schlosskirche und Lutherhaus geriet ein besonderer Raum in Wittenberg in das Blickfeld der Politik und der Stadtplaner. Wer diesen öffentlichen Raum materiell gestalten durfte, war eine Frage der Macht. Die Frage der Aneignung lag allerdings nicht ausschließlich in der Hand der Machthaber, weshalb „öffentlicher Raum […] auch immer umkämpfter Raum“ ist.278 Periodisch wiederkehrende Rituale wie die alljährlichen Maiaufmärsche blieben im Verlauf eines Jahres doch nur „exzeptionelle ,Ein274 Vgl. Schreiben Predigerseminar Wittenberg an Institut für Denkmalpflege Halle vom 08. 01. 1981, in: Akte Schlosskirche 1966 – 90, Archiv Landesamt für Denkmalpflege Halle. 275 Vgl. Gensichen, Von der Kirche zur Gesellschaft, 180. 276 Andrä/Klinker/Lehmann, Fußgängerbereiche im Stadtzentrum, 23. 277 Vgl. Rodenstein, Die Eigenart der Städte, 273. 278 Harlander/Kuhn, Renaissance oder Niedergang, 240.

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brüche‘ der politischen Realität in den Raum“. Demgegenüber bildete die Alltagsnutzung ein „dichtes, zähes Geflecht kleiner Rituale“, welches das Festhalten an bis dahin gepflegten Bildern der Vergangenheit entscheidend begünstigt hat.279 Wie in vergleichbaren DDR-Städten auch, hatte sich die Anzahl der kleinteiligen Dienstleitungsanbieter, Einzelhandelsgeschäfte und gastronomischen Einrichtungen verringert und die Stadt damit informell nutzbare Öffentlichkeitsräume eingebüßt. Dennoch bestand in Wittenberg auch während der Zeit der DDR ein erstaunlicher Mix aus in Privatregie geführten Läden und volkseigenen Handelseinrichtungen. Verschiedene Maßnahmen haben diesen informell genutzten Raum noch gestärkt. Ergänzt wurde dieser beispielsweise durch die Einrichtung eines leistungsfähigen Versorgungszentrums für ,den kleinen Hunger‘ in Form der Basarinsel, wo in einer Baulücke ein Imbissangebot entstand. Weitere geplante Lückenschließungen sollten in den 1980er Jahren an dieses Beispiel anknüpfen. Die 1983 publizierte Konzeption für die städtebaulich-architektonische Gestaltung des innerstädtischen Bereichs von Wittenberg anlässlich des Lutherjubiläums sah neben der „Erhaltung der historisch gewachsenen Struktur des Stadtzentrums“ auch „Lückenschließungen und Quartiersabrundungen“ zwecks „Erhaltung und Verbesserung der Funktionstüchtigkeit des Zentrums“ vor,280 während Planungen aus dem Jahr 1977 noch den großflächigen Abriss ganzer Stadtquartiere in unmittelbarer Nähe der ,historischen Meile‘ zwischen Lutherhaus und Schlosskirche sowie deren Ersetzung durch eine industrielle Bauweise enthalten hatten.281 Die Entscheidungsträger erkannten, dass unter der Maxime eines pointierten Ein- und Anpassens empfindliche Lücken im Stadtbild geschlossen werden können. Wenn sich diese Lücken jedoch zu ganzen Straßenzügen weiten, lassen sie sich nicht mehr glaubwürdig durch Neubauten füllen und die Geschichtlichkeit geht unwiederbringlich verloren. Dies bezieht sich nicht nur auf Bau-, sondern auch auf Nutzungsformen. Die Umwandlung des Chemiepavillons an der Schlosskirche in ein Eiscaf Anfang der 1970er Jahre kann deshalb als Zugeständnis an traditionale Sozialbezüge gewertet werden, der zudem den ursprünglichen Zweck des Bauwerks ins Gegenteil verkehrte. An die Stelle des gegen die hohenzollerisch geprägte Wittenberger Denkmallandschaft gerichteten Monuments einer sozialistischen Industriestadt trat nun ein Raum privaten Vergnügens, der die Hohenzollern-Architektur der

279 Marek, Sozialismus in der alten Stadt, 48. 280 Zaglmaier, Zur städtebaulichen Planung, 54 f. 281 Davon wären vor allem die nördlichen Teile der Altstadt zwischen der Achse Jüdenstraße / Coswiger Straße und sowie der Achse Mauerstraße / Pfaffengasse betroffen gewesen. Aber auch die Hofbebauung der Südseite der Achse Collegienstraße / Schlossstraße wäre einer Wohnblockbebauung zum Opfer gefallen und das Elbpanorama wäre hierdurch entscheidend verändert worden. Vgl. Abb. 58.

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Schlosskirche durch die Steigerung der Verweilqualität sogar noch aufwertete.282

Abb. 58 Modell des geplanten Umbaus der Altstadt 1977

Die Bewahrung der historisch gewachsenen Stadt rückte ab den 1970er Jahren in das Blickfeld der sozialistischen Stadtväter, die – wie jede soziale Aufsteigergruppe – von dem mit dem Erinnerungsort Lutherstadt Wittenberg verbundenen kulturellen Kapital profitieren wollten.283 So ist die Frage nach den Gründen für den Verzicht auf neue Stadtstrukturen ab den 1970er Jahren, welche die Abkehr von alten Wertvorstellungen und deren Ersetzung durch neue hätte sichtbar machen können, keineswegs nur mit mangelnden Ressourcen oder kulturhistorischer Rücksichtnahme zu erklären. Mitbedacht werden muss auch, dass die Führungsklasse, die der ersten ,sozialistischen Generation‘ gefolgt war, durch Erfahrungen und soziale Prägungen ihre neu 282 Vgl. Titze, Moderne Architektur, 132. 283 Vgl. zu diesem Phänomen: Rehberg, Das Canaletto-Syndrom, 81.

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Abb. 59 Der Chemiepavillon als Eiscaf

erworbene Stellung im gewohnten, althergebrachten Horizont verortete und diesen deshalb nicht ohne Weiteres verschieben konnte.284 Beispiele für dieses konservierende Element sozialistischer Kommunalpolitik zugunsten des Erinnerungsortes Lutherstadt Wittenberg sind die Einrichtung eines Restaurants mit historischer Atmosphäre im Schlosskeller sowie die ,Historisierung‘ des Hotels Goldener Adler am Markt. „Schade, das er in seinem Inneren so wenig Atmosphäre hat, das auf diese Vergangenheit hinweist“,285 hatte Hermann Henselmann 1969 noch beklagt. Die 1976 erfolgte Einrichtung einer Wittenberg-Barstube mit Reproduktionen historischer Stadtansichten sowie eines Luther-Traditionszimmers im Hotel begegnete diesem Missstand.286 Der Mitte der 1970er Jahre vorgeschlagenen Ersetzung des historischen Kopfsteinpflasters auf dem Marktplatz durch Betonelemente wurde hingegen eine Absage erteilt,287 denn sie hätte die mit dem Reformationszeitalter verbundene Materialität des Erinnerungsortes beschädigt. Die Pflasterung ist vielfach beschworen worden, hier, wo „Luther und Melanchthon leibhaft unter uns traten, hier, wo noch jeder Stein von ihnen zu reden weiß“,288 liest man beispielsweise in der Beschreibung des Festzugs von 1892. Dunkmann sprach 284 285 286 287

Vgl. Segert, Repression und soziale Klassen, 311 ff. Henselmann, Reisen in Bekanntes und Unbekanntes, 75. Vgl. „Lutherstadt Wittenberg“, hg. von der Wittenberg-Information, [kein Erscheinungsjahr]. Vgl. Schreiben Institut für Denkmalpflege Halle an Büro für Städtebau und Architektur Halle vom 06. 02. 1978, in: Akte 446 Wittenberg-Altstadt, Archiv Landesamt für Denkmalpflege Halle. 288 Wattrodt, Einweihung Schlosskirche, 49 f.

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1911 von diesen Steinen sogar als einem geweihten Boden.289 Die Aufnahme des Röhrwassers in die Denkmalliste des Kreises im Jahr 1978 unterstreicht ebenfalls das Bemühen der sozialistischen Stadtväter, das überlieferte Stadtbild zu bewahren und ansichtig zu machen. Das Engagement einzelner Bürger für die Erhaltung der Wasserversorgung aus dem 16. Jahrhundert als technisches Denkmal erfuhr 1978 die Unterstützung des Wittenberger Stadtrates. Das stadtbildprägende Denkmal wurde jedoch nicht einfach in öffentliches Eigentum überführt, sondern die Kommunalbehörden akzeptierten 1986 das Wiedererstehen der beiden Röhrwassergewerkschaften unter dem Dach des Kulturbundes.290 Durch Publikationen wurde das Anliegen der Bewahrung popularisiert und erfuhr breite öffentliche Zustimmung.291 Die neue Aufmerksamkeit für die alte Stadt schärfte bei den Bürgern, aber auch bei städtischen Verantwortlichen, das Bewusstsein für den Erhalt der historischen Substanz.292 Es wurde „deutlich, dass die Architektur des Altstadtkerns im Ensemble der kulturellen Wertorientierungen der Bewohner einen bedeutenden Platz einnimmt“,293 resümierte die DDR-Stadtforschung die hohe Wertschätzung für historische Strukturen im Stadtbild. Angesichts des fortschreitenden Verfalls ist es kein Zufall, dass die Wittenberger Oppositionsbewegung eng mit Initiativen zur Rettung der Cranach-Höfe verbunden war und hier „eine Art ,Bürgerbewegung‘ der Denkmalpflege“ entstand.294 Mitten in der Stadt gelegen, verfielen diese einmaligen baulichen Zeugnisse der Reformationszeit in den Jahren der DDR zusehends. Im November 1989 wurde in der Schlosskirche eine Bürgerinitiative gegründet und rief zu Spenden für die Erhaltung der Hofanlagen auf.295 Das an der Ruine der Malwerkstatt von Lucas Cranach durch eine Bürgerinitiative angebrachte Transparent mit der Aufschrift „Wo Häuser verkommen, da verkommen auch Menschen“ wies nochmals plakativ auf den Zusammenhang zwischen der baulichen Gestalt des öffentlichen Raums und der sozialen Verortung und mentalen Verfasstheit seiner Bewohner hin.

289 Dunkmann, Wittenberger Luthererinnerungen, 56 f. 290 Vgl. Burkhard Richter, Wittenberger Röhrwasser 1995. 291 Vgl. Faltblatt Wittenberger Röhrwasser, Wittenberg 1985; Burkhard Richter, Wittenberger Röhrwasser 1988. 292 Wittenbergs Bürger-Widerständigkeit gegen Abriss und Verfall historischer Baudenkmäler in den späten 1980er Jahren ist kein singuläres Phänomen, wie beispielsweise die Proteste und Maßnahmen gegen den Wegriss des Erfurter Andreasviertels zeigen. 293 Staufenbiel, Leben in Städten, 33. 294 Hüttner/Magirius, Zum Verständnis der Denkmalpflege in der DDR, 307. 295 Vgl. Vom Rauputz befreit. Die Verbindung von Kunst- und Bürgersinn: Der restaurierte Cranachhof in Wittenberg, FAZ vom 16. 07. 1998; Schorlemmer, Die Wende in Wittenberg, 16 f.

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Abb. 60 Der Cranachhof im Herbst 1989

5. Die Würdigung eines großen Sohnes – Luther 1983 5.1 Die Stadt als Bühne des Staates: Das Jubiläum 1983 Die Planungen für das Lutherjubiläum 1983 begannen früher als bei jedem anderen Reformationsjubiläum der Stadtgeschichte. Bereits 1977 hatte es erste Gespräche zwischen staatlichen und kirchlichen Stellen gegeben und ein Jahr später lag der erste Planungsentwurf für das Lutherjahr vor, der bereits zentrale Elemente des Festverlaufs enthielt.296 Nicht die Stadt, sondern der Staat wurde zum Organisator des Jubiläums, denn Städte hatten mit dem Verlust ihrer Selbstverwaltungsrechte in der DDR ihre politische Bedeutung als Entscheidungsträger weitgehend eingebüßt. Weil die Städte in der DDR zu örtlichen Organen der Staatsmacht wurden, konnte die Gründung einer lokalen Jubiläums-Arbeitsgruppe in Wittenberg auch erst nach der Konstituierung eines staatlichen Komitees zur Lutherehrung unter Vorsitz von Erich Honecker erfolgen. Im November 1980 trat das Ortskomitee, dem neben dem Bürgermeister Siegfried Merker und der Direktorin der Lutherhalle Elfriede Starke auch Vertreter des Kulturbundes und der Urania angehörten, erstmals zusammen. Kirchenvertreter waren nicht dabei.297 Trotz eingeschränkter Handlungsspielräume der Kommunalpolitik in der DDR waren lokale Jubiläen als Ausdruck und zur Verbreitung städtischen Selbstbewusstseins bedeutsam. Das Ortskomitee traf zwar zu keinem Zeitpunkt eigenständige Entscheidungen, sondern setzte lediglich die detaillierten Vorgaben des übergeordneten Organisationsbüros auf lokaler Ebene um. Dennoch nutzte die Kommune die sich bietende Gelegenheit, um von dem 296 Vgl. Fleischauer, Die Enkel, 233. 297 Bericht über Konstituierung der Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Martin-Luther-Ehrung vom 11. 11. 1980, Materialsammlung zum Lutherjubiläum 1983, Stadtarchiv Wittenberg.

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Großereignis zu profitieren. Aus kommunaler Sicht dienten Jubiläen auch ganz pragmatisch der Konkurrenz um die knappen Mittel von der Zentrale, wenn sich die Stadt als Aushängeschild des Staates profilieren konnte.298 So gelang es der Stadt Wittenberg mit dem Verweis auf ihre Rolle in der Reformationsgeschichte, das angehäufte kulturelle und symbolische Kapital in ökonomisches Kapitel zu verwandeln. Es standen beispielsweise größere finanzielle Mittel für Sanierungs- und Verschönerungsarbeiten im Stadtbild zur Verfügung und die Versorgungslage konnte punktuell verbessert werden. Die Entscheidungsträger auf staatlicher, aber auch auf kommunaler Ebene legten besonderen Wert auf die Präsentation der Luthergedenkstätten in einem würdigen Zustand, um die Inszenierung des Jubiläums vor einer möglichst perfekt gestalteten Kulisse zu ermöglichen. Umfangreiche Maßnahmen wurden ergriffen, um die historische Innenstadt Wittenbergs herauszuputzen. Gleichzeitig sollten die Besucher der Stadt bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die staatlichen Denkmalschutzinitiativen hingewiesen werden. Dies schloss ausdrücklich die Bauerhaltung der beiden Kirchen ein. Wie wichtig den staatlichen Stellen ein gepflegtes Stadtbild war, illustriert die verschobene TV-Ausstrahlung des Dokumentarfilms Bürger Luther. Wittenberg 1508 – 1546. Da der Film während der gerade laufenden Sanierungsarbeiten gedreht worden war, forderte der Vorsitzende des Staatlichen Komitees für Fernsehen im Januar 1983, einige Szenen nachzudrehen, um Wittenberg ohne Baugerüste bestmöglich öffentlichkeitswirksam präsentieren zu können.299 Im Gegensatz zu den Jubiläen der Kaiserzeit und der Weimarer Republik wurde das Ausschmücken der Stadt nicht mehr den Stadtbewohnern allein überlassen, sondern über eine institutionelle Anbindung gesteuert. Hier ging es um Strategien symbolischer Politik und um Deutungsmacht, denn die erzeugten Stadtbilder waren Repräsentationen, die bestimmte symbolische Ordnungen widerspiegeln sollten. Flaggen und Fahnen waren in allen Systemen ein sichtbares Zeichen der Besetzung des öffentlichen Stadtraums. Bereits bei der Feier des Lutherjubiläums 1883 waren in die Tannengrüngirlanden Kornblumen als Zeichen der Verbundenheit mit dem preußischen Herrscherhaus eingeflochten worden. Bei den Feiern 1920 verzichteten die Wittenberger Initiatoren hingegen bewusst auf Fahnen- und Flaggenschmuck, weil mit den Farben der Republik in ihren Augen kein Staat zu machen war. In beiden Fällen lag die Entscheidung, ob und wie der Stadtraum mit politischen Symbolen zu versehen sei, bei den Bürgern selbst. Für Diktaturen ist jedoch eine andere Symbolbeziehung charakteristisch. Symbole sind hier nicht mehr die Repräsentation von Normen und Werten der Adressaten, sondern haben ihren Ursprung in den institutionellen Akteuren. Sie sind als Symbolisie-

298 Vgl. Saldern, Inszenierte Einigkeit, 27 – 30. 299 Vgl. Fleischauer, Die Enkel, 260.

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rungsanstrengungen zu kennzeichnen, denen im Wesentlichen Wertvorstellungen der von den Adressaten entkoppelten Akteure zugrunde liegen. Beginnend mit dem Lutherjubiläum 1933 verschob sich die Initiativgewalt deshalb nach oben: Die Beflaggung wurde zunächst zur „selbstverständlichen Pflicht“300 erklärt. Dieses Maß an Responsivität zum Zweck institutioneller Stabilisierung war bei den Jubiläumsfeiern unter DDR-Bedingungen dann vollends verschwunden, denn jetzt wurde die Ausgestaltung des öffentlichen Raumes vollständig von oben ,orchestriert‘. Wie wichtig eine gelungene Inszenierung des zweiten deutschen Staates auf der städtischen Bühne Wittenberg in den Augen der Machthaber gewesen ist, belegt der Aufwand, mit dem die Ausschmückung der Stadt ,generalstabsmäßig‘ in Angriff genommen wurde. Im Vorfeld des Jubiläums 1983 wurde ein Flaggenplan erstellt, der präzise Orte, Anzahl und Größe der aufzuziehenden Fahnen festlegte und neununddreißig DDR-Fahnen sowie achtundfünfzig Fahnen mit dem offiziellen Emblem des Lutherjubiläums auf insgesamt fünfzehn Innenstadtstandorte verteilte.301 Im Gegensatz hierzu mussten die Kirchenvertreter zusichern, mit den eigenen Kirchenfahnen sowie dem zwischen den Stadtkirchentürmen gespannten Banner Gott über allen Dingen ausschließlich auf Kirchengebäuden und nur für den Zeitraum des Kirchentages im September Flagge zu zeigen.302 An wichtigen Stellen überließen die Organisatoren 1983 nichts dem Zufall; Plätze und Hauptstraßen erhielten eine zentrale Ausgestaltung, die den städtischen Raum auch politisch-ideologisch besetzte. Durch die Systematisierung des Schmucks, die Vereinheitlichung ganzer Straßenzüge und Häuserwände und die symbolische Bedeutung von Farben, Schmuckmotiven und Ordnungen wurde der Stadtraum zur Hintergrundkulisse einer Bühne, auf der die DDR sich selbst inszenierte. Über der Gestaltung des öffentlichen Stadtraums Wittenbergs anlässlich des Jubiläums stand die Leitidee der inneren Stabilität der DDR sowie des Machterhalts der Parteiführung. Die Machtausübung der SED-Führung beruhte allerdings nicht auf einer Repräsentation der Bürger als Adressaten, weshalb die von den Akteuren dominierten Institutionen nicht in der Lage waren, deren Wertorientierungen im Fest zu symbolisieren, ohne den eigenen Machterhalt zu gefährden. Die aus Fahnen, Flaggen, Wimpeln und ähnlichen Dekorationselementen bestehende symbolische Inbesitznahme des Wittenberger Stadtraums im Jubiläumsjahr geriet deshalb zu einer floskelhaften Inszenierung der DDR, ein Zustand, der als „Pathologie der Institution“303 bezeichnet werden kann. 300 Vgl. Lutherfesttage vom 9.–13. September, Wittenberger Zeitung, 30. 08. 1933; Lutherfesttage. Häuserschmuck, Wittenberger Zeitung, 05. 09. 1933. 301 Vgl. Konzeption zur einheitlichen visuellen Stadtgestaltung 1983, in: Materialsammlung zum Lutherjubiläum 1983, Stadtarchiv Wittenberg. 302 Vgl. Protokoll Beratung Arbeitsgruppe Lutherehrung vom 23. 6. 1983, Materialsammlung zum Lutherjubiläum 1983, Stadtarchiv Wittenberg. 303 Göhler, Wie verändern sich Institutionen?, 43.

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5.2 Das Festprogramm Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich eine deutliche Zunahme historischer Jubiläen nachweisen. Dieses Phänomen ist nicht nur die Konsequenz des Verlustes von spontanen Erinnerungen, wie Pierre Nora annimmt,304 sondern das Ergebnis nationalstaatlicher Entwicklungen sowie wachsender gesellschaftlicher Differenzierungen. Vergangenes wird für die Gegenwart aktualisiert, um damit „Wegweiser im Labyrinth der Sinnstiftungen und der verschiedenen Deutungsebenen“305 anzubringen. Sinnstiftung findet allerdings nicht allein auf der kognitiven Ebene statt, sondern bedarf einer emotionalisierten Vermittlung gemeinschaftsbildender Botschaften. Hierfür kann beispielsweise auf christlich-liturgische Vorbilder, höfische Traditionen, Volksbrauchtum oder Instrumentarien politischer Inszenierung zurückgegriffen werden. Die Planung eines sinnstiftenden und gemeinschaftsbildenden Festprogramms gestaltete sich im Jubiläumsjahr 1983 als schwierig. Eine religiöse beziehungsweise kirchengeschichtlich begründete Sinngebung konnte kein Bestandteil der staatlich inszenierten Feier sein. Aber auch für eine politische Instrumentalisierung fehlte der Referenzrahmen, denn das viel zitierte Honecker-Verdikt, mit Luther „einen der größten Söhne des deutschen Volkes“ feiern zu wollen, blieb hinreichend vage.306 Für die Ausgestaltung des Reformationsjubiläums 1967 hatten die kommunalen Planer noch auf das Konzept der Frühbürgerlichen Revolution zurückgreifen können, das einen Orientierungsrahmen geboten hatte. Ein auf dieses Konzept zugeschnittener historischer Festzug hatte den Höhepunkt der offiziellen Feierlichkeiten in Wittenberg markiert und seine ,bunten Bilder‘ blieben, unabhängig von der politisch-ideologischen Ausgestaltung, erinnerungswürdig. Im Jahr 1983 war jedoch die ehemals zur Schau gestellte zukunftsorientierte sozialistische Metageschichte der Konzentration auf die Gegenwartsgesellschaft und ihrer allmählichen Verbesserung im ,real existierenden Sozialismus‘ gewichen. Die DDR-Gesellschaft war zu Beginn der 1980er Jahre endgültig im real existierenden Sozialismus angekommen, sodass sozialistische Utopien einem illusionslosen Pragmatismus Platz gemacht hatten. Im Ergebnis enthielt die Programmplanung des Lutherjubiläums 1983 wenig Plakativ-Politisches. Während im Festprogramm 1983 die üblichen Repräsentationsformen von Herrschaft und die obligatorischen Zustimmungsrituale fehlten, griffen die Organisatoren auf das bereits 1967 erfolgreich erprobte Konzept eines Historienspektakels zurück. Die Historischen Markttage im Oktober 1983 wurden zur Hauptattraktion des Jubiläumsjahres. Bereits beim Probelauf ein Jahr 304 Vgl. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, 17. 305 Stekl, Öffentliche Gedenktage und Jubiläen, 191. 306 Honecker, Unsere Zeit verlangt Parteinahme für Fortschritt, 11.

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zuvor hatten sie mit Hans-Sachs-Spielen, Bänkelgesängen und Kunsthandwerkern das Interesse einer breiten Öffentlichkeit an einer volkstümlichen Interpretation der Stadtgeschichte fernab politischer Instrumentalisierungsversuche geweckt.307 Lokalpatriotismus, regionale Verbundenheit und Engagement für das städtische kulturelle Leben schufen die Identifikationspunkte, die eine breite Bevölkerungsmehrheit ansprechen sollten. Politische Sinnstiftung bildete aber eine zumindest schwach ausgeprägte Hintergrundfolie des Festhöhepunktes, denn der Zeitraum der Veranstaltung war an den ,Geburtstag der Republik‘ gebunden und sollte zusammen mit einer ,Leistungsschau‘ der in Wittenberg ansässigen volkseigenen Betriebe den Bezug zur Gegenwart herstellen. Es galt, „bewusst zu machen, dass die Entstehung und Entwicklung der DDR das gesetzmäßige Ergebnis und die Krönung des jahrhundertelangen Kampfes der fortschrittlichen Kräfte unseres Volkes, besonders der Arbeiterklasse unter Führung ihrer revolutionären Partei ist“,308 hatten die Organisatoren des Festes im Vorfeld ihren Anspruch formuliert. Diesem rhetorisch erhobenen Anspruch wurde die Realität eines auf Unterhaltungsangebote ausgerichteten Festprogramms jedoch kaum gerecht. Da die Organisatoren das Jubiläum nicht ausschließlich auf dem Niveau eines Volksfestes stattfinden lassen wollten, griffen sie zum Medium der Kultur. Bildungs- und Kulturangebote sollten die substantielle Leere des staatlich inszenierten Reformationsjubiläums füllen. Es kam den Planern dabei auf eine integrative Wirkung an, welche durch ein möglichst vielseitiges Programm „unter Nutzung aller Möglichkeiten, die zur Vertiefung des sozialistischen Geschichtsbewusstseins und des sozialistischen Heimatgefühls der Bürger beitragen“,309 erreicht werden sollte. Bereits im Vorfeld versuchten sie, die Stadtbevölkerung durch Vorträge und Veranstaltungen des Kulturbundes und der Urania auf das Jubiläum vorzubereiten. Die Urania bot beispielsweise im ersten Quartal des Jahres 1983 dreiundzwanzig Vorträge zu neun verschiedenen Lutherthemen an, für die sich durchschnittlich zwanzig Zuhörer interessierten.310 Darüber hinaus wurden Betriebsausflüge und Exkursionen von Schulklassen zu den Reformationsgedenkstätten der DDR angeregt, um die städtische Öffentlichkeit für das Thema zu begeistern. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistete auch das Wittenberger Theater. Bereits 1982 hatte John Osbornes Der junge Luther in der Lutherstadt seine DDR-Erstaufführung erfahren. Im Jubiläumsjahr stand das Stück neben Gerhard Hauptmanns Hamlet in Wittenberg erneut auf dem Spielplan des Wittenberger Theaters. Aber auch die historische Altstadt wurde zur Theaterkulisse, womit an die bis 1934 in Wittenberg gepflegte Tradition des Lu307 Vgl. Interview mit Bürgermeister Lippert in: Freiheit vom 19. Juni 1982. 308 Beschlussvorlage Maßnahmen zur Lutherehrung 1983 vom 03. 12. 1980, in: Materialsammlung zum Lutherjubiläum 1983, Stadtarchiv Wittenberg. 309 Ebd. 310 Vgl. Berichtsvorlage für Sitzung des Sekretariats der Kreisleitung der SED Wittenberg vom 6. 05. 1983, in: Materialsammlung zum Lutherjubiläum 1983, Stadtarchiv Wittenberg.

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therfestspiels angeknüpft wurde. Auf dem Beyerhof am Marktplatz kamen mit Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas und Christopher Marlowes Dr. Faustus zwei Werke zur Aufführung, die thematisch gut zu Wittenberg und Luther passten und den kulturellen Anspruch der Gestalter des Festprogramms unterstrichen.

5.3 Innovation und Restauration: Die Umgestaltung des Lutherhauses Das wichtigste Wittenberger Projekt im Rahmen des Lutherjubiläums 1983 war die Sanierung und Umgestaltung der Lutherhalle. Nach der Pensionierung ihres langjährigen Direktors Oskar Thulin, der dem Museum in seiner fast vier Jahrzehnte währenden Amtszeit seinen Stempel aufgedrückt hatte, waren die 1970er Jahre von einem Besucherrückgang und ausbleibenden musealen Innovationen geprägt. Ende des Jahrzehnts bestand bei allen Interessensvertretern Konsens darüber, dass sowohl hinsichtlich des baulichen Zustands als auch der musealen Präsentation dringender Handlungsbedarf bestand, um den Erwartungen der Besucher im Jubiläumsjahr gerecht werden zu können. Die sichtbarste Veränderung betraf den Umgang mit dem Baudenkmal. Thulins Denkmalpflegepolitik war darauf ausgerichtet gewesen, die historistische Überprägung des Gebäudes aus dem 19. Jahrhundert rückgängig zu machen. Er hatte zunächst versucht, das Haus in einen vermeintlichen Originalzustand der Lutherzeit zurückzuversetzen, indem er beispielsweise wichtige Ausstattungsbestandteile der Stülerarchitektur entfernen ließ. Der Große Hörsaal sollte zu einer Art mittelalterlichem Rittersaal umgestaltet werden, wofür Thulin Holzbalken aus dem 1959 erfolgten Abriss der Knopfschen Mühle einlagern ließ.311 Allerdings stießen die Pläne an technische Grenzen, da die eisernen Träger im Großen Hörsaal aus statischen Gründen nicht durch Eichenbohlen ersetzt werden konnten. Entfernt wurden lediglich das hölzerne Wandpaneel und die üppigen Wandmalereien. Ein monochromer Farbanstrich sollte die Stülerausstattung in ihrer Wirkung reduzieren,312 konnte allerdings auch nicht überzeugen, sodass Ende der 1970er Jahre ein Umdenken stattfand. An die Stelle des denkmalpflegerischen Konzepts des Originals, wie es von Thulin favorisiert worden war, trat nun das Konzept des authentisch überlieferten Originals, welches nicht den vermeintlichen Urzustand wiederherstellt, sondern den im kontinuierlichen und auch wechselvollen Gebrauch gealterten, partiell erneuerten, doch ohne zerstörerische Eingriffe überkommenen Zustand meint.313 Im Rahmen der umfassenden Bausanierung gelang es, den Großen Hörsaal 311 Vgl. Schreiben Rat der Stadt, Abteilung Kultur, vom 25. 3. 1958, in: Akte 46, Archiv StLu. 312 Die Entfernung der Stülerschen Ausstattung des Großen Hörsaals unter Thulin fand in drei Etappen – 1947, 1960 und 1966 – statt. Siehe: Treu, Die Lutherhalle zwischen 1980 und 1991. 313 Vgl. Will, Rückkehr in den Gebrauch, 103.

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in seiner ursprünglichen Fassung der Stülerzeit zu rekonstruieren und damit ein „herausragendes Zeugnis für die Möglichkeiten des Denkmalschutzes der DDR“ zu schaffen.314 Mit dem Hörsaal ist somit auch ein Erinnerungsort preußischer Geschichtspolitik wiedererstanden.315 Trotz der wiedergewonnenen Wertschätzung für die Zeugnisse der preußischen Denkmalpolitik verzichtete die Rekonstruktion der frühen 1980er Jahre jedoch darauf, dem Saal den ursprünglichen Charakter des fürstlichen Patronats zurückzugeben. So fanden die Büsten der Hohenzollern keinen Platz mehr zwischen den Fenstern und die gegenüberliegende Wand schmückten nun Professorenportraits statt der ehemals gezeigten sächsischen Kurfürstenbilder. Lediglich an den Stirnseiten des Raums wurden die Bildnisse der vier für die Geschichte der Wittenberger Universität besonders wichtigen Kurfürsten aufgehängt. Im Ergebnis hatten die auf Bewahrung der historischen Substanz bedachten Denkmalpfleger sich gegenüber den Museologen durchgesetzt und den Eigenwert des Baudenkmals gegenüber der Ausstellung gestärkt.316 Nicht nur das Baudenkmal, sondern auch die Ausstellung wurde vollständig überarbeitet und den ,Sehgewohnheiten‘ moderner Museumsbesucher angepasst. Im ersten Obergeschoss entstand ein biographischer Rundgang mit einer Vielzahl dreidimensionaler Objekte, der mit einer allgemeinen Einführung in die Situation des frühen 16. Jahrhunderts begann und mit der Besichtigung der Lutherstube endete. Die Konzeption belegt, dass die historische Person Luthers nach einer langen Phase der Abwertung in der DDR-Historiographie eine neue Wertschätzung erfuhr.317 Zuvor war die Person Luthers stets hinter das Konzept der Frühbürgerlichen Revolution zurückgestellt worden, jetzt stand sie im Mittelpunkt der Darstellung. Die gesamte museale Präsentation blieb weitgehend auf die Reformationsgeschichte ohne politischideologische Einordnung beschränkt; die Beschriftung der Vitrinen stellte zeitgenössische Zitate in den Mittelpunkt.318 Die Ausstellung war im Vorfeld auch von Kirchenhistorikern begleitet worden und konnte, abgesehen von marginalen Eingriffen, über die politische Wende hinaus bis zum Jahr 2001 gezeigt werden.319 Die Kuratoren setzten bereits im Vorfeld 314 Hennen, Das Lutherhaus Wittenberg, 80. 315 Vgl. Laube, Das Lutherhaus, 345; Zu den restaurativen Tendenzen der DDR-Vergangenheitspolitik vgl. Brinks, Die DDR-Geschichtswissenschaft. 316 Vgl. Berger, Zur Denkmalpflege an den Luthergedenkstätten, 23. 317 Für den Umgang der DDR mit der Reformationszeit siehe Roy, Luther in der DDR. 318 Einzig die Beschriftung der Müntzer-Vitrine – das Luther-Zitat „Der Satan zu Allstedt“ – fiel der Zensur zum Opfer, blieb aber im Katalog. Siehe: Treu, Die Lutherhalle zwischen 1980 und 1991. 319 Boockmann lobt in einem Aufsatz 1994, die unter DDR-Bedingungen entstandene Ausstellung habe auch nach 1990 ihre Daseinsberechtigung nicht verloren. Allerdings wirft er den Ausstellungsmachern gravierende museologische Fehler vor. Hierzu gehören die aus seiner Sicht unzulässige Vermischung von Originalen und Repliken, die Mischung von Objekten des 16. und des 19. Jahrhunderts sowie eine Darstellung der Reformation entlang protestantischpreußischer Deutungsschemata. Siehe: Boockmann, Die Lutherhalle in Wittenberg heute.

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[…] bewusst den Akzent auf seine reformatorische Entdeckung, dass der Mensch nicht durch seine Werke, sondern durch seinen Glauben vor Gott bestehen könne. […] Diese Zusammenhänge erhellen auch Luthers Haltung im Bauernkrieg, die als Konsequenz aus seiner Lehre und keinesfalls als ,Verrat‘ an den Bauern aufgezeigt werden muss.320 (Position der Vertreter der Lutherhalle, 20. 11. 1980)

Diese Position entsprach dem im Vergleich mit den 1967 herrschenden Kontroversen deutlich spannungsfreieren Umgang zwischen Staat und Kirche. Luther konnte viel stärker als Theologe gewürdigt werden, denn die SED brauchte die Kirche, um ihr Konzept von Erbe und Tradition glaubhaft vertreten zu können.321 Dieser neue Kurs wirkte sich auch auf die ursprünglich als Gegenpol zur kirchlich geprägten Lutherhalle etablierte Ausstellung im Melanchthonhaus aus. In der anlässlich des Jubiläumsjahres 1983 überarbeiteten Schau erfuhr der Besucher dort etwas über den Theologen Melanchthon,322 wenngleich die kirchlichen Vertreter bei der gemeinsamen Begehung des sanierten Hauses im März 1983 an dieser Stelle noch Nachbesserungsbedarf sahen.323 Die neueröffnete Lutherhalle trug nicht nur den Seh-, sondern auch den Konsumgewohnheiten moderner Museumsbesucher Rechnung. Bereits die Vorplanung erklärte ein möglichst umfangreiches Angebot an Souvenirs und Mitbringseln zum Ziel. Dieses sollte Verstand und Sinne gleichermaßen ansprechen, weshalb die Bücher und Broschüren durch aufwendig gestaltete Kunstmappen des renommierten Leipziger Seemannverlags, farbige Kunstblätter und einen Bildband über die Kostbarkeiten der Lutherhalle ergänzt wurden.324 Auch über das Jubiläumsjahr 1983 hinaus blieb die Lutherhalle ein ,Aktivposten‘ der Wittenberger Denkmallandschaft. Die chronologisch gegliederte Dauerausstellung zeigte die lutherische Reformationsgeschichte in narrativen Zusammenhängen. Im zweiten Obergeschoss wurde eine Studienausstellung aufgebaut, die sich an Fachbesucher richtete. Waren im Jubiläumsjahr mit 165.000 Menschen so viele Besucher wie noch nie in das Museum gekommen, verzeichnete die Statistik für 1984 mit 90.000 und für 1985 mit 70.000 Besuchern immer noch mehr als doppelt so viele wie in den Jahren 320 „Diskussionsbeitrag zur Stadtverordnetenversammlung am 20. 11. 1980“, in: Akte 51, Archiv StLu, 3. 321 Vgl. Fleischauer, Die Enkel, S. 246; Die marxistische Reformationsforschung versuchte erstmals, Luther nicht primär für den Bauernkrieg in Anspruch zu nehmen, sondern den Reformator auch als Theologen zu begreifen. Die Beurteilung von Luthers Werk bezog nunmehr das Religiöse als eigenständige Größe ein. Vgl. Zeddies, Das Lutherjahr in der DDR, 203 f. 322 Vgl. Politisch-wissenschaftliche Grundkonzeption des Melanchthonhauses Wittenberg, 01. 08. 1978, in: Akte 56, Archiv StLu. 323 Vgl. Protokoll Auswertung der gemeinsamen Begehung vom 4. 3. 1983, in: Materialsammlung zum Lutherjubiläum 1983, Stadtarchiv Wittenberg. 324 Vgl. Liste Souvenirplanung vom 23. 6. 1981, in: Akte 51, Archiv StLu.

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vor dem Umbau.325 Beigetragen zu diesem Erfolg haben auch zahlreiche Sonderausstellungen. Erstmals reflektierte das Museum seine Eigengeschichte und zeigte 1983 zu diesem Zweck eine Sonderausstellung 100 Jahre Lutherhalle.326 Bedeutsam für die Lutherstadt waren außerdem das erstmals 1986 stattfindende Museumsfest Luthers Hochzeit und eine Sonderausstellung zur Mode der Lutherzeit im Jahr 1987, die zusammen mit einer Renaissancemodenschau eine wichtige Grundlage für die Begründung einer neuen Festtradition Wittenbergs legten. Für Aufmerksamkeit sorgte die 1988 eröffnete Darstellung des Schicksals der Wittenberger Juden im Dritten Reich und lieferte gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur Wittenberger Stadtgeschichte über das Kernthema des Museums hinaus. Allerdings passte das „negative Erinnern“327 schlecht zur Imagepflege der Stadt und widersprach auch der offiziellen Haltung der DDR, sodass die Ausstellung auf Widerwillen seitens staatlicher Stellen stieß. Die auf Initiative der Stadtkirchengemeinde im gleichen Jahr gesetzte Gedenkplatte mit inhaltlichem Bezug auf das als Judensau bezeichnete spätmittelalterliche Steinrelief an der Kirche verankerte das Thema ebenfalls gegen den Willen der Staats- und Parteirepräsentanten im öffentlichen Bewusstsein. Hier zeigt sich, dass die Deutungshoheit über die Vergangenheit längst nicht mehr in den Händen des Staats- und Parteiapparates lag.

5.4 Überforderung oder Initialzündung? Das Jubiläum als Touristenmagnet Die Wittenberger Kommunalverwaltung hatte sich in der Nachkriegszeit auf die industrielle Entwicklung der Stadt konzentriert und dem wirtschaftlichen Potential des Fremdenverkehrs wenig Bedeutung beigemessen. Die stagnierende Entwicklung der touristischen Infrastruktur belegt die untergeordnete Rolle des Tourismus in der Wirtschaftsstruktur der Stadt. Wenig war getan worden, um den Zustrom der auswärtigen Gäste dauerhaft zu erhöhen. So entstanden in den Jahrzehnten nach 1945 weder nennenswerte Beherbergungsstätten noch gastronomische Einrichtungen, um bestehende Kapazitäten zu erweitern. An einigen Stellen ist die Stadt sogar hinter den Vorkriegsstand zurückgetreten. Das städtische Verkehrsamt, 1933 zu einer öffentlichen Auskunftsstelle erweitert, war nach 1945 nur kurzzeitig als KWU-Verkehrsund Werbebüro weitergeführt worden.328 Die Kommune hat in den 1950er Jahren zentrale touristische Aufgaben wie die Vermittlung von Stadtführungen, Auskunftserteilung und die Planung sowie den Verkauf von Souvenirs an 325 326 327 328

Vgl. Laube, Das Lutherhaus, 347. Vgl. Staatliche Lutherhalle Wittenberg. Kosseleck, Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, 21. Vgl. Faltblatt Lutherstadt Wittenberg von 1950.

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das unter städtischer Kontrolle stehende Lutherhaus sowie das staatliche Reisebüro am Markt abgegeben. Die Wittenberger Stadtverwaltung war sich der touristischen Leerstellen durchaus bewusst. In einer internen Einschätzung stellte sie schon 1964 dem Reisebüro ein vernichtendes Urteil aus: Die nach dem Melanchthon-Jubiläum 1960 allmählich steigenden Besucherzahlen gingen „einzig und allein auf die Tätigkeit und Leistungen der Museen zurück, da das hiesige Reisebüro in den letzten Jahren hinsichtlich der Heranführung von Besuchern nach Wittenberg völlig versagte.“329 Dennoch dauerte es weitere zwei Jahrzehnte, um hinsichtlich eines Verkehrsbüros an den Vorkriegsstand anzuknüpfen. Erst mit den Vorbereitungen auf das Jubiläum 1983 setzte sich die bereits vom Wittenberger Oberbürgermeister Arnold Wurm 1927 artikulierte Erkenntnis durch, dass der Fremdenverkehr eine „vornehme Pflicht der Kommunalverwaltung“330 sei. Ein wichtiger Indikator hierfür ist die Neugründung eines Fremdenverkehrsamtes im Jahr 1982, mit dem die Stadtverwaltung an bereits in den 1920er und 1930er Jahren gemachte Erfahrungen anknüpfte.331 Der erwartete Besucheransturm im Jubiläumsjahr 1983 erforderte jedoch mehr als die Einrichtung einer Auskunftsstelle. Herkunft und Zusammensetzung der Besucher Wittenbergs hat sich in den Nachkriegsjahrzehnten rasant verändert. Waren bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts noch überwiegend kirchlich sozialisierte Besucher zu den Lutherstätten gereist, so kamen ab den 1950er Jahren verstärkt Touristen, die als kirchenfern zu bezeichnen sind. Die Kirchengruppen früherer Jahre hatten noch die Bestätigung bereits vorhandener Wissensbestände gesucht, die neuen Besucher hingegen waren auf Erklärung und Einordnung angewiesen. Die Stadt hatte es jedoch versäumt, die Ausbildung und den Einsatz von qualifizierten Gästeführern zu koordinieren, sodass die Situation der Stadtbilderklärung bis in die frühen 1980er Jahre unübersichtlich blieb. In den Kirchen führten meist Pfarrer, Küster und Gemeindemitglieder und für das Lutherhaus hatte Oskar Thulin sich bereits in den 1950er Jahren eigene Kräfte herangebildet.332 Für die gesamte Stadt standen indessen einige wenige Gästeführer bereit, die über das Staatliche Reisebüro am Markt vermittelt wurden. Mit Blick auf das Jubiläum entschloss sich die Kommunalverwaltung zu einem Kraftakt, um die fünfzehn in der Stadt bis 1982 eingesetzte Kräfte zu ergänzen.333 Erreicht werden konnte die Ausbildung von rund neunzig zusätzlichen Gästeführern, davon dreißig

329 330 331 332

Zitat aus: Information zur Plananalyse der Wittenberger Museen, in: Akte 28, Archiv StLu. Vorwort Oberbürgermeister Wurm, in: Erfurth, Die Lutherstadt Wittenberg 1927. Vgl. Reichelt, Luthertourismus in Wittenberg im 20. Jahrhundert. Vgl. Beschwerde Thulins an Rat der Stadt, dass die Post des Lutherhauses über das Rathaus lief und Führungsanfragen deshalb nicht schnell genug beantwortet werden konnten, 26. 06. 1954, in: Akte 7, Archiv StLu. 333 Beschlussvorlage 17. 02. 1982, Materialsammlung zum Lutherjubiläum 1983, Stadtarchiv Wittenberg.

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aus den Reihen der FDJ für die Betreuung von Jugendgruppen.334 Außerdem wurden durch das Reisebüro der DDR dreiundvierzig fremdsprachlich kompetente Reiseleiter mit der Stadt- und Reformationsgeschichte vertraut gemacht, um die internationalen Reisegruppen eigenständig durch Wittenberg führen zu können.335 Gastronomie und Hotellerie stellten eine besondere Herausforderung dar. Für den enormen Besucherandrang, der vor allem im Jubiläumsjahr einsetzte, war die Lutherstadt in keiner Weise gerüstet. Beherbergungskapazitäten und gastronomische Einrichtungen konnten weder den Bedarf decken noch den Erwartungshaltungen vor allem der westlichen Besucher entsprechen. Der internationale Lutherkongress 1983 fand in Erfurt mit der Begründung statt, in Wittenberg stünden nicht die benötigten Hotelbetten zur Verfügung, die internationalen Standards entsprechen würden.336 Für zahlreiche Besuchergruppen aus dem westlichen Ausland war Wittenberg meist Durchgangsstation auf dem Weg von Berlin nach Leipzig, da sie in der Messestadt geeignete Hotels nutzen konnten, die es an der Elbe nicht gab. Aber selbst Besucher aus der DDR mussten oft auswärts schlafen. So sind zahlreiche Kirchentagsgäste im zwanzig Kilometer entfernten Kurort Bad Schmiedeberg untergekommen. Auf dem Gebiet der gastronomischen Versorgung hatte die Stadtverwaltung beizeiten als Ergebnis der Erfahrungen vorangegangener Besuchshöhepunkte die Initiative ergriffen. Generalstabsmäßig wurden Betriebsgroßküchen dazu verpflichtet, Halbfertigmahlzeiten vorzubereiten und diese an die Restaurants der Stadt zu liefern, um deren Küchenkapazität zu erhöhen.337 Ebenfalls planwirtschaftlich vorbereitet wurde der volkseigene Handel. Um die Versorgung mit Andenken und Mitbringseln aus der Lutherstadt zu gewährleisten, legte die vom Organisationsbüro 1980 beschlossene Ordnung für die Koordinierung von Maßnahmen der kulturpolitischen Propaganda erste Vorkehrungen fest.338 Da der SED-Staat, insbesondere im Hinblick auf die zahlreichen erwarteten Besucher aus dem westlichen Ausland, auch ökonomisch vom Jubiläum profitieren wollte, gab das Büro die Devise aus: „nichts verschenken, alles verkaufen“.339 Auf lokaler Ebene sollten die Buchgeschäfte

334 Berichterstattung Lutherjubiläum 1983, in: Freiheit, 25. 08. 1983. 335 Protokoll Beratung Arbeitsgruppe Lutherehrung 1983 vom 4. 3. 1983, Materialsammlung Stadtarchiv Wittenberg. 336 Vgl. Schäfer, Der Kongress war ein Erfolg. 337 Organisation und Vorbereitung Lutherjubiläum 1983, in: Materialsammlung zum Lutherjubiläum 1983, Stadtarchiv Wittenberg. 338 1980 konstituierte sich das Martin-Luther-Komitee der DDR unter Vorsitz von Erich Honecker. Um die organisatorischen Fragen kümmerte sich ein Büro, das alle Aktivitäten des Jubiläums zentral koordinierte. Die 1980 beschlossene Ordnung enthielt erste Maßnahmen. Vgl. Ordnung für die Koordination von Maßnahmen der kulturpolitischen Propaganda, Agitation und Öffentlichkeitsarbeit anlässlich der Martin-Luther-Ehrung der DDR 1983, 18. 12. 1980, BArch DZ 9, 2706, Blatt 18 ff., Bundesarchiv Berlin. 339 Vgl. „Beratung und Festlegung von Maßnahmen zur Realisierung des Beschlusses des Sekre-

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der Innenstadt im Wechsel samstags und sonntags geöffnet haben, um die Touristen mit gedruckten Materialien versorgen zu können.340 Dennoch konnten nicht alle Ansprüche und Erwartungen erfüllt werden. Souvenirs mit dezidiert christlichen Bezügen, Bibeln, Kreuze und ähnliches, wurden kaum angeboten. Ärger bereitete in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass in der Wittenberg-Information Produkte in den Vitrinen standen, die nicht für den Verkauf zur Verfügung standen.341

5.5 Wittenberg als Schaufenster zum Westen „Auf den Spuren Luthers durch die Deutsche Demokratische Republik – das ist wie eine Reise in eine bis dahin unbekannte Region“,342 schrieb ein Journalist der in Hamburg erscheinenden Die Zeit in seiner Reportage. Während beim Reformationsjubiläum 1967 westdeutsche Besucher oft an den Einreiserestriktionen gescheitert waren, empfing die DDR sie 1983 mit offenen Armen. Sieben verschiedene Lutherreiserouten wurden den Besuchergruppen aus dem Westen vom staatlichen Reisebüro der DDR angeboten. Alle Teilnehmer erhielten ein Zertifikat, welches Hotels und Lutherstätten siegeln sollten, „um den Aufenthalt für das Erinnerungsalbum zu bestätigen.“343 Die Besucherstatistik belegt, dass der zweite deutsche Staat Erfolg hatte beim Werben um westliche Touristen. In Wittenberg bekamen in den ersten elf Monaten des Jahres 1983 870 Gruppen aus dem westlichen Ausland, zumeist bundesdeutscher Herkunft, und 1.054 Gruppen aus der DDR Leistungen durch das örtliche Fremdenverkehrsamt vermittelt. In der Hochsaison waren täglich rund dreihundert westliche Besucher auf der historischen Meile zwischen Lutherhaus und Schlosskirche unterwegs.344 Touristen aus dem westlichen Ausland waren zunächst als Einnahmequelle und Devisenbringer willkommen.345 Die DDR erkannte im Lutherjubiläum aber auch die Möglichkeit einer positiven Darstellung des eigenen Staates und initiierte eine internationale Werbekampagne, die dem Land gewaltige mediale Aufmerksamkeit bescherte.346 Stadtinteressen gingen zwar nicht auto-

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tariats der SED, Vorbereitung und Durchführung der Martin-Luther-Ehrung der DDR aus Anlass seines 500. Geburtstags“, 30. 09. 1982, BArch DZ 9 2706, Bundesarchiv Berlin. Vgl. Protokoll Beratung Arbeitsgruppe Lutherehrung vom 4. 3. 1983, Materialsammlung zum Lutherjubiläum 1983, Stadtarchiv Wittenberg. Vgl. ebd. Strothmann, Genosse Luther? Pressebulletin des Organisationsbüros vom 1. März 1983, in: Materialsammlung Jubiläum zum Lutherjubiläum 1983, Stadtarchiv Wittenberg. Berichtvorlage für Sitzung Stadtrat am 8. Dezember 1983, Materialsammlung zum Lutherjubiläum 1983, Stadtarchiv Wittenberg. Im Lutherhaus wurde deshalb 1985 für westliche Besucher der Schließtag abgeschafft. Siehe Aktenvermerk und Schriftwechsel in Akte 51, Archiv StLu. Für die DDR-Botschaften wurde im Auftrag des Martin-Luther-Komitees eine Ausstellung

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matisch in Staatsinteressen auf, aber sie bezogen sich aufeinander. Die Stadt Wittenberg präsentierte vor Ort die nationalen Leistungen und fungierte als Erfolgssymbol für den Staat, als „Musterschaufenster der DDR“,347 wie der Reporter der Hamburger Die Zeit schrieb. Mittels vorbildlich gepflegter Luthergedenkstätten, frei zugängiger Kirchen und einer funktionierenden touristischen Infrastruktur ließ sich manchen Klischees und Vorurteilen begegnen, die Besucher aus dem Ausland zum Teil mitbrachten. Wittenberg erfüllte im Rahmen des Jubiläums die nationale Repräsentationsfunktion – die Stadt als Beispiel für die DDR, in der einzig die knarrenden Dielen der Lutherhalle von amerikanischen Luthertouristen bemängelt wurden.348 Zum wichtigsten Vermittler wurden die Gästeführer erklärt, die in der Regel als einzige Stadtbewohner einen längeren Zeitabschnitt mit den Touristen verbrachten. Eine Beschlussvorlage des Stadtrates aus dem Jahr 1982 sah die Ausbildung von Kräften vor, „die in der Lage sind, ein marxistisch-leninistisches Lutherbild zu vermitteln.“349 Die Stadtbilderklärer waren dazu angehalten, neben der Reformations- und Stadtgeschichte auch die Geschichte der Arbeiterbewegung, die vorbildliche Pflege der Gedenkstätten und des kulturellen Erbes durch die DDR sowie aktuelle Fragen der Weltpolitik zu thematisieren. Sie sollten, „ihre Arbeit als politische Aufgabe verstehen und dementsprechend ihre Stadtbilderklärung durchführen.“350 Diese Forderung ließ sich in der Praxis oft nicht durchsetzen, denn die Touristen waren ausschließlich an Luther und der Reformationsgeschichte interessiert und honorierten eine entsprechende ,Stadtbilderklärung‘ mittels großzügiger Trinkgelder. Zur besseren Kontrolle wurden die Gästeführer deshalb verpflichtet, in Form von Devisen eingenommene Trinkgelder gegen Ostmark einzutauschen und am Ende eines jeden Rundgangs mit einer Gruppe aus dem nichtsozialistischen Ausland einen Bericht zu verfassen.351 Um die möglichst positiven Eindrücke, die westliche Besucher aus der Lutherstadt mitnehmen sollten, nicht zu gefährden, waren enge Kontakte zwischen ihnen und den Besuchern aus der DDR nicht erwünscht. Für das Jubiläumsjahr wurden beispielsweise getrennte Busparkplätze für Besuchergruppen aus dem westlichen Ausland einerseits, DDR-Bürger andererseits

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konzipiert, um das Jubiläum international zu bewerben. Außerdem sind zahlreiche westliche Journalisten eingeladen worden, sich selbst ein Bild von den Lutherstätten der DDR zu machen. Vgl. „A useful hero“, Titelgeschichte des Time Magazine Nr. 42, 17. Oktober 1983. Strothmann, Genosse Luther. Aus dem Bericht des Lutherhallen-Direktors Hans-Joachim Beeskow über Besucherreaktionen auf das umgestaltete Museum geht die positive Resonanz der Touristen hervor. Lediglich einige amerikanische Gruppen würden das Knarren der alten Dielen bemängeln. Vgl. Bericht auf der Tagung der Zentralen Arbeitsgruppe des Martin-Luther-Komittees der DDR am 29. Juni 1983 in Berlin, in: Akte 60, Archiv StLu. Beschlussvorlage vom 17. 02. 1982, in: Materialsammlung zum Lutherjubiläum 1983, Stadtarchiv Wittenberg. Protokoll Beratung Arbeitsgruppe Lutherehrung vom 4. 03.1982, in: Ebd. Vgl. Protokoll Beratung Arbeitsgruppe Lutherehrung vom 22. 04. 1983, in: Ebd.

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eingerichtet.352 Auch die gastronomische Versorgung erfolgte getrennt, in den drei für westliche Touristen vorgesehenen Restaurants konnten im Zweischichtbetrieb insgesamt 340 Gäste bewirtet werden.353 Den westlichen Kirchengruppen machten die DDR-Touristiker jedoch das Zugeständnis, einen Tag ihrer Lutherreise mit einer heimischen Kirchengemeinde verbringen zu dürfen.

6. Vertrauen wagen – Das evangelische Wittenberg 6.1 Die kirchliche Ausgestaltung des Jubiläums 1983 Den virulenten Konfrontationen zwischen staatlichen und kirchlichen Stellen in den 1950er und 1960er Jahren war in der zweiten Hälfte der DDR-Geschichte eine Phase der zumeist friedlichen Koexistenz gefolgt. Das Arrangement der SED mit den Kirchen als Folge des Spitzengesprächs zwischen Erich Honecker und dem Vorstand der Konferenz der Kirchenleitungen 1978 hatte ein erhebliches Konfliktpotential entschärft.354 Dennoch betonte der Vorsitzende des kirchlichen Lutherkomitees, der Thüringer Landesbischof Werner Leich, im Vorfeld des Jubiläums, dass man „einen eigenen Weg gehen und Martin Luther vor allem als Reformator der Kirche, den Diener Gottes und Prediger der Frohen Botschaft von Jesus Christus sehen wird.“355 Den Kirchenvertretern steckte noch die Erfahrung der Feier 1967 in den Knochen, als sie sich von staatlichen Institutionen instrumentalisiert fühlten. Ähnlich wie 1967 war die staatliche Jubiläumsgestaltung eng mit der Kirchenpolitik der SED verbunden. Nur gemeinsam mit den Vertretern der Evangelischen Kirche konnte die Staatsmacht Luther glaubhaft würdigen und damit ihre mit dem Jubiläum verknüpften innen- und außenpolitischen Ziele erreichen. Aus diesem Grund wurden den Kirchen weitreichende Zugeständnisse gemacht, die sich positiv auf die Einreisepraxis, die Unterstützung kirchlicher Bauvorhaben, die Genehmigungspraxis kirchlicher Veranstaltungen und weitere Bereiche auswirkten. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit sollte das harmonische Verhältnis zwischen Staat und Kirche demonstriert werden. „Umfangreiche Restaurierungsarbeiten wurden seit 1981 an dieser Kirche von staatlicher Seite vorgenommen“, erfuhr der Besucher beispiels352 Protokoll Beratung Arbeitsgruppe Lutherehrung vom 14. 12. 1982, in: Ebd. 353 Vorgesehen waren der Goldene Adler am Markt, der Schlosskeller am westlichen Stadtende sowie das Kulturhaus Maxim Gorki in der Nähe des Lutherhauses. Protokoll Beratung Arbeitsgruppe Lutherehrung vom 4. 3. 1983, in: Ebd. 354 Vgl. Heinecke, Konfession und Politik in der DDR, 348 – 355; Hartweg, (Hg.), SED und Kirche; Besier, Der SED-Staat und die Kirche 1969 – 1990. Die Vision vom dritten Weg. 355 Leich, In der Suche nach dem Sinn des Lebens uns allen verbunden; zu den Kirchen im Jubiläumsjahr vgl. Bräuer, Das Luther-Gedenkjahr 1983 und die Kirche in der DDR.

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weise auf einer vor der Schlosskirche aufgestellten Hinweistafel.356 Ein Pressebeitrag der Lokalzeitung unterstrich, dass „mit staatlichen Baukapazitäten“ das Dach der Stadtkirche neu eingedeckt wurde.357 Der Stadtkirchengemeinde gelang es im Jubiläumsjahr auch, ein großes Gemeindezentrum im Stadtteil Friedrichstadt zu errichten und die Diakonissen des evangelischen PaulGerhardt-Stiftes erhielten ein modernes Wohngebäude, wodurch ihr Verbleib in Wittenberg und damit der kirchliche Charakter des Krankenhauses gesichert wurden.358 Trotz aller Annäherungsversuche bestanden weiterhin zentrale Interessensgegensätze zwischen Kirche und Staat und nicht in jedem Fall war der zwischen den Mächtigen geschlossene ,Burgfrieden‘ auf die lokale Ebene durchgedrungen. Beispielsweise waren die Kirchenvertreter Mitglieder im staatlichen Lutherkomitee unter Vorsitz von Erich Honecker, während ihnen beim örtlichen Wittenberger Organisationskomitee keinerlei offizielle Konsultations- oder gar Mitspracherechte zugebilligt worden waren. In einer von den Organisatoren nicht steuerbaren Interpretation, die mittels Störungen des festgelegten Ablaufs, Gegenveranstaltungen oder Parallelgeschehen eine andere Sicht der Dinge öffentlich machen konnte, lag jedoch eine mögliche Gefahr für den erhofften Erfolg des öffentlichen Feierns. Deutungseliten versuchen stets, dies zu unterbinden. Geschieht dies durch Ausschluss einer wichtigen Teilöffentlichkeit, wird die rituell-szenische Form der Vermittlung von Vergangenheit prekär. Zwei Bereiche waren in Wittenberg besonders konfliktbeladen: In der Lutherstadt stritten beide Seiten zum einen um Zugriffsrechte auf die Reformationsgedenkstätten, zum anderen um Deutungshoheiten beim Umgang mit den zahlreichen Luthertouristen. Zu Beginn des Jubiläumsjahres war es in Wittenberg zu einer gemeinsamen Ortsbesichtigung aller Reformationsstätten durch Vertreter des staatlichen und des kirchlichen Lutherkomitees gekommen, bei der lokale Repräsentanten der Stadt und der Kirche vor Ort den Sanierungsstand sowie alle das Lutherjubiläum betreffenden Fragen referierten. Da die Rechtssituation vor allem bei der Schlosskirche umstritten war, hatte man sich in Wittenberg auf 356 Schreiben Stadtrat Pusch vom 10. 01. 1983, in: Materialsammlung Lutherehrung 1983, Stadtarchiv Wittenberg. 357 Presseberichterstattung Freiheit, 1. 08. 1981. 358 Auf dem Gelände des Krankenhauses sollte mit bereits gekauftem Baumaterial und in Eigenleistung ein 30–Betten-Haus errichtet werden. Im Jubiläumsjahr 1983 sollte es die geringen Übernachtungskapazitäten Wittenbergs ergänzen, im Anschluss daran als Schwesternwohnheim genutzt werden. Nachdem der Rat des Kreises die Baugenehmigung zunächst verweigert hatte, baten die Akteure Erich Honecker um Unterstützung. Nach dessen Intervention erfolgte schließlich der Baubeginn. Wolfgang Flügel sieht die Entstehungsgeschichte als ein Beispiel für die Konkurrenz innerhalb der SED. Während die Parteiführung an einem Entspannungskurs gegenüber den evangelischen Kirchen interessiert war und ein möglichst konfliktfreies Jubiläum inszenieren wollte, gab es auf lokale Ebene erhebliche Widerstände. Die Signaturnummern des diesbezüglichen Schriftverkehrs im Evangelischen Zentralarchiv in: Flügel, Konkurrenz um Reformation und Luther, 277.

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eine Außenpräsentation durch den Bürgermeister und auf eine Innenpräsentation durch den Direktor des Predigerseminars geeinigt.359 Die Stadt versuchte bei dieser Gelegenheit erneut, Ansprüche geltend zu machen. Aus diesem Grund beklagte sich der Stadtkirchenpfarrer Langer in einem Schreiben an seinen Vorgesetzten über die „gutsherrschaftliche Art“ des Bürgermeisters Lippert, der für die Stadt als Eigentümer des Schlosskirchengebäudes erweiterte Zugriffsrechte gefordert hatte. Lange sah die seit 1817 geltenden besonderen Nutzungsrechte des Evangelischen Predigerseminars bedroht und zog Parallelen zur ähnlich gelagerten Rechtssituation der Lutherhalle, wo es dem Staat nach 1945 gelungen war, kirchlichen Einflussund Mitspracherechte zu negieren.360 Eng verbunden mit der Frage des Hausrechts waren Aspekte der Vermittlung. Die Stadtkirchengemeinde hat für das Jubiläum 1983 rund fünfzig ehrenamtliche Kirchenführer für den Besuchsdienst in beiden Wittenberger Kirchen vorbereitet, um das staatliche Deutungsmonopol zu brechen und gegenüber den Besuchern den Charakter eines Gotteshauses zu betonen.361 Bereits Ende der 1970er Jahre hatte es Bemühungen gegeben, neben Pfarrern und Küstern weitere Gemeindemitglieder für den Führungsdienst zu gewinnen beziehungsweise zu qualifizieren.362 Hier reagierte die Kirchengemeinde auch auf Anfragen von besuchsinteressierten Gruppen, die dezidiert nach kirchlichen Führern fragten363 und griff auf Erfahrungen vorangegangener Jubiläen zurück. Bereits zum Reformationsjubiläum 1967 waren für kirchliche Gäste seitens der Stadtkirchengemeinde Rundgänge durch Wittenberg offeriert worden.364 Im Hinblick auf das Jubiläum 1983 bestand der Gemeindekirchenrat der Stadtkirche auf seinem Hausrecht und stellte sich gegen die Führungen städtischer Kräfte innerhalb der Stadtkirche.365 Demgegenüber hob der Bürgermeister 1982 noch einmal hervor, einzig die Stadt habe das Recht, Stadtbilderklärer auszubilden.366 Bei einer Besprechung im Februar des folgenden Jahres einigten sich städtische und kirchliche Verantwortliche dann 359 Vgl. Protokoll Besichtigung, in: Akte B 37, Teil 2, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 360 Vgl. Brief Pfarrer Langer an Kirchenpräsident Rogge und Konsistorialpräsident Kramer, 27. 01. 1983, Akte 18, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 361 Vgl. Protokoll Sitzung GKR Stadtkirche vom 28. 01. 1983, in: Akte B 37, Teil 2, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 362 Ein entsprechender Vermerk findet sich im Protokoll der vorbereitenden Besprechung des Tages der Offenen Kirche vom 28. Oktober 1978. Vgl. Akte B 85, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 363 Vgl. Anfrage Kirchengemeinden aus DDR-Gebiet, aber auch aus Bielefeld 1973, Würzburg 1977 und den Vereinigten Staaten, in: Akte B 33, Archiv Stadtkirche Wittenberg. 364 Vgl. Akte B 37b, Archiv Stadtkirchengemeinde. 365 Vgl. Schreiben GKR an Rat der Stadt vom 9. 9. 1981, in: Akte B 21 (1), Archiv Stadtkirche Wittenberg. 366 Protokoll Gespräch zwischen dem Direktor des Predigerseminars und einem Vertreter des Rats der Stadt, 01. Oktober 1982, in: Karton Kirchentag 1983, Archiv Predigerseminar Lutherstadt Wittenberg.

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grundsätzlich darauf, dass in der Stadt städtisch ausgebildete Kräfte, in der Stadtkirche hingegen kirchliche Führungskräfte zum Einsatz kommen sollten. Die Situation der Schlosskirche blieb umstritten, weil das Gebäude sich im Eigentum der öffentlichen Hand befand, das Predigerseminar jedoch das Monopol der Nutzung innehatte.367

6.2 Vom Kirchentag zur Protestantischen Revolution Die Kirchenführungen in der DDR hatten im Zuge der ersten Überlegungen und Planungen368 für das Lutherjubiläum 1983 schnell verstanden, dass der Großteil der offiziellen staatlichen und kirchlichen Feiern, des zu erwartenden Luthertourismus, aber auch diverse Ausstellungs-, Kunst- und Filmprojekte wenig mit dem evangelischen Gemeindeleben zu tun haben würden. Deshalb begannen sie mit der Vorbereitung von Kirchentagen, um Mobilisierungseffekte innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft generieren zu können, aber auch, um nach außen wirkungsvoll Präsenz zu zeigen. Statt einer zentralen Großveranstaltung für die gesamte DDR waren sieben regionale Kirchentage geplant, deren gemeinsames Motto Vertrauen wagen hinreichend unbestimmt blieb, um weder staatlichen Argwohn noch konfessionelle Ressentiments zu wecken.369 Alle regionalen Kirchentage fanden als fröhliche Glaubensfeste statt, die aber dennoch ein hohes Risikopotential bargen, denn sie „waren darauf angelegt, Kirchengrenzen zu überschreiten und eine größere Öffentlichkeit anzusprechen, also alles das zu tun, was eine ,Kirche im Sozialismus‘ nicht tun sollte“,370 erinnerte sich der Vorsitzende der Kirchentagsausschüsse, Otto Schröder. Insbesondere der Wittenberger Kirchentag im September 1983,371 der bereits im Vorfeld auf ein großes Interesse westlicher Medien gestoßen war, bereitete den Machthabern erhebliche Kopfschmerzen.372 Der für Kirchenfragen zuständige Staatssekretär Klaus Gysi bezeichnete ihn als den schlimmsten von allen, denn hier trat eine sich formierende unabhängige 367 Protokoll Gespräch Vertreter Kirche und Rat der Stadt, 11. Februar 1983, in: Karton Kirchentag 1983, Archiv Predigerseminar Lutherstadt Wittenberg. 368 Erste Überlegungen gab es bereits 1975, um einen Vorsprung der kirchlichen Träger der Reformationserinnerung vor den staatlichen Stellen zu sichern. In diesem Zusammenhang sollten die kirchlichen Vorhaben auch möglichst frühzeitig öffentlich gemacht werden. Im Ergebnis verfügte die Kirchenseite vor den staatlichen Jubiläumsplanern über eine Organisationsstruktur sowie einen detaillierten Aufriss des geplanten Programms. Vgl. Flügel, Konkurrenz um Reformation und Luther, 265 f. 369 Vgl. Besier, Der SED-Staat und die Kirche 1983 – 1991. Höhenflug und Absturz, 47ff; Röder, Begegnungen in offener Atmosphäre. 370 Schröder, Auf schmalem Grad, 178. 371 Vgl. Hannemann, Der Wittenberger Kirchentag im Lutherjahr 1983. 372 Vgl. Vermerk zu internationaler Pressekonferenz in Ostberlin am 13. 01. 1983, in: Akte B 37, Teil 2, Archiv Stadtkirche Wittenberg.

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Friedensbewegung unter dem Schutz der prominenten bundesdeutschen Besucher und vieler Medienvertreter aus dem westlichen Ausland auf. Auf dem Marktplatz der Stadt sprach Richard von Weizsäcker, damals noch Regierender Bürgermeister von Westberlin, als Mitglied des Rates der Evangelischen Kirchen in Deutschland. Staatliche Stellen hatten bereits im Vorfeld geargwöhnt: Es ist weiter zu erwarten, dass namhafte internationale Gäste dazu bewegt werden, die Lutherehrungen zu einer Ermunterung und Unterstützung des Inspiratoren einer von der Friedenspolitik unseres Staates ,unabhängigen Friedensbewegung‘ zu missbrauchen.373 (Protokoll ZK-Sekretariatssitzung vom 29. 09. 1982)

In Vorbereitung auf das Lutherjubiläum hatte der Schmied Stefan Nau vom Rat der Stadt den Auftrag erhalten, die Schwerter der Kurfürstenstandbilder über der Thesentür der Schlosskirche zu erneuern. Als Mitglied der kirchlichen Friedensinitiative hatte er sich aber auch bereiterklärt, im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung auf dem Lutherhof ein Schwert zu einer Pflugschar umzuschmieden. Die Schmiedeaktion unter großer öffentlicher Anteilnahme war der Höhepunkt der kirchlichen Friedensarbeit374 und ein mutiges politisches Bekenntnis zu einem Zeitpunkt, als staatlicherseits das Tragen von Aufnähern Schwerter zu Pflugscharen längst untersagt worden war. Die bildliche Inszenierung erwies sich als ein wirksames Medium, denn selbst Aufnäher auf Kleidungsstücken wurden in einem autoritären Staat, der das Erinnerungs- und Identitätsmonopol beanspruchte, zu subversiven Symbolen.375 Die Staatssicherheit griff jedoch in die Schmiedeaktion nicht ein, um das Gelingen der gesamten Jubiläumsinszenierung in Wittenberg nicht zu gefährden.376 Im Spannungsfeld der Erinnerungspolitik des zweiten deutschen Staates hatte die ,Luther-Memoria‘ im Jahr 1983 eine ungeahnte Brisanz erhalten und ließ sie für diejenigen attraktiv werden, die sich eine kritisch-distanzierte Haltung gegenüber dem Staat bewahrt hatten. Luthers autoritätskritische Haltung gegen Papst und Kaiser „rückte ihn aus dem historischen Abstand plötzlich in das Hier und Heute“ und sein Handeln „bekam unter den Bedingung der DDR-Realität einen Vorbildcharakter für sehr verschiedene un373 Protokoll Sitzung des ZK-Sekretariats vom 29. 09. 1982, SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/33427, zitiert in: Silomon, ’Schwerter zu Pflugscharen‘ und die DDR, 220. 374 Vor dem Hintergrund des NATO-Doppelbeschlusses sowie der drohenden Stationierung neuer sowjetischer Nuklearwaffen in der DDR hatten die evangelischen Kirchen eine eindeutige pazifistische Haltung öffentlichkeitswirksam artikuliert. Dies interpretierte die SED-Führung als Staatshetze. Die Bedeutung der sowjetischen Raketenstationierung vor dem Hintergrund des Reformationsjubiläums betont: Dähn, Das Lutherjubiläum im Schnittpunkt der Innenund Außenpolitik der DDR. 375 Vgl. Sandl/Eibach (Hg.), Protestantische Identität und Erinnerung, 23. 376 Vgl. Eckert, Schwerter zu Pflugscharen.

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angepasste und kritische Menschen.“377 Hieran scheiterten letztlich die staatlichen Instrumentalisierungsversuche im Rahmen der Lutherehrung 1983, die zur „Konstruktion einer nationalen Tradition sozialistischer Couleur“ führen sollten.378 Die evangelische Kirche wurde zu einem Katalysator eines Widerstandes, der unter Umkehrung der offiziellen Reformationsgeschichtsschreibung der DDR die revolutionären Traditionen plötzlich für sich reklamierte.379 Sie war zwar als Ergebnis der kirchenfeindlichen Haltung der SED-Herrschaft auf eine Kerngemeinde reduziert worden, aber die konfrontative Kirchenpolitik hatte sie auch für Akte der Verweigerung gestärkt, die sich in den 1980er Jahren längst nicht mehr auf kircheninterne Vorgänge bezogen, sondern weit über die kirchliche Klientel hinausgriffen. Auch jenseits der Kirchenmauern wuchs die Bereitschaft, Anliegen zu unterstützen, die zunächst in Kirchenkreisen thematisiert worden waren.380 Der Einsatz für den Frieden, das vom Kirchlichen Forschungsheim in Wittenberg initiierte Engagement für den Umweltschutz381 sowie Initiativen zur Bewahrung der historischen Altstadt hatten in der Lutherstadt kirchliche und kirchenferne Oppositionelle zusammengeführt. Das Thema des ersten Wittenberger Bürgerforums am 1. November 1989 war nicht zufällig die Umweltbelastung der Region und zu den zentralen lokalpolitischen Forderungen, auf die sich alle Beteiligten im Herbst 1989 verständigen konnten, gehörte die Rettung der historischen Cranach-Höfe.382 In Wittenberg war im Jubiläumsjahr 1983 etwas gewachsen, worauf die Menschen sich in den folgenden Jahren beziehen konnten.383 Dies galt nicht nur in Bezug auf die Luthererinnerung unter den spezifischen Bedingungen des Jubiläumsjahres, sondern auch für die Denkmallandschaft. Der Schmied der Aktion auf dem Lutherhof hatte 1983 den Auftrag erhalten, einen globusförmigen Friedensleuchter für die Wittenberger Schlosskirche anzufertigen. Der nach einem Vorbild im schwedischen Uppsala gefertigte Leuchter diente als Kristallisationspunkt der Wittenberger Friedensbewegung. An diesem Ort endeten die Aktivitäten der kirchlichen Friedensaktivisten, indem 377 Dorgerloh, Dem Mute Luthers folgen, 234. 378 Sandl/Eibach (Hg), Protestantische Identität und Erinnerung, 23. 379 Während die offizielle DDR-Geschichtsschreibung die Reformation vor allem als eine Sozialrevolution ausdeutete, handelte es sich in der Lesart der kirchlich bewegten Opposition um eine Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung. Zu den verschiedenen Revolutionsmodellen vgl. Selbin, Gerücht und Revolution. 380 Vgl. Pollack, Der Umbruch in der DDR, 48; Kleßmann, Die Beharrungskraft, 152. 381 Das Kirchliche Forschungsheim bot in den 1980er Jahren eine für DDR-Verhältnisse singuläre Möglichkeit von Diskussion und Meinungsbildung über ökologische Themen. Vgl. Gensichen, Von der Kirche zur Gesellschaft. 382 In den späten 1980er Jahren standen die Höfe auf der Abrissliste. Vgl. Vom Rauputz befreit. Die Verbindung von Kunst- und Bürgersinn: Der restaurierte Cranachhof in Wittenberg, FAZ vom 16. 07. 1998. 383 Für die Kirchenprovinz Sachsen vgl. Hohmann, Schwerter zu Pflugscharen; für Wittenberg siehe Bronk, Der Flug der Taube und der Fall der Mauer.

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sie sich zum gemeinsamen Gebet um den Leuchter versammelten und Kerzen ansteckten. Im Lutherjahr 1983 führte beispielsweise ein ,Friedensspaziergang‘ vierzig Mitwirkende zu dem Leuchter384 und „es fand eine Sichtbarmachung und ein Räumlichwerden der eigenen Überzeugungen statt.“385 Am Beispiel des Leuchters zeigt sich, wie die Wittenberger Oppositionsbewegung in den materiellen Bestand der Denkmallandschaft eingegriffen hat und somit auch die damit verbundene Praxis der Reformationserinnerung beeinflusste, denn seit 1983 können alle Besucher der Kirche eine Kerze erwerben und diese am Leuchter entzünden. In der Beteiligung am Olof-Palme-Friedensmarsch 1987 setzte sich das Wittenberger Engagement für den Frieden fort. Es handelte sich dabei um eine, wenn auch widerwillig, durch staatliche Akteure mitgetragene Aktion. Der Pilgerweg des Friedens am 1. September 1989 verlieh dem politischen Aufbruch dann eine neue Dimension, denn im Unterschied zu dem Friedensmarsch zwei Jahre zuvor bedeutete er einen selbstständigen Weg an die Öffentlichkeit, der sich ohne die Beteiligung staatlicher Massenorganisationen vollzog. Erneut endete der Zug von etwa einhundert Friedensaktivisten mit einem Fürbittegebet am Leuchter in der Schlosskirche.386 Wiederholt erwies sich die mit Wittenberg verbundene Reformationserinnerung im Revolutionsjahr 1989 als symbolpolitische Ressource, auf die die Akteure zurückgriffen. Am Reformationstag des Jahres waren die beiden Wittenberger Gotteshäuser überfüllt, sodass eine Lautsprecherübertragung auf dem Schlosshof stattfand. Die am Abend geplante Kerzenprozession deutete Propst Hans Treu als „szenische Dramatisierung der von innen nach außen drängenden Erneuerung“,387 für die die Reformation das Paradigma lieferte: Deshalb hat Martin Luther seine Thesen nicht im internen Zirkel seiner Studenten und Kollegen erörtert, sondern sie am 31. Oktober 1517 veröffentlicht, bekannt gemacht für jedermann und so eine Erneuerung in Kirche und Gesellschaft in Gang gesetzt. Wir wollen diese Bewegung von innen nach außen heute nachvollziehen. Wir wollen die Erneuerung aus der Kirche durch die Straßen unserer Stadt auf den Marktplatz tragen.388 (Hans Treu, 31. 10. 1989)

Bevor die Menschen die Kirche verließen, sangen sie das Aussendungslied Bewahre uns Gott und die Schlusszeile Sei mit uns auf allen Wegen konnte ganz unmittelbar auf den bevorstehenden Gang aus dem Schutzraum der Kirche hinaus zum Markt bezogen werden. Obwohl die Kerzenprozession mit den 384 385 386 387 388

Vgl. Schorlemmer, Worte öffnen Fäuste, 180. Bronk, Der Flug der Taube, 97. Vgl. Schorlemmer, Worte öffnen Fäuste, 31. Bronk, Der Flug der Taube, 148. Zitiert in: Bronk, Der Flug der Taube, 148.

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Vertrauen wagen – Das evangelische Wittenberg

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Stadtoberen im Vorfeld abgestimmt worden war, hatte sie aufgrund ihrer politischen Bedeutungsaufladung dennoch den Charakter einer nicht genehmigten Demonstration. Die Kerzenprozession unter Glockengeläut sowie die sich daran anschließende Versammlung auf dem Marktplatz verbanden Ritual, politische Emotion und historische Erinnerung. Das Ritual des Zuges vermittelte den Teilnehmern ein revolutionäres Erlebnis, das aus dem Gefühl des Aufbegehrens gegen die Machtinhaber gespeist wurde und sich durch den Ort und den Zeitpunkt – die Lutherstadt Wittenberg an einem Reformationstag – nicht nur auf das gegenwärtige Geschehen, sondern auch auf ein Ereignis der Vergangenheit bezog. Gleichwohl waren die Verantwortlichen stets darum bemüht, gewaltsame Kräfte zu kanalisieren und das Aufbegehren gegen die Obrigkeit in die Tradition der zivilisierenden und demokratisierenden Revolutionen zu stellen.389 Auf dem Marktplatz, der sich, kerzengeschmückt, von einem politischen Raum in einen Kirchraum verwandelt hatte, versammelten sich an dem Abend rund 10.000 Menschen. Dieses ,Ineinanderübergehen‘ von Gottesdienst und Demonstration verlieh der Versammlung etwas spezifisch „Wittenbergisches“, erinnerte sich einer der Akteure später.390 Der hier erfolgte Übergang vom Glauben zur Politik wurde durch ein Strukturmerkmal des Protestantismus erleichtert: Der evangelische Pfarrer ist eben nicht, wie sein katholischer Amtsbruder, vorrangig Verwalter von Sakramenten. Sein Amtscharisma speist sich aus der Funktion des Predigers, also des Redners.391 Die Wortführer bedienten sich an jenem Abend einiger Texte Luthers und Melanchthons, um ihre politische Botschaft zu unterstreichen. Sie führten einen fiktiven Trialog mit den beiden Reformatoren, der bereits für den Kirchentag 1983 vorbereitet worden war. Im Luther-Jubiläumsjahr hatten sich die evangelischen Kirchen der drohenden Vereinnahmung der historischen Erinnerung mit der Strategie widersetzt, den Schwerpunkt nicht auf die Person, sondern auf ihre Texte zu legen.392 Das Wittenberger Modell hatte unter anderem aus einer Beschäftigung mit sieben Schriften des Reformators unter der Überschrift „Mit Luther im Gespräch“393

389 Die demonstrative Ablehnung jeglicher Form von Gewalt und der Anspruch einer friedlichen Revolution sind wesentliche Signaturen des kirchlich getragenen Aufbegehrens gegen die Machthaber im Jahr 1989. Vgl. diesbezüglich auch Selbins Deutung der protestantischen Reformation als Ursprung einer „zivilisierenden und demokratisierenden Revolution“. Selbin, Gerücht und Revolution, 131. 390 Zitiert aus einem Gespräch mit Jörg Bielig, in: Bronk, Der Flug der Taube, 161. 391 Sprach- und handlungstheoretisch gestützte Beobachtungen sind ein wichtiger Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, inwieweit es sich bei den Ereignissen des Herbstes 1989 um eine ,Protestantische Revolution‘ gehandelt hat. Ein wichtiger Aspekt sind beispielsweise die Friedensgebete als Form politischer Spiritualität. 392 Der Landesbischof Dr. Leich formulierte anlässlich der Eröffnung des Lutherjahres programmatisch, man wolle „Luther zu Wort kommen lassen“. Vgl. Zeddies, Das Lutherjahr in der DDR, 198. 393 Vgl. Broschüre „Mit Luther im Gespräch. Studientexte für die Gemeindearbeit“, Berlin 1983.

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bestanden und ist in die Kirchentagsgeschichte eingegangen.394 Über den Kontext des Kirchentages 1983 sowie der Ereignisse des Herbstes 1989 hinaus entsprach dies dem Selbstverständnis der evangelischen Kirchen, denn die Begründung einer spezifisch protestantischen Identität fußt vor allem auf einer Selbstbeschreibung, bei der die erinnerte Eigengeschichte unter Schriftauslegung interpretiert wird. Diese bezieht sich nicht nur auf die Heilige Schrift, denn auch die Schriften der Reformatoren sind konstitutiv für das evangelische Selbstverständnis.395 Der im Herbst 1989 geübte Rekurs auf die Reformatoren fand zwischen ihren Denkmälern statt und machte diese weit über kirchliche Kreise hinaus zu Symbolfiguren für Bürger-Widerständigkeit.396 Der von Schadow geschaffene Figurentypus des kraftvoll-entschlossenen Gelehrten auf dem Wittenberger Marktplatz unterstrich die Parallelität von vergangenem Geschehen und gegenwärtigem Ereignis und für eine begrenzte Zeit wurde „Luther zum Symbol eines konfliktvollen Widerstehens und Standhaltens […] weit über jene Kreise hinaus, für die Luther immer schon zum Grundpfeiler einer protestantischen Identität gehörte.“397 Das gesamte Geschehen lässt sich in die Tradition des obrigkeitskritischen Protestes einordnen, der das historische Profil des Luthertums stets mitgeprägt hatte. Am Ende der Kundgebung auf dem Marktplatz heftete Gottfried Keller, Pfarrer der Stadtkirche, sieben Thesen zum Dialog an das Portal des Rathauses und nutzte damit die im kulturellen Gedächtnis abgespeicherte Urszene der Geschichte des Protestantismus zur politischen Artikulation: Zum Reformationstag gehören Thesen. Ich habe sieben Thesen zum Dialog vorbereitet und möchte sie heute nicht an die Kirchentür, sondern an die Rathaustür heften.398 (Gottfried Keller, 31. 10. 1989)

Der aus dem Schutzraum der Schlosskirche in den öffentlichen Raum des Marktplatzes dringende Protest der Teilnehmer erhielt durch die liturgische Ausgestaltung – Glockengeläut, Kerzenprozession, Kirchenlieder auf dem Markt – sowie die inhaltliche Rückbindung an die Reformationsgeschichte „einen unentbehrlichen Artikulationsmodus“.399 Ganz anders verlief beispielsweise die vom Wittenberger Theater am 4. November 1989 organisierte Demonstration, deren Verlauf ein Teilnehmer im Nachhinein als chaotisch bezeichnete, denn „es fehlte die gemeinsame Sprache der Protestierenden, in 394 395 396 397 398 399

Vgl. Schröder/Peter (Hg.), Vertrauen wagen, 78ff und 102. Vgl. Sandl, Interpretationswelten der Zeitenwende, 27 ff. Vgl. Sandl/Eibach (Hg.), Protestantische Identität und Erinnerung, 23. Dorgerloh, Dem Mute Luthers folgen, 254. Zitiert in Bronk, Der Flug der Taube, 163. Bronk, Der Flug der Taube, 164.

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Vertrauen wagen – Das evangelische Wittenberg

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denen ihre Gefühle aufgehoben gewesen wären.“400 Es mangelte ihnen an einem symbolischen „kohärenten Ausdruckssystem“, denn „symbolische Schranken und Grenzziehungen sind das, was die Erfahrungen des Menschen ordnet.“401 Nicht nur das Geschehen des 31. Oktober 1989 rekurrierte auf die reformationsgeschichtliche Vergangenheit Wittenbergs. Im Lutherhaus fand der erste Runde Tisch Wittenbergs statt und knüpfte symbolpolitisch nicht nur an die Tischgespräche des Reformators, sondern auch an Cranachs Abendmahlsdarstellung auf dem Altarbild der Stadtkirche an.402 Mit Fug und Recht kann deshalb behauptet werden, der Runde Tisch habe in der Stadt Wittenberg eine lange Tradition. Auf diese Weise inspirierte die Reformationsgeschichte einen neuen Erinnerungsstrang, denn fortan erinnert Wittenberg „auch an die christlichen, im Besonderen die protestantischen Wurzeln der friedlichen Revolution“,403 die hierdurch auch zu einer ,Protestantischen Revolution‘ geriet.

400 Ebd. 401 Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, 74. 402 Zum Runden Tisch im Lutherhaus im Dezember 1990 siehe: Treu, Die Lutherhalle zwischen 1980 und 1991. 403 Huber, Wittenberg, 169.

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V. Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg in der Gegenwart

Zeitgeschichtliche Forschung mit einem engen Gegenwartsbezug ist mit starken Einschränkungen behaftet: Die Epoche ist kein chronologisch abgeschlossenes Forschungsgebiet, die Archivalien unterliegen einer Sperrfrist und die Akteure des Geschehens sind oftmals noch im Amt. Außerdem steht zeitgeschichtliche Forschung immer in einem engen Wechselverhältnis zur Politik. Sie ist allein deshalb schon brisant, weil durch die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes und des methodischen Zugangs oft Themenfelder besetzt werden, die einen aktuellen Handlungsdruck erzeugen oder verstärken können. Darüber hinaus berührt die wissenschaftliche Beschäftigung mit der unmittelbaren Vergangenheit politische Interessenslagen auch insoweit, als hier eine vorläufige Deutung relativ aktueller Geschehnisse oft in aktuelle Politik transformiert wird. Das folgende Kapitel ist Gegenstand einer Gegenwartsdiagnose, welche die Entwicklung des Zeitabschnitts 1990 bis 2012 in den Gesamtkontext der Geschichte des Erlebnisraums Lutherstadt Wittenberg seit 1883 einordnet. Die reformationsgeschichtliche Erinnerung in der Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des NS-Staates sowie der DDR konnte als jeweils abgeschlossene Epoche einer umfassenden Analyse unterzogen werden, die Aufschlüsse darüber gibt, wie die unterschiedlichen Gesellschaften sich einen Zugang zur Reformationsgeschichte bahnten. Es wurde versucht, die spezifischen Mechanismen auszuleuchten, mittels derer die Gesellschaften sich erinnerten und die Vergangenheit der Gegenwart einverleibten. Aber wie verändern sich diese Prozesse kollektiven Erinnerns in der Welt von heute? Und welche Auswirkungen hat dies auf Institutionen, die explizit damit beauftragt sind, Erinnerung zu bewahren und zu vergegenwärtigen? Allein die Tatsache, dass zehn Jahre vor dem nächsten großen Reformationsjubiläum die Lutherdekade auch als eine Zeit des Nachdenkens über gegenwärtige und zukünftige Erinnerungspraxen ausgerufen wurde, indiziert das Ende vieler Gewissheiten. Heute weiß noch niemand, wie die Reformationserinnerung des Jahres 2017 aussehen soll. Wer sind die Akteure? Und wer die Adressaten? Wie feiert beispielsweise eine mehrheitlich konfessionslose Stadt eine reformatorische Entstehungsgeschichte, die über Generationen hinweg Identität und Gemeinschaft gestiftet hatte? Das folgende Kapitel unternimmt eine erste Einordnung und skizziert die sich daraus ergebenden Herausforderungen für die zukünftige Entwicklung des Erlebnisraums Lutherstadt Wittenberg.

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Die Lutherstadt im vereinigten Deutschland

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1. Die Lutherstadt im vereinigten Deutschland 1.1 Städtische Identität Eine Stadt ist nicht nur als bebauter Raum zu begreifen, sondern als Bewusstseinsgemeinschaft ihrer Einwohner, in der fortwährend über die Anerkennung von Deutungen, die Zulassung von Inhalten und Perspektiven sowie den Sinn und Unsinn von imaginierten Konstruktionen verhandelt wird. Im Mittelpunkt stehen städtische Selbstbilder als „weitgehend dauerhafte Denkfiguren“ sowie „Kerne des lokalen Wissensvorrats, der sich auf die Eigenschaften der Stadt bezieht.“1 In Krisensituationen wie dem Strukturwandel nach 1990, der mit dem Wegbrechen der großen Industrien, hoher Arbeitslosigkeit und einer massiven Bevölkerungsabnahme einherging, wurde dieses präreflexive Hintergrundwissen in den Städten Ostdeutschlands in besonderem Maße aktiviert.2 Es handelt sich dabei um ein erworbenes Wissen, auf das Städte im Umgang mit Transformationssituationen zurückgreifen können. Ilse Helmbrecht spricht in diesem Zusammenhang von der Stadtidentität als einer „verborgenen Kategorie“, welche in Umbruchphasen an die Stelle anderer Identitätskonstruktionen treten kann: Deutlich zutage tritt die Identität einer Stadt oder Region oft in der Krisensituation, wenn aufgrund eines strukturellen Wandels nun nicht mehr gewiss ist, was im Zentrum steht. Im Brüchigwerden vertrauter Identitäten wird nach und nach offenbar, was fehlt. Die städtische Identität ist gerade dann besonders wichtig, wenn sie [die vertrauten Identitäten – Anm. d. Verf.] abhanden kommen.3

Wittenberg hat sich trotz vergleichbarer Deindustrialisierungs- und demographischer Schrumpfungserfahrungen im Zuge der gesellschaftlichen Strukturbrüche nach 1990 anders verhalten als ähnlich aufgestellte Städte Ostdeutschlands. Die Stadt an der Elbe musste sich nicht erst auf eine schwierige Suche nach einer neuen Identität begeben,4 sondern konnte auf eine bereits erfolgreich etablierte und eindeutig definierte Selbstbildressource zurückgreifen, die von einer Mehrheit der Einwohner mitgetragen wurde. In einer 2010 erstellten Umfrage gaben fünfzig Prozent der Befragten an, Wittenberg als ,Stadt der Reformation‘ zu sehen, dreiunddreißig Prozent wollten Wittenberg als ,Stadt an der Elbe‘ verstanden wissen und sieben Prozent als ,Stadt der Chemie‘.5 1 2 3 4

Christmann, Dresdens Glanz, 50. Vgl. Berking, Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen, 15 ff. Zitiert in: Matzig, Monopoly der Städte. Vgl. diverse Städtetopoi: Chemnitz als „Stadt der Moderne“, Leipzig wahlweise als „Heldenstadt“, „Musikstadt“ oder „Bachstadt“, Dessau als „Bauhausstadt im Gartenreich“, „Raum für Ideen“ oder „Bauhausstadt“. 5 Vgl. Wittenberg will in Zukunft näher an die Elbe rücken, Mitteldeutsche Zeitung, 01. 04. 2010.

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Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg in der Gegenwart

Die Kontinuität der ,Lutherstadt‘ lässt sich mit der permanenten Abrufung des mit Wittenberg verbundenen historisch-symbolischen Kapitals erklären. Detlef Briesen wies in seiner historisch orientierten Perspektive darauf hin, dass Prozesse der Identifikation von „Stereotypen, Fantasien und Images zur städtischen Umwelt beeinflusst sind“,6 die im historischen Verlauf ermittelt werden. Wittenberg gehört zu den heritage cities, deren Geschichtlichkeit nicht das Ergebnis eines geschickten, meist touristisch intendierten Stadtmarketings ist. Erst hierdurch wird die für die historische Erinnerung notwendige Aura der Authentizität erzeugt, die Bewohnern und Besuchern ein Gefühl für Echtheit und Originalität vermittelt und konstitutiv im vermeintlich direkten Zugang zu vergangenem Geschehen ist. Im Gegensatz hierzu stehen die resort cities, deren Historizität künstlich erzeugt wurde.7 Was also andernorts erst kunstvoll inszeniert werden muss, fungiert in Wittenberg als Re-Inszenierung des Überlieferten. Die Lutherstadt zählt deshalb zu den wenigen Orten Deutschlands mit einer „Kontinuität von wirklicher und nicht disneyfizierter Geschichte“,8 die für die kognitive Ordnung nach 1990 richtungsweisend war und die von den Entscheidungsträgern nur abgerufen werden musste. Die ,Voreinstellung‘ als ,Lutherstadt‘ erwies sich in der Transformationsphase der vergangenen beiden Jahrzehnte als entscheidender Vorteil, denn historische Städte, die in der Vergangenheit ein beachtliches kulturelles Kapital angehäuft hatten, verfügten nach 1990 über bessere Ressourcen und symbolische Qualitäten und profitierten davon stärker als andere Räume. Das Bild der ,Lutherstadt‘, das Wittenberg in einem langen historischen Prozess von sich entworfen hatte, wurde nach der deutschen Wiedervereinigung noch einmal gestärkt. Einerseits ist dies als eine Reaktion auf den äußeren Druck zum Besonderen, als Standortargument im Wettstreit der Städte zu verstehen. Andererseits war die Stärkung der Stadtidentität als ,Lutherstadt‘ Ausdruck einer verbindlichen Orientierung nach innen, denn der 1990 in Wittenberg einsetzende Veränderungsprozess war nicht nur institutionell begründet, sondern ging einher mit der Neustrukturierung sozialer und räumlicher Ordnungen. Eindeutig definierte Selbstbilder und Selbstdeutungen über das Wesen der ,Lutherstadt Wittenberg‘ konnten deshalb die Hintergrundfolie für viele getroffenen Entscheidungen bilden und auf einen breiten Konsens stoßen. Der nach 1990 eingeschlagene Weg der Stadt stellt jedoch keinen Automatismus dar. Der theoretische Ansatz von Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis geht davon aus, dass die Aktualisierung historischen Wis6 Briesen, Die symbolischen Grenzen der Stadt, 33. 7 Vgl. die Unterscheidung zwischen heritage cities, die ihr historisches Kapital für den Tourismus nutzen und resort cities, die für den Tourismus geschaffen wurden und die aus ihm gewachsen sind. Pott, Orte des Tourismus, 119. 8 Christine Hannemann, Soziales Kapital kleiner Städte, 13.

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Die Lutherstadt im vereinigten Deutschland

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sens vom Sozialzusammenhang abhängig ist, denn Gedächtnis und Erinnerung sind vor allem soziale Phänomene. Gruppen rekonstruieren Vergangenheit aus der Gegenwart heraus und formen sie immer wieder neu. Löst sich jedoch die zum Raum gehörende soziale Gruppe auf, verschwindet auch das Gedächtnis, das an diesen Raum gebunden ist.9 Die für Wittenberg geltenden Selbstbilder und Selbstdeutungen waren nach 1990 nicht mehr konfessionell begründet, denn der Protestantismus hatte seine einstmals beherrschende Rolle bei der städtischen Identitätskonstruktion längst eingebüßt. Die seit Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgte ,Ausdünnung‘ des mehrheitlich mit der Stadtkirchengemeinde verbundenen traditionellen Wittenberger Bürgertums zugunsten der Arbeiterschaft und der ,neuen‘ Funktionseliten in Industrie und Verwaltung resultierte in einem stetigen Verlust an Einfluss und Bedeutung der evangelischen Christen seit Mitte des Jahrhunderts. Ihr Anteil im Jahr der Wiedervereinigung lag nur noch bei rund einem Viertel der Stadtbevölkerung und nahm seitdem weiter ab. Eine im Zeitraum 1990 bis 1992 erstellte Untersuchung zum sozialen Wandel in den Neuen Bundesländern am Fallbeispiel Wittenberg ermittelte zudem durch Umfragen, dass von den verbliebenen evangelischen Bürgern Wittenbergs nur jeder Fünfte durch regelmäßigen Gottesdienstbesuch sowie Partizipation am Gemeindeleben seine Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche bekundete, während vier Fünftel nicht oder kaum praktizierende Protestanten waren.10 Die städtische Identität ist somit eindeutig nicht mehr konfessionell begründet. Die symbolische Verortung einer Stadt ist nur dann erfolgreich, wenn sie mit dem ,Imaginären‘ korrespondiert.11 In Wittenberg scheint diese Voraussetzung erfüllt: Obwohl die konfessionelle Orientierung der Wittenberger Bevölkerung in der Gegenwart schwach ausgeprägt ist und sich aufgrund der Empirie nicht mehr von einer ,festen Burg gelebten evangelischen Glaubens‘ sprechen lässt, gaben 1992 vierzig Prozent aller für die Sozialstudie Befragten an, dass die lutherische Tradition eine besondere Bedeutung für sie habe. Sie begründeten dies überwiegend mit dem Verweis auf die Geschichte und den Tourismus. Eine religiöse Begründung findet sich in den Antworten der Befragten hingegen kaum.12 Die ,Lutherstadt‘ begründete in den Augen einer Mehrheit ihrer Einwohner zwar keine konfessionelle, aber immer noch eine soziale Identität: Dass sich in den vergangenen zwanzig Jahren kaum etwas an dieser Einschätzung verändert hat, verdeutlicht die Aussage des Altbischofs Huber, der 2010 resümierte: „Die weltgeschichtliche Wirkung der Reformation wird von der Bewohnerschaft der Stadt insgesamt anerkannt, und sei es zur Pflege des Tourismus.“13 9 10 11 12 13

Vgl. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Vgl. Lange/Schröder, Sozialer Wandel in den neuen Bundesländern. Vgl. Lindner, Textur, ,imaginaire‘, Habitus. Vgl. Lange, Sozialer Wandel, 316. Huber, Wittenberg, 150.

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Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg in der Gegenwart

Mit der Aufrufung einer großen Geschichte Wittenbergs wurden bestimmte Projektionen für die Zukunft entworfen. Eine klar definierte, auf die Vergangenheit bezogene städtische Identität bedeutet „die Schaffung von Konstanz in der Zeit, die Herstellung einer Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft.“14 Die Stadt soll in den Augen ihrer Einwohner auch im wiedervereinigten Deutschland ihren angestammten Platz in der nationalen Kulturlandschaft behalten. Diese Erwartungshaltung deckt sich mit dem Blick von außen. Die Aufnahme der Lutherstätten in das UNESCO-Welterbe 1996 oder auch die intensive finanzielle Unterstützung des Bundes für Vorhaben der Lutherdekade 2008 – 2017 haben Wittenberg als Ort nationaler und internationaler Aufmerksamkeit aufgewertet und insbesondere die Bedeutung der Stadt im Prozess des kulturell begründeten nation building des wiedervereinigten Deutschland hervorgehoben.

1.2 Luther als Bezugsgröße Die Art und Weise, wie Wittenberg ,erzählt‘ wird, liefert Einsichten in die Imaginationen, die mit der Stadt verbunden sind. Auffällig ist die Reduktion der ,Lutherstadt‘ auf die Person des Reformators, die sich an den Festanlässen und deren Ausgestaltung, aber auch an der Entwicklung der musealen Darstellung der Reformationsgeschichte sowie an der touristischen Vermarktung Wittenbergs seit 1990 festmachen lässt. Die Lokalpresse resümierte, Wittenberg sei „heute ganz auf den Luther-Kosmos eingeschnurrt.“15 Der Blick auf die Wittenberger Festgeschichte belegt exemplarisch, dass die Fixierung auf die Person des Reformators bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt hatte, seit der deutschen Wiedervereinigung jedoch an Dynamik gewann. Waren ursprünglich die Ereignisse der Reformationsgeschichte – Thesenanschlag, Augsburger Bekenntnis und Religionsfrieden – gefeiert worden, orientierte man sich seit 1883 zunehmend an den biographischen ,Wegmarken‘. Die veränderte Kommemoration im Fest ist auch Ausdruck einer „die Gegenwart gedächtnispolitisch präformierende[n] Werteorientierung an Luther“ und damit ein typisches Charakteristikum der „Erinnerungskultur des deutschen Protestantismus.“16 Die runden Jahrestage der Geburts- und Sterbejahre der Reformatoren wurden gebührend begangen, während beispielsweise das 450. Jubiläum des Augsburger Bekenntnisses im Jahr 1980 im Wittenberger Festkalender keine exponierte Rolle mehr gespielt hat. Die in der Mitte der 1980er Jahre als Museumsfest begründete Tradition, Luthers Eheschließung festlich zu begehen, verstärkte hingegen in Wittenberg den Trend 14 Giddens, Tradition, 464. 15 Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Mitteldeutsche Zeitung, 30. 10. 2010. 16 Kuhlemann, Erinnerung und Erinnerungskultur, 33.

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zur Personalisierung der Reformationsgeschichte und lieferte die Idee für das seit 1994 begangene Stadtfest Luthers Hochzeit.17 Eng verbunden mit der Reduktion der Reformationserinnerung auf die Person Martin Luthers ist dessen ,physische‘ Omnipräsenz. Der historische Festumzug des Jahres 1883 war noch ohne Lutherdarsteller ausgekommen. Von den Lutherfestspielen abgesehen, bedurften auch die Jubiläumsfeiern des 20. Jahrhunderts keiner körperlichen Präsenz des Reformators. Erst die an den Stadtfeiern Mitwirkenden in der Zeit des wiedervereinigten Deutschlands sahen in einem Lutherdarsteller einen unverzichtbaren Bestandteil ihrer Feste. Für das alljährlich begangene Stadtfest Luthers Hochzeit wird beispielsweise seit 1994 ein Lutherpaar gewählt, welches nicht nur im Festumzug mitwirkt, sondern mittels Hochzeitsmahl, Anschneiden der Hochzeitstorte und ähnlicher Programmbestandteile permanent anwesend ist. Lutherdarsteller ,tanzen‘ aber inzwischen auch auf anderen ,Hochzeiten‘ und eröffnen das Weinfest ebenso wie den Töpfermarkt. Selbst bei Betriebs-, Schul- und Behördenjubiläen, die in keinem inhaltlichen Zusammenhang mit der Reformationsgeschichte stehen, zeigt Luther Präsenz. Nicht nur die Feste und Jubiläen, sondern auch der Wittenberger Fremdenverkehr ist ganz auf die Person des Reformators zugeschnitten, während die Darstellung des ,Werkes‘ stetig an Bedeutung verliert.18 Die Gästeführer präsentieren die Geschichte der Stadt und der Reformation als einen biographischen Rundgang und rücken die ,menschliche Existenz‘ Luthers in das Zentrum der Darstellung. Auch Lutherdarsteller sind regelmäßig unterwegs und verwandeln Wittenbergs Straßen in eine Theaterbühne. Ein reichhaltiges Repertoire an Mitbringseln, die von den Luthersocken bis zum Lutherbier alle erdenklichen Produkte mit dem Konterfei des Reformators versehen, hält die Erinnerung an das auf die Person des Reformators fokussierte Besuchserlebnis zusätzlich wach. John Urry sieht hierin allgemein ein Indiz für „eine eindeutige Verschiebung in der Konstruktion der Vergangenheit von einer mit einer Aura versehenen Geschichte hin zu einem mit Warencharakter behafteten geschichtlichen Erbe.“19 Die zunehmende Konzentration auf die Person Luthers wurde von einer städtischen Geschichtspolitik befördert, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten wenig Interesse an anderen Kapiteln der Wittenberger Stadtge17 Mit Geburtstag, Sterbetag und Hochzeit sind noch nicht alle Möglichkeiten eines biographisch orientierten Festkalenders ausgeschöpft, wie die Stadt Mansfeld beweist. Dort wurde 2007 erstmals „Luthers Einschulung“ gefeiert. Vgl. Die Schindleiche lebt. Wittenberg und andere Lutherstätten, FAZ vom 20. 04. 2007. 18 Die für Öffentlichkeitsarbeit zuständige Pfarrerin des Kirchenkreises Wittenberg umschrieb die touristische Fixierung auf die Person des Reformators und dessen reformatorischen Akt (statt reformatorischer Lehre) folgendermaßen: „Zu Wittenberg gehören Martin Luther und sein Thesenanschlag […] Was wäre die Stadt ohne beides! Wahrscheinlich wäre es kaum verlockend, dieser Stadt einen Besuch abzustatten.“ Siehe Luther-Gedenken 1996, 39. 19 Urry, Wie erinnern sich Gesellschaften ihrer Vergangenheit?, 30 f.

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schichte zeigte. „Die Geschichte Wittenbergs umfassend darzustellen und damit die in der Vergangenheit herrschende Fixierung auf einige herausragende Persönlichkeiten und Epochen der Stadtgeschichte aufzubrechen“,20 bildete zwar das erklärte Ziel eines anlässlich des 1993 begangenen Stadtjubiläums herausgegebenen wissenschaftlichen Aufsatzbandes. Die Schließung des Stadtgeschichtlichen Museums, die Einstellung der Schriftenreihe zur Stadtgeschichte, der unbefriedigende Zustand des Stadtarchivs und die im Jubiläumsjahr 2002 eher pflichtschuldig als leidenschaftlich erinnerte Universitätsgeschichte sprechen jedoch eine andere Sprache und zeigen, dass Wittenberg die eigene Vergangenheit in den vergangenen zwanzig Jahren nur sehr punktuell erinnerte. Befördert wurde die zunehmende Konzentration auf die Person des Reformators aber nicht nur von der städtischen Historiographie, sondern auch von externen Akteuren der Geschichtspolitik. Die Initiatoren des Reformationsjubiläums 2017 haben sich beispielsweise frühzeitig auf eine Luther-, keine Reformationsdekade festgelegt und mit dieser thematischen Engführung den erinnerungswürdigen Kern des Jubiläums anhand eines personen-, nicht eines wirkungsgebundenen Standpunktes definiert.21 1.3 Die Akteure städtischer Geschichtspolitik Das mit einer Stadt verbundene kulturelle Gedächtnis umfasst Artikulationen dessen, wie eine Stadt sich selbst sieht und wie sie von außen wahrgenommen wird. Es handelt sich dabei keineswegs nur um künstliche, unter politischem oder wirtschaftlichem Druck von außen entworfene Bilder, sondern vielmehr um das komplexe Zusammenspiel von ,Image‘ und ,Imaginärem‘. Während das Image ein Produkt kurz- und mittelfristiger politischer Ziele ist, wird das Imaginäre alltagskulturell produziert und verweist auf den langlebigen Erfahrungsraum der Stadt.22 Die an den Raum gebundene historische Erinnerung steht in einem engen Zusammenhang mit dem Imaginären. Sie ist nicht einfach intentional herstellbar und kann auch nicht ohne die sie hervorbringenden Akteure gedacht werden. Der Weg, der zur Konstituierung einer an Raum gebundenen historischen Erinnerung führt, ist stattdessen als ein Konstruktions- und Aushandlungsprozess zu verstehen, an dem verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Macht- und Durchsetzungschancen beteiligt sind.23 Eine Analyse dieses Prozesses erfordert es deshalb, sich in das Feld der daran Beteiligten zu begeben. Zu fragen ist, wer an den Interpretationen des Vergangenen beteiligt ist und wessen Geschichte dargestellt wird.24 20 Oehmig (Hg.), 700 Jahre Wittenberg, 9. 21 Das offizielle Logo mit dem Text „Luther 2017. 500 Jahre Reformation“ zeigt das Konterfei des Reformators. 22 Vgl. Lindner, Textur, ,imaginaire‘, Habitus. 23 Vgl. Zeitler, Raumbezogene Identität, 130. 24 Bittner tut dies anhand des Dessauer Beispiels. Vgl. Bittner, Bauhausstadt Dessau, 199 ff.

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Die Lutherstadt im vereinigten Deutschland

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In Wittenberg haben bis weit in das 20. Jahrhundert hinein soziale Gruppen, die sich hierfür als besonders geeignet erwiesen oder fühlten, die Stadtidentifikationsprozesse mittels kollektiver Erinnerung initiiert oder organisiert. Die Akteure variierten in Zahl und Professionalität, waren aber meist an kommunale, staatliche oder kirchliche Institutionen gebunden, in deren Händen sich die Geschichtspflege befand.25 Bereits in den 1980er Jahren hatte sich jedoch mit der Laienarbeit als einer außerhalb wissenschaftlicher Institutionen angesiedelten ,Geschichtsauseinandersetzung von unten‘ eine beginnende Pluralisierung des Zugangs zur städtischen Vergangenheit angedeutet, die neue Handlungsräume eröffnete. Diese Entwicklung setzte sich seit der deutschen Wiedervereinigung fort, denn das Gravitationszentrum solcher Prozesse lag immer weniger im Rathaus und umfasste deshalb nicht nur die institutionellen Akteure einer Stadt. Neben die Kommunalverwaltung und das Fremdenverkehrsamt, die Pfarrer, Denkmalschützer, Archivare und Museumsdirektoren traten subinstitutionell angelegte Netzwerke als neue Akteure einer städtischer Geschichtspolitik, die nach einem Ende der ,objektiven Geschichte‘ einen Beitrag zur Mehrstimmigkeit der Interpretation leisteten. Für den Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg sind vor allem die zahlreichen nach 1990 entstandenen historischen Vereine hervorzuheben, die sich auf unterschiedliche Weise auf die Stadtgeschichte beziehen und identitätsstiftend wirken. Zu nennen sind hier beispielsweise das Bauernvolk, die Gruppe Höfisch Gesang, die Wittenberger Stadtwache und die Waschweiber als deren weibliche Ergänzung, aber auch der Fanfarenzug, der Trachtenverein, die Botenläufer und Luthers Freunde. Erst mit ihnen gewinnt das Zusammenspiel zwischen entworfenen Bildern und alltagsweltlich verankerten Identitäten an Kontur, denn sie agieren außerhalb der großen behördlich verfassten Erbe- und Kulturverwalter. Die Vereine tragen zur Schärfung der Identität als ,Lutherstadt‘ bei und belegen, dass es sich nicht um einen ausschließlich ,von oben‘ verordneten Prozess handelt. Wie diese Akteure an das städtische Erbe anknüpfen, gibt Hinweise darauf, welche Vorstellungen sie mit der städtischen Vergangenheit verbinden. Obwohl jeder Verein einen ganz eigenen Zugang zur Vergangenheit entwickelt hat, beziehen sie sich alle auf die gleiche Epoche der Stadtgeschichte. Alle rekurrieren auf die Lutherzeit. Andere denkbare Anknüpfungspunkte für das ,Wiederauflebenlassen‘ von Vergangenheit, beispielsweise die Preußenzeit Wittenbergs oder die Schlachten Napoleons vor den Toren der Stadt, spielten in den Jahren seit 1990 hingegen keine Rolle. Das ,städtische Wittenberg‘ erscheint deshalb auch in der Gegenwart in der passiven Rolle der von der Reformationsgeschichte ,ernährten‘ Kommune und führt erinnerungskulturell ein Schattendasein, während Luther und die Reformationszeit Erinnerungen, Narrative und Deutungsmuster beherrschen. Am Kreis der Mitwirkenden der historischen Vereine sowie des von ihnen 25 Zu Eliten und deren Durchsetzungsstrategien vgl. Prehn, Deutungseliten – Wissenseliten.

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gepflegten Zugangs zur städtischen Vergangenheit lassen sich einige Wittenberg-spezifischen Besonderheiten ablesen. Die, wenn auch schwach ausgeprägten, akademischen Eliten Wittenbergs fühlen sich von diesen Vereinen wenig angezogen und nutzen diese auch nicht als Mittel zur Durchsetzung von Deutungshoheiten. Die Tradition einer akademisch geprägten Erinnerungspolitik, beispielsweise in Form eines klassischen Geschichtsvereins oder der Herausgabe heimatgeschichtlicher Periodika, ist nach 1990 abgebrochen.26 Die in den Vereinen wirkenden Akteure haben hingegen keine historische Expertise und sie betreiben deshalb auch keinerlei akademisch geprägte Rezeption der städtischen Vergangenheit. Im Mittelpunkt der Vereinsaktivitäten stehen weder Vortragsreihen noch Publikationsprojekte oder Recherchen. Eine zweite Besonderheit der Vereinsaktivitäten hängt mit der konfessionellen Situation Wittenbergs zusammen. „Es drängt sich […] der Gedanke auf, dass das historische Erbe der Reformation von vielen Wittenbergern mehr als überkommenes, zu pflegendes und zu verwaltendes Kulturgut, denn als ein immer wieder von neuem mit Leben zu erfüllender Geist angesehen wird“,27 schlussfolgerten die Forscher der 1992 publizierten Sozialstudie. Bezieht man diesen ,Geist‘ auf eine konfessionell angelegte Reformationserinnerung, ist der Befund nicht falsch. Dennoch beschränkt sich die Reformationserinnerung nicht auf eine blutarme ,Kulturgutpflege‘. Die historischen Vereine, deren Mitgliedsstruktur eine mehrheitlich kirchenferne Stadtbevölkerung widerspiegelt, verstehen Wittenberg nicht als ,Feste Burg‘ des Luthertums, sondern begreifen die Stadt als schwellenarmen Ort unterschiedlicher auf die Reformationsgeschichte bezogener kultureller Produktionen. Angesichts einer schwindenden bildungsbürgerlich-protestantischen Trägerschicht hat sich deshalb die Selbstdarstellung der Lutherstadt Wittenberg verändert. Die historischen Vereine Wittenbergs haben mit ihren vielfältigen Aktivitäten, die von einer Mitgestaltung der Stadt- und Reformationsfeste bis zur Mitwirkung an Fremdenverkehrsprojekten reichen, eine Dynamik entfaltet, der sich auch andere Akteure nicht mehr entziehen können. So beteiligen sich inzwischen weitere Vereine, die ursprünglich in keiner Weise auf die Reformationshistorie rekurriert hatten, an historischen Festumzügen und -Märkten oder entwickeln selbstständig Initiativen, die die Identität Wittenbergs als ,Lutherstadt‘ festigen. Ein Beispiel hierfür sind die Botenläufer, die sportliche Aktivität mit der Verbreitung einer ,Wittenberger Botschaft‘ verbinden und mittels zahlreicher Staffelläufe, unter anderem nach Worms und nach Rom, für das Wittenberg der Lutherzeit werben. Der Luther-Cup, ein durch den Kreissportbund organisiertes Fußballturnier verschiedener Freizeitmann26 Während in anderen Städten Ostdeutschlands die in den 1980er Jahren begonnenen lokalgeschichtlich orientierten Veröffentlichungsreihen (Dresdner Hefte, Veröffentlichungen des Vereins für Stadtgeschichte in Halle etc.) nach der Wiedervereinigung eine Fortsetzung erfuhren, erschien in Wittenberg 1991 das letzte Heft der Schriftenreihe für Stadtgeschichte. 27 Lange, Sozialer Wandel, 316.

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schaften, ist ein weiteres Beispiel für die ,sportliche Aneignung‘ des Erbes der Reformation. Die von subinstitutionell angelegten Netzwerken entfachte Dynamik hat inzwischen auch auf institutionelle Akteure übergegriffen. So initiierte das Haus der Geschichte, ein der Alltagskultur des 20. Jahrhunderts gewidmetes Museum in der Wittenberger Altstadt, eine Ausstellung zum Lutherjubiläum 1983 sowie ein Forschungsprojekt zur Lutherrezeption in der DDR. Auch die nach der Wende ins Amt gelangten Entscheidungsträger der Kommunalverwaltung haben das Bild der ,Lutherstadt‘ aufgegriffen und mitgetragen, obwohl sie überwiegend der ,technischen Intelligenz‘ zuzurechnen sind und mit der politischen Neuordnung der Stadt nach der deutschen Wiedervereinigung aus dem Piesteritzer Stickstoffwerk in die Amtsstuben wechselten.28 Eine kommunalpolitisch gewollte Positionierung Wittenbergs als Industriestadt, verbunden mit der Prioritätensetzung zugunsten des Ausbaus der Industrievororte gegenüber der historischen Altstadt, wäre nach 1990 möglich gewesen, ist aber nicht erfolgt. Abzulesen ist dies an allen touristischen Publikationen, die auf Initiative der Stadtverwaltung herausgegeben worden sind und die, im Gegensatz zu vergleichbaren Veröffentlichungen während der DDR-Zeit, nicht mehr Vergangenheit und Gegenwart thematisieren, sondern sich ausschließlich auf die Darstellung der Lutherstadt beschränken.

2. Wittenberg baut – Die Denkmallandschaft 2.1 Primat der Lutherstadt Die Analyse von Inhalten und Formen historischer Erinnerung muss nicht nur stadtsoziologisch, sondern gleichermaßen architekturhistorisch und bildwissenschaftlich angelegt sein. Am Beispiel der Prioritätensetzung bei der Sanierung von historischer Bausubstanz oder der Rekonstruktion historischer Bauwerke lässt sich der Prozess der Herstellung und Verfestigung städtischer Symbole als geschichtliche Landmarken gut verfolgen,29 denn „die Planungspraxis lebt davon, die Besonderheiten einer Stadt zu isolieren und daran angepasste Vorschläge für die Raumkonzeption zu erarbeiten.“30 Die als rekonstruktionswürdig angesehenen Bilder und Symbole sagen dabei viel über das Selbstverständnis der Stadt aus,31 denn die Bewohner eines Ortes haben unabhängig von ihrer sozialen Lage „ein ästhetisches Bild ihrer Stadtgemeinde im Kopf, dem sie sich alle mehr oder weniger verbunden 28 29 30 31

Vgl. Lange, Sozialer Wandel, 159. Vgl. Bittner, Bauhausstadt Dessau, 131. Löw, Soziologie der Städte, 11. Vgl. Färber, Urbanes Imagineering in der postindustriellen Stadt.

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fühlen.“32 Zu fragen ist demnach, welche Stadtquartiere, Gebäudeensembles oder Einzelbauten nach 1990 eine besondere Aufwertung erfuhren und damit als bedeutsam für die Formierung eines gegenwärtigen sowie zukünftigen Wittenbergs angesehen wurden. Die selbstreferentielle Identitätspolitik Wittenbergs drückt sich in der baulichen Gestaltung des Stadtraums aus. In den Selbstbildentwürfen ist das Primat der Lutherstadt ablesbar, welches die Hintergrundfolie der gesamten Stadtentwicklung seit 1990 bildet. Konkurrierende Selbstbilder hatten in Wittenberg keine Chance, sich zu entfalten. So kam beispielsweise niemand auf die Idee, Wittenberg als moderne Stadt zu beschreiben – ein Selbstverständnis, das auch die industriell geprägte Vergangenheit integriert hätte. Welche Materialität diese Entwürfe haben, zeigen die Prioritäten, die nach 1990 auf dem Feld der Stadtsanierung und Stadtentwicklung gesetzt wurden. Die Schwerpunktsetzung folgte nicht nur, im Sinne einer selektiven Historisierung, einem touristisch vermarktbaren Leitbild, sondern hatte auch etwas mit den mentalen Dispositionen einer Stadt zu tun.33 Bei Fragen des Stadtumbaus und der Stadtsanierung hat Wittenberg der historischen Altstadt in den vergangenen zwei Jahrzehnten Priorität eingeräumt. Die im Wendeherbst 1989 bürgerschaftlich angestoßene Rettung der Cranachhöfe hatte bereits einen wichtigen ,Suggestionspunkt‘ für die Wiederherstellung alter Stadtstrukturen geschaffen. Auch kleine Eingriffe in die Materialität Wittenbergs, wie beispielsweise die Einsetzung altdeutscher Butzenscheiben im Melanchthonhaus, trugen dazu bei, den vermeintlich authentischen Charakter zu stärken und die reformatorische Vergangenheit erlebbar zu machen.34 Bei der Innenstadtsanierung ging es aber nicht nur um die bauliche Aufwertung einzelner Objekte, sondern um die Stärkung eines charakteristischen Gesamtbildes im Sinne der Lutherstadt, wie beispielsweise die Freilegung der Stadtbäche sowie die historische Pflasterung aller Innenstadtstraßen in den Nachwendejahren belegen. Im Zentrum dieser Entscheidungen stand das gewünschte Bild der Altstadt, nicht sie selbst. In diesem Prozess entstand eine mitunter artifizielle Wirklichkeit, die ihre bisherigen Alltagsbezüge immer mehr verlor: Während das milieu de mmoire schwand, gewann der lieu de mmoire an Kontur.

32 Christmann, Dresdens Glanz, 38. 33 Dresden hat sich beispielsweise für den Wiederaufbau des barocken Herzens entschieden, weil die Stadt an die alte Bedeutung einer Kunst- und Kulturresidenz anzuknüpfen versucht. Das kollektive Gedächtnis von ,Elbflorenz‘ materialisiert sich somit in der Frauenkirche und der Neumarktbebauung. Vgl. Rehberg, Das Canaletto-Syndrom. 34 Dass die mit der Ende des 19. Jahrhunderts erfolgten Historisierung des Hauses intendierte Wirkung auf die Besucher bis in die Gegenwart anhält, bestätigt ein 1993 erschienener Museumsführer : „Noch heute umgibt uns hier das Fluidum der einstigen geistigen Atmosphäre und lädt zum Verweilen ein.“ Die Butzenscheiben des Hauses verstärken den Effekt. Siehe: Wießner, Melanchthonhaus, 12 f.

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Einen weiteren Schub erhielt Wittenbergs „kontinuitätsideologisch“35 motivierte Stadtsanierung durch die 2004 bis 2010 erfolgte Teilnahme an der Internationalen Bauausstellung, die Konzepte für den Umgang mit einer rückläufigen Bevölkerung entwickelt hat. Die Lutherstadt hat keine neuen Stadtvisionen entworfen, sondern bestehende Potentiale gestärkt. Mit der IBA-Beteiligung unter der Überschrift Campus Wittenberg wurde versucht, in Anlehnung an die einstige Bedeutung als Universitätsstadt, Wittenberg als Wissenschafts- und Bildungsstandort aufzuwerten.36 Alle IBA-Projekte befanden sich im historischen Zentrum, das durch die Sanierung zahlreicher historischer Gebäude ästhetisch aufgewertet sowie mit neuem Leben gefüllt werden sollte. Der Abschluss der Sanierungsarbeiten an den Cranachhöfen und ihre Etablierung als Werkstatt im Campus sowie die bauliche Aufwertung des unteren Schlosses und die Umgestaltung desselben zu einem internationalen Jugendgästehaus unter dem IBA-Titel Wohnen im Campus zeigen, dass mit der Bauausstellung zwei für die Reformationsgeschichte zentrale Gebäude saniert sowie für eine Stärkung des Luthertourismus fremdenverkehrstauglich gemacht werden konnten. Die gegenwärtige Sanierung des Zeughauses am Arsenalplatz ermöglicht die geplante Umsiedelung der Städtischen Sammlungen und des Ratsarchivs aus dem Schloss, welches bis 2017 für die Zwecke des Evangelischen Predigerseminars, die Einrichtung eines Zentrums für Predigtkultur sowie eines Besucherzentrums der Schlosskirche nutzbar gemacht werden soll. Außerdem wurde mit der baulichen Herrichtung der alten Mädchenschule in der Jüdenstraße die Voraussetzung für die Ansiedelung eines christlichen Reiseveranstalters geschaffen, der dort unter dem IBA-Titel Campus im Campus Wohn- und Unterrichtsräume für Studenten aus lutherischen Colleges in den Vereinigten Staaten eingerichtet hat. Die rund vierzig Studenten sollen als temporäre Bewohner Wittenbergs konkrete Position im internationalen Luthertum aufwerten. Alle IBA-Projekte sind Teil der Strategie, Wittenberg als ,Lutherstadt‘ ansehnlicher und funktionstüchtiger zu machen und stellen eine entscheidende Bedeutungsinvestition in die Zukunft Wittenbergs als protestantischen Erinnerungsort dar.

2.2 Die Reformationsmusealisierung des Stadtraums Was zählt zur Lutherstadt und ist konstitutiv für den Erinnerungsort? Die historischen Stadtansichten heben das Schloss und die Schlosskirche, die Doppeltürme der Stadtkirche, die Häuser Melanchthons und Luthers sowie das Collegium der Universität hervor. Ein prächtiger Holzschnitt von 1611 listet eine staatliche Zahl von dreißig Orten auf, die als stadttopographisch bedeutsam anerkannt wurden. Die Cranachhöfe, aus einer modernen touris35 Lipp, Denkmalpflege und Geschichte, 158. 36 Vgl. Pasternack/Müller, Wittenberg als Bildungsstandort. Gutachten.

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tischen Karte der Lutherstadt nicht mehr wegzudenken, fehlen jedoch auf den historischen Stadtansichten. Als die UNESCO im Jahr 1996 die Luthergedenkstätten zum Weltkulturerbe erklärte, ging auch sie selektiv vor und bezog sich lediglich auf die Wohnhäuser Luthers und Melanchthons sowie auf die beiden Kirchen. Schloss, Rathaus und Universitätsgebäude als steinerne Repräsentationsorte der „säkularen Transmissionsriemen“ der Reformation fielen allerdings durch das Raster, ebenso die Wohnhäuser von Luthers und Melanchthons Zeitgenossen und Mitstreitern.37 Der Verweis auf die historischen Stadtansichten und die UNESCO-Auswahl zeigt, dass die Definition des Bestandes der reformationsgeschichtlichen Denkmallandschaft Wittenbergs stets eine interpretatorische Entscheidung war. Seit der gezielten Ausformung der Denkmallandschaft im preußischen 19. Jahrhundert hat sich dieser Bestand jedoch stetig erweitert und umfasst heute mehr Orte als je zuvor. Dieser Prozess hat seit der Wiedervereinigung Deutschlands noch einmal wesentlich an Dynamik gewonnen, wofür nicht nur die zur Verfügung stehenden materiellen Ressourcen, sondern auch die wachsende ökonomische Ausrichtung Wittenbergs auf den Fremdenverkehr und vor allem die mentale Verfasstheit als ,Lutherstadt‘ verantwortlich sind. Hatte der Ausbau der Denkmallandschaft zunächst auf der Grundlage eines von monarchischen und bürgerlichen Kräften gemeinsam getragenen Geschichtsdiskurses stattgefunden, sind im 20. Jahrhundert immer stärker ökonomisch-touristische Beweggründe ausschlaggebend geworden. Inzwischen herrschen in Wittenberg „die ehrgeizigsten Pläne, alles was in der Stadt mit der Reformation zu tun hat, museal und touristisch aufzurüsten“, kommentierte ein Reporter der Süddeutschen Zeitung.38 Ihren Anfang hatte die museale Expansion Wittenbergs im wiedervereinigten Deutschland mit der Sanierung der Cranachhöfe genommen. Sie sind die ersten Gebäude, an denen nach 1990 demonstriert wurde, dass geschichtliche Zeugnisse der Reformationszeit für die Zukunft der Stadt einen herausragenden Wert darstellen. Die Höfe wurden inzwischen als öffentlich zugängige Räume in die Wittenberger Denkmallandschaft integriert und werten diese durch einen museal genutzten Bereich auf. Die Erhaltung der Apotheke, die Einrichtung einer Malwerkstatt sowie einer historischen Druckerstube im Cranachhof Schlossstraße 1 und die Umwandlung des Cranachhofes Markt 4 in einen Kunsthof mit Ateliers und Kunstgewerbeläden stehen in einem direkten Bezug zum Wirken Lucas Cranachs in Wittenberg und lassen dessen Erbe in zeitgemäßer Form lebendig werden. Was im Herbst 1989 mit den Cranachhöfen begonnen hatte, setzte sich im Verlauf der vergangenen beiden Jahrzehnte an anderer Stelle fort. Die evan37 Rhein, Luther – ein Genius Loci?, 22; Das Land Sachsen-Anhalt bemüht sich inzwischen, weitere reformationsgeschichtlich bedeutsame Gebäude Wittenbergs auf die UNESCO-Liste setzen zu lassen. 38 Wittenberg baut, Süddeutsche Zeitung, 12. 01. 2011.

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gelische Stadtkirchengemeinde entschied sich beispielsweise für einen Traditionsbruch, indem das Bugenhagenhaus nach aufwendiger bauhistorischer Erforschung und Sanierung zu einem Begegnungs- und Kommunikationszentrum ausgebaut wurde. Erstmals in seiner Geschichte wird das älteste erhaltene evangelische Pfarrhaus der Welt nicht mehr von den Pfarrern der Gemeinde als Wohnhaus privat genutzt, sondern ist öffentlich zugängig. Dank einer kleinen Ausstellung hält es die Erinnerung an den dritten Wittenberger Reformator und seine Nachfolger im Superintendentenamt wach. In der regionalen, auf der örtlichen Amtsnachfolge basierenden Kirchengeschichtsschreibung verbürgt die Schau für die Nachwelt die Verbindung zum Ursprungsmythos der konfessionellen Gruppe und setzt damit die Tradition der von Stefan Dornheim beschriebenen „Verräumlichung von Eigenzeit“ des protestantischen Pfarrhauses als einen möglichen Pfad in die kollektive Vergangenheit der örtlichen Kirchgemeinde fort.39 Die Kommune beteiligte sich ebenfalls an der Musealisierungstendenz des Altstadtbereichs und hat durch die Entscheidung, die Verwaltungseinrichtungen erstmals in ihrer Geschichte nicht mehr im historischen Rathaus am Markt unterzubringen, die Nutzung des stattlichen Renaissancebaus als Museum ermöglicht. Die 2001 gegründete Stiftung Christliche Kunst des 20. Jahrhunderts zeigt im Rathaus Graphiken international bekannter Künstler der Moderne mit dezidiert christlichen Themen und stellt damit die ,Anschlussfähigkeit‘ des protestantischen Erinnerungsortes an die Gegenwart unter Beweis. Hierbei wird allerdings auch die bereits unter Oskar Thulin begründete Tradition aufgegriffen, Reformationserinnerung mittels moderner Kunst zu betreiben. Der Lutherhallendirektor stand als Kunsthistoriker und Theologe der zeitgenössischen Malerei und Bildhauerei aufgeschlossen gegenüber und hatte ihr die Museumstüren bereits in den 1930er Jahren geöffnet. Nicht nur öffentliche, sondern auch private Bauträger waren nach 1990 an der musealen Expansion beteiligt. Gegenüber der Schlosskirche restaurierten sie beispielsweise das Wohnhaus des Mitreformators Justus Jonas. Als Restaurant und Hotel unter der Bezeichnung Alte Canzeley wird es gegenwärtig ebenfalls öffentlich genutzt und erinnert mittels Informationstafeln an die Geschichte des Hauses. In ganz ähnlicher Form geschah die Reintegration des Beyerhofes am Markt sowie des Schurffhauses in der Collegienstraße. Erstgenanntes Gebäude dient gegenwärtig als Brauhaus und erinnert nicht nur an den kurfürstlichen Kanzler Christian Beyer, sondern auch an Aspekte der Wittenberger Alltagsgeschichte des 16. Jahrhunderts. So stößt der Besucher beispielsweise beim Betreten des Hofes auf ein Hahnhaus als Teil des Jungfernröhrwassers, einer Wittenberger Wasserversorgung aus dem Zeitalter der Reformation. Das Schurffhaus erinnert an den Rechtsbeistand Luthers Hieronymus Schurff und dessen Bruder Augustin, Mediziner an der Universität, 39 Dornheim, Zeitkonstruktionen und Erinnerungsformen, 220 f.

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und wird durch den Einbau einer Weinbar in den Kellergewölben sowie eine kommerzielle Nutzung weiterer Gebäudeteile ebenfalls öffentlich genutzt. Die fortschreitende Reformationsmusealisierung beschränkte sich nach 1990 aber nicht nur auf den baulichen Bestand der Denkmallandschaft, sondern aktualisierte auch die bereits in die Kaiserzeit zurückreichende Tradition der pflanzlichen Erinnerungszeichen. 1999 initiierte das Kirchliche Forschungsheim die Pflanzung eines Lutherin-Baumes und füllte die geschlechtsspezifische Leerstelle der Reformationserinnerung.40 Im 2008 begonnenen Luthergartenprojekt erfährt nun auch die bis dahin gepflegte nationale sowie konfessionelle Engführung der Reformationserinnerung eine überkonfessionelle Aktualisierung. Christliche Konfessionsgemeinschaften aus der gesamten Welt sind aufgefordert, bis zum Jubiläum 2017 insgesamt fünfhundert Bäume in Wittenberg zu pflanzen. Ein parallel gepflanzter Baum in der Heimatgemeinde soll die jeweilige Verbundenheit mit Wittenberg für zukünftige Generationen dokumentieren.

Abb. 61 Der Luthergarten

Die Entwicklung Wittenbergs in Richtung eines reformationsgeschichtlichen Freilichtmuseums ist auch als Ergebnis veränderter Besucherinteressen zu verstehen. Die meist konfessionell gebundenen Wittenberg-Touristen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatten vor allem die Bestätigung bereits vor40 Vgl. Gensichen, Von der Kirche zur Gesellschaft, 180.

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handener Wissensbestände gesucht. Die Tatsache, dass die Reformationsgeschichte prinzipiell schwer ,ansichtig‘ zu machen ist, weil der Protestantismus eine ausgeprägte Wortreligion ist, korrespondierte mit der ,Voreinstellung‘ der Besucher. Der Erwartungshaltung der meist wenig Vorkenntnisse mitbringenden Touristen der Gegenwart widerspricht jedoch das reformatorische Prinzip des sola scriptura, welches sich nicht angemessen musealisieren lässt. Den Zugang zur Vergangenheit vermitteln idealerweise Objekte zum Anfassen, viele Bilder und wenig Text. Der ,Schauwert‘ gewinnt über den ,Substanzwert‘, weshalb sich die Stadt immer mehr zu einem begehbaren Freilichtmuseum entwickelt. Dieses ,Freilichtmuseum‘ ist keine geschlossenes Depot, sondern ein ausgedehntes Territorium. An dessen Gestaltung sind verschiedene Kuratoren beteiligt, die eine offene, dynamische Museumskonzeption vertreten. Sie betonen neben Wittenbergs bewahrender Funktion auch die interpretierendaktualisierende Beziehung der Stadt zur Vergangenheit. Fasst man den Begriff des Museums dynamisch, als einen permanenten Prozess des Sammelns, Ordnens und Vermittelns zum Zweck einer stetig aktualisierten Veranschaulichung, so ist die Wittenberger Denkmallandschaft äußerst vital. Hier wird das vom Zerstreuen Bedrohte konzentriert und vermittelt, indem beständige Veränderung und innovative Arrangements den Stadtraum zur Bühne machen für eine ereignishafte ,Ingebrauchnahme‘ der Dinge, mit deren Hilfe kulturelle Identität vermittelt werden soll.41

2.3 Stadtbild und Stadtidentität Seit einigen Jahren lässt sich in Deutschland ein gestiegenes Interesse an historischen Stadtbildern registrieren, welches sich beispielsweise in einer Vielzahl von Rekonstruktionsvorhaben materialisiert. In der Stadtforschung verknüpft das Thema den spatial turn mit dem iconic turn und führt das Interesse an Raumfragen mit Reflexionen über die Produktion und Wirkung von Bildern zusammen. Altstädte bieten durch ihre Kombination von kompaktem Flächenraum und Vergangenheit ein doppeltes Identifikationspotential, denn räumliche Begrenzung ebenso wie Historisierung können kompensatorische Funktionen erfüllen. Der ,Erlebnisraum‘ Altstadt verstetigt als „historisiertes und territorialisiertes Objekt […] Sozialität und Identität.“42 Er betont Ursprung und Herkunft, erinnert an kulturelle Wurzeln und Vergan41 Groys schreibt, das Museum sei heute kein „Ort der Beständigkeit“ mehr, sondern ein „Ort der kulturellen Veränderung, des Ereignisses, der Innovation“. Siehe Groys, Logik der Sammlung, 60; Zur Doppelfunktion des Bewahrens und des Neu-Arrangierens von Museen vgl. Korff, Bildwelt Ausstellung, 328. 42 Pott, Orte des Tourismus, 248.

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genheiten der Gegenwartsgesellschaften. In diesem Sinn sind Denkmäler Identifikationsangebote. Für Maurice Halbwachs hat sich das kollektive Gedächtnis über topographische Bezugspunkte erschlossen und die Erinnerung sich an den ,realen Orten‘ konkretisiert und materialisiert.43 In der Wittenberger Altstadt ist diese Erinnerungspraxis auf die Reformationszeit ausgerichtet. Während der Bezug auf die Lutherzeit als Referenzgröße der Stadtbildpflege in Wittenberg jedoch unumstritten ist, werden die Modi der kollektiven Erinnerung immer wieder neu verhandelt. Dieser Prozess ist mit Konflikten verbunden, die in Wittenberg nach 1990 mehrfach aufbrachen. Anlässlich der um die Jahrtausendwende erfolgten Sanierung des Lutherhauses tobte beispielsweise ein Streit um die Frage der Fassadengestaltung.44 Der Wiederherstellung des Quaderputzes der Stülerfassung des 19. Jahrhunderts stand die Bewahrung des unter Thulin in den 1930er Jahren aufgebrachten Glattputzes entgegen. Dahinter verbarg sich nicht nur eine Debatte um einen kunst- und architekturhistorisch angemessenen Umgang mit dem Baudenkmal, sondern auch ein Konflikt zwischen einer ,volkstümlichen‘ Lutherwahrnehmung und einer ,intellektualisierten‘ Rezeptionsgeschichte. Letztendlich haben sich die Vertreter des Glattputzes durchgesetzt, der viel stärker eine vermeintliche Authentizität der Lutherzeit suggeriert als der ,aufgesetzte‘ Quaderputz des 19. Jahrhunderts. Dem Gebot der Denkmalpflege seit Dehio folgend, wonach die überlieferte Substanz bewahrt werden solle, wollten die Entscheidungsträger die im Zeitraum 1930 – 2000 erfolgten Eingriffe in die materielle Substanz des Lutherhauses nicht rückgängig machen. Sie entsprachen damit zugleich dem Wunsch der Besucher, im Lutherhaus nicht das Monument der preußischen Lutherrezeption des 19. Jahrhunderts, sondern die im 16. Jahrhundert verortete Wirkungsstätte des Reformators sehen zu wollen. Es wurde deutlich, dass Denkmalpflege auch unter demokratischen Voraussetzungen als ein gestaltender und deutender, Bilder erzeugender Prozess verstanden werden muss, der sich nicht nur am ,fachlich korrekten‘ Umgang mit dem Baudenkmal orientiert.45 Nicht nur die Gestaltung und Nutzung von Baudenkmälern, sondern auch der Umgang mit den Standbildern der Denkmallandschaft sorgte für kontroverse Debatten. Im Rahmen der Sanierung des historischen Marktplatzes wurde beispielsweise erwogen, die bis in die 1920er Jahre existierende Umzäunung der Standbilder Luthers und Melanchthons wiederherzustellen. Ziel der Befürworter war es, durch eine Umzäunung die respektvolle Distanz zu den Reformatoren zu ermöglichen und gleichzeitig ordnungspolitisch gegen 43 Zur Bedeutung von Halbwachs’ Arbeiten für den spatial turn vgl. Echterhoff/Saar, Einleitung: Das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, 21. 44 Vgl. Der Quader des Anstoßes. Nach welchem Bilde sollen wir restaurieren? Der Fall Lutherhaus Wittenberg, FAZ vom 28. 08. 2001, 47. 45 Vgl. Löw, Soziologie der Städte, 153; Lipp, Denkmalpflege und Geschichte, 163.

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Verstöße dagegen vorgehen zu können. Anlass für diese Überlegungen boten die oft auf den Stufen der Postamente sitzenden ,unerwünschten‘ Personen, die nicht in das gewollte Bild einer Touristenstadt passten. Gegner einer historischen Umzäunung führten Argumente eines demokratisch verfassten Denkmalverständnisses an, welches Nähe durchaus zulasse. Beispielhaft hierfür stehen die beiden in der Nachwendezeit entstandenen Standbilder Katharina von Boras und Lukas Cranachs. Dem Bronzeabbild des Künstlers kann man auf dem Schoss sitzen und der Lutherin den Arm um die Hüfte legen. Ihre bewusst nicht auf Distanz zum Betrachter angelegte Gestaltung ist „Ausdruck der Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins, das sich [hier auch – Anm. d. Verf.] als geschichtlich bedingtes und veränderndes Denkmalbewusstsein manifestiert.“46 Die auf Dauerhaftigkeit angelegten steinernen Monumente einer Denkmallandschaft allein reichten an der Schwelle zum 21. Jahrhundert nicht mehr, um permanente mediale Aufmerksamkeit und touristische Anziehungskraft zu generieren. Wittenberg beantwortete diese Herausforderung im vergangenen Jahrzehnt mit zwei Kunstinstallationen, welche den Marktplatz als ,gute Stube der Stadt‘ temporär verändert haben. Anlässlich des Cranachjubiläums 2003 wurde das Lutherstandbild maßstabgerecht nachgebildet und dem Original als rote Kopie zur Seite gestellt. Einen ähnlichen Weg ging im Herbst 2010 der Künstler Ottmar Hörl und reproduzierte das Lutherdenkmal in verkleinertem Maßstab. Achthundert dieser industriefarbig-bunt lackierten ,Lutherzwerge‘ bevölkerten den Marktplatz und sorgten für mediale Präsenz der Lutherstadt. Die jeweilige Bezugnahme auf Luther unterstrich die in Wittenberg betriebene Inszenierung im Sinne einer „besonderen Hervorhebung und Betonung bestimmter charakteristischer Merkmale.“47 Bezogen auf das Stadtbild indiziert dieser Versuch eine temporäre Aktualisierung der Denkmallandschaft, aber auch eine Pluralisierung von Geschichtsvermittlung, denn „die Denkmalpflege hat durch eine Reihe anderer Auslegungen der Begriffe von Originalität und Authentizität, Wiederherstellung […] Konkurrenz bekommen.“48 Folgt man den Forschungen von Hanna Hinrichs, so belegen die Installationen eine veränderte Wahrnehmung der Wittenberger Denkmallandschaft: Betrachtet man die Erwartungen, die an Kunstwerke gerichtet werden, reichen sie über die Gestaltung und Bespielung von öffentlichen Räumen weit hinaus. Ein wichtiger Aspekt dieser Erwartungen ist die Thematisierung und künstlerische Bearbeitung von Veränderungsprozessen in der Stadt. […] Diese Veränderungsprozesse werden als wirksame Elemente einer Stadtbiographie und als einschneidende Veränderung der Biographie der Bewohner verstanden.49 46 47 48 49

Lipp, Denkmalpflege und Geschichte, 133. Hinrichs, Der Blick von Stadtplanern, 154. Lipp, Denkmalpflege und Geschichte, 191. Hinrichs, Der Blick von Stadtplanern, 77.

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Beide Kunstaktionen boten reichlich Konfliktstoff innerhalb der städtischen Öffentlichkeit. Durch die Überschreibung des Denkmalensembles Marktplatz entfalteten sie eine hohe öffentlich-soziale Raumwirkung, die eine Stellungnahme provozierte. Im Konflikt manifestierten sich unterschiedliche beziehungsweise konkurrierende Erinnerungskulturen. In diesem Sinn kam den temporären Denkmälern im öffentlichen Raum die Funktion zu, latent vorhandene Konfliktsituationen zu bündeln und einen konkreten Anlass und Ort für die Austragung dieser Konflikte zur Verfügung zu stellen. Die Installationen waren nur das Medium, in dem der Konflikt manifeste Formen annahm.50 Die an einer Sicherung der kulturellen Existenz durch Traditionskontinuität interessierten Gegner disqualifizierten einen derartigen Eingriff in den Kernbestand der Denkmallandschaft vielfach als ,respektlos‘ und bekundeten eine gewisse Distanz zur Art und Weise, wie Wittenberg ,erzählt‘ wird. Die beiden Kunstprojekte waren in ihren Augen beispielhaft für die Reduktion der Reformationsgeschichte auf die Person Luthers sowie eine zunehmende Kommerzialisierung. Die Befürworter hingegen hoben die mediale Präsenz der Lutherstadt sowie die positiven Effekte für den Fremdenverkehr hervor, denn „Kunstwerke – vor allem solche mit einer guten medialen Verwertbarkeit – können zu einem Logo für einen bestimmten Ort werden und sein Image entscheidend prägen.“51 Ihre Herangehensweise an die Reformationsgeschichte und deren Präsentation in Wittenberg war von Pragmatismus und ökonomischen Erwägungen gekennzeichnet und sie unterstrichen, dass solche Kunstinstallationen „die Attraktivität einer Stadt fördern […], dadurch, dass ihre Präsentation eine Aktivität, ein Erlebnis in der Stadt möglich macht.“52

2.4 Ein neuer Stadteingang Die touristische Erschließung Wittenbergs ist das Ergebnis einer Stadtphysiognomie, die durch eine starke Ost-West-Ausrichtung geprägt ist und mit dem elbseitigen Panorama korrespondiert. Bedingt durch die Lage des Bahnhofs hatte der Besucher im 19. und frühen 20. Jahrhundert seinen Besuch zunächst im Osten, am Lutherhaus, begonnen. Mit zunehmender Bedeutung des Autoverkehrs kamen Besucher im Westen an und begannen ihren Stadtrundgang an der Schlosskirche. Unabhängig vom Ausgangspunkt erfolgte die Wahrnehmung der Stadt bisher stets entlang einer Ost-West-Achse, denn alle wichtigen Sehenswürdigkeiten befinden sich an dieser ,historischen Meile‘. 50 Vgl. Stachel, Stadtpläne als politische Zeichensysteme, 27 f. 51 Hinrichs, Der Blick von Stadtplanern, 76. – Wittenberg schaffte es beispielsweise mit beiden Kunstaktionen auf die Titelseite der Süddeutschen Zeitung – ein medialer Aufmerksamkeitsgewinn, der mit Mitteln herkömmlicher Tourismuswerbung nicht zu bezahlen gewesen wäre. 52 Ebd., 160.

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Aber nicht nur die topographische Bedingtheit sowie die am elbseitigen Panorama eingeübte visuelle Wahrnehmung der historischen Stadtlandschaft, sondern auch die Modi der Stadtbeschreibung orientierten sich bisher an diesen Parametern.53 Die Reformationsgeschichte begrenzte auf diese Weise auch baulich die Stadtgeschichte, denn das Lutherhaus und die Schlosskirche bilden die jeweiligen Endpunkte dieser Achse. Der Besucher stieß bei seiner Ankunft sofort auf ein Monument der Reformationsgeschichte und verabschiedete sich von der Stadt, indem er deren Besichtigung mit einer weiteren reformationsgeschichtlichen Stätte beendete. Die im Jahr 2010 begonnene Umgestaltung des Arsenalplatzes im Norden der Altstadt wird die seit mehr als einem Jahrhundert eingeübten Modi der Wahrnehmung Wittenbergs radikal verändern, denn auf einer seit dem Siebenjährigen Krieg 1760 existierenden innerstädtischen Brache entsteht dort derzeit ein neuer Stadteingang, der die touristische Ost-West-Achse zu einem Dreieck erweitert und den Blick nicht auf die Reformations-, sondern auf die Stadtgeschichte lenken wird. Hier wird den Besucher zunächst eine historische Stadtinformation empfangen, in die das 2008 bei archäologischen Grabungen gefundene Grab Rudolfs II. integriert werden soll. Als erster Wittenberger Kurfürst begründete er Wittenbergs Aufstieg zur Metropole Kursachsens. Am Zeughaus als neuem Standort eines Stadtgeschichtlichen Museum vorbei werden die Touristen zukünftig zum Markt als urbanem Zentrum Wittenbergs gelangen und auf diese Weise zunächst mit der städtischen Vergangenheit sowie deren baulichen Insignien konfrontiert werden, bevor sie sich schließlich der Reformationsgeschichte zuwenden können. Während die mit der Verlegung des Stadteingangs verbundenen Folgen – die Beseitigung einer hässlichen Innenstadtbrache, eine stärker stadtorientierte Wahrnehmung Wittenbergs, eine mögliche Verlängerung der Aufenthaltsdauer der Tagestouristen – auf einen breiten innerstädtischen Konsens treffen, ist die Errichtung eines Einkaufszentrums auf dem Arsenalplatz mit Konflikten behaftet. Die Implementierung eines global anzutreffenden urbanen Entwicklungsmodells führt zu einer Nivellierung des Stadtbildes sowie einer Homogenisierung der Bildproduktion, die das Alleinstellungsmerkmal einer einmaligen reformationshistorischen Denkmallandschaft zumindest bedroht.54 Die Produktion dieses neuen städtischen Ortes findet als strategische Besetzung eines Territoriums statt, ohne auf Lokalitäten angewiesen zu sein oder auf diese eingehen zu müssen. Als „riesiges Behältnis ohne Ausdruck oder Bindung an irgendeinen Ort oder Inhalt“55 befördert das Einkaufszentrum die Entstehung einer eigenschaftslosen Stadt, welche die Wittenberg anhaftende spezifische Aura historischer Authentizität konterkariert, denn

53 Exemplarisch: Lutherstadt Wittenberg. Die historische Meile. 54 Vgl. Siebel, Zum Wandel des öffentlichen Raums – Das Beispiel Shopping Mall. 55 Thumm, Die Macht der Bilder, 252.

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der Besuch der Lutherstätten verbindet sich hierdurch mit der Erlebnisintensität eines Themenparkbesuchs.56

3. Weltgeschichte erleben57 3.1 Thematische Kontinuität im Fest Städtische Identitätspolitik, die sich auf die Vergangenheit bezieht, wird nicht nur auf der Ebene der Stadtbildpflege verhandelt, sondern artikuliert sich auch in der städtischen Kulturpolitik. Hierbei gilt die Erkenntnis, dass innerstädtischer Raum allein als historisch gewachsener Ort kein Garant für Aufmerksamkeit ist, sondern durch Praktiken des Konsums und des Vergnügens hergestellt wird: „Die erinnerte und die veranstaltete Stadt stellen zwei Seiten einer Medaille dar.“58 Städtische Feste mit historischem Hintergrund sind Kristallisationspunkte dieser Praktiken; über sie lässt sich Stadtidentität herstellen. Ein Blick auf die Festgeschichte Wittenbergs nach 1990 gibt Aufschluss über die Kommunikation des Leitbildes ,Lutherstadt‘ gegenüber Bewohnern und Besuchern.59 Wenige Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung bot sich den Wittenberger Stadtvätern mit dem 700jährigen Stadtjubiläum im Jahr 1993 die Gelegenheit, ein gemeinschaftsstiftendes Fest zu inszenieren und dabei an bewährte Formen der Festgestaltung anzuknüpfen. Sie griffen auf einen Kanon routinierter und habitualisierter Praktiken zurück,60 setzten jedoch die Traditionslinie der in Wittenberg gefeierten Reformationsfeste nicht nahtlos fort. Maurice Halbwachs unterstrich, dass in der Pflege der Tradition Vergangenheit nicht einfach bewahrt wird, sondern fortdauernd auf der Basis der Gegenwart rekonstruiert werden muss.61 Da sich das milieu de mmoire in der Lutherstadt hinsichtlich seiner konfessionellen Verfasstheit stark verändert hatte, musste auf einen ausgeprägten kirchlichen Charakter des Festes verzichtet werden. Aber auch an eine politische Sinnstiftung war nach 1989 nicht mehr zu denken. Der Verweis des Oberbürgermeisters auf die wenige Jahre zuvor erfolgte politische Systemtransformation blieb deshalb auch bewusst unbestimmt: „Unser Stadtjubiläum kann in besonderer Weise dazu beitragen, 56 Vgl. Hauser, Stadtentwürfe, 194. 57 Mit diesem Slogan warb das Fremdenverkehrsamt der Lutherstadt bis 2011 um Touristen. Inzwischen wurde er leicht modifiziert: „Kultur. Geschichte. Erleben.“ 58 Bude, Die Stadt und ihr Preis, 11; Siehe auch: Häußermann/Siebel, Die Politik der Festivalisierung und die Festivalisierung der Politik. 59 Das Spannungsfeld von historisch begründeter Authentizität und Inszenierung im Fest untersucht: Hoffmann, Mittelalterfeste in der Gegenwart, siehe v. a. 162 ff. 60 Vgl. hierzu: Lindner, Urban Anthropology, 77. 61 Vgl. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen.

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die wieder errungene Demokratie fest ins Bewusstsein zu bringen und die Identifikation zu fördern.“62 Zum wichtigsten ,Identifikationsarsenal‘ wurde der Bezug zur Lutherstadt, denn in dieser Zeit der Ungewissheit bot das ,Heimatliche‘ eine verlässliche Konstante. In Form einer ereignisorientierten Integrationspolitik bot sich den Wittenberger Stadtvätern im Stadtjubiläum die Möglichkeit einer politischen Repräsentation, die auch als Antwort auf gewaltige sozialstrukturelle Veränderungen gedacht war.63 Die Vorbereitung des Stadtjubiläums erforderte die Beteiligung einer Vielzahl von Mitwirkenden, die sich beispielsweise mittels historischer Vereine in das Festgeschehen einbrachten. Das aufwendig begangene Stadtjubiläum wurde so zum Gründungsanlass einiger Vereine. Anderen, bereits existierenden, verschaffte es einen Mobilisierungsschub. Die auf diese Weise erfolgte kollektive Heimatbindung war deshalb auch als Stabilisierungsversuch in einer Phase erhöhter Mobilität und sozialen Wandels gedacht. Die Fortsetzung der neu begründeten Wittenberger Festtradition in den darauf folgenden Jahren zeigt, dass es sich bei der mit dem Stadtjubiläum verbundenen Identitätsstiftung nicht um ein einmaliges Geschehen, sondern um ein auf Dauerhaftigkeit angelegtes Projekt handelte. Für die Fortsetzung wurde ein Thema gesucht, das eine jährliche Wiederholung erlaubte. Die Wittenberger Stadtväter suchten „ein Gesamtkunstwerk mit unverwechselbarem Charakter, rückgekoppelt an die Tradition, zugeschnitten auf die Lutherstadt Wittenberg und ihre Bürger“64 und griffen auf eine 1986 anlässlich eines Museumsfests der Lutherhalle geborene Idee zurück. Luthers Hochzeit hatte einen Bezug zur städtischen Vergangenheit und ließ sich gut in die in Wittenberg vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichende Kette des reformationshistorischen Erinnerns integrieren. Andererseits bot diese ,biographische Wegmarke der Reformationsgeschichte‘ genügend Identifikationspotential für eine mehrheitlich kirchenferne Stadtbevölkerung, um die erhoffte integrative Wirkung zu erreichen. Vergangenheit wurde hier in der Gegenwart präsent gehalten, indem Traditionen an die städtische, nicht die konfessionelle Praxis zurückgebunden wurden. Erst die potentielle Bedeutungsoffenheit der vielfältigen Angebote erzielt die intendierte vergemeinschaftende Wirkung. Mit den seit 1982 jährlich begangenen Historischen Markttagen besaß man in Wittenberg zudem eine gewisse organisatorische und gestalterische Routine, an die angeknüpft werden konnte. Auf die Initialzündung der 700–Jahr-Feier 1993 folgte deshalb alljährlich das Volksfestspektakel Luthers Hochzeit, das an den drei Festtagen im Juni jeweils rund 100.000 Besucher in seinen Bann zieht. Während es sich bei Luthers Hochzeit um eine noch recht junge ,Erfindung 62 Naumann, Grußwort des Bürgermeisters, 11. 63 Vgl. Hellmig, Kommunale Kultur als Image-, Attraktivitäts- und Identifikationsfaktor. 64 Dammer, Luthers Hochzeit, 18.

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von Tradition‘65 handelt, die ihre Dauerhaftigkeit erst noch unter Beweis stellen muss, konnte beim zweiten Großereignis Wittenbergs, dem Reformationsfest, auf eine seit Generationen fest etablierte Festtradition zurückgegriffen werden. Auch wenn Luthers Thesenanschlag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur in bescheidenem Umfang gedacht worden war und sich meist auf einen Gottesdienst beschränkt hatte, war diese Tradition in Wittenberg nie ganz abgerissen. Mit der deutschen Wiedervereinigung wurde der 31. Oktober erstmals in der Stadtgeschichte ein arbeitsfreier Tag. Diese Festlegung bildet den Abschluss der seit der Zeit des Kaiserreichs unternommenen Bemühungen, den Reformationstag als feierwürdiges Ereignis in der Stadtöffentlichkeit zu verankern.66 An den Feierkern des Festgottesdienstes lagerten sich in den vergangenen Jahren weitere Festbestandteile an, denn die Teilnahme vieler Touristen sowie die gewünschte Integration der kirchenfernen Bevölkerungsmehrheit zog eine Veränderung der Struktur des Festes nach sich. Das kirchliche Kernprogramm, bestehend aus Festgottesdiensten und Kirchenkonzerten, wurde durch ein massenwirksames Spektakel ergänzt, das Besucher aus der gesamten Region auf Wittenbergs Plätze und Straßen lockt. „Sinn und Bedeutung von Festen sind zwar keineswegs zeitlos zementiert, sondern immer im Wandel begriffen und Gegenstand von Aushandlungen“, aber deren Ausgestaltung birgt auch die Gefahr einer kulturell destruktiven Wirkung im Sinn einer „Aushöhlung von Sinnstrukturen“ und der bloßen „Vermarktung kulturellen Kapitals“.67 Um der Bedrohung durch Nivellierung zu begegnen, entstand anlässlich des Wittenberger Reformationsfestes ein akademisches Beiprogramm, das an den universitären Kontext des Thesenanschlags erinnert und von Vertretern der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, der Evangelischen Akademie und der Stiftung Luthergedenkstätten bestritten wird. Neben den alljährlich wiederkehrenden Festereignissen stehen die herausragenden Reformationsjubiläen, die allerdings ebenfalls inflationär begangen werden und vor allem auf die Außendarstellung der Stadt und die Erhöhung des touristischen Marktwertes zielen. „Das 19. Jahrhundert mit seinem wachsenden Interesse bringt eine Vermehrung der Jubiläen, die sich im 20. Jahrhundert fortsetzt“,68 schrieb der Leipziger Kirchenhistoriker Helmar Junghans in seinem Standardwerk über Wittenberg. Das Gedenken an das 450. Todesjahr des Reformators 1996, das 1997 begangene Melanchthonjahr, der 1999 gefeierte 500. Geburtstag Katharina von Boras, das 2002 begangene Gründungsjubiläum der Universität sowie die 2003 erfolgte Würdigung des Renaissancemalers und ehemaligen Wittenberger Bürgermeisters Lucas 65 Vgl. Hobsbawm, The invention of tradition. 66 Vgl. Abschnitt 4.5., Das Wittenberger Bekenntnis: Gründungsakt einer idealpolitischen Ordnung, im Kaiserreich-Kapitel dieser Arbeit 67 Stausberg, Religion im modernen Tourismus, 148. 68 Junghans, Martin Luther und Wittenberg, 158.

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Cranach anlässlich seines 450. Todesjahrs weist Parallelen zur außergewöhnlichen Dichte der Fest- und Jubiläumsaktivitäten in den 1920er Jahren auf.69 Erneut wird der Wittenberger Festkalender von der Reformationsgeschichte dominiert70 und belegt das Bedürfnis nach Vergewisserung sowie den Wunsch einer Stabilisierung kommunaler Identität mittels Rückgriff auf die Historie trotz politischer, sozialer und wirtschaftlicher Brüche. Auch nach 1990 schrieben die Organisatoren den begangenen Jubiläen über den Rahmen der Kommunalpolitik hinaus eine nationale und internationale Bedeutung zu.

3.2 Die Erlebnisgesellschaft im Fest Thematisch ist der Wittenberger Festkalender durch ein hohes Maß an Kontinuität geprägt, denn die Reformationsgeschichte bietet seit über einem Jahrhundert dessen Hintergrundfolie. Dennoch unterscheiden sich die Inszenierungen der Gegenwart grundsätzlich von allen reformationshistorisch begründeten Festen vorangegangener Zeitabschnitte durch ihren unpolitischen Charakter. „Das historische Erlebnis ist heutzutage kein primär politisches mehr“,71 stellt Manfred Hettling verallgemeinernd fest. In Wittenberg ist die Reformationsgeschichte als Quelle für politische Sinnstiftung und Mobilisierung durch eine ,abstrakte Vergangenheit‘ ersetzt worden, die kaum noch politische Brisanz aufweist. Die Erinnerung an die Geschehnisse der Vergangenheit wird nicht mehr normativ verstanden und die großen Erzählungen der Reformation haben immer weniger die Chance, die Interpretationen und Reflexionen des Individuums zu lenken und zu leiten.72 John Urry spricht von einer „postmodernen Untergrabung der großen Narrative.“73 Es existiert deshalb auch keine Jubiläumstradition im Sinne etablierter Handlungsweisen mehr, die dazu geeignet wäre, die Gegenwart und Zukunft zu organisieren.74 Allein die Terminwahl des gegenwärtigen Festkalenders indiziert den unpolitischen Charakter der Wittenberger Festkultur. Waren die Historischen Markttage bis 1989 noch an den DDR-Nationalfeiertag angebunden und hatten dadurch einen Restbestand an politischer Sinnstiftung garantiert, 69 Vgl. Abschnitt 3.1., Das Fest als Mittel der Standortbestimmung und Selbstvergewisserung‘ im Weimar-Kapitel. 70 Andere Versuche, eine Festtradition zu begründen, sind nach 1990 gescheitert. Dies gilt sowohl für das nach der deutschen Wiedervereinigung initiierte Europafest als auch das Bemühen, die historische Wittenberger Vogelwiese wiederzubeleben. Das Maiblumenfest sowie der Töpfermarkt als erfolgreiche Festgründungen lehnen sich hingegen organisatorisch und zum Teil auch gestalterisch an Muster der ,Reformationsfesttradition‘ an. 71 Hettling, Erlebnisraum und Ritual, 423. 72 Vgl. Giddens, Modernity and Self-Identity, 52. 73 Urry, Wie erinnern sich Gesellschaften ihrer Vergangenheit, 42. 74 Vgl. Häußler, Reflexive Identität und Authentizität als kulturelle Marker.

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wollte unter gesamtdeutschen Bedingungen niemand am Tag der Deutschen Einheit feiern, obwohl die Terminverschiebung vom 7. auf den 3. Oktober sich angeboten hätte. Kristallisationspunkte der aktuell gepflegten Festpraxis in Wittenberg sind dagegen das zweite Juniwochenende sowie der Reformationstag am 31. Oktober. Auf einen politischen Sinnbezug mittels politischer Rede oder einer an den Bedürfnissen der Gegenwart ausgerichteten Festzugskonzeption wird ebenfalls verzichtet: „Where there was active historicity there is now decoration and display ; in the place of memory, amnesia swaggers out in historical fancy dress“,75 beschreibt ein britischer Forscher das moderne Phänomen eines im Fest gepflegten ,entzeitlichten‘ und ,entpolitisierten‘ Geschichtsverständnisses. Die Ausgestaltung des Stadtraums korrespondiert mit dem bewusst unpolitischen Anliegen der historischen Feste, denn Fahnen, Flaggen und Wimpel dienen ausschließlich dekorativen Zwecken. Abgesehen von der intendierten Historisierung des Stadtraums haben sie keine Symbolwirkung mehr. Einzig die Stadtfarben stellen ein letztes Rudiment lokaler Identitätsbildung durch visuelle Repräsentation dar. Landsmannschaftliche Bezüge, die eine Verbundenheit mit der sächsischen oder der preußischen Vergangenheit oder gar der neuen Heimat des jungen Bundeslandes Sachsen-Anhalt herstellen würden, sind im Wittenberger Stadtraum dagegen schon nicht mehr zu finden, denn es erfolgte nach 1990 keine Aktualisierung der regionalen Identifikation.76 Die ,kulturelle Performance‘ des Festes dient ausschließlich der symbolischen Vergemeinschaftung der Stadt und ihres unmittelbaren Umlandes, nicht jedoch der Region beziehungsweise politischen Einheit, deren Bestandteil Wittenberg ist. Gleiches gilt auch für die nationalstaatliche Ebene sowie für die konfessionelle Gruppenbezogenheit. Die Festgestaltung zeugt von einem eher unorthodoxen Umgang mit der Geschichte. Beim Festumzug, der Dekoration des Stadtraums oder der Gestaltung der einzelnen Aktivitäten kommt es weniger auf historische Korrektheit als auf die Integration möglichst vieler Mitwirkender an. Die Lutherzeit, die zelebriert wird, hat eher ,karnevaleske‘ Züge; das Festprogramm besteht aus einer bunten Mischung aus Mittelalter und modernem Showprogramm, das vor allem die Unterhaltungsgewohnheiten der Stadtbevölkerung befriedigt. Gerhard Schulze hat diese durchgängige Erlebnisorientierung der postmodernen Gesellschaft beschrieben.77 Erlebnisse werden in Wittenberg durch das nostalgische Nachstellen von vergangenem Leben ermöglicht, die jedoch keinerlei politische oder religiöse Sinnstiftung mehr bieten. Was zählt, ist das Gefühl des ,Dabeiseins‘, die Erfahrung aus erster Hand sowie eine

75 Wright, On Living in an Old Country, 78. 76 Bittner kommt für das benachbarte Dessau zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Vgl. Bittner, Bauhausstadt Dessau, 42 ff. 77 Vgl. Schulze, Die Erlebnis-Gesellschaft; Stephenson, Performing the Reformation.

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Kulturaneignung, die keine von Bildung, sozialem Stand oder Konfession abhängigen Zugangsbarrieren aufweist.78 Wirtschaftliche Interessen sind eine wichtige Ursache der seit den 1990er Jahren herrschenden Festinflation. Diese hat eine ambivalente Wirkung: Die Vermehrung des Festes verringert einerseits die Wirkung des bis dahin einzigartigen Reformationsjubiläums. Die Teilnehmer werden sich wohl kaum in einer Weise an eines der zahlreichen Feste der Gegenwart erinnern können, wie dies die Beteiligten der Feierlichkeiten 1892 oder 1967 taten oder noch tun.79 Andererseits verstärkt die stete Wiederholung die öffentliche Wahrnehmung. Dies kann jedoch auch zu Abnutzungserscheinungen führen. So haben die Veranstalter von Luthers Hochzeit inzwischen Mühe, die Schwelle von 100.000 Teilnehmern zu erreichen. Fraglich bleibt zudem, wie die herausragenden Jubiläen der kommenden Jahre, beginnend mit dem 500. Jahrestag des Thesenanschlags 2017, als besonders einprägsame Höhepunkte begangen werden sollen, wenn alle wesentlichen Festelemente alljährlich praktiziert und damit hinlänglich bekannt sind. Der Prozess einer inflationären Entwertung des reformationsgeschichtlich verorteten Festes hatte bereits mit den Jubiläumsfeiern 1933 begonnen, als die konfessionelle Profilschärfung zugunsten einer integrativen Wirkung des Festes allmählich in den Hintergrund getreten war. In den folgenden Jahrzehnten pluralisierten sich die Bezugspunkte des historischen Erinnerns und die ursprünglich konstitutiven Elemente des institutionellen Mechanismus’ Reformationsjubiläum verloren an Relevanz. Dieser Prozess gewann nach 1990 noch an Dynamik. Charakteristisch war hierbei das „Prinzip der additiven Konstanz“, wonach einmal praktizierte Elemente wie der Festgottesdienst weiter bestanden und sich an diesen Kern neue Festelemente anlagerten. Die zur Ausgestaltung der Feiern gemachten Angebote nahmen von Mal zu Mal zu, was einerseits als Pluralisierung der Inszenierungshoheit, andererseits als zunehmende Fragmentierung des historischen Erinnerns gedeutet werden muss. Hierdurch gewann das Fest an Flexibilität, denn in ungewöhnlich kurzen Intervallen bieten die Luther- und Reformationsfeiern die Möglichkeit, die erhoffte Integrationskraft hinsichtlich einer städtischen Binnenöffentlichkeit zu entfalten sowie die ökonomischen Potentiale eines belebten Fremdenverkehrs in zuvor nicht gekanntem Umfang auszuspielen. Die Fortdauer ehemals konstitutiver Festelemente und Festinhalte verschleierte lediglich den vollzogenen Wandel der reformationshistorisch bezogenen Festkultur Wittenbergs, die auf sie nicht mehr angewiesen war. Das refor-

78 Vgl. Korff, Musealisierung total?, 136 f. 79 Noch dreißig Jahre nach den Feierlichkeiten 1892 erschien in der örtlichen Presse ein ausführlicher Beitrag, der bei den Lesern Erinnerungen wach rief und die Teilnahme auch zu einem persönlichen Lebenshöhepunkt stilisierte. Vgl. Wittenberger Tageblatt vom 31. 10. 1919.

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mationsgeschichtliche Fest fungiert inzwischen als Gefäß, das mit scheinbar beliebigen Inhalten gefüllt werden kann.80

3.3 Formen der Inszenierung Die in Wittenberg seit 1990 gepflegte Reformationserinnerung bewirkt die „Enthistorisierung des Geschichtlichen mit dem Ergebnis des zeitlos ,Historischen‘“.81 Ungeachtet der Beibehaltung tradierter Festelemente, zum Beispiel des Festgottesdienstes und des Festzuges, sind die Feiern der Gegenwart deshalb durch eine fortschreitende ,Entzeitlichung‘ charakterisiert, denn die Bedeutung von Ritualen und Mythen sowie das Bedürfnis nach einer persönlichen Verwurzelung in der Zeit nimmt ab. Insbesondere in den Formen der Inszenierung sollen „nicht so sehr geschichtliche Fakten dargestellt, als vielmehr malerische, gefällige und interessante Motive aus der Geschichte überhaupt präsentiert werden“, während das „eigentlich Geschichtliche […] preisgegeben“ wird.82 Die Vergangenheit wird als eine abgeschlossene Welt behandelt, die parallel zur Gegenwartswelt existiert und real aufsuchbar ist. Auf diese Weise wird sie als etwas von der historischen Entwicklung Entkoppeltes dargestellt.83 In diesem Punkt unterscheidet sich die gegenwärtig gepflegte Reformationserinnerung von der Erinnerungspraxis des 19. und 20. Jahrhunderts, die stets mit aktuellen Zwecken der Sinnstiftung verbunden gewesen war und dafür die Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart beschwor.84 An der Ausgestaltung des historischen Festzuges, einem Kernbestandteil des jährlich stattfindenden Stadtfestes Luthers Hochzeit, lässt sich die behauptete „Enthistorisierung des Geschichtlichen“85 beispielhaft nachvollziehen. Nach 1990 konnte Wittenberg auf drei große historische Festzüge zurückblicken: Der Festzug von 1883 hatte vor allem der (klein-) bürgerlichen Selbstschau gedient und im Jahr 1892 hatte die vor den Augen des Kaiserhauses vorbeiziehende Festgemeinde gezeigt, dass vor allem Fürsten Geschichte machen. 1967 war der Festzug in den Dienst einer sozialistischen Metaerzählung gestellt worden. Als die Wittenberger 1993 anlässlich der 700–Jahrfeier auf die eingeführte mediale Form des Festzugs zurückgriffen, konnten sie an keine der drei Vorlagen direkt anknüpfen. Die Situation, die sich 1993 abzeichnete, ist auch für die Feiern der folgenden Jahre bis in die 80 Zum Prinzip der additiven Konstanz siehe Rosseaux, Städtische Jubiläumskultur zwischen Früher Neuzeit und Moderne, 365 ff. 81 Bausinger, Volkskultur in der technischen Welt, 133. 82 Ebd., 130 f. 83 Dies trifft generell auf die Vergegenwärtigungspraxis von Vergangenheit zu. Vgl. Frank, Der Mauer um die Wette gedenken, 33. 84 Zu dieser Kontinuität vgl. Hettling, Das Denkmal als Fetisch, 46 f. 85 Bausinger, Volkskultur, 133.

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Jetztzeit charakteristisch. Im Gegensatz zu früheren Festzügen läuft der gegenwärtige Zug ins Leere. Nach dem Abschreiten des vorgesehenen räumlichen Verlaufs löst er sich einfach auf und die Teilnehmer zerstreuen sich beziehungsweise gehen im ,historischen Treiben‘ auf, während frühere Umzüge stets zu einem Höhepunkt hingeführt hatten.86 Dies konnte ein Festgottesdienst oder eine musikalisch untermalte Ansprache sein, die dazu gedient hatte, eine politische Botschaft zu vermitteln. Während der Festzug oder Marsch der Feiergemeinde ursprünglich die theatralisch-rituelle Form der Tradierung dargestellt hatte, die durch die Evozierung von emotionalen Gehalten die Fähigkeit der historischen Erinnerung stärken sollte, diente der sich daran anschließende Festteil der Herstellung eines politischen Sinnbezuges. Da die historischen Feste der Gegenwart sich nun aber durch einen unpolitischen Charakter auszeichnen, ist eine zu vermittelnde Botschaft im Schlussteil nicht mehr notwendig. Der gegenwärtige Festzug führt deshalb nicht mehr zu einem Höhepunkt, sondern bildet selbst den Höhepunkt des Festgeschehens. Der Akteurswandel städtischer Geschichtspolitik trug dazu bei, dass die im historischen Fest gepflegte Form der Inszenierung die Komplexität der Vergangenheit unterminiert, weil diese sich nicht mehr als ein Gegenüber der Gegenwart darstellt und somit auch nicht mehr zu einer Reflexion des ,Jetzt‘ einlädt. Geschichte als Wissenschaft „verfügt aus kritischer Distanz über feste Regeln für die Interpretation und Analyse“,87 die hier gepflegte neue ,Vielstimmigkeit geschichtlicher Deutungen‘ tut dies nicht. Als Nachwirkung dieser historischen Festkultur bleibt zwar die Erinnerung an geschichtliche Bilder, wohl kaum aber ein bewusst geschlossenes Geschichtsbild. Die Popularität der Feierform steht deshalb auch nicht im Gegensatz zu einem möglichen Desinteresse an der Vergangenheit. Bei aller Distanz zur klassischen, faktenorientierten Historiographie benötigt jedoch auch diese Art der Geschichtsvermittlung einen ,wahren historischen Kern‘, eine historische Spur, um die sie sich ranken kann. Der britische Kulturgeograph David Lowenthal hat sich mit dem Wechselverhältnis von akademischer Geschichtswissenschaft und den populären Vermittlungsformen beschäftigt. Lowenthals konzeptionelle Trennung von heritage und history ähnelt dabei stark der von Pierre Nora gemachten Unterscheidung von Geschichte und Gedächtnis.88 Beide postulieren eine Transformation menschlicher Formen und Praktiken der Erinnerung. Lowenthal sieht in beiden Polen „weniger divergierende Projekte als vielmehr Auffassungsweisen, die sich in ihrer jeweiligen Betrachtung und Verwertung der Vergangenheit, und seien sie noch so unvereinbar, dennoch ständig gegenseitig befruchten.“89 86 Dies gilt sowohl für die großen historischen Festzüge von 1883 und 1892 als auch für diverse Fackelzüge und kleinere Festaufmärsche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 87 Francois/Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, 14. 88 Vgl. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis. 89 Lowenthal, ,History‘ und ,Heritage‘, 91.

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Nicht nur die Festpraxis, sondern auch die museale Vermittlung der Reformationsgeschichte wird zunehmend durch Tendenzen einer ,Enthistorisierung‘ herausgefordert. Die Geschichtsvermittlung im Museum ist zunächst durch einen fachwissenschaftlichen Ethos charakterisiert. Anhand historischer Quellen soll hier faktenorientiert, genau, vollständig, möglichst objektiv und transparent versucht werden, „die Vergangenheit aus ihrer eigenen Bedingtheit heraus zu verstehen.“90 Die Lutherhalle hat sich jedoch in den vergangenen Jahren auch alternativen Vermittlungspraxen geöffnet. Bereits in den 1980er Jahren war eine Sonderausstellung zur Mode der Renaissance durch eine entsprechende Modenschau ergänzt worden. Die erstmalige Feier von Luthers Hochzeit als Museumsfest hatte die Lutherhalle zum Ort eines historischen Spektakels werden lassen. Der seit einigen Jahren betriebene Ausbau interaktiver Angebote zeigt, dass das Museum sich nicht mehr auf das Modell eines linear aufgebauten, objektbezogenen Rundgangs beschränkt, sondern auch auf andere Formen der Darstellung setzt.91 Die geplante Neukonzeption der Ausstellung im benachbarten Melanchthonhaus schreibt diesen Trend fort: In Melanchthons Esszimmer soll der Besucher ab 2012 eine akustische Rauminstallation aus jenen elf Sprachen erleben, die dort bisweilen gesprochen wurden. Zwei sich gegenüber stehende Sessel machen außerdem mittels zeitgenössischer Zitate Dialog und Disput zwischen den Reformatoren nacherlebbar.92 Mit der Neuausrichtung ihres Angebots reagieren beide reformationsgeschichtliche Museen auf ein Publikum, das die Ausstellungsstücke nicht bloß passiv konsumieren, sondern interaktiv erleben möchte. Es will nicht unbedingt Bildungsbedürfnisse stillen und spezifische Kenntnisse erwerben, sondern sucht auch Unterhaltung, Spaß und Vergnügen.93 Nicht mehr das Original sowie die quellenorientierte wissenschaftliche Präsentation, sondern die Repräsentation historischer Stoffe als erlebnis- und emotionsorientierte Angebote steht im Vordergrund.94 Das neue Ausstellungskonzept des Melanchthonhauses trägt diesem Wunsch Rechnung und trennt fortan zwischen ,Erkenntnis‘ und ,Erlebnis‘. Für den Altbau sieht es vor, dass „der Raum im Vordergrund steht und Textmedien reduziert eingesetzt werden“,95 während im modernen Anbau Originalquellen präsentiert und kontextualisiert werden. 90 Ebd., 71. 91 Eine Kurzvorstellung des gegenwärtigen Ausstellungskonzeptes bietet Rhein, Aus den Lutherstätten. 92 Vgl. Einblick in die Werkstatt. Vorstellung der Neukonzeption des Wittenberger Melanchthonhauses, Mitteldeutsche Zeitung vom 12. 02. 2011. 93 Ein Beispiel hierfür sind die museumspädagogischen Konzepte: Die Adressaten schlüpfen in historische Kostümierungen, spielen die auf Cranachs Zehn-Gebote-Tafel dargestellten Szenen nach und gestalten eigene Objekte. 94 Vgl. Urban, Von der Gesinnungsbildung zur Erlebnisorientierung. 95 Einblick in die Werkstatt, Vorstellung der Neukonzeption des Wittenberger Melanchthonhauses, Mitteldeutsche Zeitung vom 12. 02. 2011.

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Das Konzept entspricht damit einem musealen Typus, der ein rational angelegtes Dokumentationszentrum und eine sinnlich erfahrbare Gedenkstätte vereint. Während das historische Gebäude als ein ,auratischer Geschichtsort‘ den Besucher fesselt, aber wenig erklärt, ermöglicht der ,Lernort‘ im Neubau einen Wissenszugewinn und stellt die Erkenntnis über das Erlebnis. Verstandskraft und Affekt, Bildungsinteresse und Gedenken sind auf diese Weise getrennt, liegen aber dennoch eng beieinander.96 So wie das Museum hat sich auch das Theater neuen Formen der Inszenierung geöffnet. In Wittenberg wurde in den 1990er Jahren versucht, an die Tradition der Lutherfestspiele anzuknüpfen. Zwischen 1996 und 2000 verwandelte sich der Stadtraum in eine Bühne für ein ambitioniertes Sommertheaterprojekt unter dem Titel Luther rufen. Der intellektuelle Anspruch der an der Reformationsgeschichte orientierten Bühnenwerke, die eigens für Wittenberg geschrieben worden waren, konnte jedoch nicht genügend Anziehungskraft generieren, um zu einem dauerhaften Bestandteil des Festkalenders zu werden. Konsequenterweise hat sich in den darauf folgenden Jahren das inhaltliche Niveau verringert und das Schauspiel des Jahres 2010 ist im überregionalen Feuilleton schließlich als gefälliger „Lutherklamauk“ abqualifiziert worden: Luther und Melanchthon, diese beiden, sind einfach Max und Moritz von Wittenberg, Folklorefiguren, geeignet für den Straßenumzug als Original von einst mitgeführt zu werden. […] Der Unterschied dieses ,protestantischen Oberammergau‘ zu den Passionsfestspielen ist, dass man in Oberammergau eine Botschaft hat und daran festhält. Von Martin Luther geblieben ist, dass er nicht allein im Bett gelegen und gern gut gegessen hat.97

Den gegenwärtigen Inszenierungen fehlt meist ein Moment dessen, was um 1900 unter dem Begriff des ,Erlebnisses‘ gebündelt wurde: Ihnen mangelt es an einem spezifischen Zweck, einer besonderen politischen oder religiösen Bedeutung. Das Erlebnis, das die Vergangenheit für einen Augenblick in die Gegenwart holt, erzeugt keine Sinnstiftung mehr. Dies muss jedoch nicht immer der Fall sein, wie die noch recht junge Tradition eines szenischen Krippenspiels zeigt: Am letzten Adventswochenende wird die Weihnachtsgeschichte in der Übersetzung Martin Luthers gelesen und auf dem Kirchplatz an der Predigtkirche Luthers szenisch nachgestellt. Die von Laien betriebene Inszenierung einer auch unter Nichtchristen bekannten Bibelgeschichte, die in der Lutherübersetzung auch ein ,Monument‘ der deutschen Sprache darstellt, bietet perspektivisch die Chance einer ,Wittenberger Tradition‘ jenseits des gefälligen ,Lutherklamauks‘, die ein dargestelltes im Sinne eines wiederhergestellten Erlebnisses ermöglicht, Emotionen erzeugt und hierdurch sinnstiftende Erinnerung generieren kann. 96 Vgl. hierzu: Reichelt, Antiquarische Wissensvermittlung. 97 Friedrich, Strohpuppen für das Schaufenster.

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3.4 Luther-Tourismus und heritage industry Als Ausgleich für den Abschied von der Industriestadt bot sich in Wittenberg nach 1990 vor allem der auf das historische Erbe zielende Kulturtourismus an, der zu einem Wachstumsfaktor wurde. Der Ausbau des Fremdenverkehrs verlief allerdings nicht anhand bis dahin gewohnter Muster, sondern hat sich zugunsten einer Ausdifferenzierung der Anbieterstruktur sowie deren Auswirkung auf die Präsentation und Rezeption der Reformationsgeschichte im öffentlichen Raum stark verändert. Es entstand eine heritage industry, welche die touristische Vermarktung Wittenbergs mitprägt.98 Die touristische Strukturbildung nach 1990 kann über weite Strecken als eine Entwicklung ,von unten‘ charakterisiert werden. Sie verlief analog zur Pluralisierung der Trägerschichten städtischer Geschichtspolitik. Das Entstehen einer heritage industry war in Wittenberg eng mit dem Wechsel der Akteure im Bereich der Geschichtspolitik verbunden. Christine Hannemann weist in ihrer Studie über kleine schrumpfende Städte in Ostdeutschland auf die Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Netzwerke hin, die in Form von Vereinen und ähnlichen subinstitutionellen Organisationsformen als „endogene Potentiale“ auch Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung von Regionen haben können: „Solche Kulturen können identifiziert werden an Wahrnehmungen, Bewertungen und habituellen Praktiken von Stadtbewohnern, den lokalen Eliten und an Struktur und Orientierung der Assoziationsverbünde.“99 Dies geschieht im Rahmen historischer Stadtfeste ebenso wie zur konkreten Ausgestaltung touristischer Angebote. Viele der seit einigen Jahren ,auf eigene Rechnung‘ operierenden Gästeführer Wittenbergs entstammen diesem historischen Vereinsmilieu und erhielten dort in Form von Darstellungspraxen und Vermittlungsformen viele Anregungen, die inzwischen ,touristisch‘ umgesetzt wurden. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Ausbildung einer heritage industry beschleunigt, weil der Fremdenverkehr aus seinem blassen Schattendasein der kommunalen Verwaltungsarbeit allmählich heraustrat und das städtische Tourismusamt im Jahr 2010 schließlich einem privaten Anbieter übertragen wurde. Zuvor hatte es seine Monopolstellung auf die Vermittlung touristischer Dienstleistungen und den Verkauf von Souvenirs bereits verloren, weil individuelle Akteure auf den Markt drängten und diesen rapide veränderten.100 Als 98 Ziel von heritage interpretation ist es, das historische Erbe einer Region auf eine Weise aufzubereiten beziehungsweise darzustellen, dass es von Besuchern und Bewohnern als interessant wahrgenommen wird. Die heritage industry ist das entsprechende Instrumentarium. – Für eine Einführung in das Forschungsfeld und einen Überblick über den Stand der Forschung in der vornehmlich englischsprachigen Literatur vgl. Frank, Der Mauer um die Wette gedenken; Pott, Orte des Tourismus, 119 und 246 f. 99 Hannemann, Soziales Kapital kleiner Städte, 19. 100 Einzelne Akteure besitzen die Rechte auf bestimmte Themenführungen, die, als geschütztes

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Ergebnis liegen die Wittenberger Lutherstätten nicht mehr ausschließlich in der Obhut öffentlicher Institutionen wie Museen, staatlicher Denkmalschutz, Kirchengemeinden oder der Kommunalverwaltung, sondern werden von historischen Vereinen und einem privatwirtschaftlich operierenden touristischen Dienstleistungsgewerbe mitgeprägt. Die heritage industry dringt auf diese Weise in den ehemals als genuin öffentlich verstandenen Aufgabenbereich der Geschichtspflege ein. Die neuen Akteure entwickelten eine andere Perspektive auf die Vergangenheit und verwerteten das historische Erbe der Stadt vor allem unter ökonomischen Aspekten. Heritage kann deshalb, im Gegensatz zu history, als kommodifizierte Geschichte bezeichnet werden. Es konstituiert ein massenkulturelles Produkt, dass sich aus der ,Ressource Vergangenheit‘ formt.101 Die heritage industry initiiert und unterstützt eine Steigerung und Ausdifferenzierung des touristischen Angebots. Bis in die 1990er Jahre konnten Besuchsgruppen lediglich die Sprache und die zeitliche Dauer der offerierten Stadtführung sowie die zu besuchenden touristischen Einrichtungen bestimmen. Mit dem Auftreten neuer Akteure entstand eine Vielzahl neuer Angebote, die nun den Erlebnischarakter betonen und die Wissensvermittlung in den Hintergrund rücken lassen. Die Ablösung fachwissenschaftlich geprägter Geschichtsvermittlungstraditionen durch erlebnisorientierte, als Infotainment paraphrasierte Darbietungsformen ermöglichte eine Geschichte zum ,Anfassen‘ oder ,Miterleben‘ im Rahmen eines erstmals im angelsächsischen Raum ausprobierten living history-Konzepts.102 Statt auf passiven Konsum setzen die neuen Angebote auf die Einbeziehung der Touristen in möglichst flexibel gestaltbare interaktive Aufführungen lokaler Kultur. Die Stadtführer beschränken sich beispielsweise während der meist in den Abendstunden stattfindenden Thementouren nicht auf das Tragen einer historischen Gewandung, sondern verwickeln die Teilnehmer in Dialogsituationen. Um die Spielsituation zu befördern, begleiten in der Regel mindestens zwei miteinander kommunizierende Gästeführer die Gruppe. Darüber hinaus begegnet die Touristengruppe in einigen Führungsangeboten weiteren Akteuren – dem Henker, den Waschweibern, der Stadtwache – und fühlt sich als Teil eines Schauspiels. Es ist somit ein „Theater der Erinnerung“ entstanden.103 Produkt, über die Vertriebskanäle der Wittenberg-Information vertrieben werden. Die Akteure machen sich aber auch zunehmend unabhängig vom Fremdenverkehrsamt, indem sie Homepages initiieren, mittels mobiler Werbetafeln auf ihre Führungsangebote aufmerksam machen oder mit Partnern aus der Restaurant- und Hotelbranche zwecks Gestaltung neuer Angebote kooperieren. 101 Vgl. Lowenthal, History und Heritage. 102 Vgl. Duisberg (Hg.), Living History in Freilichtmuseen; Pleitner, Erlebnis- und erfahrungsorientierte Zugänge zur Geschichte. 103 Vgl. Kamper, Inszenierte Ereignisse: Kultur als Theater der Erinnerung; Pott, Orte des Tourismus, 251 ff.

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Während die historischen Themenrundgänge auf einen engen zeitlichen Rahmen von ein oder zwei Stunden beschränkt sind, erlebt das gebotene Schauspiel anlässlich der städtischen Feste eine Ausweitung auf mehrere Tage. Der gesamte Altstadtraum verwandelt sich in ein begehbares historisches Lager, das den Besuchern Einblicke in die Lutherzeit vermitteln soll. Hierzu dienen kulinarische Angebote ebenso wie die Aufführungen und Spielszenen auf den zahlreichen Bühnen der Altstadt. Diese aufwendige Form der Geschichtsvermittlung wird nicht nur durch das Engagement der historischen Vereine ermöglicht, sondern in erheblichem Maß von ,professionellen Historiendarstellern‘ mitgeprägt, die ökonomische Interessen verfolgen. Die Grenzen zwischen Vereinsarbeit und gewerblichen Interessen, zwischen freiwilligem Engagement und Gewinnstreben, sind fließend. Mit dem Entstehen einer heritage industry verändert sich der Charakter der Denkmallandschaft. Nicht die Ausstellung von Materialität, sondern die Präsentation eines Themas rückt in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Objektzentrierte Rundgänge werden sukzessiv durch ein interaktiv angelegtes Erlebnis ersetzt. Die Vermittlung vergangenen Geschehens als Bildungs- und Unterhaltungsangebot resultiert in der Vermischung der kulturellen Form des Museums mit der des Theaters. Als Ausdrucksform einer lebendigen und ständig erneuerten Praxis kann die themenzentrierte, ereignisorientierte Darstellungspraxis schneller auf Interessens- oder Aufmerksamkeitsveränderungen der Rezipienten reagieren als die auf Dauerhaftigkeit angelegten materiellen Erinnerungszeugnisse. Dieses Verhältnis von materiell und immateriell verfasster Erinnerung entspricht der von Aleida Assmann für die Kulturwissenschaft fruchtbar gemachten Denkfigur von fest und flüssig, welche „Grenzwerte jenes Spannungsfelds“ bestimmen, „in dem sich Kultur grundsätzlich konstituiert und kulturelles Leben immer schon bewegt“104 hat. Für die kurze Zeit der Dauer der Aufführung wird ein immaterielles Denkmal errichtet, das in der Wahrnehmung des Zuschauers eine nachhaltigere Wirkung zu entfalten vermag als ein flüchtiger Blick auf ein Monument oder der hastige Besuch einer Kirche oder eines Museums.105 Die Umstellung des touristischen Raumerlebnisses von einem primären Ortsbezug auf einen Erlebnisbezug stärkte die Rolle der Akteure, denn ohne sie wäre das Erlebnis nicht möglich und die Denkmallandschaft Wittenbergs würde zu einer leeren Bühne.106 Heritage wertet aber auch die Bedeutung des Raumes auf, denn der hierdurch ermöglichte Zugang zu vergangenem Geschehen ist ein genuin räumliches Phänomen. Die in Wittenberg wirkenden Akteure der heritage industry demonstrieren den Zusammenhang und die gegenseitige Bedingtheit von Identität, Erleben und Gestaltung von Lebens104 Vgl. Aleida Assmann, Fest und flüssig, 183. 105 Vgl. Großegger, Historische Dramen, 294. 106 Zur Bedeutung der Akteure vgl. Hilber/Ergez (Hg.), Stadtidentität. Der richtige Weg zum Stadtmarketing.

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raum und sind deshalb ein „Raummacher ersten Grades“.107 Da die heritageBewegung traditionell auf den Ort rekurriert, gewinnt er Bedeutung als soziale Heimat. Sybille Frank schlussfolgert deshalb, heritage feiere „den konkreten Ort als die Menschen verbindendes soziales Element.“108 3.5 Alltagskultur als Mittel der Identitätskonstruktion Die unter dem Begriff der kulturalistischen Wende erfolgte Transformation kultureller Wissensbestände rückte seit den späten 1990er Jahren die Bedeutung von Alltagskulturen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.109 Sybille Frank führt diese Entwicklung zum einen auf die Intensivierung des kulturellen Austauschs aufgrund der neuen Medien- und Kommunikationsmöglichkeiten, zum anderen auf die zunehmende Dynamisierung, Pluralisierung und Fragmentierung westlicher Gesellschaften zurück, die in hoher räumlicher und sozialer Mobilität resultiere. Als Folge sei der Kulturbegriff an sich zu einem Thema kritischer Reflexion geworden. Kultur würde von normativen Grundannahmen befreit und als aktiver, an alltägliche Handlungen gebundener vielstimmiger und kreativer sozialer Prozess verstanden.110 Damit ist die Umkehrung des Prinzips verbunden, wonach Kultur das zentrale Wertesystem eines sozialen Systems darstellt und eine Kulturelite über dessen Einhaltung wacht. Die kulturalistische Wende ist eng mit den neuen Akteuren der städtischen Geschichtspolitik verbunden. Diese rücken unterschiedliche ,Lesarten‘ der Vergangenheit in das Zentrum der Aufmerksamkeit und somit zugleich Interpretationen, die im Kontext der Gegenwart von unterschiedlichen Interessen reformuliert werden.111 Diese Interessen beziehen sich meist auf die ökonomische Verwertbarkeit oder eine Stärkung des Erlebnischarakters der Geschichtsdarstellung, während historische Authentizität in den Hintergrund rückt. Hatten bei der Ausgestaltung der historischen Feste des 19. Jahrhunderts noch die geisteswissenschaftlich gebildeten Eliten der Stadt die inhaltliche Orientierung vorgegeben und beispielsweise eine Festzugskonzeption erstellt, so sind Rückfragen von Akteuren und Veranstaltern gegenwärtiger historischer Spektakel bei Pfarrern, Archivaren oder Museumsdirektoren heute eher selten.112 Wirksam werden diese Interpretationen als Medium zur

Vgl. Wöhler, Topographie des Erlebens, 17. Frank, Der Mauer um die Wette gedenken, 57. Vgl. Lindner, Die Stunde der Cultural Studies. Vgl. Frank, Der Mauer um die Ecke gedenken, 100 f. Vgl. Urry, Wie erinnern sich Gesellschaften ihrer Vergangenheit; Jarausch, Die Krise der nationalen Meistererzählungen. Ein Plädoyer für plurale, interdependente Narrative. 112 Hoffmann bestätigt diese Hypothese empirisch und schreibt, 77 Prozent der Veranstalter von Mittelalter-Spektakeln hätten noch nie in der Vorbereitung oder Durchführung ihrer Feste

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Verständigung über eine gemeinsame Vergangenheit jedoch erst, wenn sich Akteure mit ihnen auch identifizieren. Dies geschieht in Wittenberg beispielsweise durch die verbreitete Bereitschaft, sich mit den Renaissance-Gewandungen zu kleiden und mittels thematischer Stadtführungen, Feste und ,Mittelalter‘-Märkte die Lutherzeit wiederaufleben zu lassen. Zusammenfassen lässt sich dieses Tun als ,Reenactment‘, zu dessen Zweck die Akteure eine neue Identität annehmen: „Lokale Identitäten […] sind insofern Re-Konstruktionen. Sie taugen […] ebenso zur kulturellen Integration der städtischen Gesellschaft wie zur Vermarktung als Lokalkolorit.“113 Hinsichtlich der in Wittenberg betriebenen Reformationserinnerung wird die geschichtswissenschaftliche Annäherung immer stärker von einer biographisch orientierten Sichtweise ergänzt. Hierfür rücken populäre Erzählweisen in das Zentrum der Geschichtsvermittlung, die sich unter dem Leitmotiv,Geschichten statt Geschichte‘ subsumieren lassen. Im Mittelpunkt steht die Person Martin Luther, die vor allem ein biographisches Orientierungsangebot darstellt. Gern applaudiert man dem sich volkstümlich gebenden Reformator, solange er als Ehemann und Vater beziehungsweise als Bürger Wittenbergs auftritt und sich so gibt, wie das Publikum sich ihn vorstellt – deftig und voller Wortwitz. Dabei geht es vor allem darum, „alltägliches Leben in einer anderen Zeit zu simulieren und zu inszenieren.“114 Die Darstellung des Alltags der Wittenberger Protagonisten der Reformationsgeschichte mitsamt seiner für den Verlauf der Geschichte eigentlich irrelevanten Details ist beliebt, weil ,Alltag‘ etwas ist, das alle Besucher unabhängig von ihrer konfessionellen, nationalen oder sozialen Herkunft teilen und das folglich auch an alle Besucherinteressen ,andocken‘ kann. Um kollektiv wirksam zu werden, muss ein Erinnerungsnarrativ Bestandteil sozialer Kommunikation werden. Die Schilderung des Ehe- und Familienlebens, der Einkommens- und Besitzverhältnisse sowie der Ess- und Trinkgewohnheiten Martin Luthers erfreut sich wachsender Popularität bei Einheimischen und Besuchern gleichermaßen, wie zahlreiche Unterhaltungsangebote belegen. Unter den Titeln wie Frauenklatsch im Mittelalter, Unterwegs mit Barbara Cranach und Katharina von Bora, Der kleine Grieche oder Folter, Pranger, Mordgeschichten bieten Gästeführer in historischen Gewandungen und unter Aufbietung eines beachtlichen schauspielerischen Talents Rundgänge zu alltagsgeschichtlichen Themen an, die aber auch zunehmend die Inhalte regulärer Stadtrundgänge bestimmen. Ergänzt wird das Angebot durch kulinarische Offerten wie die Barbaratafel oder das Lutheressen, zu denen die Akteure sich gern zu ihren Gästen gesellen und aus den Verhältnissen Wittenbergs im 16. Jahrhundert ,plaudern‘. Kontakt zu Fachleuten oder Menschen mit wissenschaftlichen Vorkenntnissen gesucht. Vgl. Hoffmann, Mittelalterfeste in der Gegenwart, 116. 113 Bittner, Die Stadt als Event, 18. 114 Lässig, Clio in Disneyland?, 49.

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Die Rolle Luthers als Seelsorger oder akademischer Lehrer, vor allem aber die des Christenmenschen, tritt bei den gegenwärtigen Darstellungen der Reformation in Wittenberg in den Hintergrund, denn sie bietet der Mehrheit keinerlei Identifikationsangebot. Das theologisch begründete Anliegen der Reformation ist deshalb in Wittenberg kaum noch sichtbar. Dabei schließen sich Religiosität und Alltag keineswegs aus. Reformatorisches Christentum kam den Menschen schließlich in ihrer Alltagswelt näher und war über Generationen hinweg mit der bürgerlichen Kultur eng verbunden. Gerade die Reformation hatte neu ans Licht gebracht, dass sich der Glaube im Alltag, in Familie und Beruf, zu bewähren hat und nicht auf kontemplative Momente beschränkt bleibt. Luther selbst hatte das Zentrum der christlichen Frömmigkeit vom Kloster in die Familie verlegt,115 indem er Wittenbergs Schwarzes Kloster zum Prototyp des evangelischen Pfarrhauses machte. Mit dem Protestantismus wurde der Gegensatz von ,heilig‘ und ,profan‘ überwunden, sodass sich der Gottesdienst der Gläubigen nicht mehr ausschließlich in heiligen Handlungen, sondern im Alltag vollzieht. „Einblicke in das Alltagsleben zur Zeit Martin Luthers und seine Bewältigung können zu einem Impuls werden, unseren eigenen Lebensalltag sinnvoll zu gestalten“,116 schlussfolgerte daraus der Direktor des Wittenberger Predigerseminars Peter Freybe für die Gegenwart. Religion ist in der Gegenwart auf die Thematisierung von und den Bezug auf die alltägliche Lebenswelt sowie individuelle Biographien sogar mehr denn je angewiesen, um als funktionales Teilsystem der Gesellschaft anschlussfähig zu bleiben.117 Was der in Wittenberg betriebenen Zuwendung zum Alltäglichen und Biographischen jedoch zumeist fehlt, ist eine „Art der Religiosität, die das Leben und die diesseitige Welt insgesamt mit der Gesinnung elementarer Ehrfurcht vor dem Göttlichen durchdringt“118 und als Weltfrömmigkeit bezeichnet wird. Nicht nur die Festgestaltung, thematische Stadtrundgänge, gastronomische Angebote und touristische Produkte, sondern auch die Ausrichtung und Arbeit der Wittenberger Museen belegen eine Öffnung zu alltagsgeschichtlichen Fragestellungen, um einerseits den Erwartungshaltungen der Erlebnisgesellschaft gerecht zu werden, andererseits ein neues Selbstverständnis zu gewinnen. Die Gründung der Lutherhalle im 19. Jahrhundert war eng mit der Bildung und Konsolidierung eines protestantisch dominierten deutschen Nationalstaates verknüpft gewesen. Weil dies so ist, stellt sich dem Museum heute die Frage, welche andere Art von Identität – und Art von Geschichte – es angesichts eines Bedeutungsverlustes von national und konfessionell begründeten Identitäten artikulieren kann.119 Eine mögliche Antwort hierauf 115 116 117 118 119

Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 40ff und 68. Freybe (Hg.), Gott hat noch nicht genug Wittenbergisch Bier getrunken, Vorwort. Vgl. Nassehi, Religion und Biographie. Friedrich Wilhelm Graf, Der Protestantismus, 99. Vgl. hierzu Macdonald, Nationale, postnationale, transkulturelle Identitäten und das Museum.

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liefert die Alltagsgeschichte. Durch eine auf die Frau des Reformators zugeschnittene Sonderausstellung wurde die Lutherhalle im Katharina-von-Bora Jubiläumsjahr 1999 zu einem Schrittmacher dieses methodischen Ansatzes.120 Im Rahmen der 2002 abgeschlossenen Sanierung des Lutherhauses wollte man „die Frage klären, wo Luther mit seiner Familie gewohnt hat, wo gekocht und wo geschlafen wurde“,121 sodass in der im Anschluss daran eröffneten Dauerausstellung die Themen Ehe, Familie, Kinder und Haushalt einen festen Platz fanden. Der Museumsbesucher kann sich somit auch an Katharinas Tafel als Gast fühlen.122 Im benachbarten Melanchthonhaus hatte man mit der 1997 erfolgten Wiedereröffnung zunächst einen anderen Weg verfolgt. Die damals neu konzipierte Ausstellung verzichtete auf viele zuvor gezeigte plastische Bezüge zur Wittenberger Stadtgeschichte wie die Hand der Giftmischerin Susanne Zimmermann oder ein Stück der hölzernen Wasserleitung aus dem 16. Jahrhundert. Vor allem die Bürger der Stadt zeigten dem Melanchthonhaus fortan die ,kalte Schulter‘ und es verzeichnete einen deutlichen Besucherrückgang. Die im Jahr der Wiedereröffnung 1997 rund 22.000 Besucher blieben weit hinter dem Publikumszuspruch der 1980er Jahre zurück. In den darauf folgenden Jahren gingen die Besucherzahlen nochmals stark zurück, erreichten im Universitätsjubiläumsjahr 2002 mit 11.000 Gästen einen Tiefpunkt und konnten erst 2009 wieder an das Eröffnungsjahr 1997 anschließen.123 Die intellektuelle Aura eines Gelehrtenhauses allein konnte das Bedürfnis nach emotionalen und vor allem narrativen Vermittlungstechniken nicht erfüllen und minderte die Anziehungskraft des Museums. Die Neukonzeption des Hauses im Jahr 2012 trägt diesem Umstand Rechnung und bietet dem Besucher zukünftig die Chance, sich Melanchthon als Mensch, Ehemann und Familienvater zu nähern.124 Die Transformation der beiden Wittenberger reformationsgeschichtlichen Museen indiziert einen veränderten Zugang zur Wittenberger Denkmallandschaft, der statt des materiellen Monuments konfessioneller und nationaler Identität die soziale Gedenkstätte als Ort der Verlebendigung und Vergegenwärtigung von Vergangenheit in den Mittelpunkt rückt.125 ,Erlebniszugewinn‘ und Konsumanreiz stehen dabei im Mittelpunkt, denn „der Übergang von Geschichts- und Kunstdenkmälern zu Denkmälern des Konsums und des Vergnügens ist fließend und entspricht postmoderner Plurivalenz.“126

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Vgl. Treu (Hg.), ,Lieber Herr Käthe‘. Woraus gelöffelt wurde. Luther und die Güter dieser Welt, FAZ vom 03. 08. 2000, 46. Vgl. Heling, Zu Haus bei Luther. Ein alltagsgeschichtlicher Rundgang. Vgl. Besucherstatistik Melanchthonhaus, Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt. Vgl. Melanchthons Küche. Planungen für die neue Dauerausstellung. Zu diesem Phänomen vgl. Hartog, Time and Heritage. Lipp, Denkmalpflege und Geschichte, 166.

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Wittenberg als Protestantischer Erinnerungsort der Gegenwart

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4. Wittenberg als Protestantischer Erinnerungsort der Gegenwart Die Erforschung des protestantischen Erinnerungsortes Wittenberg im ,historisch langen Bogen‘ ist nicht zuletzt deshalb ertragreich, weil sie die religiöse beziehungsweise konfessionelle Verfasstheit von sozialen Gruppen aufdecken kann. Hierzu gehört der „Aspekt der Gruppenbezogenheit“, „das Prinzip der Organisiertheit“ der Erinnerung und seine Umsetzung ,vor Ort‘ sowie die Frage von „Werteorientierungen mit Relevanzhierarchien“, die in der Erinnerungspraxis zum Ausdruck kommen.127 Wittenberg als Bewusstseinsgemeinschaft seiner Einwohner hat im Lauf des 20. Jahrhunderts an protestantischer Gestaltungskraft verloren, denn innerhalb der Bevölkerung stellen evangelische Christen nur noch eine kleine Minderheit, der die Deutungshoheit über die Stätten der Reformationsgeschichte längst entglitten ist.128 Gegenwärtige Impulse für eine Profilierung als protestantischer Erinnerungsort kommen deshalb in der Regel von außen. Seit der Jahrtausendwende lässt sich in der Lutherstadt eine von externen Akteuren getragene Entwicklung beobachten, die eine Renaissance des spezifisch protestantischen Charakters der Stadt begründet. Ein wichtiger Schrittmacher der protestantischen Profilstärkung sind die amerikanischen Lutheraner. Der größten lutherischen Kirche der Vereinigten Staaten, der ELCA, gelang es 1999, ein Büro in der Lutherstadt zu eröffnen. Ihr großer konservativer Rivale, die Missouri Synod, engagiert sich ebenfalls in Wittenberg. Die Religionsgemeinschaft kaufte in Kooperation mit einem deutschen Partner das Alte Gymnasium, ein historisches Gebäude neben der Stadtkirche, und verfolgt Pläne, dort einen ständigen Anlaufpunkt zu schaffen. Die Präsenz der amerikanischen Kirchen steht in einem engen Zusammenhang mit der touristischen Entwicklung der Lutherstadt, denn religiös motivierter Tourismus ist vor allem in den Vereinigten Staaten ein wachsender Markt. Im Jahr 2004 sollen 600.000 US-Amerikaner aus religiösen Gründen ins Ausland gereist sein.129 Das starke Engagement der amerikanischen Kirchen scheint die Annahme einiger Vertreter der Religionssoziologie zu bestätigen, wonach das Prinzip der Konkurrenz das Niveau religiöser Vitalität hebe. Die fortschreitende Pluralisierung religiöser und weltanschaulicher Sinnangebote sporne demnach den Wettbewerb einzelner Sinnanbieter an, der auf die Bewahrung des Mitgliederbestandes sowie die Rekrutierung und Mobilisierung von Mitgliedern angelegt sei.130 Das ,Erlebnis Wittenberg‘ bietet insbesondere 127 Kuhlemann, Erinnerung und Erinnerungskultur, 33. 128 Der Magdeburger Oberkonsistorialrat Hans-Christoph Sens bringt dies in seinem Vorwort für ein im Lutherjahr 1996 erschienenes Buch folgendermaßen auf den Punkt: „Das touristische Luther-Jahr und das kirchliche Luthergedenken verfolgen unterschiedliche Ziele.“ Siehe Luthergedenken 1996, 5. 129 Vgl. Stausberg, Religion im modernen Tourismus, 21. 130 Pollack zählt eine ganze Reihe von amerikanischen Vertretern der Religionssoziologie der

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Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg in der Gegenwart

Lutheranern die Chance eines Alleinstellungsmerkmals, welches Kohäsionskräfte innerhalb der eigenen Mitgliedschaft erhöht und gleichzeitig die Attraktivität gegenüber konkurrierenden Glaubensgemeinschaften stärkt. Die in Wittenberg ansässigen Vertreter der ELCA und der Missouri Synod sind Kooperationspartner eines kirchlichen Gruppentourismus. Dessen wachsende Bedeutung für den Fremdenverkehr belegt nicht zuletzt die in Wittenberg erfolgte Ansiedlung eines Reiseveranstalters, der sich auf englischsprachige Kirchengruppen spezialisiert hat.131 Ein weiterer LutherreiseSpezialist initiierte 2011 ein internationales Jugendfestival für junge Lutheraner aus dem nordamerikanischen Raum.132 Aber auch für deutschsprachige Kirchengruppen gewinnt Wittenberg an Bedeutung als touristische Destination. Sehr erfolgreich ist beispielsweise das internationale Konfirmandentreffen, das Jahr für Jahr mehrere hundert junge Christen anlässlich des Reformationstags in die Lutherstadt führt. Wie in den 1920er Jahren ist auch im konfessionell ausgerichteten Wittenberger Fremdenverkehr der Gegenwart nicht der individuelle Besuch der Lutherstätten, sondern die kollektiv durchgeführte Reise charakteristisch. Der Wunsch nach Erfahrung von Gemeinschaft mit Gleichgesinnten ist ein wichtiges Motiv hierfür. Das hier geübte Zusammensein verschiedener Gemeindemitglieder über den Gottesdienst als Grundform christlicher Gemeinschaft hinaus führt zu einer Stärkung der Gruppenidentität,133 denn gemeinsam versichert sich die Gruppe an der Wiege der Reformation der historischen Grundlage ihrer Zusammengehörigkeit. Über den konfessionellen Aspekt hinaus wird hierdurch der Blick für die Bedeutung der Gemeinde für den gelebten Glauben geschärft und somit die Kategorie der Sozialität auch in einer Zeit zunehmender Individualität bewusst gemacht. Dieser Gruppentourismus wird von einer Geistlichkeit als ,Hüter der Tradition‘ organisiert.134 Initiatoren sind meist Pfarrer, Chorleiter oder Gemeindeälteste, als wichtige Ansprechpartner vor Ort fungieren die in Wittenberg vertretenen kirchlichen Institutionen. Neben der Gruppenbezogenheit unterscheidet die inhaltliche Ausgestaltung des Wittenberg-Besuchs den ,konfessionellen Erbauungsbesuch‘ vom übrigen Kultur- und Städtetourismus. Während sich das Besuchsprogramm des Letzteren meist auf die Besichtigung der wichtigsten Lutherstätten beschränkt, wollen Gemeindegruppen und Kirchenchöre Wittenberg ,intensi-

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1980er und 1990er Jahre auf, welche diese These vertreten. Vgl. Pollack, Individualisierung statt Säkularisierung?, 61. Die Firma Christian Tours Europe zog 2010 von Braunschweig nach Wittenberg und organisiert Lutherreisen und Studienaufenthalte für englischsprachige Besucher. Terra Lu Travel hat für den Juni 2011 unter dem Titel Luther500 ein internationales Jugendfestival mit mehr als 200 Teilnehmern angekündigt, das alle zwei Jahre in Wittenberg wiederholt werden soll. Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 265 und 276. Vgl. Sandl, Protestantische Identität, 16.

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ver‘ erfahren.135 Noch in den 1990er Jahren hatte der Propst des Kurkreises die Tatsache beklagt, dass viele religiös orientierte Wittenberg-Besucher die Stadt „hungrig und durstig“ wieder verlassen würden. Sie hätten zwar viel gesehen, aber nichts erlebt.136 „Erlebnis“, schreibt Manfred Hettling, sei hingegen „mehr als Erkenntnis, […] mehr als nur rationales Wissen, nur abstraktes Verstehen.“137 Eine Studie über die Gästestruktur des Kulturtourismus in Sachsen-Anhalt stützt die These einer wachsenden Interaktion zwischen touristischem Verhalten und dem religiösen Interesse der Besucher. Hierzu zählt vor allem die Teilnahme an Gottesdiensten und Andachten, denn zweiundzwanzig Prozent der Tagesgäste und rund ein Viertel der Übernachtungsgäste stehen einer Gottesdienstteilnahme offen gegenüber.138 Für internationale Besucher sorgt das English Ministry Program für eine ,spirituelle Abrundung‘ ihres Besuchs. Während der Sommermonate bieten amerikanische Gastpfarrer regelmäßig Gottesdienste und Andachten in ihrer Muttersprache an. Eine von der ELCA publizierte englischsprachige ,Pilgerbroschüre‘ ermöglicht außerdem einen Wittenberg-Rundgang jenseits der historischen Lutherstätten.139 Trotz einer Ausweitung spiritueller Angebote ,droht‘ in Wittenberg jedoch keineswegs die Entstehung eines ,protestantischen Lourdes‘ an der Elbe. Charakteristisch für den evangelischen Pilgertourismus ist der Aspekt der Bildung, der den evangelischen Wallfahrer vom katholischen Pilger prinzipiell unterscheidet. Angebote knüpfen deshalb meist an das protestantische Bildungsverständnis der ,Aufklärung‘ des Glaubens an.140 Die Ausweisung des Büros der amerikanischen ELCA als ,Learning Center‘ trägt diesem Gedanken ebenso Rechnung wie der Anspruch der meisten christlichen Besuchergruppen aus Nordamerika, Wittenberg als Teil einer ,study tour‘ zu erfahren. In vielfältiger Weise ist der historische Protestantismus in der Wahrnehmung der Bildungsverantwortung führend gewesen und die modernen ,protestantischen Wittenberg-Wallfahrer‘ lassen den Verkündigungs- und Bildungsauftrag des Protestantismus wieder zu Ehren kommen. Unter Berufung auf das Schriftprinzip des Protestantismus empfiehlt die Pilgerbroschüre der ELCA beispielsweise, die Bibel mitzunehmen und an den einzelnen Pilgerstationen die vorgeschlagenen Textstellen nachzuschlagen, denn evangelische Frömmigkeit ist vor allem Bibelfrömmigkeit. Über diesen Rahmen hinaus unterstreichen Museumsbesuche, Vorträge zu reformationsgeschichtlichen Themen, kirchenmusikalische Angebote oder Gesprächsrunden mit Zeitzeugen 135 Vgl. Broschüre „The ELCA presents ,A Pilgrim walk through Lutherstadt Wittenberg‘“, Wittenberg 2009. 136 Zitiert in: Zentner, Religion und Kirche vermarkten?, 44. 137 Hettling, Das Denkmal als Fetisch, 49. 138 Vgl. Seidel, Die Gästestruktur des Kulturtourismus in Sachsen-Anhalt, 32. 139 Vgl. Broschüre „The ELCA Wittenberg Center e.V. presents … A Pilgrim Walk through Lutherstadt Wittenberg”, Wittenberg 2009. 140 Vgl. Hoburg, Imagefaktor Kirche, 14.

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Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg in der Gegenwart

der Protestantischen Revolution von 1989 den permanenten Rekurs auf die reformatorische Eigengeschichte und korrespondieren mit Besucherwünschen. Eine Untersuchung protestantischer Reisegruppen aus den Vereinigten Staaten im Heiligen Land, deren Erkenntnisgewinn auch auf Wittenberg übertragbar ist, schlussfolgert: The Protestant pilgrim […] is often repulsed by ,smells and bells‘ […]. While catholic theming […] remains threatening and idolatrous, heritage museum theming is seen spiritually neutral, insofar as it employs advanced technology and convincing visualisations of the past.141

Deutsche Protestanten agieren ähnlich, wie verschiedene Untersuchungen ergeben haben. So lässt sich eine Lust auf ,kulturelle Vergewisserung‘ feststellen. Der Faktor Spiritualität bleibt jedoch meist auf eine Gottesdienstteilnahme beschränkt, denn protestantische Erinnerungskultur erschöpft sich nicht in äußeren Gesten.142 Jede Form der bewussten Vermittlung von Spiritualität wird misstrauisch als neue Gesetzlichkeit betrachtet, welche die protestantische Freiheit in Frage stellen könnte. Selbst evangelische Kirchengemeinden organisieren Reisen, die vor allem auf Bildung und Erholung zielen, während religiöse Motive eher zweitrangig sind.143 Im Zentrum einer Erkundung der Lutherstätten aus protestantischer Perspektive stehen Momente der klassischen Bildungsreise. Das gestiegene Interesse an verschiedenen Stätten der Reformation im Rahmen einer Lutherreise hat in den 1990er Jahren zur Kooperation Wittenbergs mit Eisleben, Erfurt und Eisenach unter dem Dachbegriff Wege zu Luther geführt. Aber auch die Ausweisung eines Luther-Pilgerwegs, der Wittenberg mit weiteren Städten der Reformationsgeschichte in Mitteldeutschland verbindet, belegt das wachsende Interesse an einem bildungsorientierten spirituellen Tourismus. Diese Entwicklung zeigt, dass neben dem ursprünglich rein zielorientierten protestantischen Pilgertourismus des 20. Jahrhunderts inzwischen auch wegeorientierte Formen entstanden sind und die An- und Abreise sowie die Fahrten beziehungsweise Wanderungen zwischen den einzelnen Etappenorten bereits integrativer Bestandteil der evangelischen Pilgerfahrt sind.144 „Wittenberg ist mehr als nur eine touristische Attraktion“,145 stellte der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, Wolfgang Huber, klar. Die Bildungsorientierung protestantischer Besucher korrespondiert mit Wittenbergs Versuch, als Bildungsstandort zu reüssieren.146 Nicht nur ,klassische‘ Touristen-

141 Ron, Holy Land Protestant Themed Environments, 115 und 127. 142 Vgl. hierzu eine Studie zum spirituellen Tourismus des Landes Sachsen-Anhalt: Heilige Orte, sakrale Räume, Pilgerwege. 143 Vgl. Isenberg, Tourismus und Kirche, 5. 144 Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 265 f. 145 Huber, Wittenberg, 150. 146 Die IBA-Projekte Wittenbergs orientierten sich an der Idee, Wittenberg zum Campus zu

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Wittenberg als Protestantischer Erinnerungsort der Gegenwart

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gruppen, sondern auch Studenten und Wissenschaftler aus den USA und Kanada fühlen sich vom genius loci angezogen. Insbesondere die rund vierzig lutherischen Colleges in Nordamerika, aber auch zahlreiche theologische Seminare interessieren sich für Auslandssemester, Studienprogramme und Forschungsaufenthalte in der Lutherstadt. Mit der Leucorea, einer Wittenberger Dependance der Martin-Luther-Universität im benachbarten Halle, dem Internationalen Jugendgästehaus im Schlosskomplex, der Herberge im Cranachhof und einem 2010 eröffneten Campusgebäude stehen in Wittenberg inzwischen wichtige Kooperationspartner bereit, die die amerikanischen Akteure bei ihrem Anliegen unterstützen. Der Protestantismus, dem eine Theorie des Ortes eigentlich fremd ist, entwickelt allmählich ein ,Gefühl‘ für die besondere Aura der Stadt und zählt die Schlosskirche zu ihren repräsentativsten Identitätsorten. Der ehemalige Präsident des Evangelischen Bundes formulierte es folgendermaßen: Kennt evangelische Frömmigkeit ,heilige Orte‘? Die erste Antwort lautet: Natürlich nicht. […] Trotzdem stehen wir an seinem [Luthers – Anm. d. Verf.] Grab in der Wittenberger Schlosskirche mit Andacht und Dankbarkeit. […] Gewiss sind solche Stätten des Gedenkens für uns keine ,heiligen Orte‘, aber es sind doch Orte spiritueller Aufmerksamkeit und Dankbarkeit. […] Natürlich haben sie keine andere ,ontologische‘ Qualität als anderes Holz und anderer Stein, und doch vermögen sie dem glaubenden Bewusstsein etwas von der Gnade und der Treue Gottes zu erschließen. Es täte dem Protestantismus zweifellos gut, sich der Zeugnisse des Glaubens, die seine eigene Geschichte und die Geschichte der Christenheit insgesamt hervorgebracht hat, zu erinnern und sich ihnen zu öffnen.147

Die geplante Einrichtung eines Zentrums für Predigtkultur im angrenzenden Schloss unterstreicht diese gewonnene Wertschätzung ebenso wie die Wahl Wittenbergs als Ort des 2007 stattgefundenen Zukunftskongresses der evangelischen Kirchen in Deutschland, denn „die lebendige Erinnerung an den Impuls, der sich mit dem Namen Wittenberg verbindet, ist […] unerlässlich.“148 Die Einrichtung mehrerer Koordinierungsstellen kirchlicher Akteure, unter anderem des Lutherischen Weltbundes und der EKD, für die Vorbereitung des Reformationsjubiläum 2017 setzte weitere Impulse, Wittenberg als Zentrum des Protestantismus zukunftsfähig zu machen. Ob dies dauerhaft gelingt, hängt auch davon ab, ob es in Wittenberg möglich ist, die historiographische Monokultur aufzubrechen und die Lutherzentrierte thematische Engführung auszuweiten. Neben den Kerngestalten der Reformationszeit gilt es, weiteren Konstruktionselementen eines protestanmachen und den Einwohnerschwund durch temporäre Bewohner, vor allem Bildungssuchende, auszugleichen. 147 Barth beklagt in seinem Aufsatz die mangelnde Aufmerksamkeit vieler Protestanten gegenüber Kirchenräumen. Zitat in: Barth, Römische Barockarchitektur, 107. 148 Huber, Wittenberg, 172.

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tischen Erinnerungsortes Geltung zu verschaffen. Beispielsweise haben mit Paul Gerhardt oder Nikolaus Graf von Zinsendorf zwei ,Große‘ der evangelischen Kirche entscheidende Jahre ihres Lebens in Wittenberg verbracht und gehören dennoch zu den vergessenen Kapiteln der Stadtgeschichte. Gleiches gilt für Johann Hinrich Wichern und den 1848 in Wittenberg stattgefundenen Kirchentag, aus dem die Diakonie hervorgegangen ist. Aber auch der Schmiedeaktion auf dem Kirchentag 1983 in Verbindung mit der Protestantischen Revolution 1989 droht ein Schattendasein in der städtischen Historiographie. Eine thematische Erweiterung sowie eine Verlängerung der ,protestantischen Heldengalerie‘ könnte das permanente Erneuerungspotential des Protestantismus aufzeigen und die Relevanz des protestantischen Erinnerungsortes Wittenberg bis in die Gegenwart hinein unterstreichen.

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Schlussbetrachtung Die Pioniere der Erforschung von Erinnerungskultur haben anhand zahlreicher Beispiele demonstriert, dass zur Geschichte immer auch die Geschichte ihrer Vermittlung gehört. Das historische Faktum entwickelt sich am Ende zu etwas, das durch die Zeit und den Gebrauch der Erinnerung überformt wird. Wichtige analytische Erkenntnismöglichkeiten ergeben sich daraus vor allem in jenen Fällen, in denen der Erinnerungsstrang nicht überlagert oder gebrochen wurde und über einen langen Zeitraum hinweg untersucht werden kann. Im vorliegenden Beispiel wurden historische Erinnerung, kulturelles Selbstverständnis und soziale Praxis in ihrer wechselseitigen Verschränkung an einem konkreten Ort über einen Zeitraum von mehr als einhundert Jahren untersucht. Dies geschah anhand der Trias Mythos, Denkmal und Fest, die den Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg konstituiert. Die analytische Tiefenbohrung ,im langen Bogen‘ hat gezeigt, wie der sich stetig wandelnde Erlebnisraum als historischer Raum des Wissens, politischer Raum der Ideologie und sakraler Raum des Glaubens Erinnerung leiten, kanalisieren und kodieren konnte. In den untersuchten fünf politischen Systemen verbanden die Trägerschichten der Reformationserinnerung diese jeweils mit einer auf Wittenberg bezogenen Stadtvision, die im Stadtbild materielle Gestalt annahm, Einfluss auf die Fest- und Jubiläumskultur ausübte und nicht zuletzt die Einstellungen und Haltungen von Bewohnern und Besuchern prägte. Die Arbeit konnte zeigen, wie das Erlebnis von Vergangenheit an einen bestimmten Ort, einen Raum, gebunden ist, der den Erinnerungsprozess anzuregen vermag. Dieser Raum benötigt eine Aura historisch begründeter Authentizität. Die in der Vergangenheit vielfach artikulierte Wahrnehmung Wittenbergs als ärmlich und karg belegt, dass die Wertschätzung der Wiege der Reformation keineswegs auf romantischen Vorstellungen gründet, sondern vielmehr dieser Aura geschuldet ist. Historische Authentizität speist sich vor allem aus materiellen Überresten der Vergangenheit. Die materielle Überlieferung konsolidiert den Glauben an Zeitzeugenschaft. Sie vermittelt dem Besucher ein Gefühl für das ,Wahre‘, ,Echte‘ und ,Unverfälschte‘ und ist konstitutiv im vermeintlich direkten Zugang zu vergangenem Geschehen. Die Erfassung und Wertschätzung des bewahrenswerten materiellen Erbes der Vergangenheit setzt jedoch zunächst sein Erkennen voraus. In Wittenberg stellte sich diese Erkenntnis im 19. Jahrhundert ein, als der preußische Staat begann, die materiellen Relikte der Reformationszeit systematisch zu erfassen und zu konservieren. Zu diesem Zweck wurde 1883 das ehemalige Wohnhaus Luthers als Museum eröffnet. Die Lutherhalle hatte die Aufgabe, Zeugnisse der Reformationszeit zusammenzutragen, einer Öffentlichkeit zugängig zu ma-

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chen und sie für kommende Generationen zu bewahren. Über einzelne Objekte hinaus erkannten die Verantwortlichen jedoch auch, dass der gesamte historische Stadtraum ein zu erhaltendes Zeugnis der Vergangenheit darstellt und grenzten ihn durch die Anlage eines Grüngürtels von der modernen städtebaulichen Expansion ab. Im Untersuchungszeitraum dynamisierte sich das Bemühen, die in Wittenberg vorhandene historische Substanz zu konservieren. Der Sammlungsbestand des reformationsgeschichtlichen Museums nahm ebenso rapide zu wie die Zahl der unter Denkmalschutz stehenden Objekte der Wittenberger Altstadt. Allzu offensichtliche Versuche, die mit dem Reformationszeitalter verbundene Materialität zu beschädigen oder zu zerstören, sind hingegen erfolgreich abgewehrt worden. Ein gutes Bespiel hierfür ist der gescheiterte Versuch in den 1970er Jahren, die Kopfsteinpflasterung des Marktplatzes zu entfernen. Materielle Relikte allein genügen jedoch nicht, um Vergangenes in der Gegenwart präsent zu halten. Die Ausformung der Wittenberger Denkmallandschaft ist nichts Statisches und beschränkt sich nicht darauf, die historisch verbürgte Originalsubstanz zu erfassen und zu konservieren. Denkmäler sind vielmehr der Versuch, einen historischen Raum zu erzeugen, an dem das Erlebnis der Vergangenheit stattfinden kann. Konservatorische Maßnahmen wurden deshalb von denkmalschöpferischen Initiativen begleitet; Denkmalpflege und Denkmalschaffung gingen in Wittenberg stets Hand in Hand. Die beiden Reformatorenstandbilder auf dem Marktplatz sowie die bronzene Thesentür markieren erste entscheidende Schritte, den überlieferten Wittenberger Stadtraum entsprechend anzureichern. Der 1883 abgeschlossene Umbau des Lutherhauses sowie die 1892 eingeweihte Schlosskirche bilden die denkmalschöpferischen Höhepunkte des preußischen Bemühens, einen reformationsgeschichtlichen Erlebnisraum zu schaffen. Der Blick auf den jeweiligen Kern dieser Projekte – das Fürstengestühl in der Schlosskirche sowie der Große Hörsaal im Lutherhaus – offenbart, dass es den Initiatoren nicht in erster Linie darum ging, einen Raum in der ästhetischen Qualität des 16. Jahrhunderts bereitzustellen. Viel wichtiger war zunächst die Idee, den Besuchern die zeitgenössische Aktualisierung der Reformationsgeschichte und damit ihre politische Relevanz für die damalige Gegenwart vor Augen zu führen. Angesichts des prächtigen Fürstengestühls konnten sie beispielsweise nachvollziehen, wie die protestantischen Reichsfürsten sich hier 1892 zu einem ,evangelischen Konzil‘ versammelt hatten, um später das Wittenberger Bekenntnis in Analogie zum Augsburger Bekenntnis von 1530 zu unterzeichnen. Die Bereitstellung eines mit der Aura der Authentizität versehenen historischen Raumes reicht nicht, um dauerhaft Erinnerung zu stiften. Nicht allein die mittels Besichtigung vor Ort gewonnene Erkenntnis, sondern das an den Raum gebundene Erlebnis erzeugt die gewünschte Erinnerung. Erst durch ein in diesem Raum stattfindendes Ritual kann mittels Generierung von Emotionen Erinnerung geformt, verstetigt und potentiell gerichtet werden. Ohne

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diesen Affekt bleibt Erinnerung hingegen schwach. Im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert zielten die Feste darauf, die reformatorische Vergangenheit symbolisch zu wiederholen, um sie sinnstiftend zu mobilisieren. Vor allem die prachtvoll begangenen Reformationsjubiläen der Kaiserzeit boten den Teilnehmern die Gelegenheit, mythisch überhöhte Vergangenheit selbst zu erfahren. Dies geschah mit Hilfe von historischen Festzügen und Festspielen – dramatische Inszenierungen, bei denen das dargestellte zu einem wiederhergestellten Erlebnis wurde. Der 1883er Fackelzug zum historischen Ort der Verbrennung der Bannandrohungsbulle, die Teilnahme am Einweihungsgottesdienst der Schlosskirche 1892 oder die Intonation des Lutherliedes auf dem Marktplatz anlässlich diverser Feierlichkeiten können aber auch als Initiationsriten gedeutet werden, bei denen die Beteiligten in die protestantische Gemeinschaft sowie in eine gewünschte politische Ordnung integriert wurden. Unzählige Hochrufe auf den deutschen Kaiser, diverse Ergebenheitsbekundungen an das Herrscherhaus oder die Dekoration des öffentlichen Raumes mit den Lieblingsblumen der Hohenzollern belegen den überragenden Erfolg dieses Ansinnens. Wittenberg wurde hierdurch zu einem Repräsentationsort protestantisch-preußischer Geschichtspolitik und die zahlreichen in die Denkmallandschaft eingefügten Hohenzollern-Insignien materialisieren diesen Gedanken auf Dauer. Hierüber können auch die Reibungsverluste nicht hinwegtäuschen, die sich beispielsweise aus den Interessensgegensätzen zwischen einer verbürgerlichten Jubiläumspraxis und einer obrigkeitsstaatlich gewünschten Lutherfeier mit preußisch-amtskirchlichem Charakter im Jahr 1883 ergaben. Das Ende der Einheit von Thron und Altar veränderte die in Wittenberg betriebene Reformationserinnerung. Hinsichtlich der Denkmallandschaft wuchs die Kritik an der eingreifenden Restaurierungspraxis der Kaiserzeit, welche die reformatorischen Stätten dem Stilideal des Historismus gefügig gemacht hatte. An deren Stelle trat der Versuch einer Rückgewinnung verloren geglaubter Stadtbild-Authentizität, wie sie bereits zuvor mit der Einrichtung von Melanchthons Studier- und Sterbezimmer als einen ,stimmungsvollen Raum‘ nach Vorlage der historisch überlieferten Lutherstube begonnen worden war. Bereits hier zeigte sich, dass die Suggestivkraft des Raumes im Zweifelsfall wichtiger war als die Konservierung von tatsächlichen Überresten der Vergangenheit, in die der Mythos hineinprojiziert wurde. Die Initiatoren erkannten, dass die Mythisierung sich nicht mit einer genauen geschichtlichen Rekonstruktion verträgt. In den 1920er Jahren besannen sich die Wittenberger Deutungseliten endgültig auf die vermeintlich ,echte Lutherzeit‘ und ergriffen Maßnahmen zur Rückgewinnung der historischen Stadt. Die nachträgliche Historisierung des Stadtraums, in deren Mittelpunkt die Sanierung des Rathauses und die Schaffung einer pittoresken Fassadenwelt am Marktplatz standen, steigerte die touristische Attraktivität Wittenbergs und schuf einen Erlebnisraum großer emotionaler Dichte, der den Bedürfnissen der Bewohner sowie den Erwartungen der Besucher entsprach. Die zeitgleich erfolgte

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Transformation der Stadtkirche von einer Gebrauchskirche zu einem Denkmal durch die Hervorhebung der Gestaltungselemente des 16. Jahrhunderts diente dem gleichen Zweck. Der 1930 in sein Amt berufene Direktor der Lutherhalle Oskar Thulin setzte wenige Jahre später den eingeschlagenen Kurs fort. Er betrieb den Rückbau des aus seiner Sicht ,wertlosen Überbaus vergangener Zeiten‘ und insistierte auf die eine, für ihn entscheidende Epoche der Reformationsgeschichte, die einzig und allein ansichtig gemacht werden sollte. Die Besucher sollten auf diese Weise am vermeintlichen Lebensalltag des Reformators teilhaben können, denn durch diese emotionalisierte Aufladung blieb die Erinnerung länger haften. Nicht nur bei Fragen der materiellen Ausgestaltung des Raums fokussierten die Wittenberger Bürger nach 1918 ihren Blick auf die Selbstbildressource Luther ; ein Bemühen, das im Namenszusatz ,Lutherstadt‘ eine semantische Zuspitzung erfuhr. In Wittenberg war die Mobilisierung der Reformationszeit für Zwecke der Gegenwart auch mit einer dezidiert konfessionell ausgerichteten Festpolitik verbunden, die den Übergang von einer Bürger- zu einer Einwohnergemeinde verzögerte. Kirchliche Feier, Volksfest und politische Veranstaltung bildeten bei den Reformationsfeiern vor 1933 noch eine Einheit, die den inneren Zusammenhalt des evangelischen Wittenberger Stadtbürgertums festigen sowie Säkularisierungstendenzen aufhalten sollte. Die Inflation reformationsgeschichtlich begründeter Feiern im Sinne einer ,Erfindung von Tradition‘, aber auch die Verwendung von Symbolen des untergegangenen Kaiserreichs waren Mittel politischer Standortbestimmung und emotionaler Selbstvergewisserung. Mit Hilfe eines florierenden protestantischen Pilgertourismus, der Zusammenarbeit mit dem politischen Protestantismus sowie des versuchten Aufstiegs zu einem institutionellen Zentrum des protestantischen Deutschland wurden diese Visionen aber auch nach außen getragen. Die Wertschätzung und Erfahrung des mit Wittenberg verbundenen historischen Erbes blieben jedoch zunächst bestimmten, durch ihr kulturelles Kapital privilegierten Besuchern vorbehalten. Der Machtantritt der Nationalsozialisten markiert die schärfste Zäsur in der im Untersuchungszeitraum in Wittenberg betriebenen Praxis der Reformationserinnerung. Dies war jedoch nicht vordergründig der politischen Instrumentalisierung geschuldet: Die Stadt blieb weiterhin protestantisch besetzt und ließ sich nicht offensiv in die Geschichtsbilder des NS-Regimes einfügen. Es erfolgte indes eine Ausweitung des sozialen Kreises der Adressaten, denn die auf eine Stärkung der stadtbürgerlichen Binnenhomogenität und Ausgrenzung anderer Sozialmilieus angelegte Festkultur ließ sich nicht dauerhaft aufrecht erhalten. Die neue, milieusprengende Erinnerungspraxis orientierte sich am Ideal der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und wurde anlässlich des Lutherjubiläums 1933 ebenso wie im Bereich des Fremdenverkehrs umgesetzt. An die Stelle der bildungsbürgerlich-protestantisch orientierten Wittenberg-Wallfahrer der 1920er Jahre trat ein zunehmend kirchenferner Massentourismus, der mit einer Professionalisierung der

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Gedenkorganisation einherging: Bei der Festgestaltung und im Bereich des Fremdenverkehrs traten Funktionsträger an die Stelle des bürgerlichen Ehrenamts. Hierdurch verschob sich auch die Initiativgewalt der Symbolisierungsanstrengungen nach oben: Bei den Jubiläen der Kaiserzeit und der Weimarer Republik war die Dekoration der Stadt den Bürgern überlassen worden. Unter den Bedingungen der beiden deutschen Diktaturen wurde die Gestaltung des öffentlichen Raums hingegen über eine institutionelle Anbindung gesteuert, um den Staat auf der städtischen Bühne zu inszenieren. Die Schlüsselfigur dieser neuen Ära war der Lutherhallendirektor Oskar Thulin, dessen Ziel die Aufhebung der Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zum Zweck einer mythischen Erneuerung der Reformation war. Er erreichte dies durch den Umbau des Lutherhauses sowie die von ihm beschleunigte Transformation von einer epochen- zu einer personenzentrierten Würdigung der Reformation, die sich auch an den Jubiläumsanlässen ablesen lässt: Im Festkalender wurden die Ereignisse der Reformation seit 1883 immer stärker von den biographischen Wegmarken überlagert – ein Trend, der in der Gegenwart schließlich zu Luthers Hochzeit führte. Parallel hierzu veränderte sich die Wahrnehmung Luthers, der ab dem Historismus nicht mehr als geistig tätiger Kirchenvater, sondern als heroischer Tatenmensch präsentiert wurde. Unter Thulin mutierte diese Entwicklung dann zum ,Führerprinzip‘. Der Museumsdirektor setzte in den 1930er Jahren auf neue Medien und Techniken sowie auf das von ihm propagierte ,wissenschaftliche Prinzip der Anschauung‘, insbesondere auf das Lutherbild. Bis dahin hatte die Darstellungspraxis des Museums hingegen noch auf dem von der evangelischen Theologie ausgehenden Schriftprinzip basiert, das sich auch im Wittenberger Stadtbild wiederfinden lässt. Die im Untersuchungszeitraum sukzessiv erfolgte ,Aufwertung des Dinglichen‘ führte jedoch dazu, dass die zwischen den Polen ,Schriftprinzip‘ und ,Schaulust‘ oszillierende Reformationserinnerung sich allmählich zugunsten des Letzteren verschob und an die Stelle der Vergewisserung der reformatorischen Glaubenswahrheit eine konfessionell indifferente Erlebnisorientierung trat. Oskar Thulins Wirken hat diesen Prozess ab 1930 entscheidend beschleunigt. Während Thulins weit reichende Pläne zum Umbau der Wittenberger Denkmallandschaft, insbesondere die Erweiterung des Lutherhallenkomplexes mit dem Ziel der Schaffung eines ganzheitlichen völkischen Raumkontinuums, im Dritten Reich nicht realisiert werden konnten, griff die zweite deutsche Diktatur massiv in die Materialität des Stadtraumes ein. Nach 1945 schwanden bis dahin geltende bürgerliche Wertorientierungen und die damit verbundenen gemeinsamen ästhetischen Normen zugunsten eines Modernisierungsprozesses unter sozialistischen Vorzeichen, der in Wittenberg mit dem Versuch verbunden war, aus der Luther- eine Chemiestadt zu machen. Die in den ersten DDR-Jahrzehnten geübten Eingriffe in die Wittenberger Denkmallandschaft standen in einem bewussten Kontrast zur bis dahin gepflegten Reformationserinnerung. Chemiepavillon und Weltkriegspanzer veran-

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schaulichten ganz andere Kapitel der Vergangenheit, ließen sich aber nicht dauerhaft mit den etablierten Wittenbergbildern von Einheimischen und Besuchern vereinbaren. Das Scheitern führte in den 1980er Jahren zu restaurativen Tendenzen und zu einer Denkmalpolitik, die auf Bewahrung statt Veränderung setzte. Ausstellungspraxis und Festgestaltung belegen ebenfalls einen stillschweigenden Wandel von der ideologischen Instrumentalisierung der Reformationsgeschichte zu einer in der Spätphase der DDR einsetzenden Entpolitisierung. Hatte der Festzug 1967 die Reformation noch als ,Frühbürgerliche Revolution‘ dargestellt und in ein sozialistisches Weltbild zu integrieren versucht, blieb die ,Würdigung des großen Sohnes‘ 1983 ideologisch hinreichend unbestimmt. Das auswärtige Interesse an Wittenberg blieb auch unter den Bedingungen der deutschen Teilung ungebrochen; die quantitative Zunahme wurde dabei jedoch von einer fortschreitenden Entkirchlichung der Besucher begleitet, die die Wittenberger Denkmallandschaft eher als historische Staffage denn als Bedeutungsträger wahrnahmen. Die dem Raum ursprünglich zugedachte Funktion, die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart zum Zweck aktualisierender Sinnstiftung, konnte er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer weniger leisten. Im Gegenzug stieg das Bedürfnis nach einer historischen und religiösen ,Belehrung‘ beziehungsweise nach didaktischer Anleitung zum Besuch Wittenbergs, dem mittels Stadtführungen und ähnlicher Informationsangebote Rechnung getragen wurde. Die Wittenberger Ereignisse des Herbstes 1989 zeigen aber auch, dass die Reformationserinnerung nach wie vor eine sinnstiftende Kraft entfalten konnte. Die Kerzenprozession des Reformationstages verband Ritual, politische Emotion und historische Erinnerung und der anschließende Thesenanschlag an die Rathaustür aktualisierte die im kulturellen Gedächtnis abgespeicherte Urszene des Protestantismus. Die in den 1980er Jahren neu entstandenen Formen, ein inhaltlich unscharfes Interesse an der Reformationsgeschichte zu bedienen, gewannen im wiedervereinigten Deutschland rapide an Relevanz. Eine pluralisierte Akteursschicht, bestehend aus historischen Vereinen und einer kommerziell agierenden heritage industry, hat das Inszenierungsmonopol der behördlich verfassten Träger von Reformationserinnerung gebrochen und ermöglicht neuartige Erlebnisse von Vergangenheit. Den Festen und touristischen Besuchen der Gegenwart fehlt jedoch ein Moment dessen, was zu Beginn des Untersuchungszeitraums im Begriff des ,Erlebnisses‘ gebündelt wurde: Ihnen ist der spezifische Zweck, die politische oder religiöse Bedeutung verloren gegangen. In der Gegenwart steht nicht mehr die Sinnstiftung, sondern die bedeutungsentleerte Unterhaltungsorientierung an einem historisch herausgehobenen und religiös ,angewärmten‘ Ort im Mittelpunkt. Die ursprünglich auf die Einübung von Verhaltensmustern angelegte historische ,Vergegenwärtigung‘ der Vergangenheit, die sinnstiftende Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit im Erlebnis, hat sich zu einem illustrierenden ,Präsentis-

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mus‘ ohne Bedeutung für die Gegenwart entwickelt. Hierbei verdrängten ein vager historisch inszenierter Alltag sowie der anhaltende Trend zur Biographisierung der Reformationsgeschichte deren konfessionelle und politische Bedeutungsaufladung. Die tendenziell zu einem Freilichtmuseum gewordene Stadt dient in diesem Zusammenhang vor allem als eine Hintergrundkulisse für gefällige Bilder einer vergangenen Zeit. Die voranschreitende Musealisierung des Stadtraumes seit 1990 setzt die für den gesamten Untersuchungszeitraum charakteristische Entwicklung fort, wonach die Entstehung eines materiell verfassten lieu de mmoire mit dem Verschwinden eines milieu de mmoire korreliert. Je weniger die reformatorische Vergangenheit Bestandteil der eigenen Welt ist, desto stärker wird das Bedürfnis, sie zumindest materiell zu bewahren. Dies gilt auch für die personale Präsenz des Reformators: Der Wittenberger Festzug 1883 kam noch ohne Lutherdarsteller aus, während dieser bei der Festgestaltung und in der touristischen Praxis der Gegenwart omnipräsent ist. Zusammen mit dem fast ausnahmslos auf die Lutherzeit bezogenen Festkalender indiziert die beschleunigte Materialisierung von Reformationserinnerung, dass Wittenbergs gegenwärtige Zukunftsvisionen stark mit der Entwicklung eines prosperierenden Fremdenverkehrs verbunden sind, dessen Teilnehmer sich mehrheitlich längst nicht mehr aus einem konfessionellen Milieu rekrutieren. Die Profilierung Wittenbergs als ,feste Burg des Luthertums‘ ist hingegen zunehmend externen Akteuren geschuldet, für die die Reformation neben einer historischen noch eine heilsgeschichtliche Bedeutung hat und die das protestantische Profil der Stadt mitprägen. Der internationale Luthergarten als moderne Weiterentwicklung der Denkmallandschaft, die institutionelle Präsenz amerikanischer Kirchen, die regelmäßigen englischsprachigen Gottesdienste und nicht zuletzt ein florierender Luthertourismus belegen, dass der Ausbau Wittenbergs zu einem Ort, an dem die historischen Ereignisse der Reformationsgeschichte und der damit verbundene Mythos veranschaulicht und sinnlich erfahrbar werden, längst nicht mehr an nationale Grenzen stößt. Die reformationsgeschichtliche Vergangenheit Wittenbergs, die in den allgegenwärtigen ,materiellen Zeugnissen‘ der Denkmallandschaft, in der städtischen Festpraxis oder auch im touristischen Interesse zum Ausdruck kommt, bildete in allen fünf untersuchten politischen Systemen die Basis für ein kulturelles Gedächtnis, das sich in ,Bildern‘ vom Wesen der Lutherstadt manifestierte. Anhand dieser Vorstellungen oder ,Bilder‘ organisieren sich Gesellschaften selbst. Die Untersuchung konnte zeigen, dass Erinnerung die Vergangenheit nicht einfach rekonstruiert, sondern sich vielmehr als permanenter Überschreibungsprozess charakterisieren lässt. Bewohner und Besucher machten sich mittels Erinnerung ein ,Bild‘ von der reformatorischen Vergangenheit, ein Prozess, der stets an den Raum gebunden war. Deshalb ist die Geschichte der in Wittenberg betriebenen Reformationserinnerung nicht nur eine des Schutzes und der Erhaltung eines historischen Raumes, sondern sie ist auch eine Folge von räumlichen Operationen, die der Formierung eines

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gewünschten Vorstellungshorizonts dienten. Wittenberg war seit dem 19. Jahrhundert einem ständigen Formenwandel unterworfen, der sich zwischen den Polen Authentizitätsanspruch, Geschichtswert und Vergegenwärtigungszweck bewegt hat. Dieser Prozess ist einer grundsätzlichen Bedeutungsverschiebung der Reformation geschuldet: Während ihre Bedeutung als religiöses Moment tendenziell schwand, nahm ihre Wahrnehmung als beschauliches historisches Ambiente zu.

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Quellen- und Literaturverzeichnis Archivalien Stadtarchiv Lutherstadt Wittenberg Akte 49 Einweihung Schlosskirche. Akte 50 Festumzug Einweihung Schlosskirche. Akte 51 Verzeichnis Teilnehmer 1892. Akte 52 Lutherfestspiel 1892. Akte 131 Besondere Feierlichkeiten 1924 – 1932. Akte 145 Besondere Feierlichkeiten 1912 – 1924. Akte 151 Lutherfeier 1920. Akte 448 Entfestung Wittenbergs 1873 – 1912. Akte 1365 Fest- und Feiertage in Wittenberg. Akte 1470. Akte 1652 Ausstellungen und sonstige Veranstaltungen 1927 – 1930. Akten 1653 – 1664 Stadtwerbung / Verkehrsangelegenheiten. Akte 1669 Ausstellungen 1925 – 1930. Akte 1670 Sonstige Veranstaltungen 1930 – 1932. Akte 1685 Stadtwerbung 1931 – 1933. Akte 3548 Vereinsangelegenheiten 1920 – 1924. Akte 3566 Evangelischer Bund 1926 – 1929. Akte 3569 Gesellschaft der Freunde der Universität. Akte 3744 Schriftverkehr mit Martin-Luther-Universität 1929 – 1947. Akte 3746 Luthergesellschaft 1918 – 1939. Akte 3770 Kaiser-Friedrich-Denkmal 1890 – 1942. Akte 3834 Benennung von Straßen und Plätzen 1934 – 1946. Akte 4043. Akte 4049. Akte 4096 Grabmäler großer Deutscher 1942. Materialsammlung zum Lutherjubiläum 1983. Verwaltungsberichte der Stadt Wittenberg.

Archiv Stadtkirchengemeinde Akte B 18 Staat und Kirche 1983. Akte B 21 Allgemeiner Schriftwechsel 1926 – 1946, 1952 – 1956, 1983 – 1986. Akte B 37, Teil 1 Lutherkomitee, Lutherhalle. Akte B 37, Teil 2 Lutherhalle 1980 – 88, Kirchentag 1983. Akte B 37b Reformationsfest 1967. Akte B 85 Gemeindeabende 1932 – 1939, 1969 – 1980.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Akte A II 7 Schlosskirchengemeinde. Akte A II 53 Allgemeiner Schriftwechsel 1950 – 1956 Akte A II 74 Staat und Kirche 1952 – 1968. Akte A II 193a Fremdenbuch der Stadt- und Pfarrkirche Wittenberg 1910 – 1928. Akte A II 194 Zeitungsausschnitte und Nachrichten aller Art 1914/15 und 1917 – 1940. Akte A II 198 Feier des 400. Geburtstages Martin Luthers 1883. Akte A II 201/202 Reformationsfeier 1917. Akte A II 206 Augustanafeier 1930. Akte A II 207 Bugenhagenfeier 1935. Akte A II 208 Luther 1946. Akte A II 209 Universitätsjubiläum 1952. Akte A II 210 Bugenhagenfeier 1958 Akte A II 211 Melanchthon-Feier 1960. Akte A II 260 Pfarrverein Wittenberg. Akte A II 410 Feier des Reformationsfestes und Luthers Geburtstag 1880 – 1949. Akte A II 411 Kirchliche Feiern 1927 – 1959. Akte A II 412 Reformationsfest 1958. Akte A II 563 Filmvorführungen und Laienspiel 1926 – 1943 und 1958 – 1964. Akte A II 1039 Erneuerung Stadtkirche 1928. Akte A II 1082 Einweihung Kaiser-Friedrich-Denkmal. Akte A II 1098 Superintendenturausbau 1907 – 1910. Sammlung Kühne Nr. 35.

Archiv Predigerseminar Akte 26 Angelegenheiten Schlosskirche. Akte 27 Einbruch Lutherhalle 1918/19. Akte 33 Verrechnung von Eintrittsgeldern 1927 – 1930. Akte 35 Melanchthonhaus 1896 – 1937. Akte 36 Schlosskirche Besucherbeschwerden. Akte 40 Etatangelegenheiten Lutherhalle 1921 – 1924. Akte 44 Dienstanweisung Sammlungsaufseher / Einstellung Thulin. Akte 76 Verbesserung Feuersicherheit 1887 – 1933, Raum für Heimatmuseum 1916. Akte 228 Lutherschule. Akte 455 Schriftwechsel Angelegenheiten Schlosskirche. Akte 472 Wiedereröffnung Predigerseminar. Akte 474 Eintrittsgelder Schlosskirche. Akte 494 Dienstangelegenheiten 1932 – 1956. Akte 509 Ankauf Hotel Wittenberger Hof durch Stoecker-Stiftung 1954 Akte 522 Vertragliche Regelung Fotoarbeiten Schlosskirche 1952 – 1957. Akte 618 Urkunde Einweihung Schlosskirche 1892. Akte Schlosskirchengemeinde. Karton Schlosskirche I und Schlosskirche II. Karton Kirchentag 1983.

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Archivalien

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Archiv Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt Akte S 977/6095 Seminargemeinschaft des Predigerseminars. Akte 2 Ehemalige Verwaltung 1930 – 1931. Akte 3 Zeitungsausschnitte Lutherfesttage 1933. Akte 4 Presse 1931 – 1967, Korrespondenz 1929. Akte 5 Bausachen 1930er Jahre. Akte 6 Tätigkeitsbericht Lutherhalle 1930 – 1935, Bauvorhaben 1936. Akte 7 Wittenberger Kurse 1930er Jahre, Haushaltsfragen 1945 – 1947. Akte 8 Lutherhallenbeirat 1930er Jahre, Ausstellung Deutsche Größe 1940. Akte 12 Schriftverkehr Verlage, Stehbandfilm. Akte 13 Verzeichnis Lutherspiele, Korrespondenz mit Verkehrsverband 1933. Akte 15 Leitung Lutherhalle nach Kriegsende, Heimatmuseum im Melanchthonhaus. Akte 16 Kirchentag Berlin 1951, LWB Hannover 1952, Universitätsjubiläum 1952. Akte 17 Luthergesellschaft. Akte 18 Luthergesellschaft und Freundeskreis Lutherhalle. Akte 22 Jubiläum 1967. Akte 23 Leiter Lutherhalle 1945 – 1960. Akte 24 Unterlagen zu Thulin. Akte 27 Etat-Aufstellung Lutherhalle 1951 – 1965. Akte 28 Perspektivpläne Wittenberger Museen 1965 – 70 u. a. Akte 29 Lutherhallenführungen. Akte 33 Bibeljubiläum 1934, Planung Erweiterungsbau 1930er Jahre. Akte 34 Allgemeine Museumsfragen 1950 – 1991, besondere Gäste. Akte 35 Staatliche Lutherhalle, Leihgaben Predigerseminar. Akte 39 Wissenschaftliche Anfragen. Akte 45 Chronik, Tätigkeitsberichte u. ä. Akte 46 Ausländische Besucher, Museumswerbewoche 1959, Melanchthonhaus. Akte 47 Schriftwechsel, Statut, Schriftverkehr usw. Akte 48 Baumaßnahmen, Finanzen, Souvenirs, Besucherstatistik u. ä. Akte 51 Umgestaltungsmaßnahmen Jubiläum 1983. Akte 54 Eröffnung Melanchthonhaus 1967. Akte 60 Komitee und Arbeitsgruppen Jubiläum 1983. Acta betr. Melanchthon-Zimmer in Wittenberg, Signatur U. X. d. Spec. 4, Archiv Kunstgewerbemuseum Berlin (Transkription von Kathrin Seupt in Archiv StLu).

Archiv Luthergesellschaft Wittenberg Akte 100 Vorstand, Sitzungen und Mitgliederversammlungen 1918 – 1997.

Archiv Kinder- und Jugendtreff Wittenberg Planstudie zum Historischen Markt 1967.

Bundesarchiv Berlin BArch DZ 9 2706. BArch DY 34 26086.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Archiv Landesamt für Denkmalpflege Halle Akte Schlosskirche Wittenberg. Akte 445 Wittenberg-Altstadt. Akte 446 Wittenberg-Altstadt.

Gedruckte Quellen in chronologischer Reihenfolge Georgis, Geofes, Annales academia vitembergensis, 1775. Urkunde über die Einweihung der erneuerten Schlosskirche zu Wittenberg vom 31. Oktober 1892, hg. von Herros’s Verlag, Wittenberg 1892. Broschüre „Nationale Festspiele auf deutschen Freilichtbühnen“, hg. von der Reichszentrale für den deutschen Reiseverkehr 1934. Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten 1933, hg. von der Stadtverwaltung Wittenberg 1934. Programmblatt Luther-Festspiele 1934: „400 Jahre Deutsche Bibel – Deutsche Schriftsprache“, hg. von Bürgermeister Faber und Superintendent Meichßner, Wittenberg 1934. Johannes Bugenhagen: Feier der Kirchengemeinde Wittenberg in Gemeinschaft mit der theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zur 450. Wiederkehr des Geburtstages ihres ersten evangelischen Stadtpfarrers, Wittenberg 1935. Faltblatt „Luther- und Melanchthonworte. Schrifttafeln der Melanchthon-Sonderausstellung der Lutherhalle anlässlich des 450. Geburtstages von Philipp Melanchthon.“ Faltblatt Lutherstadt Wittenberg von 1950. Kühne, Heinrich, Das Heimatmuseum, in: Die Brücke. Sonderausgabe zur MuseumsWerbe-Woche vom 4. bis 12. April 1959. Begleitbroschüre Festzug 1967. „Für das Reformationsjahr 1967 vorgesehene kirchliche Veranstaltungen“, Faltblatt. Mit Luther im Gespräch. Studientexte für die Gemeindearbeit, hg. vom Vorbereitenden Ausschuss Wittenberg, Berlin 1983. Faltblatt Wittenberger Röhrwasser, Wittenberg 1985. „The ELCA Wittenberg Center e.V. presents … A Pilgrim Walk through Lutherstadt Wittenberg”, Wittenberg 2009.

Zeitungen und Zeitschriften Berliner Tageblatt, Blätter für die Heimatgeschichte, Christ und Welt, Curiositas. Zeitschrift für Museologie, Das Evangelische Deutschland. Kirchliche Rundschau für das Gesamtgebiet des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes, Der Reichsbote, Der

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Sekundärliteratur

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Rundfunkhörer, Deutsche Bauzeitung, Die Welt, Die Zeit, Eisenacher Zeitung, Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung, Evangelische Kirchenzeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Zeitung, Freiheit, Historische Zeitschrift, Illustrierte Zeitung, Internationale Schulbuchforschung. Zeitschrift des Georg EckertInstituts, Kursächsische Tageszeitung, Leipziger Illustrierte Zeitung, Luther. Zeitschrift der Luthergesellschaft, Magdeburgische Zeitung, Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, Mitteldeutsche Zeitung, Montagspost Berlin, Museumskunde, Neue Berliner Illustrierte, Neue Preußische Zeitung, Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege, Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland, Provinzialkirche. Monatsblatt für die Vertreter der Kirchengemeinden der Provinz Sachsen, Saale-Zeitung, Schweizer Zeitschrift für Geschichte, Süddeutsche Zeitung, Theologische Literaturzeitung, Time Magazin, Unser Sonntag. Sonntagsblatt für die evangelischen Gemeinden in Halle, Unterhaltungsblatt des Reichsboten Berlin, Völkischer Beobachter, Volksstimme Halle, Vossische Zeitung, Wittenberger Allgemeine Zeitung, Wittenberger Kreisblatt, Wittenberger Luther-Fest-Zeitung, Wittenberger Rundblick, Wittenberger Tageblatt, Wittenberger Zeitung, Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Zur guten Stunde. Illustrierte Zeitschrift.

Bildnachweise Landesamt für Denkmalpflege Halle: Abb. 56 und 58. LWB-Zentrum Wittenberg / Stefan Mainka: Abb. 61. Reinhard Pester : Abb. 10, 11, 12, 17. Silvio Reichelt: Abb. 1 – 9, 13 – 16, 18 – 55, 57 und 59. Johannes Winkelmann: Abb. 60.

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