Der Diskus von Phaistos und die Heilige Hochzeit von Theseus und Ariadne: ein Beitrag zur Entschlüsselung der minoischen Hieroglyphen und zur Kulturgeschichte Europas 3883097705, 9783883097701

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Der Diskus von Phaistos und die Heilige Hochzeit von Theseus und Ariadne: ein Beitrag zur Entschlüsselung der minoischen Hieroglyphen und zur Kulturgeschichte Europas
 3883097705, 9783883097701

Table of contents :
Cover
Titelei
Impressum
I N H A L T
Einleitung
I. Zeichen des Diskus mit Linear B-Entsprechungen und griechischen Lesungen
II. Bigramme (ohne Wiederholungen)
III. Der Schrägstrich
IV. Interlineare Übersetzung (A = Vorderseite; B = Rückseite)
V. Erläuterungen
VI. Der Sarkophag von Hagia Triada
VII. Die Heilige Hochzeit in der Indus-Kultur
VIII. Das Swastika
IX. Kretische Siegel mit Hieroglyphen
X. Die etruskische Bleitafel von Magliano
XI. Der Ursprungsmythos der Kabylen
XII. Sappho und die lesbische Liebe
XIII. Theseus in Kreta (Zusammenfassung)
Literaturverzeichnis
Der Autor und das Buch

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Egbert Richter, der 1938 in Bremen geboren wurde, arbeitet seit Beendigung seines religionsphilosophischen Studiums im Jahre 1990 im Rahmen seiner freiberuflichen schriftstellerischen Tätigkeit an der Entzifferung alter Wortschriften wie der Indus-Schrift und der Osterinselschrift. Wortschriften sind wissenschaftlich kaum erforscht und deshalb ist es nicht verwunderlich, daß ihre Entzifferung als pseudowissenschaftlich bezeichnet wird. Die Entzifferung der kretischen Hieroglyphen, die hier in 2. überarbeiteter und erweiterter Auflage erscheint, ist das Ergebnis der Studien des Autors über die heilige Hochzeit, die ihn auch dazu veranlaßt haben, sich in die hebräische und die sumerisch-akkadische Sprache und Schrift einzuarbeiten. Nachdem er im Jahre 2008 mit Förderung der Deutschen Forschungsmeinschaft an einem Kongreß der World Association for Vedic Studies (WAVES) in Orlando teilgenommen hat, wurde ihm der Titel Prachya Vidya Parangata (Experte in alter indischer Tradition) verliehen. Um seiner Verbundenheit mit der indischen Philosophie Ausdruck zu geben, hat er seinem Autorennamen den Namen eines vedischen Sehers hinzugefügt.

ISBN 978-3-88309-770-1

Egbert Richter-Ushanas · Der Diskus von Phaistos und die Heilige Hochzeit von Theseus und Ariadne

Die Hieroglyphen des Diskus von Phaistos werden in diesem Buch mit Hilfe der Linear B, der kretischen Silbenschrift, gedeutet, wobei sich die Sage von Theseus und Ariadne in der ursprünglichen Form ergibt. Die kretische Kultur ist wie die Indus-Kultur für ihre Friedfertigkeit bekannt und wie diese beruht sie auf der Verwendung des Schiffes. Da sie die Grundlage der europäischen Kultur ist, würde es dem Frieden in Europa und der afrikanischen Staaten am Mittelmeer gut tun, wenn die Leistungen diese Kultur endlich anerkannt würden. Dazu soll die Entschlüsselung des Diskus beitragen.

Egbert Richter-Ushanas DER DiskUS VON Phaistos Und DIE HEILIGE HOCHZEIT VON Theseus Und Ariadne

Ein Beitrag zur Entzifferung der minoischen Hieroglyphen im Vergleich mit der Indus-Schrift

Verlag T. Bautz GmbH

Der Diskus von Phaistos und die Heilige Hochzeit von Theseus und Ariadne

Egbert Richter-Ushanas

DER DISKUS VON PHAISTOS UND DIE HEILIGE HOCHZEIT VON THESEUS UND ARIADNE

Ein Beitrag zur Entschlüsselung der minoischen Hieroglyphen und zur Kulturgeschichte Europas

Die Nachzeichnung des Diskus auf dem Umschlag wurde entnommen aus Ernst Doblhofer, Zeichen und Wunder, Augsburg 1990

1. Auflage 2005 2. verbesserte und erweiterte Auflage 2013 © 2012 by Verlag Traugott Bautz GmbH 99734 Nordhausen 2011 Printed in Germany ISBN 978-3-88309-770-1 Alle Rechte vorbehalten

INHALT Einleitung

7

I. Zeichen mit Erklärungen, Belegstellen und Linear B-Entsprechung II. Bigramme



19 24

III. Schrägstrich

24

IV. Interlineare Übersetzung

25

A (Vorderseite)

25

B (Rückseite)

28

V. Erläuterungen

31

A (Vorderseite)

31

B (Rückseite)

38

VI. Der Sarkophag von Hagia Triada

46

VII. Heilige Hochzeit in der Indus-Kultur

49

VIII. Das Swastika

63

IX. Kretische Siegel mit Hieroglyphen

71

X. Die etruskische Bleitafel von Magliano

75

XI. Der Ursprungsmythos der Kabylen

78

XII. Sappho und die lesbisches Liebe

87

XIII. Theseus in Kreta (Zusammenfassung)

93

Literaturverzeichnis

94

Der Autor und das Buch

96

Einleitung Die minoische Kultur auf der Insel Kreta geht bis ins 2. Jt. v. Chr. zurück. Sie ist der Vorgänger der griechischen und damit der Ursprung der europäischen Kultur (Reverdin 1965; 14). König Minos, der um 1400 v. Chr. lebte, gilt aus kretischer Sicht als das Urbild eines gerechten und milden Herrschers (Reverdin; 42). Deshalb wurde er nach seinem Tod von den Göttern als Totenrichter eingesetzt. Aus der Sicht der Griechen war Minos jedoch ein Gewaltherrscher, dem sie alle neun Jahre je sieben männliche und weibliche jugendliche Geiseln stellen mußten. Die männlichen Geiseln verloren ihr Leben im Kampf gegen den Minotaurus, einem Mann mit Stierkopf, der in einem von dem kretischen Architekten Daidalos erbauten Labyrinth wohnte, oder beim Sprung über die Hörner von Stieren (Schachermeyr 1964; 307), die weiblichen Geiseln wurden zur kultischen Prostitution gezwungen, wie Plutarch berichtet (Ranke-Graves 1962; 315,7). Als Geisel gelangte auch der Königssohn Theseus nach Kreta, der sich freiwillig dazu gemeldet hatte. Die Herrschaft über das Mittelmeer verdankt Kreta seiner Insellage und seiner Flotte, die das Land über Jahrhunderte unbesiegbar machte. Doch um das Jahr 1500 v. Chr. wurde die Kultur durch ein schweres Erdbeben und eine Flut zerstört. Dieses Ereignis, das auch in die von Plato berichtete Atlantis-Sage eingegangen ist, wird durch die um 1900 begonnenen Ausgrabungen bestätigt. Kreta war keine schriftlose Kultur. Es gab sogar drei Schriften, zwei silbische, die Linear A und B genannt werden, und eine ältere hieroglyphische Schrift. Hiervon ist nur die Linear B einigermaßen entziffert (Doblhofer 1990; 259).

8 Die Zeichen auf dem Diskus von Phaistos gehören zur hieroglyphischen Schrift. Die Hieroglyphen werden auch noch in späterer Zeit zusammen mit den Silbenzeichen verwendet. Einige Schriftforscher meinen, daß sie ebenfalls Silben wiedergeben (Schachermeyr 1964; 242). Die Entschlüsselung Fischers beruht ebenfalls auf dieser Annahme (1988). Die Mehrzahl der Forscher hält sie jedoch für Wortzeichen (Haarmann 1990). Linear A und B wurden aus den Hieroglyphen durch die akrophonische Methode abgeleitet (Schachermeyr op.cit.). Daher kann die Bedeutung der Piktogramme umgekehrt aus einem Silbenzeichen erschlossen werden, dessen Form dem Piktogramm ähnlich (Nr. 38) ist. So kann z.B. die Silbe te mit dem Piktogramm des Diskus zusammengestellt und daraus das griechische Wort für die Meeresgöttin Tethys erschlossen werden. Sorny (1997; 85) lehnt diese Methode ab, wobei er als Begründung nennt, daß das Symbolisierungsprinzip ist nicht dasselbe ist: Während der Diskus zum größeren Teil ikonische Piktogramme verwendet (Tiere, Menschen, Fahrzeuge, Werkzeuge, Waffen), bestehen die anderen Schriften zum allergrößten Teil aus abstrakten, z.T. geometrischen Konfigurationen von allgemeiner, aber nicht ikonisch-referentieller Aussage. Jedoch wurde diese Methode bereits bei der Ableitung der akkadischen Keilschrift aus der sumerischen Bilderschrift erfolgreich angewandt. Das Problem dieser Methode ist allerdings wie bei allen hieroglypischen Schriften die Mehrdeutigkeit vieler Zeichen. Es kann nur durch eine Bilingue oder durch die Lesung durch einen Kenner der Zeichen gelöst werden, wie sie bei der Osterinselschrift vorliegt (Richter-Ushanas 2012a) oder durch einen Text, der mit den Zeichen in Verbindung steht oder ihnen zugeordnet werden kann, wie es bei der Indus-Schrift durch den R̥ g-Veda der Fall ist (Richter-Ushanas 2012b). Die Zeichen des Diskus von Phaistos ergeben einen inneren Zusammenhang, wenn sie als Darstellung der Beziehung zwischen

9 Theseus und Ariadne, eine der bekanntesten Liebesbeziehung des Altertums, gelesen werden, deren Namen aus dem Diskus unmittelbar erschlossen werden können. Nach der griechischen Sage besiegt Theseus den Minotaurus mit Hilfe Ariadnes, der Tochter des kretischen Königs Minos. Ariadne verliebt sich auf den ersten Blick in Theseus und gibt ihm ein Wollknäuel, ein Schwert und eine leuchtende Krone, damit er den Minotaurus besiegen und den Weg aus dem Labyrinth zurückfindet, nachdem er den Minotaurus getötet hat. Dabei geht sie davon aus, daß Theseus ihre Liebe erwidert und sich nach dem Ritus der heiligen Hochzeit mit ihr vereinen wird. Nachdem Theseus siegreich aus dem Labyrinth zurückgekommen ist, vollzieht er die heilige Hochzeit mit Ariadne mit Zustimmung ihres Vaters, der in Theseus einen würdigen Nachfolger sieht. Hiernach leben sie einige Zeit in Kreta zusammen. Dann wird Theseus an das Versprechen erinnert, die Geiseln nach Kreta zurückzubringen und entführt Ariadne auf ein Schiff, um sie mitzunehmen nach Griechenland. Nach der griechischen Sage geht Ariadne freiwillig auf das Schiff, doch aus dem Diskus geht hervor, daß sie dazu durch eine List veranlaßt wurde, durch die auch König Minos hintergangen wurde. Es ist unwahrscheinlich, daß Ariadne ihren Vater gegen dessen Willen verlassen hat. Dies würde dem Grundgedanken der heiligen Hochzeit widersprechen. Auch im Hohenlied Salomos wird die Frau, die in Hl VII.2 als Fürstentochter bezeichnet wird, durch ihre Seele zu den Wagen ihres Volkes versetzt, die ihrem Onkel Amminadib gehören, und der Geliebte wird am Schluß aufgefordert, auf die Berge der Düfte zu fliehen (Richter-Ushanas 2008b; 46). Als Ariadne bemerkt, daß sie hintergangen wurde, zieht sie es vor, das Schiff zu verlassen und auf der Insel Naxos zu bleiben, wo sie die Priesterin des Gottes Dionysos wird, obwohl sie in Kreta eine Priesterin der Liebesgöttin war, die in Griechenland unter dem Namen Aphrodite bekannt ist. Naxos ist die größte

10 Insel der Zykladen, von dort kam das Motiv der Spirale nach Kreta (Schachermeyr, Abb. 17). Da dies als ein weibliches Symbol gilt, mag Ariadne Naxos für einige Zeit als ihre zweite Heimat angesehen haben. Doch als Theseus sein Versprechen zurückzukommen und mit ihr nach Kreta zurückzukehren, nicht einhält, nimmt sie sich das Leben. Die Stadt Phaistos, in deren Palast der Diskus gefunden wurde, liegt im Südwesten der Insel Kreta. Es ist außerdem der Name eines Sohnes von Herakles. Es wird erzählt, daß Herakles die Kunst des Schreibens nach Griechenland brachte (Ranke-Graves 1962; 132), aber es wird nicht berichtet, wie sie nach Kreta gekommen ist, wo sie einige hundert Jahre früher bekannt war als in Griechenland. In Anbetracht der Beziehungen zwischen Kreta und Anatolien könnte sie unter akkadischem und hethitischem Einfluß entwickelt worden sein. Aber auch der Einfluß der phönizischen Silbenschrift ist unverkennbar (Haarmann 1990; 284). Einige kretische Hieroglyphen sind außerdem der Indus-Schrift ähnlich, wo ebenfalls die heilige Hochzeit durchgeführt wurde (vergl. Kap. VII). Der Diskus wurde mit beweglichen Lettern bedruckt, die erst 2000 Jahre später durch Gutenberg erneut erfunden wurden. Wahrscheinlich war Daidalos, der berühmte Architekt und Ingenieur des Königs Minos, auch der Erfinder dieses Druckverfahrens. In der griechischen Überlieferung wird Theseus’ Reise in mehreren Versionen überliefert, die sich oftmals widersprechen (RankeGraves 1962; 305-312). Der Diskus, der aus derselben Zeit wie Theseus’ Reise stammt, hält nur die Ereignisse fest, die Theseus und Ariadne betreffen. Auf der Vorderseite wird seine Ankunft in Kreta und seine Hochzeit mit Ariadne berichtet, auf der Rückseite seine heimliche Flucht von der Insel mit Ariadne und einer griechischen Hierodule, die ihn wahrscheinlich zur Flucht veranlaßt hat. Ihr Name soll Aigle gewesen sein (Pausanias). Von Minos wird berichtet, daß er in Sizilien starb, kurz nachdem Ariadne ihn verlassen hatte. Er war dorthin auf der Suche

11 nach Daidalos gefahren, dessen Hilfe er benötigte, um Ariadne zurückzuholen. Theseus hat nicht nur Minos’ und Ariadnes Tod verursacht, sondern auch den seines eigenen Vaters Aigeus, nach dem das Ägäische Meer benannt ist, weil er vergaß, bei seiner Rückkehr ein weißes Segel anstatt eines schwarzen zu setzen, wie es bei seiner Abreise aus Athen verabredet worden war (Ranke-Graves 1962; 311v). Einige Zeit nach seiner Rückkehr nach Griechenland heiratet Theseus die Amazone Antiope trotz ihrer Gegenwehr, und nachdem sie gestorben ist, Ariadnes jüngere Schwester Phaidra, die ihm Deukalion, Minos’ Sohn und Nachfolger, als Ersatz für Ariadne zusendet. Phaidra verliebt sich jedoch in Hippolytos, Theseus’ und Antiopes Sohn. Als dieser sie abweist mit Rücksicht auf seinen Vater, nimmt sie sich das Leben wie ihre Schwester, wobei sie Theseus eine Nachricht hinterläßt, in der sie behauptet, daß sie von seinem Sohn verfolgt oder vergewaltigt wurde. Als eine Kreterin konnte sie offensichtlich schreiben. Daraufhin verflucht Theseus seinen Sohn, nicht das Ende des Tages zu sehen. Als der Fluch wahr geworden ist, erfährt Theseus, daß er ihm Unrecht getan hat und begräbt ihn zusammen mit Phaidra. Weil er seinen unschuldigen Sohn verflucht hat, muß Theseus die Stadt Athen verlassen. Er begibt sich zu einem König, den er für seinen Freund hält, doch dieser stürzt ihn von einem Felsen ins Meer. So stirbt Theseus auf dieselbe Weise wie sein Vater Aigeus. Außerdem berichtet die griechische Sage von einer Beziehung zwischen Theseus und Helena (Ranke-Graves 1962; 330b), die zwar geschichtlich unmöglich ist, da Helena erst 200 Jahre später lebte, aber ebenfalls in Zusammenhang mit der heiligen Hochzeit und der sakralen Prostitution steht. Nach dieser Sage soll Theseus Helena geraubt haben, als er schon ein alter Mann und sie noch ein Mädchen war. Sie wird durch ihre Zwillingsbrüder zurückgeholt, die Dioskuren Kastor und Pollux, die in Indien den Aśvin entsprechen (vergl. Kapitel VII).

12 Die geschichtliche Helena galt nicht nur als die schönste Frau ihrer Zeit, sie war auch eine Hierodule wie Ariadne. Abgesehen davon, daß sie Helena aus Troja zurückholen wollten, wohin sie von Paris gebracht worden war, der Helena zum zweiten Mal geraubt hatte, ging es den Griechen in ihrem Kampf gegen Troja darum, die sakrale Prostitution zu unterbinden. Deshalb wird Helena bei einigen Erzählern sogar schwanger durch Theseus, obwohl sie nach anderen noch zu jung ist dafür. Eine Hierodule wird fast nie schwanger. Ihre Aufgabe ist es, der allgemeinen Fruchtbarkeit zu dienen und dem Mann den Weg jenseits von Schöpfung und Fruchtbarkeit zur Erlösung zu zeigen. Die sakrale Prostitution wird von Herodot (Historien I,199), der im 5. Jahrhundert v. Chr. lebte, als der größte Skandal der babylonischen Religion betrachtet, doch warum hielt er sie für schlechter als die profane Prostitution der Griechinnen? Der Grund ist, daß es die Griechen wie die Juden ablehnten, die Sexualität als Teil der Religion zu betrachten. Der jüdische Gott schafft sogar eine Sintflut, um Heiraten seiner Söhne mit Menschentöchtern zu unterbinden, wie in Genesis l.6 berichtet wird, während die Große Flut nach der im Gilgameš-Epos überlieferten mesopotamischen Version dazu dienen soll, die Menschheit zu vernichten, weil sie zu zahlreich und zu gierig geworden ist (Richter-Ushanas 2010b; 110; 2012b; 176). In das Christentum dringt die sakrale Prostitution durch den Wunsch ein, die skandalöse Geburt Jesu zu rechtfertigen, weshalb seine Mutter Maria angeblich sagt, daß sie von keinem Mann wußte. Dies ist auch der Fall, wenn eine Hierodule durch einen Fremden schwanger wird, dessen Name ihr stets unbekannt war. Seit einiger Zeit wird Herodots Beschreibung der sakralen Prostitution von christlichen Autoren angezweifelt (Westenholz 1995; 53), aber dieser Brauch wird auch in der 6. Tafel des Gilgameš-Epos erwähnt (Richter-Ushanas 2012b; 187). Die sakrale Prostitution

13 ist nicht frauenfeindlich, wie Westenholz und andere Autoren unter feministischem Einfluß meinen, sondern ein Mittel, den geheimen Wunsch jeder Frau von höherem Stand zu erfüllen, als eine Göttin betrachtet zu werden. Wenn eine Frau sich auf den Straßen zum Tempel einem Fremden anbot, um entjungfert zu werden, war sie mit einem Mantel und einer Kapuze bekleidet, die auch ihr Gesicht bedeckte, wie wir durch Genesis 38.l5 wissen (Richter-Ushanas 2010c; 38). Daher konnte der Mann nicht sehen, ob sie schön oder häßlich war, und sie nicht zurückweisen, wenn sie ihm nicht gefiel, wie Herodot mißbilligend berichtet in der Absicht, den Kult herabzusetzen. In der Zeit der assyrischen Herrschaft (um 1200), als die Heilige Hochzeit nicht gefeiert wurde, war es den Huren verboten, ihren Kopf zu verhüllen (Keel 1986;183). Daher fühlen sich die Musliminnen wie Huren, wenn sie kein Kopftuch tragen. Bei den Akkadern konnte ein Problem entstehen, wenn ein Mann sich bei der heiligen Hochzeit in eine Hierodule verliebte. Im Unterschied dazu verliebt sich Ariadne in Theseus. Doch ihre Beziehung endet die Geschichte vom Raub der Helena mit der Beseitigung der Heiligen Hochzeit. An die Stelle der Hierodulen traten in Griechenland die Mänaden, die den Gott Dionysos verehrten. Wenn sie außer sich waren, waren sie männerfeindlicher als die Amazonen. Wir wissen aus Euripides’ Drama Die Bakchen, daß sie sogar ihre Söhne und Verwandten töteten. Abgesehen von der Mehrdeutigkeit der Zeichen läßt sich gegen die Lesung der Hieroglyphen mit Hilfe der Linear B einwenden, daß sie keine griechischen Worte enthalten können, da sie älter sind als der Kontakt der kretischen Kultur mit den mykenischen Griechen. Doch für eine Wortschrift ist es nebensächlich, welche Sprache ihr zugrundeliegt. Daß sie verwendet wurden, um den Besuch eines griechischen Helden in Kreta und seine Hochzeit mit einer kretischen Prinzessin zu dokumentieren, kann außerdem damit begründet werden, daß eine Wortschrift besser geeignet ist

14 sich Schriftunkundigen verständlich zu machen als eine Silbenoder Buchstabenschrift. Auch die schwierigen Zeichen des Diskus können durch Anwendung der akrophonischen Methode mit Hilfe der Linear B und durch den Vergleich mit den Motiven des Sarkophags von Triada Hagia und anderer Motive der kretischen Kunst sowie mit den Hieroglyphen der kretischen Siegel und anderer Schriftträger entschlüsselt werden, was in der 2. Auflage in größerem Umfang geschieht, da mir inzwischen durch den Ausstellungskatalog Im Labyrinth des Minos weiteres Material zugänglich geworden ist. Die Menschzeichen und mehrere andere Piktogramme sind innere (bildliche) Bilingue (Parpola 1994; 277), für die keine Entsprechung in Linear B gefunden werden muß, damit sie verständlich werden, es genügt ihre Stellung im Kontext zu untersuchen. Eine gewisse Unsicherheit bleibt zwar bei der Deutung einiger geometrischer Zeichen, doch dies kann nicht anders sein bei einer Hieroglyphen-Schrift. Sie kann auch nicht durch die Inschrift der etruskischen Bleitafel von Magliano beseitigt werden, die äußerlich eine Imitation des Diskus ist, zum einen, weil die Bedeutung von vielen etruskischen Worten zweifelhaft ist, zum anderen, weil sie nur wenige ähnliche Zeichen enthält. Dennoch erklären sich die beiden Funde bis zu einem gewissen Grad gegenseitig (vergl. Kap. IX). Dies gilt auch für zahlreiche Motive und Zeichen der Indus-Schrift, die in Kap. VII behandelt wird. Wenn die Zuordnung der Zeichen des Diskus zur Linear B nur in silbischer Form erfolgt, ergibt sich nur eine ungesicherte Lesung. Außerdem ist es höchst unwahrscheinlich, daß der Diskus eine Aufforderung zum Kampf enthält, wie sie Fischer in den Text hineinliest (1988; 52). Es ist auch abwegig, die Zeichen durch Zuordnung zu einer völlig fremden Kultur entschlüsseln zu wollen wie es H. Scheck versucht hat (München 1966), der darin anthroposophische Ideen wiederfindet.

15 Eine bessere Lösung wird von H. Haarmann angeboten (Berlin 1990; 167), der die Zeichen als Beschreibung einer kretischen Beisetzung erklärt, aber die Motive des Sarkophags von Hagia Triada, auf die er sich dabei vor allem stützt, handeln nicht nur von einer Beisetzung, sondern sie stehen auch in Zusammenhang mit der Fruchtbarkeit und der Wiederauferstehung (vergl. Kap. VI). Haarmann macht es sich zu einfach, wenn er eine große Zahl von minoischen Hieroglyphen als Opfergaben erklärt. Außerdem läßt er die Linear B gänzlich unberücksichtigt. In ähnlicher Weise versucht Woudhuizen die etruskische Bleitafel zu deuten (Amsterdam 1992). Daß diese Autoren mit ihren Ergebnissen selbst zufrieden sind, hängt damit zusammen, daß eine Wortschrift aus der Sicht der heutigen Buchstabenschriften eine niederigere Kulturstufe wiedergibt. Viele Chinesen schämen sich sogar dafür, daß ihre Zeichen, so kompliziert sie mittlerweile geworden sind, immer noch auf Wortzeichen zurückgeführt werden können. Die in dieser Schrift überlieferten Inhalte geben allerdings nur eine Aufzählung von erlegten Jagdtieren wieder (Haarmann 1990; 109) und bleiben daher weit hinter den Möglichkeiten einer Wortschrift zurück (Haarmann 1990; 179). Elemente der ursprünglichen Wortschrift haben auch in der ägyptischen Schrift überlebt, so wenn die erste Silbe in dem Namen Tut ench amun durch einen Ibex wiedergegeben wird, der das Emblem des Todesgottes Thot ist. In Indien wird die schriftliche Überlieferung grundsätzlich für weniger autoritativ angesehen als die münliche Überlieferung. Dabei geriet allerdings auch die Wortschrift der Indus-Kultur in Vergessenheit. Im Christentum, das ursprünglich eine schriftlose Religion war, wird auf diesen Ursprung Bezug genommen, wenn Paulus im 2. Kor 3.6 sagt, daß der Buchstabe tötet, aber der Geist lebendig macht. Jesus, der aus der Sicht von Paulus den Geist verkörpert und den geistlosen Schriftgelehrten gegenübergestellt wird, hatte wie der bengalische Mystiker Ramakrishna nur rudi-

16 mentäre Schriftkenntnisse. Auch deshalb sollten die Linguisten im christlichen Abendland weniger herablassend gegenüber Wortschriften sein und ihr Studium nicht von vornherein als pseudowissenschaftlich deklarieren. Die Anordnung der Zeichen in einer Spirale, die mit dem Hakenkreuz sinnverwandt ist (vergl. Kap. VII), zeigt, daß die Inschrift des Diskus in die Mitte der minoischen Kultur führt, und diese Mitte bestand in der heiligen Hochzeit, deren bekannteste Protagonisten zu jener Zeit Mionos und Pasiphae und in ihrer Nachfolge Theseus und Ariadne waren. Daß die Spirale, obwohl sie von den Kykladen kommt, ein Symbol der kretischen Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin ist, deren Name nicht bekannt ist, die aber auf dem Diskus durch ihr Emblem des Olivenzweiges und in der minoischen Kunst durch die unbekleideten Brüste der Göttin als Aphrodite erkennbar wird, bestätigen auch eine goldene Schale und ein Diadem, die im Palast von Kato Zakros gefunden wurden (von Matt 1967, Tafel 171-172). Die sieben kleinen Kreise des Zeichens können ebenfalls als Spirale erklärt werden. Auf dem Diadem wird die Fruchtbarkeitsgöttin als Herrin der Tiere dargestellt, die zwei Ziegen an den Hinterbeinen hochzieht. Die Ziege gehört auch in der Indus-Kultur wegen ihrer Fruchtbarkeit zu den Tieren der Liebes- und Muttergöttin (vergl. Kap. VII). Das Diadem kann eine Nachbildung der Krone oder die Krone selbst sein, die Ariadne Theseus gegeben hat. Die Doppelaxt ist ebenfalls ein Attribut der Liebesgöttin, weil sie das weibliche Schamdreieck wiedergibt. Dies zeigt erneut, daß der Diskus keine Beisetzung behandelt. Es ist bekannt, daß die Zahl sieben, die in den Wochentagen, der Tonleiter und den Farben des Regenbogens enthalten ist (vergl. Kap. VI), ein Attribut der Muttergöttin ist. Die heilige Hochzeit zwischen Stier und Menschenfrau ist auch aus der Indus-Kultur bekannt (vergl. Kap. VII). In der minoischen Mythologie führt sie zur Geburt eines Monsters, des Minotaurus,

17 der der Sohn der Königin Pasiphae und eines weißen Stiers sein soll, den König Minos von Poseidon als Geschenk erhalten hat. Poseidon ist ein Wassergott wie der vedische Varuṇa. Minos lehnt es ab, den Stier zu opfern, dessen Farbe an ein indisches Zebu erinnert. In der Ablehung, den Stier zu opfern, zeigt sich eine ethische Grundhaltung, die als eine Vorstufe für die Abschaffung des Stieropfers angesehen werden kann. Damit würden sich auch hybride Formen wie der spanische Stierkampf von selbst erledigen. Die kretische Kultur ist wie die Indus-Kultur für ihre Friedfertigkeit bekannt und wie diese stützt sie sich auf die Verwendung des Schiffes. Wenn sie die Grundlage der europäischen Kultur ist, so würde es dem Frieden in Europa und der islamischen Staaten am Mittelmeer so wie auch Israel gut tun, wenn sie sich auf diese Kultur besinnen würden. Dazu kann die Entschlüsselung des Diskus von Phaistos beitragen, zumal der Monotheismus sich nicht als bessere Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Völker verschiedenen Glaubens erwiesen hat. Die heilige Hochzeit wurde zwar von den Griechen abgelehnt, nicht Helena, sondern Penelope wurde für sie zum Idealbild der Frau, aber der Dionysos-Kult mit seinen Mänaden stellt ebenso eine Fortsetzung der heiligen Hochzeit dar wie die Mysterien von Eleusis. Weder der trojanische Krieg noch die Zerstörung Trojas können damit gerechtfertigt werden, daß ein trojanischer Königssohn eine Hierodule geraubt hat, zumal wenn sie, wie anzunewhmen ist, damit einverstanden war. Der wahre Kriegsgrund war die Herstellung der Überlegenheit der griechischen Kultur. Worpswede, im Dezember 2012

19

I. Zeichen des Diskus mit Linear B-Entsprechungen und griechischen Lesungen Die 45 verschiedenen Zeichen des Diskus (Abb. Doblhofer 291, 292) werden durch einen senkrechten Strich in 3l Segmente auf der Vorderseite und in 30 auf der Rückseite unterteilt entsprechend den Tagen des Monats. Die Gesamtzahl der Zeichen (122 in A und 119 in B) stimmen mit den Tagen überein, die Theseus in Kreta war (Ranke-Graves 307h, 312w). Die Piktogramme und geometrischen Zeichen werden in diesem Abschnitt nach dem mykenischen Syllabar von Ventris und Chadwick und aus dem Kontext erklärt. Die Linear B-Zeichen wurden aus der Linear-B.ttf von Norbert Bartz übernommen, so weit vorhanden (vergl. Haarmann 1990; 248, 249). Obwohl gegenüber der ersten Auflage für die meisten Piktogramme bessere Lesungen gefunden wurde, blieb die Zuordnung zur Sage von Theseus und Ariadne unverändert, weil sie auf dem ersten beiden Sequenzen der Vorderseite des Diskus beruht. 1

Läufer, Einzuweihender A2, A6, A11, A17, A21, A31 (Theseus) B14, B16, B19, B23, B24 11

2

Held (Theseus)

B28

3

Gefangener (Theseus)

4

Jungfrau, Königin (Ariadne) A8, A24, B3, B15

5

Kopf des Königs A3, A6, A9, A10, A12, A13, A15, mit Zackenkrone A16, A18, A20, A22, A24, A 27, A31, B3, B14, B20, B28, B30 19



A27

1 1 4

20

6

haarloser Mädchenkopf A1, A4 Ariadne (keusche Jungfrau)

7

ὓπείκειν sich verbeugen (zur Begattung)

8

2

A21, A27, A30 B20, B21, B30

s je ἱερο (δούλη) Priesterin B25

6 1

9 ö je ἱερο(δούλη) Priesterin A21, A26, A29, B1, B3, B4, B6, B7 (2), B8, B10, B11, B13, B21, B23, B29, B30 17 10

q qa καλύπτω verbergen, schützen (Handschuhträger: Falkner, Priester) A25, B5, B10, B12, B13 5

11

P pte Flügel (πτέρυξ) A7, A10, A13, A16, A23 s je Falke (ἱεραξ ), Zinne (πτερύγιον)

12 13

14

ku Mädchen (κούρα) pe Taube (περιστερά) A9, A20, B15

5

3

D de Fisch, Gefangener A14, A27, B15, B16, B24, B26 (δελφίνος) 6 Stier (ταύρος) Wein(krug)

A28 (2), A29,B2, B5, B10-13, B16, B18 11

15

Mufflon (τράγος)

16

o o Huf, Waffe (ὃπλή)

B4



1

A11, A17

2

21 17

c ki Schwert (ξίφος) A2, A6, A31; B12, B23, B24 f mi Schnitzmesser (σμίλη)

18

2 mu Myrte A3, A5, A15, A22, A23, Ariadne, Aphrodite B3, B8, B15, B18, B21, B29

19 20 21 22

i i Olivenzweig) (ἐλιά) B5, B10, B13, B20 to θύρσος Stab des Dionysos

A3, A15, B22, B28

Blume, Ariadne A1, A4, A20, B19 (ἅνθος) 7 tu Hierodule (τουλίνη) A19, B4, B15, B24

6

11 4 4 4 4

23

Weinkanne (οίνοχόν) B18, B2

2

24

ai2 Schild (αιγίς)

1

25 26 27

A8

a2 Schaum (άφρός) A19 Aphrodite als Bringerin des Lebenswassers a a Axt (αχίνη)

B23

c ki Dolch, Schwert (ξίφος) B17, B25

1

1 2

22 28

X ko Säule (κρόνα) Keule (κορύνη

A5, A12, A14, A18, A20, B2, B3, B6, B9, B25, B28

11

29

v ri/li Trinkhorn (ρυτόν) B5, B10, B22, B27, B30

5

30

H to Knäuel (τoλύπη) A1, A4, A12, A18

4

31

x si Holzschiene (σχίζα) A21, A22 Zusammenfügung(σύμπηξις)

2

32 33

Schiff (ναυ�ς) Á Tunika



A12, A18 B2, B9, B19, B22, B27

7

A3 (2), A9 (2), A12, A15 (2), A18, A25, A26 B9, B14, B19, B27, B29

15

34

o o Berg (ὃρος)

B4, B14

2

35

o o Berg (ὃρος)

A9, A17

2

36

Q qe Sonne (ἥλιος) A3, A6, A7, A9, A10, A13, A15, A16, A20, A22, A24, A27, A30, A31, B26, B30

37 38

Naxos (früher Strongyle, die Runde) B22 T te Meeresgöttin (Tethys)A3, A15

16 1 2

23 39

e e Stempel (ἐπίσημον) A25

1

40

O du δούλη gefügig, Sklavin A26, A29 B1, B7, B11, B29

6

41

F ro Kraft (ρώμη) A7, A10, A13, A16, A23, B2

42

a3 Fackel (ἅιγλη), Aigle A wi Haus (oἶkος) A8, A9, A12, A18, A24, A31 Tempel B4, B6, B8, B17, B23, B25

43

f mi Minos

44 45

6 12

A5, A8, A22

3

oἶνος Wein A30, B6, B18 (2), B21, B26 ὃργια heilige Handlung (in der Weinlaube)

6

I wo gehörnter Altar (βωμός) A28, B2, B9

3

24

II. Bigramme (ohne Wiederholungen)



A3, A6, A9, A10, A20, A22, A24, A27, A31, B30

10

A2, A6, A31, B23, B24 5 A26, A29, B1, B7, B29 5 A7, A10, A23 3 B3, B6

2

III. Der Schrägstrich Ein zusätzlicher Schrägstrich ist angebracht in A5 unter dem Zeichen für Ariadne und Minos, in A10 unter dem Zeichen für Flamme und Vogel, in A11/A13/A16/A17 unter dem Zeichen für Wanderer und Huf, in A22 unter den Zeichen für Sonne und König, in A29/B11 unter den Zeichen für gefügig und Hierodule, in A31 unter den Zeichen für Berg und Wanderer, in B5/B10 unter den Zeichen für Hierodule und Hand/Macht, in B25 unter den Zeichen für Berg und Hierodule, in B28 unter den Zeichen für Mann (Theseus) und Säule. Der Schrägstrich stellt hiernach eine engere Beziehung zwischen zwei Zeichen her, fast als wären sie Ligaturen. Er hat eine ähnliche Wirkung wie die darüber aufgeführten Bigramme.

25

IV. Interlineare Übersetzung (A = Vorderseite; B = Rückseite)

A1 Die Blume (Ariadne) ist die Jungfrau mit dem Wollknäuel. A2 Theseus trägt ein Schwert. A3 Er wurde als heiliger König eingesetzt von den Priestern, von Aphrodite, Dionysos und der Gemahlin des Meeresgottes. A4 = A1

A5 Unter den Säulen des Palastes des Königs Minos lebt Ariadne.

A6 Der Schwertträger Theseus wird der heilige König.

A7 Der Falke ist die Kraft des Sonnenkönigs.

A8 Die Jungfrau lebt im Haus beschützt vom Schild des Minos. A9 Die Priesterin des Hauses (Ariadne) geht wie eine Taube auf den Berg mit dem heiligen König. A10 Vergl. A7.

26

A11 Theseus hat einen Pferdefuß.

A12 Der König (Theseus) geht vom Schiff des Priesters aus mit dem Wollknäuel in das Säulenhaus (das Labyrinth). A13 = A10 A14 Er ist wie ein Fisch/ein Gefangener in den Säulen. A15 = A3; A16 = A10; A17 = A11; A18 = A12

A19 Die Hierodule (Ariadne) gleicht der schaumgeborenen Göttin Aphrodite.

A20 Die Blume (Ariadne) ist wie eine Taube im Säulenhaus für den heiligen König.

A21 Mit Theseus wird die Hierodule (Ariadne) zusammengefügt wie eine Beinschiene bei der heiligen Hochzeit.

A22 Die Tochter des Minos (Ariadne) wird zusammengefügt/ wird ein Fleisch mit dem heiligen König.

A23 Der Falke ist der Liebesgöttin (Ariadne) heilig.

27

A24 Dem heiligen König und Ariadne wird ein Krug mit Wein ins Haus gebracht.

A25 Der Priester mit dem Stempel ist der Beschützer (der Weisheit/der Ordnung).

A26 Die Hierodule ist dem König und dem Priester gefügig.

A27 Der heilige König wird ein Gefangener (der Hierodule) durch die heilige Hochzeit wie ein Fisch.

A28 Zwei Weinkrüge stehen am Altar (Hagia Triada).

A29 Der Wein macht die Hierodule gefügig.

A30 In der Weinlaube wird (Theseus) durch die heilige Hochzeit zum heiligen König geweiht.

A31 Als heiliger König lebt der Mann mit dem Schwert im Tempel.

28

B1 Die Hierodule ist gefügig (wie eine Sklavin).

B2 Wein, Altar und Säulen werden auf das Schiff gebracht.

B3 Der König (Theseus) ist für die Königin Ariadne wie eine Säule für eine Hierodule. B4 Bei dem Altar mit den Ziegen lebt die Jungfrau, die Hierodule, in einem Tempel (vergl. Hagia Triada).

B5 Mit dem mit Wein gefüllten Trinkhorn und mit Zweigen geht die Hierodule zum Priester.

B6 Die Hierodule geht zur Weinlaube im Tempel.

B7 Die Hierodulen (Ariadne und Aigle) sind (Theseus) gefügig.

B8 Die Hierodule (Aigle) wohnt im Tempel mit Ariadne. B9 = B2; B10 = B5; B11 = A29

B12 Der Wein ist für den Priester und den der Schwertträger (Theseus).

29

B13 Mit Wein und Zweigen geht die Hierodule zum Priester.

B14 Theseus wird vom Priester auf dem Berg zum König geweiht.

B15 In Gegenwart der Königin Ariadne ist Aigle wie eine Taube für den Fisch (Theseus).

B16 Der Wein ist für den (gefangenen) Fisch, für Theseus.

B17 Sie trägt einen Dolch in den Bergen wie (die Göttin) im Tempel.

B18 Der Wein in den beiden Weinlauben ist der Wein Ariadnes.

B19 Theseus und Ariadne gehen zum Schiff des Priesters.

B20 Der König und Aigle sitzen mit Zweigen bei der heiligen Hochzeit (auf dem Schiff).

B21 Die Hierodule (Aigle) geht in die Weinlaube (auf dem Schiff) zur heiligen Hochzeit wie Ariadne.

30

B22 Zur Insel (Naxos), wo der Thyrsos-Träger (Dionysos) mit dem Trinkhorn verehrt wird, fährt das Schiff.

B23 Theseus kommt mit dem Schwert in den Tempel der Hierodule mit der Doppelaxt (die Göttin Aphrodite).

B24 Trotz des Schwertes ist Theseus der Gefangene der Göttin.

B25 Die Hierodule im Tempel (Aphrodite) hat einen Dolch.

B26 Als (ihr) Gefangener trinkt der König Wein im Weinhaus (auf dem Schiff).

B27 Mit dem Trinkhorn geht der Priester auf das Schiff.

B28 Der Mann mit der Keule (Theseus) wird mit den ThyrsosStab (des Dionysos) zum König geweiht.

B29 Ariadne, die gefügige Hierodule, wird Priesterin des Dionysos.

B30 Dem heiligen König gibt die Hierodule (nicht Ariadne) das Trinkhorn bei der heiligen Hochzeit.

31

V. Erläuterungen A1 Das erste Zeichen, die Blume, wird in vielen Kulturen mit der Frau gleichgesetzt (Richter-Ushanas 2005; 24). Andere Lesungen sind Stern (άστηρ) und Sonne (ἥλιος). Ariadne bedeutet ‘die überaus Keusche’ und ist ein Name für die heilige Königin und die Hierodule, deren sexuelle Tätigkeit in der Durchführung der heiligen Hochzeit bestand. Der Minotaurus wird auch Asterion genannt. Er wird zusammen mit vier Sternen auf einer korinthischen Holztafel abgebildet (Schachermayr; Abb. 162). Er bewacht Ariadnes Keuschheit, die durch die geschorenen Haare des zweiten Zeichens angezeigt wird. Der Faden, Ariadnes bekanntestes Attribut, den sie auf Daidalos Rat Theseus gibt (Ranke-Graves 1962; 307k), war auf eine Spindel gewickelt wie aus dem nebenstehenden Relief hervorgeht (IML; Kat. 1). Es handelte sich also um einen Wollfaden. Der Kopf Ariadnes ist auf dem Relief nicht geschoren, statt dessen trägt sie eine Maske. Theseus ist spärlich bekleidet wie die kretischen Stierspringer. A2 Wie Ariadne durch die Blume, so wird Theseus durch die Keule und das Schwert als Phallussymbole repräsentiert. Das Schwert bildet mehrfach ein Bigramm mit dem Zeichen für Wanderer. Es ist bekannt, daß die Keule Theseus’ Waffe war (Ranke-Graves 1962; 297a). Er ging viele Meilen zu Fuß, um seinen Vater zu besuchen, bevor er als freiwillige Geisel mit dem Schiff nach Kreta kam (Ranke-Graves 1962; 294h). Er hatte eine enge Beziehung zum Wasser. Poseidon ist seine wie Minos’ Hauptgottheit. Theseus ist der Einzuweihende par excellence (Auffarth 1991; 227).

32 A3 Die Zahnreihen des ersten Zeichens können wie das Zeichen in der Indus-Schrift als Kamm und Wellenkamm und somit als Variante der Doppelaxt gelesen werden. Die Göttin Tethys ist die Gemahlin des Meeresgottes. Das zweite Zeichen, der Thyrsosstab ist das bekannteste Attribut des Gottes Dionysos. Außerdem trägt er einen Weinkrug. In der Indus-Schrift ist der Krug ein Symbol für alle Götter (Richter-Ushanas 2009; 270). Die Lesung der Blütendolde als Ariadne wird durch A5 bestätigt. Es handelt sich wahrscheinlich um eine Lilienart (Urginea). Das Zeichen für Priester, die Tunika, wird nur hier verdoppelt. Es kann den Plural bezeichnen. Auf dem Sarkophag von Hagia Triada erscheinen mehrere Priester oder Priesterinnen in diesem Gewand (zur Kultkleidung vergl. Schachermeyr 1964; Abb. 68). Die Krone auf dem Kopf des letzten Zeichens unterscheidet sich von der Haartracht der Personen auf dem Sarkophag von Hagia Triada, stimmt jedoch mit der Krone auf dem abgebildeten kretischen Siegel überein (Schachermeyr 1964; Abb. 119). In einigen Überlieferungen wird berichtet, daß Theseus von Ariadne nicht nur ein Knäuel, sondern auch ein Schwert erhielt, um den Minotaurus zu töten, und eine Krone, deren Licht ihm den Weg durch das Labyrinth zeigen sollten (Paulys RE). Im spirituellen Sinn ist die Krone ein Attribut des Eingeweihten und des heiligen Königs. Später trugen die Etrusker und die römischen Krieger eine ähnliche Krone. Die Krone, die Ariadne Theseus gegeben hat, wurde dann an den Himmel versetzt. den Wert ‘qe’, das im In der Linear B hat das Zeichen Griechischen auch zu ‘he’ werden kann. Durch Akrophonie kann es es zu ἥλιος, Sonne, die leuchtende (Sanskrit sūrya) erweitert werden. Der Name Helena, die in der späteren Mythologie ebenfalls eine Beziehung mit Theseus hatte, kann von derselben Silbe abgeleitet werden.

33 A5 Durch die Säulen wird der Tempel zum Labyrinth. Die Bedeutung des zweiten Zeichens geht aus Linear B hervor. Minos gilt erst in der späteren Sage als Sohn des Zeus. Ursprünglich läßt sich sein Name auf die vedische Wurzel mā, messen, zurückführen, aus der auch der Name des Sehers Māna abgeleitet wird, der auch als Agastya bekannt ist (vergl. Kap. VII). In seinem Namen zeigt sich die Doppelnatur des Königs Minos. Einerseits ist er ein maßvoller Herrscher, andererseits wird er als lüstern und zornig (vedisch mana) beschrieben. Reverdin führt das auf die griechische Überarbeitung der Minos-Sage zurück (1965; 44). A6 Hier wird das Bigramm des heiligen Königs den beiden Zeichen von A2 hinzugefügt, um das Ziel der Reise Theseus’ anzuzeigen. A7 Zwei Falken sitzen auf den Opferpfosten der Vorderseite des Altars auf dem Sarkophag von Hagia Triada, der schwarze Vogel auf dem Opferpfosten auf der Rückseite ist wahrscheinlich ein Adler. Beide Tiere wurden für die Beizjagd des Königs und des Priesters verwendet. Die Schlange (oder Flamme) ist Symbol der Kraft. Sie gehört wie die beiden Vögel zu den Attributen der kretischen Liebesgöttin (A23). A8 Die Bedeutung des 2. und des 3. Zeichens ergibt sich aus der Linear B und dem Kontext. Die kretischen Häuser haben Flachdächer, doch wurden sie auf Bergen erbaut. Auf einem Siegel aus Knossos (Reverdin 1965; 78) steht die Göttin mit dem Stab auf einem Berg neben einem Tempel (vergl. Kap. VI). A9 Die Taube ist auch der Vogel der akkadischen Göttin Ištar (Gemoll). Auch im Hohenlied Salomos hat sie ihren Wohnsitz in den Bergen (Richter-Ushanas 2008b).

34 A11 Theseus hat einen Pferdefuß im übertragenen Sinn, daher hätte Ariadne ihm nicht vertrauen sollen. Aber sie bemerkt den Pferdefuß nicht oder will ihn nicht sehen. A12 Hier erscheint das Schiff zum ersten Mal auf dem Diskus. Wie die ägyptische Totenbarke und das Schiff auf dem Sarkophag von Hagia Triada hat es keinen Mast. Ein Schiff mit Mast ist jedoch auf kretischen Siegeln abgebildet. Theseus wird hier bereits als König bezeichnet, weil er der Sohn eines Königs ist und weil Ariadne ihn zu ihrem Partner für die heilige Hochzeit erwählt hat. Deshalb gibt sie ihm den Faden, mit dessen Hilfe er aus dem Labyrinth zurückfindet. A14 Der Fisch ist auf dem Diskus ein Symbol des Gefangenen (A27). Nach der Sage taucht Theseus wie ein Fisch ins Meer und holt den goldenen Ring herauf, den Minos ins Meer geworfen hat, um zu prüfen, ob Theseus als Thronfolger geeignet ist (RankeGraves 1962;307i). A19 Zur Bedeutung des ersten Zeichens vergl. das Siegel H2 auf Seite 74. Als Priesterin der Liebesgöttin Aphrodite kann Ariadne mit ihr gleichgesetzt werden. A20/21/22 Ariadne vereint sich mit Theseus wie eine Holzschiene mit einem gebrochenen Bein, sie wird ein Teil von ihm, ein Fleisch mit ihm wie es im Alten Testament heißt. A23 Der Falke ist der Liebesgöttin ebenso heilig wie die Taube. Damit sanktioniert sie das Speisegesetz.

35 A24 Der Wein gehört zur Heiligen Hochzeit wie es auf dem Sarkophag von Hagia Triada und auf kretischen Vasen dargestellt wird. Im Hinblick auf den Sarkophag kann das beschädigte Zeichen als Krug gelesen werden. A25 Das 2. Zeichen kann wie das Zeichen auf den kretischen Siegeln (vergl. Kap. VII) als Stempel gelesen werden. Das erste Zeichen kann als Handschuh erklärt werden, den der Priester beim Stempeln und der Falkner auf der Beizjagd benützt. Verhüllung bedeutet auch Schutz. Daher der Name Kalypso, die Verhüllte, Verschleierte. Hier dient der Handschuh als Schutz des Priesters beim Stempeln der Ware und bei der Beizjagd. Beides wurde als heilige Handlung angesehen (vergl. Kap. IX, ILM 111b). A26 Die Hierodulen können Gattin eines Königs sein und außerdem mit dem Hohepriester bei besonderen Festen Umgang haben wie es bei Pasiphae, der Gattin des Königs Minos, der Fall war. Hieran nahm der König keinen Anstoß (vergl. A28/29). A27 Vergl. A14. A28/29 Die Lesung des Stierkopfes als Weinkrug ergibt sich aus der Liste der Ideogrammzeichen der Linear B und aus einem in Knossos gefundenen Rhyton in Stierkopfgestalt (Reverdin 1960; Abb. 101). Auch im Veda wird der Soma, der dort dem Wein entspricht, mit einem Stier verglichen wegen der Kraft, die er verleiht. Andererseits kann der Wein auch dazu benutzt werden, eine Frau gefügig zu machen wie eine Hierodule. Dies führte auch dazu, daß die Hierodulen von den Griechen verleumdet wurden. So wird berichtet, daß Pasiphae, die Frau des Minos,

36 sich einem Stier hingab, den Minos von Poseidon erhielt, aber wegen seiner Schönheit nicht opfern wollte. Hierbei handelte es sich wahrscheinlich um einen indischen Zebu, der von einem indischen Priester auf einem Schiff aus Indien gebracht worden war. Die Vereinigung mit einem Stier wird auch auf dem Indus-Siegel 5013 dargestellt (vergl. Kap.VII). In der Inschrift eines Tonbarrens (vergl. Kap. VIII) wird der Stier als ein besonderes Wesen bezeichnet, dessen Potenz durch einen Pfeil wiedergegeben wird. Ein Pfeil mit zwei Kreisen bildet auch die Inschrift eines kretischen Siegels mit dem Abbild des Minotaurus (Schachermeyr, Abb. 161), das in der Höhle von Psychro gefunden wurde. Der obere Teil ist ein Stier, der untere Teil ein Mann. Die Inschrift ergibt die Lesung Doppelwesen (δυ-ζῷον). Auf kretischen Münzen wird ein Stier mit einem Menschenkopf abgebildet (Schachermeyr, Tafel 68c). Der Stier ist wie in der Indus-Kultur ein Symbol des Priesters und des sakralen Königs. Der Minotaurus, der Sohn aus der Verbindung zwischen Pasiphae und einem Priester, ist das alter ego von König Minos. Aus indischer Sicht ist der Stier ein Symbol der Māyā, der Selbsttäuschung, die in der heiligen Hochzeit durch die Verbindung von Askese und Sexualität, die in der Hierodule verkörpert ist, überwunden werden soll (vergl. Erl. zu B 1 und Kap. VII). A30 Auch die akkadische heilige Hochzeit wurde in einer Rohrhütte gefeiert (Richter-Ushanas 2010b; 25). Dem entspricht das Zeichen 44. In der Liste der Ideogramme bedeutet es Wein oder Weinlaube (vergl. Anhang). Das Weinhaus wird in Hl 2.4 von der Frau als ungeeignet für die Liebe erklärt. Im kretischen Dionysoskult gehören die Liebe, der Wein und die Musik zusammen, wie aus

37 dem Sarkophag von Hagia Triada hervorgeht. In Hl 1.4 werden die Kammern des Königs erwähnt, die mit der Hochzeit und dem Tod zusammenhängen. Das Zeichen für die Rohrhütte kann auch als Grabkammer erklärt werden (Schachermeyr 1964; 246). In Pompeji waren die Liebeskammern eng wie Gräber. A31 Dieses Segment faßt Theseus’ wunderbare Verwandlung von einer ausgelieferten Geisel zum heiligen König zusammen.

38 B1 Die Rückseite beginnt mit einer allgemeinen Aussage über die Hierodulen und knüpft damit an A29 an. Während auf der Vorderseite des Diskus nur von Ariadne berichtet wurde, wird das Zeichen für die Hierodule auf der Rückseite vor allem für ihre Nebenbuhlerin Aigle verwendet. Piktographisch kann es als Kapuze der Hierodulen erklärt werden, von dem auch im Hohenlied im Alten Testament berichtet wird. Nach Herodot (Historien I.199) trugen die Frauen, die sich an die Straßen zum Tempel zur heiligen Prostitution niedersetzten, einen geflochtenen Helm (στέφανον). Das Zeichen 9 wird mehrmals zusammen mit dem Zeichen 44 für Wein- oder Liebeslaube verwandt, das dem Linear B-Zeichen w entspricht. Es kann auch als griechisch πόρνη erklärt werden. Davon abgeleitet sind Portal und Pornographie. In der Indus-Schrift hat das Zeichen eine ähnliche Bedeutung (vergl. Kap. VII). In Hl 8.8 ist die Haustür ein Synonym der jungen Schwester der dort besungenen Frau, die im folgenden Vers mit einer ganzen Stadt verglichen wird. Sie schließt Frieden mit dem sie verfolgenden Mann, indem sie sich ihm öffnet. Dieses Verhalten gleicht dem der gefügigen Hierodule oder Sklavin auf dem Diskus und wird auch durch das Zeichen 7 wiedergegeben, dem auf den kretischen Siegeln das Zeichen für entspricht, hier von der Seite gesehen. verneigen Das griechische Wort Hierodule geht auf ἵερο-δούλη, heilige Sklavin, zurück. Die Etymologen können das Wort δούλος nicht erklären (Frisk 1960). Im Hinblick auf die minoische Kultur kann es auf den griechischen Stamm der Dorer zurückgeführt werden. Die Dorer waren zunächst Sklaven der Kreter, doch später wurden sie die Herren der Insel. So kann auch das Wort für Sklave vom Volk der Slawen abgeleitet werden. Das indische Wort dāsa, Sklave, hat eine ähnliche Geschichte, denn die Dāsas waren die Herren vor den Āryas.

39 Im Hinblick auf Linear B kann δοῦλος auch mit δόλος, klug, verführerisch, und mit δρυάς, Waldnymphe, verbunden werden, denn das Zeichen 40 kann als Liane gedeutet werden. Der heilige König konnte sich mit jeder Hierodule begatten wie der Hohepriester. B2 Das Schiff wird zu einer Weinlaube umgebaut wie in der indischen Sage vom Knaben R̥ śyaśr̥ṅga, der auf diese Weise aus der Einsiedelei seines Vaters in die Stadt gelockt wird, um Regen zu bringen und eine große Dürre zu beenden (Richter-Ushanas 2010d; 99). Nach der Versiegelung auf einem Tonbarren aus Knossos (vergl. Kap. VIII) wurde von Daidalos ein Schiff erbaut, das einen ähnlichen Zweck erfüllen sollte. Die Lesung des 2. Zeichens als Altar beruht auf der Darstellung auf dem Sarkophag von Hagia Triada. B3 Theseus ist zwar durch die heilige Hochzeit an die Königin Ariadne gebunden wie die Säule an den Tempel, doch das hindert ihn nicht daran, eine Beziehung mit einer anderen Hierodule einzugehen, die in der griechischen Sage den Namen Aigle trägt und als Geisel nach Kreta gebracht wurde, dann aber in die Berge geflüchtet ist. B4 Theseus verliebt sich in diese Hierodule, die wie die indische Wasserfrau Urvaśī mit Ziegen aus den Bergen in den Palast Ariadnes gekommen ist. Sie will erreichen, daß Theseus mit ihr und den anderen Geiseln nach Griechenland zurückkehrt, wie er es bei seiner Einschiffung in Athen versprochen hat. Ziegen liegen auch unter dem Opfertisch auf dem Sarkophag von Hagia Triada, sie dienten wie in Indien als Opfertiere zusammen mit dem Stier. Eine Ziege wurde Aphrodite geopfert, bevor Theseus das Schiff nach Kreta bestieg (Ranke-Graves 1962; 306g).

40 B5 Die Zweige der Olive gelten als Zeichen der Heiligkeit. In Griechenland wurden damit die Sieger gekrönt wie mit dem Lorbeer. B6/B7/B8 Theseus trifft sich mit Aigle in der Weinlaube. Ariadne ist jedoch zunächst nicht eifersüchtig, sondern ist ihm ebenfalls gefällig. Sie läßt Aigle lebt fortan in ihrem Haus wohnen, damit sie sie stets überwachen kann. B14 Der Priester weiht Theseus auf dem Berg zum König, damit er Griechenland vergißt. B15 Das Zeichen für die Tulpe, die in Kreta wild wächst, wurde in A19 als Attribut für Aphrodite verwandt. Hier ist sie ein Symbol der griechischen Hierodule Aigle, die in den Bergen wie eine wilde Tulpe gelebt hat. Sie macht Theseus zu ihrem Liebesgefangenen, und er sieht sie als seine Taube an, obwohl Ariadne die Königin und seine rechtmäßige Gemahlin ist. B16/B17 Aigle gibt Theseus Wein und einen Dolch, damit er sich von Ariadne trennt und mit der Geliebten nach Griechenland zurückkehrt. Damit hintergeht sie Ariadne, die es für selbstverständlich hält, daß Theseus sie liebt. Doch hat sie sich auch seine Notlage zunutze gemacht, als er als Geisel nach Kreta gekommen ist. Ihre Liebe war also somit eine Form von Egoismus, deshalb kann es Theseus nicht zum Vorwurf gemacht werden, daß er noch eine andere Frau liebt, zumal wenn sie eine Griechin und frühere Geisel ist. B18 Theseus trinkt den Wein mit Ariadne in der einen und mit Aigle in einer anderen Weinlaube. Trotz Ariadnes Bemühungen kann

41 Theseus die Hierodule nicht aufgeben, zumal er versprochen hat, die griechischen Geiseln zurückzubringen. B19/B20/B21 Theseus’ Schiff wurde von einem Priester gesteuert. Theseus errichtet ihm nach seiner Rückkehr ein Denkmal (Ranke-Graves 1962; 306f). Nach B19 geht er nur mit Ariadne auf das Schiff. Doch nach B20 kommt auch Aigle auf das Schiff, scheinbar um dort beim Opfer mitzuwirken, wie es auf dem Sarkophag von Hagia Triada dargestellt wird. B22 Als Ariadne auf See bemerkt, daß Theseus die andere Frau mehr liebt als sie selbst, verläßt sie das Schiff vor der Insel Naxos. Dies wird hier als Hinweis auf die Zukunft eingeflochten. Zunmächst wird Theseus Verhalten, das der Flucht aus Kreta vorausging, beschrieben. B23/B24 Die Axt, eigentlich die Doppelaxt, ist ein Vulvasymbol und daher ein Attribut der kretischen Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin.Das Labyrinth ist nach der Doppelaxt benannt, weil es ebenfalls mit der heiligen Hochzeit in Zusammenhang steht, es vernichtet die Feinde und beschützt die Jungfrauen und Hierodulen. Trotz des Dolches, den Aigle Theseus gegeben hat, ist er ein Gefangener der Liebesgöttin Aphrodite. B25 Hiernach hat die Göttin Aphrodite, obwohl sie als Göttin der Liebe gilt, nicht nur eine Doppelaxt, sondern auch ein Schwert wie die indische Göttin Kālī. B26/B27 Obwohl er der Gefangene Ariadnes und der Göttin Aphrodite ist, hintergeht er Ariadne, indem er das Schiff aufsucht, das zu einer Weinlaube umgebaut wurde. Damit verläßt er Kreta mit Aigle und

42 den anderen Geiseln, ohne daß Ariadne zunächst bemerkt, daß sie hintergangen wird. Die Macht des Königs Minos beruht auf seiner Flotte, aber er kann sie nicht einsetzen, weil er die Flucht von Theseus zu spät bemerkt. Von einem Kampf, wie in der Sage berichtet, ist auf dem Diskus nicht die Rede. Hier siegt Theseus durch die Hinterlist, mit der er Ariadne auf das umgebaute Schiff lockt. B28 Nach seiner Rückkehr nach Athen wird Theseus zum König im Dienst des Dionysos eingesetzt. Die Sage berichtet, daß sein Vater sich von einer Klippe ins Meer gestürzt hat, da Theseus vergessen hat, bei der Rückkehr das verabredete weiße Segel zu setzen. B29 Nachdem Ariadne das Schiff in Naxos verlassen hat (B22), wird sie Priesterin des Dionysos, obwohl sie eigentlich Priesterin der Aphrodite ist. Dies sollte aber nur ein Übergang sein, bis Theseus zurückkommt. B30 Dieser Satz gibt eine Zusammenfassung wie A31. Theseus wurde zuerst durch Ariadne zum heiligen König eingesetzt, dann gelingt ihm mit Hilfe Aigles und Daidalos, der ein Schiff für ihn baut, das wie eine Weinlaube aussieht, die Flucht aus Kreta. Auch Daidalos verläßt auf diese Weise die Insel, auf der er sich schon seit längerer Zeit nicht mehr wohlfühlt. Zwar hat sich die heilige Hochzeit für Theseus segensreich ausgewirkt hat, doch als Grieche lehnt er sie weiterhin ab. Da Ariadne in Griechenland nicht mehr als Priesterin wie auf Kreta tätig sein kann, noch von Theseus als einzige Frau angesehen wird, verläßt sie das Schiff in Naxos und wird Priesterin des Dionysos. Da Theseus nicht zurückkommt, wie er versprochen hat, um mit ihr nach Kreta zurückzukehren, bleibt ihr nur, sich selbst das Leben

43 zu nehmen. Damit haben die griechischen Erzähler zugleich die Überlegenheit der griechischen Kultur über die kretische Kultur zum Ausdruck gebracht. Ranke-Graves sieht im Verhalten des Theseus ein strafbares Vergehen (1962; 311v), doch das ist für die griechischen Erzähler belanglos. Ariadne hat Theseus gerettet, weil sie mit ihm die heilige Hochzeit feiern wollte. Sie folgt Theseus auf das Schiff, weil sie hintergangen wurde. Als sie das bemerkt, entschließt sie sich, in Naxos zu bleiben, in der Hoffnung, daß Theseus zurückkommt und sie als heiliger König nach Kreta begleitet, wie er es versprochen hat. Ariadne konnte nicht ohne Theseus nach Kreta zurückkehren, weil sie durch das Verlassen Kretas gegen die religiösen Gesetze ihres Landes verstoßen hat. Sie fühlte sich auch mitschuldig am Tod ihres Vaters, der nicht ohne sie weiterleben kann. Von den Frauen auf Naxos wird sie zwar gut behandelt (Ranke-Graves 1962; 310s), doch sie kann nicht auf Dauer Priesterin von Dionysos werden, da sie auf Kreta Priesterin der Aphrodite war, noch kann sie ohne Theseus weiterleben. Wahrscheinlich wurde die Heilige Hochzeit in Kreta ursprünglich durch den Vater und die Tochter vollzogen wie in der IndusKultur (vergl. Kap. VII). Der alte König wurde nicht geopfert oder abgesetzt, solange seine Tochter ihm die Treue hielt. Ariadne verletzt dieses Gebot, indem sie ihre Liebe auf einen jungen Mann richtet. Ihr Vater war zuerst damit einverstanden, aber nur unter der Voraussetzung, daß Theseus in Kreta bleibt. Minos wird als ein Lüstling beschrieben (Ranke-Graves 1962; 307i) wie der vedische Vr̥ tra, von dem gesagt wird, daß er viele Frauen hatte, obwohl er als Kastrat gilt (R̥ g-Veda I.32.12; Richter-Ushanas 2011a; 157). Theseus erleidet das gleiche Schicksal wie Minos, als sich seine junge Frau Phaidra, die Schwester Ariadnes, die ihm von ihrem Bruder der guten Beziehungen wegen übersandt wird, in seinen Sohn Hippolytos verliebt und behauptet, er habe sie vergewaltigt.

44 Hier stirbt der Sohn durch den Fluch des Vaters. Dies zeigt, daß eine Frau für den jungen Mann ebenso gefährlich sein kann für einen alten. Dennoch ist es die Frau, die bemitleidet wird. Theseus läßt seinen Sohn sogar mit ihr zusammen begraben, obwohl sie eine Ehebrecherin ist (Ranke-Graves 1962; 325h). Sie werden damit gegen den Willen des Sohnes im Tod vereint. Die Frau wird nicht für ihre Handlungsweise bestraft. Dies macht Gilgameš in der VI. Tafel des Epos der Göttin Ištar zum Vorwurf. Vielleicht wurden die Frauen deshalb nicht für ihr Verhalten in Liebesangelegenheiten verantwortlich gemacht, weil sie kein Recht hatten, ihr eigenes Leben zu führen, außer als Amazonen. Heute haben die Frauen jedoch dieses Recht und dennoch versuchen sie, sich dieser Verantwortung zu entziehen. Daß sie damit Erfolg haben, mag auf dem Gesetz der Natur beruhen, der es vor allem darum geht, sich selbst zu erhalten, aber dieses Gesetz ist nur dem Philosophen bewußt (Richter-Ushanas 2003a). Es nützt dem Mann nicht, der auf die Liebe einer Frau vertraut hat und dann von ihr verlassen wird (vergl. die Geschichte von Purūravas und Urvaśī, auf der der Dialog des Paares in R̥ g-Veda X.95 beruht, und die Geschichte des Dichters Bhartr̥ hari, der von seiner Frau hintergangen wurde (Richter-Ushanas 2011a; 196; 1992; 43). Es wird gesagt, daß Frauen einen Mann allein durch ihren Blick verführen, ihn damit sogar töten können. Die Liebe, sei sie heilig oder profan, ist ein Käfig, trotz der Freude, die damit verbunden ist. Diese Lehre ist im Diskus von Phaistos ebenso wie in der indischen Philosophie enthalten. Es ist möglich, daß die minoische Kultur durch die indische beeinflußt wurde, daß sie sie sogar fortsetzt. Das Ende der Indus-Kultur und der Anfang der Kultur Kretas waren etwa zeitgleich. So können auch die auffälligen Übereinstimmungen einiger kretischer Hieroglyphen mit Zeichen der Indus-Schrift und die Methode der Akrophonie bei der Entwicklung einer Silbenschrift erklärt werden, die bei Linear A und B ebenso wie bei der BrāhmīSchrift angewandt wurde (Richter-Ushanas 2012b; 225).

45 Freud hat die Rivalität von Vater und Sohn in bezug auf die Mutter festgestellt, aber der Konflikt ist sehr viel heftiger, wenn die Mutter durch eine junge Stiefmutter ersetzt wird wie bei Phaidra. Außerdem gibt es eine Rivalität zwischen dem Vater und dem Schwiegersohn in bezug auf die Tochter wie bei Theseus und Minos. In jedem Fall ist es der Mann, der schließlich geopfert wird, ob als Vater oder Sohn. Daher kann die kretische Sage hilfreich sein, um die Struktur der Liebesbeziehungen sichtbar zu machen. Frauen sollten nicht nur für ihre Kinder verantwortlich sein, sondern auch für die Anziehung, die sie auf einen Mann ausüben. Andernfalls ist die Liebe nur eine Form von Egoismus ohne Moral. Und das gilt dann für beide Geschlechter. Wenn eine Frau zu enge Bindungen an ihren Vater hat, sollte sie nicht bei einem jungen Geliebten Hilfe suchen. Wir sollten auch nicht behaupten, daß ältere Männer stets lüstern sind. Auch wenn Minos Beziehungen mit vielen jungen Frauen hatte, war er doch der heilige König, und somit wurde er geopfert und nicht die Frauen.

46

VI. Der Sarkophag von Hagia Triada Die kretischen Wandmalereien und Siegel enthalten zahlreiche Motive, die auch für die Entzifferung der Schriftzeichen hilfreich sein können. Insbesondere gilt dies für die Bilder auf dem Sarkophag von Hagia Triada, der auf dem Gelände einer Villa in der Nähe des Palastes von Phaistos ausgegraben wurde (Abb. Wunderlich 1972; 154,155):

Auf der Vorderseite füllt eine Priesterin Trauben in einen Krug, der zwischen zwei Säulen steht, die mit Doppeläxten und Wasservögeln bekrönt sind. Eine zweite Frau trägt zwei weitere Krüge mit Trauben in einem Joch. Darauf folgt ein Lyraspieler mit dunkler Hautfarbe, der wahrscheinlich ägyptischer Herkunft war. Auf der rechten Seite bringen drei Priesterinnen zwei Kälber und ein Boot einer menschlichen Gestalt dar, die zwischen einer Kaktuspflanze und der schlangenförmigen Säule eines Tempels oder eines Grabes steht. Der mit Weinblättern umwundene Thyrsos-Stab hat ebenfalls Schlangenform und könnte hier seinen Ursprung haben (vergl. das Zeichen 20 des Diskus). Hinter der

47 Kaktuspflanze führt eine Steintreppe wahrscheinlich in den Tempel hinein. Manche Interpreten sehen in der menschlichen Gestalt den Toten, der aus seinem Grab aufsteigt (Reverdin 1965; 90), doch es kann sich auch um eine Gottheit oder um den König handeln, vielleicht sogar um König Minos selbst, dem ein Boot gebracht wird, damit er Daidalos suchen kann. Auf dem Bild auf der Rückseite steht ein Flötenspieler und eine Priesterin bei einem Stier, der auf einem Altar geopfert wurde, zwei Ziegen, ebenfalls Opfertiere, liegen unter dem Altar. Auf der rechten Seite bringt eine andere Priesterin ein Traubenopfer auf einem Altar dar, hinter dem ein Pfosten mit einer Doppelaxt und einem Adler auf der Spitze steht. Dahinter sieht man den Eckturm eines Tempels, aus dessen Terasse ein Baum steht, wahrscheinlich eine Olive (vergl. Zeichen 19 des Diskus), die als heilig galt wie die Zeder (vergl. B 5). Außerdem diente die Olive als Heilmittel. Der große Baum wird schon in Homers Odyssee als Schattenspender genannt. Auf der einen Schmalseite (nicht abgebildet) wird ein Wagen mit zwei Personen, wahrscheinlich der König und seine Frau, von zwei Pferden, auf der anderen Seite von zwei geflügelten Greifen gezogen, über denen ein Adler fliegt. Die Greifen haben einen Taubenkopf und einen Hundekörper (vergl. Siegel 2 auf S. 54), beide Tiere sind der Liebesgöttin heilig. Der Adler ist der Feind der Tauben. Wie die Pferde das Menschenpaar in dieser Welt ziehen, so die Greifen in der anderen. Krüge, Pflanzen, Doppelaxt und Vögel sind auch unter den Schriftzeichen auf dem Diskus zu finden. Sie gehören also zum kretischen Opferritual. Haarmann sieht den Text auf dem Diskus und die bildlichen Darstellungen auf dem Sarkophag als eine symbiotische Einheit an (1990; 91). Das Motiv der Spirale des Diskus erklärt er als sakral ebenso wie das Spiralmotiv an den Seiten des Sarkophags (1990; 92). Das zentrale sakrale Motiv in den alten Kulturen ist jedoch nicht die Ahnenverehrung, wie Haarmann annimmt

48 (1990; 91), sondern die heilige Hochzeit. Dazu gehören auch die Fruchtbarkeitstänze, die auf kretischen Siegelringen (Reverdin 1965; 82,83) dargestellt werden, die akrobatischen Stierspringer (ebd. 61, 67) und die Verehrung der Muttergottheit als Liebesgöttin, deren irdische Vertreterinnen Pasiphae und Ariadne sind. Das Hauptattribut der Muttergöttin sind Schlangen (Reverdin 1965; 76; 79), der offen zur Schau gestellte Busen und der Faltenrock. Auf dem abgebildeten Siegel aus Knossos (Reverdin 1965; 78) steht die Göttin auf einem Berg flankiert von zwei Löwen, die verehrungsvoll zu ihr aufblicken. Im Hintergrund ist ein Tempel abgebildet. Die Göttin streckt ihren Stab einem nackten Jüngling entgegen, der geblendet die Hände vor die Augen hält. Hier könnte es sich um die Darstellung einer Einweihungszeremonie handeln. Im Gegensatz zu dem Bild der Göttin in Sais, über das Schiller eine Ode verfaßt hat, ist sie hier unverschleiert und ihr Busen ist unbedeckt.

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VII. Die Heilige Hochzeit in der Indus-Kultur Die Heilige Hochzeit ist das wichtigste Ritual der archaischen Hochkulturen. Sie ist besonders bekannt durch die ägyptische, sumerische und akkadische Religion. Sie erhöht nicht nur die Fruchtbarkeit, sondern eröffnet auch den Weg zur Unsterblichkeit. Die Griechen haben sie anfänglich abgelehnt und bekämpft, doch dann in mystischer Form in Eleusis und anderen Städten gefeiert, aber sie ist auch in die monotheistischen Religionen eingedrungen (Richter-Ushanas 2010c). Im Alten Testament finden wir sie im Hohenlied Salomos, im Christentum in der Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena, im Koran in der Hochzeit des gläubigen Muslims mit einer schönäugigen Jungfrau oder Hûri in den Gärten des Paradieses. Die Hûri hat nichts mit profaner Prostitution zu tun noch bedeutet das Wort ‘weiß’, wie moderne westliche Wörterbücher angeben. Die Erklärung des arabischen Wörterbuchs als ‘das weiße und schwarze im Auge’ ist richtig, weil der Koran über diese Frauen sagt, daß sie große (gazellengleiche) Augen haben und weil es einen weißen und einen schwarzen Baum im Paradies der Muslime gibt. Der eine symbolisiert die Wiederauferstehung, der andere die Fruchtbarkeit. Etymologisch geht der Name auf akkadisch harimtu, abgetrennt, zurück. Diese Frauen lebten abgetrennt in der längsten Zeit des Jahres, nur bei großen religiösen Festen erfüllten sie ihre rituellen Pflichten. Dazu gehörte vor allem die Heilige Hochzeit. Das arabische Wort harim (Harem) bedeutete ursprünglich den abgetrennten heiligen Ort, wo diese Frauen sich in der Regel aufhielten. Das deutsche Wort Hure scheint mit huri und Hierodule verwandt zu sein, es geht jedoch auf die Sanskrit-Wurzel √ka, lieben, begehren, zurück, während ἵερο zu dem indogermanischen Stamm iṣara, fließen, gehört, das im Veda mit dem Pressen des Somasaftes durch die Finger zusammenhängt, die als weiblich

50 angesehen werden. In R̥ V I.28 macht dies die Hausfrau, in X 136.7 eine Apsaras, eine Wasserfrau, der altindische Name für die Hierodule. Zur Bedeutung von ‘dule’ vergl. Erl. zu B1. Trotz zahlreicher Integrationsversuche ist die Heilige Hochzeit noch immer ein großes Probleme für die monotheistischen Religionen (vergl. Einleitung). In der vedischen Tradition wird sie von zwei Seiten aus betrachtet. Sie wird anerkannt in den älteren Tradition und profanisiert und ironisiert in den jüngeren, wo Indra als höchster Gott eingesetzt wurde. Auf den Indussiegeln gibt es mehrere Motive, die mit der Heiligen Hochzeit zusammenhängen, und von daher ist sie auch in den R̥ g-Veda gelangt. Der stärkste Beweis dafür ist die Hochzeitshymne R̥ V X.85, in der die kosmische und die menschliche Hochzeit zusammen behandelt werden. In den alten Religionen galt die Sexualität nicht nur als ein Mittel zur Erhaltung der Fruchtbarkeit, sondern diente auch der Verjüngung und der Erkenntnis der Wahrheit wie aus der Metapher ‘eine Frau (durch Geschlechtsverkehr) erkennen’ hervorgeht. Das Betreten eines heiligen Ortes zu diesem Zweck durfte nur nach der Reinigung des Körpers und des Denkens geschehen, wie aus einer Version der Geschichte von Dionysos und Ariadne hervorgeht. Ein Verstoß gegen diese Regel wurde überall in der Welt mit dem Tod bestraft, einerlei ob der Übertreter männlich oder weiblich war. Die scheinbar obszönen Stellen im Veda müssen in diesem religiösen Kontext gesehen werden. Die Begattung eines Stieres und einer Frau, die der minoischen Sage von Pasiphae entspricht, wird auf dem Indus-Siegel 5013 dargestellt, das in Chanhu Daro, einer kleineren Stadt am Indus, gefunden wurde. Die Inschrift ist in R̥ V X.61.6 enthalten, wonach die Schöpfung durch den Vater-Tochter-Inzest entstanden ist, der in deutlich sexueller Metaphorik beschrieben wird:

51 Mitten in dieser Arbeit, als der Vater und die Tochter in Liebe (füreinander) handelten, verloren sie beide beim Auseinandergehen etwas Samen, der auf die Erde fiel an der Stelle ihres guten Werks. Das erste Zeichen, das als die Erde unter dem Himmel oder das Weibliche unter dem Männlichen, erklärt werden kann, kann als in der (gemeinsamen) Arbeit gelesen werden, die beiden, Gott und Göttin, entspricht den beiden Becherzeichen, der Samen den kurzen Strichen darin. Zu jener Zeit glaubte man, daß beide Geschlechter Samen haben. Das einfache Dreieckzeichen ergibt Trennung. Die beiden langen Striche können die Dualität bezeichnen. Die Erde als der Schoß wird durch das Rhombus-Zeichen wiedergegeben. Die drei separaten Striche am Ende können als gutes Werk gelesen werden, da sie die Stadt Chanhu Dharo bezeichnen, die als gutes Werk anzusehen ist. Wahrscheinlich war es die erste Stadtgründung am Indus. Die Beziehung zwischen König Minos und seiner Tochter Ariadne entspricht der des Himmelsvaters und seiner Tochter, die Morgenröte im Veda. Auf Siegel 9902, das in Ur in Mesopotamien gefunden wurde, wird die heilige Hochzeit durch die Begattung von Stier und Kuh ist in wiedergegeben. Die Inschrift R̥ V X.85.14d enthalten: Die Tochter der Sonne (1) wählte (1) die Asvin (3) als ihre Gatten (2) bei der Hochzeit (5) auf dem Opferplatz (4). In der vedischen Hymne wählt der Sonnengott Pūṣan die Aśvin als seine Väter, um den Inzest zu verbergen (vergl Siegel 7038). Das gleiche Motiv ist auf einem Siegel aus Dilmun, dem heutigen Bahrein, abgebildet. Die entInschrift, die den drei Induszeichen spricht, kann gemäß R̥ V X.125. 8 gelesen werden: Die Göttin der Sprache (1), die alles durchdringt und erhält (2), gleicht einem Ichneumon (3).

52 Eine Jungfrau, die sich wie eine Hierodule verhält, wird mit einem Ichneumon in R̥ V I.126.6 verglichen. Wir werden auf diesen Vers noch zurückkommen. Auf Tafel 8025 aus Daimabad sind die Prototypen der heiligen Hochzeit Ziege und Ziegenkönnen als bock. Die beiden Zeichen Phallus und Schoß, also als männliches und weibliches Prinzip erklärt werden. Übertragen auf Samen und Feld ergibt sich eine Lesung nach R̥ V X.101.3: Sät in den bereiten Schoß den Samen! Wenn der Schoß nicht bereit ist oder von anderen begehrt wird, führt dies zu beständigem Streit. Daher ist die Zurückhaltung stets angebracht wie es in der heiligen Hochzeit geschieht. Die vedische Aufforderung steht in einer Hymne an die Opferpriester. Es geht also nicht nur um die Fortpflanzung. Auch die Begattung a tergo weist auf die heilige Hochzeit hin, die auf dem unbeschrifteten Siegel 1574 dargestellt wird.1 In einigen Veda-Versen wird die Morgenröte als Hierodule beschrieben. Nach R̥ V I.l24.4 zeigt sie ihre Schönheit wie der Kaufmann Nodhas seine Waren: Die Morgenröte enthüllt ihre Brüste wie ein Śundhyu-Vogel, wie Nodhas zeigt sie ihre schönen Sachen. Die heilige Hure ist identisch mit der schamlosen Frau (lajjā gaurī), die auf südindischen Tempeln aus dem zweiten bis zum achten Jahrhundert abgebildet ist. Ihr Kopf besteht aus einer Lotusblume. Sie hat weder Brüste noch Arme, ihre Beine sind gespreizt und ihre Füße sind nach oben gedreht. Daher gleicht sie der vedischen Muttergöttin Uttānapad, die ihre Füße aufwärts dreht zum Gebären. Doch dafür muß sie zunächst begattet worden sein, wofür Frauen oft die gleiche Haltung einnehmen. 1 Vergl. E. Richter-Ushanas, The Message of the Indus seals and tablets, Norderstedt 2012, S. 145.

53 Eine ähnliche Frauengestalt wurde in Kreta gefunden (ILM Abb. 124). In R̥V VII.33.11-13 werden die Götter Mitra und Varuṇa durch die Wasserfrau Urvaśī erregt, worauf sie ihren Samen in eine Lotusblume oder einen Krug vergießen. Beides ist im Körper der lajjā gaurī vereint. Janssen vergleicht ihn daher zu recht mit einem Krug (1991; 463). Er entspricht dem Induszeichen .

Die heilige Hochzeit wird auch auf dem Zylindersiegel 7038 aus Kalibangan dargestellt. Die beiden Zeichen ergeben Samengeber (retodhā) oder gib uns (guten) Samen. Das ist in R̥ V III.56.3 enthalten: Der vielgestaltige Stier Viśvarūpa ist der Samengeber für alle (Kühe). Der Minotaurus ist ein Mischwesen wie der Kentaur auf diesem Siegel. Statt des Namens Viśvarūpa finden wir den bunten Stier in R̥ V VI.53.3 und X.123.1, wo er als Gandharva bezeichnet wird, das ist der Regenbogen. Gandharva ist etymologisch verwandt mit Kentaur, denn beide können von der Wurzel gadh, durchbohren, begatten, abgeleitet werden. In VI.53.6 bringt der Gott Pūṣan, der Ernährer, hier der beste Wagenlenker genannt, das Rad der Sonne zu dem bunten Stier. Das bedeutet, daß er den Regenbogen hervorbringt, der in X.123 ein Symbol der Heiligen Hochzeit ist. Der Regenbogen besteht aus sieben Farben. Der Kentaur besteht aus sieben Teilen: Frau/Göttin (Vorderteil), Tiger (Hinterteil), Zebu (Hörner), Baum (Zweig zwischen den Hörnern), Muschel (Armringe), Fisch (Rock). Tiger und Zebu bilden eine coincidentia in oppositorum und sind ein Symbol des kosmischen Menschen. Wie der Regenbogen berührt der Gandharva den Himmel. Von dort dringt die Wahrheit in die Gedanken des Sehers ein (X.123.2). Da die Zahl sieben auch in der Tonleiter zu finden ist, werden die Musiker des Himmels auch als Gandharvas bezeichnet.

54 Pūṣans häufigstes Epithet ist Āghr̥ṇa, Besprenger (der Kühe oder Frauen mit dem Samen und mit den Funken). Dies ist eine andere . Der Name des griechischen Lesung für die beiden Zeichen Meeresgottes Poseidon, der Minos einen weißen Stier schenkt, hat dieselbe Wurzel wie Pūṣan. Der Baum hinter dem Kentaur ist wegen seiner nadelförmigen Blätter, die ihn als Akazie ausweisen, ein Abbild des Soma-Baumes, des Uterus und des Labyrinths. Darum gehört er ebenfalls zur Heiligen Hochzeit. Der Kentaur kann auch als Symbol der Sprache erklärt werden, deren mantras Samen genannt werden. Um den vielgestaltigen Stier des Kosmos zu überwinden, muß man seine hermaphroditische Natur erkennen. Die beiden Männer auf Siegel 7038 beschützen die Frau zwischen ihnen, die ihre Hand festhält, indem sie die Lanzen über ihrem Kopf kreuzen, wobei sie gleichzeitig auf ihre Herzen gerichtet sind. Sie können daher als ihre Gatten gelten. In R̥V X.85.14 sind die Aśvin, die göttlichen Zwillinge, Freier und Gatten der Sonnentochter: Als ihr Aśvin mit dem dreirädrigen Wagen zur Hochzeit der Sonnentochter fuhrt, um um sie anzuhalten, da gaben alle Götter euch ihr Einverständnis, und Pūṣan wählte als Sohn euch zu Eltern. Pūṣan ist auch ein Name der Sonne. In R̥V VI.58.4 wird er der Gatte der Sonnentochter genannt. Indem er die Aśvin als seine Eltern wählt, wird er der Sohn seiner Tochter. Damit wird der Inzest, der zur Schöpfung führt, verborgen und die Schöpfung umgekehrt. Der menschliche Teil des Kentaurs auf Siegel 7038 ist identisch mit der Göttin zwischen den Aśvin, weil der Kentaur Pūṣan und die Frau seine Tochter ist. Durch die Umkehrung des anfänglichen Inzest wird die Schöpfung wieder eingezogen und die Auferstehung erreicht. Auf diese Weise wird der Konflikt zwischen dem Vater und dem Schwiegersohn um die Tochter, der der Grund für den Streit zwischen Theseus und Minos ist, beseitigt. Nachdem Theseus Helena geraubt hat, gerät er in einen Konflikt mit den griechischen Götterzwillingen Kastor und Pollux. Indem sie

55 Helena zurückholen, gewinnen sie die Unsterblichkeit wie die Aśvin, nachdem sie den alten Seher Cyavāna mit Hilfe seiner jungen Frau verjüngt haben. Theseus gilt als Sohn Poseidons. Er kämpft mit den Kentauren, aber da er halb Mensch und halb Gott ist, kann er mit ihnen gleichgesetzt werden. Die drei Räder des Wagens der Aśvin werden auch in R̥V X.85.16 erwähnt. Sie entsprechen Sonne und Mond und der Erdbewegung um sich selbst und um die Weltachse. Sie sind im zweiten Zeichen der Inschrift des Einhornsiegels 1084 (M-78) enthalten. Das erste Zeichen entspricht den Aśvin, das letzte Zeichen ergibt in den Kopf eingehen, was die Göttin der Sprache in X.125.7 tut. Es ist ein Symbol für die Fruchtbarkeit, aber auch für die Kastration und das Einbehalten des Samens, das durch Yoga erreicht wird. Auf der zweiten Seite der Tafel 3304 aus Harappa wird eine Frau dargestellt, die eine Pflanze gebiert wie die Erde, mit der sie gleichgesetzt wird. Die Doppelinschrift kann auf zweifache Art gelesen werden. Wenn die stehende Figur männlich ist, erhalten wir R̥ V X.85.37: Die dem Gebieter (1) des Hauses (2)/dem Gatten die Schenkel öffnet (3), die der Schoß ist, in den er den Samen legt (3), bringe (5) Pūṣan (6) hierher (zum Opferplatz/zum Hochzeitsplatz) (4)! Das vierte Zeichen hat die Form eines Siegels. Das Siegel ist Liebespfand auch in Vers 8.6 des Hohenliedes des Alten Testamentes. Pūṣan ist ein Name des Sonnengottes, des Vaters der kosmischen Braut. Die Werkzeuge, die der Mann trägt, können als Messer oder Säge und als der damit hergestellte Muschelring (VSI C 98) erklärt werden, der hier als Ehegeschenk dient. Die Frau trägt Feuerholz auf dem Kopf als Zeichen der Zustimmung. Wenn die stehende Figur weiblich ist, kann die Inschrift gemäß R̥ V I.179.6 gelesen werden: Der mit Holzscheiten (2) das Feld (2) pflügte (1), der den Samen in die Erde/in die Frau legte (3), der die Wahrheit (4) erfüllte (5), hat beide Farben vereint (6).

56 Hiernach ist die stehende Person auf der Vorderseite und die liegende auf der Rückseite Lopāmudrā, deren Namen erklärt werden kann als ‘die deren Siegel (mudrā) (wie ein Feld) umbrochen wird (√lup)’, was nach R̥V I.179 auf ihren Wunsch hin durch ihren Ehemann Agastya geschieht, oder als die, ‘die das Siegel (der Keuschheit) bricht’. Lup kann auch Erde bedeuten, die Gepflügte. Lopāmudrā ist dann die Erdgestaltige. Diese Bedeutungen werden durch die Geräte in ihren Händen bestätigt. Der Mann, der vor ihr sitzt, ist Agastya. Er trägt Soma-Sträucher auf dem Kopf, mit denen er in R̥ V I.179.5 den Bruch der Keuschheit sühnt. Der Wasserträger in der Schriftzeile ist auch ein Symbol für den Seher und den Yogi, dessen Wünsche mit dem Willen der Götter und dem ewigen Gesetz vereinbar sind. Agastya erfüllt das Gesetz, obwohl er von Lopāmudrā verführt wird. Auf der zweiten Seite kämpfen Mann und Frau in Gestalt von zwei Tigern um Vollendung (R̥ V I.179.3). In ironischer Verfremdung kann die Schriftzeile mit R̥ V X.86.16,17 in Verbindung gebracht werden, wo die Beziehung von Indras Gattin Indrāṇī zu dem Affen Vr̥ṣākapi geschildert wird. Hier macht sich der Dichter über Indra lustig, doch damit stellt er auch die heilige Hochzeit in Frage: Der kann nichts, dem das Glied zwischen den Schenkeln herabhängt, der kann was, dem sich die Schamhaare öffnen, sobald er sich darauf niederläßt – Indra ist höher als alles! Der kann nichts, dem sich die Schamhaare öffnen, sobald er sich darauf niederläßt, der kann was, dem das Glied zwischen den Schenkeln herabhängt – Indra ist höher als alles! Das erste Zeichen, das Askese und Fortpflanzung darstellen kann, ergibt das herabhängende Glied, das zweite die haarige Scham der Hure, das dritte Zeichen Herr oder nicht Herr. Die

57 drei anderen Zeichen stehen für das Feld, die Hand und den Wasserträger. Die Hand entspricht dem Besitzer des Feldes oder dem Arbeiter auf dem Feld. Der Wasserträger ist hier ein Symbol für Indra als Herr und Diener. Die stehende Figur auf der Vorderseite ist dann Indra, die sitzende seine Gattin Indrāṇī, die ihn um Hilfe gegen den Affen bittet. Indra trägt einen Diskus in der rechten Hand und einen Donnerkeil in der linken. Die Frau läßt die Haare lose herabhängen als Zeichen der Fruchtbarkeit, die Indra fördern soll. Die beiden tanzenden Tiger auf der linken Seite stellen ebenfalls Indra und Indrāṇī dar. Das Motiv der Göttin mit hochgezogenen Beinen, die einen Baum oder ein Krokodil gebiert, ist auch auf dem schriftlosen Zylindersiegel 9006 aus Ur zu finden:

In der vedischen Hymne I.126.6,7 vergleicht der berühmte hundertjährige Dichter und Priester Kakṣīvat ein Mädchen, das ihm als Opferlohn gegeben wurde, mit einem Ichneumon wegen ihres starken Haarwuchses: Die festhält, die eng an sich drückt, die sich (unter ihren Haaren) verbirgt wie ein Ichneumon-Weibchen, die Aufgeblühte gibt mir hundert Liebesfreuden? Durch diese Frage will der Dichter sicherstellen, daß das Mädchen noch Jungfrau und andererseits alt genug ist für die Liebe. Er will außerdem wissen, ob sie etwas gegen ihn hat wegen seines Alters, denn er ist schon 100 Jahre alt. Das Mädchen antwortet: Komm zu mir und umarme mich fest, denke nicht, daß ich nur wenig Haare habe, ich bin bedeckt mit Haaren wie ein Schaf der Gandharīs.

58 Damit sagt sie, daß sie erblüht ist. Sonst gilt starker Haarwuchs als häßlich, aber einem alten Mann macht das nichts aus. Er geht die Beziehung nicht um seinetwillen ein, sondern der allgemeinen Fruchtbarkeit wegen, die durch das Soma-Opfer und die Heilige Hochzeit erreicht wird. Die vedischen Seher wußten, daß ihre geistige Kraft durch sexuelle Handlungen verringert wurde wie die Geschichte des alten Agastya und seiner jungen Frau Lopāmudrā zeigt (Richter-Ushanas 2011a; 207), aber sie würden niemals eine Jungfrau zurückweisen, die ihnen ihre Liebe erklärt hat, weil dies die Tötung eines Embryos bedeutet hätte (vergl. die Uśanas-Geschichte des Mahābhārata; Richter-Ushanas 1976; 56). In Wahrheit hat das Mädchen den Seher ausgewählt, denn es ist die Tochter, die zu Beginn der Schöpfung den Vater verführt. Ihr starker Haarwuchs wird bereits durch ihren Namen Romaśā bezeugt. Das Mädchen benimmt sich wie eine Hure, obwohl sie Jungfrau ist. Der Seher ist kein Lustgreis, er tut nur so des Spieles wegen. In einer Geschichte des Pañcatantra (V.2) will ein Krokodil-Mann das Herz seines Freundes, eines alten Affenkönigs haben, und versucht deshalb ihn auf eine kleine Insel zu locken, indem er ihm erzählt, dort lebten junge Äffinnen (Richter-Ushanas 2003b). Der Affenkönig ist allerdings klug genug, um den Betrug zu bemerken, aber niemand hätte vermutet, daß die Äffinnen, wenn es sie gegeben hätte, ihn wegen seines Alters zurückgewiesen hätten. Das Alter des Mannes ist kein Hindernis für die Liebe, solange er nicht impotent ist. Als der alte Theseus die junge Helena raubt, verhält er sich zwar gemäß den Regeln seiner Zeit (RE), aber nicht wie ein Seher oder wie ein Weiser und für dieses Verhalten wird er schon in den alten Schriften getadelt. Das Induszeichen für Ichneumon erscheint auf mehreren Siegeln, die diesem vedischen Vers zugeordnet werden können (RichterUshanas 2010; 268). Es folgt meist dem Induszeichen für die Heilige des schriftlosen Siegels 3678 Hochzeit . In der Inschrift

59 kann es z.B. als ‘fest umarmen’ gelesen werden. Die beiden langen Striche ergeben sich verstecken, die zweite Hälfte bedeutet hundert Freuden, die auch dem Soma zugeschrieben werden, der sonst mit diesen Zeichen verbunden ist. Es gibt noch ein Mischwesen mit sieben Teilen, das daher auch als Gandharva erklärt werden kann. Die folgenden drei Beispiele mit diesem Motiv tragen die Nummern 1380, 1252 und 1381:

Die Inschrift von Siegel 1381 kann gemäß R̥V X.136.1 gelesen werden: Der Langhaarige (1) trägt (3) die Himmelshälften (2). Der Langhaarige (keśin oder muni) ist wie der Regenbogen Partner der Apsaras in der heiligen Hochzeit. Die Inschrift von Siegel ist in der Gandharva-Hymne X.123.5 enthalten: Der 1380 Geliebte geht ein in den Schoß der Geliebten. Eine Lanze ist auch auf dem Minotaurus-Siegel zu finden. Sie entspricht der erwähnten Sanskrit-Wurzel gadh, eindringen, begatten. Die Fischzeichen entsprechen dem Gandharva als dem Geliebten und der Apsaras, der Wasserfrau, als der Geliebten, ihr Schoß wird durch den kurzen Strich angedeutet. Es gibt keine Gottheit für den Regenbogen im Veda außer Vena, den Lieblichen. Von Iris, der griechischen Göttin des Regenbogens, wird gesagt, daß sie bei jedermann beliebt ist (Ranke-Graves 1982; 361f). So wird auch von der vedischen Göttin der Morgenröte gesprochen. Die Apsaras, die Wasserfrau, ist ihre Vertreterin. , die auf der Die beiden Zeichen auf dem Siegel 1252 Rückseite mit einem Einhorn zusammen wiederholt werden, können als der vielgestaltige Stier Viśvarūpa gelesen werden. Das erste Zeichen entspricht dann seinen drei Bäuchen oder Eutern in R̥ V III.56.3.

60 Der kosmische Baum wird auch auf Siegel 1387 dargestellt, dessen Inschrift gemäß R̥ V X.85.20 gelesen werden kann: In den Wagen der Sonnentochter (1,2) steigt der vorzügliche Gatte ein (3,4) zur Hochzeit (5). Das erste Zeichen kann auch als der Schöpfer Viśvakarman erklärt werden, der mit dem Gott Pūṣan identisch ist. Dann ergibt sich die Lesung: Viśvakarman (1) ist nach (dem Verbergen der) früheren Wesen (2,3) eingedrungen (4) (in die späteren) auf dem Opferplatz (5). Viśvakarman opfert sich in den späteren Wesen. Das Siegelmotiv zeigt den kosmischen Baum, der in X.81.4 zur Säule und in X.85.20 zum Wagen wird. Der Baum hat fünf Äste wie die Hand Finger. Seine neun Blätter, wovon fünf nach oben und vier nach unten weisen, entsprechen den neun Welten (vergl. R̥ V III.56.5). Die beiden Früchte entsprechen dem weiblichen und dem männlichen Prinzip. Der Mittelkreis mit den Lamellen gibt den SomaSaft wieder, der aus den Zweigen fließt. Dadurch erscheint der Baum wie ein Pilz. Das Bild der Heiligen Hochzeit von Himmel und Erde oder Vater und Tochter findet sich auch in Goethes Gedicht Wiederfinden im Westöstlichen Diwan: Stumm war alles, still und öde, einsam Gott zum ersten Mal! Da erschuf er Morgenröte, die erbarmte sich der Qual; sie entwickelte dem Trüben ein erklingend Farbenspiel, und nun konnte wieder lieben, was erst auseinanderfiel. Das Wort ‘Farbenspiel’ gilt auch für den Regenbogen, obwohl hier die Morgenröte gemeint ist. Ohne Zweifel ist sie die Verführerin, aber nur auf der psychischen Ebene: Sie zeigt Mitleid mit Gottes

61 Einsamkeit. Der West-östliche Diwan hat manchmal einen obszönen Nebensinn, so wenn Marianne von Willemer, die personifizierte Morgenröte, schreibt: Ach um deine feuchten Schwingen, West, wie sehr ich dich beneide, denn du kannst ihm Kunde bringen, was ich in der Trennung leide. Die Feuchtigkeit ist ein Epithet des Himmelsvaters in R̥ V I.164.12. Hier ist es die Frau, die hofft, daß der Mann, den sie in Gestalt des Windes anruft, ihre Einsamkeit beseitigt. Die griechische Frau sah den Wind gleichsfalls als Befruchter an. Deshalb hielt sie ihm ihr Hinterteil hin. M. von Willemer wartete umsonst auf ihren Geliebten. Sie mußte sich mit ein paar Briefen zufriedengeben und mit den Gedichten des Diwan. Goethe ist deshalb getadelt worden, aber ein Dichter wie Goethe braucht auch Abstand von der Frau. Die Hochzeit zwischen Himmel und Erde wird auch von dem Romantiker Eichendorff besungen: Es war als hätt der Himmel die Erde still geküßt, daß sie im Blütenschimmer von ihm nur träumen müßt. Die Luft ging durch die Felder, die Ähren wogten sacht, es rauschten leis die Wälder, so sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande als flöge sie nach Haus. Von der Sexualität ist hier nur noch ein stiller Kuß übrig geblieben. In der Realität fließt viel Blut bei der Heiligen Hochzeit wie es R̥V X.85.13 beschreibt und auch aus dem Sarkophag von Hagia Triada hervorgeht. Die Gewalt wird durch die Schalmeienklänge und durch die durchgebogene Wirbelsäule der Frauen auf der Rückseite des Sarkophags verdeckt. Die Upaniṣads lehnen solche Opfer ab, dort werden sie durch die Meditation nach innen verlagert (Bhagavadgītā 4.24), doch sobald die Meditation beendet ist und der Wachzustand eintritt, kehrt auch die Gewalt zurück.

62 In der heiligen Hochzeit, wo die Meditation auf den Wachzustand übertragen wird, sind Bräutigam und Braut Himmel und Erde wie in der kosmischen Hochzeit. Die Heilige Hochzeit wird im Frühling gefeiert, die menschliche hingegen vorzugsweise im Sommer. Nach der Vereinigung des männlichen und des weiblichen Prinzips kehrt die Seele gleichsam nach Haus zurück – zu sich selbst. In beiden Gedichten bleibt eine gewisse Unvollständigkeit wie in der Natur, daher reimt sich öde auf Röte, Himmel und Blütenschimmer, spannte auf Lande. Diese Abweichung entspricht dem Komma des Pythagoras. Aus dem gleichen Grund kann es keine eine exakte Übereinstimmung zwischen einem hieroglyphischen und einem anderen Text geben. Exaktheit ist wissenschaftlich, aber sie tötet die Inspiration. Die Götter lieben die Mehrdeutigkeit, wie in den Upaniṣads gesagt wird. Andererseits muß man achtgeben, nicht das Opfer des Pygmalion-Effekts zu werden und zu sehr von seiner eigenen Interpretation eingenommen zu sein. Eine Wortschrift ist ein Mittel der Inspiration, aber sie kann auch die Ursache von Fehlinterpretationen sein, wie sie zu jeder Sprache gehört. Dennoch bleibt in einer Wortschrift eine alte Kultur besser erhalten als in einer Buchstabenschrift, da sie den Schlüssel zum Verstehen in sich selbst trägt.

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VIII. Das Swastika Wie die Heilige Hochzeit ist auch das Motiv des Swastikas der Indus-Kultur und der minoischen Kultur gemeinsam. In der minoischen Kultur ist es die Grundform des Labyrinths und auf kretischen Münzen abgebildet (Schachermeyr 1964; Tafel 68b). Die Blüte in der Mitte des abgebildeten Swastikas gleicht dem Zeichen für Ariadne auf dem Diskus. Daraus geht hervor, daß es ein Zeichen der Liebesgöttin und damit auch ein Glückszeichen ist, was weder im deutschen Wort Hakenkreuz noch im englischen gammadian cross zum Ausdruck kommt. Man bleibt daher besser bei dem indischen Wort, das von Sanskrit svasti, Wohlergehen, Glück, abgeleitet ist. Daher steht es mit Viṣṇu, dem Erhalter, in enger Beziehung und ist in ganz Indien an den Wänden vieler Häuser und Tempel zu sehen. Es hat die gleiche Bedeutung im Buddhismus, wo es unter der Fußsohle des Buddha eingezeichnet wird. Vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. findet man das Swastika auf indischen Münzen zusammen mit dem Motif des kosmischen Baumes oder einem Altar.2 Zuerst erscheint es jedoch auf den Siegeln und Tafeln der IndusKultur, was ein weiterer Beweis für das Fortleben dieser Kultur ist. Das älteste Swastika wurde auf einem Siegel aus Mehrgarh gefunden, c. 2600 v. Chr.3 Daraus ergibt sich nicht, daß das Swastika von den Āryas erfunden wurde, wie von den Nazis behauptet wurde. Die Bevölkerung der Indus-Städte war gemischt.4 Wahrscheinlich hat das Swastikas im heutigen Indien wie in der Zeit des Buddha oder der Indus-Kultur, da die indische Mythologie und Philosophie sich im Lauf der fünftausendjährigen 2 Rapson, Indian Coins 1897; plates III,9,12. 3 Cf. VSI, Aachen 1987, fig. A 69 (Mehrgarh-14). 4 Cf. Richter-Ushanas, op. cit. (2012), chapter I.1.

64 indischen Geschichte kaum verändert hat. Dies kann auch auf das Kastensystem zurückzuführen sein, das bereits in der IndusKultur entstanden sein dürfte, da es eine Stadtkultur voraussetzt. Doch die eigentliche Grundlage ist die Übung des Yoga, zu dem das Kastensystem hinführt. Nach R̥ g-Veda X.90.13, wo der Ursprung der Kasten zum ersten Mal erklärt wird, sind sie aus dem Körper des Puruṣa, des kosmischen Menschen entstanden, als er von den Göttern beim Uropfer geteilt wurde: Die Brahmanen entstanden aus seinem Mund, die Krieger aus seinen Armen, die Bürger Menschen aus seinen Schenkeln, die Arbeiter aus seinen Füßen. Da das Swastika zu den ältesten Symbolen der indischen Tradition gehört, könnte es die heilige Ordnung darstellen, den Dharma, der bei dem Opfer des Puruṣa festgelegt wurde wie in R̥V X.90.16 erklärt wird: Durch das Opfer opfert die Götter das Opfer, das waren die ersten Gesetze; so erreichten diese Großen den Himmel, wo die früheren Götter, die Sādhyas, waren. Die Sādhyas (√sadh/sidh), die Vollkommenen, sind wahrscheinlich identisch mit den Yogis auf den Indus-Siegeln. Wie die Götter können auch die Yogis männlich und weiblich sein. Wenn das Swastika die heilige Ordnung darstellt, würden die vier Kasten mit seinen vier Armen übereinstimmen, der Mittelpunkt mit dem höchsten Wesen, nach dessen Erkenntnis jeder streben sollte wie in der Bhagavadgītā gelehrt wird. Dies könnte auch für die minoische Kultur gelten, auch wenn es hier, so weit bekannt ist, kein Kastensystem gegeben hat. Diese Erkenntis ist auch das Ziel der Heiligen Hochzeit, die ebenfalls durch das Swastika dargestellt werden kann, indem seine beiden Hälften mit dem

65 weiblichen und dem männlichen Prinzip gleichgesetzt werden. Wir werden sehen, ob die Untersuchung der Indus-Siegel mit einem Swastika diese Vermutung bestätigt. Es wurden rund 50 Siegel und Tafeln mit dem Motiv des Swastikas im Industal gefunden, aber nur ein Siegel und vier Tafeln tragen auch eine Inschrift: Siegel 1311 und die Tafeln 1580 (M-482), 2717 (M‑488), 3306 (H‑182) und 3317 (H-242). Auf den Tafeln 2078 (M-419) und 2624 (M‑1389) erscheint das Swastika mit einem Gittermotiv, auf Tafel 1623 (M‑443) und dem Stein 2707 (M‑1356) zusammen mit einem geometrischen Muster. Nach der indischen Konkordanz wird das Swastika einmal auch als Schriftzeichen verwendet, und zwar in der Inschrift der Miniaturtafel 3500. In der finnischen Konkordanz wird es durch das Zeichen ersetzt, das auch auf den Miniaturtafeln 3482 und 3486 (H‑911) mit der gleichen Inschrift verwendet wird. In jedem Fall kann die Inschrift R̥ V X.90.4 zugeordnet werden: Drei Schritte setzte der Puruṣa nach oben, ein Schritt wiederum blieb hier; dann schritt er aus nach allen Seiten über die Essenden und die Nicht-Essenden. Die drei Schritte entsprechen den langen Strichen, die vier Schritte (in alle Richtungen) den vier Armen des Swastika. Die Essenden und Nicht-Essenden sind in den beiden Zahnreihen des ersten Zeichens enthalten. Die einen essen, die anderen werden gegessen. Das ist das Naturgesetz. Nach R̥ V X.90.6 erschaffen die Götter drei Jahreszeiten durch das Opfer des Puruṣa, der mit dem Fabeltierzeichen gleichgesetzt werden kann, das auch als Pferd gedeutet werden kann. Nach R̥ V I.163.3 besteht das Pferd aus drei Teilen. Die Götter werden in der Inschrift nicht erwähnt. Der Puruṣa teilt sich selbst. Die Götter sind nach R̥V X.129.6 Teil seiner Schöpfung. Sie wissen nicht, wie sie entstanden ist. Das Swastika kann mit dem Puruṣa oder mit dem Jahr gleichgesetzt werden.

66 des StierIm Hinblick auf das erste Zeichen kann die siegels 1311 (M‑1225) R̥V X.114.3 zugeordnet werden: Die schöngeschmückte Jungfrau mit vier Haarschnecken (1), deren Gesicht (3) von Butter trieft (2), trägt ein kunstvolles Kleid (4). Wie in der minoischen Kultur ist hier von einer weiblichen Gottheit die Rede. Sie wird mit dem viereckigen Opferplatz (vedi) gleichgesetzt wird, der auch als das Swastika auf der Rückseite dargestellt werden kann. der zweiseitigen Tafel 3306 wird auf der Die Inschrift Rückseite wiederholt wie die Inschrift der Tafel 3304:

Sie kann gemäß R̥ V X.125.8cd gelesen werden: Weiter als die Erde, weiter als der Himmel (bin ich), solch eine bin ich geworden durch meine Größe. Die beiden Ellipsen ergeben Himmel und Erde, die beiden langen Striche weiter, das Becherzeichen die Größe. Das Motiv auf der ersten Seite zeigt die Göttin der Sprache, Vāc, als eine verführerische Frau, die sich entblößt wie die Göttin Ištar auf akkadischen Siegeln. Die minoischen Frauen verhalten sich ebenfalls verführerisch wie aus den Wandmalereien hervorgeht. Doch sind sie auch Priesterinnen, zu denen der Mann ehrfürchtig aufschaut wie auf dem Siegel aus Knossos (vergl. Kap. VI). Der Tiger auf dem Indus-Siegel, der die Göttin bewundert, ist eine Gestalt des Sehers oder des Yogi, der nach Erkenntnis sucht. Das Motif kann auch mit den Zwillingen Yamī und Yama in Verbindung gebracht werden, die nach R̥ V X.10.5 aus dem selben Schoß entstanden sind. Die beiden langen Striche und die Ellipsen würden der Inschrift

67 würde dann die aus dem gleichen Schoß entstandenen Zwillinge Yama und Yamī ergeben, das Becherzeichen die Unsterblichkeit des Schoßes. Yamī wäre die Göttin, Yama der Tiger. Die links und rechts drehenden Swastikas auf der Rückseite sind ein Symbol der Fruchtbarkeit und der Wiederauferstehung. Sie stehen auch mit der Sonne und dem Jahr mit den fünf Jahreszeiten in Beziehung und sind somit auch Ausdruck der inneren und äußeren Zufriedenheit. der Tafel 1580, der ein Swastika und eine Die Inschrift Akazie folgt und auf deren Rückseite ein Krokodil mit einem Fisch abgebildet ist, ist in R̥ V I.164.49 enthalten: Unerschöpflich (2) ist die Brust (1) der Göttin Sarasvatī (3). Die Brust ist das Bett des Sarasvatī-Stromes. Obwohl unerschöpflich genannt wird, ist sie ausgetrocknet am Ende der Indus-Kultur. Das Krokodil mit einem Fisch im Maul stellt das Naturgesetz dar, wonach die Großen die Kleinen fressen. Den dunklen Aspekt der Muttergottheit überwindet der Eingeweihte, der den androgynen kosmischen Menschen kennt, das Uropfer, der durch das Swastika dargestellt wird. Durch die Einweihung wird der höhere Zweck der Natur erkannt. Das Krokodile wird dann zum Lehrer oder zur Lehrerin, die Speise ist der Schüler. Beide sind göttlich, aber der Schüler muß verschlungen erden, damit er von seinem beschränkten Ich befreit wird. Das Ich ist dann das Opfer. Der Lehrer verschlingt den Schüler und der Schüler schließlich ihn in der Uśanas-Legende des Mahābhārata. von Tafel 2717 ist in den ersten Die Inschrift beiden Versen der kosmogonischen Hymne X.190 enthalten: Die Wahrheit entstand wie das Gesetz aus der entflammten Glut, daraus entstand die Nacht, daraus das wogende Urmeer. Aus dem Urmeer entstand das Jahr; indem es Tage und Nächte unterscheidet, ist es Herr über alles, was die Augen öffnet.

68 Das Wächterzeichen kann als Gesetz und Wahrheit gelesen werden, das Zeichen des androgynen Puruṣa als entflammte Glut (tapas), denn die Glut des Himmelsvaters wird entflammt durch die Tochter, die Morgenröte, die durch das Kammzeichen in der Mitte wiedergegeben wird. Das folgende Kammzeichen ergibt die kosmische Nacht, die Schwester der Morgenröte, für das wogende Meer erhalten wir das Zeichen des eilenden Mondes und das Strichzeichen, denn der Mond eilt wie ein Pferd. Der Mond ist auch die Ursache von Ebbe und Flut. Das Jahr entspricht den zwölf kurzen Strichen, Tag und Nacht den beiden Netzzeichen. Wegen der Retina können sie auch die blinkenden Augen wiedergeben. Die Motive der Tafel zeigen auf der Vorderseite das Swastika als Symbol der Schöpfung und den Elefanten als Symbol des Schöpfers in dem eingeschränkten Sinn der indischen Philosophie. Auf der rechten Seite werden die Göttin im Baum und der Tiger und ein Mischwesen abgebildet, dessen sieben Teile dem kosmischen Menschen wiedergeben. Auf der Rückseite steht links ein Altar mit einer Gans, dem Reittier der Göttin der Weisheit, Sarasvatī, in späterer Zeit. Es folgt ein Opferpriester mit Büffelhörnern, der der Gottheit, die aufrecht in einer Pipal-BaumGirlande steht, einen Markhor darbringt. Durch dieses Opfer wird Fruchtbarkeit und Erlösung erreicht. der Die drei ersten Zeichen der Inschrift Tafel 3317, die ein Swastika umschließt, sind sehr beschädigt, sie können jedoch mit Hilfe der Inschrift der Tafel H-1922 wiederhergestellt werden, die vor kurzem ausgegraben wurde. Sie ist in R̥ V X.125.5 enthalten: Geliebt (1) von der Göttin (4) wird der Mann (3) weise (2), er erreicht (7) Erkenntnis (5) und Sicherheit (6) durch die Göttin Vāc (8,9). Die Göttin der Sprache, Vāc, wird auf der Rückseite als Gottheit im Pipal-Baum dargestellt wie

69 auf Tafel 2717 und auf Siegel 2430. Das Swastika ist hier ein Symbol der Göttin Vāc, doch die Göttin ist nicht nur ein Symbol des Friedens, sie ist auch die Ursache von Streit und Krieg wie sie in R̥ V X.125.6 erklärt. Ein Fruchtbarkeitssymbol ist auch das schräge Kreuz mit zusätzauf Tafel lichen Querstrichen , das den beiden Zeichen 2720 folgt. Das das Feldzeichen als Trog oder als die Speise darin erklärt werden kann, das Becherzeichen als die die Speise gewährende Gottheit, erhalten wir R̥ V I.187.1: Die Speise ist zu preisen, die mächtige Erhalterin der Kraft. Das Motiv auf der Rückseite dieser Tafel kann als eine Schlange erklärt werden, die sich um einen Baum ringelt, der von einem runden Fundament umschlossen ist. Die Schlange besteht aus sechs Ringen, zusammen mit dem Fundament erhalten wir die Zahl sieben. Die Ringe können daher mit den Cakras gleichgesetzt werden, die Schlange mit der Kuṇḍalinī, deren Heilkraft in R̥ V IV.19.4 erwähnt wird. Die Schlange spielt auch eine bedeutende Rolle in der minoischen Kultur. Der Haken des Kreuzes, der dem griechischen Großbuchstaben Gamma (Γ) entspricht, kommt in der Indus-Schrift auch als Einzelzeichen auf Topfscherben vor. In R̥ g-Veda X.134.6 wird der Haken als Symbol für Indras Macht genannt, seine Śakti. In der späteren indischen Schrift, der Devanāgarī, wird dieses Zeichen ähnlich wie das Gamma in der griechischen Schrift als Buchstabe ga verwendet. Die Wurzel gam bedeutet gehen, sich nähern, auch im sexuellen Sinn. Wasserholen aus einem Brunnen hat dieselbe Bedeutung. Sanskrit khā für Brunnen wird in der Brāhmī durch das Zeichen K wiedergegeben, das dem Zeichen für ga ähnlich ist. Im Alten Testament ist der Brunnen ein Ort, wo Mann und Frau sich treffen. Der aufrechte Gang, der mit diesem Zeichen wiedergegeben werden kann, ist eine Eigenschaft des Menschen und der Herrschaft, sie schließt in den alten patriarchalen Kulturen auch das

70 Recht auf die erste Nacht und zum Ehebruch ein. Die ist in den englischen aus dem Lateinischen übernommenen Worten adult und adulterate enthalten. Der Haken hat also einen vorwiegend negativen Aspekt, wohingegen das Swastika, wie sein Name sagt, ein durchwegs positives Symbol ist.

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IX. Kretische Siegel mit Hieroglyphen Wie bereits das Minotaurus-Siegel gezeigt hat, können kretische Siegel mit Hieroglyphen nach derselben Methode wie der Diskus gelesen werden, nachdem die Bedeutung der Zeichen durch Vergleich mit Linear B herausgefunden worden ist. Wenn es keine Entsprechung in Linear B gibt, ist diese aus dem Kontext zu erschließen und dann mit Hilfe von Linear B zu überprüfen. Dies wird hier an den Siegeln dargestellt, die von Doblhofer (D) und Haarmann (H) und im Katalog Im Land des Minos (ILM)veröffentlicht wurden. 1. Doblhofer (1990; 259)

D1 Venus-Stern (Aphrodite) 019 Lanze; 046 sich verneigen (Priesterin); 056 Tafel: Gesetz Für die Lanzenträgerin, die Aphrodite-Priesterin (2), die gerechte (3). D2 Venus-Stern 016 Stier; 065 Kreis: Zauber; 038 Heiler; 039 Faden Für den, der den Stier verzaubert, den Heiler mit dem Faden. Wenn Theseus den Minotaurus besiegt, verhält er sich wie ein Heiler. D3 Venus-Stern 028 Zeder; 007 Arm (Macht); 018 Hund [Der Priesterin], die durch den Hund Macht hat über die Zedern. Der Hund bewacht die heilige Zeder. Die Liebesgöttin trägt ihn auf dem Kopf (vergl. Reverdin 1965; Abb. 79) und er ist das Unterteil des Greifen. D4 Venus-Stern 044 Stempel (ε̉πίσημον); 49 bedrucken (θλίβω)/machen (τίθημι) Für den Stempelträger.

72 2. Haarmann (1990; 87-88)

H1 Zeder, Priesterin bläst Tritonmuschel, drei Pflanzen, Stierhörner, Doppelaxt, (Donner)keil (Zeus), Stern (Aphrodite) Möge die Zedern-Priesterin die Muschel blasen, wenn der Stier geopfert und mit Zweigen Zeus und Aphrodite dargebracht wird. Ein Flötenbläser und Tempel mit einem Olivenbaum ist auch auf der Rückseite des Sarkophags von Hagia Triada abgebildet. H2 Göttin unter Doppelaxt und Welle, zwei geflügelte Greifen Möge uns die schaumgeborene Göttin mit der Doppelaxt durch ihre beiden geflügelten Greifen in die Unterwelt führen.

H3/H4 038 Bruchschiene (σχίζα LB - si); 010 gebrochenes Bein; 031 aufrichten, heilen Möge die Schiene das gebrochene Bein aufrichten/heilen. H5 028 Zeder; 040 Schiff; 049 gebaut; 070 Himmelsrichtungen kreuzen Das mit Zedern beladene Schiff möge die vier Himmelsrichtungen sicher durchkreuzen. H6 044 Stempel; 005 Auge: prüfen Für den Prüfer (2) mit dem Stempel (1). Cf. D4. H7 036 Tempel 092 beschützen Der Tempel möge uns beschützen (vergl. ILM 110b).

73 3. Im Labyrinth des Minos ILM 107 Siegel 042 Doppelaxt; 019 Lanze; 095 Hand: geben; 052 Nektarkrug Für die Trägerin der Doppelaxt und der Lanze; für die Trägerin der Lanze, der der Nektar dargebracht wird ILM 109a Lilie 044 Stempel; 036 Tempel; 018 Hund: bewachen Für den Stempelträger, der den Tempel (der Lilien) bewacht. ILM 109b 018 Zeder; 049 errichten; 042 Axt; 031opfern; 044 Stempel: Gesetz; 036 Tempel Für die Trägerin der Doppelaxt, die die Zeder errichtet hat, der nach dem Gesetz im Tempel geopfert wird. Cf. H7. ILM 110 Möge der Tempel (1) den Opfernden (ρεκτός) (3) behüten (ρύομαι) (2). ILM 111a Plombe in Halbkreisform 016 Stier; 054 Weinkrug Für die Priesterin, die den Wein in den Krug füllt. ILM 111b 009 Priester; 077 Fleisch; 013 Lamm; 020 Falke Dem Priester bringe der Falke das Fleisch des Lamms. ILM 111c 057 Krug; 016 Stier; 042 Doppelaxt; 016 Stier; 050 erschaffen (ti) Für die Priesterin, die den Wein in den Krug füllt; für die Göttin mit der Doppelaxt, die den Wein erschaffen hat. ILM 111b (1) Medaillon 056 Gesetz; 023 Blume; 042 Doppelaxt; 070 Richtungen; 020 Falke; 077 Fleisch Der Blume des Gesetzes, (der Göttin) mit der Doppelaxt, die sich in die vier Himmelsrichtungen ichtungen ausbreitet, bringe der Falke das Fleisch.

74 ILM 111b (2) 042 Doppelaxt; 017 Lamm; 057 Krug; 023 Zweig; Dolch: Opfer (ξιφίδιον - LB ki) Für die Göttin mit der Doppelaxt, der das Lamm, der Wein und die Zweige beim Opfer dargebracht werden. ILM 111c (1) Tonbarren 046 Priesterin; 063 Faden (ροδάνη); 018 Zeder; 049 bestätigen; 044 Stempel Für die Priesterin mit dem Faden (Ariadne), der die Zeder heilig ist, wie der Stempel bestätigt.. ILM 111c (2) 057 Krug; 023 Zweig; 044 Stempel; 049 bestätigen; 027 Zeder Für die Göttin, der Wein und Zweige dargebracht werden, wie es der Stempel bestätigt, der Göttin der Zeder. ILM 111c (3) 034 Herrin; 056 Gesetz; 019 Lanze; 040 Schiff; 061 fliegen Mögen die Schiffe der gerechten Herrin, der Lanzenträgerin, fliegen. ILM 111c (4) 088 erbauen; 003 berühmt: Daidalos; 018 Zeder; 040 Schiff; 004 Frau Für Daidalos, der das Schiff für Ariadne aus Zedernholz erbaut hat. ILM 297a-d 056 Gesetz; 070 Richtungen; 040 Schiff Nach dem Gesetz kann das Schiff in alle Richtungen fahren. 070 Richtungen; 061 fliegen; 019 Lanze; 045 Kaufmann Wie die Lanze in alle Richtungen fliegt möge der Kaufmann (πρίων = Säge) überall hingehen. 038 Schiene; 010 Bein; 031 heilen Durch die Schiene möge das Bein heilen. 044 Stempel; 049 bestätigen; 044 Stempel; 005 Auge: prüfen Durch den Stempel bestätigt; geprüft durch den Stempel. Hieraus ergibt sich, daß die Siegel oder Versiegelungen meist an die Göttin der Liebe oder ihre Priesterinnen wie Ariadne gerichtet sind.

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X. Die etruskische Bleitafel von Magliano

(Vorderseite) 1. dama iguv the inevluin. Die Jungfrau (Ariadne) bittet The(seus) sie schnell zu retten. (A1) 2. inśeh veluchichuth uithuv. Er geht (vado) in Eile (velox) zu seiner Tochter. (A2) 3. netec ace ch’sliva m’thmik. Der Priester opfert für Selvans (Silvanus) im Tempel. (A3) 4. thapaic srfa altin. Er opfert dem heiligen Srafa (Zeus). 5. em(u)lsiram rcal th(a)laith ac. Er nimmt den Rest und bringt ihn der Göttin Thalaith dar. 6. m’thmik uitirn utinral.

76 Er bringt ein Opfer im Tempel der Juno. 7. uecthalm en em sce ni. Und ein Wagen (?) fährt zur Tochter (?). 8. saresia ithazlaf eis’anirum. Das Opfer der zehn Stiere ist für den heiligen Gott. (B5) 9. mnam lmvm (?) vina. Er opfert ihm Wein. (B5) 10. n(a)veh th(a)pal th(a)laith sac. Er fährt mit dem Schiff, das für Thalaith erbaut wurde, in die andere Welt. (A12) 11. m’thmikze c30 ch’sliva. Der Tempel des Selvans hat 30 Priester. 12. uithuv sathuac. Ihm wird das Opfer dargebracht. (Rückseite) 1. unthivuh lacth srul secan srfa. Bring den Opfertrank der Tochter des Zeus dar! 2. vetr srul s(e)nis echali. Dieser Trank soll in Gedenken an die Erde dargebracht werden. 3. chal mel(e)s luin sarui tive. Die zehn Stiere in ihrem Besitz werden für die Mondgöttin gewaschen. 4. sivteis sirusi sacun mul(u). Tag und Nacht opfern die Priester. 5. Svlka vima ml(a)ven tirutrv. Er opfert den Trank der Mondgöttin im Frühling. 6. cac m(a)lacra m(a)carinv. Dann opfert er den fünf (anderen Planeten). 7. similiv aingeisu Wie Aigeides (Theseus) 8. lacar chalin. es getan hat in der Nachbarschaft der Seen.

77 A und B bezieht sich auf den Diskus. Die Buchstaben d und o werden im Etruskischen nur in Fremdwörtern verwendet. Vier Buchstaben in Zeile 9 sind beschädigt. Die etruskische Schrift läuft von links nach rechts. Die Tafel wird hier von der Mitte zum Umfang gelesen, weil dies der natürliche Weg der Beschriftung ist. Eine Spirale kann auch in umgekehrter Richtung gelesen werden, wie es Woudhiuzen (Amsterdam 1992) versucht hat, ohne jedoch zu besseren Ergebnissen zu kommen.

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XI. Der Ursprungsmythos der Kabylen Im Ursprungsmythos der Kabylen (Frobenius 1921; 55-60) soll die Herrschaft des Mannes dadurch begründet werden, daß er beim Geschlechtsverkehr auf der Frau liegt. Auf diese Weise gebiert sie 50 Jungen und 50 Mädchen, wobei sie jeweils vier Knaben oder Mädchen zur Welt bringt. Dies ergibt genau gerechnet 52, was der Zahl der Wochen im Sonnenkalender entspricht, der bei den Kabylen seit vorgeschichtlicher Zeit in Gebrauch ist. Das Sonnenjahr wird auf der abgebildeten Felszeichnung durch einen Sonnenwidder dargestellt, den die erste Frau erschaffen hat. Die Kinder machen es zunächst umgekehrt wie ihre Eltern: Jeder Bursche nahm ein Mädchen und ging mit ihm in sein Haus. Sie heirateten einander. Im Hause sagten die Burschen: „Es ist aber nicht recht, daß die Frau auf dem Manne liegt. Wir wollen in Zukunft den Beischlaf so vollziehen, daß wir Männer auf den Frauen liegen. So werden wir die Herren werden.“ In Zukunft beschliefen sie also einander in der Weise, in der es die Männer und die Frauen der Kabylen heute noch meist tun. Indem sich die Jungen beim Beischlaf auf die Mädchen legen, ist die Macht der Frauen gebrochen, der Mann wird Herr und Gebieter der Frau wie in den Kulturen Europas und Asiens. In der Kurzfassung Bourdieus (2005; 36-37) gibt es nur den ersten Mann und die erste Frau: Am Brunnen (tala) ist der erste Mann auf die erste Frau getroffen. Sie schöpfte gerade Wasser, als der Mann anmaßend auf sie zutrat und zu trinken begehrte. Aber sie war zuerst angekommen, und auch sie hatte Durst. Ungehalten stieß der Mann sie an. Sie tat einen falschen Schritt und fiel zu Boden, und der Mann sah, daß ihre Schenkel anders waren als seine. Vor Verblüffung

79 blieb er regungslos stehen. Aber die Frau, gewitzter als er, brachte ihm vieles bei: „Leg dich hin, ich zeige dir, wozu deine Organe gut sind.“ Er streckte sich auf dem Boden aus, sie streichelte seinen Penis, der doppelt so groß wurde, und legte sich auf ihn. Der Mann empfand großes Vergnügen. Um dasselbe wieder tun zu können, folgte er der Frau überallhin, denn sie wußte mehr als er, wie das Feuer angezündet wird usf. Eines Tages sagte der Mann zur Frau: „Ich möchte dir auch etwas zeigen; ich weiß auch etwas. Leg dich hin und ich lege mich auf dich.“ Die Frau legte sich auf den Boden, und der Mann legte sich auf sie. Er empfand dasselbe Vergnügen und sagte zur Frau: „Am Brunnen bist du es [die das Sagen hat], im Haus bin ich es.“ Im Kopf des Mannes sind es immer die letzten Worte, die zählen, und seither lieben es die Männer, auf die Frauen zu steigen. So kam es, daß sie die Ersten wurden und daß sie regieren müssen. [Von Bourdieu erfundene Passagen wurden fett wiedergeben.] Die Frau gewinnt also den Streit, wer als erster aus dem Brunnen schöpfen darf, obwohl sie dem Mann körperlich unterlegen ist, weil sie die klügere ist. Sie kennt sich auch in der Sexualität besser aus. Der Mann ist grob, anmaßend und dumm. Er läuft ihr überall nach, doch er ist lernfähig, und schließlich überredet er sie dazu, daß er sich auf sie legt. Wie aus dem ersten Mann viele wurden und warum sie regieren müssen, wird nicht erklärt. Dadurch erweist sich diese Fassung als in sich widersprüchlich und als eine spätere Erfindung, obgleich sie offensichtlich nicht auf einer abweichenden mündlichen Überlieferung, sondern auf der französischen Übersetzung der Frobenius-Fassung beruht. Die Schlußfolgerungen, die Bourdieu hieraus zieht, sind willkürlich. Daß er seine Quelle nicht angibt, auch in der französischen Ausgabe,

80 verstößt gegen elementare Grundsätze des wissenschaftlichen Arbeitens. Den von Bourdieu in seiner Erklärung des Mythos behaupteten Gegensatz von Brunnen und Haus oder Natur und Kultur gibt es in der Frobenius-Fassung nicht. Dort haben Männer und Frauen einen Brunnen, genauer, eine Quelle, aber nur die Männer kommen auf die Idee, ein Haus zu bauen, weil sie geschickter sind. Der Brunnen gehört in vielen alten Kulturen zum Haus. Er ist zwar ein weibliches Symbol, erbaut wird er jedoch von den Männern, die Frauen sind dazu nicht in der Lage. Auch die Auffindung der Quelle, die dem Bau des Brunnens vorausgeht, ist Sache der Männer, die mit einer besonderen Intuition ausgestattet sind, die die Frauen nicht haben. Die kabylischen Frauen sind den Männern aber in anderer Hinsicht überlegen. Sie besitzen die Fähigkeit, sie durch ihre Schönheit und ihre sexuelle Begier zu verführen. Der Mann wird schon durch ihren Anblick, besonders durch den Anblick ihrer Vulva erregt, so wie die Frau durch den Anblick der männlichen Geschlechtsorgane, aber es sind die Frauen, die sich dem Mann anbieten, Gewalt seitens des Mannes ist hier so wenig erforderlich wie bei den kretischen Hierodulen. Außerdem verstehen sich die Frauen auf die Zauberkunst, wodurch sie auch einen widerstrebenden Mann in ihre Gewalt bringen können. Das bekannteste Beispiel für die Verführungs- und Zauberkunst der Frau ist die karthagische Königin Kirke oder Circe, von der das deutsche Wort bezirzen abgeleitet ist. Sie war wahrscheinlich wie Dido kabylischer Herkunft. In Europa ist sie bekannt, weil sie die Genossen des Odysseus in Wildschweine verwandelt, nachdem sie sie bezirzt hat. Sie hätte dies auch mit Odysseus gemacht, wenn dieser nicht von Hermes eine weiße Blume mit schwarzer Wurzel und besonderem Duft erhalten hätte (RankeGraves 1982; 348). Dadurch kann er sich gegen die Duftstoffe Kirkes behaupten. Auch Odysseus’ Frau, Penelope widersteht allen

81 Verführungsversuchen der Freier. Odysseus’ Treue wird jedoch nicht beeinträchtigt, wenn er der Verführung einer Frau für kurze Zeit nachgibt. Für den Mann tritt dadurch auch kein moralischer oder körperlicher Schaden ein wie bei einer Frau. Die kabylische Frau wird wegen ihrer Verführungskunst nicht getadelt oder gar herabgesetzt. Sie ist Teil ihrer Natur und wird vom Mann akzeptiert, zumal es ihn von sexuellen Schuldgefühlen befreit, wenn er das Opfer der Frau ist. Dies ist auch in der indischen Literatur der Fall, auf die Bourdieu kurz hinweist, von der vedischen bis in die klassische Zeit, wie die vedische Kosmogonie und die Gedichte Bhartr̥ haris zeigen. Wenn die Frauen auch als Verführerinnen angesehen und akzeptiert werden, so wird die Sexualität dennoch in der kabylischen wie in der indischen Kultur als Schwächung des Mannes, manchmal auch der Frau, beschrieben. Der weiblichen Verführungskunst zu widerstehen, ist Teil des kabylischen Initiationsritus des jungen Mannes wie aus der Geschichte von Aini hervorgeht (Frobenius 1921; 133). Ziel der Initiation ist die Ehe, in der der Mann der Herr ist und die Frau dies aus Liebe freiwillig akzeptiert oder sogar selber wünscht. Dies zeigt die Geschichte Die treue Schneidersfrau (Frobenius 1921; 130). Auch in der indischen und der europäischen Literatur gibt es dafür viele Beispiele, z.B. in von Hofmannsthals Rosenkavalier, der von R. Strauß vertont wurde. Auch die europäische Frau übernimmt gern die Rolle der Verführerin, wenn sie dies auch sowenig zugibt wie ein Zauberer seine Tricks verrät. In der heutigen Zeit erfolgt die Verführung oft in Gestalt der Neotenie, der Verlängerung der Brautzeit, wo Frauen, die verheiratet sind oder einen festen Freund haben, sich so verhalten und schmücken, als wenn sie noch zu haben wären. Bei den Kabylen führt die eheliche Liebe über die Sippenstruktur der kabylischen Gesellschaft hinaus (Frobenius 1921; 35). Mann

82 und Frau werden dadurch zu herausragenden Persönlichkeiten wie die Agelith, die ersten Gesetzgeber, die in einem goldenen Zeitalter lebten und vielleicht, wie Frobenius annimmt, mit der Kultur von Atlantis in Verbindung standen. Durch diese Konzeption der Ehe wird deutlich, daß das Volk der Berber vor 2000 Jahren auf derselben Kulturstufe stand wie die Minoer, auch wenn in Nordafrika, dem Rückzugsgebiet der Berber, nur rituelle Höhlenzeichnungen, keine Tempel- und Palastruinen gefunden wurden. Ihre Höhlen sind aber verschlungen wie der Palast von Knossos. Ähnliche Höhlen gibt es in Kappadokien in der Türkei. Die Kabylen kannten auch wie die Inder eine besondere Art von Frauen, die als Feen oder Hexen dem Mann entweder halfen oder ihm großen Schaden zufügten. Bourdieu nimmt keine Zuordnung des Mythos vor, er vergleicht seine Struktur auch nicht mit anderen Schöpfungs- und Initiationsmythen, wie es bei Lévi-Strauß geschieht. Bei der Angabe der Herkunft des Mythos verweist er auf ein Buch der Soziologin T. Yacin, wo der Mythos nicht zu finden ist, die aber ihrerseits Bourdieu zitiert und das Geschlechterverhalten der Kabylen unter einem soziologischen Gesichtspunkt, dem der Angst, untersucht, womit sie ihm den europäischen Existentialismus überstülpt. Da der Hinweis bei Bourdieu keine genaue Seitenzahl enthält, besteht sogar der Verdacht einer bewußten Täuschung. Auch der Hinweis auf die indische Kultur, mit dem Bourdieu seine These stützen will, reicht zur Nachprüfung nicht aus, da lediglich der Name Malamoud ohne Werk und Jahr genannt wird (2005; 36, Anm. 28). Er ist auch inhaltlich falsch, denn in einem vedischen Schöpfungsmythos, in dem die Schöpfung auf die geschlechtliche Liebe zurückgeführt wird, wird die Lage von Mann und Frau ausdrücklich offen gelassen. Im Yoga und im Tantra ist die umgekehrte Stellung ebenso wie in der Gnosis Voraussetzung zur Überwindung der Schöpfung und damit zur Erreichung der Unsterblichkeit (Eliade 1985, 280; Rawson

83 1974, Tafel 22). Außerdem steht die Göttin Kālī auf der Brust ihres Gatten Śiva. In den kosmogonischen Hymnen des R̥g-Veda ist das männliche Prinzip zugleich der Vater und der Sohn des weiblichen Prinzips (Richter-Ushanas 2011a; 128). In Kapitel II.8 des im 3. Jh. n. Chr. verfaßten Kāma-Sūtras, des indischen kanonischen Lehrbuchs der Liebe, wird die umgekehrte Stellung mit Zustimmung des Mannes dann empfohlen, wenn er durch wiederholten Verkehr erschöpft, seine Leidenschaft aber noch nicht gestillt ist. Sie sollte allerdings nicht von der menstruierenden Frau, der Wöchnerin, der korpulenten Frau und dem Gazellentyp ausgeübt werden. Der Gazellentyp wird jedoch wegen seiner Kleinheit von vielen Tantrikern bevorzugt, da sie durch dessen jungfräuliche Erscheinung näher an die Unsterblichkeit heranführt werden. Auch die vedische Morgenröte ist Jungfrau und Hure zugleich. Wie in Indien, so gab es auch bei den Kabylen Heilige, die sich aus der Welt zurückzogen. Dieser Bereich der menschlichen Erfahrung liegt jedoch außerhalb des Kāma-Sūtras, wenngleich die Liebe hier auch einen sakralen Charakter haben kann. Die Jungen und Mädchen des kabylischen Ursprungsmythos stehen eigentlich in einer Inzestbeziehung wie Adam und Eva, die an der Brust zusammengewachsenen siamesische Zwillingen gleichen, die dann durch Entnahme der Rippe aus dem Körper Adams getrennt werden. Auch bei Adam und Eva gibt es zunächst kein Herrschafts-, sondern ein Partnerschaftsverhältnis, zum Herrn über die Frau wird der Mann erst nach der Vertreibung aus dem Paradies. Bourdieus Umarbeitung des Mythos ist durch diese Erzählung beeinflußt, weil es ihm wie den Kommentatoren der Paradiesgeschichte darum geht, wer eher war, und dies war nach ihrer Ansicht Adam, wobei sie den Lehm, aus dem er genommen wurde, als bloße Materie, nicht als das weibliche Prinzip ansehen, das in der Erde verkörpert ist, die auch für die Kabylen ein lebendiges Wesen ist (Makilam 2001; 25).

84 Im kabylischen Mythos gibt es keinen Gott, der das Urpaar erschafft, die Kinder des Urpaares fragen Erde, Mond und Sterne, ob sie die Schöpfer oder Geschöpfe sind, erhalten aber keine Antwort. Wie Eva mit der Schlange sprechen sie mit der Natur (in einem anderen Mythos ist die Ameise ihre Lehrmeisterin). Doch über die Entstehung der Welt und des Urpaares erfahren die Menschen weder hier noch dort etwas. Im vedischen Dialog des Geschwisterpaares Yama und Yamī weist Yamī darauf hin, daß sie und ihr Bruder aus dem gleichen Schoß entstanden sind wie Himmel und Erde und ihr Vater der Schöpfergott Tvaṣṭr̥ ist, der die Welt durch seine beim Anblick der Tochter aufglühende Glut (tapas) erschaffen hat (Richter-Ushanas 2011a; 185). Die Tochter entsteht aus seiner Vorstellung wie Viviane aus der Vorstellung Merlins im keltischen Mythos. Nicht ein Gewaltakt, sondern die Verführung steht am Anfang der indischen Kosmogonie. Doch kann aus der Verführung als psychischer Gewalt körperliche Gewalt entstehen, wenn die Wünsche, die sie weckt, nicht erfüllt werden. Dazu neigt jedoch nicht nur die männliche, sondern auch die weibliche Natur, wie aus der Frobeniusfassung des kabylischen Mythos hervorgeht. Auch Frauen haben einen Sexualtrieb. Die weibliche Gewalt bleibt jedoch heute meist unbemerkt. In Schillers Glocke werden Frauen mit Hyänen verglichen, die mit Pantherzähnen das noch zuckende Herz des Feindes zerreissen. Die weibliche Gewalt setzt ein, wenn die Verführung erfolglos geblieben ist wie im Gilgameš-Epos oder bei der Trennung wie in der bereits erwähnten indischen Legende von Purūravas und Urvaśī. Aus der Frobenius-Fassung des kabylischen Mythos geht hervor, daß im Verhältnis von Mann und Frau ursprünglich nicht die Herrschaft, sondern die Partnerschaft im Vordergrund steht. Ziel dieser Partnerschaft ist nicht nur die Fortpflanzung, sondern auch die Unsterblichkeit, von der der jüdische Gott die Menschen in

85 der Paradiesgeschichte ausdrücklich ausschließt, damit sie nicht werden wie er. Erst wenn nach jüdischem Vorbild dieses Ziel aus den Augen verloren wird, kommt es zum Geschlechterkampf und damit zu einseitigen Deutungen der Mythen und Symbole wie sie Bourdieu vornimmt. Die kindische Frage, ob der Mann oder die Frau eher oder stärker ist, steht für Bourdieu, nicht aber für den Mythos im Vordergrund. Der Mythos ist ätiologisch. Er versucht, gesellschaftliche Verhältnisse zu erklären, er setzt keine Ordnung fest wie Bourdieu behauptet. Bourdieu kann seinen Umgang mit diesem Mythos auch nicht damit entschuldigen, daß er Soziologe und kein Mythenforscher ist. Auch der Soziologe ist nicht berechtigt, Mythen zu verfälschen, um damit eigene Thesen zu beweisen. Die einseitige Deutung der Mythen, die Bourdieu und andere Soziologen und Soziologinnen vornehmen, tragen zur Verlängerung des Geschlechterkampfes bei. Aus den Mythen sind sie nur ableitbar, wenn ihnen die europäische Sichtweise übergestülpt wird. Dieser Umgang mit dem Mythos kann jedoch keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, erst recht nicht, wenn die Primärliteratur nicht zur Kenntnis genommen oder falsch zitiert wird. Daher gibt es auch für die Herabsetzung des Mannes und seiner Sexualität im letzten Absatz der Bourdieu-Fassung keine Parallele in der Frobenius-Fassung. Sie dient allein der Befriedigung der Wunschvorstellungen moderner Feministinnen von denen Bourdieu behext wurde. Die kabylischen Frauen wurden nicht durch die männliche Vorherrschaft unterdrückt, wie Bourdieu behauptet, sie beherrschten die traditionelle Gesellschaft, wie die Kabylin Makilam im Klappentext ihrer Dissertation schreibt, in der sie auch auf den platonischen Schöpfungsmythos hinweist (2001; 158). Bourdieus feministische Mythos-Interpretation führt sie auf seine dichotomische Weltsicht zurück (ebd.; 152), die der Denkweise der kabylischen Kultur im

86 allgemeinen und der kabylischen Frauen insbesondere nicht gerecht wird. Daß der Westen daran trotz aller Belehrungsversuche anderer Völker festhält, hängt damit zusammen, daß darauf seine Herrschaft beruht, an der er unter allen Umständen festhalten will. Dieser Umgang mit alten Mythen geht bereits auf die griechische Tradition zurück, die die minoische Kultur verfälscht und damit auch die Sage von Theseus und die heilige Hochzeit in einer Weise umgedeutet hat, wie es der griechischen Auffassung der Geschlechterrollen entspricht. In der minoischen wie in der kabylischen und der ägyptischen Kultur galten die Frauen als dem Mann ebenbürtig, in der griechischen und jüdischen Gesellschaft wurden sie jedoch dem Mann unterstellt. Dies haben Christentum und Islam übernommen, wodurch im mittelmeerischen Raum vom trojanischen Krieg angefangen bis in die Gegenwart hinein fast ununterbrochen um die Vorherrschaft gekämpft wurde, obwohl sowohl die kretische wie die kabylische Kultur sich durch ihre Friedfertigkeit auszeichneten (Schachermeyr 1964; 129).

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XII. Sappho und die lesbische Liebe5 Wenn wir über die kretische Kultur sprechen, darf auch Sappho nicht unerwähnt bleiben, denn wie die Kreter war sie eine Verehrerin der Aphrodite, wie aus ihrem bekanntesten Gedicht hervorgeht: Aphrodite, Göttin auf buntem Thron, listenreiche Tochter des Zeus, ich rufe dich! Lähme nicht mit Angst und Verzweiflung den Mut mir, Herrin, sondern komme hierher, wenn du schon früher einmal, meine Stimme von fern vernehmend, das goldene Haus des Vaters verlassend, zu mir herabkamst, den Wagen anschirrend, auf dem flinke schöne Spatzen mit dichtem Flügelschlag über die schwarze Erde dich zogen, vom Himmel quer durch die Lüfte und rasch ans Ziel, und du fragtest, Glückselige, ein Lächeln auf deinem unsterblichen Antlitz, was denn wieder mich quäle, warum ich denn wieder dich rufe, und was ich in meinem rasenden Herzen am meisten begehre, daß es geschehe: „Wen soll Peitho als Freundin dir bringen, wer, Sappho, tat Unrecht dir? Flieht sie dich jetzt, bald wird sie dich verfolgen, nimmt sie jetzt kein Geschenk an, bald wird sie selber schenken, liebt sie jetzt nicht, bald wird sie es tun, auch wenn sie es nicht will.“ 5 Vergl. E. Richter-Ushanas, Wissenschaft und Selbsterkenntnis, Bremen 2003, S. 259.

88 Komme auch jetzt, erlöse das Herz mir von schwerer Sorge, und, was mein Herz sich wünscht, daß es geschehe, das erfülle schnell! Sei mir Bundesgenossin! In einem anderen Gedicht erwähnt sie den von den Kretern erbauten Tempel, wo sie eine Ziege opfern will.6 Hier gab es die kretische Kultur, die auf Kreta schon um 1200 untergegangen ist, also noch 600 Jahre später, denn als Lebenszeit Sapphos wird das 6. Jahrhundert v.Chr. angegeben. Ihr Verhältnis zu ihren Schülerinnen wird aus folgendem Gedicht deutlich: Er scheint mir den Göttern gleich zu sein, jener Mann, der dort dir gegenüber sitzt und ganz nahe bei dir den süßen Worten deiner Stimme lauscht und den der Liebreiz deines Lachens betört. Doch mir erschrickt das Herz in meiner Brust, denn sehe ich nur kurz dich an, gehorcht mir die Stimme nicht mehr. Die Zunge erstarrt mir im Mund und ein feines Feuer rieselt über meine Haut, mit den Augen sehe ich nicht mehr und ein Dröhnen ist in meinen Ohren. Der Schweiß bricht aus, ein Zittern erfaßt meinen ganzen Leib, gelber als dürres Gras bin ich, fast schon wie eine Sterbende erscheine ich mir selbst... Doch alles muß man ertragen, da ja der Arme durch Widerspruch sein Geschick nur verschlimmert. Von euch, ihr Schönen, wird mein Herz und mein Sinn (dennoch) niemals sich wenden. 6 Richter-Ushanas, aaO. S. 260.

89 Bevor Sappho ihre Schule eröffnete, war sie verheiratet. Aus der Ehe hatte sie eine Tochter, Kleis. In fortgeschrittenem Alter soll sie sich in einen jungen Fischer namens Phaon verliebt haben. Diese Liebe verlief nicht glücklich, wie nicht anders zu erwarten war. Es heißt, daß sie sich schließlich seinetwegen von einem Felsen stürzte. Die Unterschiede ihres Lebens zu heutigen lesbischen Lebensformen liegen auf der Hand. Da ihre Liebe jungen Frauen galt, kann man sie pädophil nennen. Pädophil bedeutet im Griechischen, Kinder (paido) lieben (phileo). Genauer müßte es heißen ephebophil, Heranwachsende lieben. Wenn es sich um Kinder handelte, waren sie stets älter als 12 Jahre, also bereits geschlechtsreif. Sappho spricht in einem Gedicht von dem reizlosen Mädchen. Der Liebende war stets bedeutend älter als der oder die Heranwachsende und meist der Erzieher oder die Erzieherin. Solche Beziehungen müssen nicht oder nicht vorwiegend sexuell sein. Philia bedeutet Freundschaft. Wenn es um Sexualität geht, sollte man besser von pädosexuell sprechen. Heute halten sich Pädosexuelle meist nicht an die Altersgrenze und sind meist auch nicht die Erzieher ihrer Sexualobjekte. Auch im allgemeinen Sprachgebrauch wird heute nicht zwischen pädophil und pädosexuell unterschieden, sogar der Pädosadismus wird dazu gerechnet. So kann jede Beziehung zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden als Mißbrauch diskreditiert werden, und Pädosexuelle können ihre grobsinnliche Veranlagung hinter der ‘platonischen’ Pädophilie verstecken. Andererseits unterscheiden sich heute oft schon sechsjährige Kinder, sei es durch den Einfluß des Fernsehens, sei es durch den Zerfall der Familie, in ihrer Haltung zur Sexualität kaum noch von Erwachsenen und kommen so einer pädosexuellen Veranlagung sehr entgegen, auch wenn dies von feministischer Seite bestritten wird, schon um Frauen nicht dem Vorwurf eigener Versäumnisse bei der Kindererziehung auszusetzen.

90 Bei den Griechen gab es weder Kinderpornographie noch sexuellen Mißbrauch von Kindern, gerade weil die Beziehung von Lehrer und Schüler auf Vertrauen beruhte, während sie in der heutigen Zeit von Mißtrauen und Leistungsdruck bestimmt ist. Wenn ein junger Mann keinen ‘väterlichen’ Freund hatte, galt er damals als nicht normal. Heute ist das gerade umgekehrt. Auch in Indien und dem Alten Orient sind pädagogische Beziehungen ohne die Liebe zwischen Lehrer und Schüler nicht vorstellbar. Sappho überträgt diese uralte Form des Lehrens auf Frauen. Sie war damals nicht die einzige, die solche Beziehungen hatte. Es scheint, daß ihre pädophilen Neigungen erst offenbar wurden, als sie schon ein gewisses Alter erreicht hatte, so daß sie eine eigene Schule gründen konnte. Bemerkenswert ist auch, daß sie versuchte, ihren Bruder von der Beziehung zu einer Hetäre abzubringen. So weit bekannt, sind ihre Bemühungen ohne Erfolg geblieben, doch wird daraus deutlich, daß sie die käufliche Liebe verachtete, im Gegensatz zu ihrem Bruder und vielen angesehenen griechischen Männern, die mit Hetären zusammenlebten. Die heutige Frauenbewegung sieht Beziehungen mit großem Altersunterschied nur dann nicht als unmoralisch an, wenn die Liebe von der älteren Frau ausgeht. Doch zählt die Liebe die Jahre auch dann nicht, wenn der Mann der Ältere ist. Allerdings nur, wenn sie kommt, wenn sie geht, zählt sie sie doppelt. Vielleicht hat Sappho sich sich von einem Felsen gestürzt, weil sie wie die Göttin Ištar in die Unterwelt gehen wollte, um zeigen, daß die Liebe stärker ist als der Tod. Damit tut sie ungewollt, was eine androzentrische Gesellschaft von einer liebenden Frau erwartet: Sie opfert sich für den Geliebten. Ištar sendet dagegen ihren Geliebten als Ersatzmann in die Unterwelt, weil er nicht um sie getrauert hat.7 7 Vergl. E. Richter-.Ushanas, Die sakrale Liebe, Nordhausen 2010, S. 144.

91 Daß Sapphos Beziehungen zu ihren Schülerinnen zwar pädophil, aber nicht pädosexuell waren, zeigen die erhaltenen Gedichte. Sie sind nicht mit heutigen lesbischen Beziehungen vergleichbar. Zweifellos verbrachte sie mit ihren Schülerinnen viel Zeit, sie spielte mit ihnen, ging mit ihnen spazieren, tanzte mit ihnen, bewirtete sie, bereitete ihnen ein Lager. Vielleicht lag sie dort auch mit ihnen zusammen und streichelte sie übers Haar und über den Körper. Doch von Nacktheit und der Berührung des nackten Körpers ist in den Gedichten nie die Rede, wohl aber von deren Gegenteil. Dennoch hatte Sappho schon im Altertum im Unterschied zu den Hetären keinen guten Ruf. Vielleicht lag dies an dem kultischen Charakter, der ihre Beziehungen kennzeichnete wie die Beziehungen Sokrates’ der philosophische Hintergrund. Es ist aus Platons Gastmahl durch Alkibiades bekannt, daß Sokrates intime körperliche Beziehungen zwar nicht ablehnte, diese aber nicht die von den Schülern erwartete sexuelle Form hatten. Für weltliche Menschen ist das eine Herausforderung. In deren Augen war Sappho eine Verführerin wie Sokrates ein Verführer, gerade weil sie Genossin und Freundin ihrer Schülerinnen in jeder Lebenslage war. Sokrates war Philosoph, Sappho war ‘nur’ Dichterin, doch ihre Lyrik galt als ebenso vorbildlich wie Sokrates’ philosophische Dialoge, denn sie verstand es, ihre Erlebnisse unmittelbar in ihrer Dichtung wiederzugeben und dabei zugleich eine strenge Form zu wahren. Die sapphische Ode ist nach ihr benannt. Zu recht berühmt sind auch ihre Naturschilderungen. Die Natur wird dabei ebenso als lebendiges Wesen gesehen wie die Göttin Aphrodite. Weil sie auf einer Wesensschau beruhen, sind ihre Gedichte unmittelbarer als die vieler späterer Dichter. Ihre Beherrschung der Sprache verdankt sie gleichfalls ihrer Beziehung zu Aphrodite. Die Göttin ist für sie, was die Göttin Vāc für die vedischen Seher ist (vergl. Kap. VII). Wie sie benutzt sie die Sprache auch zu magischen Zwecken.

92 Doch kennt sie auch ihre Grenzen und weiß sich resignierend mit ihrem Schicksal abzufinden wie ein Yogi. Von welcher modernen Frau kann man das sagen? Die modernen Lesben berufen sich zu Unrecht auf Sappho. Dabei gibt es nur wenige Lesben, die etwas von ihr gelesen haben oder gar etwas über ihr Leben wissen. Dennoch wird die weibliche Homosexualität durch die Verbindung mit dem Wohnort Sapphos auf eine höhere Stufe gestellt als die männliche, die sich, wenn ihr derselbe Status gegeben werden soll, nach dem Wohnort des Orpheus, des Begründers der Pädophilie in Griechenland, thrakisch nennen müßte. Sappho weiß, daß ihre Liebe mächtiger ist als das Denken, mächtiger auch als die Gesellschaft, in der sie lebte. Und die Geschichte hat ihr Recht gegeben. Sie ist Vorbild für die spätere griechische und römische Lyrik geworden, so sehr, daß sogar Sokrates ihr seine Achtung bezeugt, indem er in Platons Gastmahl eine Frau, Diotima, als Lehrerin der Liebe erwählt. Auch der Tod, den sie wie alle Griechen für endgültig hielt, konnte ihr die Rosen der Dichtung, das Geschenk der Musen, nicht rauben.

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XIII. Theseus in Kreta (Zusammenfassung) A. Die kretische Königstochter Ariadne verliebt sich in den griechischen Königssohn Theseus, den Wanderer mit der Keule, der als Geisel mit dem Schiff nach Kreta gekommen ist, und gibt ihm ein Schwert, damit er den Minotauros töten kann, und ein Knäuel, damit er wieder aus dem Labyrinth zurückfindet, nachdem er den Minotaurus getötet hat. Nachdem er den Stier besiegt hat und aus dem Labyrinth zurückgekommen ist, heiratet sie ihn. Die Hochzeit findet in einer Weinlaube statt, die aus Rohr erbaut ist, wie es aus der akkadischen heiligen Hochzeit bekannt ist. Durch die Hochzeit wird Theseus zum heiligen König. Dies bedeutet, daß er in Kreta bleiben muß. Er ist also immer noch der Gefangene Ariadnes. B. Nachdem Theseus einige Zeit mit Ariadne in Kreta verbracht hat, verliebt er sich in eine griechische Geisel, die aus der Sage als Aigle bekannt ist. Sie ist aus der Stadt geflüchtet und lebt in den Bergen. Aigle erinnert ihn an sein Versprechen, die griechischen Geiseln nach Griechenland zurückzubringen. Durch seine Liebe zu ihr wird er zu ihrem Gefangenen, obwohl er noch an Ariadne gebunden ist. Sie gibt ihm einen Dolch, damit er Ariadne und Minos tötet. Doch Theseus liebt Ariadne noch immer, und so feiert er mit ihr und mit Aigle die heilige Hochzeit. Dann lockt er Ariadne auf das Schiff des Priesters, auf dem er gekommen ist, nachdem Daidalos darauf eine Weinlaube für die heilige Hochzeit errichtet hat. Auf ähnliche Weise wird der Seherknabe R̥ śyaśr̥ṅga in einer indischen Sage aus dem Wald in die Stadt gelockt (Richter-Ushanas 2010d; 99). Theseus holt auch Aigle und die anderen Geiseln auf das Schiff. Ariadne bemerkt den Betrug erst, als sie bereits auf hoher See sind. Sie verläßt das Schiff in Naxos und wird Priesterin des Dionysos, obwohl sie in Kreta Priesterin Aphrodites war. Hier endet der Diskos, der die Sage in ihrer ursprünglichen Form wiedergibt.

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Der Autor und das Buch Die Hieroglyphen des Diskus von Phaistos werden hier mit Hilfe der Linear B, der kretischen Silbenschrift, gedeutet, wobei sich die Sage von Theseus und Ariadne in der ursprünglichen Form ergibt. Ariadne geht mit Theseus eine heilige Hochzeit ein, die die Grundlage der kretischen wie der akkadischen Religion ist, von den Griechen aber abgelehnt wird, nicht Helena, sondern Penelope ist für sie das Idealbild der Frau. Der Dionysos-Kult mit seinen Mänaden geht jedoch ebenso auf die heilige Hochzeit zurück wie die Mysterien von Eleusis. Weder der trojanische Krieg noch die Zerstörung der Stadt können mit dem Raub einer Hetäre gerechtfertigt werden. Die kretische Kultur ist wie die Indus-Kultur für ihre Friedfertigkeit bekannt und wie diese beruht sie auf der Verwendung des Schiffes. Da sie die Grundlage der europäischen Kultur ist, würde es dem Frieden in Europa und der afrikanischen Staaten am Mittelmeer gut tun, wenn die Leistungen diese Kultur endlich anerkannt würden. Dazu soll die Entschlüsselung des Diskus beitragen. Egbert Richter, der 1938 in Bremen geboren wurde, arbeitet seit Beendigung seines religionsphilosophischen Studiums im Jahre 1990 im Rahmen seiner freiberuflichen schriftstellerischen Tätigkeit an der Entzifferung alter Wortschriften wie der Indus-Schrift und der Osterinselschrift. Wortschriften sind wissenschaftlich kaum erforscht und deshalb ist es nicht verwunderlich, daß ihre Entzifferung als pseudowissenschaftlich bezeichnet wird. Die Entzifferung der kretischen Hieroglyphen, die hier in 2. überarbeiteter und erweiterter Auflage erscheint, ist das Ergebnis der Studien des Autors über die heilige Hochzeit, die ihn auch dazu veranlaßt haben, sich in die hebräische und die sumerisch-akkadische Sprache und Schrift einzuarbeiten. Nachdem er im Jahre 2008 mit Förderung der Deutschen Forschungsmeinschaft an einem Kongreß der World Association for Vedic Studies (WAVES) in Orlando teilgenommen hat, wurde ihm der Titel Prachya Vidya Parangata (Experte in alter indischer Tradition) verliehen. Um seiner Verbundenheit mit der indischen Philosophie Ausdruck zu geben, hat er seinem Autorennamen den Namen eines vedischen Sehers hinzugefügt.