Der deutsch-israelische Dialog: Band 6 Teil III, Kultur [Reprint 2021 ed.] 9783110734546, 9783598219467

Die achtbändige Edition dokumentiert in thematisch angeordneten Kapiteln die wichtigsten Stationen der deutsch-israelisc

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Der deutsch-israelische Dialog: Band 6 Teil III, Kultur [Reprint 2021 ed.]
 9783110734546, 9783598219467

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Teil I: Politik Band 1 - 3 [Namensregister von Teil I in Band 3]

Teil II: Wirtschaft/Landwirtschaft Band 4 - 5 [Namensregister von Teil II in Band 5]

Teil III: Kultur Band 6 - 8 [Namensregister von Teil III in Band 8]

K-G-Saur München-NewYork-London • Paris 1989

Der deutsch-israelische Dialog Dokumentation eines erregenden Kapitels deutscher Außenpolitik Herausgegeben von Rolf Vogel

Teil III: Kultur Band 6

K-G-Saur München-NewYork-London-Paris 1989

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Der deutsch-israelische Dialog : Dokumentation eines erregenden Kapitels deutscher Aussenpolitik / hrsg. von Rolf Vogel. — München ; New York ; London ; Paris : Saur. ISBN 3-598-21940-7 NE: Vogel, Rolf [Hrsg.] Bd. 6 : Teil 3, Kultur. - 1989 ISBN 3-598-21946-6

Alle Rechte vorbehalten / All Rights Strictly Reserved K.G. Saur Verlag GmbH & Co. KG, München 1989 Mitglied der internationalen Butterworth-Gruppe, London Printed in the Federal Republic of Germany Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Satz: FotoSatz Pfeifer, Gräfelfing b. München Druck/Binden: Graphische Kunstanstalt Jos. C. Huber, Dießen/Ammersee ISBN 3-598-21940-7 (Gesamt) ISBN 3-598-21946-6 (Band 6)

Inhaltsverzeichnis Inhaltsübersicht über die Bände 7 und 8

x

Einleitung

xxi

Die bundesrepublikanische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit 1

Kritische Sendungen zum Nationalsozialismus und Antisemitismus im ZDF. Ein Beitrag von Prof. Dr. Holzamer, Intendant des ZDF

2

Der Kampf um die Erhaltung der KZ-Gräber 1952-1965

3 4

Zwanzig Jahre danach —Begegnungen 1965 Gründung eines „Internationalen Dokumentationszentrums zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen e. V." 4.1 Martin Broszat, Institut f ü r Zeitgeschichte München, zur Institutsgründung 4.2 Der Leiter des Archivs, Hoch, zur Neugründung

5

6

. . . .

„Deutsche und Juden — ein ungelöstes Problem": Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses in Brüssel 5.1 Die Referate der Tagung 5.1.1 Professor Golo Mann, Zürich 5.1.2 Professor Gershom Sholem, Hebräische Universität Jerusalem 5.1.3 Der Präsident des Deutschen Bundestages, Eugen Gersten maier 5.1.4 Professor Karl Jaspers, Basel 5.1.5 Professor Salo W. Baron, Columbia University, New York 5.2 Ein Gespräch mit Nahum Goldmann über den Kongreß und seine Folgen Golo Mann: „Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit" — Ein Gespräch über die Behandlung der politischen Vergangenheit

4 7 10

12 16 19 21 21 21 32 46 51 57 70 74 V

Inhaltsverzeichnis

7

Kontroversen um Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger 7.1 Eine Antwort auf ein offenes Telegramm von Rabbiner Dr. Joachim Prinz 7.2 Die Stellungnahme Probst Heinrich Grübers 7.3 Eine Ohrfeige für den Bundeskanzler 7.4 Karl Marx, der Herausgeber der Allgemeinen jüdischen Wochenzeitung, spricht für Kiesinger 7.5 Einige Bemerkungen zur Atmosphäre am Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft 7.6 Ein Nachwort zum Prozeß gegen Beate Klarsfeld

80

92 95

8

Der SO. Jahrestag der Pogrome von 1958

99

9

Dokumentation über die Verfolgung jüdischer Bürger in BadenWürttemberg

80 88 89 91

100

10 Bundespräsident Gustav Heinemann und Erzbischof Nuntius Corrado Bafile zum 8. Mai 1970

105

11 Robert M. W. Kempner zum 25. Jahrestag der Bundesrepublik . . . . 109 12

Fünfundzwanzig Jahre Institut für Zeitgeschichte in München . . . .

112

13 Robert W. Kempner: „Hitler und die Zerstörung des Hauses M. Ullstein"

117

14 Eine Sendereihe im Westdeutschen Rundfunk über den Widerstand im Rheinland

122

15 Bundeskanzler Helmut Schmidt gibt im französischen Fernsehen ein Interview zur Wirkung der Fernsehsendung „Holocaust"

124

16 Zum 50. Geburtstag von Anne Frank 16.1 Das Tagebuch erscheint in der 11. Auflage 16.2 Feierstunde in Holland

128 128 130

17 „Mit der Schuld der Väter leben": Forumsveranstaltung beim Katholikentag 1980 17.1 Die Rede von Werner Nachmann 17.2 Auszüge aus der Ansprache von Professor Karl Lehmann, Freiburg 17.3 Burkhard van Schewik: „Katholische Kirche und Judenverfolgung in Deutschland" VI

133 133 138 139

Inhaltsverzeichnis

18 Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat: Eine Veröffentlichung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien im C. F. Müller Verlag

152

19 „Alltag im Nationalsozialismus": Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten

154

20 „Gesichter einer verlorenen Welt" - Eine Fotoausstellung über das Leben des polnischen Judentums

156

21

22

23

Aus einer Dokumentation über das Leben der Juden in Igersheim

162

Die Fälschung der Hitler-Tagebücher Ein Gespräch mit Robert M. W. Kempner

170

Robert M. W. Kempner wird Ehrendoktor der Philosophie der Universität Osnabrück

173

24 Aktion Sühnezeichen — Friedensdienste e. V 24.1 Gründungsaufruf 24.2 Entstehung und Entwicklung 24.3 Bilanz nach 15 Jahren Aktion Sühnezeichen in Israel Ein Gespräch mit Pfarrer Dr. Krupp in Jerusalem 24.4 Beiträge aus dem Mitteilungsblatt „Zeichen" 24.4.1 Die Bedeutung der Aktion Sühnezeichen im christlichjüdischen Gespräch 24.4.2 Die Arbeit in Israel und der Nahost-Konflikt 24.4.3 Deutschsein zwischen Juden und Palästinensern . . . . 24.4.4 Das große Wort Solidarität 24.4.5 Präambel für die Arbeit in Israel 24.4.6 Frieden durch Versöhnung: Freiwillige über ihre Arbeit 24.4.7 Aktion Sühnezeichen in Israel — Kontinuität im Wandel zwanzigjähriger Arbeit 24.5 Ein israelischer Journalist zieht Bilanz 24.6

Fünfundzwanzig Jahre Aktion Sühnezeichen 24.6.1 Die Erklärung von Dietrich Goldschmidt, dem 1. Vorsitzenden 24.6.2 Die Presseerklärung am 23. Oktober 1986

175 175 176 177 180 180 183 185 186 189 194 203 208 211 211 213 VII

Inhaltsverzeichnis

25

Debatte des Deutschen Bundestages über eine Zentrale Gedenkstätte und ein Mahnmal in Bonn 25.1 Alfred Dregger, CDU/CSU 25.2 Horst Ehmke, SPD 25.3 Klaus Beckmann, FDP (in Auszügen) 25.4 Hans-Christian Ströbele, Die Grünen (in Auszügen) 25.5 Oskar Schneider, CDU/CSU (in Auszügen) 25.6 Peter Conradi, SPD (in Auszügen) 25.7 Herbert Czaja, CDU (in Auszügen) 25.8 Freimut Duve, SPD (in Auszügen) 25.9 Hildegard Hamm-Brücher, FDP (in Auszügen)

215 215 218 220 221 222 225 227 228 229

Ehrung für Retter jüdischen Lebens durch den Botschafter Israels in der Bundesrepublik, Yitzhak Ben-Ari

230

Ein Interview mit Prof. Dr. Franklin Littell über den Holocaust und die Folgen von Auschwitz

234

28

Ein Gedenkstättenführer für Rheinland-Pfalz (1933-1945)

237

29

„Gerechte der Völker" - Ehrung von Yad Washem an zwei Deutsche vergeben

276

30

Zum 100. Geburtstag von Sophie Sondheim

279

31

Oberstabsarzt Dr. Julius Schoeps-Kaserne wird in Hildesheim eingeweiht

282

26

27

32

Ehrung für den verstorbenen Bischof von Münster, Kardinal Clemens August Graf von Galen 291

33

200 Jahre Judenschutzbrief Buttenhausen - Der Festvortrag von Paul Sauer bei der Gedenkfeier 294

34

Ein Interview mit Simon Wiesenthal

307

35

Dichter, Anwalt, Prediger — Zum 80. Geburtstag von Albrecht Goes. Ein Beitrag von Gisbert Kranz in „Christ in der Gegenwart"

310

Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition. Ein Sonderdruck der Frankfurter Hefte, H. 4, 1988

312

36

VIII

Inhaltsverzeichnis

37 38

39

40 41 42

43

44

Gedenken an den 44. Jahrestag des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 Dreißig Jahre Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur . Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg 38.1 Die Ansprachen 38.2 Statistiken zur Arbeit der Zentralstelle (Stand: 1.7.1988) . . . .

539 349 349 376

Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988 an Siegfried Lenz 39.1 Die Rede von Yohanan Meroz 39.2 „Am Rande des Friedens": Die Dankrede von Siegfried Lenz 39.3 Die bisherigen Friedenspreisträger und ihre Laudatoren . . . .

387 394

Die Ansprache Richard von Weizsäckers zur Eröffnung des 37. Historikertages in Bamberg am 12. Oktober 1988

396

Ein Gespräch mit Heinz Galinski über seinen Besuch in Ostberlin

403

„Jeder Tag ein Gedenktag": Vorstellung von Simon Wiesenthals neuem Buch in der Landesvertretung von Baden-Württemberg in Bonn

407

379 379

Die zentrale Veranstaltung in Frankfurt zum 50. Jahrestag der November-Pogrome 1938 43.1 Ignatz Bubis, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt 43.2 Heinz Galinski, Vorsitzender des Direktoriums des Zentralrats der Juden in Deutschland 43.3 Walter Wallmann, Ministerpräsident von Hessen 43.4 Bundeskanzler Helmut Kohl

413 419 421

„Simon Wiesenthal, der Anwalt der Menschlichkeit": Bundeskanzler Helmut Kohl zu Wiesenthals 80. Geburtstag

427

411 412

IX

Inhaltsübersicht über Band 7 Judentum und Christentum 1 Christentum und nichtchristliche Religionen — die Erklärung Papst Pauls VI. anläßlich des 2. Vatikanischen Konzils 1.1 Der Text der Erklärung in Auszügen 1.2 Ein Gespräch mit dem Weihbischof von Hildesheim, Heinrich Pachowiak 1.3 Stellungnahmen beim 81. Deutschen Katholikentag 1966 1.3.1 Ernst Ludwig Ehrlich (Basel) 1.3.2 Gertrud Luckner (Freiburg/Br.) 2

Pinchas Lapide: „Warum sollte ein Jude Papst Pius XII. verteidigen?"

3

Tantur — Ein ökumenisches Institut für theologische Studien auf dem Wege nach Bethlehem

4 Juden und Christen beim 83. Deutschen Katholikentag 4.1 Gemeinschaftsgottesdienst 4.2 Arbeitskreis „Die Gemeinde und die jüdischen Mitbürger" 4.3 Das Referat von Willehad Paul Eckert 5

Gemeinsames Vaterunser für Juden und Christen? — Das christlichjüdische Problem beim Ökumenischen Pfingsttreffen in Augsburg

6

Der evangelische Kirchentag 1973 in Düsseldorf

7

„Christen und Juden". Eine Studie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

8

Verleihung des Romano Guardini-Preises der Katholischen Akademie in Bayern am 9. März 1976 an Teddy Kollek und Professor Talmon

9

Gespräch mit Josef Burg über Judentum und Zionismus

10 „Juden und Christen" — Die Ansprache des evangelischen Bischofs von Berlin, Martin Kruse, in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche 11 Pnina Nave Levinson auf dem 85. Deutschen Katholikentag 1978 in Freiburg X

Inhaltsübersicht über Band 7

12

Achtzig Jahre Erlöserkirche in Jerusalem

13 Juden und Christen im neuen Katechismus — Ein Gespräch mit Wilhelm Breuning 14

Die Rede Philipp Jenningers bei einer Feierstunde der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit

15

Die Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Heinz Kremers

16

„Woche der Brüderlichkeit" in der Rhein-Ruhr-Halle Duisburg

17

Die christlich-jüdischen Veranstaltungen beim 89. Deutschen Katholikentag in Aachen vom 10.-14. September 1986

18

„Suchet der Stadt Bestes - Brüderlichkeit in der modernen Gesellschaft": Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit in Berlin

19

Otto-Hirsch-Medaille für Pfarrer Fritz Majer-Leonhard

20

Ökumene auf den Stationen Trier, Jerusalem und Frankfurt — Pater Laurentius Klein berichtet über seine Erfahrungen

21

Die zweite Pastoralreise Johannes Pauls II. in die Bundesrepublik 21.1 Die Seligsprechung der Karmeliterin Edith Stein 21.2 Begegnung mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland 21.2.1 Die Ansprache von Werner Nachmann 21.2.2 Die Ansprache des Papstes 21.3 Die Seligsprechung des Jesuitenpaters Rupert Mayer in München

22

Der evangelische Kirchentag 1987 in Frankfurt 22.1 „Seht, welch ein Mensch" — Oberrabiner Albert Friedlander spricht in der Katharinenkirche in Frankfurt 22.2 Shalom Ben Chorin zum Auferstehungsbericht im JohannesEvangelium

23

Bundeskanzler Helmut Kohl überreicht den Sternberg-Preis des Internationalen Rates der Christen und Juden an Gertrud Luckner

24

Heinz M. Bleicher zum 65. Geburtstag

XI

Inhaltstibersicht über Band 7

Juden und Judentum in der Bundesrepublik 1

Vom „Jüdischen Gemeindeblatt" f ü r die britische Zone zur „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung" 1.1 „Wir, die deutschen Juden" - Karl Marx im „Jüdischen Gemeindeblatt" 1.2 „Vor einer schweren Aufgabe" — Eine Broschüre zu Karl Marx' 60. Geburtstag 1.3 Zum Tod von Karl Marx 1.4 Hermann Lewy, neuer Chefredakteur der „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung"

2

Axel Springer stiftet Glockenturm und Geläut f ü r die Jerusalems-Kirche in Berlin

3

Fünfundzwanzigjähriges Jubiläum der Jüdischen Gemeinde in Berlin

4

Werner Nachmann: „Die jüdische Gemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945"

5

Die „bibliotheca judaica" des Lothar Stiehm Verlages in Heidelberg

6

„Jüdische Maler im Berlin der Jahrhundertwende": Eine Ausstellung, organisiert von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit

7

Die Stiftung Volkswagenwerk fördert Forschungsprojekte zur Emigration deutschsprachiger Wissenschaftler 1933-1945 und zum Thema „Juden und Judentum in der Volkskultur"

8

„Erinnern bedeutet nicht dauernd mahnen und bemäkeln" — Ein Interview der „Welt" mit Pinchas Lapide

9

„Juden in Deutschland — 40 Jahre nach dem Holocaust": Ein Vortrag Ernst Cramers vor der israelisch-deutschen Gesellschaft in Tel Aviv

10

Glückwünsche zum jüdischen Neujahrsfest 10.1 Grußwort des Bundespräsidenten 10.2 Grußwort des Bundeskanzlers 10.3 Grußworte der Parteien

11

Einwanderungshilfe nach Israel: Ein Gespräch mit dem Vertreter der Jewish Agency, Uri Aloni

XII

Inhaltsübersicht über Band 7 12 Das Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität/Gesamthochschule Duisburg 13 Mündliche Anfrage der Grünen im Landtag zur Erhaltung und Restaurierung von Synagogen in Rheinland-Pfalz 14

Geburtstagsempfang f ü r Heinz Galinski im Großen Saal der Jüdischen Gemeinde in Berlin

15

Die Einweihung der neuen Synagoge in Freiburg/Br.

16 Der Tod von Hans Rosenthal 17

„In schwieriger Mission" — Yohanan Meroz über seine Zeit als Botschafter Israels in der Bundesrepublik

18

Heinz Galinski wird Ehrenbürger von Berlin 18.1 Die Laudatio des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Eberhard Diepgen 18.2 Die Danksagung Heinz Galinskis

19

Der Friedrich Hänssler Verlag

20

Eine Ausstellung zur Geschichte des Philanthropin in Frankfurt

21

Die Synagoge von Ahrweiler 21.1 Auszüge aus einer Veröffentlichung von Superintendent Warnecke 21.2 Ein Gespräch mit Superintendent Warnecke

22

Internationaler Jüdischer Kongreß für Medizin und Halacha vom 16.-20. November 1988 in Berlin 22.1 Die Eröffnungsansprache Heinz Galinskis 22.2 Auszüge aus der Rede der Bundesministerin f ü r Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Rita Süssmuth 22.3 Grußwort des Senators für Gesundheit und Soziales, Ulf Fink 22.4 Der Vorsitzende der Jüdischen Ärzte und Psychologen in Berlin, Roman M. Skoblo 22.5 Rolf Winau: „Der jüdische Beitrag zur deutschen Medizin"

XIII

Inhaltsübersicht über Band 7

Antisemitismus und Neonazismus in der Bundesrepublik 1

Verfassungsfeinde von rechts - Ein Kommentar Hendrik van Berghs zum Jahresbericht des Verfassungsschutzes 1964

2

Hendrik van Bergh: „Das Geheimnis der Organisation .Spinne'. Gibt es eine geheime Fluchthilfe-Organisation f ü r ehemalige Nationalsozialisten?"

3

„Erfahrung aus der Beobachtung und Abwehr rechtsradikaler und antisemitischer Tendenzen im Jahre 1965": Ein Bericht des Bundesinnenministers

4

Der den 4.1 4.2

5

Fünf-Punkte-Erklärung der Bundesregierung zum Links- und Rechtsradikalismus

6

Synagogenschändung in München

7

„Die Verantwortung aller demokratischen Parteien gegenüber Anfängen antisemitischer Tendenzen": Aktuelle Stunde des Deutschen Bundestages

8

Renate Köcher, Institut f ü r Demoskopie Allensbach: „Deutsche und Juden vier Jahrzehnte danach." Eine Repräsentativbefragung im Auftrag des .Stern' im Jahre 1986

9

„Ausmaß und Formen des heutigen Antisemitismus": Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Jahre 1988

XIV

deutsche Botschafter in Israel, Rolf Pauls, zu den Erfolgen der NPD bei bayerischen Landtagswahlen Die Erklärung f ü r die israelische Presse Interview mit der israelischen Zeitung „Davar"

Inhaltsübersicht über Band 8 Austausch in Kunst und Wissenschaft 1

Die Anfänge des kulturellen Austausches zwischen der Bundesrepublik und Israel

2

Die Auswirkungen des Eichmann-Prozesses auf die kulturellen Beziehungen

3

Die Entwicklung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Israel und der Bundesrepublik

4

„Honorary Fellowship" der Hebräischen Universität Jerusalem für Ludwig Erhard

5

Die Stiftung Volkswagenwerk richtet Forschungslehrstuhl im WeizmannInstitut ein

6

Die Arbeit Axel Springers und der Axel-Springer-Stiftung für Israel 6.1 Das Israel-Museum in Jerusalem 6.2 Eine Rede Axel Springers im Leo-Baeck-Institut in Jerusalem 6.5 Stiftung des Ottilie-Springer-Lehrstuhls in Waltham 6.4 Die Einweihung der Bibliothek des Israel-Museums 6.5 Verleihung der Ehrendoktorwürde der Bar-Han-Universität an Axel Springer 6.6 Die Axel-Springer-Stiftung unterstützt den Bau eines Rehabilitationszentrums in Jerusalem 6.7 Axel Springer erhält die Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität Jerusalem 6.8 Das Leo-Baeck-Institut ehrt Axel Springer

7

Die Stiftung Volkswagenwerk 7.1 Schwerpunkte 7.2 Gründung 7.3 Kuratorium 7.4 Zusammenarbeit mit Israel

8

Ein Gespräch mit Herbert Wehner anläßlich seiner Ernennung zum Ehrendoktor der Hebräischen Universität Jerusalem XV

Inhaltsübersicht über Band 8

9

Erste kulturpolitische Gespräche auf Direktorenebene in Jerusalem — Ein Gespräch mit Ministerialdirektor Lahn

10 Für die Errichtung des Max-Born-Lehrstuhles für Naturphilosophie stellt die Stiftung Volkswagenwerk 1 Million DM zur Verfügung 11 „Plakate aus Israel": Eine Ausstellung in Berlin 12 Reaktionen auf den Tod Axel Springers 12.1 Die Trauerfeier 12.2 Kondolenzen 12.3 Heinz Galinski: „Axel Springer, ein unersetzlicher Gesprächspartner" 13 Niels Hansen: Vierzig Jahre Staat Israel — Eindrücke als deutscher Botschafter 1981-1985 14 Aus der Dankrede von Ministerpräsident Johannes Rau anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Haifa am 2. April 1986 15 Der israelische Premierminister Shimon Peres spricht vor Journalisten in Berlin 16 Deutsch-israelische Zusammenarbeit im Bereich der beruflichen Bildung, des Wissenschaftsaustausches, des Studentenaustausches und des Jugendaustausches. Ergebnis einer Reise des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Anton Pfeifer 17 Die deutsch-israelische Wissenschaftsstiftung nimmt ihre Arbeit auf 18 Das 12. deutsch-israelische Lehrerseminar in Jerusalem 19 Deutsch-israelische Gemeinschaftsprojekte, gefördert von der Stiftung Volkswagenwerk 19.1 Notationsmöglichkeiten für elektronische Musik 19.2 Spieltheorie in der ökologischen Forschung 19.3 Feste Teilchen in strömenden Gasen oder Flüssigkeiten 19.4 Zur Rezeption jüdischer Geschichte im modernen Israel 19.5 Beitrag zum schadstoffarmen Ottomotor 19.6 Zur Diagnostik von Verbrennungsprozessen 19.7 Optische Untersuchungsmethoden zur Halbleiterforschung 19.8 Zur Verbrennung von Dieselkraftstoff

XVI

Inhaltsübersicht über Band 8

20

Eine Darstellung des Bundesministeriums f ü r Forschung und Technologie zur wissenschaftlich-technologischen Zusammenarbeit mit Israel

21

„Jettchen Geberts Kinder" - Eine Ausstellung des Leo-Baeck-Instituts in Bonn

22

Die Fritz-Naphtali-Stiftung in Israel

23

Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Israel über die Errichtung einer Stiftung für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung 23.1 Der Wortlaut des Abkommens 23.2 Zur Arbeit des Kuratoriums

24

Neue historische Reihe der Universität Tel Aviv beim Bleicher-Verlag: Ein Gespräch mit Heinz Bleicher

25

Ein fotographisches Porträt von Israel

26

„Die Palästinenserin": Diskussion im Westdeutschen Fernsehen über die Inszenierung von Peter Eschberg

27

Das israelische Philharmonische Orchester in Bonn

28

Europatagung der Freundesgesellschaften der Hebräischen Universität Jerusalem in Frankfurt

29

Honorary Fellowship an die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Annemarie Renger, und an den Staatsminister Lutz Stavenhagen verliehen

30

Die Zusammenarbeit der Fritz Thyssen Stiftung mit Israel 30.1 Aus dem Jahresbericht 1975/76 30.2 Aus dem Jahresbericht 1977/78 30.3 Aus dem Jahresbericht 1978/79 30.4 Aus dem Jahresbericht 1979/80 30.5 Aus dem Jahresbericht 1980/81 30.6 Aus dem Jahresbericht 1981/82 30.7 Aus dem Jahresbericht 1982/83 30.8 Aus dem Jahresbericht 1983/84 30.9 Aus dem Jahresbericht 1984/85 30.10 Aus dem Jahresbericht 1985/86 30.11 Aus dem Jahresbericht 1986/87

31

Daimler Benz unterstützt Projekte in Israel 31.1 Zusammenstellung der geförderten wissenschafdichen Projekte 1973-1987 XVII

Inhaltsübersicht über Band 8 31.2 31.3

Konzertreise des Bundesjugendorchesters 1986 nach Israel 51.2.1 Ein Gespräch mit Rita Süssmuth 31.2.2 Ein Gespräch mit Dr. Gottschalk von Daimler Benz Der Gottlieb-Schumacher-Lehrstuhl an der Universität Haifa 31.3.1 Historischer Hintergrund 31.3.2 Die Ansprachen bei der Einweihung 31.3.3 Ein Gespräch mit Alex Carmel über die Bedeutung des Lehrstuhls 31.3.4 Finanzielle Beteiligung des Landes Baden-Württemberg

32

T h e International Center for Peace in the Middle East

33

Friedrich-Ebert-Stiftung: 20 Jahre Friedensarbeit für Israel

34

Die Jerusalem Foundation — Ein Gespräch mit Ministerpräsident Bernhard Vogel am 26.2.1988

35

Eine Briefmarkenausstellung im Siegburger Rathaus zum 40jährigen Jubiläum des Staates Israel

36

Deutsch als Wahlfach an Israels Schulen

37

Statistische Übersicht über Humboldt-Stipendiaten aus Israel

38

Städtepartnerschaften zwischen der Bundesrepublik und Israel

39

Das Forschungszentrum Ben Gurion in Sde Boker - Ein Gespräch mit dem Leiter, Asher Ben Natan

40

Neue deutsch-israelische Kulturkonsultationen 40.1 Interview mit Ministerialdirektor Witte, Leiter der Kulturabteilung im Auswärtigen Amt 40.2 Der Text des Abkommens

Jugendaustausch 1

Entstehung und Entwicklung des deutsch-israelischen Jugendaustausches

2

Deutsche Jugendgruppen 1964 in Israel

3

Die Gesellschaft f ü r christlich-jüdische Zusammenarbeit veranstaltet 1965 eine Israelreise mit zwei Jugendgruppen

XVIII

Inhaltsübersicht über Band 8

4

Über 450 Lehrer und Schüler aus Köln besuchten Israel zwischen 1960 und 1965

5

Ein Interview mit Bruno Heck, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, über den Jugendaustausch mit Israel

6

Richtlinien für den Jugendaustausch zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel

7

Erste offizielle Schülergruppe aus Israel in der Bundesrepublik

8

Weiterer Ausbau des deutsch-israelischen Jugendaustausches

9

Konferenz über Fragen des Jugendaustausches in Israel

10 Zehn Jahre Jugendaustausch Köln - Tel Aviv 11 Tagungen der gemischten Fachkommission für den deutsch-israelischen Jugendaustausch 11.1 Die 1. Tagung in Tel Aviv 1969 11.2 Die 3. Tagung im Mai 1971 11.3 Israelische Kritik am Programm des Jugendaustausches 12 Neuer Start im Jahre 1972 13 „Sonderregelung für die Förderung von Programmen des deutschisraelischen Jugendaustausches in der Bundesrepublik Deutschland" — Erlaß des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit für das Haushaltsjahr 1972 14

Nach dem Yom-Kippur-Krieg: Die Jugendarbeit mit Israel beginnt wieder

15

Kritik von deutschen Verbänden

16 Gemeinsame Bestimmungen für die Durchführung und Förderung des Jugendaustausches vom Gemischten Fachausschuß 17 Die internationale Jugendarbeit der Evangelischen Kirche Deutschlands 18 Die überarbeitete Fassung der Grundlagen des deutsch-israelischen Jugendaustausches 19 „Jugend und Jugendarbeit in Israel. Versuch einer Darstellung von Hermann Sieben": Auszüge aus einer Broschüre des IJAB XIX

Inhaltsübersicht über Band 8 20

Auszüge aus dem Bericht des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit über Maßnahmen der internationalen Jugendarbeit

21

Israelische Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland 1986 21.1 Israelische Schüler in Bonn 21.2 Gymnasiasten aus Kiriat Chaim in Mannheim 21.3 Junge Israelis in Freiburg

22

Einweihung der Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz

23

„Bewältigung der Zukunft — Erinnerung an die Vergangenheit — Zukunft für unsere Jugend": Der Vortrag von Vizepräsident Westphal bei der Frankfurter Loge von B'nai-B'rith am 24.2.1987

24

Tagung des Gemischten Fachausschusses f ü r den deutsch-israelischen Jugendaustausch

Namensregister

xx

Einleitung Die letzten drei Bände meiner achtbändigen Dokumentation über den deutschisraelischen Dialog sind den kulturellen Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern gewidmet. Der kulturelle Austausch, die Wiederannäherung zwischen Juden in Israel, den wenigen in der Bundesrepublik lebenden und den Deutschen auf dem sensiblen Gebiet der Kultur, gehörte von Beginn an zum schwierigsten, was an Verständigungsarbeit zu leisten war. Lassen Sie mich mit einem Erlebnis beginnen, das sich mir tief eingeprägt hat. Auf meiner ersten Reise nach Israel in den Ostertagen 1954 besuchte ich Shave Zion und traf dort Dr. Simmenauer. Der Empfang in seinem Haus war sehr herzlich. Wir saßen in seinem Wohnzimmer, umgeben von Büchern, die er wie seinen Flügel aus Deutschland mitgebracht hatte. „Wissen Sie, wir deutschen Juden haben unsere Häuser gewissermaßen um unsere Bibliotheken und den Flügel herumgebaut. Diese Dinge haben immer zu unserem Leben gehört." Es waren hauptsächlich Bücher und Musik, die die Menschen in ihre neue Heimat begleitet hatten. Dr. Simmenauer sprach mit mir lange über den Neubeginn in Palästina, das nun ihr Staat Israel geworden war. Er sprach von den Anfängen im neuen Staat, von den arabischen Angriffen auf ihre Siedlung, aber auch über die Kraft, die sie aus ihren Büchern und aus der Musik schöpfen konnten. Immer wieder erzählte er von den Angriffen aus den nahe gelegenen Wäldern, immer wieder aber auch von der Hoffnung auf Frieden — und der Realität des Krieges. Warum beschreibe ich diese Szene so ausführlich? Der erste Besuch in Shave Zion bestimmte für mich das Bild jener Anfangsjahre, und bei all meinen späteren Besuchen in den darauffolgenden Jahren stand mir dieses Gespräch mit Dr. Simmenauer als ein Symbol für die Atmosphäre dieser Zeit vor Augen. In den Monaten des Eichmann-Prozesses bin ich einige Male aus den Sitzungen geflohen, als mir die Schilderung der Verbrechen zu nahe ging. Ich suchte einen Ausgleich in der Weite und Ruhe der Wüste oder bei den Schönheiten byzantinischer Baukunst. Man mußte sich wieder ins Gedächtnis rufen, daß das, was sich im Gerichtssaal abspielte, nicht alles war, was an deutsch-israelischen Verbindungen bestand und daß darüber hinaus viel Positives aufgebaut worden war. Viele Menschen hatten nach dem Krieg ihr Land verlassen, um in Israel eine neue Heimat zu finden. Viele von ihnen haben sie tatsächlich gefunden, aber einige konnten nach den Jahren der Flucht keine Wurzeln mehr schlagen. Sie waren in windigen Booten gekommen, sie waren von englischen Mandatstruppen wieder nach Zypern zurückgeschickt worden und hatten dort oft wieder Jahre in Lagern hinter Stacheldraht verbracht, bevor sie sich in Israel niederlassen konnten. Diese Situation muß man sich vor Augen halten, wenn man über die Anfänge des kulturellen Austausches mit Israel berichten will. Der junge israelische Staat mußte sich natürlich zuallererst wirtschaftlich und politisch konsolidieren. XXI

Einleitung

Aber das kulturelle Leben in Israel war von Anfang an geprägt von dem, was die Einwanderer aus ihren Heimatländern mitgebracht hatten. Die hebräische Sprache bildete nach und nach nicht zuletzt über Literatur und Theater die Klammer, die das Land mit seinen aus so unterschiedlichen Herkunftsländern stammenden Menschen zusammenhielt. Junge Musiker, und nicht n u r die mit deutschem Elternhaus, spielten Bach, Beethoven und Mozart und fanden so eine gemeinsame Sprache. Diese jungen Menschen mit ihren Musikinstrumenten und Partituren, die sie meist noch aus ihren Heimatländern mitgebracht hatten, gehörten zu den ersten Eindrücken bei meinen Reisen durch Israel. Dieser letzte, dem kulturellen Austausch gewidmete Teil meiner Dokumentation des deutsch-israelischen Dialoges enthält fünf große Kapitel über unsere kulturellen Verbindungen mit Israel. Das erste und umfangreichste Kapitel ist der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gewidmet, wie sie die Bundesrepublik nun schon seit ihrer Gründung beschäftigt. Nichts kann über den deutsch-israelischen Dialog gesagt werden, ohne daß man diesen Hintergrund berücksichtigt. Band 7 wird die Kapitel „Judentum und Christentum", „Juden und Judentum in der Bundesrepublik" und „Antisemitismus und Neonazismus in der Bundesrepublik" enthalten.Vor 1933 waren 550 000 Juden in den Gemeinden Deutschlands registriert, heute leben nur noch ca. 28 000 in der Bundesrepublik, Überlebende aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und die wenigen, die nach dem Krieg zurückkamen, um noch einmal auf deutschem Boden ein neues Leben zu wagen. Zu diesen wenigen gehörte Karl Marx, der Begründer der „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung". Obwohl also kaum noch Juden in der Bundesrepublik leben, gibt es einen offenbar unausrottbaren Antisemitismus in diesem Land, der weitgehend ein „Antisemitismus ohne Juden" ist. Der „deutsch-israelische Austausch in Kunst und Wissenschaft" und der „Jugendaustausch", die im Zentrum des letzten Bandes der Dokumentation stehen, zeigen die mittlerweile bis zur Unüberschaubarkeit angewachsenen Verbindungen zwischen Israel u n d der Bundesrepublik im Bereich der Kunst und der Wissenschaft und die zahlreichen Aktivitäten beider Länder zur Zusammenführung der Jugend. Die Konzertreisen israelischer Künstler nach Deutschland und deutscher Musikgruppen nach Israel lassen sich gar nicht mehr vollständig wiedergeben. Eine Reihe von deutschen Stiftungen arbeitet mit israelischen Wissenschaftlern zusammen, deutsche Wissenschaftler besuchen israelische Universitäten, forschen und lehren dort, israelische Wissenschaftler sind zu Gast in der Bundesrepublik, gemeinsame Forschungsprojekte werden von Stiftungen beider Länder gefördert. Aber erstjetzt, im Juli 1989, ist ein Kulturabkommen zwischen der Bundesrepublik und Israel abgeschlossen worden. Ein Thema, das mir besonders am Herzen liegt, ist der Jugendaustausch. Die Jugend wird die Art und Weise bestimmen, wie in Zukunft die Beziehungen zwischen unseren Ländern aussehen werden. Sie ist weitgehend frei von den belastenden Erfahrungen der Vergangenheit, und es hat sich gezeigt, daß schon jetzt die Jugendlichen oft mit einer gewissen Unbekümmertheit über die Gräber und XXII

Einleitung Gräben hinweg neue Wege des Austausches und des Zusammenlebens gefunden haben. Wenn ich zurückschaue auf meine fast neunzig Israelreisen, die ich seit dem J a h r 1954 unternehmen konnte, und auf die Fülle meiner Erlebnisse, dann muß das, was ich davon in dieser Dokumentation festhalten konnte, notgedrungen fragmentarisch erscheinen. Und doch hat das wenige nun acht Bände gefüllt, und ich bin dankbar, daß ich so umfassend über den deutsch-israelischen Dialog berichten konnte. Auch in Zukunft wird der Staat Israel ein wichtiger Faktor meines täglichen Lebens sein.

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Der deutsch-israelische Dialog Teil III: Kultur Band 6

Die bundesrepublikanische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

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Kritische Sendungen zum Nationalsozialismus und Antisemitismus im ZDF. Ein Beitrag von Prof. Dr. Holzamer, Intendant des ZDF

Am 20. November 1963 wurde vom Zweiten Deutschen Fernsehen der jugoslawische Spielfilm „Der neunte Kreis" gebracht. Er behandelte das Thema der Judenverfolgung in Jugoslawien. Bei 56% der Zuschauer und bei 5 360 000 einzelnen Fernsehern wurde der Film mit +5 überdurchschnittlich gut beurteilt. Charakteristisch sind aber bestimmte Zuschaueräußerungen zu diesem anklagenden und aufrüttelnden Film. So heißt es in einem Brief: „Ich sah gestern mit meiner Jugendgruppe den Film ,Der neunte Kreis'. Der Film war nicht schön, das kann man sagen, denn er war viel zu ernst und traurig. Aber wir alle waren tief beeindruckt und erschüttert. Die allgemeine Meinung war die: Solche Filme müssen öfter kommen. Selbst der Vorlauteste wurde nachdenklich. Der Film hat in uns allen noch mehr die Wachsamkeit und das Interesse an der Politik geweckt. Wir danken Ihnen, daß Sie diesen Film gebracht haben. Er war seit Monaten der beste Film im Zweiten Deutschen Fernsehen." Neben dieser erfrischenden Stellungnahme junger Menschen werden aber auch, wie sollte es anders sein, bedenklichere Stimmen laut: „Ich möchte Ihnen sagen, daß mich der Inhalt dieses Filmes anekelte, so daß ich bald das Fernsehen abschaltete. So, wie es doch wohl jedem normalen Menschen widerstrebt, daß derartige Dinge noch einmal geschehen, sollte man dieses Thema doch nicht immer wieder aufwärmen. Diese Filme sollte man als Dokumentarfilme zu gegebener Zeit bringen und nicht als Spielfilm. Nach diesem Film hat es mich angewidert, Deutscher zu sein." Das letztere Zitat darf allerdings in seiner Bedeutung nicht überschätzt werden. Nur 14% der Zuschriften äußerten sich in ähnlicher Weise, alle anderen zeigten ihre Absender tief beeindruckt. In der Woche der Brüderlichkeit brachten wir in diesem Jahrejeweils am 9.3., am 11.3. und am 14.3. drei Fernsehspiele: „Akte Wiltau", „Zwei Tage von vielen" und „Geheimbund Nächstenliebe", in denen Judenverfolgung, aber auch Hilfe für verfolgte Juden in vereinzelten Fällen dargestellt wurden. Vielleicht darf ich auch an diesen Beispielen durch einige Briefzitate einen gewissen Einblick in die Aufnahmebereitschaft unseres Publikums für derartige Themen eröffnen. So schreibt ein Studienrat: „100 Prozent des heutigen Deutschland verurteilen alles das, was am Jüdischen Volk' geschah. Aber mit dieser Einsicht muß man sich auch einmal zufrieden ge4

1 Kritische Sendungen zum Nationalsozialismus und Antisemitismus im ZDF

ben. Wir haben bereut und zahlen mit Wiedergutmachung in Milliarden, was 12 Jahre verschuldeten. Was ich dem 2. Programm nur als 100%iges Plus ankreiden möchte, ist das, daß es versuchte, allen seinen Teilnehmern gerecht zu werden." Gereizter klingt es schon in einer anderen Zuschrift: „Die danach einseitige Darstellung der von nur wenigen entarteten Deutschen begangenen Verbrechen bei Verschweigen der vielen von anderen Völkern begangenen Verbrechen führt zu einer permanenten Herabwürdigung des deutschen Volkes. Das empfinden sehr viele." Während der folgende Brief verständnisvoll ist: „Die Sendungen zur ,Woche der Brüderlichkeit' haben Sie dankenswerterweise sehr eingehend vorbereitet. Die ,Akte Wiltau' war eindringlich. Auch wenn viele sagen, ,nun laßt doch endlich die alten Geschichten ruhen, einmal muß doch Schluß sein'. Es muß aber immer wieder auf die Zeit der Finsternis hingewiesen werden und daß es auch da .Menschlichkeit' gab." Bemerkenswert ist es, wie in dem folgenden Schreiben die Dankbarkeit für eine gewisse Selbstbeschwichtigung ausgedrückt wird: „Die Sendungen im Rahmen der ,Woche der Brüderlichkeit' am Montag und Mittwoch haben sicher auf alle Zuschauer einen tiefen Eindruck gemacht. Nicht nur das satanisch Zerstörende, sondern vor allem wurde der mutige Einsatz überzeugter Christen deutlich. Vielen Dank." Die jungen Leute aber sind derartigen Sendungen gegenüber durchweg aufgeschlossener als die ältere Generation: „Ich sage, daß man es unserer Jugend nicht vorenthalten soll, was damals passiert ist. Ihre Sendung war so faszinierend, daß es mir nicht in den Sinn kam, trotz Drängens meiner Eltern, das 1. Programm, den Kommödienstadel, einzuschalten. Solche Sendungen kann man nicht oft genug ansehen." Auch hier darf ich wieder hinzufügen, daß die Briefe die ganze Aufnahmeskala in unserem Publikum illustrieren sollen. Zur gerechten Bewertung dieser Stimmen darf ich an dieser Stelle auch daraufhinweisen, daß die negativen Zuschriften nur 16% des sich auf diese Fernsehspiele beziehenden Posteingangs ausmachen. Die „Akte Wiltau" hatte eine Beteiligung von 31%, das sind 3 720 000 Zuschauer, sie erfuhr sogar eine besonders günstige Indicierung mit +7. In ähnlicher Höhe bewegten sich die Zuschauerzahlen für die beiden weiteren Spiele, obwohl bei diesen die Index-Zahl etwas gesunken war. Diese Beispiele zeigen, daß unser Publikum, wenn man es mit Takt, Menschlichkeit und künstlerischer oder journalistischer Darstellungskraft anspricht, durchaus auf diese schweren und belastenden Themen der Vergangenheit unse5

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

res Volkes anzusprechen ist. Der von mir gebrauchte Ausdruck ,Takt' schließt allerdings auch die Notwendigkeit ein, daß dieses Thema keinen stereotypen Charakter annimmt. Nur von Fall zu Fall will der Fernseher mit zeitgeschichtlichen Themen angesprochen werden. Aus diesem Themenbereich aber können die Fragen, die sich auf die nationalsozialistische Vergangenheit und das deutsch-jüdische Verhältnis beziehen, auch nur einen bestimmten Ausschnitt bilden. Immerhin haben wir mit den hier angesprochenen Sendungen eine Durchschnittszahl von 3 Millionen Zuschauern mit dem guten Durchschnittswert von +5 erreicht. Über die nationalsozialistische Zeit haben wir zwei Dokumentationen, sechs Filme, ein Schauspiel, sieben Kommentare, Magazinsendungen, Interviews und drei Fernsehspiele gebracht mit insgesamt 1 380 Sendeminuten. Die Reihe unserer sich mit der jüdischen Frage beschäftigenden Dokumentationen wurde von der von dem israelischen Regisseur Ben-gavriel gestalteten Sendung „Die Wüste kapituliert" eingeleitet. Da wir damals noch nicht so viele Zuschauer hatten, betrug ihre Zahl bei dieser Sendung zwar nur 1 660 000. Der Film konnte aber unser Publikum mit seiner Darstellung der jüdischen Pionierarbeit in der Wüste Negev so faszinieren, daß er eine für Dokumentationen höchstmögliche Index-Bewertung von +7 erfuhr. Insgesamt machen die Dokumentationen zur engeren jüdischen Frage 7 aus, ein Spielfilm ist in dieser Reihe anzuführen und eine Magazinsendung, sowie ein Fernsehspiel, so daß dieser Themenbereich insgesamt 502 Sendeminuten umfaßt. Über Auschwitz und die hiermit zusammenhängenden NS-Prozesse berichtet eine Dokumentation und ein Kommentar. In 15 längeren Magazinsendungen und Nachrichtenfilmen wurde dieses Thema im Zusammenhang mit unseren täglichen Nachrichten angeschnitten. Ich glaube, ich kann behaupten, daß nationalsozialistische oder die NS-Zeit verherrlichende Filme nicht nur in der von mir geleiteten Anstalt, sondern überhaupt in deutschen Fernsehanstalten nicht gezeigt worden sind. Die Verbrechen der Vergangenheit sind so ungeheuerlich, daß sie eigentlich den Rahmen der Empfindungsmöglichkeit durchschnittlicher Menschen übersteigen. Wer die soziologischen und psychologischen Voraussetzungen der nationalsozialistischen Herrschaft näher untersucht, dem wird rasch klar, daß das Versagen der breiten Schichten in dieser Prüfung mehr aus Indolenz und allgemeiner Gleichgültigkeit besteht, der auf der anderen Seite die fanatische Aktivität einer entschlossenen Minderheit gegenübergestellt wird. Die Diktatur ist nun durch die weltgeschichtlichen Katastrophen beseitigt worden. Geblieben aber ist nach wie vor eine gewisse beklagenswerte politische Indolenz des deutschen Volkes. Erst wenn diese überwunden werden kann, dürfte das eintreten können, was wir Bewältigung der Vergangenheit nennen. Das Fernsehen wird sich stets seiner Verantwortung bewußt sein, an einem solchen Prozeß mitwirken zu können.

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Der Kampf um die Erhaltung der KZ-Gräber 1952-1965

28. Mai 1952 Im Bundesgesetzblatt wird das „Kriegsgräber-Gesetz" veröffentlicht. Es bestimmt: „Kriegsgräber sind die Gräber der deutschen und ausländischen Zivilpersonen, die durch unmittelbare Kriegseinwirkungen im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren haben." (§ 1, 1,3) „Kriegsgräber werden dauernd erhalten." (§ 4,1) 3. April 1953 Im „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung" nennt ein Artikel über die „Menschenverluste zweier Weltkriege" als Zahl der Toten des zweiten Krieges: fünfundfünfzig Millionen und bestätigt ausdrücklich, daß die KZ-Toten als „Opfer des totalen Krieges" gelten. Mai 1960 Vorläufige (unvollständige) Aufstellung über KZ-Gräber in Baden-Württemberg. 23. August 1960 „Stuttgarter Zeitung" berichtet über „Die vergessenen Gräber der Namenlosen". 9. November 1960 Innen-Ministerium Baden-Württemberg unterrichtet Hilfsstelle über rechtliche Lage (KZ-Gräber sind nicht gesetzlich geschützt, nur ein Teil genießt den Schutz von internationalen Verträgen). Frühjahr 1961 Hilfsstelle bemerkt, daß keine Stelle der Bundesrepublik eine Übersicht über die noch erhaltenen KZ-Gräber besitzt. Gleichzeitig erfahren wir, daß bei den Beratungen des Kriegsgräber-Gesetzes im Jahre 1952 eine rechtliche Gleichstellung der KZ-Gräber mit den Soldatengräbern unterblieben sein soll, „weil man meinte, die finanziellen Belastungen einer solchen Behandlung nicht übersehen zu können." Mai 1961 Bundesinnenministerium behauptet gegenüber dem Innenministerium von Baden-Württemberg, der Geschäftsführer dieser Hilfsstelle sei in Bonn gewesen und habe sich über den Zustand der KZ-Gräber in Baden-Württemberg beschwert. 7

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit November 1961 Ein Bonner Rundfunkreporter versucht festzustellen, wer für die Erhaltung der KZ-Gräber zuständig sei. Antwort in Bonn „Darüber weiß z. Zt. niemand Bescheid; ein Abgeordneter der Opposition, der einiges wußte, ist kürzlich gestorben." 8. Dezember 1961 Landtag von Baden-Württemberg bittet die Regierung „sicherzustellen, daß den Gräbern von KZ-Opfern des Dritten Reiches und von Fremdarbeitern der gleiche zeitliche Schutz, wie er für Kriegsgräber gilt, eingeräumt wird." 17. April 1962 Bundesinnenministerium behauptet, der Tod der KZ-Häftlinge ist „nicht unmittelbar durch Kriegseinwirkungen verursacht" - diese Gräber entsprechen nicht dem „traditionellen Kriegsgräber-Begriff des Ministeriums. Eine Gleichstellung der KZ-Gräber mit den Soldatengräbern ist „verfassungsrechtlich nicht zulässig." 18. Mai 1962 Die Innenminister der Länder beschließen, sich für die Erhaltung aller Kriegsgräber (also auch der KZ-Gräber) einzusetzen. Juli 1962 Alle Länder der Bundesrepublik haben der Hilfsstelle Unterlagen über die noch erhaltenen Grabstätten von KZ-Opfern zugesandt. 4. September 1962 Presseberichte über die Zusage des Bundesinnenministeriums, das einen GesetzEntwurf über den Schutz der KZ- und Fremdarbeiter-Gräber (Kriegsgräber nach § 6) ausarbeiten und „im Oktober oder November" dem Bundeskabinett zustellen wolle. Januar 1963 Ein westdeutsches Innenministerium hat festgestellt, daß „Rechtsträger der Friedhöfe jetzt schon Kriegsgräber nach § 6 KGG aufgelassen haben, da die gesetzliche Liegezeit in vielen Fällen abgelaufen ist und die Gräber ungepflegt blieben." Juni 1963 Innenminister der Länder setzen sich für eine Ergänzung (Novellierung) des Kriegsgräbergesetzes ein; Gräber von Opfern des Dritten Reiches sollen erhalten werden.

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2 Der Kampf zur Erhaltung der KZ-Gräber 3. Januar 1964 SPD-Fraktion bringt im Bundestag Entwurf für Novellierung des Kriegsgräbergesetzes ein, wodurch KZ-Gräber dauernd erhalten werden können (Entwurf ist von den Innenministern der Länder ausgearbeitet worden). 7. Februar 1964 Bundesregierung übersendet dem Bundesrat den Entwurf eines „Gesetzes über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft" (Gräbergesetz). Inhalt (u. a.): 1. Gräber von KZ-Toten werden Soldatengräbern gleichgestellt. 2. Gräber von Fremdarbeitern sollen bis 1975 erhalten werden. 3. Bund übernimmt nur Kosten für Gräber von Soldaten des Zweiten Weltkrieges und Bombenopfern — Länder sollen Kosten für Gräber des 1. Weltkrieges und KZGräber tragen. 28. Februar 1964 Bundesrat lehnt Gräbergesetz ab (weil Bundesinnenministerium Kosten weitgehend auf die Länder abwälzen will). 18. August 1964 Bundesregierung bringt den vom Bundesrat abgelehnten Entwurf im Bundestag ein — und läßt in Anlage 3 ihre Bereitschaft erkennen, die Kosten für die Erhaltung der KZ-Gräber zu übernehmen. 11. Dezember 1964 Innenausschuß des Bundestages berät (lt. Zeitungsnachrichten) die beiden Entwürfe und erklärt es als moralische Pflicht des ganzen Volkes, das Ruherecht für diese Gräber nicht nur finanziell, sondern auch rechtlich zu sichern. 8. April 1965 Bundestag beschließt einstimmig neues „Gräbergesetz". Alle Grabstätten von Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft erhalten denselben gesetzlichen Schutz (dauerndes Ruherecht) wie Soldatengräber. Grundgesetz wird deshalb geändert. Kosten für die Erhaltung der Gräber trägt der Bund. 30. April 1965 Bundesrat stimmt der Neuregelung zu. Diese Zusammenstellung stammt von der Hilfsstelle für Rasseverfolgte bei der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart.

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Zwanzig Jahre danach — Begegnungen 1965

Frühjahr 1965. Eine Delegation des „Comité International des Camps" Männer und Frauen aus Belgien, Großbritannien, Israel, den Niederlanden, Norwegen und Österreich, die in zahlreichen deutschen Konzentrationslagern furchtbare J a h r e verbrachten, hatten sich in Deutschland getroffen, um nach 20 J a h r e n im Gedenken an ihre damalige Befreiung eine Wallfahrt zu ihren Leidensstätten zu machen. Ich traf diese Männer und Frauen in Bonn, wo sie von Bundespräsident Dr. h. c. Heinrich Lübke und Bundestagspräsident Dr. Eugen Gerstenmaier empfangen wurden. Und ich traf sie wieder auf dem Gelände des Konzentrationslagers Dachau, wo sie zusammen mit Jugendlichen des Bayerischen Jugendringes eine Gedenkstunde hielten an dem Tag, an dem sich vor 20 Jahren die Tore des Grauens öffneten. Unter den Männern und Frauen, die gekommen waren, stand der weißhaarige Pressechef des Straßburger Europarates, PaulM. G. Levy, der vor 20 Jahren als Kriegsberichterstatter der Alliierten die amerikanischen T r u p p e n in das Lager gerufen hat. Und neben ihm sah man Hermann Langbein, einen der prominentesten Häftlinge des Vernichtungslagers Auschwitz, den man bei dem Frankfurter Auschwitz-Prozeß an jedem Verhandlungstag auf der Tribüne sah. Mit beiden hatte ich ein Gespräch. Und beide drückten das aus, was wohl das Wichtigste f ü r diesen Deutschland-Besuch ihrer Delegation war: die Begegnung mit der deutschen J u g e n d . Herr Levy formulierte es folgendermaßen: „Wir haben nicht nur die Leidensstätten besucht, sondern sind der deutschen Jugend begegnet. Das war sehr wichtig, um zu sehen, wie sie das Furchtbare heute interpretiert, damit sich derartige Grauen nicht wiederholen. Europa zu einen und zu sichern, das ist genau das, was wir damals gedacht haben, als wir an einen Weltfrieden glaubten, als wir den Weg in die Freiheit antraten." Und Hermann Langbein ergänzte diese Worte, wenn er sagte: „Wir haben mit der deutschen Jugend gesprochen, der wir nicht den Schatten eines Vorwurfs f ü r das machen, was wir erlitten haben. Sie waren damals Kinder oder noch gar nicht auf der Welt. In aller Freundschaft sagen wir dieser Jugend, daß sie besonders darauf achten muß, daß sich diese Greuel nicht wiederholen dürfen. Das war d e r Sinn unserer Gespräche. Wir haben in verschiedenen Städten mit deutschen Jugendorganisationen solche Aussprachen durchgeführt und ich muß sagen, daß diese Gespräche recht zufriedenstellend waren. Sie sagten uns: Kommt häufiger, helft uns, wir wollen wissen." 20 J a h r e danach. Nicht nur Delegationen ehemaliger Häftlinge kommen nach Deutschland. 20 J a h r e danach ist es möglich, daß j u n g e Israelis Deutschland besuchen. Es war nicht die erste Gruppe, die ich am Tage nach der Feierstunde in 10

3 Zwanzig Jahre danach — Begegnungen 1965 Dachau ebenfalls in Bayern traf. Der Bayerische Bundesjugendring hatte eine Delegation israelischer Jugendleiter eingeladen, die auf eine Einladung des Senators f ü r Jugend und Sport in Berlin nach Deutschland gekommen waren. Auch sie hatten Dachau besucht, aber sie hatten vor allem die heutige Jugendarbeit in Deutschland diskutiert und Gespräche in der Akademie f ü r Politische Bildung in Tutzing geführt, und mit Mitgliedern des Hauptausschusses des Bayerischen Jugendringes nicht zuletzt auch die Entwicklung von Gruppenfahrten von Israel nach Deutschland besprochen. UriNaaman sagte mir, daß trotz der Schwierigkeiten und Probleme, die man in Israel verstehen müsse, das Entscheidende sei, daß sie hier das Gefühl hätten, freundschaftlich mit den jungen Deutschen sprechen zu können. So wie diese j u n g e n Israelis, die nach den Tagen in Bayern zu einem längeren Aufenthalt nach Berlin flogen, sind schon mehrere Gruppen j u n g e r Menschen aus Israel in die Bundesrepublik gekommen. Sie werden—wie H e r r Naaman es im Gespräch sagte — die Gedanken, die sie hier aus den Begegnungen nahmen, weitertragen zur Verständigung zwischen der j u n g e n Generation in Israel und in Deutschland.

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Gründung eines „Internationalen Dokumentationszentrums zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen e.V."

„Am 29. August 1966 konstituierte sich in Berlin auf Initiative einer Gruppe von Historikern, Wissenschaftlern und Publizisten und im Einvernehmen mit Vertretern der Öffentlichkeit und der Religionsgemeinschaften der Verein .Internationales Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen e.V.* (IDZ). Die Gemeinnützigkeit des Vereins wurde vom Finanzamt für Körperschaften Berlin am 28. Februar 1967 anerkannt. Als Sitz des IDZ ist das Haus ,Am Großen Wannsee 56—58' in Berlin in Aussicht genommen. Dieses Haus ist weit über die Grenzen Deutschlands hinaus durch die sogenannte .Wannsee-Konferenz' vom 20. Januar 1942 - auf der die .Endlösung der Judenfrage' beschlossen wurde — bekannt und hat sozusagen exterritorialen Charakter. Von den Gründungsmitgliedern wurde der bekannte Schriftsteller und Historiker Joseph Wulf einstimmig als Vorstandsvorsitzender gewählt. Seine Vertreter, Peter Heilmann und Akademischer Oberrat Dr. Friedrich Zipfel, sind als Wissenschaftler an Berliner Hochschulen tätig. Folgende wesentliche Aufgaben hat sich das IDZ gestellt: 1. Erfassung und Sammlung des für den Forschungsgegenstand relevanten Dokumentationsmaterials aus dem In- und Ausland, insbesondere die Archivierung des Prozeßmaterials, das bei der Durchführung von Strafprozessen gegen Täter und Gehilfen des nationalsozialistischen Gewaltverbrechens anfällt. 2. Errichtung eines Forschungszentrums. Anschaffung der dafür erforderlichen Sachmittel und Einarbeitung eines entsprechenden Personalstabes. 3. Erteilung von Auskünften an alle interessierten Kreise über alle den Forschungsgegenstand betreffenden Fragen, Unterstützung von Forschungsarbeiten und Ausstellungen. 4. Aufbau einer umfassenden internationalen Bibliothek zu diesem Thema. 5. Aufbau eines Archivs und einer Bibliothek, die die Nachwirkungen des Nationalsozialismus und die Entstehung des sogenannten Neo-Nazismus nach 1945 betreffen. 6. Herausgabe wissenschafdicher Veröffentlichungen. Bis zu dem heutigen Tage existiert in der Bundesrepublik kein zentrales Institut, das sich einzig der Zeit von 1933 bis 1945 und ihren Folgeerscheinungen widmet. An verschiedenen Stellen in der Bundesrepublik, z. B. an den historischen Instituten der Universitäten, dem Institut für Zeitgeschichte in München, dem Bundesarchiv in Koblenz, werden zwar Arbeiten auf diesem Gebiet betrieben, aber 12

4 Gründung eines „Internationalen Dokumentationszentrums" die Zersplitterung und die Belastung durch andere Aufgaben setzen diesem Wirken Grenzen. Durch systematische Sammlung in- und ausländischer Archivalien auf Mikrofilm wird das IDZ diese Mängel beheben. Die Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen ist vornehmlich eine deutsche Aufgabe, die aber nur in enger Zusammenarbeit mit allen internationalen Archiven und Institutionen zu lösen ist. Organe des Vereins sind neben der Mitgliederversammlung: I. II.

Der Vorstand: Direktor Joseph Wulf, Peter Heilmann und Dr. Friedrich Zipfel, stellvertretende Direktoren. Das internationale Kuratorium, das das Dokumentationszentrum beraten wird.

Mitglieder: Prof. Dr. KarlJaspers, Basel (Ehrenvorsitzender) Gen.Lt. Wolf Graf von Baudissin, z. Zt. Paris Dr. Thomas Dehler, Bonn, Vizepräsident des Deutschen Bundestages (t) Prof. Dr. Leon Dujovne, Buenos Aires Prof. Dr. Alfred Grosser, Paris Gideon Hausner, M. K., Jerusalem Dr. Louis de Jong, Amsterdam Dr. Robert M. W. Kempner, Lansdowne, Pa./USA, u n d Frankfurt/Main Prof. Dr. Hans-Joachim Lieber, Rektor der Freien Universität Berlin Prinz Louis Ferdinand von Preußen Prof. Dr. Golo Mann, Zürich Rabbiner Hr. Joachim Prinz, Newark/USA Prof. DT. Jerzy Sawicki, Warschau Bischof D. Kurt Scharf, Berlin Prof. Dr. Arieh Tartakower, Jerusalem Dr. W. A. Visser't Hooft, Genf Prof. Dr. Robert Waitz, Straßburg Prof. Dr.Jacques Willequet, Brüssel III. Der internationale Förderer kreis, der die finanzielle Basis des IDZ schaffen soll, die nur durch Spenden von internationalen Institutionen und Persönlichkeiten möglich ist. Im Interesse einer unabhängigen wissenschaftlichen Arbeit soll der Kreis der Spender im In- und Ausland möglichst groß gehalten werden. Zusagen zur Unterstützung und zur Belassung von Materialien liegen bereits aus den USA, Frankreich, Israel und Polen vor. Die Förderer, die sich im Fördererkreis zusammenschließen, nehmen Einfluß auf die Tätigkeit des Dokumentationszentrums."

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Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Dieses Schreiben ist von dem Vorsitzender des Fördererkreises dieses Dokumentationszentrums, Alfred Neven Du Mont, und von dem Generalsekretär, Eduard Graf von Wickenburg, unterzeichnet. Ich habe es widergegeben, weil es das umreißt, was sich der Initiator und Direktor des Zentrums, Joseph Wulf, unter diesem Zentrum vorstellt. In den letzten Monaten gab es erregte Diskussionen in Berlin über die Frage, ob dieses Zentrum n u r in dem sogenannten „Haus der Endlösung" am Großen Wannsee seinen Sitz haben könnte. Wulf verteidigte diesen Gedanken. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Schütz, ist anderer Auffassung und hat dem Zentrum bereits zwei Grundstücke angeboten. Das Haus am Großen Wannsee ist jetzt anderweitig von der Stadt Berlin genutzt. Ich habe mich in den vergangenen Wochen mit einer Reihe von Historikern in der Bundesrepublik Deutschland und unseren Nachbarländern unterhalten, mit Männern, die seit Kriegsende ähnlich wie Wulf, nur nicht in erster Linie publizistisch, sondern wissenschaftlich, an die Materialsammlung und Bearbeitung von Dokumenten über diese furchtbare Epoche gegangen sind. Ich möchte an erster Stelle Simon Wiesenthal nennen, den ich in Wien sprach. Vor wenigen Tagen unterhielt ich mich auch mit dem Direktor des Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie, dem niederländischen Staatsarchiv f ü r die Kriegsdokumentation in Amsterdam, Professor Dr. Louis de Jong. Er hatte gerade an Joseph Wulf ein Telegramm gesandt, in dem er ihm seine ablehnende Haltung zu dem Vorhaben dargelegt hat, und er erklärte mir, Wulf würde von ihm noch einen ausführlichen Brief erhalten. Neben diesen ausländischen Gesprächspartnern traf ich in München f ü h r e n d e Herren des Instituts f ü r Zeitgeschichte, Dr. Martin Broszat, der als Gutachter in zahllosen NS-Prozessen in d e r Bundesrepublik in den vergangenen Jahren bekannt geworden ist, und den Archivar des Instituts, Dr. Hoch. Zweifellos beides Männer, die als Experten auf diesem Gebiet anzusehen sind. In den beiden Interviews, die ich mit Dr. Broszat u n d Dr. Hoch machte, kommen Gedanken zum Ausdruck, wie sie auch in den Gesprächen mit Simon Wiesenthal und Louis de Jong, die beide mit dem Münchner Institut f ü r Zeitgeschichte eng zusammenarbeiten, immer wieder geäußert wurden. Professor de Jong war der Meinung, daß man zweifellos ein Institut in Berlin errichten könne, aber man sollte ihm einen festumrissenen Forschungsauftrag einer Detailfrage zuordnen. Er hält es für unmöglich — genau wie meine Münchner Gesprächspartner — daß man eine vollständige Dokumentation der NS-Zeit in diesem Zentrum zusammenfassen könnte. Zur Unterstreichung dessen gab er mir einen Überblick über das Material, das allein in seinem Hause über die nationalsozialistische Zeit in den Niederlanden gesammelt wurde: 797,5 Meter Akten. Das heißt, das man etwa mit acht Millionen Blatt Dokumentenmaterial rechnen muß, wozu Professor deJong sagte, daß er allein 300Jahre benötigen würde, um diese Dokumente zu lesen. Eine umfangreiche Bibliothek, ein inzwischen sehr umfangreicher Katalog und allein 1 200 Tagebücher, von privaten Holländern während d e r Besatzungszeit geschrieben, gehören zu den zahlreichen Akten und Bildmaterialien im Archiv von Amsterdam. Neben dem von Professor de Jong geleiteten Dokumentationszen14

4 Gründung eines „Internationalen Dokumentationszentrums" trum gibt es noch eine Reihe anderer Sammelstellen für NS-Dokumente. Für die Bundesrepublik sind als wichtigste die folgenden Institute zu nennen: 1. 2

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Das Bundesarchiv in Koblenz. Das Institut für Zeitgeschichte in München, das gleichzeitig eine sehr intensive Forschungsarbeit betreibt und regelmäßig Veröffentlichungen herausbringt. Das Institut zur Geschichte zweier Weltkriege in Stuttgart. Das Militärhistorische Archiv in Freiburg. Das Zentralarchiv in Nürnberg, das sämtliche Unterlagen, Protokolle und Dokumente der Nürnberger Prozesse beherbergt. Die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes in Arolsen, wo 250 Personen nicht nur Karteikarten bearbeiten, sondern auch eine umfangreiche historische Abteilung angegliedert haben. Das amerikanische Document Center in Berlin, das ebenfalls für Forschungsaufgaben, wenn sie offizielle Unterstützung erhalten, zur Verfügung steht. Das Institut zur Erforschung des Nationalsozialismus in Hamburg. Die WAST, Wehrmachtsauskunftsstelle Berlin, in der eine große Anzahl von Mitarbeitern alle Unterlagen über ehemalige Wehrmachtsangehörige sammelt und bearbeitet. Die Wehrmachtsdokumenationszentrale in Kornelimünster.

Darüber hinaus gibt es in der Bundesrepublik etwa 30 Landesarchive der Bundesländer sowie große Aktenbestände der einzelnen Großstädte. Dazu kommen die verschiedenen Staatsanwaltschaften mit den Akten der NS-Prozesse, von denen noch über 700 zu erwarten sind. Professor de Jong hält es für ausgeschlossen, derartige Mengen von Akten in einem Hause, auch wenn sie auf Mikrofilme verarbeitet werden, zu sammeln. Er glaubt im übrigen, daß gerade das Jerusalemer Institut Yad Vashem viele der Arbeiten bereits durchführt, die in dem Programm Joseph Wulfs für das geplante Dokumentationszentrum in Berlin genannt werden. Ich möchte hierzu noch etwas erwähnen, was nicht von untergeordneter Bedeutung ist. Zu dem Arbeitskreis, den Joseph Wulf zusammengebracht hat, zählt auch Professor Dr. Friedrich Karl Kaul, der sich in all den Jahren „einen Namen" als Nebenkläger für Einwohner der Deutschen Demokratischen Republik bei den NS-Prozessen in der Bundesrepublik gemacht hat. Über Professor Kaul ließe sich ein ganzes Buch schreiben. Dr. Max Merten, der in Griechenland zu 25 Jahren Zuchthaus wegen der Beteiligung an der Deportation der jüdischen Bevölkerung von Saloniki verurteilt worden war, hat in einer gerichtlichen Einlassung erklärt, daß er mit Professor Kaul Interzonenhandel betreibe (Schreiben vom 14. September 1955 an den Herrn Kammergerichtspräsidenten Berlin-Charlottenburg, Aktenzeichen: Erlaß vom 20. August 1955 — 3 M. 192.D.KG). Der gleiche Professor Kaul hat den „Aufruf der jüdischen Bürger der DDR", der während der Nahost15

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Krise gegen Israel veröffentlicht wurde, mit unterschrieben. Sollen solche Kräfte für uns die „Wissenschaftler" sein, die an einem solchen Dokumentationszentrum in Deutschland arbeiten? Ich möchte nach diesen Bemerkungen Dr. Broszat und Dr. Hoch das Wort geben, weil ich glaube, daß man diese Diskussion aus der Emotion herausführen muß in die Betrachtung der nüchternen Möglichkeiten, ein derartiges Dokumentationszentrum in dem von seinen Initiatoren vorgesehenen Rahmen einzurichten.

4.1 Martin Broszat, Institut für Zeitgeschichte München, zur Institutsgründung Frage: Herr Dr. Broszat, wenn man die Liste der Institute und wissenschaftlichen Einrichtungen durchgeht, die sich nicht nur in Deutschland mit zeitgeschichtlicher Dokumentation befassen, dann erhebt sich die Frage, ob zu all den vorhandenen Institutionen, die zum großen Teil seit mehr als 20 Jahren, nämlich seit Ende des Krieges, arbeiten, die Notwendigkeit besteht, ein neues Dokumentationszentrum einzurichten. Wie sehen Sie es als Historiker, der seit Jahr und Tag mit Dokumenten wissenschaftlich arbeitet? Antwort: Lassen Sie mich zunächst ganz allgemein zu dieser Frage sagen, daß ich — und jeder von uns, der in dieser Arbeit steht — es natürlich begrüßen würde, wenn Komplexe, die bisher durch Personalmangel oder sonstige Gründe vernachlässigt werden mußten, jetzt auf irgendeine Weise bearbeitet werden könnten, notfalls auch, wenn dazu neue Institutionen gegründet werden müßten. Ich kann aber nicht einsehen, wenn sozusagen das, was schon besteht - wie es die Institute, Archive, auch teilweise die Forschung an den Universitäten seit Jahr und Tag bearbeiten — durch neue Institutionen dupliziert wird. Wir müssen an die Etats denken, an den öffentlichen Haushalt, aus dem ja alle diese Institute finanziert werden. Auch vom Standpunkt der Wissenschaft wäre das denkbar unrationell. Frage: Sie sind der Meinung, daß man nicht alles noch einmal neu sammeln sollte. Dadurch würde die Arbeit nicht erleichtert, sondern man würde Jahre oder Jahrzehnte benötigen, um das Material auf einen einheitlichen Nenner zu bringen. Eine erneute Zusammenfassung wird vor allen Dingen kein bisher unbekanntes Material bringen. Gibt es heute eine Möglichkeit mit technischen Mitteln eine Zentralkartei oder ein Zentralarchiv zu schaffen, wohin man sich wenden kann, wenn man ein bestimmtes Thema wissenschaftlich ergründen will; das Auskunft gibt über den Aufbewahrungsort bestimmter Dokumente? Antwort: In der Erörterung dieses Problems zur Gründung eines Institutes, dessen Aufgabe es sein soll, sämtliches Material aus der nationalsozialistischen Zeit 16

4 Gründung eines „Internationalen Dokumentationszentrums" an einer Stelle zu sammeln, stützt man sich auf das Argument — und zwar das einzige Argument, soviel ich bis heute übersehen kann —, daß bisher das Material an soundso vielen Stellen des In- und Auslandes verteilt, also nirgends zentral vorhanden war. Das ist natürlich ein Mißstand, aber er ist, wie ich es sehe, nicht zu beheben. Es wird f ü r keine Institution möglich sein, alles vorhandene Material irgendwo zu zentralisieren. Auch die Vorstellung, daß man dieses Material komplett fotografieren und Mikrofilme herstellen könnte, halte ich, ehrlich gesagt, f ü r absurd. Das kann eigentlich nur j e m a n d glauben, der dieses Material noch nie in Augenschein genommen hat. Man denke daran, daß z. B. im Bundesarchiv in Koblenz Hunderte von Metern Akten einer einzigen Behörde aus der NS-Zeit — nehmen Sie etwa das Reichsfinanzministerium — liegen. Sollen diese Hunderte von Metern jetzt fotografiert werden, zusammen mit den Akten Dutzender anderer Behörden aus dieser Zeit? Wer will sich dann mit den in die Hunderte gehenden Filmen auskennen, wer will sie durchlesen, durcharbeiten? Hier entstehen, wenn man an die konkrete Aufgabe denkt und man ins Detail geht, unüberwindliche Schwierigkeiten. Ich darf in diesem Zusammenhang sagen, daß es j a ein Grundsatz der historischen Forschung ist, daß sie aus den Aktenzusammenhängen herausarbeitet. Es hätte also keinen Sinn — und das haben schon viele Leute versucht — sozusagen die Creme der Dokumente sich irgendwie herauszusuchen. So ist es bei den Verfahren des Nürnberger Prozesses gewesen, man holt sich ein Prozent der wichtig erscheinenden Dokumente, dadurch gehen eigentlich die historischen Zusammenhänge verloren. Das heißt also, wenn man konzentriert, müßte man wirklich alles haben, um im Zusammenhang wirklich historisch arbeiten zu können. Frage: In diesem Zusammenhang noch eine Frage: Wenn man z. B. die mathematische Forschung oder die chemische Forschung, die in der ganzen Welt betrieben wird, als Beispiel nehmen würde, gibt es d a f ü r Zentralarchive, wo man den Gang der Kunststofforschung komplett verfolgen kann — das wäre n u r ein kleines Gebiet — oder gibt es d a auch Hinweise auf Amerika, auf Europa, auf Frankreich, England usw., und die Wissenschaftler informieren sich dann an diesen verhältnismäßig wenigen Orten. Ist es da nicht so? Antwort: Ja, das ist ein Problem der Dokumentation, des Nachweises „Wo". Das wird j a z. B. im Bundespatentamt gemacht, das einfach die Zentraldokumentation d e r naturwissenschaftlichen Forschung und der technischen Forschung auf allen möglichen Gebieten haben muß, um neue Entwicklungen erkennen zu können, u m ein Patent vergeben oder ablehnen zu können. Das ist ein Dokumentationsproblem, das alle Wissenschaftler in allen Disziplinen, aber gerade auch auf dem Gebiet der Zeitgeschichte betrifft: Wie ist es möglich, das Material, das nur hier ist, n u r dort oder an einer dritten Stelle ist, zentral zu erfassen? Es ist eine andere Frage — ich glaube nicht, daß es möglich ist — alles Material an einer Stelle zentral zu lagern, alle Unterlagen zu erfassen und in einem zentralen Katalog eventuell auch allgemein zur Verfügung zu stellen. Auch das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Zwischen den bestehenden Instituten f ü r Zeitgeschichte wird darüber schon seit längerem gesprochen. Die Anwendbarkeit moderner Computer17

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit systeme auf zeitgeschichtliche, d. h. aber auch auf geistesgeschichtliche Komplexe — die Historie ist nun einmal ein Gebiet der Geistesgeschichte — ist besonders schwierig, weil sie sich nicht ohne weiteres mathematisieren lassen. Mathematische Daten sind das Grundsystem des Computers. Die Wissenschaftler beschäftigen sich seit J a h r e n — u m nicht zu sagen seit einem Jahrzehnt—mit diesem schwierigen Problem der Verkartung von Mikrofilmen u n d Akten. Das erfordert in jedem Falle lebende Personen, die an diesen Filmen sitzen und sie Stück f ü r Stück, Seite f ü r Seite lesen. N u r dann können Schlagwörter ausgeworfen und einem Computer zugeführt werden. Diese geistige Arbeit, die alles das durchdenkt, ist in jedem Fall erforderlich, und wenn man sich einmal vergegenwärtigt, daß es sich um Tausende Meter von Akten handelt, dann braucht man gerade f ü r einen Computer hochqualifizierte Fachkräfte. Eine simple Faustrechnung würde ergeben, daß man, um dieses Problem zu bewältigen, einen Stab von 50 bis 60 Leuten benötigen würde, die auf Jahre hinaus in diesen Archiven sitzen. Das ist keine leicht zu bewältigende Angelegenheit. Ich glaube nicht, daß uns damit geholfen ist, wenn man ein neues Institut ins Leben ruft. Dieses Problem kann nur, wenn überhaupt, kooperativ zwischen den bestehenden Institutionen gelöst werden, die auf diesem Gebiet schon lange Erfahrungen haben. Frage: Vor allem sieht dieses neue, von Herrn Wulf geplante Institut einen Programmpunkt vor, der mit dieser Arbeit, die wir jetzt eben besprachen, überhaupt nichts zu tun hat: die Erforschung der Folgeerscheinungen des Nationalsozialismus in der heutigen Zeit. Das ist wiederum eine völlig andere Aufgabe, die auch bei uns von vielen Institutionen betrieben wird. Ich denke dabei an den Verfassungsschutz, ich denke an bestimmte Institutionen an den Universitäten, auch vom Staat her, um zu beobachten, was sich rechts oder radikal links von der Demokratie tut. Das ist etwas völlig anderes. Das kann man doch auch nicht miteinander verbinden. Antwort: J a und Nein würde ich zu dieser Frage sagen. Wir selbst, das Institut f ü r Zeitgeschichte, sind uns dessen bewußt, daß es auf die Dauer nicht nur unsere Aufgabe sein kann, etwa aus der Weimarer Zeit und der nationalsozialistischen Zeit zu arbeiten, sondern wir beziehen seit Jahren Dinge, die mit der Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik zusammenhängen, in unsere Forschungsarbeit ein. Ich würde sagen, da spielt natürlich die Kriegsfolgewirkung und auch im Konkreten die Folgewirkung des Nationalsozialismus eine Rolle. Aber wie wir die Themenstellung unseres Instituts auffassen, eben als eine auf die Epoche gerichtete, d. h. mit der Zeit des 1. Weltkrieges beginnende Beschäftigung, so könnte man auch zeitgeschichtlich in diesem weiteren Sinne über 1945 hinaus alles doch n u r sinnvollerweise auffassen als Beschäftigung mit dieser Zeit überhaupt und nicht in dieser Einschränkung auf Folgewirkungen des Nationalsozialismus. Ich würde das insofern f ü r eine viel zu einseitige Betrachtung halten. Daraus läßt sich die Existenz eines historischen Instituts nicht begründen.

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4.2 Der Leiter des Archivs, Hoch, zur

Neugründung

Frage: Herr Dr. Hoch, Sie leiten das Archiv des Instituts f ü r Zeitgeschichte in München. Wie sehen Sie als Archivar, der alle diese Dokumente, Bücher, Zeitungen, all diese Probleme zusammenfaßt in einem solchen Hause, das Problem eines neuen Instituts? Antwort: Ich darf zunächst einmal auf eine Bemerkung von Ihnen zurückkommen, nämlich den Vergleich der Dokumentation im naturwissenschaftlichen Bereich. Wir müssen eines ganz deutlich herausheben, daß es sich dort um eine Katalogisierung, um eine Dokumentation der Literatur handelt, und um keine Akten. Hier liegt ein ganz wesentlicher Unterschied. Die Naturwissenschaft hat Katalogsysteme entwickelt, die schon eine gewisse allgemeine gemeinsame Behandlung möglich machen, das ist auf geisteswissenschaftlichem Gebiet nicht möglich. Die „Gesellschaft f ü r Dokumentation" hat schon Ordnungssysteme entwickelt für den naturwissenschaftlichen, chemischen u n d medizinischen Bereich, aber nicht f ü r die Geisteswissenschaften. Diese beiden Momente muß man berücksichtigen. Zu der anderen Frage, ob es jetzt sinnvoll ist, in Berlin etwas Neues einzurichten, möchte ich vor allem ein Argument äußern: Es ist technisch nicht durchführbar. Einmal vom Standpunkt der Sammlung. Auch wenn Herr Wulf noch so viele Leute und noch soviel Geld bekommen würde, er wäre nicht in der Lage, das, was er in der Presse behauptet, durchzuführen, dieses Material zu sammeln; schon deshalb nicht, weil sich eine ganze Reihe von Archiven wahrscheinlich nicht bereit erklären wird, ihre ganzen Bestände verfilmen zu lassen. Den von ihm behaupteten Gesichtspunkt, er würde vom Osten Material bekommen, würde ich sogar als nicht beweisbar und irreführend ansehen. Ich möchte mich vorsichtig ausdrücken. Es ist in keiner Weise zu erwarten, daß er aus dem Osten die Bestände bekommt, die bisher dort liegen und selbst der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg n u r zu einem geringen Teil zugänglich gemacht werden. O b er eventuell vom Jüdischen Museum in Warschau etwas bekommt, das mag sein. Das ist aber wiederum nur ein ganz kleiner Teil und löst die Frage nicht, die er so gerne lösen möchte. Eine andere Frage ist — wenn man sich einmal eine kleine Rechnung aufmacht - , was das alles kosten würde, z. B. die Verfilmung. Wir haben jetzt in d e m großen amerikanischen Verfilmungsprojekt ungefähr 10 000 Mikrofilme, auf jeder Rolle ungefähr 13 000 Aufnahmen, das sind 13 Millionen Blatt Akten, die dort verfilmt sind. Die Beschaffung von Kopien würde allein ca. 300 bis 400 000 D-Mark kosten. Nun ist das aber n u r ein Teil. Es müßten die ganzen Bestände des Bundesarchivs, die ganzen Bestände des politischen Archivs des Auswärtigen Amtes verfilmt werden. Ein sehr wichtiger Gesichtspunkt, gerade f ü r Wulfs Fragestellungen: Wo müßten die Herren von den Staatsanwaltschaften hingehen, wenn sie die jüdischen Verfolgungsmaßnahmen in Griechenland oder in Rumänien untersuchen wollen? Sie müssen auch ins politische Archiv gehen, um zu sehen, was dort vorhanden ist. Dort ist viel vorhanden. Man müßte natürlich nach Potsdam ins Zen19

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit tralarchiv gehen u n d müßte versuchen, vom Osten die Unterlagen zu bekomm e n . Wenn m a n alles in allem ganz grob zusammenrechnet, o h n e d a ß ich mich da fesdegen kann: Viele Millionen wären als Startkapital notwendig. Das Material zu besitzen, das sagte schon mein Kollege Brosmt, heißt noch nicht, eine Dokumentation zu besitzen. H e r r WiiZ/bezeichnet das Institut als „Internationales Dokumentationszentrum". Wenn das Material gesammelt ist, so wie H e r r Dr. Zipfel in einer Leserzuschrift a n die W E L T gesagt hat, d a ß es eben an einer Stelle gesammelt werden sollte, was hat e r d e n n , wenn es dort liegt? Er kann j a noch lange nicht ein benötigtes Dokument zur V e r f ü g u n g stellen. Kein Mensch — u n d wenn 50 Leute angestellt sind - , kann sagen, jawohl, das ist hier drinnen. Ein praktisches Beispiel: W e n n etwas gesucht wird über die Verhältnisse in einem bestimmten Lager, wer k a n n diesen Nachweis geben, wenn nicht ein großer Katalog vorhanden ist von Millionen von Karten? Solch einen Katalog zu erstellen, das d a u e r t , wie H e r r Broszat schon sagte, m e h r e r e J a h r z e h n t e mit einem großen Stab von Leuten, die ein riesiges Katalogschema entwickeln müssen. Das ist praktisch nicht d u r c h f ü h r b a r . Ich halte es f ü r unverantwortlich, solche B e h a u p t u n g e n u n d solche Pläne in die Welt zu setzen.

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5 „Deutsche und Juden — ein ungelöstes Problem": Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses in Brüssel

Wenn die Referate an dieser Stelle im Wortlaut gebracht werden, so hat das auch u n d vielleicht gerade mit den Themen der deutschen Vergangenheit zu tun —. Es wäre nicht möglich gewesen, diese Plenartagung unter dem T h e m a „Deutsche u n d J u d e n — ein ungelöstes Problem —" abzuhalten, wenn es nicht darum gegangen wäre, die Zeit der braunen Vergangenheit auf eine neue geistige Plattform zu stellen. Die folgenden Referate wurden am 4. August 1966 in Brüssel anläßlich der 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses gehalten. Karl Jaspers hatte seine Botschaft schriftlich übersandt.

5.1 Die Referate der Tagung 5.1.1 Professor Golo Mann, Zürich „Lassen Sie mich zuerst ein kurzes Bekenntnis ablegen. Ich habe die Einladung von Herrn Dr. Nahum Goldmann nicht leichten Herzens angenommen und spreche zu Ihnen voller Scham, zweifelnd, ob ich es überhaupt darf, ob man über den Gegenstand ruhig, sachlich, wissenschaftlich diskutieren darf, so als sei es ein historischer Gegenstand unter anderen. Da meine Mutter aus einer jüdischen oder überwiegend jüdischen Familie stammt, da unter den O p f e r n des Nazismus auch nahe Verwandte von mir waren, da mein Vater Deutschland 1933 in Protest für immer verließ und auch ich selber als j u n g e r Mensch damals emigrierte, so könnte ich vielleicht behaupten, mich Ihnen gegenüber .entlastet' zu fühlen. Aber ich kann es nicht. Ein Deutscher, in meinen Augen, ist ein Deutscher, ein deutscher Schriftsteller ist ein deutscher Schriftsteller, und das, was man .Kollektivscham' genannt hat, was aber, fürchte ich, in Deutschland heute nicht so sehr kollektiv ist, trifft ihn mit. Vielleicht wäre das meine Situation auch dann, wenn meine beiden Eltern jüdischer H e r k u n f t gewesen wären. Denn — diese These werde ich später zu begründen versuchen - ich habe die große Mehrzahl der deutschen J u d e n immer als Deutsche angesehen und meinen Beobachtungen, meinen Erlebnissen nach, konnte ich sie anders gar nicht ansehen. Das zweite Bekenntnis ist dies. Ich weiß nicht, ob ich zu sehr viel Lebensfreude überhaupt bestimmt war. Aber ich weiß, daß das Maß von Lebensfreude, das ich j e besaß, durch die Erfahrungen der dreißiger und vierziger Jahre, vor allem eben durch den J u d e n m o r d , sehr stark reduziert wurde und immer reduziert 21

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bleiben wird. Durch andere grausame Irrsinnstaten auch, auch solche, die nicht von Deutschen vollbracht wurden, auch solche, die gegen Deutsche vollbracht wurden. A b e r durch den Judenmord über allem anderen. Diese Hypothek auf meinem L e b e n werde ich nicht mehr los. Ich kann meinen Landsleuten, den Deutschen, nie wieder völlig trauen; ich kann den Menschen nie wieder völlig trauen, zumal die Deutschen auch Menschen und hochzivilisierte Europäer sind. Was immer wir noch tun u n d erstreben mögen, steht im Schatten von Auschwitz und Treblinka und dem Warschauer Ghetto; um überhaupt noch etwas tun und hoffen zu können, u m noch an das Schöne u n d Gute glauben zu können, müssen wir uns geradezu zwingen, von diesen Dingen wegzusehen, so als ob es sie nicht gegeben hätte. So muß man j a wohl handeln, das Leben verlangt sein Recht. Es ist, als ob man Früchte zöge am Fuß eines Vulkans, der eben einen mörderischen Ausbruch hatte. A b e r T r a u e r wird immer mit uns sein u n d Furcht vor einem neuen Ausbruch des Vulkans auch. Wo das möglich war, da wird immer alles möglich sein. A b e r n u n zur Sache. Ich will zu ihr sogleich ein paar T h e s e n aufstellen, die, ich weiß es, von Ansichten, wie sie unter Ihnen vertreten werden, sich unterscheiden. Die amerikanischen J u d e n sind Amerikaner, sehr gute, sehr charakteristische Amerikaner. In hundert Jahren, oft viel weniger als hundert Jahren, haben sie einen amerikanischen T y p u s angenommen, physisch wie psychisch. Sie haben die T u g e n d e n , die man als im besonderen Sinn amerikanisch bezeichnen kann; sie haben o f t auch die Schwächen, die man als im besonderen Sinn amerikanisch bezeichnen kann. Die französischen Juden, Schriftsteller wie André Maurois, Politiker wie Léon Blum oder Mendès-France sind Franzosen. Die deutschen J u d e n waren Deutsche. Inwieweit sie von ihren nichtjüdischen Mitbürgern als solche akzeptiert wurden, ist eine andere Frage, auf die ich noch kurz werde eingehen müssen. Zunächst frage ich nur: Was waren sie objektiv betrachtet, als was fühlten sie sich subjektiv? Und darauf kann nur geantwortet werden: In ihrer überwältigenden Mehrheit waren sie Deutsche und fühlten sich als Deutsche. In meiner Jugend habe ich viele deutsche Juden gekannt, erstens, weil man damals als Schüler, als Student gar nicht umhin konnte, viele zu kennen, zweitens durch die Familie meiner Mutter, drittens, weil mein Vater ein Schriftsteller war und unter seinen literarischen Freunden und Kollegen sich zahlreiche Juden befanden. Ein deutscher J u d e war d e r Leiter des Internats, in dem ich zur Schule ging. Er war ein leidenschaftlicher Patriot und der enge Mitarbeiter eines deutschen Fürsten, d e r eine kurze Zeit Reichskanzler gewesen war. Wir hatten zahlreiche jüdische Mitschüler, die nicht als Landsleute anzusehen uns nie im T r a u m eingefallen wäre. Das gleiche gilt f ü r die Pfadfindergruppe, der ich angehörte. Als ich in Heidelberg studierte, war einer meiner Lehrer der Germanist Friedrich Gundolf, eine der angesehensten und beliebtesten Figuren der akademischen Gemeinschaft und jüdischer Herkunft. Gundolf gehörte dem Kreis um den Dichter Stefan George an, einer entschieden konservativen, antidemokratischen, esote22

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses rischen, ein wenig hochmütigen, aber national gesinnten Gruppe, zu der neben Aristokraten wie dem Grafen Stauffenberg, d e r 1944 das Attentat auf Hitler machte, auch andere J u d e n wie der Dichter Wolfskehl und der Historiker Kantorowicz gehörten. Nie, während meiner Studienzeit, ist Gundolf von den Studenten wegen seines jüdischen Ursprungs angefeindet worden. Daß er ein Buch über Shakespeare u n d den deutschen Geist' geschrieben hatte, konnte mich nicht überraschen. Ich kannte genug deutsche J u d e n von betont nationaler, mitunter nationalistischer Haltung. Einer von ihnen, der Chefredakteur der führenden Tageszeitung in meiner Heimatstadt München, Peter Cossmann, hatte die falsche These vom .Dolchstoß in den Rücken der deutschen Front', also von der Schuld der Linken an der deutschen Niederlage von 1918 in die Welt gesetzt oder jedenfalls sehr stark f ü r ihre Verbreitung gearbeitet. Ein anderer, Ernst Lissauer, hatte während des Ersten Weltkrieges ,Haßgesänge gegen England' gedichtet, welche die oberste Heeresleitung unter d e n Soldaten verteilen ließ. Daß diese Gedichte von einem J u d e n stammten, war f ü r die Generale kein Einwand. Ein entfernter jüdischer Verwandter von mir war unter Wilhelm II. Staatssekretär f ü r die Kolonien. Mein jüdischer Großvater, Professor der Mathematik an der Universität München, war ein hochangesehener Bürger seiner Stadt, ein Mäzen der Künste, in seiner J u g e n d ein Freund Richard Wagners, dessen Festspielhaus in Bayreuth er hatte finanzieren helfen. Seine Söhne waren Offiziere (commissioned officers) in der bayerischen Armee. Wie die meisten deutschen Juden war er ein Patriot und im Herzen konservativ gesinnt; lange ehe die Nazis ihm den Rest seines Vermögens raubten, hatte er schon einen großen Teil davon durch das Zeichen patriotischer Kriegsanleihe verloren. Wie Gundolf war er ein überaus beliebter und erfolgreicher Lehrer. Die Behauptung, er sei kein Deutscher, wäre ihm und ebenso seinen vielen nichtjüdischen Freunden als völlig lächerlich erschienen. Der Genauigkeit halber füge ich hinzu, daß er zwar die Synagoge verlassen, die christliche T a u f e aber trotz der Ratschläge der akademischen Bürokratie verweigert hatte. Dieser Umstand hat seine Laufbahn zwar etwas verlangsamt, aber nicht wesentlich behindert. Von den vielen Schriftstellern mit jüdischem Hintergrund, die im Hause meines Vaters aus- und eingingen, nenne ich drei: Wassermann, Hofmannsthal, Bruno Frank. Jakob Wassermann, der ehemals sehr berühmte, heute leider fast vergessene Romancier, hat ein Bekanntnis mit dem Titel ,Mein Weg als Deutscher und Jude' geschrieben. Er war sich also einer Spannung zwischen beiden Inbegriffen bewußt. Tatsächlich aber sind gerade seine f r ü h e n und schönsten Romane — , Kaspar Häuser', ,Das Gänsemännchen', tief mit dem Land verbunden, aus dem er stammte, d e m Frankenland. Später neigte er zum Mondänen, und gewann sich eine gewaltige Position in den USA damit, aber das war seine beste Periode nicht. — Hugo von Hofmannsthals Vater war ein in den Adelstand erhobener jüdischer Bankier. Ob seine Mutter jüdischer Herkunft war, weiß ich nicht. Da er auch eine jüdische Dame heiratete, wird man ihn wohl als eine jüdische Figur ansehen dürfen. Aber wer hat j e bezweifelt, daß die Dichtung Hofmannsthals späte und feinste 23

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Blüten spezifisch österreichischer, habsburgischer Kultur sind? Wer würde sie als jüdisch' ansehen? Als nach dem Untergang des Habsburger Reiches jemand den Dichter fragte, was österreichische Schriftsteller jetzt tun sollten, antwortete Hofmannsthal: .Sterben'. Aber weiterleben mußte und wollte er schließlich doch. Tatsächlich hat Hofmannsthal, nachdem es das alte Österreich nicht mehr gab, die deutsche Komponente in seinem Wirken stärker betont, und 1928 an der Münchner Universität einen berühmt gewordenen Vortrag mit dem Titel ,Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation' gehalten. Er fühlte sich also jetzt einfach der deutschen Nation, nicht mehr im besonderen dem habsburgischen Kulturkreis zugehörig. Für den Kenner deutscher Sprach- Nuancen ist der Titel des Vortrags, .Schrifttum, geistiger Raum', ein wenig unheimlich; nicht minder die Tatsache, daß Hofmansthal in diesem Vortrag die Wertverbindung prägte, die später eine schlimme Popularität gewinnen sollte; den Ausdruck .konservative Revolution'. Nicht die eigentlichen Nazis, wohl aber ihre geistigen und politischen Wegbereiter, zum Beispiel Herr von Papen, haben mit diesen zwei Worten schlimmen Unfug getrieben. Noch einen dritten, sehr nahen jüdischen Freund meines Vaters will ich nennen, den Schriftsteller Bruno Frank. Er stammte aus einer alteingesessenen württembergischen Familie. Seine Wahlheimat war München. Aber seine Liebe galt Preußen. Genauer dem preußischem König, Friedrich dem Großen, dem er nicht weniger als drei Werke gewidmet hat: einen Band Novellen, einen Roman und ein Schauspiel, .Zwölftausend', in welchem der edle König als Deus ex machina erscheint, um 12 000 Untertanen eines schlimmen deutschen Fürsten vor dem Verkauf nach Amerika zu retten. Das Stück war ungeheuer erfolgreich, wie Franks Stücke überhaupt und wie er selber. Er gehörte zu den beliebtesten Persönlichkeiten Münchens und wurde immer gebraucht, wenn es fremde Gäste zu feiern galt; Franzosen zumal, da er ein blendender Conversationist war und gut Französisch sprach. Im Ersten Weltkrieg war er Offizier gewesen, hatte aber über dem Schwert die Leier nicht vergessen. Wir haben patriotische Kriegsgedichte von ihm, sehr einfache, in der schwäbischen Volkstradition, und sie kamen ihm von Herzen. 1933 ließ man ihn gehen, mit Bedauern natürlich, aber mit Bedauern, das man laut nicht zu äußern wagte. In den Vereinigten Staaten ist Bruno Frank weder glücklich noch sehr erfolgreich gewesen; ein deutscher Schriftsteller, dessen Seele und Kunst ohne die Heimat langsam verwelkten. Das sind persönliche Erinnerungen aus meiner Jugend, aus der Zeit des Ersten Weltkrieges und den zwanziger Jahren. Ich könnte sie noch weiter führen, bis tief in die Hitlerzeit hinein. Da habe ich einmal ein Jahr in Prag gelebt. Und wieder behaupte ich: Die Prager Juden deutscher Zunge waren Deutsche, fühlten sich als Deutsche und leisteten für das, was es an deutscher Kultur in Böhmen noch gab, einen wesentlichen Beitrag. Wenn ich etwa an meinen alten Freund, den nun seit vielen Jahren in Princeton, New Jersey, lebenden Geschichtsphilosophen Erich von Kahler denke und an sein 800 Seiten dickes Werk ,Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas' — großer Gott, wie deutsch ist das mit seinem steilen Ehrgeiz, seinen Spekulationen und Grübeleien, seinem Stolz auf 24

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses die Einzigartigkeit d e r Nation, auch d a noch, wo e r Kritik übt, u n d scharfe Kritik m u ß t e er in den dreißiger J a h r e n allerdings üben. - Die deutsche Tageszeitung Prags, die ,Bohemia', ein entschieden konservatives, betont nationales Blatt, hatte einen jüdischen Chefredakteur. Mitunter — ich m u ß o f f e n sprechen — zeigten die reichen J u d e n Prags, die eine Art von Aristokratie bildeten, gegenüber d e r tschechischen Demokratie einen gewissen Hochmut. Es war nicht d e r H o c h m u t der Reichen, nicht jüdischer Hochmut; es war deutscher Hochmut. Sie, meine Dam e n u n d H e r r e n , mögen das bezweifeln, es m a g I h n e n f ü r das J a h r 1936 unglaublich vorkommen. Ich kann es aber durchaus nicht bezweifeln, weil ich es erlebt u n d beobachtet habe. Man könnte einwenden: Alle diese persönlichen Eindrücke beweisen nicht viel. Es sind Eindrücke aus d e r akademischen Welt, aus d e r Welt d e r h ö h e r e n Literatur, Eindrücke aus einem gepflegten, großbourgeoisen Milieu. Dort war der deutsche Antisemitismus nicht o d e r kaum. Er war im Volk; er wurde von denen aufgewühlt, welche die Volksmassen sich politisch gefügig zu machen wünschten. Dieses A r g u m e n t werde ich nicht von d e r H a n d weisen. Aber es ist doch n u r halb wahr. Die Welt, in d e r die deutschen J u d e n lebten, war kein fiktives Niemandsland. Das ganze Deutschland war sie nicht, aber ein Stück davon. Nicht n u r Großbourgeoisie, auch Mittelstand hörte Gustav Mahlers Symphonien, sah Max Reinhardts Inszenierungen, las die historischen R o m a n e Lion Feuchtwangers. Auch in d e n Bücherschränken des Mittelstandes stand Heines .Buch der Lieder'; auch in seinen Wohnstuben lagen die von J u d e n gegründeten o d e r geleiteten deutschen Zeitungen: F r a n k f u r t e r Zeitung, Vossische, Berliner Tageblatt. U n d die Mehrzahl d e r deutschen J u d e n waren selber Mittelstand: Kaufleute, Ärzte, Optiker, Juweliere, Juristen u n d so fort, bis zu d e n Viehhändlern auf d e m Land, die bei d e n B a u e r n keineswegs verhaßt waren. Daß ihre Söhne sich 1914 als Kriegsfreiwillige meldeten, in einer Zahl mindestens so hoch, wie ihrem Anteil an d e r Bevölkerung entsprach, war eine Selbstverständlichkeit. Sie waren nicht n u r Deutsche; sie waren überaus tief in ihrer engeren Heimat verwurzelt: M ü n c h n e r J u d e n , schwäbische, rheinische, fränkische, Berliner J u d e n . Daß sie so sehr an ihrer Heimat hingen, d a ß sie ihre Bürgerrechte f ü r völlig gesichert hielten, hat bekanntlich zu ihrem Untergang beigetragen. Auch nach Hitlers Machtergreifung k o n n t e n sie einfach nicht glauben, was ihnen drohte, u n d d a r u m verließen die meisten von ihnen Deutschland nicht, solange sie es, wenn auch u n t e r großen Schwierigkeiten u n d finanziellen O p f e r n , noch gekonnt hätten. Dies Sicherheitsg e f ü h l ist im Rückblick tragisch u n d entsetzlich, aber wir haben keinen G r u n d , d a r ü b e r zu spotten. Wie konnte d e r B ü r g e r eines zivilisierten Landes, wie konnte ein preußischer Oberstabsarzt, wie k o n n t e ein Offizier, d e r im Krieg ein Bein verloren u n d mit h o h e n O r d e n ausgezeichnet wurde, d e n n fürchten, in Auschwitz zu enden? Aber, wird m a n wiederum einwenden, d e r deutsche Antisemitismus hatte doch eine sehr lange Vorgeschichte. Natürlich hatte er die. U n d sie liegt anders als in a n d e r e n L ä n d e r n , in denen es bekanntlich auch Antisemitismus gab. Wo er im 19. o d e r f r ü h e n 20. J a h r h u n d e r t a m stärksten war, würde ich mich nicht zu 25

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit entscheiden getrauen. Dergleichen ist schwer zu messen, eben weil die Dinge überall anders lagen. War er in Polen stärker als in Deutschland? In Rußland? In Frankreich? Ich weiß es nicht. Um 1900 würde man wahrscheinlich geurteilt haben, er sei stärker in Frankreich. Der Schrei von Millionen ,Vive l'Armée, à bas les Juifs!' erklang damals in Deutschland nicht. Gewiß, Millionen idealistischer, mutiger .Dreyfusards' gab es dort ebenso wenig. Leidenschaftliche, von Ideen inspirierte politische Kämpfe gab es im Hohenzollernreich überhaupt nicht; n u r stickige Interessen-Konflikte. Was war das Spezifische des deutschen Antisemitismus in der Bismarck- u n d Kaiserzeit? Zweifellos seine Verbindung mit d u m p f e n Protesten, die sich gegen die moderne Welt, die Industrialisierung und Urbanisierung richteten, gegen den ganzen, viel Leid und Entwurzelung verursachenden Sozialprozeß. An ihm, so behaupteten Demagogen, sollten die J u d e n schuld sein. Die preußischen Konservativen, bedroht wie sie sich und ihre veralteten Privilegien fühlten, haben zeitweise nicht verschmäht, in dies Horn zu blasen. Ich würde aber davor warnen, den deutschen Antisemitismus der achtziger und neunziger J a h r e des vorigen Jahrhunderts zu überschätzen. Dazu neigen wir leicht, weil wir das Ende kennen und meinen, das Ende sei in der deutschen Geschichte immer schon angelegt gewesen. Genau dagegen wehre ich mich. Nichts fällt vom Himmel, das ist wahr, und Hitler hatte Vorgänger. Aber keineswegs bedeutet das die geschichtliche Unvermeidlichkeit von Hitlers Triumph. Als Historiker kenne ich die Namen j e n e r antisemitischen Wanderprediger der Bismarckzeit, Boeckel u n d Ahlwardt und Liebermann und wie sie hießen. Wenn Sie heute aber einen Deutschen fragen, ja, wenn Sie vor vierzig Jahren einen Deutschen gefragt hätten: Wer waren Boeckel, Ahlwardt, Liebermann — nicht einer von tausend hätte Ihnen Antwort geben können. Sie haben sich dem Gedächtnis der Menschen nicht eingeprägt. Niemals hatten sie die Popularität, wie sie der antisemitische Bürgermeister von Wien, Lueger, besaß, nie haben sie wirkliche Massenbewegungen oder Parteien organisieren können. Und wenn es, gegen sie, in Deutschland keine Dreyfusards gab, so gab es immerhin die Sozialdemokraten. Diese haben in den neunziger Jahren gegen das, was sie die antisemitische .Kulturschande' nannten, einen tapferen Kampf geführt, sind, als sie selber noch wenig hinter sich hatten, in die Versammlungen der Antisemiten eingebrochen, wobei es ihnen oft gelang, das Publikum für sich zu gewinnen. Man möge darüber zum Beispiel die Erinnerungen von Philipp Scheidemann nachlesen. Auch die Sozialdemokraten haben von ,Volk', von Demagogie, etwas verstanden; sie haben es nicht f ü r nötig befunden, den Antisemitismus zu Hilfe zu rufen. Seit dem J a h r e 1912 waren sie bei weitem die stärkste Partei Deutschlands, zu einer Zeit, als die ,deusch-soziale Partei' der Antisemiten Boeckel und Liebermann längst vergessen war. Mit alledem darf und will ich das Bild der Vergangenheit nicht idealisieren. Immer gab es Antisemitismus in Deutschland, teils lauten und aggressiven, teils diskreten und, wenn der Ausdruck in diesem Zusammenhang erlaubt wäre, zivilisierten. Deutsche Juden und gerade deutsche Patrioten sensitiveren Charakters 26

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses haben immer d a r u n t e r gelitten. Der vorhin erwähnte Staatssekretär f ü r die Kolonien litt meines Wissens nicht darunter, weil e r ein robuster Mensch war. Der Publizist Maximilian Hardert litt in der Kaiserzeit auch nicht d a r u n t e r ; andernfalls wären seine Ansichten nicht so kriegerisch u n d nationalistisch, wäre sein Stil nicht so aggressiv gewesen. Aber Walther Rathenau litt bitter d a r u n t e r ; Friedrich Nietzsche, der kein J u d e war, litt auch d a r u n t e r bis zu Ekel und Qual. An tragischen Spannungen, an der E r f a h r u n g des Liebens u n d Werbens u n d Verschmähtwerdens hat es nie gefehlt. Jedoch: Der deutsche Antisemitismus, mit d e m wir es heute abend zu tun haben, u n d d e r in das scheußlichste Verbrechen der europäischen Geschichte mündete, beginnt erst mit d e r deutschen Niederlage von 1918. Vorläufer beweisen gegen diese These nichts. Es sind immer Krankheitskeime in d e r Luft. Die Frage ist, wann d e r Körper f ü r sie anfällig wurde u n d warum, u n d wann die Krankheit ausbrach. Sie ist erst 1919 virulent geworden. Die u n g e h e u r e moralische Verwirrung und Verwilderung im Zeichen d e r Niederlage, die folgende totale V e r a r m u n g u n d soziale Deklassierung vieler Millionen Menschen durch die Inflation, Vorgänge, die über d e n Verstand d e r meisten d u r c h a u s hinausgingen, haben dem Ruf:,Die J u d e n sind unser Unglück' zum ersten Mal ein starkes Echo verschafft. Ich würde die B e h a u p t u n g wagen: Nie war die antisemitische Leidenschaft in Deutschland wütender als in den J a h r e n 1919 bis 1923. Sie war damals viel wütender als 1930 bis 1933 oder 1933 bis 1945. Es war die Epoche des ersten großen Erfolges der Nationalsozialisten. Kaum erschien mit d e m Ende der Inflation f ü r die Massen neue H o f f n u n g auf ein menschenwürdiges Leben, so w u r d e die Bewegung rückläufig. Im Reichstag von 1924 hatten die Nazis n u r noch 24 Sitze, im Reichstag von 1928, auf dem Höhep u n k t d e r Konjunktur, n u r noch 12. Schon im nächsten J a h r begann die große Wirtschaftskrise. Im übernächsten, 1930, konnten sie ihre Sitze im Parlament von 12 auf 107 vermehren. Man muß blind sein, u m hier nicht d e n kausalen Zusamm e n h a n g zu sehen. Aber, u n d hier komme ich zu einer mir sehr wesentlich scheinenden Frage: Glauben Sie doch j a nicht, d a ß alle die ruinierten oder vom Ruin bedrohten Bürger, Kleinbürger, Arbeitslose, die n u n Hitler wählten, es d a r u m oder vor allem d a r u m taten, weil er Antisemit war. Das spielte zwischen 1930 u n d 1933 eine sehr geringe Rolle. In d e r Geschichte von Hitlers J u d e n h a ß , insofern er nach außen wirkte, kann man drei Epochen unterscheiden. Solange e r noch keine ernsthafte Chance sah, an die Macht zu gelangen, ließ er seinen obszönen Trieben in Reden u n d Schriften völlig freien Lauf; so in d e m Buch ,Mein K a m p f , das 1924 geschrieben wurde. Als die Wirtschaftskrise begann, ihm die Massen zuzutreiben, wurde er ungleich vorsichtiger. Er wußte, daß mit J u d e n h e t z e wohl kleine politische Geschäfte zu machen waren, aber nicht das große Geschäft, das er n u n in Reichweite sah. Betrachten wir zum Beispiel sein Manifest f ü r die Wahlen von 1930, die Wahlen, durch welche die Nazis mit einem Schlag zur f ü h r e n d e n Partei wurden. Dies demagogisch u n g e h e u e r wirksame Manifest hat 13 eng gedruckte Seiten. Wieviele 27

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit von diesen vielen tausend Worten sind der jüdischen Frage' gewidmet? Nicht ein einziges. Nacheinander werden alle Gegner und Feinde, fortzujagende Schurken, zu bestrafende Verräter aufgezählt und insultiert; von J u d e n keine Silbe. U n d dies, mit sehr unbedeutenden Ausnahmen, gilt f ü r alle Reden und Kundmachungen Hitlers zwischen 1930 und 1933. Es ist wahrhaft erstaunlich, daß diese Tatsache niemals bemerkt wurde. Aber die Schlüsse, die sich aus dem Schweigen über eine jüdische Frage' gerade in den entscheidenden Jahres des Kampfes um die Macht, in den J a h r e n der perfektionierten Massenpropaganda ergeben, erscheinen mir klar. Der deutsche Antisemitismus hatte gegenüber dem polnischen oder ungarischen oder französischen seine Eigenarten. Aber abgrundtief verschieden war er nicht. Abgrundtief verschieden war der obszöne Judenhaß, den der j u n g e Hitler in Wien erworben hatte — die einzige echte Leidenschaft seines schwarzen Herzens. Es war seine und seiner intimsten Anhänger Besonderheit. Diese Besonderheit wurde verwirklicht genau in dem Maß, in dem Hitlers Macht über die Deutschen sich festigte. Erst im Sommer 1934 war seine Diktatur vollendet. Erst im J a h r darauf, 1935, wurden die .Nürnberger Gesetze' verkündet. Und wann erfolgte das erste eigentliche Pogrom, die sogenannte .Kristallnacht'? Fünf Wochen nach dem Vertrag von München, jenem beispiellosen Triumph, der Hitler zum absoluten Herrscher über ganz Mitteleuropa machte. Jetzt erst konnte er seiner eigensten teuflischen Passion völlig freie Bahn geben. Aber die Deutschen, die Hitler wählten - bei den letzten freien Wahlen 35 Prozent d e r Wähler — wußten doch, daß er ein Judenhasser war? Das wußten sie allerdings und nahmen es ihm nicht sehr übel. Das würde sich schon geben, das würde so sehr ernsthafte Folgen ja nicht haben ... Ich bin im Jahre 1933 in Deutschland gewesen, ich habe Hunderte von Gesprächen gehört, in Eisenbahnwagen dritter Klasse, an .Stammtischen' und so fort. Das Wort, das ich am häufigsten hörte, war das deutsche Sprichwort: ,Es wird nicht so heiß gegessen wie gekocht.' Die Dinge würden sich schon wieder beruhigen. Sehr interessant war den meisten Deutschen das Schicksal der J u d e n nicht. Aber ihr eigenes Schicksal, das mußte ihnen doch interessant sein. Die Frage, ob Krieg oder Friede sein sollte, mußte ihnen doch interessant sein, und notorisch haben sie Hitlers Krieg nicht gewünscht; die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges waren ihnen noch zu gut im Gedächtnis. Nun hätten sie doch aber wissen müssen aus dem Buch .Mein K a m p f , in welchem es schwarz auf weiß stand; sie hätten es spüren müssen aus der Erscheinung des Scheusals. Aber was sie wußten, wenn sie etwas wußten, wenn sie ,Mein Kampf j e gelesen hatten, nahmen sie nicht ernst; und spüren taten sie überhaupt nichts. Wer damals in Deutschland etwas wußte und spürte, der, glauben Sie mir, war sehr einsam. —Hitler war .national'; das waren sie auch; er war es nur ein wenig zu sehr. Er war antisemitisch; das waren sie auch; er war es n u r ein wenig zu sehr. Und dies ,zu sehr', diese Übertreibung aus der Zeit des Kampfes um die Macht würde sich im Zeichen der Regierungsverantwortung schon glätten und verschwinden. So dachten die Wähler Hitlers. So dachte die Mehrzahl der deutschen J u d e n anfangs auch. 28

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses Nichts glättete sich, nichts verschwand. Die Verwirklichung des Judenhasses vollzog sich Schritt f ü r Schritt; die nationalistische Aggression gegen Europa auch. Aber beides w u r d e dosiert. Hätten Hitlers S t u r m t r u p p e n im J a h r e 1933 alle deutschen J u d e n e r m o r d e t , so ist wahrscheinlich, d a ß die deutsche A r m e e interveniert hätte. Gegen das Pogrom von 1938 intervenierte sie nicht m e h r , korrumpiert wie sie jetzt schon war. Hätte Hitler im J a h r e 1933 Österreich angegriffen, so hätten die Franzosen interveniert; 1938 intervenierten sie nicht mehr. Nie sind die Verwirklichungen von Hitlers J u d e n h a ß in Deutschland populär gewesen. Sie waren ein peinlicher Fleck im Bild, das d e n meisten bis 1939 oder 1941 sonst sehr hell schien; die Ü b e r w i n d u n g d e r Arbeitslosigkeit, die innere O r d n u n g nach J a h r e n am Rand des Bürgerkriegs, die außenpolitischen Triumphe, die wiedergewonnene nationale Ehre, Stolz u n d Gloria. Die J u d e n ? Das mußte man akzeptieren, wenn die Obrigkeit es so befahl. Man konnte es umso e h e r akzeptieren, als viele Nicht-Juden ihren Vorteil davon hatten. Sie konnten gleich zuerst einrücken in die staatlichen Ämter, aus d e n e n J u d e n vertrieben worden waren; sie konnten später die ,arisierten' Geschäfte, Privatbanken und so fort ü b e r n e h m e n . Das war ihnen keineswegs u n a n g e n e h m . Es wäre ebenso wenig u n a n g e n e h m gewesen, wenn die ausgeplünderten O p f e r keine J u d e n gewesen wären. Ich weiß das aus persönlicher E r f a h r u n g . Der konfiszierte Besitz meines Vaters, der kein J u d e war, wurde von Fremden genauso f r e u d i g ü b e r n o m m e n wie jüdischer Besitz. Zum Steuer d e r Gerechtigkeit m u ß ich h i n z u f ü g e n , daß so die Haltung der vielen, aber nicht aller war. Auch Deutsche — es ist durchaus unmöglich, sie zu zählen — haben während d e r J a h r e des Dritten Reiches sich in Einsamkeit und Ekel verzehrt. Auch in Deutschland sind J u d e n gerettet worden durch Nicht-Jud e n , welche sie u n t e r Lebensgefahr in ihrem Hause versteckten. Solche Rettungsaktionen haben freilich bei weitem nicht das Maß erreicht, das sie in Holland, Dän e m a r k , Italien erreichten. Das liegt a n vielem, worauf ich nicht eingehen will u n d was Sie erraten können. Es liegt aber auch d a r a n , d a ß es moralisch leichter ist, einem f r e m d e n Eroberer u n d U n t e r d r ü c k e r Widerstand zu leisten als d e r eigenen Regierung, welche die Massen des Volkes hinter sich hat. Mit alledem will ich keine Verteidigung meiner Landsleute geben. Ich will n u r die Wahrheit sagen, so wie ich sie sehe. U n d diese Wahrheit wäre eine überaus zweifelhafte Verteidigung. W e n n in den dreißiger u n d vierziger J a h r e n eine Welle barbarischen Aberglaubens über Deutschland gegangen wäre, im Stil des 15. J a h r h u n d e r t s , das wäre sehr schlimm; aber vielleicht wäre es noch besser als d e r s t u m p f e Gehorsam, der windige Opportunismus, d e r Zynismus, die in Wahrheit vorherrschten. Alles wurde befohlen, alles w u r d e ausgeführt, o h n e Spontaneität, o h n e Hysterie, o h n e Glauben u n d Aberglauben. So am Anfang; so auch, als die Dinge sich ihrem H ö h e p u n k t näherten. Ein einziger T e u f e l in Menschengestalt entschied im Großen; eine emsige Bürokratie plante im Detail, so wirkungsvoll u n d genau, wie sie die A u s f ü h r u n g j e d e s a n d e r e n Befehls geplant hätte; die A u s f ü h r e n d e n , die direkten M ö r d e r selber waren ebenso leicht zu find e n , mitunter eigentliche Sadisten, häufiger brutale Landsknechte o d e r auch 29

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ziemlich gewöhnliche Menschen. Furchtbar lebenswahr hat Rolf Hochhuth einen von ihnen, der die Juden in Rom gefangen nimmt, in seinem Stück ,Der Stellvertreter' gezeigt. Der zweite Mann im Nazistaat, Hermann Göring, hat vor dem Nürnberger Gericht ausgesagt: ,Ich war nie Antisemit — fragen Sie Bernheimerl' (Bernheimer war ein bedeutender Kunsthändler in München, bei dem er viel kaufte.) Sie werden meinen, daß Göring log. Ich glaube nicht, daß er log. Er hatte mitgemacht aus schierem Opportunismus, an seiner zweiten Stelle im Staat, so wie Millionen kleiner Leute an ihren Millionen Stellen mitmachten. Man hielt sich an die Gesetze, gleichgültig, was deren Inhalt war. Ich darf Ihnen das wieder mit einer melancholischen Erfahrung aus meinem eigenen Leben illustrieren. Im Jahre 1936 wurde meinem jüdischen Großvater der Paß entzogen. Seine einzige Tochter, meine Mutter, lebte damals in der Schweiz in der Emigration. So gern hätte er sie noch einmal gesehen. Nun hatte man ihm erzählt, an der deutsch-schweizerischen Grenze könnten deutsche Bürger auch ohne Paß einen Grenzschein für einen Tag bekommen. Er fuhr also nach Konstanz, wurde aber, als er den deutschen Grenzbeamten sein Anliegen vorbrachte, nur ausgelacht. Alles, was er tun konnte, war, von der Grenze aus mit meiner Mutter zu telephonieren. Der arme alte Mann war bitter betrübt. Aber, meinte er am Telephon, ,wenn die Vorschriften so sind ...' Wenn die Vorschriften so sind. Dies traurige, bei näherem Nachdenken furchtbare Wort könnte man über die ganze Katastrophe der deutschen Juden setzen. Als die gelben Flecken erschienen, als dann die Frachtzüge nach Polen sich füllten und rings umher die jüdischen Nachbarn verschwanden, war im Volk dies: ein wenig Mitleid und Scham; ein wenig Verachtung; und sehr viel Gleichgültigkeit. Ungefähr die Gefühle, die man für die Opfer des 20. Juli 1944, des deutschen Widerstandes gegen Hitler empfand. Im Jahre 1943 oder 1944 beschloß Heinrich Himmler, alle deutschen Prinzen, alle Mitglieder ehemals regierender Dynastien ermorden zu lassen, weil sie genauso,blutsfremd', genauso international und verräterisch seien wie die Juden. Für ihre schmähliche öffentliche Hinrichtung in Berlin hatte er sich schon einen genauen Plan ausgedacht. So erzählt Felix Kersten, Himmlers Leibarzt, dessen Erinnerungen als in hohem Grad zuverlässig nachgewiesen worden sind. Kersten hatte Einfluß auf Himmler, weil er seine Magenschmerzen zu lindern wußte. Er konnte ihn überreden, die Ausführung des Prinzenmordes aufzuschieben und bekanntlich ist nichts daraus geworden. Wenn aber 50 oder 100 deutsche Prinzen in Berlin durch zwei lange Reihen von SS-Männern geführt und von ihnen angespuckt und dann erhängt worden wären, so würden die Leute das ebenso hingenommen haben wie sie hinnahmen, was den Juden geschah; mit etwas mehr Mitleid und Scham vielleicht; mit etwas weniger Verachtung und Gleichgültigkeit vielleicht; aber hingenommen hätten sie es. Und derselbe berühmte Staatsrechtslehrer Carl Schmitt, der in der Judenhetze des Gauleiters Streicher eine großartige Tat deutschen Geistes entdeckte, würde gewiß auch in dem Prinzenmord etwas ähnlich Imposantes nachgewiesen haben. Die Katastrophe des deutschen und mit ihm des europäischen Judentums war 30

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses in der deutschen Geschichte nicht vorgezeichnet. Wenn die gesetzliche Emanzipation der J u d e n etwas später kam als in England, Holland, Frankreich, wenn der Antisemitismus im Deutschland des 19. J a h r h u n d e r t s vielleicht etwas intensiver war als anderswo, so war auch die Verbindung deutschen und jüdischen Lebens intensiver als anderswo, so war der Einfluß der J u d e n auf das deutsche Geistesleben und Wirtschaftsleben stärker als anderswo. Die Assimilierung der deutschen Juden war vor 1941 nahezu vollendet, ob sie ihrer Religion treu blieben oder nicht. Um ihre Katastrophe herbeizuführen, bedurfte es einer völlig unvorhersehbaren Verkettung von Umständen. Hätte der Erste Weltkrieg mit einem Verständigungsfrieden geendet anstatt mit Niederlage und Zusammenbruch der alten Ordnung; hätte später der Reichskanzler Brüning nicht die wütende Deflation durch eine Superdeflation zu heilen versucht; hätte er nicht gleichzeitig einen kalten Krieg gegen Frankreich und gegen den Vertrag von Versailles geführt, und dadurch die Wirtschaftskrise auf ihren Höhepunkt gebracht, so wären die Nazis nicht zur Massenpartei geworden und nicht zur Macht gekommen. Hätten einige wenige intrigante Stümper, ein paar Bankiers und J u n k e r im Umkreis des Präsidenten Hindenburg, nicht ihren Pakt mit Hitler geschlossen in einem Moment, in dem die Nazibewegung bereits rückläufig geworden war, so wären sie trotz der Wirtschaftskrise nicht zur Macht gekommen. Aber Brüning war gewiß kein Antisemit; Herr von Papen, Bankier von Schröder, Oberst von Hindenburg waren es, soviel ich weiß, auch nicht, jedenfalls nicht im Hauptberuf. Sie hatten ganz andere Gedanken in ihren dummen Köpfen. Schließlich: Hätte es den einen überlegenen Techniker der Macht, den faszinierenden Demagogen, den mit ungeheurer Energie und List begabten Teufel, das Scheusal Adolf Hitler nicht gegeben, so hätte wohl etwas der Nazi-Partei ähnliches entstehen können, aber nie mit so durchschlagendem Erfolg. Natürlich hat Hitler mit Kräften und Instinkten gearbeitet, die da waren; natürlich war er insofern kein Zufall. Aber es bedurfte des einen Individuums, um diese Kräfte und Instinkte so zusammenzubinden, so zu mobilisieren und zu diesem Ende zu führen. Daß die Katastrophe nicht unvermeidlich war, daß sie jeden geschichtlichen Sinnes entbehrte, macht sie in meinen Augen nicht besser; es würde sie, wenn das möglich wäre, noch schlimmer machen. Es macht die deutsche Nation als ganzes nicht weniger haftbar; es macht führende Schichten der Nation, so wie sie damals waren, Industrie, Armee, Universität, Bürokratie, Justiz, nicht weniger schuldig und nicht weniger verächtlich. Seitdem hat manches in Deutschland sich gewandelt, ich vermesse mich nicht zu sagen, wie tief der Wandel geht. In dem Umkreis, den ich am besten kenne, den d e r Universität, halte ich ihn f ü r tief und gut. Aber, um zum Schluß zu wiederholen, was ich am Anfang bemerkte: Wer die dreißiger und vierziger J a h r e als Deutscher durchlebt hat, der kann seiner Nation nie mehr völlig trauen, der kann der Demokratie so wenig völlig trauen wie einer anderen Staatsform, der kann dem Menschen überhaupt nicht mehr völlig trauen und am wenigsten dem, was Optimisten f r ü h e r den ,Sinn der Geschichte' nannten. Der wird, wie sehr er sich auch Mühe geben mag u n d soll, in tiefster Seele traurig bleiben, bis er stirbt." 31

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

5.1.2 Professor Gershom Sholem, Hebräische Universität Jerusalem „Meine Damen und Herren! Über J u d e n und Deutsche und ihr Verhältnis in diesen letzten 200 Jahren zu sprechen, ist im J a h r e 1966 ein melancholisches Unterfangen. Noch immer ist die Belastung des Gefühls so groß, daß eine der Sache selbst zugekehrte Betrachtung oder Analyse fast unmöglich scheint, u n d zu stark sind wir alle von dem Erlebnis dieser Generation geformt, als daß Unbefangenheit erwartet werden könnte. Es gibt heute viele J u d e n , die das deutsche Volk f ü r einen .hoffnungslosen Fall' ansehen, und noch im besten Fall f ü r ein Volk, mit dem sie nach dem Geschehenen im Guten und Bösen nichts mehr zu schaffen haben wollen. Ich rechne mich nicht zu ihnen, denn ich glaube nicht, daß es so etwas wie einen permanenten Kriegszustand unter Völkern geben sollte. Ich halte es f ü r richtig, u n d mehr noch, f ü r wichtig, daß auch Juden, gerade als J u d e n zu den Deutschen sprechen, im vollen Bewußtsein des Geschehenen u n d ohne Grenzverwischung. Vielen von uns hat die deutsche Sprache, ihre Muttersprache, unverlierbare Erlebnisse geschenkt und die Landschaft ihrer Jugend bestimmt und ihr Ausdruck gegeben. Jetzt, wo es etwas wie einen Anruf von dort her, aus den Bereichen der Geschichte und von einer heraufziehenden neuen Jugend her gibt, und gerade weil dieser Anruf unsicher, u n d unschlüssig, ja verlegen ist, wohnt ihm etwas inne, dem manche von uns sich nicht entziehen wollen. Freilich, die Schwierigkeiten der Verallgemeinerung, wenn wir ,die Deutschen' u n d , d i e J u d e n ' sagen, schrecken den Betrachter ab. In Zeiten des Konfliktes sind solche Spezies dann leicht handzuhaben. So fragwürdig solche allgemeinen Kategorien sind, hat das ihren stimmkräftigen Gebrauch niemals gehindert. Viele Differenzierungen wären hier am Platz. Denn die Deutschen sind nicht alle Deutschen und die J u d e n nicht alle J u d e n — mit der einen unausdenkbaren Ausnahme freilich: d e n n als diejenigen Deutschen, die wirklich, wenn sie die Juden apostrophieren, alle J u d e n meinten, die Macht in den Händen hatten, haben sie sie benutzt, um soweit es an ihnen lag, alle J u d e n zu ermorden. Seitdem fällt denen, die den Mord überlebt haben oder aus den Zufällen der Geschichte heraus ihm nicht ausgeliefert worden sind, es selber etwas schwer, zu differenzieren. Die Fallen, die jede Verallgemeinerung, und gar schon in einer kurzen Rede, gefährlich machen, sind klar: Willkür, Widerspruchsfülle und Zusammenhangslosigkeit; zu vielfältig u n d individuell liegen diese Verhältnisse, als daß nicht jeder allgemeinen Aussage sich eine leidlich ebensogut zu verteidigende entgegensetzen ließe. Und doch will ich im vollen Bewußtsein solcher Hemmungen versuchen klar zu machen, was mich bei diesem T h e m a bewegt—gewiß einem der erregendsten T h e m e n der jüdischen Welt seit mehr als 150 J a h r e n . Alfred Döblin, ein jüdischer Schriftsteller, der auf seine alten Tage katholisch geworden war, schrieb 1948 einem anderen Juden, er solle darauf achten, wenn er f ü r Deutsche schreibe, das Wort J u d e ' am besten nicht zu benutzen, denn es sei in Deutschland ein Schimpfwort geblieben, mit dessen Anwendung man nur den 32

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses Antisemiten wohltue. Denn der Antisemitismus sitze den Deutschen tief und sei — im J a h r e 1948! — bösartiger als vor 1933. In der T a t habe ich selber die Erfahr u n g gemacht, daß viele Deutsche, die sich von den Nazis (manchmal etwas nachträglich) distanzieren möchten, noch 1965 diese Bemerkung von Döblin durch ihre offenkundige Scheu, Juden, die nicht unbedingt darauf bestehen, J u d e n zu nennen, einigermaßen rechtfertigen. Nachdem sie als J u d e n ermordet worden sind, werden sie nun in einem posthumen Triumph zu Deutschen ernannt, deren J u d e n t u m zu betonen ein Zugeständnis an die antisemitischen Theorien wäre. Welche Perversion im Namen eines Fortschritts, der den Verhältnissen ins Auge zu schauen nach Möglichkeit vermeidet! Aber gerade das betrachte ich als unsere Aufgabe, und wir können gar nicht nachdrücklich genug von den J u d e n sprechen, wenn wir von ihrem Schicksal unter den Deutschen reden. Die Atmosphäre zwischen den J u d e n und den Deutschen kann n u r bereinigt werden, wenn wir diesen Verhältnissen mit der rückhaltlosen Kritik auf den Grund zu gehen suchen, die hier unabdingbar ist. Und das ist schwierig. Für die Deutschen, weil der Massenmord an den J u d e n zum schwersten Alpdruck ihrer moralischen Existenz als Volk geworden ist; f ü r die Juden, weil solche Klärung eine kritische Distanz zu wichtigen Phänomenen ihrer eigenen Geschichte verlangt. Wo die Liebe, soweit sie einmal bestanden hat, im Blut erstickt worden ist, sind historische Erkenntnis und Klarheit die Vorbedingungen f ü r eine, vielleicht zukunftsträchtigere, Auseinandersetzung zwischen Juden und Deutschen. Solche Auseinandersetzung kann im Ernst nur jenseits der politischen und wirtschaftlichen Faktoren u n d Interessen aufgefaßt werden, die zwischen dem Staat Israel und der Deutschen Bundesrepublik zur Diskussion stehen oder gestanden haben. Mir fehlt j e d e Zuständigkeit auf diesem Gebiet, und ich werde mich in keinem Punkte auf sie beziehen. Ich bin nicht einmal sicher, daß durch solche Einbeziehung irgendetwas f ü r die Fragestellung oder ihre Beantwortung gewonnen wäre. Wir alle haben darüber viel gehört, und nicht immer ist es uns, gerade als Juden, sehr wohl dabei, wenn ein falsches Junktim geschaffen wird. Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, teilweise auch noch darüber hinaus haben die J u d e n in Deutschland im wesentlichen dasselbe Dasein geführt wie die J u d e n überall. Sie waren als Nation klar erkennbar, besaßen eine unverwechselbare Identität und eine eigene Geschichte durch die Jahrtausende, wie immer sie selber oder die anderen Völker diese Geschichte beurteilt haben mögen. Sie hatten ein scharf ausgeprägtes Bewußtsein ihrer selbst u n d lebten in einer Religionsverfassung, die ihr Leben und ihre Kultur auf überaus intensive Weise in allen Poren ihres Daseins durchdrang. Soweit Einflüsse der deutschen Umwelt in die Judengasse drangen, und es hat keineswegs an ihnen gefehlt, geschah das nicht im Wege einer bewußten Hinwendung und A u f n a h m e solcher Elemente, sondern großenteils in einem kaum bewußten Prozeß der Osmose. Dabei wurde oft genug deutsches Kulturgut einer Transformation ins Jüdische (und sprachlich ins Jiddische) unterzogen. Die bewußten Beziehungen der beiden Gesellschaften waren heikler Natur, und gerade in den der Emanzipationsperiode vorangehenden zwei Jahrhunderten. Die religiöse Kultur ihrer tragenden Schichten 33

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ruhte in sich selbst und blieb der deutschen Welt völlig fern. Aber die ökonomisch stärksten Elemente, wie sie in der Erscheinung des jüdischen Hoffaktorentums zutage traten, und die sozial am tiefsten stehenden Gruppen, die mit der deutschen Unterwelt kommunizierten, hatten mit den Deutschen a u f eine, in beiden Fällen lebensgefährliche Weise zu tun. Sie bewegten sich auf besondere Weise unter ihnen und mußten den Preis dafür bei der geringsten Änderung der politischen oder sozialen Verhältnisse zahlen. Nichts törichter als von der Verwurzelung der deutschen J u d e n in Deutschland in diesen J a h r h u n d e r t e n zu sprechen, in denen weder von den J u d e n noch von den Deutschen aus irgendeine Vorbedingung für solche Verwurzelung bestand. J e d e r wußte, daß die J u d e n im Exil waren, und wie immer man dies Exil beurteilte, war an seiner unendlichen Bedeutung für den menschlichen Stand der J u d e n kein Zweifel. Die überwältigende Majorität der J u d e n , die zu den obengenannten beiden Randschichten nicht gehörten, und von deren Wechselfällen relativ weniger betroffen wurden, hatten damals durchaus ihr traditionelles, von ihrer Geschichte und Geistigkeit geprägtes Gesicht, wie es sich in den langen Zeiten des Exils geprägt hatte. Zugleich ist freilich nicht zu verkennen, daß in der zweiten Hälfte des 18. J a h r h u n d e r t s eine tiefe Schwäche in ihrem jüdischen Wesen sichtbar wird. Es ist, als ob eine Phase ihrer historischen Existenz an einem Tiefpunkt angelangt wäre, von wo aus nicht sicher war, wohin der Weg führen würde. Als Moses Mendelssohn seine Laufbahn als eine Art konservativer Reformator im deutschen J u dentum begann, war dessen Schwäche evident. Mit ihm und vor allem seiner Schule begann j e n e r Prozeß der Hinwendung der J u d e n zu den Deutschen als ein bewußter Vorgang, der nun von gewichtigen historischen Faktoren befördert und begünstigt wurde. Es begann die Propaganda für den entschlossenen Anschluß d e r J u d e n an die deutsche Kultur und nicht lange danach auch an das deutsche Volkstum. Es begann auch j e n e r drei bis vier Generationen sich hinziehende K a m p f der J u d e n um ihre Rechte, den sie — täuschen wir uns darüber nicht! — gewannen, weil eine entscheidende und siegreiche Schicht unter den Nichtjuden ihn für sie führte. Mit diesen Kämpfen, bei denen ihnen die deutsche Aufklärung und in nicht geringerem Grade die französische Revolution zu Hilfe kamen, begann eine folgenreiche Wandlung im J u d e n t u m im deutschen Raum. Zuerst ist diese Wandlung zögernd und sehr unsicher, wie auch ihr Judentum oft unsicher und verlegen ist. Sie wußten noch immer um ihr jüdisches Volkstum, wenn auch oft schon nicht m e h r um dessen Sinn, der ihnen verloren gegangen war oder im B e g r i f f war verloren zu gehen. Es begann, um es deutlich zu sagen, j e n e s unendlich sehnsüchtige Schielen nach dem deutschen Geschichtsbereich, der den jüdischen ersetzen sollte, wie es für mehr als hundert J a h r e der Beziehungen zwischen J u d e n und Deutschen so charakteristisch ist. Die Schichten im deutschen J u d e n t u m , die diesen Prozeß nur unter großen Bedenken mitmachten, und das waren vor allem die ursprünglich numerisch noch recht starken Kreise der Frommen der alten Schule, sind fast ausschließlich durch ein bedrücktes und auffallendes Schweigen vernehmbar, aus dem nur selten direkt warnende Stimmen, als ob sie vor ihrem

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5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses eigenen Pathos zurückschauerten, zu uns dringen. Bis 1820 etwa ist noch fast allgemein die Rede von d e r jüdischen Nation u n d ihren Angehörigen in Deutschland. In den nächsten zwei Generationen ändert sich dieser Sprachgebrauch vollständig und stattdessen treten — übrigens von beiden Seiten begünstigt—die Rede von d e r jüdischen Konfession u n d ähnliche Phraseologien ihre L a u f b a h n an. Die Wandlungen u n d Verrenkungen, die dieses Schielen nach d e n Deutschen hin schon von A n f a n g an mit sich brachte, u n d die d a n n , in d e n fortschreitenden Stadien dieses Prozesses zu so bitterer Problematik f ü h r t e n , waren beträchtlich. Die Emanzipation brachte die entschlossene Verleugnung der jüdischen Nationalität als eines Partners in dieser Auseinandersetzung mit sich, eine Verleugnung, die ebensosehr von den Deutschen gefordert wie von d e r Avantgarde der J u d e n und ihren f e d e r f ü h r e n d e n Sprechern ebenso entschlossen zugestanden wurde. Aus dem Schielen nach d e m deutschen Geschichtsbereich wurd e ein entschlossenes Hineinsteigen in denselben u n d aus den Objekten aufgeklärter Duldung wurden nicht selten lautstarke Propheten, die im Namen der Deutschen selber zu sprechen sich anschickten. Der a u f m e r k s a m e Leser deutscher Reaktionen auf diesen Prozeß u n d seine Akrobatik nimmt bald d e n T o n des Erstaunens u n d der, teils freundlichen, teils bösen Ironie wahr, d e r ihre Äußer u n g e n durchzieht. Was vielen von uns heute als d e r von Anbeginn falsche Start in den Beziehungen d e r J u d e n u n d d e r Deutschen erscheint, was aber in den Verhältnissen von 1800 eine immanente Logik hatte, war mit diesem Verzicht auf die Totalität einer jüdischen Existenz in Deutschland gegeben. Die entschlossensten Kämpfer f ü r die Sache der J u d e n u n t e r d e n Nichtjuden waren gerade die, die am bewußtesten und artikuliertesten mit d e m Verschwinden d e r J u d e n als J u d e n rechneten, j a dieses Verschwinden der jüdischen Volksgruppe als G r u p p e f ü r eine Vorbedingung ihres Eintretens f ü r die Sache d e r J u d e n hielten, wie etwa Wilhelm von Humboldt. Die Liberalen e r h o f f t e n eine entschlossene fortschreitende Selbstauflösung d e r J u d e n . Das Geschichtsbewußtsein d e r Konservativen machte sie diesen neuen T ö n e n gegenüber reserviert. Sie beginnen, d e n J u d e n die allzugroße Leichtigkeit anzukreiden, mit d e r sie auf ihr eigenes Bewußtsein verzichten. Die Selbstaufgabe der J u d e n wird ebensosehr begrüßt, j a gefordert, wie zugleich häufig g e n u g als Argument f ü r ihre Substanzlosigkeit a n g e f ü h r t . Wir haben deutliche Zeugnisse d a f ü r , daß zu einer Mißachtung, mit d e r so viele Deutsche auf die J u d e n blickten, auch die Leichtigkeit beigetragen hat, mit d e r d e r e n kulturelle Oberschicht ihre eigene Tradition verleugnete. Was konnte schon ein Erbe wert sein, dessen b e r u f e n e T r ä g e r sich in i h r e r Elite beeilten, es zu verleugnen? So kam es hier zu einer unheimlichen u n d gefährlichen Dialektik. Breite Kreise d e r deutschen Elite verlangten von d e n J u d e n , ihr Erbe aufzugeben u n d setzten geradezu eine Prämie auf d e n Abfall, zugleich aber verachteten viele die J u d e n f ü r eben diese allzu willige Bereitschaft. Die Sozialisten, deren totaler Unernst und ebenso totale Unwissenheit in d e r Diskussion d e r J u d e n f r a g e d u r c h die schmachvollen Invektiven ,Zur J u d e n f r a g e ' von Karl Marx bestimmt wurde, standen d e r Frage dieser Wend u n g vollends hilflos gegenüber u n d konnten n u r auf die Auflösung des jüdi35

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sehen Volkes und seines historischen Bewußtseins drängen, die im Aufstand und Sieg der Revolution sich vollenden würde. Sie konnten überhaupt keinerlei Sinn darin finden, die J u d e n als aktive Partner irgendeiner Auseinandersetzung anzusehen. Ich sprach von einer gefährlichen Dialektik in diesem Prozeß. Die J u d e n führten den Kampf um ihre Emanzipation — u n d das ist die Tragödie dieses Kampfes, die uns heute so bewegt - nicht im Namen ihrer Rechte als Volk, sondern im Namen ihrer Assimilation an die Völker, unter denen sie wohnten. Sie haben damit, indem sie ihr Volkstum aufzugeben bereit waren oder es verleugneten, nicht etwa ihr Elend beendet, sondern nur eine neue Quelle ihrer Leiden eröffnet. Denn die Assimilation hat die J u d e n f r a g e in Deutschland nicht etwa beseitigt, wie ihre Verfechter erhofften, sondern von einer neuen Position aus eher akuter gemacht. J e größer die Berührungsflächen zwischen diesen beiden Gruppen wurden, desto mehr nahmen auch die Reibungsmöglichkeiten zu. Das Abenteuer der Assimilation, in das sie sich so leidenschaftlich (und verständlich!) stürzten, mußte auch die Gefahren vermehren, die aus der wachsenden Spannung erwuchsen. Dazu kam, daß an den Juden, die dieser neuen Begegnung mit den Deutschen ausgesetzt waren, um mich eines Ausdrucks von Arnold Zweig zu bedienen, etwas .zerrüttet' war. Und zwar im doppelten Sinn: sowohl von ihrer Existenz unter ihnen aufgezwungenen unwürdigen Bedingungen und deren Folgen im Persönlichen und Sozialen als auch von ihrer eigenen tiefen Unsicherheit her, die an ihnen von dem Moment an sichtbar wurde, wo sie das Ghetto verließen, um, wie die Losung hieß, Deutsche zu werden. Diese doppelte Zerrüttung der deutschen J u d e n gehört zu den Faktoren, die in dem Prozeß, der sich hier anbahnte, - einem Prozeß im doppelten Sinn des Wortes — retardierende Momente darstellten, die störend u n d bald auch zerstörend wirkten. Die Weigerung so vieler deutscher J u d e n , die Wirksamkeit dieser Faktoren und der sich in ihnen ankündenden Dialektik wahrzunehmen, gehört zu den trübseligsten Erfahrungen des heutigen Lesers solcher Auseinandersetzungen. Die Gefühlsverwirrung der deutschen J u d e n zwischen 1820 und 1920 stellt eine wichtige Instanz f ü r die Erkenntnis ihrer G r u p p e dar, jenes,Deutschjudentums', wie es uns so oft in unserer J u g e n d begegnete und in unserem eigenen Milieu zum Widerspruch aufreizte. Zugleich aber öffnete sich in dieser Unsicherheit auch etwas anderes: mit ihr wurde auch eine langverschüttete Produktivität der J u d e n in ungeahnter Weise wieder frei. Zwar war mit diesem Eintritt in die neue und begierig aufgenommene Welt keine Sicherheit mehr gegeben, wie sie die Tradition den J u d e n einst geschenkt hatte und dem an ihr festhaltenden oft so eindrucksvoll auch weiterhin zu schenken vermochte, aber d a f ü r wurde in den J u d e n , die sich in dieses erregende .Erlebnis' stürzten, etwas aufgerufen, was in der alten O r d n u n g verschüttet oder unsichtbar geworden war. Diese Dinge sind tief aneinander gebunden. Hier ziemt es uns kurz innezuhalten und uns über die positiven Momente klar zu werden, die in diesem Prozeß gerade f ü r die J u d e n , auch weit außerhalb der Grenzen Deutschlands, so bedeutungsvoll wurden. Die Intimität, die f ü r die Juden die Beziehung zum Deutschen annahm, hängt mit der spezifischen histori36

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses sehen Stunde zusammen, in der sie entstand. Als die Juden aus ihrem Mittelalter sich in großen Scharen der neuen Zeit der Aufklärung und Revolution zuwandten, da war für ihre entscheidenden Massen in Deutschland, Österreich-Ungarn und den Oststaaten, also für vier Fünftel des damaligen Judenvolkes unter den gegebenen geographischen, politischen und sprachlichen Bedingungen die deutsche Kultur eben diejenige, der sie zuerst begegneten. Und zwar gerade — und das ist das Entscheidende — an einem ihrer fruchtbarsten Wendepunkte, nämlich auf dem Höhepunkt ihrer bürgerlichen Periode. Man darf sagen, daß es eine glückliche Stunde war, in der die neuerwachende Produktivität der Juden, die nach 1750 so bedeutende Formen annehmen sollte, gerade auf den Höhepunkt einer großen Produktivität des deutschen Volkes traf, die ein Bild des Deutschen hervorrief, das vor 1940 auch durch viele bittere und bitterste Erfahrungen in sehr weiten Schichten nicht erschüttert worden ist. Diese Amalgamierung einer großen historischen Stunde, für die Juden durch die Namen Lessing und Schiller bezeichnet, hat ihrer Intensität und ihrem Umfang nach keine Parallele in den Begegnungen der Juden mit anderen europäischen Völkern. Aus dieser Begegnung her, der ersten auf dem Weg nach Westen, von diesem neuen Bild her fiel ein großer Schein auf alles Deutsche. Noch heute, nach so viel Blut und Tränen, können wir nicht sagen, daß es nur ein trügerischer war. Er war auch mehr. Er enthielt Elemente von großer Fruchtbarkeit, Ansätze zu bedeutenden Entwicklungen. Die Bedeutung, die Friedrich Schiller für die Beziehung der Juden zu Deutschland gehabt hat, ist schwer zu ermessen und von den Deutschen selber selten gewürdigt worden. Schiller, der Sprecher des reinen Menschentums, der deutschen Klassik, der Pathetiker der höchsten Ideale der Menschheit, hat für Generationen von Juden in und fast noch mehr außerhalb von Deutschland das repräsentiert, was sie als deutsch empfanden oder empfinden wollten, selbst dann noch, als diese Sprache in Deutschland selbst, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schon hohl klang. Die Begegnung mit Schiller war für viele Juden realer als die mit den empirischen Deutschen. Hier fanden sie, was sie am glühendsten suchten. Die deutsche Romantik hat vielen Juden etwas bedeutet, Schiller allen. Er war ein Faktor im Glauben der Juden an die Menschheit. Schüler war der sichtbarste, eindrucksvollste und tönendste Anlaß zu den idealistischen Selbsttäuschungen, zu denen die Beziehung der Juden zu den Deutschen geführt hat. Hier war das Programm, das dem neuen Juden, der seine Selbstsicherheit als Jude verloren hatte, alles zu verheißen schien, was er suchte, und so fand er keine falschen Töne darin, weil das die Musik war, die ihn in der Tiefe ansprach. Auf Schiller, der zu den Juden niemals unvermittelt sprach, haben die Juden in der Tat geantwortet, und in dem Scheitern dieses Dialoges ist vielleicht eines der Geheimnisse des Scheiterns dieser Beziehung überhaupt enthalten. Denn Schüler, an den sich ihre Liebe so leidenschaftlich geheftet hat, war ja kein Beliebiger, er war wirklich der Nationaldichter der Deutschen und wurde in der Zeit von 1800 bis 1900 als solcher von den Deutschen empfunden, so daß die Juden hier nicht, wie das oft genug vorgekommen ist, sich an eine falsche Adresse gewandt haben. 37

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Die unendliche Leidenschaft, die russische J u d e n , die d e n Weg zum Menschlichen in i h r e m eigenen Volke suchten, veranlaßte, den N a m e n Schiller anzunehmen — einer d e r edelsten Figuren der zionistischen Bewegung, Salomo Schiller, ist d a f ü r ein großes Exempel — hat hier wirklich eine Brücke zu d e n Deutschen hin gebaut. Aber dieser Brückenschlag ist unglückseligerweise von den J u d e n aus allein erfolgt. Die Begeisterung der J u d e n f ü r Schiller ist d e n späteren Deutschen nur noch komisch o d e r r ü h r e n d erschienen. Selten n u r regte sich (nicht ganz abwesend) in d e m einen o d e r anderen ein G e f ü h l d a f ü r , d a ß hier wirklich einmal gemeinsamer Boden f ü r vieles hätte gegeben sein können. Die erste Hälfte des 19. J a h r h u n d e r t s war eine Periode d e r entschiedensten A n n ä h e r u n g . Die J u d e n f a n d e n damals auch auf deutscher Seite erstaunlich viel Hilfe u n d zahlreiche einzelne unter ihnen Entgegenkommen in ihrem stürmischen Bildungsstreben. Man kann keineswegs sagen, daß es damals an gutem Willen gefehlt hat, u n d wer Biographien der jüdischen Elite dieser Zeit liest, trifft immer wieder auf solches Verständnis auch in sehr christlich- betonten Kreisen (wie den H e r r n h u t e r n ) . Bei diesem Bildungsbestreben aber blieb es nicht, der inneren Dynamik dieses Prozesses nach. Wir finden hier d e n radikalen Übergang d e r J u den aus d e m alt-traditionellen Lebenskreis, d e r bei ihrer Majorität noch vorwog, zu einem Germanismus, d e m ,die deutschnationale Bildung d e r J u d e n u n d ihre Teilnahme an d e n allgemeinen menschlichen u n d bürgerlichen Interessen als die wesentlichste Aufgabe erschien, der ein j e d e r sich widmen müsse, welcher etwas von sich erwartet', wie es d e r Herbatianer Moritz Lazarus, ein ganz reiner Vertreter dieser T e n d e n z , formuliert hat, d e r d e n Übergang vom reinen talmudischen J u d e n t u m zu dieser neuen deutsch-jüdischen Lebensform in f ü n f J a h r e n vollbracht hat! Das unendliche Verlangen, nach Hause zu kommen, verwandelte sich bald in die ekstatische Illusion zu Hause zu sein. Daß d e r noch heute d e n Betrachter bestürzenden Schnelle dieser Verwandlung, der Eile dieses A u f b r u c h s des J u d e n keine ebenso schnelle Reaktion d e r Deutschen gegenüberstand, ist ebenso bekannt wie begreiflich. Sie wußten nicht, mit wie tiefen Prozessen des Verfalls d e r jüdischen Tradition und des Selbstbewußtseins d e r J u d e n sie zu tun hatten u n d schraken vor diesem Prozeß sichtbar zurück. So sehr sie das schließliche Resultat dieses Vorgangs begrüßt hätten, das mindestens der liberalen u n d weitgehend sogar d e r konservativen Ideologie entsprach, so wenig waren sie auf dieses T e m p o vorbereitet, das ihnen überhitzt erschien, dessen Aggressivität sie in Abwehrstellung versetzte. U n d diese wiederum verband sich f r ü h e r o d e r später mit d e n Strömungen, die von vornherein diesen ganzen Prozeß mit Abneigung a u f n a h m e n u n d d e n e n es an beredten Sprechern seit d e r nach-mendelssohn'schen Generation nie gefehlt hat. Die Rede vom,Wirtsvolk', bei dem wir zu Gaste waren, hatte guten Sinn. Auch im besten Fall war es eine A u f n a h m e des Gastes in die Familie — auf W i d e r r u f , wenn wir etwa d e n Bedingungen nicht entsprachen. Das wird oft gerade bei den Liberalen besonders deutlich. Die heutzutage manchmal gehörte Rede vom Verschmelzungsprozeß d e r beiden G r u p p e n , d e r angeblich o h n e das Eingreifen des Nationalsozialismus zwischen der großen Mehrheit d e r deutschen J u d e n u n d 38

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses den .andersgläubigen Bürgern' — das ist von einem Juden in Deutschland 1965 gedruckt worden! — auf dem besten Wege gewesen wäre, ist ein zurückprojezierter Wunschtraum. Gewiß, die völlige Hingabe so vieler Menschen ans deutsche Volk, die sich in ihren (zahlreich vorhandenen) Autobiographien als ,von jüdischer Abstammung' bezeichneten, weil sie sonst innerlich nichts mehr mit der jüdischen Tradition, geschweige d e n n mit dem jüdischen Volk verband, gehört zu den erschütterndsten Phänomenen dieses Entfremdungsprozesses. Unendlich lang ist die Verlustliste der J u d e n an die Deutschen, eine Liste großer und oft erstaunlicher Begabungen u n d Leistungen, die den Deutschen dargebracht wurden. Wer kann ohne Ergriffenheit ihre Geschichte lesen, wie die jenes Otto Lippmann aus Hamburg, die bis in den Freitod hinein ihren Anspruch aufrechterhielten, bessere Deutsche zu sein als die, die sie in den Tod trieben, und es ist kein Wunder, daß jetzt, wo alles vorbei ist, viele diesen Anspruch als berechtigt anerkennen wollen. Diese Menschen haben gewählt und wir sollten sie den Deutschen nicht streitig machen. Und dennoch wird uns oft dabei nicht wohl, denn unser Gefühl weist auf den inneren Zwiespalt auch dieser Lebensläufe hin. Noch in der völligen Entfremdung von allem Jüdischen' in ihrem Bewußtsein wird in vielen von ihnen etwas sichtbar, was von J u d e n und Deutschen gleicherweise — nur von den Betreffenden nicht! - als jüdische Substanz empfunden wurde, wie das f ü r so viele bedeutende Köpfe von Karl Marx und Lassalle bis Karl Kraus, Gustav Mahler und Georg Simmel gilt. Niemand hat diesen Prozeß des Aufbruchs der J u d e n von sich selbst hinweg tiefer bezeichnet als Charles Péguy, der eine unter Nichtjuden selten erreichte oder gar übertroffenen Einsicht in die jüdische Situation hatte. Von ihm stammt der Satz: ,Être ailleurs, le grand vice de cette race, la grande vertu secrète, la grande vocation de ce peuple.' Dieses .Woanderssein' war es, das sich mit dem verzweifelten Wunsch, zu Hause zu sein, so intensiv, fruchtbar und zerstörerisch zugleich verband. Es ist das Stichwort, f ü r das Verhältnis der Juden zu den Deutschen. Es ist zugleich das, was f ü r den heutigen Betrachter ihre symbolische Stellung so anziehend, ergreifend und in einem bedeutenden Sinn positiv macht, wie es das ist, was sie damals beunruhigend, unter falschen Masken agierend und den Widerspruch herausfordernd erscheinen ließ. Den J u d e n in Deutschland kam nicht zugute, was heute, unter sehr veränderten Verhältnissen, in einem wichtigen Teil d e r Gesellschaft ihnen gerade positive Bedeutung gibt und Berücksichtigung zuteil werden läßt; ich meine ihre Würdigung als klassische Repräsentanten des Phänomens der Entfremdung des Menschen in der Gesellschaft. Die Entfremd u n g des J u d e n von seinem eigenen Nährboden, seiner Geschichte und Tradition, und noch mehr seine E n t f r e m d u n g in d e r sich bildenden bürgerlichen Gesellschaft wurde ihm verübelt. Daß er nicht recht zu Hause war, wie sehr er auch seinen Anspruch darauf nachdrücklich anmeldete, also was jetzt manchmal als ein Gleichnis der .condition humaine' ihm zum Ruhmestitel angerechnet wird, das bildete in d e r Geschichte dieser Beziehungen, als Entfremdung noch ein Schimpfwort war, eine Anklage. Und es entspricht diesem vertrackten Zustand, daß die J u d e n selber in ihrer großen Mehrheit diese Wertung ihrer Umgebung 39

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit teilten, gerade in i h r e m bewußten Stande, u n d eine Verwurzelung, ein Zuhausesein im Deutschen anstrebten o d e r behaupteten, das ihnen die größte Mehrheit ihrer U m g e b u n g nicht recht glaubte. (Der laute H o h n , den die Erscheinung d e r sogenannten Nationaldeutschen J u d e n in d e n 1920er J a h r e n weckte, ist sehr charakteristisch!) So war d e n n von vornherein in diesen Verhältnissen ein Zündstoff angeh ä u f t , d e r gefährlich g e n u g war. Der Prozeß des Hineinwanderns d e r J u d e n in die deutsche Gesellschaft hatte sehr verschiedene Aspekte. Die wichtige Tatsache, daß die J u d e n ihre eigene Elite weitgehend d u r c h T a u f e u n d Mischehe in diesen Generationen verloren haben, weil sie selber diesen Losungen in solcher Radikalität gar nicht zu folgen bereit waren, weist auf folgenreiche Differenzier u n g e n in diesem Vorgang selber hin. Sehr breite Schichten der deutschen J u d e n waren zwar bereit, ihr Volkstum zu liquidieren, wollten aber, in freilich sehr verschiedenen Ausmaßen, ihr J u d e n t u m , als Erbe, als Konfession, als ein Ichweißnichtwas, ein undefinierbares u n d doch im Bewußtsein deutlich vorhandenes bewahren. Sie waren, was oft vergessen wird, zu j e n e r totalen Assimilation, welche die Mehrheit i h r e r Elite mit dem Verschwinden zu bezahlen bereit war, nicht bereit. Sie waren in ihrem Gefühl unsicher u n d verwirrt, aber das Schauspiel ihrer eigenen Avantgarde, die ihnen davonrannte, war ihnen zu viel. Diese unaufhörlichen Aderlässe, d u r c h die die J u d e n die Majorität ihrer fortgeschrittensten Schichten an die Deutschen verloren, bildeten einen wichtigen, von jüdischer Seite aus sehr melancholisch stimmenden Aspekt d e r sogenannten deutsch-jüdischen Symbiose, von d e r jetzt so gern u n d in reichlich fahrlässiger Weise gesprochen wird. So blieben die kleinen und kleinsten B ü r g e r beim sozialen Aufstieg im Lauf des 19. J a h r h u n d e r t s das eigentliche Gros d e r J u d e n und mußten in j e d e r Generation eine ganz neue Führerschicht aus sich hervorbringen. Es ist eine seltene Ausnahme, Nachkommen j e n e r Familien, die nach 1800 beim .Aufbruch* ins Deutsche hin f ü h r e n d waren, noch im 20. J a h r h u n d e r t unter d e n J u d e n zu finden. Andererseits blieben die Schichten d a r u n t e r jeweilig d e m J u d e n t u m fast geschlossen erhalten, freilich einem verwässerten o d e r eher vertrockneten, entleerten J u d e n t u m , das aus einer sonderbaren Mischung einer rationalen Vernunftreligion mit starken, nicht selten abgeleugneten u n d dennoch höchst wirksamen G e f ü h l s m o m e n t e n zusammengesetzt war. Die Stellung d e r J u d e n zu d e n Überläufern aus ihrer eigenen Mitte war dabei sehr schwankend, wie das etwa in ihrer Haltung zu d e r Erscheinung Heinrich Heines sehr deutlich wird. Sie geht von tiefer gefühlsmäßiger Ablehnung bis zur halbbilligenden Gleichgültigkeit. Heine freilich war ein Grenzfall. Er konnte von sich sagen, daß er zum J u d e n t u m nicht zurückgekehrt sei, d a er es nie verlassen habe. Dabei d ü r f e n auch die inneren S p a n n u n g e n in d e r jüdischen Gesellschaft selber nicht unberücksichtigt bleiben, die das Verhältnis zur deutschen Umwelt nicht wenig beeinflußten. Deutschland war j a d e r Schauplatz besonders erbitterter Auseinandersetzungen zwischen d e n F r o m m e n d e r alten Schule, d e n Landjud e n u n d ihren F ü h r e r n einerseits, u n d d e n ,Neologen' die hier schnell das Über40

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses gewicht, wenn schon nicht immer numerisch, so doch gesellschaftlich und politisch erhielten. Der Terminus Assimilation wurde zuerst von deren Verteidigern durchaus positiv, im Sinne eines Ideals verwendet, obwohl sie später, als die Zionisten ihnen das Wort im Hohn und als Schimpfwort zurückgaben, doppelt entrüstet waren, als ,Assimilanten' angesprochen zu werden. Diese in vielen Variationen sich manifestierende Tendenz zur Assimilation war gewiß ein bedeutender Faktor. Es ist aber nicht eindeutig zu sagen, wie weit jeweils die Fürsprecher dieser Tendenz zu gehen bereit waren, u n d nicht alles läßt sich hier über einen Kamm scheren. Jedenfalls war hier von jüdischer Seite selber eine starke Note der Kritik an J u d e n und an dem alten J u d e n t u m vorhanden, und es ist bekannt, wie oft sich bei einzelnen bis zu jenen extremen Formen steigerte, die wir als jüdischen Antisemitismus kennengelernt haben. Verdankt man doch einem deutschen Juden, der das J u d e n t u m verlassen hatte, obwohl er, wie er schrieb, natürlich wußte, daß man das nicht kann, die .erbarmungslosesten Nacktaufnahmen' der Berliner jüdischen Bourgeoisie, die überhaupt existieren, und die als ein unheimliches Dokument der jüdisch- deutschen Realität bleiben werden — ich meine die von Kurt Tucholsky verfaßten .Monologe des Herrn Wendririer'. Die Antisemiten haben sich bemüht, die Juden so schlecht zu machen, wie sie konnten, aber ihre Sachen lesen sich merkwürdig überspannt und hohl. Der Haß ist da, aber keine Sachkenntnis und kein Gefühl der Atmosphäre. So kommt es — kaum verwunderlich — daß es einem der begabtesten und widerwärtigsten jüdischen Antisemiten vorbehalten blieb, auf einem hohen Niveau das zu leisten, was die Antisemiten selber nicht fertig brachten. O f t finden wir in derselben Familie Repräsentanten extremer Möglichkeiten. Das gilt etwa f ü r die Brüder Jakob und Michael Bernays (deren Nichte die Frau von Sigmund Freud wurde). Der eine, ein klassischer Philologe höchsten Ranges, blieb der strengsten jüdischen Orthodoxie bis ins Neurotische hin treu; der andere verließ das J u d e n t u m , um eine noch glanzvollere Karriere als Germanist und Deuter Goethes einzuschlagen. Die Brüder haben nie wieder ein Wort miteinander gewechselt. Das gilt auch f ü r die Vetter Georg Herrmann aus der Familie Borchardt, der die Berliner jüdische Bourgeoisie mit ebensoviel Kritik und Ironie wie auch Liebe in unübertroffener Weise geschildert hat, u n d dessen unerhört begabter Vetter Rudolf Borchardt, der, nachdem er das Jüdische in sich vernichtet zu haben glaubte, zum beredtesten Sprecher eines kultur-konservativen deutschen Traditionalismus wurde, dessen schiere Paradoxie jeden seiner Hörer oder Leser, n u r nicht ihn selber, erschreckte. Die Majorität war aber nicht bereit, bis ans Ende zu gehen, und viele suchten nach einem mittleren Weg. Ihre größten Begabungen sind aber nur selten der Sache d e r J u d e n zugute gekommen, wie etwa in so bedeutenden und zugleich problematischen Figuren wie Leopold Zunz, dem Begründer der Wissenschaft vom J u d e n t u m , Ludwig Steinheim und Herrmann Cohen, ihren besten religionsphilosophischen Köpfen, sowie Abraham Geiger und Samson Raphael Hirsch, den zwei bedeutendsten Gestalten u n d extremen Gegenpolen des jüdischen Rabbinates in Deutschland. Das Gros ihrer fähigsten Köpfe ist aber in einem erstaunlich rei41

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit chen Ausbruch von Produktivität der deutschen Gesellschaft zugute gekommen, in Wirtschaft, Wissenschaft, Literatur u n d Kunst. Der große amerikanische Soziologe, Thorstein Vehlen, hat in einem b e r ü h m t e n Essay ü b e r die intellektuelle ,Pre-eminence of Jews in m o d e r n Europe' geschrieben. Es ist gerade diese ,Prä-Eminenz', die d e n J u d e n in Deutschland zum Verhängnis geworden ist. Denn als die J u d e n ihre wirtschaftliche Funktion, die sie als eine vorantreibende Kraft in d e r Entwicklung Deutschlands im 19. J a h r h u n d e r t innehatten, längst erfüllt hatten u n d man sie dazu nicht m e h r brauchte, hatten sie noch i m m e r , j a gerade erst recht im 20. J a h r h u n d e r t , eine kulturelle Funktion, die von A n f a n g an U n r u h e u n d Widerstand erweckt u n d ihnen nicht genutzt hat. Daß die Deutschen die J u d e n in ihrer geistigen Welt nötig hatten, wird jetzt, wo sie nicht m e h r da sind, von vielen bemerkt u n d der Verlust beklagt, aber als sie sie hatten, wirkten sie, gewollt u n d ungewollt, als irritierendes Element und ihre PräEminenz ist ihnen zum Unheil ausgeschlagen. Denn die Deutschen standen in ihrer großen Majorität diesem Anmarsch der jüdischen Intelligenz, wie überh a u p t d e m Phänomen des Eintritts der J u d e n in die deutsche Gesellschaft, mit großer Reserve gegenüber. Sie waren, wie schon gesagt, auf das stürmische T e m po dieses Vorgangs, das ihnen unheimlich vorkam, nicht gefaßt. Der politischen Emanzipation, zu der sie in d e r Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s schließlich endgültig bereit waren, stand keine gleiche Bereitschaft zur rückhaltlosen A u f n a h m e in die kulturell aktive Schicht gegenüber. Und die J u d e n , mit ihrer langen intellektuellen Tradition, fanden sich freilich f ü r eine solche aktive Rolle, als sie n u n ins deutsche Volk einzugehen suchten, wie geschaffen. Aber gerade das erregte d e n Widerstand, d e r aktiv u n d virulent wurde, bevor dieser Prozeß d e r Rezeption sich hätte vollenden können. Die Liebesaffäre d e r J u d e n mit d e n Deutschen blieb, aufs Große gesehen, einseitig, unerwidert u n d weckte im besten Fall etwas wie R ü h r u n g (wie z. B. bei Theodor Fontane, u m n u r ein sehr berühmtes Beispiel zu nennen) o d e r Dankbarkeit. Dankbarkeit haben die J u d e n nicht selten g e f u n d e n , die Liebe, die sie gesucht haben, so gut wie nie. Es hat unter den J u d e n verkannte Genies gegeben, Propheten, die u n g e r n gehört w u r d e n , Männer von Kopf, die sich f ü r Gerechtigkeit, u n d nicht weniger Männer, die sich f ü r große Geister unter d e n Deutschen eingesetzt haben. Das Letztere geradezu in erstaunlichem Maß, f ü r das es keiner Dokumentation bedarf. Sind doch fast sämtliche der bedeutendsten Interpretationen Goethes von J u d e n verfaßt! Aber keiner unter den Deutschen hat sich j e f ü r einen J u d e n aus j e n e r e b e n erwähnten G r u p p e engagiert. Hier liegt ein g r o ß e r Unterschied zwischen Franzosen und Deutschen vor. Nichts in d e r deutschen Literatur entspricht j e n e n unvergeßlichen Seiten, auf d e n e n der katholische Franzose Charles Péguy das Portrait Bernard Lazares, eines jüdischen Anarchisten, als eines d e r wahren Propheten Israels festgehalten hat, und das zu einer Zeit, als die französischen J u d e n nichts Besseres wußten, als einen ihrer größten Männer verlegen oder bösartig, aus Ranküne o d e r aus Dummheit, totzuschweigen. Hier gab es einmal N e h m e n u n d Geben; hier sah ein Franzose einen J u d e n , wie ihn die J u d e n selber nicht zu sehen vermochten. Oh, wenn es doch solch ein einziges P h ä n o m e n 42

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses des Sehens auch einmal unter den Deutschen gegeben hätte! Das wäre Rechtfertigung für vieles gewesen. Mir ist kein Fall bekannt. Wenn doch ein deutscher Schriftsteller etwa die Größe von Moses Hess erkannt hätte, als die Juden über ihn schwiegen oder sich lustig machten — und Moses Hess stellt unter den deutschen Juden in der Tat das genaueste Gegenstück zu Bernard Lazare, dem ersten Zionisten unter den französischen Juden, dar. Solch Phänomen hätte bewiesen, daß es auch eine Resonanz der Juden bei den Deutschen gab und nicht nur eine Resonanz der Deutschen bei den Juden. Péguy hat bewiesen, daß es einen französischjüdischen .Dialog' in einem echten Sinne geben konnte. Er hat mehr über diesen bestimmten Juden und gerade als Juden erkannt als j e ein Jude selber. Solche allein reale Rechtfertigung für den vielberufenen deutsch-jüdischen Dialog, der nie stattgefunden hat, steht aus. Kein Deutscher hat Kafka, Simmel, Freud oder Walter Benjamin erkannt, als kein Hahn nach ihnen krähte — geschweige denn als Juden erkannt. Die verspätete Geschäftigkeit verschlägt hier nichts. Nur sehr wenige Deutsche, freilich einige ihrer edelsten Geister, haben die Unbefangenheit wirklicher Humanität gehabt, die den Juden als Juden sah und gelten ließ, wie man sie etwa bei Johann Peter Hebel findet. Gerade bei den Liberalen sind die Vorbehalte unverkennbar. Fritz Reuter, einer der charakteristischsten Köpfe der norddeutschen liberalen Intelligenz, wußte, als er 1870 eine Rede zur Feier der Einigung Deutschlands hielt, nichts Besseres zu tun als gegen ,die elenden Judenbengels wie z. B. Heinrich Heine' loszuziehen, die des Patriotismus ermangelt hätten. Das Gefühl, daß der Liberalismus der Juden von radikalerer Natur war, daß sich in ihm subversive Tendenzen ankündigten, war weit verbreitet. In der Tat ist der Anteil der Juden an der Kritik öffentlicher Angelegenheiten in Deutschland in den 100 Jahren ihres publizistischen Auftretens höchst sichtbar, ganz anders als ihr, ebenfalls vorhandener, an gegenteiligen Bestrebungen, die fast nur, freilich besonders eindrücklich, von Getauften wie Friedrich Julius Stahl oder Rudolf Borchardt vertreten wurden. Am Widerspruch zu dieser, in der Geschichte der Juden und ihrer gesellschaftlichen Stellung und Funktion tief begründeten Haltung rankte sich das von ihnen mit besonderer Blindheit aufgenommene Phänomen des Antisemitismus empor, der in dem nun immer kritischer werdenden Verhältnis der Juden und der Deutschen eine unfruchtbare und zerstörerische Bedeutung annahm. Es braucht hier nicht besonders betont zu werden, daß es spezifische gesellschaftliche und politische Bedingungen waren, unter denen schließlich die radikalsten Formen des Antisemitismus zur Herrschaft in Deutschland gelangten. Aber nichts ist törichter als die Meinung, der Nationalsozialismus sei sozusagen vom Himmel gefallen oder ausschließlich ein Produkt der Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg. Daß er in allen seinen mörderischen Folgen virulent werden konnte, verdankt er einer langen Vorgeschichte. Nicht wenige der Schriften gegen die Juden aus dem 19. Jahrhundert lesen sich wie ganz unverstellte Dokumente des späteren Nazitums, keine wohl unheimlicher als Bruno Bauers ,Das Judentum in der Fremde' von 1869, in dem man schon alles lesen kann, und in nicht weniger radikaler Formulierung, was im Tausendjährigen Reich gepredigt wurde. Und das aus der Feder eines Führers 43

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der ehemaligen Hegeischen Linken. Daneben hat es an sublimen Formen des Antisemitismus nie gefehlt, wie sie etwa in den zwischen Haß und Bewunderung hin und hergeworfenen Formulierungen in Hans Blühers .Secessiojudaica' kurz nach dem Ersten Weltkrieg ihren Ausdruck gefunden haben. Hier gab die auf den Hund gekommene Metaphysik in Gestalt des feinen Antisemitismus dem mörderischen das Stichwort. Und nichts bedrückt uns heute vielleicht mehr als das Schwanken vieler Deutscher, auch unter ihren bedeutendsten Köpfen, angesichts der dunklen Welle. Max Brod hat von der .Distanzliebe' gesprochen, die als die ideale Beziehung zwischen Deutschen und Juden hätte herrschen sollen, einem dialektischen Begriff, wo das Bewußtsein der Distanz allzu grobe Intimität verhindert, zugleich aber aus dem Gefühl der Entfernung heraus den Wunsch schafft, eine Überbrückung zu vollziehen. Gewiß wäre dies für die hier in Frage stehende Periode eine Lösung gewesen, hätten beide Parteien sich zu ihr verstanden. Aber Brod selber hat erkannt: Wo Liebe ist, schwindet das Gefühl für Distanz — und das galt für die Juden - und wo Distanz ist, kommt keine Liebe auf, und das galt für das Gros der Deutschen. Der Liebe der Juden zu Deutschland entsprach die betonte Distanz, mit der die Deutschen ihnen gegenübertraten. Gewiß, aus ,Distanzliebe' heraus hätten diese Partner mehr Güte, Aufgeschlossenheit, Verständnis füreinander aufbringen können. Aber historische Konjunktive sind immer illegitim, und wenn Distanzliebe die, wie wir jetzt wahrnehmen können, zionistische Antwort auf die unaufhaltsam sich anbahnende Krise zwischen Juden und Deutschen gewesen wäre, so kam diese Losung der zionistischen Avantgarde zu spät. Die deutschen Juden, die durch ihren Sinn für Kritik bei den Deutschen ebenso berühmt wurden wie sie ihnen dadurch auf die Nerven gingen, haben sich in diesem, der Katastrophe vorausgehenden Generationen durch einen erstaunlichen Mangel an Kritik ihrer eigenen Lage ausgezeichnet. Die erbauliche und apologetische Haltung, der Mangel an kritischem Freimut verdirbt fast alles, was man von ihrer Seite über die Stellung der Juden in der deutschen Geisteswelt, in Literatur und Politik und Wirtschaft lesen kann. Die Bereitschaft vieler Juden, eine Theorie für das Opfer ihrer jüdischen Existenz zu erfinden, ist ein erschütterndes Phänomen, das sich in vielen Varianten ausgedrückt hat. Wo stehen wir nun, nach dem unsagbaren Grauen jener 12 Jahre? Die Juden und die Deutschen haben nach dem Krieg einen sehr verschiedenen Weggenommen. Die Juden haben, in ihrem vitalsten Teil, versucht, sich eine eigene Gesellschaft im eigenen Lande aufzubauen. Niemand kann sagen, ob es ihnen gelingen wird, aber jeder weiß, daß die Sache Israels für die Juden lebenswichtig ist. Die Dialektik ihres Unternehmens ist augenfällig. Sie leben auf einem Vulkan. Ihrem großen Aufschwung, der von der Erfahrung der Katastrophe, sagen wir's rund heraus: ihrer Erfahrung mit dem deutschen Judenmord und mit der Stumpfheit der Welt bestimmt war, ist auch eine tiefe Müdigkeit gefolgt. Aber noch immer wirkt jener Antrieb, der von ihrer ursprünglichen Einsicht in ihre wahre Lage bestimmt war. Die Deutschen haben ihre Katastrophe mit der Teilung ihres Landes bezahlt und andererseits einen materiellen Aufschwung erlebt, der die vergange44

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses

nen Jahre in den Schatten stellte. Ob es zwischen den zwei Bergen, die aus dem vulkanischen Ausbruch hervorgekommen sind, wohl eine, wie immer schwankende, Brücke geben kann? Der Abgrund, den die Ereignisse zwischen ihnen aufgerissen haben, kann nicht ergründet und ausgemessen werden. Ich glaube nicht, daß nur die völlige Aufnahme dieses Abgrunds in unser Bewußtsein nach allen seinen Dimensionen und in all seinen Bedeutungen es möglich machen wird, ihn zu überwinden—eine Meinung, die man in Israel oft hört. Es ist eine trostlose Prognose, die freilich nur in Worten besteht. Denn in Wahrheit gibt es diese Möglichkeit gar nicht, das Geschehene, dessen Unfaßbarkeit ja gerade sein Spezifikum ist, zu erfassen, voll zu erkennen und so durchdrungen in unser Bewußtsein aufzunehmen. Es wäre eine Forderung, die ihrer Natur nach unerfüllbar ist. Ob wir in diesem Abgrund uns begegnen können, weiß ich nicht. Und ob der Abgrund, den unsagbares, unausdenkbares Geschehen aufgerissen hat, geschlossen werden kann, wer möchte sich vermessen, es zu sagen? Abgründe werden vom Geschehen aufgerissen, Brücken werden vom reinen Willen gebaut. Brücken sind notwendig, um über Abgründe zu führen, sie werden konstruiert, sie sind ein Erzeugnis bewußten Denkens und Wollens. Moralische Brücken, ich wiederhole es, sind Erzeugnisse eines reinen Willens. Sie müssen von beiden Seiten her fest verankert und gegründet werden, wenn sie Bestand haben sollen. Israel hat mit fast allen Völkern Europas Fürchterliches durchgemacht. Die Brücken, auf denen wir uns mit anderen Völkern treffen, sind schwankend genug, auch wenn sie nicht von der Erinnerung an Auschwitz belastet sind. Aber — ist diese Erinnerung nicht auch eine Chance? Brennt in diesem Dunkel nicht auch ein Licht, das Licht der Einkehr? Anders gesprochen: Fruchtbare Beziehungen zwischen Juden und Deutschen, in denen eine bedeutende und ebensosehr eine die Sprache lähmende grauenhafte Vergangenheit aufbewahrt und neu verarbeitet sein sollen, sie müssen, wenn anders sie noch einmal aktuell werden können, im Verborgenen vorbereitet werden. In solchem neuen Wirken liegt die einzige Garantie, daß die öffentlichen Beziehungen unserer Völker nicht von gefälschten Losungen und Forderungen vergiftet werden. Zu einem neuen Verständnis bedarf es, wo Liebe nicht mehr aufgebracht werden kann, anderer Ingredienzen: der Distanz und des Respektes, der Offenheit und Aufgeschlossenheit, und mehr als alles, des reinen Willens. Ein junger Deutscher schrieb mir, er hoffe, die Juden mögen, wenn sie an Deutschland denken, sich des Wortes Jesajas erinnern: .Gedenket nimmer des frühern, dem vormaligen sinnt nimmer nach.' Ob die messianische Zeit den Juden Vergessen schenken wird, weiß ich nicht. Es ist ein heikler Punkt der Theologie. Aber von uns, die illusionslos in einer unmessianischen Zeit leben müssen, wird mit solcher Hoffnung das Unmögliche verlangt. So erhaben das sein mag, wir können es nicht liefern. Nur im Eingedenken des Vergangenen, das niemals ganz von uns durchdrungen werden wird, kann neue Hoffnung auf Restitution der Sprache zwischen Deutschen und Juden, auf Versöhnung der Geschiedenen keimen." 45

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

5.1.3 Der Präsident des Deutschen Bundestages, Eugen Gerstenmaier „Meine Damen und Herren! Den Ruf des Jüdischen Weltkongresses, hier zu sprechen, empfinde ich als eine ungewöhnliche Auszeichnung, aber ich habe die schwersten Zweifel, ob es einem Deutschen, der nicht f ü r sich, sondern f ü r sein Land sprechen soll, möglich ist, mit seiner Stimme über den Abgrund zu dringen, der J u d e n und Deutsche trennt. Ich verstehe recht gut jene unter Ihnen, die diesem Versuch widersprochen haben, und ich würde es auch begreifen, wenn der u n d jener sich beide Ohren zuhielte, um eine deutsche Stimme nicht hören zu müssen — was sie auch immer sagt. Ich möchte damit n u r andeuten, daß ich mir trotz Ihrer Einladung keine Illusionen mache über das geschichtliche Gewicht und die menschlichen Folgen der ungeheuren Blutschuld, die im Namen Deutschlands nicht allein, aber vor allem an den J u d e n begangen wurde. Auch heute, nach mehr als zwanzig Jahren, steht diese Blutschuld völlig unbezwingbar vor uns. Von ihr geht noch immer ein solcher Dunst der Düsternis u n d der Vergeblichkeit aus, daß ihr viele Deutsche einfach nicht standzuhalten vermögen. Der Fluch des Unabänderlichen ist so groß, daß sich auch die Entschlossensten, die Tatkräftigsten und die Gutwilligsten unter uns n u r mit Mühe seiner lähmenden Wirkung entziehen. Gerade deshalb aber muß uns Deutschen diese Stunde etwas bedeuten. So groß meine Bedenken auch waren, so ernstlich ich mich fragte, ob dem Jüdischen Weltkongreß damit nicht zuviel zugemutet werde, so dankbar bin ich doch Ihrem Präsidenten, Herrn Dr. Nahum Goldmann, f ü r den Versuch, auch auf einem Jüdischen Weltkongreß über den schrecklichen Abgrund zwischen J u d e n u n d Deutschen hinweg menschliche Stimmen vernehmbar zu machen. Die Anlage dieses Vesuches mit seiner eindringlichen historischen Vergegenwärtigung halte ich schon deshalb für richtig, weil man sehen muß, was man verloren hat, u n d weil man wissen muß, daß der Rassenwahn der Hitler, Himmler und Genossen eben nicht n u r die Marotte einer verrückten Verbrecherclique war. Dieser Wahnsinn hatte Wurzeln. Man muß sie freilegen, um sie auszureißen. Wenn ich diese Stunde indessen recht verstehe, so sollte sie nicht n u r der Vergangenheit und dem Blick in den Abgrund und auf das Verlorene gelten. Es mag sein, daß es meiner Generation versagt bleibt, eine neue befreite Verbindung von Deutschen und J u d e n zu erleben. ,Es hat ja doch alles keinen Sinn! Über den Berg von Leichen kann keiner mehr hinweg!' Das ist die Stimme, die ich häufiger von Deutschen als von J u d e n höre. Sie droht alles zu lähmen, denn sie führt nicht nur in das Schweigen, sondern auch in die resignierte Tatenlosigkeit. Man kann nicht leugnen, daß diese unfruchtbare Reue im Deutschland von heute nicht ganz selten ist. Zuweilen verbindet sie sich mit einer primitiven Gedankenlosigkeit, aber noch öfters mit einem instinktiven Verdrängungswillen. Nur nichts mehr hören vom ganzen Schwindel, n u r nichts mehr sehen vom Grauen des Abgrunds! Kann es nicht endlich, endlich einmal vorbei sein! — So ungefähr artikuliert sich die Flucht vieler Deutscher vor unserer jüngsten Vergangenheit. 46

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses Die Berichte über die KZ-Prozesse sind nach meiner Schätzung nicht populär. Aber es ist eine gründliche Fehlinterpretation, wenn daraus auf nennenswerte Restbestände des Nationalsozialismus in Deutschland geschlossen wird. Man könnte eher daraus auf das Gegenteil schließen. Denn in dieser Abwehrhaltung meldet sich auch jenes E m p f i n d e n f ü r die größte Schande, die Deutschland von Deutschen j e angetan wurde. U n d es lebt d a r i n d e r d u m p f e Protest gegen die Last einer verruchten Vergangenheit, die kein Mensch .bewältigen' kann. Es gibt heute jedenfalls kein Deutschland, das seine Vergangenheit bewältigt hat. Aber es gibt ein Deutschland, das sich ihrer schämt und das sich geschworen hat, daß ihm Ähnliches nie wieder passiert. Dieses Deutschland ist —was das Mißtrauen auch sage - das größte u n d stärkste. Ich stelle diese B e h a u p t u n g auf Tatbestände. Sie sind nicht n u r die Folgen ä u ß e r e r Ergebnisse wie des verlorenen Krieges, sondern noch m e h r einer inneren W a n d l u n g d e r Deutschen selbst. Was ich d a r ü b e r vor einigen J a h r e n vor der Hebräischen Universität in Jerusalem gesagt habe, b r a u c h e ich in nichts zu ändern. Aber erlauben Sie mir dazu noch einige B e m e r k u n g e n , die sich auf das Verhältnis d e r Deutschen zu d e n J u d e n beziehen. Für mich u n d viele a n d e r e Deutsche meines Alters und H e r k o m m e n s hat es ein J u d e n p r o b l e m erst gegeben, als Hitler vor d e n T o r e n der Macht stand. Unsere jüdischen Mitschüler galten uns ganz selbstverständlich als Deutsche. Im Kreise meiner F r e u n d e hat sich d a r a n auch später gar nichts geändert. Wohl aber haben wir uns oft u n d o f t den bitteren Vorwurf gemacht, daß wir Hitler u n d seine Leute viel zu lange mit den Maßstäben unserer eigenen Welt gemessen haben. Hannah Arendt hat mit ihrem Eichmannbuch d e n Begriff von der .Banalität des Bösen' geprägt. Ich kann ihr dabei nicht folgen. Denn gerade an der Erscheinung d e r Hitler, Himmler, Goebbels, Eichmann u n d Genossen machten wir zusammen mit ungezählten a n d e r e n Deutschen die E r f a h r u n g , d a ß nicht das Böse banal ist, sondern unsere herkömmliche Vorstellung davon. Unser Unglück begann damit, daß die meisten Deutschen, die deutschen J u d e n eingeschlossen, Hitler u n d seine Leute mit d e n Maßstäben ihrer bürgerlichen Moral u n d an dem gemessen haben, was d e r Nationalsozialismus gerade am meisten vorzeigte. Deshalb waren sie z. B. auch so naiv zu glauben, d a ß die Nazis mit d e n üblichen parlamentarischen Mitteln auch wieder davongejagt werden könnten, wenn ihr politisches Versagen offenkundig geworden sei. Das war nicht böse. Das war banal — u n d d e r Weg in die Katastrophe. Anders ausgedrückt: Vor d e r Erscheinung des w a h r h a f t Bösen in d e r Geschichte d e r Deutschen hat im allgemeinen nicht n u r unser Erkenntnisvermögen, sondern auch unsere moralische Orientierung vesagt. Die Geschichte, die Golo Mann erzählte von d e m Versuch seines Großvaters, ü b e r die Grenze zu kommen, ist d a f ü r ein ergreifendes Beispiel. Professor Mann hat völlig recht damit, d a ß m a n das Wort des alten Gelehrten ,wenn die Vorschriften so sind' über die Katastrophe d e r deutschen J u d e n setzen könnte. Aber m a n kann es ebensogut über die Katastrophe im ganzen setzen, die ja eine Katastrophe ganz Deutschlands war. Das Wort des alten jüdischen Professors aus M ü n c h e n war als Ausdruck eines irgendwie auch respektablen, aber 47

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit dochunreflektierten Ordnungs- und Obrigkeitsdenkens so charakteristisch deutsch, wie es nur sein konnte. Mit seinen fünf Vokabeln widerlegt es den abstrusen Schwindel des Hitlerschen Antisemitismus von der unüberbrückbaren Verschiedenheit. Aber diese fünf Vokabeln dokumentieren auch die ganze, teils rührende, teils — verzeihen Sie die Bitternis — verächtliche Insuffizienz j e n e r konventionellen Moral gegenüber dem Bösen. Mit all ihren Qualitäten besaß sie einfach nicht die Maßstäbe für die infernalische Gewalt und Dämonie des Bösen, dessen der Mensch offenbar auch fähig ist. Sie hatte nicht einmal eine Ahnung davon. Golo Mann hat recht, daß, wer erfahren hat, was wir erfuhren, ,dem Menschen überhaupt nicht mehr völlig trauen kann'. Aber ist das wirklich Böse erst mit Hitler in die Welt gekommen? Hatten die Scharfsichtigen, die Unbestechlichen dafür nicht schon zuvor einen Blick? Und was hat uns die Bibel darüber gesagt? Es liegt mir ferne, mit einem Kopfsprung in die Gewässer der Metaphysik oder der theologischen Anthropologie den Teil der Mitverantwortung zu vernebeln, der an dieser Katastrophe dem deutschen Volk zufällt. Vielleicht müssen wir Deutsche gelten lassen, daß sie so nur bei uns möglich war. Dennoch hat Golo Mann mit seiner Feststellung recht, daß die Herrschaft Hitlers—was z. B. William Shirer behauptet hat—,in der deutschen Geschichte nicht vorgezeichnet' war. Ich erlaube mir hinzuzufügen, daß sie auch im deutschen Denken und Fühlen nicht angelegt war. Aber gerade weil ich darin mit Professor Mann übereinstimme, halte ich sein Bild vom Vulkan für inkonsequent. Und in seinem düsteren Satz: ,Wo das möglich war, da wird immer alles möglich sein', erscheint mir mindestens ein Wort fehl am Platz. Es ist das Wort .immer'. Ähnlich wie es deutsche jüdische Emigranten in Amerika in der Auseinandersetzung mit Shirer taten, so hat auch Professor Mann nachgewiesen, daß Hitler nur aufgrund einer großen wirtschaftlichen Krise und unzureichender Maßnahmen demokratischer Reichsregierungen an die Macht kommen konnte. Ich unterstreiche diesen ebenso tristen wie nüchternen Tatbestand nicht zu unserer Entschuldigung, sondern um damit Geschichtsmythen wie den von Shirer fabrizierten entgegenzutreten. Erst als Hitler an der Macht war, erst als das andere Deutschland niedergetreten war und terrorisiert wurde, erst da konnte es Krieg und Judenmord geben. Soll das etwa ,immer' möglich sein? Ich halte diesen Pessimismus für unbegründet und die Versuche, ihn als Realismus darzustellen, für gescheitert. Die jüngsten Prognosen eines bekannten Basler Professors über die Zukunft Deutschlands sind ebenso unbegründet und seine Analysen ebenso falsch wie die Furcht, die das Aufmucken kleiner rechtsradikaler Gruppen in der Bundesrepublik da und dort hervorgerufen hat. Dieses Aufmucken ist ärgerlich und verlangt eine scharfe Kontrolle, aber es ist kein Indiz dafür, daß der Nationalsozialismus neu auflebe oder die Wiederkehr der Barbarei in Deutschland ,immer' möglich sei. Erlauben Sie mir, in diesem Zusammenhang noch ein kurzes Wort über die Hinterlassenschaft des deutschen Widerstands. Es ist nicht wahr, daß er sich nur dem eigenen Land verpflichtet wußte. Er erhob sich, als das Reich Hitlers noch auf

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5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses der Höhe seiner Macht war als Rebellion vor allem gegen den J u d e n m o r d . Dafür gibt es Zeugen und Beweise. Dieser deutsche Widerstand gegen Hitler hat nicht gesiegt. Aber er hat doch etwas zuwege gebracht, was es zuvor in Deutschland so nicht gab: Er hat viele Einzelne zu einer neuen Gewissensorientierung geführt, zu einer neuen persönlichen Moral, und er hat sie damit dazu gebracht, im Dienste der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit mit alten Tabus und Konventionen zu brechen. Vom Fahneneid zum Attentat auf ,den obersten Kriegsherrn' - das ist f ü r Deutsche ein weiter Weg. Der deutsche Widerstand ging ihn bewußt - und diese Bewußtheit, dieses Wagnis der eigenen Orientierung von innen her ist — wie ich glaube — das, womit er noch am ehesten wirksam ist im Deutschland von heute. Etwas von diesem Erbe ist in den großen deutschen Parteien lebendig und wird von ihrer F ü h r u n g bewußt gepflegt. Zum Beglückendsten meiner parlamentarischen E r f a h r u n g in den letzten 17 Jahren gehört die spontane Übereinstimmung der im heutigen Bundestag vertretenen Parteien, wenn es sich u m die Existenz des freiheitlichen Rechtsstaates handelt. Diese Bewußtseinslage trägt auch die außen- und weltpolitische Orientierung der Bundesrepublik Deutschland. Das J a zur europäischen Integration, zu ihrem Strukturwandel und ihren Souveränitätsverzichten ist f ü r uns eine Konsequenz, an d e r wir auch gegen Widerstände, die mehr von außen als von innen kommen, klar festhalten. Den nüchternen politischen Ausblick von Professor Baron kann ich auch deshalb nur bestätigen. Mit dem allem kann und will ich nicht in Abrede stellen, daß es auch im heutigen Deutschland erhebliche Fragwürdigkeiten und ernste Sorgen gibt. Sie stammen nicht n u r aus der abnormen Teilung unseres Landes und nicht n u r aus ungelösten Fragen unserer Zeit. Sie stammen auch und immer wieder aus unserer jüngsten Vergangenheit. Das deutsche Nationalbewußtsein ist wirr u n d ungeklärt. Das deutsche Geschichtsbewußtsein diffus und problematisch. Im Vergleich dazu bedeuten die Reste eines verbiesterten und bösartigen Antisemitismus und Hitlertums im Deutschland von heute wenig. Zur Zeit halte ich die Gefahr ihrer Verharmlosung und Bagatellisierung f ü r geringer als die Gefahr ihrer Überbewertung und der oft überdimensionierten öffentlichen Reaktion darauf. Eine Folge davon ist z. B. die belegte Tatsache, daß Hakenkreuzschmierereien und sogar Friedhofsschändungen in Deutschland bevorzugte Mittel von Lausejungen werden, die nicht einmal wissen, was Antisemitismus ist. Sie wissen aber ganz genau, daß man den Bürger und die öffentliche Meinung in Deutschland mit nichts anderem so leicht hochnervös machen kann wie mit antisemitisch aufgemachten Provokationen. Zu Döblins Bemerkung von 1948, daß das Wort J u d e in Deutschland noch immer ein Schimpfwort sei, kann ich nur Ähnliches sagen. Die Reste des verfaulten Nazismus werden es als Schimpfwort gebrauchen. Aber was besagt das? Für die überwältigende Mehrheit in Deutschland gilt Döblins Bemerkung sicher nicht. Sie ist der entgegengesetzten Gefahr der Tabuisierung alles Jüdischen weit mehr ausgeliefert. Reue, Einsicht, Erkenntnis des schrecklichen Umfangs der brutalen V e r n i c h t u n g - d a s alles gibt es. Auch den Willen zur Wiedergutmachung-soweit

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Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit das überhaupt möglich ist. Was aber fehlt, noch immer fehlt, ist jenes innere Gleichgewicht zwischen Deutschen und Juden, das in der Regel eben normaler menschlicher Beziehungen bedarf. Wo aber sollen sie herkommen? Wie sollen wir aus der traumatischen Befangenheit herauskommen, die uns eine Vergangenheit auferlegt hat, von der man noch immer sagen muß, daß sie eben nicht nur hinter uns, sondern — Golo Mann hat es richtig geschildert — auf uns liegt. Auf uns insgesamt, d. h. auch auf denen, die nicht daran denken möchten und schon gar nicht davon reden wollen. Solange es so ist, sind unserer Sprache — und unserer Gebärde — Grenzen gesetzt, die wir Deutsche auch dann nicht überschreiten dürfen, wenn uns das Herz dazu treibt. — An die Adresse Gerhard Scholens in diesem Zusammenhang: Es gibt auch mißglückte Liebesaffären von Deutschen mit den Juden! Ich rechne dazu nicht die Wochen der Brüderlichkeit und ähnliche ernste, dringliche Bemühungen, in denen nicht nur der gute Wille, sondern die Tränen der Scham, des Herzeleides und der Liebe wie ich glaube kostbare Früchte tragen. Zu den mißglückten Affären rechne ich auch nicht unsere Beziehung zu Israel. Die Schwierigkeiten, die es hier gibt, stammen z. T. einfach aus dem harten Geschäft der Politik. Sie können und müssen ohne Dramatisierung bestanden werden. Ein nobles Beispiel dafür hat soeben der Botschafter Israels in Deutschland, Herr Ben Natan, geliefert. Im Hintergrund allerdings wird es sich auch dabei um den Reflex von Vorgängen handeln, die Herr van Dam vom Zentralrat der Juden in Deutschland kürzlich nüchtern und bündig angesprochen hat. Er sprach davon, daß aus der neuen deutsch-jüdischen Symbiose ,eine deutsch-jüdische, mindestens aber eine deutsch-israelische Psychose geworden ist, die alle neurotischen Symptome übersteigerter Erwartung, ungesunder Liebe und ungesunden Hasses, kurz — eines aus dem Gleichgewicht gebrachten Verhältnisses zur Wirklichkeit trägt'. Die Gefahr, auf die Herr van Dam, hinweist, muß vor allem auch gesehen werden von den jungen Deutschen, die eine solche neue Symbiose stürmisch anstreben. Es muß auch begriffen werden, daß der Antisemitismus nicht geheilt werden kann durch einen noch so eifrig bemühten Philosemitismus. Dazu braucht es mehr, nämlich die sturmfeste Normalisierung. Sie kann nach meinem Verständnis nur auf dem Glauben gründen, daß der Andere bei aller Ehrerbietung vor seiner Individualität und der geschichtlichen Besonderheit seiner Existenz doch schließlich ,ist wie Du'. Aber vielleicht überschreite ich damit schon die Grenze, die mir gesetzt ist. Uns Deutschen wird möglicherweise noch lange jene geduldige und respektvolle Distanz auferlegt sein, die der Unvergeßlichkeit der Katastrophe und der Eigentlichkeit der jüdischen Existenz wahrscheinlich noch immer am angemessensten ist. Lassen Sie mich zum Schluß sagen, daß ich deshalb dem Jüdischen Weltkongreß und seinem Präsidenten Dr. Nahum Goldmann umso mehr für die Noblesse danke, mit der er hier deutsche Stimmen vernehmbar gemacht hat. Dafür danke ich Ihnen nicht nur persönlich. Dafür dankt der Deutsche Bundestag dem Jüdischen Weltkongreß." 50

5 Die 5. Plenartagung des jüdischen Weltkongresses

5.1.4 Professor Karl Jaspers, Basel „Der Massenmord an sechs Millionen J u d e n , vollzogen im Namen des deutschen Reiches, wird zwar von fast allen Menschen mit Abscheu verurteilt, aber die Fragen, was aus ihm folgt, wie J u d e n u n d Deutsche nach ihm miteinander leben können, sind nicht eindeutig beantwortet. Das Faktum hat durch d e n Sinn seiner Ungeheurlichkeit die Kontinuität d e r Geschichte unterbrochen. Eine Lösung d e r entstandenen Probleme vermag ich nicht zu sehen. N u r als einer u n t e r d e n Deutschen kann ich versuchen, o h n e Anspruch auf Allgemeingültigkeit vorzutragen, was ich denke. Das Verbrechen wird am N a m e n d e r Deutschen haften bleiben wie die harmloseren Schädelpyramiden a m N a m e n d e r Mongolen. Mit dem N a m e n des Deutschen sind S c h ö p f u n g e n des Geistes, große weltgeschichtliche Persönlichkeiten verbunden. Auch dies bleibt. Aber es kann das eine, Neue, Entsetzliche nicht auslöschen. Es gibt Deutsche, die sich gegen die Beschuldigung des Massenmordes wehren. Sie sagen: Wir haben nichts davon gewußt. In d e r Tat wurde d e r Mordapparat so geheim wie möglich gehalten. Die Breite d e r Bevölkerung hatte keine Kenntnis. Auch ich, d e r ich in Heidelberg lebte, habe erst 1945 die Tatsachen erfahren. Aber man wußte doch sehr viel. Alle sahen, wie die J u d e n abtransportiert w u r d e n . Sie k a m e n nicht wieder. Man hörte nichts m e h r von ihnen. Von einzelnen kamen nichtssagende Karten, von a n d e r n e r f u h r man, daß sie tot seien. Man wußte: Abtransport bedeutet Lebensgefahr. Die Abtransportierten selber waren keineswegs insgesamt hoffnungslos. Gerüchte, die J u d e n w ü r d e n im Osten angesiedelt, sie w ü r d e n in jüdischen Gebieten einen eigenen Staat a u f b a u e n , wurden zeitweise f ü r möglich gehalten o d e r gar geglaubt, weil die Errichtung von Massenghettos nicht verstanden w u r d e als Vorbereitung f ü r die Ausrottung. Sehr viele, die meisten Deutschen wenden sich dagegen, Mörder gewesen zu sein. Sie sagen: Ich habe doch niemanden gemordet, ich habe keine Beihilfe geleistet, ich habe es nicht gewollt. Wenn ich gelegentlich von einzelnen E r m o r d u n gen hörte, habe ich sie nie gebilligt. Dies alles ist richtig. Aber es ist doch auf zwei wesentliche P u n k t e hinzuweisen. Halb wissend sind wir dabeigestanden, o h n e etwas Wirksames zu tun. Daher sagte ich 1945 in meiner ersten öffentlichen Rede: ,Wir Überlebende haben nicht d e n T o d gesucht. Wir sind nicht, als unsere jüdischen F r e u n d e a b g e f ü h r t wurden, auf die Straße gegangen, haben nicht geschrien, bis man auch uns vernichtete. Wir haben es vorgezogen, am Leben zu bleiben mit d e m schwachen, wenn auch richtigen G r u n d , unser T o d hätte doch nicht helfen können. Daß wir leben, ist unsere Schuld.' Hochhuth hat nicht n u r den Deutschen, sondern d e r abendländischen Menschheit zum Bewußtsein gebracht, indem e r den Papst als bedeutsamstes Beispiel wählte, d a ß sie alle dabeistanden. Unser Dabeistehen hat aber einen a n d e r e n 51

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Sinn als das d e r übrigen Völker und Staaten. Wir waren nicht n u r unmittelbar räumlich anwesend, sondern hafteten als Staatsbürger f ü r die H a n d l u n g e n des Staates, unter d e m wir als Staatsangehörige lebten. Daher unterschied ich 1945 von d e r kriminellen u n d moralischen Schuld die politische H a f t u n g . Der letzten kann sich kein Deutscher entziehen. Schuld des passiven Dabeistehens und der politischen H a f t u n g gilt f ü r uns Deutsche o h n e A u s n a h m e . Wie weit aber die im nationalsozialistischen Deutschland f ü h r e n d e n G r u p p e n u n d Personen Bescheid wußten u n d vor allem die Generale, die die höchste Verantwortung trugen, weil sie die Gewalt d e r W a f f e n in der H a n d hatten, u n d die geduldet, zum Teil individuell mitgewirkt und zugestimmt haben, das ist im Laufe der J a h r e i m m e r deutlicher geworden. Nur ein Beispiel: Kunrat von Hammerstein berichtet (Spähtrupp S. 193): Am 25. J a n u a r 1944 wurden 250 Wehrmachtsgenerale von allen Fronten im Posener Theater versammelt, u m Reden von Himmler und Göbbels zu hören. Himmler teilte die Endlösung mit: alle J u d e n , auch Frauen u n d Kinder, werden ausgerottet. General Reinicke trat nach Himmlers Rede ans Podium u n d dankte unterwürfig. Hinten im Theater versuchte ein General zu zählen: f ü n f , die nicht klatschten. Aber auch das A n d e r e : Wir denken aus eigener E r f a h r u n g an die vielen deutschen Menschen, die J u d e n halfen, u n a u f g e f o r d e r t , immer mit Gefahr, einige unter Lebensgefahr. Doch es hilft nichts: Abgesehen von d e r politischen H a f t u n g u n d d e r Passivität des Dabeistehens ist die faktische Informiertheit so breiter f ü h r e n d e r Schichten G r u n d genug, u m die Verbrechen f ü r alle Zeit mit d e m N a m e n des Deutschen zu verbinden. Was ist n u n seither geschehen? J u d e n und Deutsche leben auf derselben Erde. Nach dem Äußersten, was getan wurde, k a n n man denken, müssen J u d e n und Deutsche sich auf eine ungewöhnliche, geschichtlich einmalige Weise wieder zusammenfinden. Beide haben, wenn man die Beziehung zu a n d e r e n Völkern vergleicht, zueinander eine Ausnahmestellung. Zunächst ein Wort ü b e r das, was unmöglich ist. Verzeihen ist d e r menschliche Akt, d e r zwar nicht imstande ist, eine T a t ungeschehen zu machen, wohl aber eine gemeinsame Z u k u n f t zu begründen, als ob sie nicht geschehen sei. Verzeihung ist m e h r als das bloße Vergessen, das die Zeit zu bringen pflegt. Sie ist ein Akt, d u r c h den die E r i n n e r u n g nicht aufgehoben, aber d e r praktischen Fortwirkung beraubt ist. Es soll keine ewige Feindschaft geben. Aber n u n die Unmöglichkeit: Ein J u d e , d e r überlebt hat, kann f ü r seine Person vielleicht verzeihen, was ihm angetan ist. Wer aber kann den Massenmord d e r sechs Millionen verzeihen? Ein Recht dazu hätten n u r die E r m o r d e t e n selber. In ihrem Namen kann niemand sprechen, kein Mensch u n d kein Staat u n d keine religiöse Organisation. Wem wäre zu verzeihen? Den faktischen T ä t e r n ? Den Beihelfern? Den Dabeistehenden? Sie werden bald ausgestorben sein. Bleibt ein Volk schuldig auch d a n n , wenn keiner von diesen mehr am Leben ist? Setzt sich die Schuld fort von Generation zu Generation? Wohl ist ein gewaltiger Unterschied zwischen den un52

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses mittelbar Beteiligten und den späteren Generationen. Aber es gilt doch der Satz: Die Völker leben nicht n u r von dem, was ihre Vorfahren an Gutem geschaffen haben. Sie müssen auch übernehmen, was sie an Bösem taten. Man kann hin und her erwägen. Ich sehe keine Lösung, die die richtige wäre. Politisch aber ist ein mächtiger Schritt getan, zwar ohne Verzeihung, doch als eine Weise der Versöhnung im Praktischen: die sogenannte Wiedergutmachung. Adenauer hat den Weg beschritten, der von deutscher Seite her der einzig mögliche ist. Wir sind ihm dankbar, daß er ihn, unbeirrt durch andere deutsche Stimmungen, gegangen ist. Er hatte Verständnis f ü r die Unversöhnlichkeit der J u d e n . Er ertrug ihre lärmenden Abwehrakte. Er begegnete ihren Äußerungen mit Geduld. Er erkannte aus politischer Vernunft, daß die Hilfe in materiellen Dingen die minimale Erfüllung einer Pflicht ist. Hier aber sprach mehr als nur Politik. Die Deutschen setzten wenigstens ein Zeichen ihrer Gesinnung. Unter dem Druck des Faktums des Massenmordes können wir handgreiflich nichts anderes tun als den J u d e n zu helfen. Dadurch, daß wir ihnen helfen, helfen wir ein wenig auch uns gegen den Druck, der auf uns lastet. Es sind heute nicht n u r die J u d e n da, sondern der Staat Israel. Israel und die Bundesrepublik haben miteinander zu tun: Durch die Wiedergutmachung sind nicht n u r viele einzelne Juden, die dem T o d e entronnen, aber aller Mittel beraubt waren, frei von Not geworden, sondern auch der Staat Israel hat eine beträchtliche Hilfe erfahren. Damit ist aber das Grundproblem keineswegs gelöst. Die von Deutschland geschädigten einzelnen noch lebenden J u d e n und Israel haben Anspruch, daß wir ihnen helfen. Aber sie können trotz aller Hilfe die elementare Abneigung gegen den Namen des Volkes, dessen Staat ein Drittel ihres Volkes ausgetilgt hat, nicht beseitigen. In breiten Kreisen der israelitischen Bevölkerung bleibt etwas Unversöhnliches. Die Bundesrepublik begehrt Versöhnung. Aber unter den Deutschen gibt es manche — man weiß nicht wie viele - denen diese Versöhnung gleichgültig ist und die die Leistungen an Israel nur als Belastung empfinden. Und dann: Welche Schwierigkeiten bei den Verhandlungen zwischen Israel und der Bundesrepublik! Wenn man politisch und juristisch verhandelt, spielen sittliche Ansprüche weder als Verhandlungsgegenstand noch als Argument eine Rolle. Der sittliche Anspruch, den die Deutschen an sich stellen, ist bei den Verhandlungen stillschweigende Voraussetzung. Wird er von israelischer Seite ausdrücklich erhoben, so wird der sittliche Anspruch in einen Rechtsanspruch verwandelt. Das erzeugt eine unreine Atmosphäre. Alles Moralische aber hat seine Kraft allein aus der Freiheit durch den Anspruch an sich selbst. Es wird falsch und ohnmächtig im Erheben von moralischen Ansprüchen an den Anderen. Die Klarheit der Sache und die Reinheit der Stimmung werden verdorben, wenn Moral und Recht ineinander verfließen. Das Moralische, ungültig als Anspruch an den anderen, entscheidet zwar als Motiv den Gang der Rechtsverhandlungen. Aber der ausdrücklich erhobene moralische Anspruch Israels an die Bundesrepublik nährt die abscheulichen Reaktionen deutscher Nationalisten. 53

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

Deutsche Juden und Deutsche, in dem Willen den Sinn des Verbrechens dieses Massenmordes zur Deutlichkeit zu bringen, nicht um irgendetwas zu entschuldigen, sondern um seinen geschichtlichen Ort und seine Folgen zu erfassen, haben den Unterschied aufgebracht: Dies Verbrechen gegen die Juden ist nicht nur ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern zugleich ein Verbrechen gegen die Menschheit. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind alle Grausamkeiten, die seit je Menschen gegen Menschen vollzogen haben. Verbrechen aber gegen die Menschheit ist die Verwirklichung des Anspruchs, über das Recht zum Dasein von Menschengruppen, die nach ihrer Art und Herkunft definierbar sind, zu entscheiden. Die Ausführung dieses Verbrechens könnte theoretisch ohne Grausamkeit durch ein mildes, unfühlbares Sterben stattfinden, wenn auch faktisch das Gegenteil unvorstellbar entsetzlich geschah. Der einzelne Staat zieht den Mörder vor sein Gericht, auch wenn niemand Anklage erhebt. Es ist Staatsinteresse, daß ein Mord nicht sein darf. In der Menschheit gibt es für die Mörder von Völkergruppen bisher keine Institution, die im Namen der Menschheit aus Menschheitsinteresse diese Mörder wirksam zur Rechenschaft ziehen könnte. Die Motive des Mordes, die in den Strafgesetzbüchern vorkommen, spielen keine Rolle bei diesen ganz anderen Morden von Völkern. Nachdem ein solches Verbrechen zum erstenmal in der Geschichte stattgefunden hatte, forderte die Situation, es als solches zu erfassen, das richterliche Urteil durch eine menschheitliche Instanz oder doch in bezug auf ihre Möglichkeit zu finden. Aber der Begriff des Verbrechens gegen die Menschheit hatte den Juden vorher nicht im geringsten geholfen. Sie waren jederzeit auf sich angewiesen. Ich berichte eine Szene, in der der vorläufig utopische Charakter des Begriffs, Verbrechen gegen die Menschheit' offenbar wurde. Als 1949 in einer Berliner Massenversammlung in der Diskussion nach dem Vortrag einer deutsch-amerikanischen Jüdin diese auf die Zerstörung Dresdens durch englische Bomber als Parallele zum Judenmord hingewiesen wurde, antwortete sie leidenschaftlich: ,Was denken Sie denn! Als täglich die endlosen Züge rollten, die Juden zu den Gaskammern zu bringen, und niemand den Transporten und Morden Einhalt gebot, da waren Zerstörungen wie die Dresdens die Antwort und die Forderung, nun endlich einzugreifen'. Die von Entsetzen betroffenen Hörer schwiegen. Aber die Rednerin hatte sich ganz und gar geirrt. Nichts war von den Alliierten getan worden, um die Juden zu retten. Protestversammlungen in Amerika gegen die Greuel waren wirkungslos. Keineswegs flogen etwa Flugblätter in Massen über Städte und Länder, in denen die Deutschen hingewiesen worden wären auf den Judenmassenmord: Solange ihr diesen Transporten untätig zuseht, fallen die Bomben auf eure Städte. Ihr laßt ein Verbrechen gegen die Juden zu, das zugleich ein Verbrechen gegen die Menschheit ist. Wir, die Menschheit, wollen die Juden nach unseren Kräften gegen die Mörder schützen und wir sind verpflichtet dazu. Jeder ist ein Verbrecher, der den Mord befiehlt, der an seiner Ausführung beteiligt ist. Jeder ist mitverantwortlich, der, wo er steht und es sieht, nicht eingreift. Die 54

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Züge dürfen nicht mehr fahren, dafür müßt ihr sorgen. Die Vernichtungsstätten dürfen nicht mehr existieren. Wir werden sie durch Bomben zerstören, wo wir sie finden. - Aber das alles ist ja gerade nicht geschehen. Den Begriff des Verbrechens gegen die Menschheit hatte noch niemand gedacht. Der Ausdruck Genocid schloß diesen Begriff nicht in sich. Und es ist nicht zu vergessen: Sich ausdrücklich für die Juden einzusetzen, wagten die alliierten Regierungen vor ihren Völkern nicht. Der Antisemitismus in der matteren Gestalt einer Gleichgültigkeit gegenüber den Juden und einer Furcht, sich allzu judenfreundlich zu zeigen, verhinderten es. Die Juden haben erfahren, daß sie, wenn es sich um sie in der Gesamtheit handelt, allein auf sich angewiesen sind. Drei Tatsachen: Der Staat Israel, der Zusammenhalt des Weltjudentums auf biblischem Grunde, die einzelnen Juden, sind nicht dasselbe. Israel, ein Nationalstaat, hat das Selbstbewußtsein aller Juden gestärkt. Eine Katastrophe Israels wäre eine Katastrophe für alle Juden. Heute, in der weltlichen Welt der Politik träfe das Judentum ein Stoß wie einst durch die Zerstörung des Tempels. Darin ist man einig. Wie aber der Nationalismus in Israel zur Erscheinung kommt, das erblicken Juden und Israeli keineswegs mit gleicher Zustimmung. Israel ist nicht das Judentum. Dieses umfaßt immer noch in der Diaspora die überwältigende Mehrheit der Juden. Das Judentum hat sich in Israel einen weltlichen Staat geschaffen, historisch auf Bar Kochba blickend, nicht auf die Propheten. Ginge Israel zugrunde, so ginge noch keineswegs das Judentum zugrunde. Dieses hat sein Schicksal nicht auf die eine höchst gefährliche Karte gesetzt. Die einzelnen Juden sind ein wunderbarer Reichtum von Persönlichkeiten, bei einem so kleinen Volk vielleicht einzig durch ihre große Zahl. Aber von ihnen spricht man nicht. Sie sind unwichtig vor dem Gang der Dinge im Großen. Ich möchte zum Abschluß von einer kleinen aussterbenden Gruppe solcher Einzelnen sprechen, den deutschen Juden. Sie gehen uns Deutsche als das Nächste an. Was in der verborgenen Seele des einzelnen deutschen Juden oder wie man früher sagen durfte, der jüdischen Deutschen geschehen ist und geschieht und bald mit ihnen vergangen und vergessen sein wird, ist vor dem großen Gang der Geschichte belanglos. Öffentlich spielen sie keine Rolle. Die Dampfwalze der Geschichte geht über sie hinweg. Vor der Ewigkeit aber bedeuten die Einzelnen vielleicht mehr als die Geschichte, die ohnehin für menschliche Erkenntnis im ganzen ohne Sinn ist. Die deutschen Juden verhalten sich zu den Deutschen und die Deutschen zu den deutschen Juden so verschieden, daß man sieht: Es gibt keine Lösung. Die langsame Ausschaltung der Juden, die schließlich im Massenmord endete, war selber schon vorweg gleichsam ein Seelenmord. Die Juden wurden ihrer Heimat, Herkunft, ihres Vaterlandes, ihrer wirklichen und anerkannten Einheit mit dem deutschen Geist beraubt. Nun sind sie nirgends zu Hause, finden nirgends eine Welt, die ihnen Heimat und Herkunft ersetzen könnte. ,Es ist schrecklich zu emigrieren', kann noch der anderswo erfolgreichste Jude sagen. Eine untilgbare Sehnsucht nach dem Unwiderbringlichen bleibt ihm. Er hört nicht auf, 55

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Emigrant zu sein. .Wenn mir die Heimat genommen ist, kann ich keine andere wollen; es gibt nur eine', sagte ein Jude, der redlich eingestand, woraus er faktisch lebt. Deutsche Sprache, deutscher Geist, deutsche Dichtung, deutsche Musik und deutsche Philosophie und deutsche Freunde bleiben der Boden seines Daseins, während Deutschland ihn ausgestoßen hat. Sein Dasein in der Welt ist gebrochen. Kommt er nach Deutschland zurück, so findet er es nicht mehr, außer in ein paar alten überlebenden Freunden und in der Landschaft. Gleich 1945 war die Erfahrung schrecklich, daß auch dann noch die meisten Deutschen den Juden gleichgültig gegenüberstanden. Waren die Juden vorher des Vaterlandes beraubt durch die Gewalt (wenn sie rechtzeitig auswanderten oder durch glückliche Zufälle auf deutschem Boden gerettet wurden), so jetzt noch einmal durch diese Gleichgültigkeit. Es war für einen deutschen Juden schwer erträglich, damals, wenn er die freie Wahl hatte, noch in Deutschland zu bleiben. Es war dort kein Wandel der allgemeinen Gesinnung eingetreten. Immer wieder ergaben sich schiefe Situationen und falsche Gespräche. Andere deutsche Juden scheinen ihr klares neues Vaterland nun in Israel zu haben. Aber Israel ist für viele deutsche Juden nur eine Notlösung, die sie bejahen, aber kein Ersatz für das Verlorene. Sie bleiben deutsch, doch dürfen sie es nicht bleiben. Sich selbst gestehen sie es vielleicht nicht ein. Nur wenige ganz Unbefangene sprechen es erschütternd aus. Andere sagen, sie hätten nicht die geringste Sehnsucht. Denn jetzt hätten sie ihren eigenen Boden. Sie brauchten Deutschland nicht mehr. Es interessiere sie nicht einmal. Juden sprechen kaum von Treue, wie es so oft die Deutschen tun. Aber sie können substanziell von jener tiefen und herrlichen und qualvollen Treue sein, die die eigene Wurzel und Herkunft und die Identität mit sich nie preisgibt. Doch solche Treue hat keine öffentliche und keine staatliche Bedeutung. Auf die Frage: Können Juden und Deutsche miteinander reden, gibt es keine allgemeine Antwort. Mit nationalistischen Juden ist so schwer zu reden wie mit deutschen Nationalisten. Zwischen einzelnen Juden und einzelnen Deutschen, beide sie selbst, beide ihres Judeseins und Deutschseins bewußt, kann ein Gespräch stattfinden in inniger Verbundenheit. Man sollte aufhören, allgemein von den Juden und den Deutschen als Kollektiven zu reden. Unfruchtbarer, für Frieden und Vernunft und Menschsein böser Nationalismus sollte auf beiden Seiten verschwinden. Heute ist ein Staat so viel wert, als er an Gerechtigkeit und politischer Freiheit seiner Bürger verwirklicht. Die nationalen Überlieferungen sind kostbar, aber nunmehr unpolitisch. Sie finden sich in einem wahren politischen Staat als vielfache zusammen. Zu Anfang sagte ich, die Probleme zwischen Juden und Deutschen seien unlösbar. Ich wollte nicht sagen, sie seien hoffnungslos. Das Judentum hat eine Kontinuität von drei Jahrtausenden. Die Frage nach Juden und Deutschen trifft in dem großen Strom nur eine Welle: Alles hat in der Geschichte sein Ende, auch die Erscheinungen, in denen das Judentum in einer staatlichen Gesellschaft lebte, in deren Kultur als wirksamer Faktor mit ihr eins wurde, ohne ganz in ihr aufzugehen. So war es einmal in Spanien, so war es durch 56

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses anderthalb Jahrhunderte in Deutschland. Das Ende aber ist nicht nur die bleibende Wirkung dieser großen Erscheinungen auf das Abendland, sondern auch die Verwandlungen durch die schrecklichen Erfahrungen, die mit dem Scheitern verbunden waren. Nichts wiederholt sich in der Geschichte. Aber sie kann auch ermutigen: Nicht alles war ganz vergeblich. Das Neue, das jedesmal dem Untergang folgte, kann niemand voraus wissen. Es kommt aus der Entfaltung des Ethos der Völker, die zur reinen Politik der Staatsführung durch Gerechtigkeit und Freiheit für den Menschen als solchen drängen; sie werden in unvorhersehbaren Situationen und von unvorhersehbaren ihre Völker zugleich erziehende Staatsmännern zur Verwirklichung gelangen. Das Neue kommt weiter in Sprüngen zu Schöpfungen des Glaubens, der Dichtung, des Denkens, die wie Inspirationen zu den Menschen gelangen."

5.1.5 Professor Salo W. Baron, Columbia University, New York „Vielleicht ist es noch zu früh, sich über eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Deutschen und Juden zu unterhalten. Die Bibel sagt uns, daß die Israeliten 40 J a h r e der Wanderung in der Wüste benötigten — 40 Jahre können eine biblische runde Zahl für eine Generation sein —bevor sie ihre ägyptischen Erlebnisse von sich abschütteln und einen neuen Anfang machen konnten. Sie vergaßen sie auch nie wirklich, nicht nur negativ im Hinblick auf ihre Leiden, sondern auch positiv im Hinblick auf Ägyptens .Fleischtöpfe' und Kultur, die noch lange danach die von Israel beeinflußte. Möglicherweise wird es 40 Jahre dauern, bis eine neue Generation von Juden die tragischen Erfahrungen der Nazi-Zeit zwar nicht vergessen, aber in ihrem Bewußtsein versenkt hat. Ebenso mag es 40 Jahre dauern, oder das Heranwachsen einer gänzlichen neuen Generation von Deutschen bedürfen, bevor die letzten Spuren der Weltanschauung und Methoden der Nazis in eine Ecke des deutschen Volksbewußtseins verbannt sind. Im Augenblick kann niemand, der jenen Zeitraum der großen Verwirrung des menschlichen Geistes durchlebt hat, die zukünftigen Beziehungen zwischen den beiden Völkern ins Auge fassen ohne einen Anflug des Entsetzens bei der Erinnerung dessen, was sich vor erst so kurzer Zeit ereignet hat. Gleichzeitig kann man nicht umhin, sich darüber zu wundern, wie die Welt es fertiggebracht hat, nach den schrecklichen Tragödien, die sich vor einem Vierteljahrhundert abgespielt haben, in ihrer üblichen Weise weiterzumachen. Nach dem Ersten Weltkrieg beendete ein deutscher Schriftsteller seine Geschichte von vier deutschen Soldaten, die an der Westfront kämpften, mit dem bitteren Ausruf: ,Das Leben geht unentwegt über die Körper von 10 Millionen Toten hinweg weiter!' Und doch kann man sich des Gefühls nicht erwehren, daß der Mord an sechs Millionen Juden — abgesehen von Millionen von Nicht-Juden sowie auch dem Tod von weiteren Millionen aktiver Kämpfer an den verschiedenen Fronten 57

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

— eine tiefe Wunde im riesigen Leib der Menschheit hinterlassen hat, die keine noch so große Bevölkerungsexplosion, noch auch das übliche Verlangen des Menschen zum Normalzustand zurückzukehren, völlig beseitigen kann. Gewiß geht in der geschichdichen Wirklichkeit wie auch in der physischen Welt keine Energie, insbesondere keine Energie solchen Ausmaßes, je völlig verloren. Es mag wohl sein, daß die eigenartige Beschaffenheit des ununterbrochenen jüdisch-deutschen Zusammenlebens während mehr als eines Jahrtausends eine der Haupterklärungen der großen Tragödie bietet. Eine kurze Aufzählung einiger Elemente jenes alten Erbes erscheint hier deshalb angebracht. Möglicherweise war es ein Glück im Unglück für die westeuropäischen Juden, daß ihre Vorfahren 1290 aus England, aus Frankreich und den Niederlanden im 14. und 15. Jahrhundert ausgewiesen worden waren, so daß ein eindeutiger Bruch mit der Vergangenheit stattfand, als die Wiederansiedlung in der Neuzeit ihren Anfang nahm. Da die Vereinigten Staaten selbst als westliche Nation aus den vor kurzem eingewanderten Besiedlern hervorgegangen waren, hatten sie natürlich nur unklare Erinnerungen an das, was sich vor Jahrhunderten in Europa ereignet hatte. Gewiß sind diese mittelalterlichen Feindseligkeiten und Mißverständnisse aus dem Gedächtnis dieser westlichen Völker nicht völlig verschwunden. In dieser schönen Stadt Brüssel erinnern jährliche kirchliche Prozessionen an das .Wunder des Heiligen Sakraments' in der Kirche der Heiligen Gudule, ein Wunder, das mit der angeblichen Schändung einer Hostie durch die Juden im Jahre 1370 zusammenhängt und mit der Verbrennung der kleinen damals hier ansässigen jüdischen Gemeinde endete. Alle fünfzig Jahre danach, bis 1820, wurde das Jubiläum jenes Geschehens als größere internationale Festlichkeit gefeiert, die Scharen von Pilgern aus vielen Teilen Europas anzog. Nichtsdestoweniger lebte dieses Geschehnis mehr als verblaßte literarische Erinnerung denn als lebendige Wirklichkeit fort, da es seit vielen Generationen auf belgischem Boden kaum noch lebendige Juden gegeben hatte. Im Gegensatz dazu haben ähnliche Feiern, z. B. in Deggendorf in Bayern, seit 1338 dazu gedient, die Leidenschaften des Volkes gegen die wenigen Juden, die in der Nachbarschaft lebten, zu entflammen. Der Pöbel hielt sie für die unmittelbaren Nachfolger der Schänder der heiligen Reliquie, die einige Jahrhunderte lang im Ruf stand, große heilende Eigenschaften zu besitzen. Da sie den Pilgern ständig gezeigt wurde, erschien sie als unverkennbares Zeugnis für die angeblich angeborene jüdische Feindseligkeit dem christlichen Glauben und seinen Riten gegenüber. Selbst in den letzten Jahren können viele der hunderttausend jährlichen Besucher, die in diese kleine Stadt gekommen sind, um diesen Überrest eines mittelalterlichen Wunders anzustaunen - nebenbei eine wichtige Einkommensquelle sowohl für die Kirche wie auch für die Stadt — nicht umhin, die Buntglasfenster der kleinen Kirche zu betrachten, die in graphischen Einzelheiten jenes jüdische, Verbrechen' darstellen, das angeblich vor mehr als 600Jahren begangen worden ist. Das deutsche Volk hat auch nicht vergessen können, daß vor nur ein paar Generationen alle Juden, die sich auf den Straßen irgendeiner deutschen Stadt zeig58

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ten, an ihren Kleidern die sie kennzeichnenden gelben Armbinden trugen. Nur eine wohlunterrichtete Minderheit war sich dessen bewußt, daß die Armbinde den Juden erstmalig durch einen Beschluß eines ökumenischen Konzils im Jahre 1215 aufgezwungen wurde, lediglich um zu enge Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden zu verhindern. Dieses Symbol, das sich als mehr oder weniger wirksames Mittel der Trennung erwies, was beide Parteien im wesentlichen wünschten, wurde in Deutschland mehr als irgendwo sonst auch zu einem Kennzeichen der Erniedrigung und wurde schließlich zu Recht als .Abzeichen der Schande' bezeichnet. Die leichtgläubigen Massen waren durchaus bereit, sogar so phantastische Erklärungen zu glauben, wie die von einem Gelehrten des 17. Jahrhunderts abgegebene, der behauptete: ,Mein lieber Freund, es gibt eine bekannte Frage: Warum trägt der Jude ein 0 an seinen Kleidern? Es soll dazu dienen, fortwährend an das schmerzliche ,0' zu erinnern, denn er ist zu Recht zu ewigen Qualen in der Hölle verdammt. Auch weil wir in dieser Weise die Null in Zahlen ausdrücken, denn er sollte sich als ein Nichts unter Menschen betrachten. Vielleicht auch, weil er vom Wucher lebt, und dadurch, daß er eine Null anhängt, wird jede Zahl (mit zehn) mulitpliziert.' In ähnlicher Weise war der Ursprung des Ghettos in Vergessenheit geraten. Zunächst lediglich ein natürlicher Umstand, der sich aus der religiöskulturellen Trennung der jüdischen Gemeinschaft vom Rest der Stadtbevölkerung ergab, wurde es zu einem weiteren Instrument der Diskriminierung und Erniedrigung. Außerhalb von Kreisen der Gelehrten erinnerte man sich nicht mehr daran, daß der Bischof von Speyer, von dem zuerst als Gründer eines deutsch-jüdischen Ghettos berichtet wird, dies im Jahre 1084 zugunsten der Juden getan hatte, um seine Stadt für sie anziehend zu machen und auf diese Weise ,die Würde seines Bischoftums zu erhöhen'. Wenige Menschen waren sich dessen bewußt, daß in den meisten älteren deutschen Orten die ursprünglichen jüdischen Wohnviertel lebende Zeugen des Alters der dortigen jüdischen Niederlassung waren, da sie meistens gerade das Kernstück dieser Städte bildeten, d. h. daß sie in den Teilen lagen, die bis zur eigentlichen Gründung zurückgingen. Im Jahre 1341 mußte der Stadtrat in Köln einen Beschluß annehmen, daß die Tore des jüdischen Viertels bei Nacht nicht geschlossen werden sollten, wenn die Stadtväter eine Sitzung abhielten, da das Rathaus mitten im jüdischen Viertel lag. Mit der Zeit wurden die Juden jedoch oft zwangsweise in neue, wenige angenehme Stadtteile verwiesen. Mit dem Anwachsen ihrer Bevölkerung wurden jedoch auch Wohnviertel, die ursprünglich begehrenswert waren, zu regelrechten Elendsvierteln, unhygienisch und häßlich anzusehen. Den Deutschen der frühen Neuzeit dienten diese jüdischen Wohnstätten als weitere bleibende Erinnerung an jüdische Minderwertigkeit, und sie setzten ihre Einwohner mit dem Auswurf der Gesellschaft gleich. Und was noch bedeutsamer war — hinter diesen Ghettomauern schienen die Juden ein unheimliches, mysteriöses Leben zu führen. Je größer die Abgeschiedenheit der jüdischen Gemeinde wurde, je weniger ihre Nachbarn über das tägliche Leben in jenem verdächtigen Wohnbezirk wußten, desto bereitwilliger waren die Leute dazu geneigt, die unglaublichsten Gerüchte über diese merkwürdigen 59

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Nachbarn zu glauben. Alte Volkserzählungen verdichteten sich zu einer allgemeinen Überzeugung, daß die Juden, weil sie sich von Christus abgewandt hatten, für seine Antagonisten, den Antichrist und Satan, Partei ergriffen hätten. Die alte Phrase im Neuen Testament von der .Synagoge des Satans' (Offenbarung 2,9,5,9) schien den Verdacht zu bestätigen, daß die Juden die ständigen Verbündeten der dämonischen Unterwelt seien. Selbst ein Gelehrter, der ziemliches Ansehen genoß, wie der im 15. Jahrhundert lebende Professor der Universität Wien, Heinrich von Langenstein, behauptete ,im Aufstieg des Judentums', Vorzeichen für das Kommen des Antichrist zu sehen, und er berechnete, daß der Antichrist mit Hilfe jüdischen Geldes die Welt in zweieinhalb Jahren erobern würde. Wenn auch mancher christliche Patient sich trotz vieler Verbote zu einem jüdischen Arzt begab, weil er als Heilkundiger einen guten Ruf hatte, so wurden doch die Erfolge des letzteren oft dem Bündnis des Arztes mit dem Teufel zugeschrieben. In ähnlicher Weise konnte auch eine schnelle Anhäufung von Reichtümern durch jüdische Bankiers durch ein derartiges Bündnis mit Dämonen leicht erklärt werden. Daß diese Patienten und Kreditnehmer freiwillig mit den jüdischen Ärzten und Geldverleihern zusammenarbeiteten, minderte keineswegs ihr Schuldgefühl. Es hinderte sie auch nicht daran zu glauben, daß jüdische Ärzte wegen ihrer angeborenen Feindseligkeit allen Christen gegenüber ihren Patienten oft tödliche Gifte statt heilender Arzneien verabreichten. Behauptete nicht sogar Martin Luther, daß ,sie (die Juden), wenn sie uns alle töten könnten, dies gerne tun würden; ja, sie tun es auch oft, besonders diejenigen, die vorgeben, Ärzte zu sein. Sie wissen alles, was über Arzneien in Deutschland bekannt ist; sie können einem Menschen Gift geben, woran er in einer Stunde oder in 10 oder 20 Jahren sterben wird; sie verstehen diese Kunst gründlich.' Es ist daher nicht verwunderlich, daß man im Volk bereitwillig der allgemeinen Annahme Glauben schenkte, daß der angebliche Körpergeruch der Juden von ihrer Verbindung mit dem Teufel herrührte. Wegen ihrer Beziehungen zu Ziegen, die dem Teufel ähneln, wurde überdies der Ziegenruf ,Hepp' gern auf sie angewandt — dies scheint der Ursprung des Schlagworts ,Hepp-Hepp' zu sein (eher als die häufig angenommene Ableitung von der Abkürzung Hierosolyma est perdita), welches im Jahre 1819 als Begleiterscheinung der anti-jüdischen Tumulte weit und breit in Deutschland erscholl — und daß die alte germanische Bezeichnung für Gnom, Gütchen oder Grietel, sich schnell als Jüdel übertragen ließ. Auch glaubte das Volk eine Geschichte wie die von Johann Fischart in seiner .Wunderzeitung', der von einer schwangeren Jüdin zu Binswangen erzählte, worin er eine anschauliche Beschreibung von einer Jüdin gab, die angeblich zwei Ferkel gebar, eine Geschichte, die durch einen diese unglaubliche Szene abbildenden Holzschnitt unterstrichen wurde. Solche folkloristischen Vorurteile, die während mehrerer Jahrhunderte in unzähligen Variationen wiederholt wurden, setzten sich tief in der Psyche des deutschen Volkes fest. Sie konnten nicht leicht durch einige Generationen offizieller Aufklärung ausgemerzt werden, da diese oft nicht bis zu den ungebildeten Massen hinunterdrang. Es war gerade die Irrationalität dieser Vorurteile, die 60

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses den Nazi-Propagandisten in die Hände spielte, die die guten alten Zeiten des deutschen Mittelalters wieder aufleben lassen wollten. Zunächst schienen sie nur das alte Ghetto und die Armbinde wieder einführen und die zahlreichen diskriminierenden Bestimmungen der mittelalterlichen Verordnungen wieder in Kraft setzen zu wollen. In d e r Tat erschienen oberflächlichen Beobachtern die Nürnberger Gesetze von 1935 nur die J u d e n von gewissen Berufen auszuschließen, ihnen die Beschäftigung christlicher Dienstboten zu verbieten und andere lange anerkannte mittelalterliche Einrichtungen wieder einzuführen. Dieses System bedeutete natürlich den Widerruf der jüdischen Emanzipation, den judenfeindliche Sprecher schon lange gefordert hatten; diese Forderung wurde zum Teil unter dem Vorwand erhoben, daß die J u d e n ihren Teil des Abkommens, nämlich den der vollständigen Eingliederung in das deutsche Volk, nicht eingehalten hätten. (Dieses Phantasiegebilde eines Abkommens ist schon längst von Harry Sacher und anderen erfolgreich widerlegt worden.) Der Schlachtruf, daß der Nazismus eine Rückkehr ins Mittelalter bedeute, erschallte jetzt sowohl bei den Freunden wie bei den Feinden des neuen Regimes. Tatsächlich war jedoch dieser Vergleich gleichbedeutend mit einer Verleumd u n g der mittelalterlichen Zivilisation. Trotz all seiner zahlreichen Mängel und Fehler repräsentierte das Mittelalter im G r u n d e ein System von Recht und Ordnung, indem es in seinem Rahmen dauernde, mehr oder weniger gerechte Beziehungen mit den jüdischen Andersdenkenden herzustellen versuchte. In der Tat unterstützte in den seltensten Fällen ein mittelalterlicher König, Fürst oder Bischof eine gewaltsame Ausrottung der J u d e n . Meistens versuchten sie, Massaker mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Macht abzuwenden, indem sie ihre primäre Verpflichtung, die öffentliche O r d n u n g aufrechtzuerhalten, ernstnahmen. Wenn sie sich der Juden entledigen wollten, so taten sie dies durch eine formale Verfügung der Austreibung. Demgegenüber unternahmen die Nazis von Anfang an von d e r Regierung geförderte Angriffe auf die J u d e n , im Widerspruch zu dem, was selbst ein solcher Rassenpolitiker wie Graf Ernst von Reventlow 1932 betont hatte, ,daß die T r e n n u n g (der J u d e n von den Deutschen) selbstverständlich in humanen Formen durchgeführt werde. Der Nationalsozialismus plant kein Programm, und er wünscht auch nicht, d e n J u d e n eine großartige Gelegenheit zu weltweiter Propaganda zu bieten*. Der dem Nazismus innewohnende Zug deutete jedoch auf die schließliche blutige .Endlösung' hin. Im Oktober 1943 hielt Heinrich Himmler seine bekannte Ansprache an die SS-Generäle in Posen zu einem Zeitpunkt, an dem er gewußt haben muß, daß das Kriegsglück sich bereits gegen das Reich gewendet hatte, und sprach von der Massenausrottung europäischer J u d e n , die zum großen Teil bereits vollzogen war, als von .einem Ruhmesblatt in unserer Geschichte, worüber nichts geschrieben worden ist noch j e geschrieben werden soll.' Dieser erfolgreiche A u f r u f der Nazis zu einer Rückkehr in das geheiligte Mittelalter, wie verzerrt das Bild der mittelalterlichen Zustände auch gewesen sein mag, war besonders tragisch, weil es die lebhaftesten Erinnerungen an die mittelalterlichen Judenverfolgungen zurückbrachte, obgleich diese hauptsächlich aus 61

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Zeit des Zusammenbruchs mittelalterlicher Zivilisation unter den Schlägen der Auflösung des Feudalismus und seines Ersatzes durch die im Entstehen begriffenen kapitalistischen, säkularistischen und besonders nationalistischen Kräfte herrührten. Man erinnerte sich viel besser an das 14. bis 16. J a h r h u n d e r t als an die früheren Zeiträume, weil sie in einer Unmenge von Schriften, die jetzt noch vorhanden sind und in den folgenden Jahrhunderten einen weiten Leserkreis fanden, verewigt worden waren. Leider waren j e n e drei J a h r h u n d e r t e die Schauplätze einer noch nie dagewesenen Reihe von Massakern und Vertreibungen, besonders während der Zeit des Schwarzen Todes, in der die J u d e n aus den meisten Gebieten des Heiligen Römischen Reiches verschwanden. Was diese Entwicklungen doppelt verhängnisvoll f ü r den modernen weltlichen Antisemitismus machte, war deren in zunehmendem Maße weltlicher Charakter und ihre Umwandlung von der f r ü h e r e n religiösen Raserei in eine von Laien beherrschte, vor allem gesellschaftlich-wirtschaftliche Feindseligkeit. Selbst die Passionsspiele, die oft auf öffentlichen Plätzen einige Tage lang vor der Mehrzahl der örtlichen Bevölkerung aufgeführt wurden, stellten jetzt die alten J u d e n von Jerusalem, die ein unmögliches Kauderwelsch redeten u n d auf wucherischen Erwerb aus waren, in mittelalterlichem Gewand dar. Bis tief in die Neuzeit hinein trugen diese neueren Stücke dazu bei, die Ansichten der deutschen Bauernschaft über J u d e n und das J u d e n t u m zu vergiften. All dies war nur eine Manifestation des neuen Geistes des Nationalismus, der in zunehmendem Maße die europäische Szene beherrschte. Gewiß hatte sich der deutsche Nationalismus noch bei weitem nicht auskristallisiert; er äußerte sich auf vielerlei Weisen, die sich von einer Stammes- und Gebietssolidarität bis zur gesamtdeutschen Einheit erstreckten. Nichtsdestoweniger kümmerte es die Massen wenig, daß das Erreichen der nationalistischen Zielsetzungen durch die modernen deutschen Staaten aufgrund der Anwesenheit von J u d e n tatkräftig gefördert wurde. Der hervorragende Historiker Karl Lamprecht hat schon vor langer Zeit daraufhingewiesen, und zwar am Beispiel des Erzbistums Trier, daß das von mehreren jüdischen Finanzleuten dem erzbischöflichen Kurfürsten zur Verf ü g u n g gestellte Kapital und praktische Wissen half, den Prozeß der feudalen Auflösung aufzuhalten und die Einheit des territorialen Staates zu bewahren. Werner Sombarts wohlbekanntem Dictum zufolge baute der deutsche Landesherr im Verein mit seinem Hofjuden den modernen deutschen Gebietsstaat, den Kern f ü r das deutsche Reich des 19. Jahrhunderts. Aber den Außenstehenden, insbesondere denen, deren rechtmäßige Interessen durch die großen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Umwandlungen beeinträchtigt wurden, erschien dieses Bündnis zwischen d e m Landesherrn u n d dem Juden n u r als selbstsüchtiges Streben nach Selbstverherrlichung und Gewinn. Die Mehrzahl der Leute teilten die Meinung der hessischen Geistlichkeit, die beim Versuch, den Landgrafen Philipp 1538 zur Einschränkung der jüdischen Rechte zu überreden, argumentierten, daß der einzige Grund f ü r die Duldung solcher Ungläubigen im Lande ihre Nützlichkeit f ü r die Staatskasse gewesen sei. In diesem Zusammenhang prägten die hessischen Geistlichen ein Gleichnis, das seither oft in der polemischen und 62

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses apologetischen Literatur wiederholt worden ist. Sie behaupteten, daß die J u d e n von den betreffenden Regierungen ,als Schwamm' verwendet worden seien. ,Kaum hatten sie das Geld aufgesaugt (von der Bevölkerung durch ihren Wucher), so machten sich die Landesherren daran, es aus ihnen in ihre eigenen Taschen herauszuquetschen.' Diese Sprecher der im Entstehen begriffenen protestantischen Kirchen widerspiegelten wohl gut die Einwirkung der neuen weltlichen und nationalistischen Kräfte, die an die Stelle der f r ü h e r e n mittelalterlichen Grundprinzipien traten. Bei all ihren Versuchen, J u d e n und Christen scharf voneinander zu trennen und die J u d e n auf einem niedrigen gesellschaftlichen Niveau zu halten, hat die katholische Kirche seit alten Zeiten auf d e r Notwendigkeit bestanden, das jüdische Volk bis ans Ende der Tage zu erhalten, oder, wie sie es nannte, bis zur Wiederkunft Christi. Ob nun, um mit den Worten von Paulus zu sprechen, als die .Wurzel', aus der das Christentum entsprang, oder als das frühere auserwählte, obgleich später von Gott wegen seiner Verleugnung von Christus verstoßene Volk, oder als lebende Zeugen f ü r die Wahrheit der christlichen Tradition, wie sie durch die .Offenbarungen des göttlichen Willens' im Alten Testament bezeugt wird, oder auch zum Zwecke der Erfüllung der alten Prophezeihungen über Israels Rückkehr in das Land seiner Vorväter im messianischen Zeitalter — das jüdische Volk sollte als integrierender Bestandteil der christlichen Gesellschaft f ü r alle Zeiten erhalten bleiben. Eine uralte Legende, die auf den im zweiten J a h r h u n d e r t lebenden Juristen Tertullian zurückgeht und von Augustin und anderen Kirchenvätern wiederholt wurde, beschrieb diese grundsätzliche kirchliche Ansicht gut. Mit Hilfe von typischer patristischer Hermeneutik wurde die biblische Geschichte von Kain und Abel f ü r alle künftigen Zeiten zu einer geschichtlichen Lehre umgewandelt. Die zwei Söhne des ersten Menschen sollten n u r eine Andeutung des Emporkommens des Christentums sein. Kain, der ältere Bruder, stellte das alte Israel dar, und Abel Jesus. Wenn man die Bibel in diesem Lichte liest, könnte man sehen, daß die Voraussage darin bestand, daß sowohl Israel als auch die Christenheit am Ende dem H e r r n ihre Opfer darbringen würden, und daß das Opfer des älteren Bruders zurückgewiesen, während das von Jesus dargebrachte in vollem Maße angenommen werden würde. Daraufhin würde Kain-Israel zu den Waffen greifen und seinen jüngeren Bruder, Abel-Jesus, töten. Zur Strafe, so erfahren wir, sollte Kain ,ein Flüchtling und Wanderer auf Erden sein', gleichzeitig sollte er aber auch gegen feindliche Angreifer geschützt sein. ,Wer darum Kain tötet, an dem soll siebenfältige Rache geübt werden.' Diese Verbindung von Heimatlosigkeit und ewigem Wandern einerseits und dem Schutz von Leib und Leben andererseits sollte in der Tat die Grundlage der Kirchen- u n d Staatspolitik den J u d e n gegenüber während des ganzen Mittelalters sein. Schließlich verweltlichte sich dieses Bild des wandernden J u d e n gleichfalls. Besonders in der in einem deutschen Büchlein, das im Jahre 1602 erschien, dargestellten Form verursachte es weithin großes Aufsehen und veranlaßte sogar solch große Dichter wie Goethe und Shelley, Gedichte über dieses T h e m a zu verfas63

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sen. Es wurde festgestellt, daß zwischen 1774, als Goethe sein unvollendetes Fragment über den .Wandernden Juden' schrieb, und 1930 nicht weniger als 460 verschiedene Versionen dieser Geschichte in vielen europäischen Sprachen erschienen sind. Während diese Geschichte in ihrer modernen verweltlichten Form viele fesselnde humanitäre Aspekte darbot und sogar Leute, die sich als Ahasver ausgaben, in der Praxis von deutschen Bauern oft gastfreundlich empfangen wurden, war doch ihre eindringlichste Wirkung die, dem deutschen und anderen Völkern das Bild des Juden als eines ewig Ausgestoßenen und zigeunerhaften Wanderers nahezubringen. Solche .Außenseiter' wurden nun in zunehmendem Maße von glühenden deutschen Nationalisten abgelehnt. Ursprünglich träumten Sprecher des deutschen Nationalismus wie Herder oder Fichte, daß ihre Nation, vereint in einem Lande und ihre große kulturelle Rolle eines Volkes von Dichtern und Denkern verfolgend, die wahre .Menschheitsnation' werden würde, eine Nation im Dienste der gesamten Menschheit. In der Tat sah der begeisterte Patriot Fichte in dem Phänomen, daß das deutsche Volk ohne das lebte, was er als politische Geschichte ansah, und ohne einen einzigen eigenen Staat, die große Herausforderung an die Deutschen, eine noch nie dagewesene humanitäre Nation aufzubauen. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Ähnlichkeit mit dem Schicksal des jüdischen Volkes sich allen Beobachtern aufdrängte; hier bot sich das typischste Beispiel eines verstreuten und staatenlosen Volkes ohne politische Geschichte seit etwa zweitausend Jahren. Doch war es charakteristisch, daß nicht Fichte oder andere deutsche nationalistische Denker, sondern der Pole Adam Hickiewicz und der Italiener Giuseppe Manzinijene Parallele zwischen ihrer eigenen und Israels messianischer Nation zogen. Mit dem Fortschritt eines expansiven Nationalismus, dem Erfolg des deutschen Zusammenschlusses und dem Aufbau des Bismarckschen Reiches traten diese humanitären Elemente in den Hintergrund und machten einer zunehmenden Betonung des Strebens nach unbeschränkter kaiserlicher Macht Platz. Einige extremistische Befürworter der neuen Tendenzen sahen in dem Vorhandensein eines jüdischen Volkes, das seinen alten messianischen Überlieferungen anhing, wie sehr auch zeitweise bei den sogenannten assimilierten Juden getarnt, ein ernstes Hindernis. Mehr noch wurde die jüdisch-christliche Tradition selbst mit ihrem Nachdruck auf Brüderschaft der Menschen und ethisches Verhalten in den Beziehungen mit anderen Nationen sowie auch der einzelnen untereinander sehr übelgenommen. Dies war zweifellos eine der Hauptursachen für das Aufkommen der modernen Form des Antisemitismus, die in zunehmendem Maße rassische Merkmale annahm. Von den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an entwickelte sich allmählich jene ablehnende Einstellung gegenüber allem, wofür sich sowohl das Judentum wie das Christentum eingesetzt hatten, was schließlich der Machtergreifung durch die Nazis den Weg ebnete. Lange bevor Hitler auf der Szene erschien, waren deutsche Stimmen zu hören wie die eines gewissen Ernst Wachler, der 1909 schrieb: ,Wehe der Nation, die sich christlich verhält zu einer Zeit, zu der eine Schlacht über den Besitz des Erdballs tobt.' Ein anderer 64

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses deutscher Publizist, Heinrich von Pudor, verband diese imperialistische Kampagne mit einer Forderung nach der Vernichtung der Juden, weil ,die christliche Religion Siegfried, den Teutonen, Furcht gelehrt hat... die ganze Christenheit ist eine jüdische Christenheit und als solche der kühnste Betrug, der an Rassen und Nationen in der Weltgeschichte begangen worden ist.' So war also wirklich der Boden vorbereitet für ein Volk, das später in seinem hochgespannten Ehrgeiz durch seine Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem darauf folgenden wirtschaftlichen Chaos gescheitert war, auf Propheten des Verhängnisses und das Versprechen einer Wiedergeburt nur unter dem Banner der extremen Rassenideologie der Nazi-Bewegung zu hören. Nicht daß das deutsche Volk einmütig in seinem Judenhaß gewesen wäre! Zu allen Zeiten traten Persönlichkeiten und Gruppen auf, die ihrenjüdischen Nachbarn Toleranz, ja sogar echte Freundschaft entgegenbrachten. Von den Hohenstaufen-Kaisern oder österreichischen Herzögen erlassene Schutzverordnungen, von den Bischöfen und Fürsten zur Sicherheit ihrer jüdischen Schutzbefohlenen ergriffene wirkungsvolle Maßnahmen, die nicht seltenen Handlungen einzelner Bürger, die Juden in ihrem Heim angesichts der Verfolger unter eigener Lebensgefahr zu verstecken, dies alles sind Lichtstrahlen, die die während all dieser Jahrhunderte über den jüdisch-deutschen Beziehungen liegende Düsternis aufhellen. Martin Luthers ,Von den Juden und ihren Lügen' findet sein Gegenstück in Gotthold Ephraim Lessings .Nathan der Weise'; Eisenmenger, Rühs und Fries hatten ihre Gegenspieler in Dehn und den Gebrüdern Humboldt; Treitschke, Lagarde und Chamberlain wurden von Mommsen, Franz Delitzsch und Strack angefochten. Aber unter den breiten Massen der Bevölkerung griff der Virus des Antisemitismus sogar die Arbeiter heftig an, die in der mächtigen Sozialistischen Partei eingetragen waren, deren Führer August Bebel lange diese Ideologie als eine .Religion der Narren' verdammt hatte. Es ist gewiß charakteristisch, daß, wie FritzKynass gezeigt hat, .keine mittelalterlichen Volkslieder existieren, die den Juden gegenüber eine freundliche Einstellung erkennen lassen*. Die Juden ihrerseits entwickelten eine tiefe Zuneigung zum deutschen Volk und seiner Kultur. Die Beschuldigungen von Luther und anderen, daß die Juden eingefleischte Feinde aller Christen seien, klangen recht hohl; sie mögen sich zu Recht auf nur einige wenige Einzelpersonen bezogen haben, die stark auf die Haßgefühle ihrer Umgebung reagierten. Aber das Volk als ganzes fühlte eine intime Beziehung zu den deutschen Landen, deren hebräischen Namen .Ashkenaz' sie verwandten, um damit alle Glaubensgenossen nördlich der Alpen und Pyrenäen zu bezeichnen. Friedrich Wilhelm Heinz, ein ehemaliger SA-Offizier, war ungeachtet seiner gewundenen Interpretation nicht im Unrecht, wenn er behauptete, daß ,die «metaphysische Ablehnung» durch die Deutschen durch eine nicht geringere seitens der Juden beantwortet wird. Es ist die unheilvolle Liebe des kranken Blutes für das gesunde; wir sehen hier in ihrer gedanklichen Verdrehung die Auswirkung der alten Mythen der primitiven Völker über die heilenden und rettenden Kräfte des jungfräulichen Blutes'. Vielmehr traf Hermann Cohens .Deutschtum und Judentum' den Nagel auf den Kopf, das, 65

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit obwohl es durch das patriotische Hochgefühl des Ersten Weltkrieges inspiriert war, nichtsdestoweniger als eine Art Testament eines der größten modernen Denker an seine deutschen und jüdischen Landsleute diente. Vor J a h r h u n d e r t e n veranlaßte diese metaphysische Liebe die J u d e n aus Deutschland in der Verbannung, ihren deutschen Dialekt mit sich in die weiten Flächen von Osteuropa zu verpflanzen, die bald die Mehrzahl ihres Volkes aufnahmen. Liebevoll entwickelten sie ihre germanische Sprache, lange nachdem die christlichen deutschen Kolonisten der polnischen Städte ihre Identität aufgegeben und das Idiom ihrer Umgebung angenommen hatten. Das osteuropäische J u d e n t u m bildete allmählich diesen Dialekt zu einer neuen großen Sprache um, was dazu beitrug, seine innersten Gefühle auszudrücken und schließlich eine außerordentlich reiche u n d qualitativ hohe eigene Literatur hervorzubringen. Zur Zeit der Aufklärung wurden ganze Generationen von J u d e n mit Gedichten von Schiller und Heine großgezogen, die in vielen Heimen Hausliteratur wurden und mit einigen ihrer alten hebräischen Klassiker konkurrierten. Russische und polnische jüdische Studenten, die an deutschen Universitäten und Hochschulen studierten, wurden zu T r ä g e r n deutscher Kultur bei ihrer Rückkehr in ihre Heimat, oder wo immer sie sonst sich niedergelassen haben mögen. Viele von uns sind den deutschsprachigen Universitäten, die uns weite neue Horizonte erschlossen und uns Forschungsmethoden lehrten, von denen wir bis an unser Lebensende Gebrauch machen, ewig dankbar. Kurzum, das jüdische und das deutsche Volk sind im Lauf ihrer Geschichte so eng miteinander verflochten, daß sie trotz aller Ressentiments und gegenseitigen Argwohns den Historikern als Zwillinge erscheinen müssen, über tausend Jahre lang fast unzertrennlich. Und wie steht es mit der Zukunft? Zunächst müssen wir uns darüber klar sein, daß wir ein Problem von großer Tiefe und Intensität vor uns haben. Es genügt einfach nicht, leichtfertig über die Erlebnisse der jüngsten Vergangenheit hinwegzusehen und die Nazizeit als eine große Verirrung des deutschen Geistes zu erklären, die durch den seitens der deutschen Regierung sowohl Israel wie auch dem jüdischen Volk gegenüber gezeigten späteren guten Willen richtiggestellt worden sei. Zwar hat man mir gesagt, und meine während der paar verhältnismäßig kurzen Besuche in Deutschland in d e r Nachkriegszeit erhaltenen Eindrücke bestätigen dies, daß im großen und ganzen die Regierungsorgane, die Presse, die Universitäten und die Welt des Kunstschaffens einen weiten Weg zurückgelegt haben, indem sie versuchten, die Spuren des Nazismus zu tilgen. Doch scheint das deutsche Volk im ganzen noch nicht ganz bereit zu sein, einen Schlußstrich unter die Erlebnisse der dreißiger und vierziger J a h r e zu ziehen, und noch weniger unter seine tief eingewurzelte tausendjährige Tradition, die tief sowohl in sein Unterbewußtsein wie in sein Bewußtsein eingedrungen ist. Ich weiß nicht, wie zuverlässig öffentliche Meinungsbefragungen sind im Hinblick auf so komplizierte Einstellungen wie diejenigen, die sich auf antisemitische Gefühle beziehen, wenn dieselben Personen wahrscheinlich die gleichen Fragen zu verschiedenen Zeiten verschieden beantworten. Ich habe auch nicht ir66

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses gendwelche diesbezüglichen B e f r a g u n g e n in jüngster Zeit sorgfaltig nachgep r ü f t . Es mag j e d o c h charakteristisch sein, daß eine vom Westdeutschen Institut f ü r ö f f e n t l i c h e Meinung innerhalb von f ü n f J a h r e n nach d e m Fall des Naziregimes d u r c h g e f ü h r t e B e f r a g u n g erwies, daß volle 13 Prozent immer noch zugaben, daß sie ausgesprochene antisemitische Gefühle hegten, eine Mehrheit von 55 Prozent angab, daß sie entweder gewisse, Vorbehalte' bezüglich d e r J u d e n mache o d e r bestenfalls ihnen gegenüber .tolerant' sei, u n d 15 Prozent Gleichgültigkeit vorgaben. Es steht deshalb a u ß e r Frage, daß ein wirkliches Problem existiert. Gewiß, ein Weiser sagte mir einmal, daß schwierige Probleme in d e r Regel nie gelöst werden; sie verschwinden. Nichtsdestoweniger k ö n n e n wir nicht einfach in völliger Passivität abseits stehen u n d die Räder der Geschichte sich hoffnungsvoll von selbst in der richtigen Richtung d r e h e n lassen. Wir müssen uns auch vor A u g e n halten, daß es wieder J u d e n in Deutschland gibt u n d daß es wahrscheinlich in Z u k u n f t d e r e n m e h r geben wird. Ich erinnere mich an eine Diskussion im Mai 1946 (innerhalb eines J a h r e s nach d e r deutschen Kapitulation) mit d e m verstorbenen Dr. Maurice Liber, d e m Leiter des Collège Rabbinique in Paris. W ä h r e n d e r ü b e r die Aussichten f ü r das deutsche J u d e n t u m sprach, die damals außerordentlich düster erschienen, zog Dr. Libere ine Parallele zu d e n J a h r e n , die unmittelbar auf d e n Schwarzen T o d folgten. .Hätte es damals j e m a n d gewagt', so fragte er, .vorauszusagen, d a ß nach d e m J u d e n b r a n d ' in den meisten Teilen Deutschlands J u d e n gewillt wären oder es ihnen gestattet sein würde, sich wieder in diesem ungastlichen Lande anzusiedeln?' Viele Überlebend e des Zweiten Weltkrieges k ö n n t e n tatsächlich die folgende B e m e r k u n g von Heinrich von Diessenhofen, einem Zeitgenossen des Schwarzen Todes, nachsprechen: ,Ich hätte denken können, daß das Ende d e r Hebräer jetzt gekommen sei, wenn die Weissagungen von Elias und Enoch erfüllt worden wären. Aber da sie nicht erfüllt worden sind, ist es notwendig, d a ß einige (Hebräer) erhalten bleiben sollten, so d a ß das Wort d e r Heiligen Schrift bezüglich d e r H e r z e n der Söhne, die sich den Vätern zuwenden, u n d derjenigen d e r Väter, die sich d e n Söhnen zuwenden, verwirklicht werde. Aber ich weiß nicht, wo sie erhalten bleiben würden, wenngleich ich annehme, daß es wahrscheinlicher ist, daß das Volk und der Same Abrahams in Gegenden jenseits des Meeres bewahrt bleiben werden.' In unserer Nachkriegsära hat sich der Schwerpunkt des jüdischen Volkes wirklich von E u r o p a nach den »überseeischen' L ä n d e r n Israel u n d der westlichen Hemisphäre verlagert. Es ist jedoch unleugbar, daß, wie Dr. Liber u n d ich 1946 übereinstimmend sagten, nicht n u r die jüdischen Gemeinden in verschiedenen deutschen Gegenden in d e n Generationen nach 1348 entstanden, sondern was von noch größerer Bedeutung ist, d a ß vielleicht die größte Blüte d e r deutsch-jüdischen Kultur erst noch k o m m e n sollte. Weiterhin ist bemerkenswert, d a ß sich nach d e r Massenvernichtung der vierziger J a h r e keine Legenden m e h r gebildet haben, die sich auf irgendwelchen von J u d e n geleisteten Eid beziehen, nie in das Land ihrer großen Leiden zurückzukehren, wie er angeblich von d e n aus Spanien verbannten J u d e n 1492 geschworen worden ist. Auch letzterer Eid ist höchstwahrscheinlich unhistorisch jedoch 67

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

ist es eine unumstößliche Tatsache, daß jahrhundertelang danach kein gläubiger Jude Spanien besuchen wollte oder dies auch gefahrlos tun konnte, und daß sich erst im 20. Jahrhundert kleine organisierte jüdische Gemeinden auf iberischem Boden bildeten. Demgegenüber gibt es jetzt bereits eine Anzahl jüdischer Gemeinden in verschiedenen Teilen Deutschlands, die versuchen, die Kultur ihrer Vorfahren wieder aufleben zu lassen. Gewiß haben viele Juden in anderen Ländern immer noch ein unbehagliches Gefühl bezüglich eines Deutschlandbesuches. Es ist aber einleuchtend, daß lange nachdem die Überlebenden und Zeitgenossen der Massenvernichtung ausgestorben sein werden, neue Generationen von Juden, zweifellos in geringerer Anzahl als zuvor, wieder am weiteren Aufbau Deutschlands blühender Wirtschaft und Zivilisation teilhaben werden. Daher ist das Problem des künftigen Zusammenlebens der beiden Gruppen von unmittelbarster Bedeutung für die Einwohner von West- und Ostdeutschland und anderen deutschsprechenden Ländern. In unserer Welt, in der in steigendem Maße einer vom anderen abhängig ist, ist überdies irgendein .modus vivendi' zwischen der deutschen Nation und dem Weltjudentum, einschließlich des Staates Israel, ebenfalls von großer Bedeutung, nicht nur für diese beiden Völker, sondern für die gesamte Menschheit. Selbst heute, mehr als zwei Jahrzehnte nach der Massenvernichtung, mag es verfrüht sein, irgendeine Art optimistischer Voraussagen bezüglich der möglichen Aufnahme echter freundschaftlicher Beziehungen zu machen. Doch sind einige hoffnungsvolle Zeichen am Horizont sichtbar. Aus unseren früheren Darlegungen muß deutlich geworden sein, daß extremer Nationalismus, mehr als irgendein anderer Faktor, alle jüdisch-deutschen Beziehungen vergiftet hat. Gleichviel, ob es nun der unbewußte Nationalismus des späten Mittelalters, der voll entwickelte Nationalismus des 19. Jahrhunderts, oder schließlich der im totalitären Deutschland Amok laufende Nationalismus war, er verdächtigte selbst die kleinste Abweichung oder den kleinsten Unterschied der Eigentümlichkeit zwischen Juden und Nichtjuden als ein Zeichen des .Separatismus', wenn nicht sogar als glatten Verrat. Während überdies der heroische Nationalismus vor anderthalb Jahrhunderten den Vorrang einer moralischen Ordnung in der Menschheit anerkannte, kannte der spätere totalitäre Nationalismus keine Grenzen. Es war tatsächlich die große Tragödie in der gesamten westlichen Welt, daß ihre frühe Neuzeit von der Lehre nationaler Oberhoheit als dem höchsten Träger politischer Entwicklung beherrscht war. Wenn die nationale Oberhoheit überhaupt etwas bedeutete, dann war es das, daß der Staat die höchste Instanz der Gesetzgebung sei und daß er deshalb sich über jegliche Konventionen hinwegsetzte. Im Altertum und im Mittelalter wurden selbst die mächtigsten Herrscher durch die Möglichkeit, daß ein Prophet oder ein Priester einige ihre Handlungen als Bruch einer von Gott eingesetzten moralischen Ordnung tadelte, zurückgehalten. In den verweltlichten Gesellschaften der Neuzeit gab es keinerlei solche Einschränkungen, und die letzte Entscheidung beruhte eher auf der Macht als auf dem Recht. Der totalitäre Nationalismus war also nur der logische Höhepunkt einer Entwicklung, die sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte. 68

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses Der Zweite Weltkrieg hat jedoch nicht n u r gezeigt, wie weit diese extreme Form des Nationalismus über das Ziel hinausgeschossen ist, sondern er hat auch allen deutlich gemacht, daß eine nationale Oberhoheit oft zu einem hohlen Prinzip wird, wenn es hart auf hart geht. Nie zuvor ist ein bedeutendes Land wie Holland, mit der Rückendeckung eines großen südostasiatischeq Reiches, von einem ausländischen Feind innerhalb von vier Tagen besetzt worden. Andere bedeutende Länder, wie die Tschechoslowakei oder Dänemark, ergaben sich ohne einen Schuß abzugeben. Offensichtlich lag die Oberhoheit dieser Länder in T r ü m m e r n . Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es sogar noch deutlicher geworden, daß jede Nation, wenn die Menschheit das Atomzeitalter überleben soll, etwas von ihrer Oberhoheit aufgeben und sich durch Abkommen oder nötigenfalls auch kraft des Willens einer Mehrheit einer übernationalen O r d n u n g anschließen muß. Vor allem Deutschland hat gelernt, daß seine menschlichen und natürlichen Hilfsquellen nicht an die der Supermächte der Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und bald möglicherweise auch von Rotchina herankommen, und daß es sich nur dadurch, daß es sich dem Gemeinsamen Markt anschließt, der hoffentlich eine Vorstufe zu den Vereinigten Staaten von Europa ist, die auch einige oder alle Staaten der EFTA-Länder umfassen mögen, eine Chance hat, die große historische Rolle zu spielen, die seinen Patrioten vorschwebt. Diese neue Lage hat in der Tat eine neuartige Atmosphäre f ü r Meinungen geschaffen, in der die Anerkennung einer Einheit innerhalb einer Verschiedenheit eine reale Möglichkeit geworden ist. Vielleicht ist die Zeit nicht zu weit entfernt, in der die deutsche Nation den Worten Friedrich Barbarossas, eines der in ihren Legenden und ihrer Poesie am meisten verherrlichten Helden, lauscht, die er in seinem Grundprivileg f ü r die Regensburger Judenschaft niedergeschrieben hat: ,Es ist die Pflicht Unserer Kaiserlichen Majestät sowie auch ein Erfordernis der Gerechtigkeit und eine Forderung der Vernunft, daß Wir zu Recht jedem Unserer getreuen Untertanen das ihm Zukommende bewahren, nicht nur den Anhängern des christlichen Glaubens, sondern auch denen, die einem dem Unsrigen verschiedenen Glauben anhängen und den Riten der Überlieferung ihrer Vorväter gemäß leben. Wir müssen d a f ü r Vorkehrungen treffen, daß sie an ihren Gebräuchen festhalten u n d müssen den Frieden f ü r ihre Person und ihr Eigentum sichern. Aus diesem Grunde verkünden Wir allen gegenwärtigen und zukünftigen getreuen Untertanen des Reiches, daß Wir in großer Sorge f ü r das Wohlergehen aller in unserem Reiche lebenden Juden, von denen bekannt ist, daß sie a u f g r u n d eines besonderen Prärogativs Unserer Würde der kaiserlichen Kammer angehören, Unseren Regensburger J u d e n ihre guten Gebräuche, die ihren Vorfahren durch die Gnade und Gunst Unserer Vorgänger bis auf Unsere Zeit zugesichert worden sind, zugestehen und sie mit unserer kaiserlichen Autorität bestätigen.' Das deutsche Volk, das schon lange gelernt hat, die Unterschiede zwischen den Sachsen, Schwaben und Bajuwaren zu überwinden, und das seine nationale Einheit trotz d e r großen religiösen Verschiedenheit zwischen den Katholiken 69

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit u n d d e n beiden protestantischen Bekenntnissen hat erlangen können, mag vielleicht wirklich mit d e r Zeit nicht n u r eine friedliche, sondern eine freundschaftliche Koexistenz mit d e r sogar noch verschiedeneren G r u p p e d e r J u d e n aufrichtig anerkennen. Eine solche A n e r k e n n u n g von ganzem Herzen zuwege zu bringen, ist keineswegs eine leichte Aufgabe. Es wird nicht einmal genügen, lediglich ein allumfassendes Erziehungsprogramm anzunehmen u n d es J a h r e u n d J a h r z e h n t e lang rücksichtslos d u r c h z u f ü h r e n , obgleich ein solches P r o g r a m m natürlich absolut unerläßlich ist. Aber über alle rationalen Versuche hinaus m u ß man einige neuartige Mittel ersinnen, das zu bekämpfen, was im wesentlichen ein jahrtausendalter irrationaler Antagonismus gewesen ist. Wir alle sind uns klar über die fortwährend Zweiteilung zwischen d e r Anwendung von Mitteln und Methoden, die notwendigerweise rational sind, zur Heilung von Übeln, die aus irrationalen Impulsen h e r r ü h r e n . Die Menschheit und die menschliche Wissenschaft sind jedoch bereits weit genug fortgeschritten, um diese u n g e h e u r e n Schwierigkeiten zu erkennen u n d zu versuchen, neue Wege zu finden, u m die Irrationalität mit der Rationalität zu verbinden bei d e r Heilung tiefeingewurzelter alter Übel dieses Typs. Jüdischerseits wird es ebenfalls lange Zeit d a u e r n , bevor die gegenwärtigen Ressentiments abklingen. Mit der Zeit wird sich aber wahrscheinlich etwas herausbilden, das weder d e r .metaphysischen Liebe' f ü r das alte deutsche Erbe noch ihrer scharfen U m k e h r in Richtung der j ü n g e r e n deutschen Vergangenheit ähnlich ist, sondern e h e r ein zurückhaltenderer, herkömmlicher Geist nachbarlicher Zusammenarbeit. W e n n solche .Erbfeinde' wie Frankreich und Deutschland endlich ihre Streitäxte begraben und in wirtschaftlicher, kultureller u n d politischer Beziehung freundschaftliche Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft werd e n konnten, so k a n n man vielleicht auch d e r Herstellung normalerer - u n d nicht n u r .korrekter' — Beziehungen zwischen Deutschen und J u d e n entgegensehen. U n d unsere tief beunruhigte Welt kann tatsächlich j e d e Unze von Freundschaft unter d e n Völkern gebrauchen, d e r e n sie sich versichern kann."

5.2 Ein Gespräch mit Nahum Goldmann über den Kongreß und seine Folgen Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Dr. Nahum Goldmann, hielt sich damals an verschiedenen Orten in der Bundesrepublik auf. Ich traf Dr. Goldmann in F r a n k f u r t zu einem Gespräch, das zurückführte a u f die ersten Kontakte, die er 1951 mit d e m damaligen Bundeskanzler Dr. Adenauer in London hatte, wo er das offizielle Gespräch zwischen den jüdischen Organisationen u n d d e r Bundesregierung einleitete. Dieses Gespräch f ü h r t e seinerzeit zu einem Wiedergutmachungsabkommen mit Israel, und Dr. Goldmann war es auch, d e r f ü r d e n Besuch Dr. Adenauers in Israel viel vorbereitete. An all diese Dinge erinnerte ich Dr. GoldIQ

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses mann in unserem Gespräch, und vor allem auch an die Ereignisse, die sich nach seiner Rückkehr vom Brüsseler Kongreß um seine Person, an seinem Hause abspielten. Ich fragte ihn: „Wenn Sie jetzt Bilanz ziehen über diese Zeit, wie würden Sie den deutsch-jüdischen Dialog dann beurteilen?" Antwort: Ich glaube, daß wir, mit allen Schwierigkeiten, die zu erwarten waren, die unvermeidlich waren u n d sind u n d noch eine Weile bleiben werden, doch in den J a h r e n seit meinem ersten Gespräch mit Dr. Adenauer in London ziemlich große Fortschritte gemacht haben. Da Sie das Essen erwähnten und den Besuch von Dr. Adenauer, erinnere ich mich, daß Dr. Adenauer nach dem Mittagessen, als wir draußen beim Kaffee saßen, zu mir sagte: „Wissen Sie, Herr Goldmann, wenn ich daran denke, daß Sie 1951 heimlich durch eine Seitentüre des Claridge Hotel mich besuchen kamen, weil niemand davon wissen durfte, und wir beide vereinbart hatten, den Besuch abzustreiten, falls es bekannt würde, und ich sehe, wie Sie heute dieses Ehrenmahl f ü r mich veranstalten konnten, haben wir doch große Fortschritte in diesen Jahren gemacht." Damit hatte er durchaus recht. Ich glaube, daß der Dialog in Brüssel eine weitere Etappe auf diesem Wege ist, der schließlich einmal zu einer normalen Koexistenz beider Völker in ihren gegenseitigen Beziehungen führen muß. Die Schwierigkeiten oder die Gegnerschaft, die sich gegen den Gedanken dieses Symposiums mit prominenten deutschen Vertretern entwickelte, war verständlich u n d wie ich schon oft gesagt habe, würde ich mich als J u d e schämen, wenn kein Widerspruch sowohl gegen meine damalige Anregung, daß wir direkt mit der deutschen Bundesrepublik verhandeln sollten, als auch gegen das Symposium in Brüssel sich entwickelt hätte. Das Entscheidende ist, daß die Majorität nicht nur der Instanzen des Jüdischen Weltkongresses, sondern wie ich glaube — da es sich um eine demokratische repräsentative Gesamtorganisation des jüdischen Volkes handelt — die Majorität des jüdischen Volkes trotz aller emotionalen Schwierigkeiten und Bedenken sich f ü r diese Aussprache entschieden hatte. Ich glaube, der durchaus ruhige, sehr würdige und eindrucksvolle Verlauf dieses Abends hat bewiesen, daß das Risiko, das in allen solchen Schritten liegt, nicht so groß war. Es war durchaus berechtigt und nützlich, dieses Symposium zu veranstalten. Wie ich jüngst in einer Berliner Pressekonferenz sagte, muß man in dieser Frage außerordentlich viel Geduld haben. Vor allem müssen auch die Deutschen Geduld haben und nicht glauben, daß mit der im großen u n d ganzen großzügigen D u r c h f ü h r u n g der Entschädigungsgesetzgebung, mit der Anerkennung Israels, mit der Hilfe, die man Israel ökonomisch gewährt, das ganze Problem bereits gelöst sei. In Anbetracht der Größe der Verbrechen ist es klar, daß sicherlich diese Generation von Juden, die nicht nur diese Tragödie u n d diese Verbrechen miterlebten, von der noch hunderttausende Menschen leben, die aus den Konzentrationslagern gerettet wurden, Schwierigkeiten haben wird, diesen Weg der Koexistenz weiterhin zu beschreiten. Es wäre das Schlimmste, wenn gerade das deutsche Volk, das j a schließlich die Verantwortung f ü r diese Verbrechen trägt, die Geduld verlieren würde. Solche Prozesse sind psychologische u n d moralische Prozesse. Sie können nicht durch Resolutionen u n d Beschlüsse von Kongressen oder durch Konferenzen über Nacht gelöst werden. Da71

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit durch, daß der Weltkongreß die Existenz der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland anerkannt hat — dasselbe hat die Zionistische Weltorganisation getan — in beiden Organisationen spielt der Zentralrat der deutschen Juden eine seiner Bedeutung gemäße Rolle — hat das Weltjudentum bewiesen, daß es bereit ist, diese Kontakte nicht n u r mit den deutschen Juden, sondern mit dem deutschen Volke und der deutschen Bundesrepublik zu entwickeln und zu stärken. Niemand weiß, wie lange so etwas dauern wird; es wird immer wieder Rückschläge u n d Schwierigkeiten geben, es wird Proteste geben. Aber das muß man als beinahe unvermeidlich und natürlich mit in Kauf nehmen. Auf beiden Seiten m u ß man den Willen haben, das gegenseitige Verständnis, wie lange auch der Prozeß dauern mag, diesen Weg fortzusetzen. Ich zweifle nach den Erfahrungen dieser 15 bis 16 J a h r e nicht daran, besonders auch nach der Erfahrung des Brüsseler Weltkongresses, daß dieser Prozeß weitere Fortschritte machen wird. Frage: H e r r Dr. Goldmann, Brüssel war ein Abschnitt. Sie haben in Berlin miterlebt, wie Axel Springer die große Stiftung f ü r Jerusalem machte. Ein kulturelles Ereignis u n d vielleicht der Beginn einer kulturellen Verbindung zwischen unseren beiden Völkern, die bisher nur vereinzelt begannen. Glauben Sie, daß aus Brüssel u n d diesen Tagungen oder ähnlichen Ereignissen n u n langsam auch eine engere kulturelle Begegnung zwischen unseren Völkern erwachsen wird? Antwort: Natürlich sind kulturelle Beziehungen immer etwas delikater und schwieriger als rein wirtschaftliche, finanzielle oder diplomatische formelle Beziehungen. Aber auch da bin ich nicht pessimistisch. Ich glaube vor allem, daß es durchaus möglich sein wird, zwischen den j u n g e n Generationen — sowohl in Israel wie in Deutschland — die ja nicht unmittelbar an der Tragödie beteiligt waren, Beziehungen auszudehnen und zu vertiefen. Es hat mich besonders gefreut, daß letztens gerade ein Mann wie der jetzige Ministerpräsident Israels denselben Standpunkt eingenommen u n d sich für eine Förderung der Beziehungen mit der deutschen Jugend ausgesprochen hat. Auch da muß man, wie gesagt, nicht erschrecken oder enttäuscht sein, wenn Rückschläge kommen; wenn diese oder jene jugendlichen Gruppen in Israel zögern oder sogar eine Herstellung von Beziehungen hier und da ablehnen. Die Jugend ist immer etwas schärfer in ihren Reaktionen und so soll sie auch sein. Aber ich bin überzeugt, wenn deutscherseits die Sache weiter gefördert wird, daß f ü h r e n d e Kreise in Israel und auch führende Kreise eines jedenfalls großen Teils der jüdischen J u g e n d in Israel bereit sein werden, solche Kontakte — natürlich mit dem nötigen Takt, mit der nötigen Geduld — herzustellen und zu erweitern. Frage: H e r r Dr. Goldmann, mit der Jugend, so glaube ich, wird das verhältnismäßig leicht sein, trotz der Emotionen, der die Jugend fähig ist. Aber glauben Sie nicht, daß es einen gewissen Unterschied gibt in den heutigen Äußerungen zu denen, die einst Ben Gurion getan hatte, indem er doch zum Ausdruck brachte „das deutsche Volk von heute ist nicht mehr mit demjenigen der Hitler-Zeit zu vergleichen". Ich will damit sagen: Glauben Sie nicht, daß es heute in unserer Generation, in d e r mittleren Generation zwischen 40 und 50 einen großen Teil von Menschen gibt, die genau so wie die Jugendlichen unbelastet u n d mit einer avantgar72

5 Die 5. Plenartagung des Jüdischen Weltkongresses distischen Einstellung zu den ganzen Problemen des deutsch-jüdischen Problems mitwirken wollen und bereit wären mitzumachen, und daß sie nicht vielleicht gebremst werden, wenn man n u r von der deutschen Jugend spricht. Antwort: Ich habe nie gedacht, daß die Kontakte n u r zwischen den Vertretern der J u g e n d in Israel und Deutschland hergestellt werden sollen. Die Tatsache, daß wir das Thema in Brüssel auf die Tagesordnung gesetzt haben, beweist es ja. Der Jüdische Weltkongreß ist keine Jugendorganisation. Als jugendliche Vertreter auf dem Weltkongreß repräsentierten vielleicht 5 oder 10% der Delegierten. Hier handelt es sich ja jüdischerseits um die erwachsene Generation, die, wie ich vorhin sagte, die Tragödie selbst mitgemacht hatte, im Unterschied zu vielen Jugendlichen, die schon nach der Tragödie geboren wurden, oder sehr j u n g waren, daß sie sie nicht bewußt erlebt haben. Auf der anderen Seite sind natürlich Beziehungen zwischen den erwachsenen Generationen etwas schwieriger, weil eben Hunderttausende da sind, die es wahrscheinlich bis an ihr Lebensende persönlich ablehnen werden, solche Beziehungen mitzumachen, was ich durchaus verstehe. Ich habe in Israel gesagt, wenn ein Mann wie H e r r Zuckermann, der einer der Kämpfer des Warschauer Ghettos war, es ablehnte, eine Koexistenz mit dem deutschen Volke oder positive Beziehungen zu akzeptieren, verstehe ich dies durchaus und ziehe meinen Hut vor ihm. Solche Männer haben durch ihre Leistungen, durch ihren Heroismus das Recht, diesen Standpunkt einzunehmen, auch wenn ich ihn, rational gesehen, nicht billige. Ich glaube, wenn das jüdische Volk ihn als Ganzes akzeptieren würde, wäre das schändlich, vom rein jüdischen Standpunkt aus gesehen. Natürlich muß man berücksichtigen, daß diese Menschen unter uns sind und dadurch die Kontakte zwischen den Erwachsenen vielleicht etwas schwieriger sein werden, aber ich glaube, daß auch darunter große Gruppen bereit sind. Es war mir sehr interessant, daß ich nach den Angriffen der letzten Wochen nach Brüssel auf mich in Israel Dutzende von Briefen — ich könnte beinahe sagen Hunderte — und Telegrammen bekam, die meinen Standpunkt durchaus akzeptierten, was mich besonders gerührt hat; gerade auch von Menschen, die f r ü h e r in Konzentrationslagern gewesen sind.

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Golo Mann: „Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit" — Ein Gespräch über die Behandlung der politischen Vergangenheit

Anläßlich der Jahrestagung des Kulturkreises des Bundesverbandes der Deutschen Industrie im Oktober 1967 sprach der Historiker Golo Mann über das Thema: „Brauchen wir noch die Vergangenheit?" Er behandelte die Frage nach der kulturellen Vergangenheit Deutschlands. Ich suchte die Ergänzung, die Ergänzung des Historikers, der mit seiner Arbeit mehr die Politik der Neuzeit als die kulturelle Vergangenheit betrachtet. Am Rande dieser Tagung führte ich mit Prof. Golo Mann ein Gespräch, das weit mehr war als ein Interview. Es war eine erregende Stunde, mit einem Mann zu sprechen, dessen Familie nicht nur geprägt war durch das große Leitbild des Vaters Thomas Mann, sondern bei dem auch heute noch mitschwingt, was die „düstere Vergangenheit Deutschlands" dieser Familie mit auf den Weg gegeben hatte, auf den Weg aus einem Deutschland, das vom Nationalsozialismus vernichtet wurde. Frage: Herr Professor Golo Mann, Sie haben im Kulturkreis des Bundesverbandes der Deutschen Industrie zum Thema „Brauchen wir noch die Vergangenheit?" gesprochen. Sie haben es selbstverständlich in diesem Kreise kulturell aufgefaßt, in Regensburg, in der Kaiserstadt, in der Stadt des Konzils, die mit jedem Stein noch Geschichte und Tradition atmet. Aber es gibt eine andere Vergangenheit, um die Sie sich mehr kümmern, und um die wir uns auch als Journalisten täglich kümmern müssen, wenn wir die NS-Prozesse beobachten, wenn dadurch die Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit, die Auseinandersetzung mit dem, was gewesen ist, erneuert wird. Und darum meine Frage an Sie als den Politologen, als Historiker: Gibt es eine wirkliche Beschäftigung mit der Vergangenheit, sollen und müssen wir uns damit befassen im Zusammenhang mit unserer Zukunft, mit unserer täglich wachsenden Geschichte? Antwort: Das ist eine ungemein umfassende Frage. Als Historiker bin ich der tiefsten Überzeugung, daß zum Bewußtsein des Gegenwärtigen Kenntnisse und Bewußtsein der Vergangenheit gehören. Nun ist Vergangenheit ja ein sehr weiter Begriff, was gestern war, ist bereits Vergangenheit; was vor 30,40 Jahren war, ist Vergangenheit, und was z. B. hier in Regensburg vor 300 Jahren war, ist auch Vergangenheit. Für mich gehört zum Bewußtsein, zur Identität der lebenden Generation ein Verhältnis zu jeder Vergangenheit, zur römischen, zur mittelalterlichen und zur früh-modernen und zu der düsteren Vergangenheit vor 30 Jahren auch. Frage: Sprechen wir über die düstere Vergangenheit, Herr Professor. Da gibt es viele Probleme bei der Beschäftigung mit dieser Vergangenheit. Vielleicht ist es 74

6 Golo Mann: „Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit' eines der Motive, warum so viele junge Menschen dieser Vergangenheit fernstehen oder anscheinend so fernstehen, daß man von bestimmten Seiten aus diese Vergangenheit zu manipulieren sucht. Ich denke daran, daß aus dem Osten zum Beispiel die Zentrale Stelle in Ludwigsburg nur sehr selten Dokumente bekommt, daß irgendein Dokument veröffentlicht wird, anstatt das ganze Dokumentenmaterial auf den Tisch zu legen; daß manipuliert wird, u n d diese Manipulation ein Fragezeichen setzt in diese Gesamtvergangenheit, u n d daß dann vielleicht viele j u n g e Menschen sagen, wir können es ja nicht mehr nachprüfen, uns geht es im G r u n d e nichts mehr an. Dann werden sie von dieser Vergangenheit entfernt. Wie sehen Sie es? Antwort: Was die Haltung dessen, was Sie den Osten nennen, also die Haltung der kommunistischen Regionen und besonders der DDR zu diesem Problem betrifft, so wissen Sie ja, Herr Vogel, hundertmal mehr darüber als ich. Die politische und etwas tückische Dosierung im Herausrücken von Dokumenten, wie es von Ostberlin geübt wird, bedaure ich auch zutiefst. Anstelle einer solchen Dosierung sollte ehrliche, wahrheitssuchende Zusammenarbeit zwischen Ost und West sein, und die ist wohl leider im geringen Maße der Fall. Mein Eindruck ist allerdings, daß man etwa in Polen bereiter ist als in der DDR. Frage: Auch dort kann man leider nicht sagen, daß uns alle Dokumente auf den Tisch gelegt werden, sondern die Zentrale Stelle muß vorher anmelden, welche Komplexe sie sehen will, und bekommt dann, das hat sich leider immer wieder herausgestellt, immer etwas „vorsortiertes" Material. Antwort: Nun, das wissen Sie, das weiß nicht ich. Übrigens wollen wir hier die andere Seite nicht ganz vergessen: Es ist in den Ländern des Ostens auch behauptet worden, man hätte von Westdeutschland f r ü h e r in den Hauptstädten der östlichen Staaten Informationen holen können, als man es getan hat. Diese These ist vertreten worden, und es mag auch an ihr etwas sein. Es ist ja auch so, daß man mit der ernsthaften Verfolgung von Verbrechen dieser Art in der Bundesrepublik ein bißchen f r ü h e r hätte anfangen können. Frage: Dazu wäre aber zu sagen, H e r r Professor, daß von vielen Seiten des Auslandes auch damals keine Verfolgung von Fällen einsetzte, die heute große Fälle sind. Ich denke daran, daß man ja die Potsdamer Zentralarchive überhaupt bis heute noch nicht geordnet hat, was ja der Generalstaatsanwalt Streit vor etwa einem J a h r sagte und hinzufügte, er habe jetzt Tonnen von Material gefunden, das noch gar nicht durchgesehen ist. Ich glaube, da kann man insbesondere den staatlichen Stellen keinen Vorwurf machen. Man hatte dort geglaubt, diese Dinge seien mehr oder weniger bereinigt — teilweise durch das Entnazifizierungsgesetz — das sich sehr intensiv um den kleinen Mann kümmerte, der wegen politischen Irrtums belangt wurde. Darüber gingen die eigentlichen Verbrecher leer aus. Das war doch wohl die falsche Überlegung nach dem Zusammenbruch. Sie ging auch nicht von deutscher Seite aus, sondern von den Alliierten, die diese Gesetze schufen — ich will niemanden anklagen, nur aus historischen Gründen sollte man das aussprechen. Worum es mir hier geht, ist dieses: Wie kann man unsere junge Generation näher an die Politik heranbringen; sollten da nicht ganze Komplexe, 75

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit die heute ausgeklammert werden, im Betrachten der politischen Auseinandersetzungen — ich d e n k e z. B. an die Frage d e r ungarischen jüdischen Tragödie — m e h r herangezogen werden? Da gibt es viele Komplexe, die noch dunkel sind, oder die n u r einseitig beleuchtet sind. Es gibt m e h r e r e Bücher, es gibt das Buch von Joel Brand, es gibt das Buch über Kastner, das Buch von Biss „Stopp d e r Endlösung". Darin sind viele Aspekte, aber keiner der Blickpunkte gibt das Gesamtbild, so daß m a n sagen könnte: so war es. Antwort: Da kann ich n u r sagen, das zu Erstrebende, u n d das was die J u g e n d — wenn sie ü b e r h a u p t überzeugt werden k a n n — überzeugen könnte, ist die Wahrheit, die ganze Wahrheit, u n d nichts als die Wahrheit. Die Wahrheit, in allen ihren Aspekten. Um I h n e n ein Beispiel zu geben: die T r a g ö d i e Polens, das von zwei Seiten „in die Zange genommen werden" Polens, wie es etwa in d e n neulich auch in deutscher Übersetzung erschienenen E r i n n e r u n g e n des polnischen Künstlers u n d Malers u n d Schriftstellers Tchapski zum Ausdruck kommt. Tchapski schildert als seine Erlebnisse keineswegs n u r jene, die e r gegenüber d e n Deutschen hatte, sondern die er als Gefangener in d e r Sowjetunion hatte. Er schildert also das Schicksal von T a u s e n d e n seiner Kameraden, von Offizieren, die u n t e r die T o d e s m ü h l e n Stalins gerieten, und d a n n die plötzliche Befreiung d e r Gefangenen in Polen am 22. J u n i 1941, als sie sich von zertretenen O p f e r n plötzlich in Bundesgenossen der Russen verwandelt sahen, d a n n d e r n e u e Umschlag 1945. Es ist eines d e r ergreifendsten u n d entsetzlichsten Bücher, die ich je gelesen habe. Also das Martyrium Polens müßte auch in der deutschen Geschichtsschreibung von beiden Seiten gesehen werden, was die Deutschen in Polen sündigten, u n d was die Russen in Polen sündigten ebenso. Ich f ü g e etwas drittes hier hinzu, was n u n freilich zum Heikelsten gehört. Aber, wie ich schon sagte: die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, die ganze Wahrheit. Das ist das Schicksal der J u d e n in Polen. Es ist ein polnischer J u d e — ich will seinen N a m e n nicht n e n n e n — d e r mir sagte: „Es war leichter, 20 0 0 0 J u d e n in Dänemark zu retten als einen einzigen J u d e n in Polen." U n d das - es wird Ihnen ja bekannt sein - ist natürlich durch d e n polnischen Antisemitismus zu verstehen. W ä h r e n d die Polen von d e n Deutschen martyrisiert w u r d e n , war gleichzeitig eine starke polnische Sympathie gegenüber dem, was die Deutschen d e n J u d e n in Polen antaten. Es ist grauenvoll, aber auch diese bittere Wahrheit m u ß man ja aussprechen, weil sie eben zu d e m entsetzlichen Gesamtbild gehört. Frage: H e r r Professor, ich habe dabei eine Frage, die mich sehr lange beschäftigt, nämlich das Problem Rivalität und Gegnerschaft. Ich bin nämlich der Meinung, daß zwei Diktaturen niemals Gegner sein können, sondern im G r u n d e Rivalen sind, in einem Wettlauf stehen. „Wer gewinnt das Rennen", während die Freiheit die echte Gegnerschaft zu einer Diktatur ist. U n d ob nicht gerade das f u r c h t b a r e Beispiel, das Sie eben g e n a n n t haben, diese Tragödie — d a ß zwei Diktaturen sich dieses Polen, dieses Volk teilten, dieses Land zerrissen haben — ein Beweis d e r These Gegnerschaft u n d Rivalität ist u n d daß das eben das großeProblem auch f ü r uns heute bedeutet: Freiheit als unteilbarer Begriff; u n d daraus entwickelt sich d a n n die Frage nach Entspannung. 76

6 Golo Mann: „Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit' Antwort: Ich würde da etwas nuancieren wollen. Es ist Ihnen ja bekannt, daß die Zusammenarbeit der beiden Diktaturen nicht lange gedauert hat, und daß das n u r zeitweise aufgeschobene, in seinem Geiste aber immer gegenwärtige Ziel Adolf Hitlers die Vernichtung der Sowjetunion als Staatswesen und die Vernichtung der russischen Nation war, das ja dann auch zwischen 1941 u n d 1943 aktiv erstrebt wurde. Ich würde das, was die Zusammenarbeit und die bloße Rivalität zwischen den beiden Diktaturen betrifft, wesentlich anders sehen als Sie. Mir ist auch der Begriff der „unteilbaren Freiheit", so wie Sie ihn eben sehr, denn innerhalb der freien Welt geschieht mir zuviel, was mit Freiheit, so wie ich das verstehe, nicht sehr viel zu tun hat. Ich kann die Erde nicht geteilt sehen in zwei Kraftfelder, bei dem in einem Freiheit ist u n d im anderen Diktatur oder Sklaverei. Es ist komplexer. Frage: Aber wenn man jetzt zum Beispiel die T ö n e der Schriftsteller aus der Tschechoslowakei hört. Ich denke dabei nicht an die Denkschrift, von der man noch nicht genau weiß, wer sie unterschrieben hat. Ist sie im Geiste wahr, in der Formulierung nachempfunden? Es sind aber doch diese Gedanken auf dem Schriftstellerkongreß in Prag angeklungen. Außerdem ist der Schriftsteller Mnacko nach Israel gegangen, es sind andere aus der Tschechoslowakei herausgegangen. Man hört von diesem Geist schon einiges, und da meine ich eben, „der kleine Mann auf der Straße" wird teilweise einen anderen Freiheitsbegriff haben. Der Bäcker an der Ecke wird seine Brötchen oder Brote noch lange verkaufen können und wird auch den Begriff der Freiheit anders begreifen u n d spüren als der Mensch, der sich im Geistesleben engagiert, in der Politik. Aber ich glaube, gerade um diese Schicht geht es doch, und Ihre Familie und Sie persönlich haben ja einmal dieses furchtbare Schicksal erlebt, aus Ihrem Heimatland wegzumüssen, weil die Unfreiheit in Deutschland wuchs. Und ich erinnere mich immer wieder gerade an diese Dinge, an Ihre Rede beim jüdischen Weltkongreß in Brüssel, wo Sie schilderten, wie Ihr Herr Großvater einfach nicht begreifen konnte, daß diese Welt zusammengebrochen war. Das ist f ü r mich der unteilbare Freiheitsbegriff, so möchte ich ihn umreißen. Antwort: So würde ich ihn schon akzeptieren, ich würde nur noch einmal auf die Komplexität der Situation hinweisen wollen. Ich habe tiefe Sympathie f ü r die Schriftsteller in der Tschechoslowakei oder in Polen, die sich in ihrer künstlerischen Produktivität trostlos eingeengt fühlen. Aber ein Autor, dessen Autorität als Kenner Osteuropas kaum angezweifelt werden kann, Klaus Mehnert, schreibt in seinem Buch „Der deutsche Standort", es gäbe in der Sowjetunion heute intensivere Auseinandersetzungen — u n d zwar öffentlich in den Zeitschriften — als in der Bundesrepublik. Dieser Satz von Klaus Mehnert enthält keineswegs die ganze Wahrheit. Es ist aber trotzdem interessant, daß ein konservativer Deutscher und ein Freund der Freiheit — wie man es heute in Deutschland versteht — wie Klaus Mehnert, heute zu einem solchen Urteil kommen kann. Frage: Ich glaube, Herr Professor, daß in einer östlichen Diktatur in Rußland, in der Tschechoslowakei, im anderen Teil Deutschlands, alles diskutiert werden kann, wenn etwas nicht in Frage gestellt wird: das kommunistische System als sol77

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ches. Der dortige Begriff der Staatlichkeit, der noch immerhin beinhaltet, daß der Mensch, der Staatsbürger eigentlich ein Teil der Macht ist, die auf ihn ausgeübt wird, wenn er aus diesem Machtbereich nicht heraus will. Da sind die Schüsse an den Grenzen, der tschechoslowakische Flüchtling, der schon österreichischen Boden erreicht hatte und dort noch erschossen wurde und die österreichische Regierung protestierte. Diese Gedanken meine ich. Antwort: Ja nun, da sind wir uns völlig einig. Diese Art von Beengung nach außenhin beklage ich zutiefst. Frage: Ich meine nur, daß, solange diese Themen nicht angesprochen werden, ein Schriftsteller alles mögliche diskutieren kann, er ist also wie in einem großen Freigehege, in einem Reservat, wenn er nicht den Gedanken hat, über den Zaun zu blicken, und Ideen, die gegen diese Ordnung des Zaunes angehen, diese Gedanken übernimmt und sie zu seinem Eigen machen will, nämlich ein persönliches „Losgelöstsein" von diesem Machtbereich demonstrieren möchte. Antwort: Ich würde es ein bißchen anders formulieren, ich würde sagen, man muß in diesen Ländern Marxist sein, man muß in diesen Ländern Sozialist sein, aber die Diskussion um das, was Sozialismus ist, und wie er verwirklicht werden sollte und inwieweit die gegenwärtige Wirklichkeit sich von dem Ideal, das die Leute haben, und in ganz ehrlicher Weise haben, unterscheidet, diese Diskussion hat in den Ostblockländern doch eine gewisse Intensität, Lebendigkeit erreicht. Darin sehe ich immerhin einen Fortschritt verglichen mit dem, was vor 15 Jahren dort war. Frage: Herr Professor, noch eine abschließende Frage, die eigentlich wieder auf den Ausgangspunkt unseres Gespräches zurückführt. Beschäftigung mit der Vergangenheit: Wir sind in unserem Gespräch eingegangen auf die düstere Vergangenheit und die Gegenwart. Was soll man unseren jungen Menschen sagen, die oft kritisch sind, die oft apathisch sind gegenüber dieser Vergangenheit, die heraus möchten aus dieser Geschlechterfolge der Geschichte? Antwort: Auch das hat seine zwei Seiten. Von dem Verlust der Geschichte, von dem Verlust der Vergangenheit wird in Deutschland viel gesprochen und geschrieben. Wenn ich mir aber die Bestsellerliste von Sachbüchern ansehe, dann finden sich häufig historische Bücher darunter. Man sagt also, die junge deutsche Generation interessiere sich für die deutsche Vergangenheit nicht mehr, sie sei losgerissen, sie lebe nur in der Gegenwart, nur das Praktische und Gegenwärtige und die nahe Zukunft interessiere sie. Aber wenn einer den Mut hat, z. B. ein Buch über Preußen zu schreiben, ein sehr anständig geschriebenes, aber ich würde nicht sagen ein sehr brillantes Buch über Preußen, dann steht das seit einem Jahr auf der Liste der meistverkauften Bücher. Man kann also gar nicht sagen, daß es für die Geschichte dieses untergegangenen Staates Preußen in Deutschland und bei der deutschen Jugend kein Interesse gäbe. Man muß nur den Mut haben, dem Publikum und gerade den jungen Leuten etwas zu erzählen aus der Vergangenheit, dann werden sich eine ganze Menge finden, die zuhören wollen, oder die lesen wollen. Das betrifft nun die deutsche und europäische Vergangenheit im ganzen. Die dunkle Vergangenheit, die Vergangenheit des Dritten Rei78

6 Golo Mann: „Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit'

ches ist ein besonders schwieriges Problem, und da kann ich nur wiederholen, was ich am Anfang sagte: Zum Interesse gehört Vertrauen, und Vertrauen gewinnt sich der, der nichts frisiert, der nichts verschweigt, der alle Aspekte der Sache mit gleicher Wahrheitstreue zu behandeln sich nicht scheut. Dann wird man ihm zuhören.

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Kontroversen um Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger

Kurt Georg Kiesinger verstarb am 9. März 1988 im Alter von 83 Jahren. Es war das Ende eines Mannes, der in seinen politischen Auffassungen stark europäisch geprägt war, als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und als Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung „Bundeskanzler-AdewaMtfr-Haus" lange Jahre gewirkt hat. Diese Vereinigung der Stiftung „Bundeskanzler-Adenau^r-Haus" hat sich mit einem Text zu seinem Tod geäußert: „Kurt Georg Kiesinger war seit 1980 Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Bundeskanzler-Adenau^r-Haus. Die W a h r u n g des Andenkens an den deutschen Staatsmann und Europäer Konrad Adenauer sowie die Erforschung unserer jüngsten Geschichte waren ihm ein wichtiges Anliegen, dem er sich mit großem Engagement widmete. Durch seine langjährige enge Verbundenheit mit Konrad Adenauer, dem er ein kluger und bedeutender Weggefährte war, sah er in der Arbeit der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus eine wichtige staatspolitische Aufgabe." Als Kurt Georg Kiesinger nicht zuletzt durch die klare, deutliche Unterstützung des Herausgebers der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung in Deutschland, Karl Marx, zum Amt des Bundeskanzlers kandidierte, gab es in den allgemeinen Diskussionen und Aufgeregtheiten große Turbulenzen um die politische Vergangenheit von Kurt Georg Kiesinger. In jenen Tagen schrieb ich einen Brief an den ehemaligen Berliner Rabbiner, Dr. Joachim Prinz, der den Bundeskanzler in einem offenen Telegramm hart angegriffen hatte. Prinz hatte darin seine Empörung darüber zum Ausdruck gebracht, daß der Bundeskanzler in dem Prozeß gegen d e n ehemaligen Legationssekretär von Hahn am 4. Juli 1968 in Bonn ausgesagt hatte, daß er von den Massenvergasungen jüdischer Menschen im J a h r e 1942/43 keine amtliche Kenntnis gehabt habe.

7.1 Eine Antwort auf ein offenes Telegramm von Rabbiner Dr. Joachim Prinz „In I h r e m Telegramm fragen Sie, ob Dr. Kurt Georg Kiesinger nichts von den Nürnberger Gesetzen 1935 und dem Niederbrennen der Synagogen 1938 erfahren habe. Verzeihen Sie, sehr geehrter Herr Rabbiner, wenn ich Ihnen in aller Offenheit sage, daß ich von Ihnen eine vernünftigere, sorgfältigere Beurteilung dieser Aussage des Bundeskanzlers erwartet hätte. Sie haben schon einmal, als Dr. Kiesinger sein heutiges Amt übernahm, in einer sehr groben Weise über ihn geurteilt, ohne dabei zu berücksichtigen, welchen Lebenslauf dieser Mann hat. Ich werde

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7. Kontroversen um Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger d e n Eindruck nicht los, daß Sie auch jetzt mit I h r e m Telegramm wieder versuchen, ihn als einen Mann hinzustellen, der a u f g r u n d seiner damaligen Parteimitgliedschaft sich .herauszureden suchte', o h n e zu berücksichtigen, wie die Dinge wirklich gelegen haben, was er vor Gericht ausgesagt hat. Sie selbst haben in I h r e m Buch , Wir J u d e n ' , das 1934 in Berlin erschien, als Dr. Kiesinger es bereits abgelehnt hatte, in d e n nationalsozialistischen Justizdienst einzutreten, d e n Versuch - u n d ich möchte hinzufügen, den damals verständlichen u n d gerechtfertigten Versuch—unternommen, ein Gespräch mit den Nationalsozialisten zu f ü h r e n . Dieses Gespräch sollte d e r Rettung, d e r Besserung der i m m e r schlimmer werdenden Lebensbedingungen Ihrer jüdischen Mitbürger dienen. Sie haben, soweit als Sie es f ü r notwendig hielten, in d e m Buch Formulierungen gebracht, die bei den Nationalsozialisten die T ü r e aufmachen sollten zu derartigen Gesprächen mit d e n jüdischen Gemeinden in Deutschland, zweifellos mit d e m Ziel: zu retten, was zu retten ist. Ich möchte I h n e n Ihre eigenen Sätze der Seiten 150 u n d 151 noch einmal ins Gedächtnis r u f e n , wo Sie schreiben: ,Wer noch i m m e r Augen hat, o h n e sie zu gebrauchen, wird es auch jetzt noch nicht sehen. D e n n Blinde sehen nicht. Wer aber die Ereignisse d e r Gegenwart nicht aus d e m e n g e n Winkel seines eigenen Wohls betrachtet, sondern b e m ü h t ist, das Geschehen in der Welt in größere Zusammenhänge einzuordnen, wird erkennen, daß die Weltwende, die in Deutschland einen so eruptiven Ausdruck gef u n d e n hat, die W e n d e auch im deutschen J u d e n t u m h e r b e i f ü h r e n muß. Was die deutsche Revolution f ü r die deutsche Nation bedeutet, wird letztlich n u r demjenigen offenbar, d e r sie selbst getragen u n d gestaltet hat. Was sie f ü r u n s bedeutet, m u ß hier gesagt werden: Die Chance des Liberalismus ist verspielt. Die einzige politische Lebensform, die die Assimilation des J u d e n t u m s zu f ö r d e r n gewillt war, ist untergegangen. Wie lange sie noch in d e n einzelnen L ä n d e r n leben wird, ist eine Frage f ü r Propheten. Daß aber überall in d e r Welt die Symptome wachsen, die eine A b k e h r von den Grundprinzipien des Liberalismus bedeuten, daß d e r Wert des Parlaments u n d d e r Demokratie zu wanken beginnt, d a ß die Überspitzung des Individualismus als ein Fehler eingesehen wird, und daß d e r Begriff u n d die Wirklichkeit der Nation u n d des Volkes allmählich m e h r u n d m e h r an Boden gewinnt, kann der ruhige u n d n ü c h t e r n e Beobachter der Vorgänge in d e r Welt als Tatsachen verzeichnen. Die Entwicklung vom Menschenbund d e r Aufklärer zum Völkerbund d e r Gegenwart enthält in sich das Prinzip d e r Entwicklung vom Begriff d e r Menschheit zum Begriff d e r Nation. Dieser Nationsbegriff lebt in d e r Sorge u m das Selbstbestimmungsrecht d e r Völker, in d e r großen Bewegung des Völkerrechts, die die Grundlagen f ü r das Leben der nationalen Minderheiten festgelegt hat. Er hat die letzte u n d kraftvollste Formulierung eines auf d e r Eigenart j e d e s Volkes u n d auf seinen besonderen Erfordernissen aufgebauten Sozialismus, d e r deshalb ein nationaler Sozialismus ist.' Auf Seite 153 schreiben Sie: .Völker aber, d e r e n politische u n d historische Lage ihre Nation noch nicht hat ausreifen lassen, die erst d u r c h schwere Erschütterun81

Atiseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gen zu einem eigenen u n d einheitlichen, neu erwachten Nationalgefühl kommen u n d sich erst selbst zu finden u n d zu definieren im Begriffe sind, die innerhalb dieses Ringens u m die eigene Nationalität sich noch gegen das F r e m d e abgrenzen zu müssen u n d deshalb Rasse u n d Blut als konstitutive Elemente d e r Nation empfinden, werden innerhalb dieser Abgrenzung a u f d e n J u d e n stoßen u n d deshalb die J u d e n f r a g e akut werden lassen (Beispiel: Deutschland).' Noch erschütternd e r wird es wenige Seiten weiter, wo Sie sagen: ,Die Theorie d e r Assimilation ist zusammengebrochen. Kein Schlupfwinkel birgt uns mehr. Wir wünschen an die Stelle d e r Assimilation das N e u e gesetzt: Das Bekenntnis zur jüdischen Nation u n d zur jüdischen Rasse. Ein Staat, der aufgebaut ist auf dem Prinzip der Reinheit von Nation u n d Rasse, kann n u r vor d e m J u d e n Achtung u n d Respekt haben, der sich zur eigenen Art bekennt. Nirgendwo kann er in diesem Bekenntnis mangelnde Loyalität d e m Staate gegenüber erblicken.' Und an einer a n d e r e n Stelle schreiben Sie die erschütternden Worte von d e r Liebe jüdischer Menschen zu Deutschland: ,Wir wollen mit unserer Liebe zu Deutschland u n d zu allem, was es schuf, nichts erkaufen, nichs erbitten. Diese Liebe ist einfach da. Sie ist die Liebe von Menschen eigener Nationalität, eigenen Volkstums. Das Bekenntnis zum eigenen Volkstum konnte n u r vom liberalen Staat bekämpft werden. Jetzt ist gerade dieses Bekenntnis Grundlage d e r neuen Klärung; jetzt sollte gerade diese Erkenntnis Ausgangspunkt d e r Neugestaltung unseres Lebens inmitten d e r Völker bilden. Von hier aus ergibt sich die Grundlinie d e r neuen Stellung im Staate. Überall dort, wo man uns als Menschen a n d e r e n Seins empfindet, soll man uns die Möglichkeit unseres eigenen, kulturellen Lebens geben. N u r die Erziehung selbstbewußter J u d e n schützt die Völker vor d e r Verwischung d e r Grenzen.' Gleichsam f ü r sich als H ö h e p u n k t sind d a n n die Worte geschrieben: ,Die Nationw e r d u n g des J u d e n t u m s aber bedeutet die Rückkehr eines Kernes d e r J u d e n h e i t in die alte Heimat!' Zumindest zu dieser Zeit hatten Sie noch d a r a n geglaubt, daß es möglich wäre, mit d e n Verbrechern ein faires Gespräch zu f ü h r e n . Kein Mensch d a r f es I h n e n vorhalten, o d e r gar Sie d a r u m schmähen. Aber rückblickend gesehen, war es doch ein I r r t u m , d e m Sie verfielen. Es war der gleiche Irrtum, d e m Millionen in Deutschland verfallen waren u n d T a u s e n d e von politisch d e n k e n d e n Menschen in allen Teilen d e r Erde. Erinnern Sie sich noch an die Schwierigkeiten, die die Menschen d e r jüdischen Gemeinschaften in Deutschland hatten, u m Visa f ü r ihre A u s w a n d e r u n g zu erhalten? Erinnern Sie sich noch d e r vielen staunenden Gesichter, die ausländische Besucher machten, wenn ihnen von derartigen Greuel berichtet wurde. I n meinem Elternhaus habe ich manche dramatische Unterhaltung meines Vaters mit ausländischen F r e u n d e n miterlebt, die damals nichts von den zu dieser Zeit bekanntgewordenen Untaten, von d e m nahe Berlin gelegenen KZ Sachsenhausen wissen wollten. Sie sahen n u r die angebliche Blüte Deutschlands u n t e r d e m Hakenkreuz. I n dieser Zeit hat d e r achtundzwanzigjährige Kurt Georg Kiesinger dem Nationalsozialismus, trotz seiner formellen Mitgliedschaft in d e r NSDAP, längst 82

7. Kontroversen um Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger

praktisch deutlich den Rücken gekehrt. Ich schreibe bewußt .deutlich', denn er hat sich geweigert, dem .Nationalsozialistischen Juristen-Bund' beizutreten. Trotz hervorragender juristischer Examen hat er seine Anwaltspraxis nur mühsam aufgebaut und stand in keinem der offiziellen Verzeichnisse der Rechtsanwälte, weil er diesem Bund nicht angehörte. In den ersten Jahren der NS-Zeit nur fand man seinen Namen im Anhang dieses Verzeichnisses, wo noch eine kleine Anzahl nicht rein arischer Anwälte — die dem Juristenbund nicht angehören durften — aufgeführt waren. Später fehlte sein Name in den Anwaltsverzeichnissen ganz. Als Rechtsanwalt hat er daher auch keine Fälle von Pflichtverteidigungen erhalten. Kiesinger hat als Repetitor in Berlin seine Familie ernährt und auch mit der NSDAP keinen Kontakt aufgenommen. Aber kommen wir zu dem Thema, zur Zeugenaussage, über die Sie so empört waren. Der Bundeskanzler hat in seiner großen Offenheit deutlich gemacht, wie sich seine Tätigkeit in der rundfunkpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes abspielte, welcher Geist dort herrschte. Er hat vor allem dargelegt, welch ein Kampf von Seiten des Joseph Goebbels und seines Propaganda-Ministeriums gegen die Arbeit dieser rundfunkpolitischen Abteilung geführt wurde, weil über das sogenannte Seehaus eine .legale' Lücke entstanden war, um Nachrichten, auf deren Verbreitung sonst das Todesurteil Freislers stand, wenigstens einem kleinen Kreis von einigen hundert Menschen in Deutschland zur Kenntnis zu bringen. Kiesinger hat darüber berichtet, daß mehrere hundert Exemplare des sogenannten .Funkspiegels' dieses Abhördienstes verteilt wurden und Goebbels schreibt in seinem Tagebuch am 23. Januar 1942, daß er einen entscheidenden Schlag gegen dieses Seehaus geführt hat: ,Ich habe dafür gesorgt, daß die Abhörfrage geregelt wird. Es steht also zu erwarten, daß nun auch auf diesem Gebiet Ordnung einkehrt und die Gerüchtemacherei, vor allem im Berliner Regierungsviertel, nach und nach abgestoppt wird. Das ist dringend notwendig, denn gerade in den sogenannten Regierungskreisen zählen die Miesmacher und Meckerer Legion. Es ist nicht wahr, daß diese Kreise unangenehme Nachrichten ohne weiteres vertragen können. Gerade sie sind am anfälligsten und gerade sie muß man deshalb gegen defätistische Strömungen und Gerüchte abschirmen. Am besten geschieht dies dadurch, daß man sie auf die Lektüre der regulären Nachrichtenmittel verweist und ihnen geheime Nachrichten überhaupt nicht mehr zukommen läßt. Das gilt einschließlich einer ganzen Reihe von Reichsministern, die keinen Überblick über die Gesamtlage besitzen, sondern ihr eigenes Ressort verwalten. Sie brauchen gar nicht mehr zu wissen, als das, was für ihr Ressort in Frage kommt.' Am darauffolgenden Tag verzeichnet Goebbels in seinem Tagebuch weiter: ,Mit General Schmund gab es eine ausführliche Unterredung über die Zustände im OKW. Der Führer hat ihn eigens nach Berlin geschickt, um hier nach dem Rechten zu sehen. Zum großen Teil sind die defätistischen Strömungen im OKW 83

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und O K H auch a u f die allzu leichtsinnige Handhabung der Verteilung des Nachrichtenmaterials, vor allem von Seiten des Seehauses zurückzuführen. Ich werde jetzt einmal dazwischenfahren und dafür sorgen, daß hier nicht von unseren eigenen Stellen noch defätistische Propaganda gemacht wird. Admiral Canaris hat eine Reihe von haarsträubenden Beispielen für den leichtsinnigen Umgang mit vertraulichem Material. Diese Beispiele kommen mir gerade recht. Sie dienen mir als Unterlage für ein außerordentlich scharfes und radikales Vorgehen.' Sie kannten Louis Lochner, den bedeutenden amerikanischen Journalisten in Berlin, der dieses Tagebuch von Goebbels herausgab und der in einer Fußnote zum ,Seehaus' vermerkt, daß dort Widerstandsleute tätig gewesen waren, die dem Propaganda-Ministerium ein Dorn im Auge waren. Man habe sie allgemein in Berlin als ,Sabotage-Club' bezeichnet, da sie die Rundfunknachrichten so zusammengestellt hätten, daß sie Zweifel in die Zuverlässigkeit der Goebbel'sehen Nachrichtenpolitik gebracht hätten. Der K a m p f Goebbels gegen das Seehaus war das Verbot der weiteren Verbreitung dieses Nachrichtendienstes in m e h r e r e n hundert Exemplaren. Der Kernpunkt, den Sie, sehr geehrter H e r r Rabbiner, angreifen, hing mit der Frage, ob 1942 offizielle Nachrichten einer planmäßigen Judenvernichtung im U m l a u f waren, zusammen. V o r Gericht hat Dr. Kiesinger dazu folgendes gesagt: ,Wie viele Deutsche habe ich damals von allen möglichen Seiten Nachrichten darüber gehört, von Urlaubern, die aus dem Osten kamen, möglicherweise auch einmal in einer abgehörten Sendung. Ich kann das weder abstreiten noch bejahen. Bestimmt hatte ich im Laufe der J a h r e das Gefühl, daß da etwas nicht stimmt, daß da nicht nur evakuiert und deportiert wird, sondern mehr geschieht. Bis zum Ende des Krieges hat sich dieses Bild bei mir ganz deutlich eingestellt.' Er hat zu Recht bestritten, daß es damals für ihn konkretes nachrichtliches Wissen weder aus dem Auswärtigen Amt noch aus detaillierten Rundfunkmeldungen des Auslandes gegeben hat. An einer anderen Stelle seiner Aussage betonte er, daß er Meldungen über die Vernichtung jüdischer Menschen — wenn er sie überhaupt erfahren hätte — am längsten als Greuelpropaganda von sich gewiesen hätte. Zu den über derartige Vernichtungen zu ihm gedrungenen Gerüchten sagte er: ,Man wehrte sich innerlich, daß solche Gerüchte wahr sein könnten, daß derartige grauenhafte Dinge geschehen könnten,' und er fügte hinzu, daß von J a h r zu J a h r , bis Ende 1944, sich zu seinem tiefen Entsetzen derartige Gerüchte so verdichteten, daß man sie dann leider zu glauben begann. Kenntnis von der Wannsee-Konferenz. Dr. Kiesinger hat eindeutig erklärt, daß er während des Krieges keinerlei Kenntnis davon hatte, auch nicht von dem B e g r i f f der .Endlösung der Judenfrage'. Wenn Sie das Buch ,Die Endlösung' von Reitlinger zur Hand nehmen oder andere dokumentarische Darlegungen über diese grauenvollen Aktionen, werden Sie dort finden, wie die Wahrheit über dieses Grauen von seiten der Beteiligten geheimgehalten wurde, daß es unmöglich war, etwa noch a u f dem Dienstwe-

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7. Kontroversen um Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger ge, diese Dinge zu erfahren'. Kein Geringerer als der frühere steilvertretende Generalankläger der USA in Nürnberg, Dr. Robert M. W. Kempner, hat in einem Brief an den .Spiegel' zu der Frage Stellung genommen, ob Kiesinger derartiges gewußt haben müßte oder nicht. Gleichzeitig hat er in seinem Schreiben die Aussage zu dem Prozeß gegen von Hahn selbst gewertet, ich möchte Ihnen dieses Zitat mitteilen: ,Der Angeklagte, Gerhard von Hahn, war Legationsrat in der mit dem Reichssicherheitshauptamt und speziell mit Eichmann und Komplicen zusammenarbeitenden Abteilung des Auswärtigen Amtes. In dieser Abteilung befand sich das Aktenstück .Endlösung der J u d e n f r a g e ' und die Einladung zur Endlösungskonferenz. Die darauffolgenden Maßnahmen waren Teil der täglichen Arbeit dieser Abteilung des Auswärtigen Amtes. Dort waren die Spezialisten, wie im Wilhelmstraßen-Prozeß in Nürnberg anhand von Dokumenten festgestellt wurde. Eichmann hat nämlich die Endlösung stets n u r in den Ländern durchgeführt, f ü r die Referenten dieser Abteilung des AA das grüne Licht gegeben haben. Unter diesen Umständen ist es rechtlich unerheblich, was Beamte des AA in anderen Abteilungen gewußt oder geahnt haben. Maßgebend kann f ü r die Entscheidung des Schwurgerichtes allein sein, was von Hahn in seinem Referat getan u n d gewußt hat, und nicht, was andere, wie zum Beispiel der Zeuge Kiesinger, wußten oder nicht wußten, die nichts mit dem Referat zu tun hatten.' Darin liegt, sehr geehrter Herr Rabbiner, der Kern dessen, was hier zu sagen ist. Man holt einen unbescholtenen, trotz formeller Mitgliedschaft bei der NSDAP nicht als Nazi zu bezeichnenden Mann als Zeuge vor ein Gericht, n u r weil er heute Bundeskanzler ist, um damit eine Verbindung zu Taten, mit denen seine Arbeit in der rundfunkpolitischen Abteilung aber auch gar nichts zu tun hatte, herzustellen. Kiesinger sagt, er habe während des Krieges abgelehnt, sich im Auswärtigen Amt einstellen, verbeamten zu lassen. Er war lediglich als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter dienstverpflichtet. Durch zahlreiche Beweise hat er deutlich gemacht, daß er mit den Nazis nichts zu tun hatte und zu tun haben wollte. Das kommt am deutlichsten zum Ausdruck in einem Protokoll, das eine Denunziation seiner Person an das Reichssicherheitshauptamt ist. Das Datum dieses Papiers: 7.11.1944. Darin wird sichtbar, daß Kiesinger gerade in der jüdischen Frage eine auflehnende Haltung gegenüber der nationalsozialistischen Politik hatte, ja, daß er deshalb denunziert wurde. In diesem heute sehr aufschlußreichen Dokument wird klar, wie Kiesinger damals diese Dinge gesehen hat und wie er sich diesen Fragen entgegensetzte, besonders in der Denunziation durch diesen Nazi. In dem Dokument heißt es: ,Anläßlich eines Gespräches über antijüdische VB-Artikel (Völkischer Beobachter) von mir äußerte Kiesinger auf meine Frage, woher es wohl kommen möge, daß so wenige deutsche Publizisten sich leidenschaftlich der antijüdischen Frage widmeten: So sterben alle, die ihr Vaterland verraten.«' Die Vollstreckung des Urteils erfolgte am 18. März, 4.00 Uhr, auf dem damaligen Adolf-Hitler-Platz, dem Rathausplatz von Nieder-Ingelheim. Zwei Tage später, am 20. März 1945 erfolgte die Übergabe der Stadt an die amerikanischen Truppen. Hermann Berndes starb als Vaterlandsverräter, wie man das damals nannte. In Wahrheit wollte er schlimmes Unheil verhindern. Er wollte, daß dem ohnehin verlorenen Krieg nicht noch mehr Menschen geopfert werden. Dafür mußte er sterben.

Ingenheim In der Ortsgemeinde Ingenheim der Verbandsgemeinde Landau-Land wurde am 9. November 1986 eine Gedenktafel enthüllt: Hier stand bis zu ihrer Zerstörung durch die Nationalsozialisten in der Nacht zum 9./10. November 1938 die Synagoge der jüdischen Gemeinde Ingenheim. Mit ihrer Zerstörung und der darauf folgenden Deportierung unserer jüdischen Mitbürger in die Todeslager endete jegliches jüdische Leben in unserem Ort. Diese Gedenktafel soll zur Erinnerung f ü r die Lebenden und zur Mahnung der kommenden Generation sein.

Kaiserslautern 1980 wurde das Gelände der ehemaligen Synagoge in der Fischerstraße in .Synagogenplatz' umbenannt. 1938 wurde der jüdischen Gemeinde erklärt, ihre Synagoge sei baulich ein Fremdkörper und müsse beseitigt werden. Es ist zu vermuten, daß bereits 1936 Pläne bestanden, die Fischerstraße als Paradestraße f ü r Partei- und Wehrmachtsaufmärsche zu verbreitern. Ende August 1938 begannen die Abbrucharbeiten. Ab 1. Oktober erfolgten Sprengungen und am 9. Oktober wurden die letzten baulichen Reste eingerissen. Auf dem jüdischen Friedhof mahnen Grabsteine an das Schicksal der Opfer der Juden-Deportation vom Oktober 1940: alle Juden wurden in ein Lager nach Frankreich gebracht, von wo aus zahlreiche Menschen in das Vernichtungslager Auschwitz überführt wurden (siehe hierzu auch unter Ludwigshafen).

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28 Ein Gedenkstättenführer für Rheinland-Pfalz

(1933—1945)

Kastellaun Der geistige Mittelpunkt der ehemaligen jüdischen Gemeinde, die Synagoge, stand in der Eifelstraße. In der Reichskristallnacht wurde sie ein Raub der Flammen. Ein Gedenkstein auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof in der Hasselbacher Straße erinnert an die während des Dritten Reiches ermordeten Juden. Am 19. März 1986 wurde er der öffendichkeit übergeben. Auf ihm steht zu lesen: Zur Erinnerung an die Angehörigen jüdischer Familien aus Kastellaun, die in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft aus ihrer Heimat vertrieben, deportiert oder ermordet wurden. Die Synagoge stand in der Eifelstraße. Sie wurde am 10.11.1938 zerstört. Die Bürger der Stadt Kastellaun.

Kirchberg — siehe Dickenschied — siehe Laufersweiler

Kirchheimbolanden In Kirchheimbolanden befindet sich eine Mahn- und Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge der jüdischen Kultusgemeinde, zwischen Paulskirche und Schloßplatz. Am 9. November 1978 wurde im Rahmen der Kirchheimbolander Friedenstage eine Gedenktafel in Bronze an jener Stelle enthüllt, an der die 1835 erbaute Synagoge stand. Der Text der Gedenktafel lautet: Hier stand die 1835 erbaute und 1938 zerstörte Synagoge der jüdischen Kultusgemeinde Kirchheimbolanden. Zur Erinnerung und Mahnung an die schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten wurden am 9. November 1984 drei Steine aus den Konzentrationslagern Natzweiler-Struthof, Dachau und Auschwitz vor der Gedenktafel aufgeschichtet und in Beton gekleidet.

Kirn/Nahe Auf dem Friedhof der Ortsgemeinde Hennweiler der Verbandsgemeinde KimLand wurde am 1. Dezember 1985 eine Gedenktafel für die ehemaligen jüdischen Mitbürger enthüllt. 255

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Die Gedenktafel, gestaltet von dem Maler und Grafiker Brust, Kirnsulzbach, wurde auf einem Findling angebracht. Die Kosten f ü r die Herstellung der Tafel und die Aufstellung des Findlings wurden größtenteils durch Spenden der Bürger erbracht. Koblenz Auf dem Friedhof der jüdischen Kultusgemeinde, Schlachthofstraße 5, befindet sich eine Gedenksäule f ü r die ehemaligen jüdischen Mitbürger der Stadt Koblenz. An die ehemalige Synagoge im .Bürresheimer Hof erinnert eine schlichte Tafel. Seit September 1986 erinnert ein Gedenkraum im Bürresheimer Hof an jenen Ort, an dem sich bis zum 9. November 1938 die Synagoge der Jüdischen Gemeinde befand. Schautafeln und Kultgeräte bilden den Inhalt des Gedenkraumes. Fotos und Dokumente stellen das greifbare Schicksal jüdischer Familien, die in Koblenz lebten, dar. Angesichts dieser Chroniken bewegt den Betrachter die Katastrophe, die ab 1953 die Koblenzer Familien erfaßt, auseinanderreißt, vernichtet, in alle Winde zerstreut. 1929 waren es 800, 1933 waren es 600, nach dem Zweiten Weltkrieg noch 22 jüdische Mitbürger. Das schreckliche Schicksal verdeutlichen die Deportationslisten, die ebenfalls ausgestellt sind. Am Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung, Ecke Karmeliterstraße/ Rheinstraße, befindet sich eine Gedenktafel an Pater JosefKentenich (geboren am 18. November 1885, gestorben am 15. September 1968). Auf diesem Gelände stand früher ein Karmeliterkloster, dessen Räume später als Gefängnis, u. a. auch der Gestapo dienten. Das Gestapo-Gebäude selbst — frühere Reichsbank — befand sich direkt nebenan, ,1m Vogelsang 1*. Die Gedenktafel trägt folgenden Text: Pater JosefKentenich — Gründer der internationalen Schönstattbewegung—geboren 18.11.1885 - gestorben 15.9.1968. Er war hier Gefangener der Gestapo vom 18.10.1941 bis zu seinem Abtransport in das KZ Dachau am 11.3.1942. Pater Josef Kentenich gründete 1914 die .Schönstattbewegung', eine apostolische Bewegung von Priestern und Laien. Seit Beginn des Dritten Reiches hatte er die Gemeinschaften seines Werkes zielstrebig auf die innere und äußere Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vorbereitet. Vor diesem Hintergrund schlug die Gestapo 1941 zu.

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28 Ein Gedenkstättenführer für Rheinland-Pfalz (1933-1945)

Landau Am 10. November 1968 wurde am Platz der in der Reichskristallnacht zerstörten Synagoge eine Gedenkstätte in Form eines Mahnmals errichtet. Dieses Mahnmal, ein Bronce-Vierkant von 2,5 m Höhe, dokumentiert symbolhaft die Zerstörung, aus der, der Verfolgung zum Trotz, der Stamm Juda weiterwächst. Die Vorderseite trägt die Inschrift: Hier stand die Landauer Synagoge, zerstört am 10. November 1938. Auf der Rückseite des Bronce-Vierkant befinden sich die Worte des 57. Psalmes, Vers 5 Ich liege mitten unter Löwen, verzehrende Flammen sind die Menschen, ihre Zähne sind wie Spieße und Pfeile und ihre Zungen scharfe Schwerter. Derzeit laufen in Landau Sanierungsarbeiten an einem der ältesten Gebäude, des Frank-Loeb'schen-Hauses in der Kaufhausgasse 9. Diese Arbeiten sollen im Verlauf des Jahres 1987 beendet sein. In diesem Gebäude, aus dem die Vorfahren von Anne Frank stammen, soll u. a. auf die Geschichte der Landauer Juden und deren Schicksal hingewiesen werden. Es handelt sich bei dieser Einrichtung jedoch nicht um eine Gedenkstätte im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr um eine Erinnerungsstätte an die ehemaligen jüdischen Mitbürger der Stadt. Bereits am 11. September 1949 hat die Kreisgruppe Landau-Bad Bergzabern der Bereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes' auf dem Landauer Hauptfriedhof einen Gedenkstein f ü r die Opfer des Faschismus errichtet, siehe auch: - Billigheim - Ingenheim

Langenlonsheim, Im sogenannten Langenlonsheimer Wald befindet sich der Heddesheimer Judenfriedhof. Auf diesem jüdischen Friedhof erinnert heute eine Gedenktafel an jene Personen, die von 1933 bis 1935 in Konzentrationslagern umgekommen sind. Die Gedenktafel gibt Namen jüdischer Bürger von Heddesheim als auch von Waldhilbersheim wieder. Beide Ortschaften bilden seit 1970 die Ortsgemeinde Guldental.

Laufersweiler In der Ortsgemeinde Laufersweiler der Verbandsgemeinde Kirchberg befindet sich die einzige noch erhalten gebliebene Synagoge des Rhein-Hunsrück-Kreises. Im Februar 1985 beschloß der Gemeinderat einstimmig einen Antrag der Kreis257

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Verwaltung, das sakrale Gebäude unter Schutz zu stellen. Nicht nur ein Stück bedeutender Architektur, sondern auch ein Teil Ortsgeschichte sollte damit für die Zukunft gesichert werden. Bis zum Beginn der Massenvernichtung durch die Nationalsozialisten lebten für den Hunsrück ungewöhnlich viele Juden in Laufersweiler. Um die Jahrhundertwende waren etwa 250 Einwohner, also rund ein Viertel der Bevölkerung, jüdischen Glaubens. Nach dem Holocaust kamen nur 2 jüdische Bürger nach Laufersweiler zurück. Nach kurzer Zeit verließen sie jedoch ihre ehemalige Heimat und emigrierten nach Süd- oder Nordamerika. Die 1910 in Auftrag gegebene Synagoge wurde in der Reichskristallnacht 1938 geplündert und verwüstet. Hans Eh, der Enkel des Erbauers der Laufersweiler Synagoge, erhielt den Auftrag von der Gemeinde, den Baukörper in seinem äußeren Bild wiederherzustellen. Der Raum im Erdgeschoß mit einer noch vorhandenen Thoranische, in Zukunft ein Ort des Gedenkens, soll gleichzeitig aber auch den Rahmen für Ausstellungen und Veranstaltungen abgeben. An der Außenfassade über dem Eingangsportal mauerten Steinmetze den alten Halbbogen mit hebräischer Schrift wieder ein. Er stellt das einzige Zeugnis aus der jüdischen Zeit dar. Ein neuer Davidstern, ursprünglich Bekrönung des Gotteshauses, wurde ebenfalls in Auftrag gegeben. Wie in anderen Landstrichen, so war auch im Hunsrück die Ausrottung jüdischer Mitbürger und die Zerstörung ihrer Kultur während des Dritten Reiches fast perfekt. Leimersheim, siehe Rülzheim Ludwigshafen Am Platze der ehemaligen Synagoge in der Kaiser-Wilhelm-Straße befindet sich eine Gedenktafel mit folgendem Text: Hier stand die Synagoge der jüdischen Gemeinde. Sie wurde am 26.5.1865 eingeweiht und in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 durch verbrecherische Intoleranz des Nationalsozialismus zerstört. Die Untat mahnt, Terror und Unmenschlichkeit für immer zu verbannen. An die Deportation jüdischer Mitbürger im Jahre 1940 in das Konzentrationslager Gurs in Südfrankreich erinnert heute eine Gedenktafel im Hof der Maxschule. Dieser Hof war in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1940 eine der drei Sammelstellen, von denen die Juden aus Ludwigshafen abtransportiert wurden. Insgesamt 7500 jüdische Mitbürger, darunter Kinder und ältere Menschen, wurden aus Orten Badens, des Saarlandes und der Pfalz in Eisenbahnwagen abtransportiert. 2000 starben in Südfrankreich, ca. 1000 gelang die Flucht, die anderen wurden 1942 in die Vernichtungslager des Ostens überführt. 258

28 Ein Gedenkstättenfilhrer für Rheinland-Pfalz (1933-1945) Hauptinitiator dieser Deportation jüdischer Mitbürger war Gauleiter Josef Bürckel, geboren 1895 in Lingenfeld, Landkreis Germersheim. Sein Ziel war die .judenfreie' Pfalz. An der ehemaligen Synagoge in Ruchheim, am jetzigen evangelischen Gemeindezentrum, befindet sich eine Gedenktafel mit folgender Inschrift: Hier befand sich die Synagoge der Ruchheimer Juden. 1881 erbaut — verwüstet 1938. An die ehemalige Judenschule in Rheingönheim erinnert eine Gedenktafel: Zur Erinnerung. Hier befand sich die ehemalige Judenschule mit Bethaus. Die Schließung erfolgte 1938. Das ursprüngliche Gebäude wurde 1949 umgebaut. Zur Erinnerung an das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 befindet sich an der CDU-Geschäftsstelle, Benckiserstraße 26, eine Tafel mit folgender Aufschrift: ,Wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wird Widerstand zur Pflicht!' Zum 40jährigen Gedenken an den 20. Juli 1944. Diese Tafel wurde von der Jungen Union Ludwigshafen-Stadt gestiftet. An die Ermordung des Sozialdemokraten Georg Hüter erinnert eine Dokumentation in der Schriftenreihe des SPD-Stadtverbandes Ludwigshafen unter dem Titel ,Oppauer Sozialdemokraten im Kampf gegen den Nationalsozialismus'. Georg Hüter wurde am 10. März 1933, an dem Tag, als die Nationalsozialisten das Oppauer Rathaus besetzten, erschossen. Den illegalen Kampf der pfälzischen SPD gegen die Nationalsozialisten und das Unrechtsregime des Dritten Reiches dokumentiert eine weitere Veröffentlichung des SPD-Stadtverbandes. In der Schrift ,Der Freiheit und der Demokratie verpflichtet' wird an die Gründungsversammlung der illegalen pfälzischen SPD erinnert: das Treffen auf dem Asselstein vom 6. Mai 1934. Organisationsfragen der verschiedenen pfälzischen Gruppen wurden diskutiert und die Widerstandsarbeit koordiniert. Größere Gruppen bestanden in Ludwigshafen, Landau, Neustadt, Pirmasens, Frankenthal und Worms. Was zuversichtlich begonnen hatte, fand wenige Monate später ein jähes Ende. Nach der Verhaftung eines Schriftenkuriers setzten die Untersuchungen und Überwachungen durch die Gestapo ein. Am 25. September 1934 wurden in verschiedenen Orten der Pfalz zahlreiche Sozialdemokraten verhaftet, darunter die meisten Teilnehmer der Besprechung am Asselstein: , Aus der Verbreitung verschiedener Flugblätter in der letzten Zeit konnte vermutet werden, daß ehemalige Sozialdemokraten daran beteiligt waren. In den letz259

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

ten Tagen ist es nun gelungen, Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, daß der Aufbau einer Organisation der SPD im Gange ist. Der Umfang läßt sich zur Zeit noch nicht überblicken. Immerhin besteht zur Zeit dringender Verdacht, daß über die ganze Pfalz und darüberhinaus ehemalige Anhänger der SPD an der Arbeit sind, die Organisation neu aufzuziehen. Bestimmte Anhaltspunkte haben sich dafür in Ludwigshafen, Oppau, Speyer, Neustadt a. H., Landau, Pirmasens und Mannheim ergeben. Die Polizeidirektion hatte deshalb den Zugriff auf heute vormittag 6.30 angesetzt ... Festgenommen sind: Müller, Fritz Kirn, Friedrich Heidelberg, Willi Vollmer, Wilhelm

Mayer, Karl Schott, Arthur Kaeb, Wilhelm Kimpel, Jakob

Heil, Christian Hinz, Adolf Frankenberger, Adam Reimer, Ludwig Kaufmann, Ludwig

alle in Ludwigshafen wohnhaft.'

Mainz Auf allen Friedhöfen der Stadt Mainz befinden sich Gedenktafeln für NS-Opfer. Auf dem Waldfriedhof in Mainz-Mombach erinnert ein Ehrenmal an 31 sowjetische NS-Opfer, Häftlinge in einem Außen-Arbeitslager. Die zeitgenössische Berichterstattung des .Mainzer Anzeigers' über die Ereignisse der Reichskristallnacht stand unter der Schlagzeile,Mainz anwortet den Juden — große Empörung der Bevölkerung'. Die jüdischen Synagogen waren geschändet, verwüstet oder in Schutt und Asche gelegt. Viele jüdische Mitbürger waren mißhandelt oder in .Schutzhaft' genommen worden. Jüdische Ladeneinrichtungen waren zerstört und geplündert. Aus dem Gutachten des städtischen Baupolizeiamtes vom 10. November 1938 geht hervor, daß die nach dem Drama übriggebliebenen Baureste beseitigt werden mußten. Die Sprengung wurde angeordnet und ausgeführt. Die Beseitigung der Trümmer wurde der jüdischen Gemeinde auferlegt und auch von jüdischen Mitbürgern ausgeführt. Eine ständige jüdische Gemeinde gab es seit 1583. Um die Jahrhundertwende lebten 3500 Juden in Mainz. 1930 waren es 3200. 1940 nur noch 1438. 1941 wuchs die Zahl auf über 3000 Personen an. Die Juden wurden in den Städten konzentriert, da die meisten Landgemeinden in Rheinhessen ihre Orte als judenfrei' melden wollten. Vom April 1941 an erfolgten Deportationen in die Konzentrationslager. 1945 lebten nur noch knapp 50 jüdische Mitbürger in Mainz. Zur Mahnung zum Gedenken Hier stand die Synagoge der jüdischen Gemeinde Mainz, erbaut 1878, in der Nacht zum 9. November 1938 von den Nationalsozialisten geplündert und verwüstet, im August 1942 durch Bomben vollends zerstört. 260

28 Ein Gedenkstättenführer für Rheinland-Pfalz (1933-1945) Zu Ehren der jüdischen Opfer wurde im September 1948 ein Mahnmal am Eingang des jüdischen Friedhofs in der Unteren Zahlbacher Straße errichtet. Es trägt den Text: 1933-1945 Unseren Opfern zum Gedenken Den Mördern zur Schande Den Lebenden zur Mahnung Anno 1948 Jüdische Gemeinde Am Eingang der heutigen jüdischen Gemeinde in der Forsterstraße steht eine Gedenktafel mit der Inschrift: Wir gedenken in Ehrfurcht unserer früheren Gemeindemitglieder sowie allen unseren Glaubens-Brüdern und Schwestern, die durch das Naziregime in den Jahren 1933—1945 den Märtyrer-Tod starben. 10. September 1947 Jüdische Gemeinde Mainz Eine weitere Gedenktafel erinnert an den Rabbiner Dr. Sali Levi. Er gehörte zu den großen Rabbinerpersönlichkeiten. In den Zeiten der Verfolgung war er gegenüber der für ganz Hessen zuständigen Nazi-Verwaltung verantwortlich für die Durchführung der demütigenden Verordnungen, die sich gegen die jüdischen Mitbürger richteten. Die damit verbundene psychische Belastung sowie die ständige Angst vor den Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten untergruben seine Gesundheit, so daß er die Auswanderung erwog (er erhielt einen Ruf an die große Gemeinde von Brooklyn/New York). Kurz vor der Ausreise am 26. April 1941 erlag er einem Herzanfall. Am 22. April 1986 wurde eine Bronze-Tafel zur Erinnerung an Pater Titus Brandsma übergeben, die in Kürze an der Karmeliter-Kirche angebracht werden soll. Sie soll an den Karmeliter, Journalisten und Märtyrer erinnern, der vor 44 Jahren im Konzentrationslager Dachau verstorben ist. In der Eingangshalle der Ludwig-Schwamb-Schule an der Philipps-Schanze (Nähe Universitätsklinik) befindet sich eine Büste von Ludwig Schwamb, geboren am 30. Juli 1890, vor 1933 Staatsrat und Ministerialdirektor im hessischen Innenministerium unter dem Sozialdemokraten Wilhelm Leuschner. Er gehörte zu den sozialdemokratischen Widerstandskämpfern im .Kreisauer Kreis* um Helmuth Graf von Moltke. Er wurde am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee zusammen mit Graf Moltke und Theodor Haubach hingerichtet. (Siehe auch unter Undenheim). 1945-1970 Wir gedenken unserer Hechtsheimer Bürger 261

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Karl Hammen — Math. Adam Meinhard - Adam Schuck. Sie wurden auf diesem Platz am Abend des 20. März 1945 wegen ihres Widerstandes gegen Gewalt und Tyrannei erschossen.

Mayen Die Stadt Mayen hat am 9. April 1981 eine Gedenktafel errichten lassen: Hier stand von 1855—1938 die Synagoge der jüdischen Gemeinde Mayen. Sie wurde am 10.11.1938 zerstört. Die Stadt Mayen 1980. An jener Stelle, im Entenpfuhl, begann der letzte Akt des Leidensweges der jüdischen Bürger der Stadt Mayen. Kurze Zeit nach der Zerstörung der Synagoge wurden rund 70 Gemeindemitglieder auf der Reiffsmühle im Nettetal zusammengetrieben. Von hier wurden sie auf eine Reise ohne Wiederkehr geschickt. Auf dem jüdischen Friedhof wurde 1986 eine weitere Gedenktafel angebracht, die den Text trägt: Friedhof der jüdischen Mitbürger Letzte Beisetzung: 28.7.1942 In der Heilig-Geist-Kapelle in Mayen liegt ein Buch aus, in dem alle Opfer der Gewaltherrschaft aus Mayen verzeichnet sind.

Meisenheim (Glan) Zur Erhaltung und zur Instandsetzung der ehemaligen Synagoge hat sich ein Träger- und Förderverein .Synagoge Meisenheim', unter Vorsitz des Landrats des Landkreises Bad Kreuznach, konstituiert. Zur Zeit sind Arbeiten im Gange, diese Synagoge zu einer Stätte der Begegnung zu gestalten.

Montabaur In der Stadt Montabaur befinden sich zwei Gedenkstätten f ü r die Opfer des Nationalsozialismus. In der alten Kapelle auf dem Friedhof von Montabaur an der Friedensstraße entstand eine Gedenkstätte mit 5 Tafeln. Auf ihnen stehen neben den Namen gefallener und vermißter Soldaten des Zweiten Weltkrieges, den Namen von Menschen, die ihr Leben durch Bombenangriffe oder andere Einwirkungen des Krieges verloren haben, auch die Namen der früheren Mitbürger jüdischen Glaubens, die während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft deportiert und in den Konzentrationslagern umgebracht wurden. Neben den Namenstafeln aus Bronze besteht die Gedenkstätte aus 3 BronzeKreuzen und dem wortweise zusammenhängenden Widmungstext: 262

28 Ein Gedenkstättenflihrer für Rhänland-Pfalz (1933-1945) Zum ehrenden Gedenken an die und die Opfer des Nationalsozialismus 1935-1945

Opfer des Zweiten

Weltkrieges

Auf den ehemaligen Standort der Synagoge der jüdischen Kultusgemeinde, in der Waldstraße, soll auf Beschluß des Stadtrates zukünftig eine Gedenktafel hinweisen. Nach einem Beschluß der zuständigen Gemeindegremien soll eine Bronzetafel folgenden Text tragen: Wer seine Fehler verheimlicht hat kein Gedeihen Wer sie aber bekennet und verlässt dem wird Versöhnung Salomen 28.13 Hier stand die Synagoge der jüdischen Kultusgemeinde Die Bronzetafel trägt in der Mitte einen siebenarmigen Leuchter.

Nassau Im Bereich der Verbandsgemeinde Nassau befinden sich in der Ortsgemeinde Singhofen und in der Stadt Nassau Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus. Im Rahmen einer kleinen Feierstunde wurde am 27. März 1983 eine Gedenktafel im Eimelsturm zur Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft enthüllt. An dieser Stelle gedenkt die Stadt Nassau bereits seit geraumer Zeit der Gefallenen und Kriegstoten der beiden Weltkriege. Die Gedenktafel ist auf Anregung der beiden Nassauer Kirchengemeinden entstanden, die daraufhingewiesen hatten, daß in den vorhandenen Gedenkstätten und Totentafeln die Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes nicht verzeichnet sind. Die Aufschrift der Gedenktafel lautet: Wir gedenken der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, insbesondere des Leidens u n d Sterbens unserer jüdischen Mitbürger Die Bürger der Stadt Nassau Der Bürgermeister

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Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

1938 wurde die jüdische Synagoge erheblich zerstört und fiel schließlich den Kriegseinwirkungen zum Opfer. Nach der sogenannten Judenaktion' und dem so bezeichneten .Volksauflauf gegen die Juden von Nassau' vom November 1938 mußten nahezu alle Juden Nassau verlassen. Neustadt/Weinstraße Auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge wurde von der jüdischen Kultusgemeinde der Rheinpfalz im Jahre 1954 ein Gedenkstein anläßlich einer Feierstunde enthüllt und geweiht. Er trägt folgenden Text: Den Opfern aus der Pfalz zum Gedenken 1933-1945 Das Gelände der ehemaligen Synagoge, Ludwigstraße 20, ist heute noch im Besitz der jüdischen Kultusgemeinde der Rheinpfalz. Neuwied, Die 1748 erbaute Neuwieder Synagoge wurde durch eine mißglückte Sprengung in der Reichskristallnacht stark beschädigt und kurz darauf abgerissen. Die der Stadt Neuwied gehörende, neben der Synagoge stehende jüdische Schule ließ man stehen. Am 23. November 1960 wurde am ehemaligen jüdischen Schulhaus eine Gedenktafel im Rahmen einer Feierstunde enthüllt. Der Text der Gedenktafel lautet: Zum mahnenden Gedenken. In diesem Hause richtete die jüdische Gemeinde ihre Volksschule ein. Die Schule wurde 1938 gewaltsam geschlossen. Die danebenstehende Synagoge geschändet und niedergerissen. Diese Tafel ist am 23.11.1960, dem 220. Jahrestag der Gründung der jüdischen Kultusgemeinde Neuwied angebracht worden. 1980 wurde die Schule abgerissen; an der Seitenwand des neugeschaffenen Hauses wurde unter Verwendung der 1960 geschaffenen Erinnerungstafel eine Gedenkstätte errichtet, die am 30. Juni 1983 der Öffentlichkeit übergeben wurde. Durch Beschluß des Stadtrates vom gleichen Tage wurde ein Stück der Engerser Straße zwischen Schloßstraße und Theaterplatz in .Synagogengasse' umbenannt. Im Stadtteil Niederbieber liegt ein jüdischer Friedhof, der wahrscheinlich schon über 400 Jahre alt ist. Er steht heute unter Denkmalschutz. Um den Unterhalt des Friedhofs kümmert sich heute die Stadt Neuwied. Auf dem Friedhof legte man symbolisch Gräber für diejenigen jüdischen Mitbürger an, die in Konzentrationslagern ums Leben kamen.

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28 Em Gedenkstättenführer für Rheinland-Pfalz (1933-1945) Nierstein Am gegenüberliegenden Rheinufer von Nierstein ließen die Gemeinde Nierstein und die Stadt Oppenheim auf dem, Kornsand' (Trebur/Hessen) in unmittelbarer Nähe der Anlegestelle Nierstein/Kornsand einen unbehauenen Natursteinblock mit einer Gedenktafel errichten. Sie trägt die Inschrift: Im Anblick ihrer Heimat wurden hier schuldlos erschossen: Eberhardt Georg Nierstein Eller Cerry N ierstein Eller Johann Nierstein Lerch Nikolaus Nierstein SchuckJakob Nierstein GruberRudolf Oppenheim Den Toten zum Gedächtnis! Den Lebenden zur Mahnung! Damit, was hier geschah, sich nie wiederhole. Am Ort des Verbrechens steht ein Kreuz mit der Inschrift: Opfer des Nazi-Regimes Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges wurde hier ein Verbrechen an unschuldigen Menschen verübt. Die Ermordeten standen als politisch unzuverlässige Elemente auf einer .Schwarzen Liste' der örtlichen Nazis. Am 18. März 1945 begannen die Verhaftungen. Zunächst wurden die Verhafteten unter Bewachung nach Groß-Gerau, dann nach Darmstadt getrieben. Offiziell wurden sie wegen Aufwiegelei festgenommen. Am Morgen des 21. März 1945 wurden sie freigelassen, es lag plötzlich nichts mehr gegen sie vor. Die aus der Haft Entlassenen machten sich auf den Heimweg. Gegen 11.00 Uhr kamen sie an der Fähre auf der Kornsand-Seite an. Die Beteiligten des Verbrechens waren dort schon versammelt. Der Kampfkommandant entschied, daß diese .größten Verbrecher und Lumpen von Nierstein' umzulegen seien. In den frühen Nachmittagsstunden mußten die 6 Verhafteten ihr eigenes Grab ausheben, darunter auch die 63jährige Cerry Eller. Die 6 Todgeweihten mußten sich vor ihre Gräber stellen. Nacheinander wurden sie durch Genickschuß ermordet. Jakob Schlich, Cerry und Johann Eller waren Mitglieder der 1933 verbotenen Sozialdemokratischen Partei. Am 21.März 1985 haben Einwohner und Institutionen der rechts- und linksrheinischen Gemeinden Nierstein, Oppenheim sowie Trebur und Geinsheim (Kreis Groß-Gerau) an den Gewaltakt der Nationalsozialisten kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges erinnert.

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Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

Osthofen In Osthofen bei W o r m s wurde 1933 auf d e m Gelände einer ehemaligen Papierfabrik das erste Konzentrationslager im damaligen Volksstaat Hessen errichtet. D e r genaue T a g d e r Errichtung des Konzentrationslagers läßt sich n u r ungefähr rekonstruieren. Eine A n o r d n u n g des Staatskommissars f ü r das Polizeiwesen in Hessen, des b e r ü h m t e n u n d berüchtigten Dr. Werner Best, trägt das Datum vom 1. Mai 1933: .Betreffend: D u r c h f ü h r u n g der V e r o r d n u n g des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk u n d Staat vom 28.2.1933; hier: S c h a f f u n g eines Konzentrationslagers in Osthofen.' In dieser A n o r d n u n g wird u. a. ausgeführt, daß f ü r das Land Hessen ein Konzentrationslager eingerichtet wird, in d e m alle aus politischen G r ü n d e n in Polizeihaft g e n o m m e n e n Personen unterzubringen sind, d e r e n H a f t bereits länger als eine Woche d a u e r t o d e r über eine Woche ausgedehnt werden soll. Aus d e n E r i n n e r u n g e n von ehemaligen Lagerinsassen weiß man jedoch, daß das Konzentrationslager Osthofen bereits vor d e m Zeitpunkt dieser A n o r d n u n g eingerichtet war. G e n a u e u n d exakte Angaben über die Belegzahlen f ü r die Gesamtdauer des Konzentrationslagers sind heute nicht m e h r möglich. Umfassende Listen o d e r Karteien mit d e n N a m e n u n d Daten d e r Häftlinge sind nicht mehr vorhanden. Nach vorsichtigen Schätzungen d ü r f t e n es in d e n ersten Wochen 30 bis 80 Häftlinge gewesen sein; später d ü r f t e die durchschnittliche Häftlingszahl zwischen 250 bis 400 Inhaftierten geschwankt haben. Ab April 1934 verringerte sich die Zahl d e r Häftlinge: es fanden T r a n s p o r t e zu a n d e r e n Konzentrationslagern, so u. a. nach Esterwegen u n d Dachau, statt. Nach offiziell verbreiteter Version waren die Häftlinge Jugendliche Kommunisten' o d e r .verwilderte Marxisten'. Die fast täglich in d e n lokalen Zeitungen abgedruckten Presseberichte über Einlieferungen u n d Entlassungen widerlegen jedoch diese offiziell verbreitete Version: u n t e r den Häftlingen waren auch Dr. Carlo Mierendorff u n d Dr. Peter Paul Nahm. Dr. Carlo Mierendorff war Reichstagsabgeordneter d e r SPD und Pressechef der damaligen hessischen Staatsregierung. Nach seiner I n h a f t i e r u n g im KZ Osthofen wurde e r noch bis 1937 in Konzentrationslagerhaft gehalten, in Papenburg-Börgermoor, in T o r g a u u n d Buchenwald. Nach seiner Haftentlassung w u r d e er aktiver Mitarbeiter in d e r Widerstandsbewegung gegen Hitler. Er w u r d e am 4. Dezember 1943 in Leipzig das O p f e r eines Luftangriffs. So entging er vermutlich d e m späteren Todesurteil des Volksgerichtshofes. Dr. Peter Paul Nahm war Chefredakteur einer angesehenen rheinischen katholischen Tageszeitung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er Beauftragter des damaligen Bundeskanzlers Adenauer f ü r Flüchtlingsfragen. Die Auswertung lokaler Zeitungsmeldungen ergibt, d a ß die Häftlinge aus fast

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28 Ein Gedenkstättenführer für Rheinland-Pfalz (1933—1945) allen politischen Parteien kamen, überwiegend waren es Sozialdemokraten, Kommunisten, Zentrumsmitglieder, aber auch Gewerkschafter. Darüber hinaus wurden Mitglieder und Sympathisanten der .bürgerlichen' Parteien aufgegriffen, sofern sie Angehörige des .Reichsbanners' waren. Auch jüdische Mitbürger wurden in Osthofen inhaftiert. Für die gesamte Dauer des Lagers Osthofen gibt es keine offiziellen Unterlagen über Todesfälle, und auch die Berichte ehemaliger Häftlinge erwähnen keine Todesfälle in diesem reinen Männerlager. In den ersten Nachkriegsjahren scheiterten zahlreiche Versuche, das Gelände und die Gebäude des ehemaligen KZ's Osthofen in eine Gedenkstätte für die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft umzugestalten; sie trafen auf Abneigung und Ablehnung. 1984 wurde von dem rheinland-pfälzischen Kultusminister beantragt, die an das KZ Osthofen erinnernden Gebäude unter Denkmalschutz zu stellen. Seit Oktober 1985 hat sich in Worms eine Projektgruppe gebildet, die auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Osthofen eine .Dokumentations- und Gedenkstätte, internationale Jugendbegegnungsstätte und Ausbildungswerkstatt f ü r arbeitslose Jugendliche' errichten will. Dieses Projekt wird u. a. gefördert von der evangelischen Kirchengemeinde Osthofen, vom Deutschen Gewerkschaftsbund, Landesbezirk Rheinland-Pfalz Abteilung Jugend, vom Stadtjugendring Worms und vom Christlichen Friedensdienst Frankfurt. Seine literarische Verewigung hat das Konzentrationslager Osthofen in dem Roman ,Das siebte Kreuz' erhalten. Bei der Berichterstattung über das KZ in der Zeitung, aus der sich zusammen mit Häftlings- und Emigrantenberichen ein guter Teil Wahrheit rekonstruieren ließ, ist es kaum verwunderlich, daß die nach Paris emigrierte junge Autorin Anna Seghers hinreichend Stoff erhielt, um ihren Osthofen-Roman ,Das siebte Kreuz' zu konzipieren. Aus Osthofen hat sie den Geschehnisort Westhofen gemacht. Inzwischen ist auch die Vermittlerin und Informantin, auf deren Aussagen sich Anna Seghers stützen konnte, entdeckt: es ist die gleichaltrige politische Weggefährtin von Anna Seghers, Lore Wolf, die zum frühen antifaschistischen Widerstand gehörte. Über die Lagermannschaft von Osthofen ist bis zum heutigen Tage nichts bekannt, auch nicht, ob irgendeiner von ihnen nach dem Ende des Dritten Reiches zur Rechenschaft gezogen wurde.

Pirmasens 40 Jahre nach der .Reichskristallnacht' wurde in der Schustergasse eine Gedenktafel enthüllt, die an das Niederbrennen der Synagoge erinnern soll. Die Bronzetafel trägt folgenden Text: In dieser Gasse stand die Synagoge. 267

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Sie wurde am 19. November 19B8 niedergebrannt. Mögen aus Trauer und Scham über das den J u d e n zugefügte Leid neue Menschen, Achtung und Gerechtigkeit entstehen. Dieser Text wurde von allen christlichen Kirchen in Pirmasens entworfen. Die Stadt trat spontan dieser Aktion bei. Mit dieser Gedenktafel wollen die Kirchen u. a. auch daran erinnern, daß jüdische Mitbürger wegen ihres Glaubens und ihrer Abstammung gedemütigt und verjagt wurden. Zu diesen Vorfällen hatten die Kirchen damals kein klares Nein gesprochen. Deshalb soll mit dieser Gedenktafel die Scham aller Christen zum Ausdruck kommen.

Polch In der Ortsgemeinde Polch der Verbandsgemeinde Maifeld befindet sich eine renovierte ehemalige Synagoge, in welcher eine Gedenktafel f ü r die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus angebracht werden soll.

Puderbach Am 10. November 1979 wurde an der Friedhofsmauer in Puderbach eine Tafel zum Gedenken an ehemalige jüdische Mitbürger enthüllt. Sie trägt den Text: Er gedenkt in seiner Gnade und Treue f ü r das Haus Israel. Aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes. Psalm 98/3 Zum Gedenken an unsere jüdischen Mitbürger, die unter der Diktatur in Deutschland von 1933—1945 grausam umkamen. (Es folgen die Namen der jüdischen Mitbürger) Puderbacher und Urbacher Synagoge 1938 zerstört. Und vergib uns unsere Schuld.

Rheinbrohl In der Ortsgemeinde Rheinbrohl der Verbandsgemeinde Bad Hönningen erinnert eine Gedenktafel an die ehemalige Synagoge der jüdischen Gemeinde Rheinbrohl, die in der Nacht vom 9. November 1938 durch die Nationalsozialisten zerstört wurde.

Rülzheim Am Platz der ehemaligen Synagoge in der Ortsgemeinde Leimersheim steht eine Gedenkstätte mit den Gebetstafeln aus dem First der Synagoge. Auf dem Mahnmal für die Opfer der Kriege wurde in Rülzheim eine Zusatz268

28 Ein Gedenkstättenführer für Rheinland-Pfalz (1933—1945) tafel mit der Inschrift ,Den Opfern der Gewaltherrschaft. 1933—1945' angebracht.

Saarburg Auf Anregung des Stadtrates von Saarburg wurde im Jahre 1982 zur Erinnerung an die ehemalige jüdische Synagoge eine Gedenktafel am Schloßberg angebracht: Zum Gedenken an unsere früheren jüdischen Mitbürger und deren Synagoge an diesem Ort Stadt Saarburg 1982

Schifferstadt Am Totensonntag 1984 wurde im Garten des Fraktionshauses in der Bahnhofstraße ein Gedenkstein enthüllt, der an den November 1938 erinnern soll. In Schifferstadt brannte die Synagoge am Morgen des 10. November 1938. Der Gedenkstein trägt die Inschrift: Zum Andenken an die Schifferstadter Synagoge. 1892 hatten unsere jüdischen Mitbürger ihr Bethaus in der Bahnhofstraße 48 errichtet. 1938 führte fanatischer Rassenwahn zu ihrer Zerstörung durch Brand. An dieser Stelle gedenken wir auch unserer jüdischen Familien Bender, Freundlich, König, Landmann, Levy, Lob, Mängen, Mayer Bernhard, Mayer Isaak, Mayer Ludwig, Reiss, Rubel, Oppenheimer, Weiler. Die Judenverfolgung der NS-Zeit hat über sie unsägliches Leid gebracht. Der ehemalige Judenfriedhof wurde 1938 ebenfalls verwüstet. Heute ist er eine Gedenkstätte.

Singhofen siehe Nassau

Sinzig/Rhein Integriert in den Friedhof der Stadt Sinzig befinden sich Gräber ehemaliger jüdischer Mitbürger der Stadt Sinzig. In diesem Abschnitt wurde eine Gedenktafel für die Opfer des Nationalsozialismus errichtet.

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Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

Speyer An d e r Stelle, wo einst die bedeutende u n d b e r ü h m t e Speyerer J u d e n g e m e i n d e ihr Bethaus, ihren geistigen Mittelpunkt hatte, wurde am 9. November 1968 ein weiteres Mahnmal errichtet. Die Tafel trägt d e n Text: Z u m Gedenken an die jüdische Gemeinde in Speyer, an ihr im Laufe von 9 J a h r h u n d e r t e n äußerst wechselvolles, schweres Geschick u n d an ihre Synagogen, deren erste im J a h r e 1090 an dieser Stätte gestanden hat. Die alte Synagoge, die zuletzt städtisches Zeughaus war, wurde im J a h r e 1689 beim Brand von Speyer ein Raub d e r Flammen. Die jüdische Gemeinde in Speyer besaß außer d e r Synagoge noch eine Reihe a n d e r e r Bauten u n d Einrichtungen. Dazu gehörte auch das in dieser Anlage stehende J u d e n b a d . I m J a h r e 1836 w u r d e in d e r Heydenreich-Straße eine n e u e Synagoge erbaut, die bis zu ihrer Zerstörung durch eine ruchlose T a t zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes d e r Mittelpunkt des Lebens unserer jüdischen Mitbürger war. Die folgenden J a h r e brachten unsagbares Leid f ü r die J u d e n . N u r wenige B ü r g e r d e r jüdischen Gemeinde Speyer überlebten. Psalm 73, Vers 2 6 - J e s a i a 66/13 Die Stadt Speyer. Das Bischöfliche Ordinariat in Speyer. Der protestantische Landeskirchenrat d e r Pfalz. Z u m Gedenken an die in d e r Reichskristallnacht zerstörte Speyerer Synagoge w u r d e am 40. Jahrestag des Ereignisses eine Bronzetafel a n d e m historischen O r t angebracht: Hier stand die Synagoge d e r jüdischen Gemeinde Speyer bis zur Zerstörung d u r c h die Nationalsozialisten in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938. Die Dominikanerinnen von St. Magdalena gaben 1957 ihrer in Speyer neuerbauten H ö h e r e n Schule (Gymnasium u n d Realschule) d e n N a m e n ihrer unvergessen e n Lehrerin Edith Stein. Das Zimmer, das Edith Stein während ihrer Speyerer Lehrtätigkeit im P f o r t e n h a u s des Klosters St. Magdalena bewohnte, gestalteten sie zu einer Gedenkstätte. Edith Stein, jüdischer Abstammung, wurde am 12. Oktober 1891 in Breslau geboren als das j ü n g s t e von 11 Kindern. Sie studierte zunächst in Breslau, d a n n in Göttingen bei E. Husserl u n d wurde 1916 Assistentin ihres Lehrers. I h r auf Erkenntnis angelegter Geist befaßte sich leidenschaftlich mit d e n Fragen nach dem Seienden u n d nach einer absoluten Wahrheit. 1922 konvertierte sie in Bad Bergzabern/Pfalz zur katholischen Kirche. Von 1922—1931 wirkte sie als Studienrätin am Pädagogium d e r Dominikanerinnen von St. Magdalena in Speyer. 270

28 Ein Gedenkstättenführer für Rheinland-Pfalz (1933—1945) 1932 folgte Edith Stein einem Ruf an das Institut f ü r wissenschaftliche Pädagogik in Münster, aber bereits 1933 wurde ihr durch die NSDAP die Dozentur entzogen. Im Oktober 1933 trat sie in den Karmel Maria vom Frieden in Köln ein. Sie erhielt den Ordensnamen Teresia Benedicta a cruce. 1938 suchte sie Zuflucht im Karmeliterinnenkloster Echt in Holland. Dort wurde Edith Stein am 2.August 1942 von deutscher SS verhaftet, anschließend in das KZ Auschwitz deportiert und am 9. August 1942 ermordet. In Speyer reifte Edith Stein durch die Auseinandersetzung mit der Geisteswelt des Thomas von Aquin zur christlichen Philosophin heran; das Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist vor allem ihr postum veröffentlichtes Werk .Endliches u n d ewiges Sein — Versuch eines Aufstieges zum Sinn des Seins*.

Sprendlingen Seit dem 18. November 1979 erinnert eine Gedenktafel an die ehemalige jüdische Synagoge. Sie trägt die Inschrift: Ehemalige Synagoge der früheren jüdischen Gemeinde Sprendlingen Eingeweiht am 19. März 1825 Zerstört und geplündert in der Reichskristallnacht am 9. November 1938 9. November 1938 Schalom Friede 9. November 1978

Stadecken-Elsheim Am 8. Juni 1975 wurde in einer Feierstunde auf d e m Friedhof des Ortsteils Elsheim ein Gedenkstein f ü r Leon Szczepaniak eingeweiht. Leon Szczepaniak geriet 1939 in deutsche Kriegsgefangenschaft und half zwei J a h r e als Kriegsgefangener in verschiedenen landwirtschaftlichen Betrieben in Elsheim. Seine damals verbotene Beziehung zu einem deutschen Mädchen wurde per Anzeige weitergeleitet, und am 1. September 1941 wurde Leon Szczepaniak in Sonderhaft genommen. Am 27. Mai 1942 wurde Szczepaniak gefesselt nach Elsheim gebracht. Alle polnischen Zivilarbeiter aus der Umgebung waren zum Gelände des heutigen Sportplatzes gebracht worden. Sie mußten mitansehen, wie das sogenannte ,Sonderbehandlungskommando' aus Wiesbaden Leon Szczepaniak zu einem rasch montierten Galgen brachte. Ein Wagen mit einem Sarg f u h r hinterher. Der polnische Kriegsgefangene mußte eine Leiter besteigen, sich die Schlinge selbst um den Hals legen. Dann zog ein Gestapo-Mann die Leiter weg. Der Eintrag im standesamtlichen Register der Gemeinde Elsheim lautet: Der polnische Zivilarbeiter Leon Szczepaniak, katholisch, Elsheim, Mainzer Straße 17, ist am 27.5.1942 um 11.30 Uhr in Elsheim verstorben. Todesursache: Genickbruch. 271

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Der Beschluß zur Errichtung eines Gedenksteins wurde vom Gemeinderat gefaßt. Er wurde von der CDU-Fraktion gestiftet.

Trier Auf dem Hauptfriedhof der Stadt steht ein Gedenkstein mit der Inschrift: Den Opfern der Verfolgung aus Trier und Umgebung zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung. 1933-1945. An dem Platz, wo früher die jüdische Synagoge stand, wurde vor kurzem ein Gedenkstein errichtet, der auf die Vergangenheit der ehemaligen Synagoge hinweist: An dieser Stelle stand die Synagoge der jüdischen Gemeinde der Stadt Trier. Erbaut 1859, zerstört am 9. November 1938 durch Nationalsozialisten. Heute heißt diese Stelle ,An der alten Synagoge'. Das frühere Landesgerichtsgefängnis in der Windstraße war auch Auffangund Durchgangslager f ü r zahlreiche politische Verfolgte, insbesondere f ü r luxemburgische Staatsbürger, die auf dem Weg über dieses Gefängnis zumeist in das SS-Sonderlager Hinzert weitergeleitet wurden. Das Gebäude wird derzeit saniert und soll in ein bischöfliches Museum umgewandelt werden. Das Presseamt der Stadt Trier hat nach der Fertigstellung eine Gedenktafel angeregt. Zwei Straßen erinnern an das Schicksal verfolgter Trierer Mitbürger. Die Dr.Altmann-Straße an den angesehenen Gelehrten und letzten Oberrabbiner. Er wurde 1878 geboren, emigrierte 1938 nach Holland, wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und ist dort umgekommen. Eine andere Straße trägt den Namen von Andreas Hoevel. Er wurde 1900 in Trier geboren und als kommunistischer Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus am 28. August 1942 hingerichtet.

Undenheim Zur Erinnerung an Ludwig Schwamb wurde nach Kriegsende auf das Grab seiner Eltern in seiner Heimatgemeinde Undenheim ein kleiner Gedenkstein gesetzt. Nach der Hinrichtung Schwambs im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 teilte die Staatsanwaltschaft damals seiner Witwe mit, daß keine Todesanzeige veröffentlicht werden dürfe. Auch wurde der Leichnam nicht der Familie übergeben, so daß man nicht weiß, wo er beigesetzt wurde. Ludwig Schwamb, geboren am 30. Juli 1890, war Sozialdemokrat und als Jurist seit 1928 im hessischen Innenministerium unter dem Sozialdemokraten Wilhelm Leuschner tätig. Er gilt als Initiator der hessischen Gemeindeordnung. Als Staatsrat wurde er 1933 von den Nazis entlassen. Der Kontakt zu Leuschner brach damit zunächst ab und wurde erst 1938 wiederhergestellt. In Schwambs Wohnung in Berlin-Wilmersdorf kam es zu einer ersten Begegnung der sozialdemokratischen 272

28 Ein Gedenkstättenfäkrer für Rheinland-Pfalz (1933—1945) Politiker Wilhelm Leuschner, Carlo Mierendorff und Julius Leber nach deren Entlassung aus dem KZ. Schwambs Wohnung stand auch später den Freunden aus dem Widerstand f ü r Zusammenkünfte und als Zufluchtsort zur Verfügung. Wenige Tage vor seinem 54. Geburtstag, am 23. Juli 1944, wurde Schwamb von der Gestapo verhaftet. Seine Zugehörigkeit zum ,Kreisauer Kreis' um Helmuth Graf von Moltke und seine Einbindung in den sozialdemokratischen Widerstand brachten ihm das Todesurteil, das am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee vollstreckt wurde: zusammen mit GrafMoltke und Theodor Haubach wurde er hingerichtet. (Siehe auch unter Mainz) Waldhilbersheim siehe Langenlonsheim Wallmerod In der Verbandsgemeinde Wallmerod erinnert eine Gedenkstätte in der Ortsgemeinde Meudt an die ehemaligen jüdischen Mitbürger. Das Mahnmal auf dem Gelände des ehemaligen jüdischen Friedhofs wurde in den Jahren 1964/65 auf Initiative von Herrn Falkenstein, einem heute in Brüssel lebenden ehemaligen jüdischen Bürger der Gemeinde errichtet. Es trägt unter anderem den Text: Zum bleibenden Gedenken an die in den Jahren 1942 bis 1945 in Vernichtungslagern umgekommenen jüdischen Bürger unserer Gemeinde Meudt. Die Gedenktafel enthält alle Namen der jüdischen Mitbürger und trägt auf zwei kleineren Tafeln rechts und links in deutsch u n d hebräisch den Text: Den Lebenden zur Mahnung. Den Toten zur Ehr. Den kommenden Geschlechtern zur dringenden Lehr. Westerburg Auf einem Teil des um 1900 angelegten Städtischen Friedhofes befindet sich eine Begräbnisstätte f ü r jüdische Mitbürger. 1949 wurde dort ein Erinnerungsstein mit folgender Inschrift aufgestellt: Zum Andenken an die hier beerdigten und zur Erinnerung an die während der Nazizeit 273

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in d e n Lagern u m g e k o m m e n e n jüdischen Mitbürger unserer Stadt Die jüdische Synagoge wurde in d e r Reichskristallnacht 1938 d u r c h die Nationalsozialisten d u r c h B r a n d zerstört. Das in seinen A u ß e n m a u e r n erhalten geblieben e H a u s ist heute Privatbesitz. Seit 1949 soll die Albert-Straße an den im Konzentrationslager verstorbenen letzten Vorsitzenden der Sozialdemokraten in Westerburg, Albert Wengenroth, erinnern. Wengenroth wurde nach dem 26. Juli 1944 verhaftet u n d soll im Konzentrationslager Dachau verstorben sein.

Westhofen Im Ortsteil Heßloch d e r Verbandsgemeinde Westhofen wurde a m 9. November 1986 zum Gedenken an die jüdischen Mitbürger, die in d e n Konzentrationslagern ums Leben kamen, eine Erinnerungstafel enthüllt.

Winnweiler Im Rahmen einer Gedenkstunde wurde unter d e m Leitmotto ,Wir sind Erbe und auch O p f e r unserer Geschichte. Dort in Stolz u n d Dank, hier in Scham u n d T r a u er' 1984 ein Gedenkstein enthüllt: Zur E r i n n e r u n g a n die Synagoge d e r jüdischen Kultusgemeinde Winnweiler. Sie wurde 1901 erbaut u n d in d e r Reichskristallnacht vom 9. auf d e n 10. November 1938 zerstört. Diese Gedenkstätte in der Gymnasiumstraße soll auch daran e r i n n e r n , daß in Winnweiler die J u d e n seit d e r zweiten Hälfte des 18. J a h r h u n d e r t s die Gemeinde wesentlich mitgestaltet haben.

Wittlich In d e r Reichskristallnacht am 9. November 1938 wurde der I n n e n r a u m d e r Synagoge in Wittlich zerstört. Das erhaltengebliebene Gebäude diente während des Krieges als Lager f ü r Kriegsgefangene. Über 30 J a h r e stand das Gebäude leer; d e m Verfall preisgegeben. Erst im J a h r e 1976 wurde das Haus in d e r Himmeroder-Straße wieder aufgebaut u n d erhielt in Übereinstimmung mit d e r jüdischen Kultusgemeinde T r i e r seine heutige Bestimmung als Kultur- u n d Tagesstätte. Sie dient n u n auch als Denk- u n d Mahnmal an das Schicksal d e r jüdischen Gemeinde Wittlich. Auf einer Gedenktafel in d e r einstigen Thora-Nische stehen auf hebräisch die Worte:

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28 Ein Gedenkstättenführer für Rheinland-Pfalz (1933—1945) Gedenke, Gott, der Seelen der Gerechten der Gemeinde Wittlich, die ihr Leben opferten f ü r die Heiligkeit Gottes und auf deutsch Die Wittlicher Synagoge, errichtet im Jahre 1910, war das geistige Zentrum einer blühenden jüdischen Gemeinde. Den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung aus Wittlich 1933— 1945 zum Gedenken. Den Lebenden zur Mahnung. Anläßlich der 75. Wiederkehr des Einweihungstages der Synagoge wurde mit einer Ausstellung an die lange Geschichte des Miteinanders der jüdischen und christlichen Gemeinde, an gute und schlechte Tage erinnert. Worms In den Grünanlagen in der Nähe des Luther-Denkmals befindet sich eine Gedenkstätte für die Opfer und Verfolgten des Nationalsozialismus. In der wiederhergestellten mittelalterlichen Synagoge wurde eine Gedenktafel f ü r jüdische NS-Opfer aufgestellt. Auf dem jüdischen Friedhof (Neuer Friedhof) in der Hochheimer Straße befinden sich auch Gräber russischer Kriegsgefangener. Zweibrücken In der Ritterstraße erinnert ein Gedenkstein an die in der Reichskristallnacht zerstörte Synagoge der Stadt Zweibrücken."

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„Gerechte der Völker" — Ehrung von Yad Washem an zwei Deutsche vergeben

Am 25. Februar 1987 hat Gesandter - Botschaftsrat Jehuda Kinar in Vertretung von Botschafter Yitzhak Ben-Ari im Auftrag von Yad Washem im Rahmen einer Feierstunde in der israelitischen Gemeinde Würzburg zwei Deutsche mit der Ehrung „Gerechte der Völker" ausgezeichnet. Mit dieser höchsten Auszeichnung, die Israel vergibt, wurden Severin (posthum) und Anastasia Gerschütz geehrt. Yad Washem, die Behörde zur Verewigung des Andenkens an die Märtyrer und Helden in Jerusalem ist Erinnerungsstätte und Forschungszentrum, das sich mit dem Schicksal der europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges beschäftigt. Es hat u. a. auch die Aufgabe, derer in Dankbarkeit zu gedenken, die mit persönlichem Einsatz und meistens unter Gefährdung des eigenen Lebens und dem ihrer Familie versucht haben, jüdisches Leben während der NS-Zeit zu retten. Yad Washem tut dies mit dem Ehrentitel „Gerechte der Völker". Die so Ausgezeichneten erhalten Medaille und Ehrenurkunde, verbunden mit dem Recht, in der „Allee der Gerechten" in Jerusalem einen Baum zu pflanzen. Unter den ca. 1 600 von Yad Washem Geehrten sind mehr als 179 Deutsche. Frau Eva Schmalenbach, München, die persönlich an der Feierstunde zu Ehren ihrer Wohltäter teilnahm, hat die Auszeichnung „Gerechte der Völker" beantragt und erwirkt. Sie hat in einem Bericht an Yad Washem folgendes über die damaligen Geschehnisse ausgesagt: „Ich bin 1921 in Mainz als Tochter eines christlichen Vaters, der schon 1925 verstarb, und seiner jüdischen Frau, Irene Schmalenbach, geb. Ehrenstein, geboren und auch dort aufgewachsen. Es muß im Jahre 1942, zur Zeit der großen Judendeportationen, gewesen sein, daß wir zum erstenmal von Frau Gerschütz hörten. Sie schickte uns damals einige Hinterlassenschaften unserer Schweinfurter Verwandten. Diese hatten Frau Gerschütz vor ihrer Deportation einige Erinnerungsstücke übergeben mit der Bitte, sie uns zu schicken, da ja damals noch angenommen wurde, daß wir verschont bleiben würden. Wir bedankten uns mit einem Paket Spargel, und so fing zunächst eine briefliche Bekanntschaft an. Frau Gerschütz schickte uns Lebensmittel, wir schickten ihr zuerst Spargel, dann, als die Spargelzeit zu Ende war, Wein, was wir eben auftreiben konnten. Meine Mutter arbeitete damals ehrenamtlich bei der Jüdischen Gemeinde in Mainz und merkte sehr schnell, daß es für sie gefährlich werden könnte. Daß auch ich in Gefahr kommen könnte, daran dachten wir damals noch nicht. Meiner Mutter kam der Gedanke, einmal bei Familie Gerschütz nachzufragen, ob sie nicht einen Bauern wüßte, der uns gegebenenfalls verstecken könnte. Sie 276

29 „Gerechte der Völker" — Ehrung von Yad Washem an zwei Deutsche vergeben schickte mich an einem Wochenende nach Stadtlauringen, damit ich mich danach erkundigen könnte. - Nachdem ich meine Frage vorgebracht hatte, zogen sich die Eheleute Gerschütz zu einer Beratung zurück; danach sagten sie mir, sie würden niemanden Zuverlässigen kennen, aber wir könnten zu ihnen kommen. Im Frühjahr 1943 attackierte die Gestapo die Jüdische Gemeinde Mainz, indem sie behauptete, dort seien Unterschlagungen vorgekommen, und meine Mutter fand, daß es nun an der Zeit sei zu verschwinden. — Pfingsten 1943 fuhren wir mit dem Fahrrad in Etappen nach Stadtlauringen, wo wir von Familie Gerschütz freundlich aufgenommen wurden. - Ich blieb nicht lange, d e n n damals bestand eine Bestimmung, daß alle jungen Leute in Arbeit stehen mußten, und es wäre allzu auffällig gewesen, wenn ein junges Mädchen länger in Stadtlauringen geblieben wäre, als ein normaler Urlaub dauerte. Ich ließ also meine Mutter bei Familie Gerschütz und schlug mich anderweitig durch. Ab und zu besuchte ich meine Mutter dort. Daß meine Mutter bei Familie Gerschütz leben konnte, obwohl sie nicht gemeldet war, also auch keine Lebensmittelmarken bekam, war n u r möglich, weil Herr Gerschütz eine Jagd innehatte und Frau Gerschütz aus einer Bauernfamilie stammte, von der sie unterstützt wurde. Außerdem war H e r r Gerschütz Dentist, und viele bäuerliche Patienten brachten ihm Lebensmittel mit. So blieb meine Mutter monatelang in Stadtlauringen, wo sie nicht eigentlich versteckt wurde; es war damals keine Seltenheit, daß Leute aus den bombengefährdeten Städten aufs Land gingen. — Obwohl Familie Gerschütz niemandem Auskunft darüber gab, wo meine Mutter herkam, verstand sie doch den Eindruck zu erwecken, daß es sich um einen Bombenflüchtling handelte. Die Leute reimten sich zusammen, ich sei die Braut des ältesten Sohnes, und Familie Gerschütz beließ sie in diesem Glauben. Die Familie versorgte übrigens auch mich mit Lebensmittelkarten, die ich als »Untergetauchte'ja ebenfalls nicht bekommen konnte. Geld fehlte uns nicht, wir hatten alles mitgenommen, was wir flüssig machen konnten. Aber Familie Gerschütz nahm kein Geld von meiner Mutter f ü r ihren Aufenthalt, die Familie lebte selber in guten finanziellen Verhältnissen. Im Oktober 1943 war in Deutschland eine Volkszählung; es war unmöglich, daß meine Mutter während dieser Tage in Stadtlauringen blieb, denn es mußten auch die Gäste angegeben werden. Deshalb f u h r sie nach München, wo ihr eine zuverlässige Familie empfohlen worden war, die sie dann auch während der Tage der Volkszählung versteckte. Von dieser Familie e r f u h r sie eine Fluchtmöglichkeit; sie telegrafierte mir nach Berlin, wo ich damals war, damit ich nach Stuttgart fahren und sie treffen sollte. — Von dort fuhren wir zur Schweizer Grenze, aber unser Fluchtversuch mißlang, wir wurden von den Grenzbeamten verhaftet, und von da führte der Weg meiner Mutter über eine Reihe von Umwegen nach Auschwitz, wo sie im Mai 1944 verstorben sein soll. Sie hätte ohne weiteres nach Stadtlauringen zurückkehren können; weder sie noch ich hatten einen Zweifel, daß sie dort wieder gut aufgenommen würde, aber sie wollte doch lieber den Weg in die Schweiz versuchen. 277

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Mir gelang es, aus dem Gefängnis zu fliehen, und auch danach, Weihnachten 1943, wurde ich wieder liebevoll in Stadtlauringen aufgenommen, obwohl dies nach meiner Flucht noch gefährlicher war. Aber aus dem schon erwähnten Grunde konnte ich auch jetzt nicht in Stadtlauringen bleiben. Ich schlug mich wieder schlecht und recht durch, diesmal nach München, aber als ich im Frühjahr 1944 nach Stadtlauringen fahren wollte, um mich wieder einmal sattessen zu können, geriet ich in eine Kontrolle der Bahnpolizei, u n d da ich keine Ausweispapiere mehr hatte, wurde ich verhaftet und zur Nürnberger Kriminalpolizei gebracht. Ich hatte einen Zettel bei mir, auf dem die Zugverbindung stand, es wäre ein leichtes gewesen, die Spur nach Stadtlauringen zu verfolgen, und dann hätte man in dem kleinen O / t sehr schnell herausgefunden, wer uns geholfen hatte. Aber der verhörende Kriminalbeamte warf den gefährlichen Zettel stillschweigend in den Papierkorb. Ich selbst erlebte das Kriegsende als Häftling des Konzentrationslagers Ravensbrück; da unser Haus in Mainz zerstört war, ging ich wieder nach Stadtlauringen, wo ich noch ein J a h r lang wie eine Tochter der Eheleute Gerschütz lebte, ehe ich aus beruflichen Gründen nach München zog. 1948 ist H e r r Gerschütz verstorben."

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30 Zum 100. Geburtstag von Sophie Sondheim

Die Kinder nannten Bad Kreuznach ein Paradies. — Fast 20 Jahre hat die herrliche Kinderwelt in der Karlshalle Nr. 12 bestanden, bis man dem frohen Treiben der Kölner „Jüdischen Kinderheilstätte Bad Kreuznach eV" ein Ende setzte. Sie wurde im ehemaligen Kinderheim Dr. Bartenstein am 5. Mai 1920 eröffnet und Anfang des Jahres 1939 „wegen Verdreckung" geschlossen. Der gute Geist dieses Hauses von der Gründung bis zum bitteren Ende war Schwester Oberin Sophie Sondheim, eine der großen Erzieherpersönlichkeiten des deutschen Judentums. Sie würde am 18. März 1987 100Jahre alt —Grund genug, dieses Heim und seine hervorragende Leiterin ins Gedächtnis zurückzurufen, damit nicht vergessen wird, was nicht vergessen werden darf. Schwester Sophie wurde am 18. März 1887 in Kleinlangheim bei Kitzingen am Main geboren. Sie erhielt im jüdischen Krankenhaus zu Köln eine Ausbildung als Krankenschwester. Überaus mitfühlend und teilnahmsvoll, war sie der Sonnenschein vieler Patienten.Die Leiden und das Sterben der Kranken machten ihr aber sehr zu schaffen, so daß ein Arzt ihr schließlich riet, den Schwesternberuf lieber aufzugeben. Da kam ihr die Eröffnung des Kinderheims in Bad Kreuznach sehr gelegen, hier konnte Schwester Sophie sich mit aller Kraft für das Leben der Kinder einsetzen, und sie gönnte sich keine Ruhe, sie stammte ja aus einem kleinen Dorf und wußte, was körperliche Arbeit bedeutet. Eine ungeheure Energie war ihr zu eigen, sie war unermüdlich und unzerbrechlich, keine Arbeit war zuviel. Aber was sie von sich verlangte, das traute sie auch ihren Mitarbeiterinnen zu. So begann der Tag früh um 6 und endete meist erst kurz vor Mitternacht. Als man am 9. September 1928 die Heilstätte beträchtlich erweiterte, waren viele Gäste, vor allem aus Köln, anwesend. Rabbiner Dr. Ludwig Rosenthal lobte bei dieser Gelegenheit Schwester Sophie als „den nimmermüden, guten Geist des Hauses". Die „Jüdische Kinderheilstätte Bad Kreuznach eV" war 1919 von einigen Kölner Bürgern, Mitgliedern der Synagogengemeinde, gegründet worden. Ein Verein unter der Leitung des Kölner Rechtsanwaltes SalliJonas erledigte alle organisatorischen Dinge. In Köln meldete man sich an, Sanitätsrat Dr. Sternberg untersuchte die Kinder, die Gelder für unbemittelte Eltern wurden aufgebracht, und was sonst noch nötig war, besorgte man hier. Damit belastete man die Leute in Bad Kreuznach nicht. Die Betreuung übernahm der dort ansässige Kinderarzt Dr. Kulimann, und gerne schaute auch der örtliche Rabbiner Dr. Jakobs einmal herein. Die Kinder, meist aus Köln und Umgebung, gediehen in der guten Luft des Salinentales. Alle zwei Tage wurde ein Solebad genommen, man wanderte und spielte. Dem Hause wurde später auch ein Erholungsheim für Frauen angeschlossen. Man hatte Raum für 100 Kinder und 18 ältere Personen, und im Stall sorgten 4 Kühe täglich für frische Milch. Bereits 1933 erkannte Sophie Sondheim, daß dem heranbrausenden Unheil des 279

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Nationalsozialismus a m besten durch die Auswanderung, also Flucht, zu begegnen sei, u n d am 1. November 1933 schon hatte die t a p f e r e Frau, gemeinsam mit den jüdischen Auswanderungsorganisationen „Hechaluz" u n d „Bachad", ein Ausbildungszentrum f ü r j e 15 Mädchen geschaffen. I n Kursen von 6 bis 12 Monaten erhielten die j u n g e n Menschen im Rahmen d e r Arbeit in der Heilstätte eine umfassende Ausbildung, u n d Schwester Sophie k ü m m e r t e sich u m j e d e s Mädchen persönlich, damit die Auswanderung auch gelang. Aber das war noch nicht genug. Gemeinsam mit Gustav Horn, d e m j u n g e n Generalsekretär des deutschen Hechaluz, entwickelte sie schon 1934 einen Plan zur Übersiedlung des ganzen Heimes nach Erez Israel. Schwester Sophie f u h r eigens nach Berlin, u m mit Recha Freier, die schon 1932 die jüdische Kinderauswanderung nach d e m damaligen Palästina mit aller Kraft organisierte, durchzusprechen. Doch leider zog der Vorstand nicht mit, diese Pläne erschienen d e n Kölnern zu phantastisch. So blieb Schwester Sophie, bis m a n sie Anfang 1939 verjagte. Das blitzblanke H a u s w u r d e „wegen Verdreckung" geschlossen, berichteten uns Überlebende. Schwester Sophie ging nach Köln u n d hätte gerne von hier aus einen Kindertransport nach Erez Israel geleitet, aber auch das gelang leider nicht. So übern a h m sie im Juli 1939 in Gailingen, einen Steinwurf von d e r rettenden Schweizer Grenze, die Leitung eines Altersheimes. Am 22. Oktober 1940 w u r d e n fast alle jüdischen Einwohner aus Baden und d e r Pfalz nach Gurs in Südfrankreich verschleppt. Schwester Sophie mußte mit einigen Kranken ihres Heimes nach Konstanz, wieder direkt a n d e r Schweizer Grenze. Wie o f t mögen sie u n d ihre Leidensgenossen die n a h e n Schweizer Häuser angeschaut haben? Wie oft mögen sie auf Rettung g e h o f f t haben, aber der kleine Schritt ü b e r die rettende Linie d u r f t e nicht getan werden. Schon im November 1941 mußte Schwester Sophie auch das Haus in d e r Sigismundstraße in Konstanz, in dem die letzten jüdischen Einwohner zusammengedrängt hausten, wieder verlassen, d e n n d e r Ruf Schwester Sophies war allenthalben bekannt, u n d so ü b e r t r u g man ihr die Leitung des jüdischen Kinderheims in Neu-Isenburg bei F r a n k f u r t am Main. Das Heim in Neu-Isenburg war 1907 von Bertha Pappenheim gegründet worden u n d genoß weithin Ansehen. Bertha Pappenheim, eine d e r großen, prägenden Frauen des deutschen J u d e n t u m s unseres J a h r h u n d e r t s , g r ü n d e t e kurz nach d e r J a h r h u n d e r t w e n d e den „Jüdischen Frauenbund". Schwester Sophie trat in schwerster Zeit ihre Nachfolge an, doch leider konnte sie n u r ein halbes J a h r den j u n g e n Zöglingen ihre liebevollen Dienste erweisen. Schon wieder mußte Schwester Sophie zusehen, wie eine von ihr geleitete Einrichtung geschlossen wurde: am 31 .März 1942 „verlegte" man die Kinder, das Haus w u r d e geschlossen und Schwester Sophie mit ihrer Mitarbeiterin Hanna Königsfeld nach Darmstadt beordert. Dort konnte sie noch etwa ein J a h r wirken; über die Tätigkeit in Darmstadt ist nichts m e h r bekannt. Am 10. o d e r 12. Februar 1943 w u r d e n Schwester Sophie u n d Hanna Königsfeld von dort nach T h e resienstadt deportiert. I n Theresienstadt traf Schwester Sophie ihre älteste Schwester Carri. Auch hier w u r d e sie wieder pflegerisch u n d organisatorisch tätig. Sie versuchte, die 280

30 Zum 100. Geburtstag von Sophie Sondheim Menschen vor d e n T r a n s p o r t e n nach Auschwitz zu bewahren, es galt Zeit bis zum fühlbaren Kriegsende zu gewinnen. So konnte sie auch die Schwester zweimal von d e n Transportlisten streichen lassen. Es sah fast aus, als ob Schwester Sophie, die so viel Leid gesehen hatte, noch Erfolg haben würde. Doch am 9. Oktober 1944 mußte sie sich mit ihrer Schwester und d e r t r e u e n Gefährtin d e r letzten Jahre, Hanna Königsfeld, in die grausamen T r a n s p o r t e nach Auschwitz einreihen. 3 Wochen später liefen keine Züge mehr von Theresienstadt nach Auschwitz. Am 2. November gab Himmler d e n Befehl, die T ö t u n g e n in Auschwitz einzustellen. In dem Gedenkbuch d e r Bundesregierung f ü r die jüdischen O p f e r , das in diesen T a g e n erschien, steht auf Seite 1415 auch d e r Name von Sophie Sondheim: „verschollen in Theresienstadt". Schwester Sophie war nicht blind gewesen f ü r die Zeichen ihrer Zeit. Schon f r ü h erkannte sie, was zu tun sei, u n d so verhalf sie vielen zur Flucht. Für sich selbst aber setzte sie gegen alle Gewalt n u r das ein, was ihr Herz in ihrem ganzen Leben erfüllt hatte: die treusorgende und mütterliche Liebe f ü r ihre Mitmenschen. O b sich wohl Menschen finden, die dem A n d e n k e n an Schwester Sophie und ihr fröhliches Kinderparadies ein Erinnerungszeichen setzen?

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Oberstabsarzt Dr. Julius Schoeps-Kaserne wird in Hildesheim eingeweiht

Am 20. März 1987 fand in Hildesheim die feierliche B e n e n n u n g d e r Kaserne des Sanitätsbataillons 1 auf d e n N a m e n von „Oberstabsarzt Dr. Julius Schoeps" statt. Mit dieser B e n e n n u n g w u r d e ein Name geehrt, dessen Familie bei d e r Armee des Kaiserlichen Deutschlands einen großen N a m e n hatte. Ein kurzes Portrait soll Einblick in sein Leben und das seiner Familie geben, die im nationalsozialistischen Deutschland verfolgt u n d ermordet wurde: „Die Familie Schoeps gehörte zu d e n alteingesessenen jüdischen Familien in Preußen. Julius Schoeps w u r d e am 5. J a n u a r 1864 in N e u e n b u r g , Kreis Schwetz, Regierungsbezirk Marienwerder (West-Preußen) als Sohn eines Ziegeleibesitzers geboren. Er besuchte von Michaeli (29. September) 1876 bis Michaeli 1884 das Gymnasium in Graudenz. Sein Medizinstudium absolvierte er vom Wintersemester 1884/85 bis zum E n d e des Wintersemesters 1889/90 in Berlin,Würzburg, München u n d Leipzig, wo ihm am 8. Februar 1890 die Approbationsurkunde als Arzt mit d e m Prädikat ,gut' ausgehändigt wurde. Nach d e r Beendigung seiner Militärdienstzeit als .Einjährig Freiwilliger' ließ er sich im Berliner Süden als Arzt nieder. Dem 2. Gardedragonerregiment Kaiserin Alexandra von Rußland fühlte er sich besonders verbunden, worauf seine Mitgliedschaft im Verein d e r ehemaligen Regimentsmitglieder hinweist. U n t e r d e n Mitgliedern war er der einzige Jude. Wenige T a g e nach Kriegsausbruch wurd e er wieder aktiv. Nachdem e r im Sommer 1920, 56jährig, aus d e m aktiven Wehrdienst ausgeschieden war, widmete er sich wieder seiner Praxis. Für seine a u f o p f e r n d e Tätigkeit bei d e r Pflege und B e h a n d l u n g verwundeter Soldaten wurde er ausgezeichnet. Hans-Joachim Schoeps schreibt 1963 in seinem Buch .Rückblicke* über seinen Vater: Der T y p des alten Hausarztes, wie er ihn verkörperte, ist heute sehr selten geworden, seitdem die Ärzte immer m e h r zu Angestellten d e r Krankenkassen werden. In vielen Fällen w u r d e er geradezu d e r Berater u n d Helfer in allen Lebenslagen. Er war bei Kriegsverletzten — Tausende von Berlinern gingen d u r c h seine Beh a n d l u n g — wie beim Personal wegen seiner strengen unparteiischen Gerechtigkeit geschätzt, mit d e r er die zahllosen Konflikte schlichtete, wie sie im engen Zusammenleben so vieler Körperbehinderter unvermeidlich sind. W e n n ich mir die Gestalt meines Vaters in das Gedächtnis zurückrufe, scheint mir das meist Kennzeichnende sein Sinn f ü r unbedingte Pflichterfüllung und f ü r Gerechtigkeit zu sein. Staatsraison war ihm die oberste Bürgerpflicht. Die Republik nach 1918 ist sicher nicht nach seinem Geschmack gewesen, aber jedes illoyale Verhalten gegen den n e u e n Staat hat er streng verurteilt. 282

31 Oberstabsarzt Dr. Jvlius-Schoeps-Kaserne wird in Hüdesheim eingeweiht Als d a n n der Nationalsozialismus zur Herrschaft kam, hat mein Vater auch d e n n e u e n Machthabern gegenüber staatsbürgerliche Loyalität bewahren wollen. ,Hitler m a g uns J u d e n nicht, e r ist n u n aber einmal unsere Obrigkeit' — war seine Meinung. U n d wie mein Vater dachte, so dachten 1933 viele preußische J u den seiner Generation. Als es d a n n zum Anschluß Österreichs kam und deutsche W e h r m a c h t durch Wien marschierte, meinte er zu mir: ,Du kannst ja sagen was d u willst, aber du kannst nicht bestreiten, d a ß Deutschland noch nie mächtiger dagestanden hat als jetzt.' Mit welchen infernalischen Mitteln d e r Anschluß vorbereitet war, das wußte er nicht. Er konnte sich ganz einfach nicht vorstellen, daß eine Obrigkeit ihre Macht auch mißbrauchen u n d selbst das Verbrechen legitimieren kann. Dies kam in seinem Weltbild als Möglichkeit nicht vor. Er hat die Motive d e r Nazis bis zu seiner Deportation, j a mit Sicherheit bis zu seinem T o d e nicht begreifen können. Er hat alles, was seine Person betraf, n u r f ü r einen einzigen Irrtum, f ü r eine ihm unerklärliche schreckliche Verwechslung gehalten." Die Militärdienstzeit von Oberstabsarzt Dr. Julius Schoeps: 1. Oktober 1886 bis 1. April 1887 als Einjährig Freiwilliger im Kgl. Bayerischen 2. Infanterieregiment „Kronprinz", 12. Kompanie München; 1. April 1887 B e f ö r d e r u n g zum Gefreiten; 7. November 1888 vereidet; 8. Februar 1890 Aushändigung d e r U r k u n d e zur Approbation als Arzt in Leipzig; 1. März 1890 bis 1. September 1890 als Einjährig Freiwilliger Arzt im 2. GardeDragoner-Regiment „Kaiserin Alexandra von Rußland", 4. Eskadron Berlin; 1. September 1890 B e f ö r d e r u n g zum Unterarzt der Reserve; 6. September 1890 bis 17. Oktober 1890 als Unterarzt d e r Reserve im 1. Leibhusaren-Regiment Nr. I, 2. Eskadron Danzig; 27. November 1890 Verleihung des Patentes als Assistenzarzt II. Klasse d e r Reserve; 26. Mai 1893 Verleihung des Patentes als Assistenzarzt I. Klasse der Reserve; 18. Oktober 1900 B e f ö r d e r u n g zum Stabsarzt d e r Landwehr; 12. August 1914 bis November 1917 Leiter des Reservelazarettes Grassl BerlinMariendorf; 25. November 1917 Dienstantritt als Chefarzt in d e r Sanierungsanstalt Prostken, d a n a c h bis weit nach Kriegsende, Sommer 1920, in d e r Leitung des Reservelazarettes Grassl; 30. Oktober 1919 Verleihung des Eisernen Kreuzes II. Klasse mit Wirkung vom 2. Oktober 1919; 6. Dezember 1920 B e f ö r d e r u n g zum Oberstabsarzt d e r Reserve. Der Staatssekretär im Bundesministerium d e r Verteidigung, Dr. Lothar Rühl, begleitete die Feierstunde mit einer Ansprache, die er auch im Namen des Bundesministers d e r Verteidigung hielt: 283

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit „Soldaten des Sanitätsbataillon 1! Sie sind heute zu diesem feierlichen Appell aus Anlaß der Umbenennung des .Heeresflugplatzes' in .Oberstabsarzt Dr. Julius Schoeps-Kaserne* angetreten. Wir tun dies nicht unter uns, sondern gehen mit dieser Zeremonie bewußt an die Öffentlichkeit, die durch die zahlreichen Gäste, die Ihr Kommandeur begrüßt hat, repräsentiert wird. Ich überbringe Ihnen allen die Grüße von Bundesverteidigungsminister Dr. Wörner, der Ihnen, besonders aber den Soldaten des Sanitätsbataillon alles Gute wünscht. Er hat dem Namensvorschlag, der vom Sanitätsbataillon angeregt und durch den Inspekteur des Heeres vorgelegt wurde, gerne zugestimmt. Diese Benennung entspricht seiner Absicht, mit Kasernennamen Anhaltspunkte für eine historisch-politische Bildung als Voraussetzung bewußter Traditionspflege zu schaffen. Durch die Benennung von Kasernen können die Streitkräfte ihre friedenssichernde Funktion und ihre Einbindung in Staat und Gesellschaft unterstreichen und zugleich den Soldaten und der Bevölkerung Traditionsverständnis vermitteln. Für die politische Bildung und die Erziehung j u n g e r Soldaten sind Kasernennamen nur dann von Wert, wenn sich aus ihnen die Einsicht in traditionelle Werte ableiten läßt. Damit stellt sich die Frage nach dem, was uns aus der Vergangenheit, unserer Geschichte, als gültiges Erbe übergeben wurde. Der Begriff .gültiges Erbe' sagt uns, daß Traditionspflege die bewußte Auswahl von Überliefertem darstellt. Die militärischen Traditionen der Bundeswehr sind eingebettet in das Wertesystem der Bundesrepublik Deutschland, sie sind auch Voraussetzung für eine kontinuierliche Weiterentwicklung. Damit wird deutlich, daß militärische Überlieferung in unserer Bundeswehr in die ethische Fundierung unseres Staates eingebettet ist. Sie muß daher soldatische Tugenden beinhalten, an Mitverantwortung und Moral gebunden, vom Geist der Menschlichkeit und Menschenwürde geprägt sein. Von diesen Gedanken ausgehend, läßt sich die Frage sehr schnell beantworten, warum diese Kaserne nach Oberstabsarzt DT. Julius Schoeps benannt wird. Der bisherige Kasernenname entstammt der Zeit, in der alle Kasernen, in denen Heeresfliegerverbände stationiert waren, m i t , Heeresflugplatz' bezeichnet wurden. Er entspricht als Unterkunftsname für das Sanitätsbataillon 1 nicht mehr den Realitäten. Mit der Benennung in .Oberstabsarzt Dr. Julius SchoepsKaserne' wird eine Persönlichkeit geehrt, die einen Bezug zur Geschichte von Freiheit und Demokratie verkörpert, innere Bindungen zu dem in dieser Kaserne stationierten Truppenteil aufweist und mit der politischen und weltanschaulichen Vielfalt unserer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft übereinstimmt. Der Lebensweg dieses Mannes symbolisiert in mehrfacher Hinsicht überlieferungswürdiges und wertorientiertes Erbe: Oberstabsarzt Dr. Julius Schoeps — war Arzt und Sanitätsoffizier — war Jude und entstammt einem im Preußentum verwurzelten Elternhaus. Er wurde am 5. Januar 1864 geboren und ließ sich nach Beendigung seiner Militärdienstzeit 284

31 Oberstabsarzt Dr. Julius Schoeps-Kaserne wird, in Hildesheim eingeweiht 1891 im Berliner Süden als Arzt nieder. Hier wirkte er 47 J a h r e lang, bis zum Jahre 1938, als praktischer Arzt und Geburtshelfer. 1900 wurde er zum Stabsarzt der Landwehr befördert und diente in mehreren Truppenteilen. Wenige Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges trat er wieder in den Heeresdienst. Gegen Ende des Krieges war e r zuletzt Leiter eines Feldlazaretts, in dem Schwerverletzte noch über das Kriegsende hinaus behandelt wurden. Anfang 1920 schied er als Oberstabsarzt der Reserve aus dem aktiven Wehrdienst aus und widmete sich wieder seiner Praxis. Für seine aufopfernde Pflege und Behandlung verwundeter Soldaten wurde er mehrfach ausgezeichnet. Die nationalsozialistischen Machthaber entzogen 1938 dem Sanitätsarzt Dr. Schoeps den Arzttitel; wie seine übrigen jüdischen Kollegen durfte er n u r noch als Heilbehandler f ü r Nichtarier zugelassen werden. Der damals 74jährige gab daraufhin seine Praxis auf. Den Gedanken an eine Auswanderung hat er jedoch mit Entrüstung von sich gewiesen. Seine Aussage ist überliefert: ,Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich habe keinen G r u n d , aus meinem Vaterland fortzugehen.' Als er endlich zur Auswanderung bereit war — sein Sohn hatte von Schweden aus Einreisevisa f ü r seine Eltern beschafft —, war es zu spät: 1941 wurde f ü r Juden die Auswanderung untersagt. Man deportierte Sanitätsrat Dr. Schoeps im Juli 1942 nach Theresienstadt. Seine Frau folgte ihm freiwillig dorthin. Am 27. Dezember 1942 — kurz vor seinem 79. Geburtstag — starb er nach qualvoller Krankheit aus Mangel an ärztlicher Versorgung. Im Mai 1944 wurde Frau Käthe Schoeps zusammen mit 7 500 anderen Unglücklichen nach Auschwitz-Birkenau verschleppt und dort umgebracht. Oberstabsarzt Dr. Schoeps war Arzt u n d Sanitätsoffizier im 1. Weltkrieg. Was liegt näher, als die Kaserne eines Sanitätsbataillons nach einem besonders verdienten Sanitätsoffizier der Geschichte zu benennen? Diese vordergründige Logik hat auch einen tieferen Sinn: Wir geben den Soldaten, die in dieser Kaserne dienen, ein Leitbild und würdigen zugleich die Bedeutung des Sanitätsdienstes allgemein. Die Qualität des Sanitätsdienstes d e r Bundeswehr ist eine Grundlage f ü r das Vertrauen in die Fürsorge f ü r die Soldaten. Ein gut ausgebildeter und funktionsfähiger Sanitätsdienst ist eine der entscheidenden Voraussetzungen f ü r die Pflichterfüllung der Soldaten im Einsatz. Dies ist durch unzählige kriegsgeschichtliche Beispiele eindrucksvoll zu belegen. N u r wenn der Soldat damit rechnen kann, im Falle einer Verwundung unverzüglich einer ärztlichen Versorgung zugeführt zu werden, wird er auch bereit sein zu kämpfen und bewußt in die Gefahr hinein zu handeln. Dieser Wille u n d die Fähigkeit, auch kämpfen zu können, also das soldatische Handwerk zu beherrschen, sind seit mehr als 30 J a h r e n eine der Säulen, auf denen die Glaubwürdigkeit unseres Selbstbehauptungswillens ruht. Die Bundeswehr pflegt das Andenken der deutschen jüdischen Soldaten, ein Umstand, der Anfang der 80er J a h r e mit der Wanderausstellung »Deutsche jüdische Soldaten 1914—1945' sichtbar dokumentiert wurde. 285

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

Oberstabsarzt Dr. Schoeps war einer von den 100 000 deutschen jüdischen Soldaten, die im 1. Weltkrieg f ü r ihr Vaterland gekämpft haben. Die Art u n d Weise, wie wir den soldatischen Einsatz der jüdischen Mitbürger im 1. Weltkrieg würdigen, die ihrem Glauben und ihrem Vaterland die Treue hielten, ist auch Maßstab f ü r die Glaubwürdigkeit unserer Streitkräfte, ein Maßstab f ü r eine Armee, die eine freiheitlich demokratische Rechtsordnung zu verteidigen hat, in deren Grundgesetz die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, seine Gleichheit vor dem Gesetz sowie seine Gewissens- und Bekenntnisfreiheit unwiderruflich verankert ist. Diese Kaserne wird die dritte Kaserne in der Bundeswehr sein, die den Namen eines deutschen Juden trägt. Bereits 1973 und 1974 wurde je eine Kaserne nach herausragenden deutschen Frontkämpfern benannt: dem Ritter des Ordens Pour le Merite, Leutnant Wilhelm Frankl sowie dem Abgeordneten des Reichstages und Kriegsfreiwilligen Ludwig Frank.

Mit der heutigen Namensgebung soll nicht nur der jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges gedacht werden, vielmehr soll sie auch fortwährender Anlaß sein, den in dieser Kaserne diensttuenden Soldaten das unfaßbare Geschehen in den zwölf Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft als Teil unserer deutschen Geschichte vor Augen zu führen: zur Mahnung und als dauernde Verpflichtung. Das Preußenbild und die Bewertung der preußischen Tugenden haben sich seit dem Kriegsende entscheidend gewandelt. Wurde damals noch eine fast zwangsläufige Entwicklung von den im preußischen Staat hevorgehobenen Tugenden zu den Verbrechen des sogenannten Dritten Reiches gesehen, so hat sich dies seither dank einer differenzierteren Betrachtungsweise geändert. Es ist sicherlich kein Zufall, daß mit dem Widerstand gegen Hitler so viele Namen preußischer Familien verbunden sind. Wir betrachten aus der Erfahrung unserer Geschichte heraus die Grundwerte wie Menschenwürde, Freiheit und Recht als Richtschnur allen menschlichen Handelns. Ich denke, man kann mit Fug und Recht sagen, daß die als preußisch bezeichneten Tugenden, wie z. B. Pflicht und Toleranz, Voraussetzung für die Verwirklichung dieser Grundwerte sind. Mit dieser Namensgebung übernimmt das Sanitätsbataillon 1 die Verpflichtung, den hier dienenden Soldaten deutsche Geschichte durch das Lebensbild des Namensgebers in ihrer Gegensätzlichkeit zu vermitteln. Unsere Soldaten sollen so das uns verpflichtende Erbe erkennen, als Voraussetzung für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Ich danke der Familie Schoeps für ihre Zustimmung, dieser Kaserne ihren Namen zur Verfügung zu stellen. Und ich bin Ihnen, Herr Professor Doktor Schoeps, für Ihren Brief an den Kommandeur des Sanitätsbataillons 1 aus dem März 1986 dankbar, in dem Sie schreiben: ,Ich bin davon überzeugt, daß Sie mit dieser Namensgebung etwas f ü r das Andenken des deutschen Judentums tun, das fest in 286

31 Oberstabsarzt Dr. Julius Schoeps-Kaseme vrird in Hildesheim eingeweiht Deutschland verwurzelt war und daran geglaubt hat, daß Deutschtum u n d Judentum sich nicht gegenseitig ausschließen.' In diesem Sinne gebe ich dieser Kaserne den Namen .Oberstabsarzt Dr. Julius Schoeps-Kaseme'. Soldaten des Sanitätsbataillon 1: Seien Sie stolz auf den neuen Namen Ihrer Kaserne. Oberstabsarzt Dr. Julius Schoeps soll Ihnen verpflichtendes Beispiel f ü r Ihr eigenes Handeln sein." Professor Dr. Julius Schoeps hielt die Festansprache über das Thema „Die mißglückte Emanzipation — zur Tragödie des deutsch-jüdischen Verhältnisses". Sein Vater, Hans-Joachim Schoeps, schrieb seinem Sohn Julius H. Schoeps 1943 einen Brief, der die „jüdische Identität in Zeiten der Bedrängnis und Verfolgung" zum Inhalt hatte: „Der nachfolgend veröffentlichte Brief aus Familienpapieren spiegelt nicht nur das persönliche Schicksal eines Teils meiner Familie im Dritten Reich wider, sondern sagt zudem etwas aus über das Wesen des Judentums und die Bedingungen jüdischer Existenz in Zeiten der Bedrängnis u n d Verfolgung. Den Brief schrieb mir mein vor einigen Jahren verstorbener Vater im J a n u a r 1943. Ich war damals gerade ein halbes J a h r alt. Wir lebten in Schweden, wohin meine Eltern aus HitlerDeutschland geflüchtet waren. Die Aussichten waren denkbar schlecht. Niemand wußte, was werden würde. Die Nachrichten, die aus Deutschland kamen, ließen das Schlimmste befürchten. Es ist dies wohl d e r Grund gewesen, warum mein Vater den Brief schrieb, der mir am Tage meiner Barmizwah ausgehändigt werden sollte. Im J u n i 1954 habe ich den versiegelten Brief — wir waren inzwischen wieder in das Nachkriegs-Deutschland zurückgekehrt — von meinem Vater persönlich überreicht bekommen. Lange Jahre lag er dann in irgendwelchen Schubladen. Kürzlich fand ich ihn und habe ihn wieder gelesen. Als 13jähriger habe ich vermutlich manches noch nicht verstanden. Heute verstehe ich, was mir mein Vater sagen wollte - u n d ich akzeptiere es. Mein lieber Junge! Im Januar 1943 Diesen Brief von Deinem Vater bekommst d u am Tage der Barmizwah. Ich hoffe, daß ich ihn Dir einst selber werde überreichen können. Aber die Zeiten, in denen wir heute leben, sind sehr verworren, u n d niemand weiß, ob er in 13 Jahren noch auf d e r Welt ist. Und dann denke ich mir auch, muß es schön sein, wenn man von seinem Vater einen Brief bekommt ganz frisch, als sei er gestern in den Kasten geworfen und ist doch schon 13 J a h r e alt — fast so alt wie man selbst. Ich will ein wenig mit Dir plaudern und Dir von der Zeit erzählen, in der Du geboren wurdest. Deine Eltern waren damals Emigranten in Schweden. Es ging uns viel, viel besser als Millionen Leidensgefährten, wenn auch die Verhältnisse, in denen wir lebten, etwas beengt waren. Deine liebe Mama hat, bevor Du ankamst, oft Angst vor Dir gehabt, daß sie so einen kleinen J u n g e n gar nicht bewältigen konnte. Aber Du warst ein selten rücksichtsvolles und ruhiges Baby. Es ging dann doch über Erwarten gut. 287

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Bei aller Riesenfreude, daß Du da warst, fehlte der dunkle Unterton nicht. Zwei Tage später sind Deine Großeltern, die keinen sehnlicheren Wunsch kannten, als ihr einziges Enkelkind in seinem Bettchen liegen zu sehen, von Unmenschen und Gewalttätern verschleppt worden. Du lebst - das glaube ich sicher — heute in einer freien Welt und kannst Dir all die Greuel und Vergewaltigungen nicht mehr vorstellen, in denen wir damals lebten. Vor wenigen Tagen bekam ich die Trauernachricht, daß mein Vater gestorben ist, nachdem er vorigen Sommer beinahe schon als Geisel für einen Nationalsozialisten erschossen worden wäre und nur ein Zufall ihm das Leben gerettet hat - f ü r ein weiteres halbes Jahr in Qual! Ich habe es erfahren, indem die Mutter, die mir nicht schreiben darf, auf einer internationalen Empfangsbestätigung von mir mit dem Zusatz ,Witwe' unterschrieben hat. Das ist alles, was ich weiß. Die Karte ist ein Dokument, das mehr über die Grausamkeiten dieser Zeit aussagt als dicke Bücher. — Nun bange ich um das Leben meiner ganz allein gelassenen Mama, die nicht genug zu essen hat. Jeder Tag, den dieser Krieg länger dauert, ist qualvoll für sie und vermindert die Hoffnung, sie lebend wiederzusehen. — Du weißt von alledem nur noch aus Geschichtsbüchern, und ich bete zu Gott, daß solch schlimme Zeiten f ü r uns Juden nie mehr wiederkehren mögen. Und damit komme ich zu etwas, was mir auf dem Herzen liegt. Die Zukunft, die ich f ü r Dich ersehne, ist eine freie und bessere Welt, als sie heute ist, in der es hoffentlich etwas gerechter zugehen wird und in der auch jüdischen Menschen alle Rechte und Pflichten zukommen, die die anderen Menschen haben. In guten Zeiten ist man ja geneigt, vieles nicht so tragisch zu nehmen u n d gleichgültig zu sein gegen vergangenes Leid u n d Not. Aber ich weiß heute schon, Du bist ein tiefer Junge und wirst darum meine Bitte auch recht verstehen. Vergiß im ganzen Leben niemals Dein Volk Israel! Ich will Dir nicht Vorschriften machen, welche Wege Du im Leben gehen sollst. Ich weiß auch, daß es viele und, wie es manchmal dünkt, wunderliche Wege sind, die Gott den Menschen durch das Dickicht dieses Lebens führt. Ich kann mir auch gar nicht ausmalen, wie einmal alles aussehen wird, wenn Du 13 Jahre alt bist, oder auch nur, in welchem Land der Welt Du diesen Brief lesen wirst. Ich hoffe, es wird Deutschland sein, aber ich vertraue zu Gott, daß er uns den rechten Weg führt, wohin es IHM gefällt. — Als ich so alt war wie Du jetzt, geriet ich in eine Bewegung, die es damals gab: Die Freideutsche Jugend. Ich weiß auch heute noch keine bessere Formel, als die wir damals für die große Fahrt durchs Leben als Richtschnur hatten: ,Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, in eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit das Leben gestalten'. Wenn man sich daran hält, macht man sich das Leben oft schwer. Aber man kommt weit. Nichts ungeprüft hinnehmen, auch nicht sich vorschnell festlegen, stets nach der Wahrheit fragen, und was man tut, mit ganzem Herzen tun! Dies gilt auch f ü r das religiöse Leben und religiöse Überzeugungen. Gerade hier verurteile ich besonders jeden Zwang. Mit dem jüdischen Glauben und Deinem eigenen Judesein sollst Du Dich in den nächsten Jahren in voller Freiheit auseinandersetzen. Ich konnte als Dein Vater nichts anderes tun als für das Selbstver288

31 Oberstabsarzt Dr. Julius Schoeps-Kaserne wird in HOdesheim eingeweiht

ständliche zu sorgen, daß Du in den Bund der Beschneidung aufgenommen wurdest und daß Du nach Möglichkeit eine jüdisch-religiöse Erziehung erhältst. Nach jüdischem Brauch bist Du mit dem heutigen Tag mündig, und es ist in Deine Hand gelegt, wie Du es mit der Thora halten willst. Lasse mich Dir noch etwas von Deinen Vorfahren erzählen. Meine Urgroßmutter, väterlicherseits, die in Neuenburg in Westpreußen lebte, galt als eine Zaddikin. Sie war eine so fromme Frau, daß sich der christliche Bürgermeister des Städtchens am Schabbes öfters von ihr segnen ließ. Das hat mir mein lieber Vater einmal erzählt. Er selber hatte zur jüdischen Religion kein inneres Verhältnis mehr, wie das der naturwissenschaftlichen Denkweise seiner Zeit entsprach. Aber er hat den Gedanken einer Taufe stets von sich gewiesen. Um 1890 schlug sie ihm der Oberst des Regiments, in dem er als Unterarzt diente, vor und sagte ihm eine glänzende Karriere als Soldat voraus. Dein Großvater hat Nein gesagt, weil er ein Ehrenmann war. Er ist auch so im Ersten Weltkrieg zum Oberstabsarzt im Dienstrange eines Majors befördert worden. Mein Vater, nach dem Du ja mit einem Namen heißt, ist stets ein gütiger, aber gerechter Mann gewesen, der in jeder Lage des Lebens ein gerechtes Urteil, auch wenn es gegen eigene Interessen und Gefühle ging, zu fällen gesucht hat. Er war ein Mann der Pflichterfüllung, der Arbeit und des Verantwortungsbewußtseins vor Familie, Beruf und Staat. — Noblesse oblige, mein Sohn! Mein Urgroßvater mütterlicherseits soll auch noch sehr fromm gewesen sein. Es wird berichtet, daß er nicht eher sterben konnte, als bis ein Minjan an seinem Lager zusammentrat und .Tillium' sagte. Dann ging es leicht und ohne Schmerzen. Er selber stammte aus einer gemischten Ehe — seine Mutter soll eine märkische Adlige gewesen sein - und hat an seine Kinder den Rat gegeben, sich immer nur jüdisch (gemeint im rassischen Sinne) zu verheiraten. Ich will Dir auch hier keine Vorschriften machen, welche Frau Du einmal als Gefährtin für Dein Leben wählen willst. Aber ich gebe Dir diesen Rat, der 5 Generationen vor Dir erteilt wurde, hiermit weiter. Ich erzähle Dir so viel von Deinen Ahnen, weil ich meine, daß jeder Mensch in einer Kette des Blutes und der Erinnerung steht, die für die Juden nach unserem Glauben bis zum Sinai zurückreicht. Das ist ein großes Mysterium. Auch Du hast dort gestanden, auch Dir gelten alle Verheißungen und Strafandrohungen, die Gebote der Thora als Richtschnur für das Leben und die kommende Erlösung von aller Schuld. Das Gedenken der Kette, das sichron awotejnu, ist deshalb für uns so wichtig. Das Heraustreten aus ihr ist der geistige Tod. Aber solange noch ein jüdisches Kind nach seinem Vater Kaddisch sagt, solange gibt es Judentum und - dies das zweite Geheimnis — solange gibt es individuelle Unsterblichkeit. Im geistigen Gedenken, konzentriert auf die Seele dessen, der vor einem in der Kette war und im Gebet zugleich hingerichtet auf die göttliche Wiederbelebung der Toten atta hashem mechajje ha-mettim, die am Ende kommen wird, hat der Vater teil an dem ewigen Leben, das in unserer Mitte gepflanzt wurde, lebt er fort, auch wenn die leibliche Hülle zerfällt, im kommenden Glied der Kette — von Geschlecht zu Geschlecht. 289

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Das war es mein Junge, was ich Dir am heutigen Tage sagen wollte. Geh aufrecht durchs Leben, dulde niemals Unrecht, aber im Konfliktfall nimm eher Unrecht hin, als daß Du einem anderen welches zufügst. Zürne niemals lange! Der andere kann morgen tot sein und Du kannst es dann nicht mehr gutmachen. Hefte Dein Herz nicht an vergängliche Güter, denn es gibt Werte, die unvergänglich sind. Ein großer Deutscher und Mensch Matthias Claudius hat in einem .Brief an meinen Sohn Johannes' noch mancherlei beherzigenswerte Sachen geschrieben, die ganz in meinem Sinne sind. Lies sie selber drum. Sei umarmt und geküßt von Deinem Dich liebhabenden Vater."

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32 Ehrung für den verstorbenen Bischof von Münster, Kardinal Clemens August Graf von Galen Am 1. Mai 1987, am Abend, würdigte Papst Johannes Paul II. den Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, der im Kriege von der Bevölkerung nur „der Löwe von Münster" hieß. Seine Predigten gegen Euthanasie und andere Verbrechen der Nationalsozialisten sind bis heute unvergessen. In seiner Vesperpredigt sagte d e r Papst u. a.: „Von Anfang an sind Rom und Münster eng miteinander verbunden gewesen. Euer erster Bischof, der heilige Ludgerus, ist im Jahre 784 zum Petrusgrab und zum Papst in Rom gepilgert, um dort den Auftrag für sein Missionswerk in eurer Heimat zu erhalten. Heute komme ich von Rom nach Münster; der Nachfolger des Petrus kommt zum Nachfolger des Ludgerus und zu euch allen hier im Bistum Münster, um euch im Glauben zu stärken, um zusammen mit euch zu erfahren, daß Rom und Münster, daß Petrus u n d Ludgerus zusammengehören und zusammenbleiben wollen im gemeinsamen Glauben. Vom T o d des heiligen Ludgerus berichtet eine alte Chronik: In der Stunde seines Hinscheidens sahen die Mitbrüder, ,wie vor ihnen ein helles Licht wie Feuer in die Höhe stieg und alle Finsternis der dunklen Nacht vertrieb.' Das Dunkel der Nacht war hell geworden; das Dunkel d e r Nacht ist hell geblieben. Das Licht des katholischen Glaubens hat seine Leuchtkraft behalten durch die Jahrhunderte hindurch. Immer neu ist dieses Licht genährt worden durch die Zeugen der Wahrheit, die in eurem Land dieses Licht gehütet und weitergereicht haben. Unter diesen Glaubenszeugen ragt durch seinen großen Bekennermut euer unvergeßlicher Bischof und Kardinal, Clemens August Graf von Galen, hervor—der ,Löwe von Münster', wie ihn der Volksmund voller Bewunderung und Anerkenn u n g nennt. Ich bin heute nach Münster gekommen, um sein Grab zu besuchen und dort zu beten. Bischof von Galen stand in seinem mutigen Glaubenszeugnis damals jedoch nicht allein. Glauben geschieht ja in der Gemeinschaft der auf den dreifaltigen Gott getauftenMitchristen. Glauben geschieht in der Gemeinschaft der Zeugen der Wahrheit. Zu allen Zeiten habt ihr solche hier im Bistum Münster gehabt: Zeugen der Wahrheit, die wie Leuchtfeuer sind in dunkler Nacht und über allen Regionen eures Bistums aufstrahlen. In Xanten am Niederrhein liegen sie in der alten Krypta unter dem SanktViktors-Dom: Märtyrer aus der Zeit des Anfangs, die ihr Leben als Preis f ü r ihren Glauben hingaben. Da liegen die Gebeine des Priesters Gerhard Storm und des Studenten Heinz Bello, die mit unerschütterlicher T r e u e am Credo d e r Kirche festhielten, gegen die Herrschenden und die Machthaber der damaligen Zeit. Dort liegt Karl Leisner begraben, d e r im Konzentrationslager Dachau zum Priester geweiht wurde, ein Mann, dessen junges Leben die Begeisterung f ü r seinen Glauben ausstrahlte. Sein Lebensmotto hieß: .Christus, du bist meine Leidenschaft'; sein Gebet lautete: .Christus, sei d u mir Führer zum Licht!' 291

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit I m O l d e n b u r g e r Land finden wir die Grabstätte von Dominikanerpater Titus Horten, dessen Leben die Güte u n d Menschenliebe Gottes in beispielhafter Weise widerspiegelt. U n d hier in Münster habt ihr die Wirkstätten u n d das Grab d e r Clemensschwester Maria Euthymia, zu d e r Scharen von Hilfesuchenden pilgern. A n d e n scheinbar verborgenen O r t e n ihres a u f o p f e r n d e n Dienstes hat diese einfache O r d e n s f r a u stellvertretend f ü r viele gezeigt: Ein Leben aus d e m Glauben u n d aus d e m Evangelium hat weltverändernde Kraft. Aus d e r Kraft i h r e r Christusnachfolge entstand in ihrer N ä h e Heimat u n d Geborgenheit f ü r kriegsgefangene Menschen, die ihr anvertraut waren. Liebe besiegte den Haß. Noch viele and e r e N a m e n könnten genannt werden. Ich erinnere jedoch n u r noch a n Schwester Anna Katharina Emmerick, die uns mit ihrer besonderen mystischen B e r u f u n g d e n Wert des O p f e r n s u n d Mitleidens mit dem gekreuzigten H e r r n aufzeigt; u n d a n Schwester Edith Stein, die ich heute morgen in Köln im Namen d e r Kirche seliggesprochen habe. Hier in Münster h a t sie die Stunde ihrer B e r u f u n g erlebt. Von hier aus f ü h r t e ihr Weg in d e n Karmel, von d o r t schließlich in d e n gewaltsamen T o d als Glaubenszeugin u n d so in die ewige Seligkeit Gottes. I h r Christen im Bistum Münster, ihrj u n g e n Menschen, die ich hier besonders ansprechen möchte: Schaut auf diese ,Wolke von Zeugen' (Hebr. 12,1), wie die heilige Schrift sagt. Hier sind sie — die Vorbilder! Hier wird kraftvoll u n d anschaulich gesagt, wie das geht: glauben. Hier wird deutlich, daß die Welt n u r verä n d e r t wird durch ein Leben aus d e r Bindung an Gott u n d sein befreiendes Wort. So siegt die Liebe ü b e r die Bosheit; so überwindet Versöhnung d e n H a ß ; so erhebt sich die G r o ß m u t des Glaubens ü b e r die Enge u n d Selbstbezogenheit des Menschen. U n d ich frage euch Jugendliche: Sollten unter euch nicht auch solche sein, die bereit sind, die .Alternative' eines radikalen Lebens aus d e m Glauben zu wählen? Als Schwester o d e r Bruder, als Priester im Ordensstand o d e r im Dienst des Bischofs d e m Ruf des H e r r n zu folgen? In der äußersten Entschlossenheit d e r Hingabe auf d e m Weg d e r evangelischen Räte von A r m u t , Keuschheit u n d Gehorsam? Als Priester o d e r Diakone das ganze Leben d a f ü r einzusetzen, damit das Evangelium verkündet wird u n d die Sakramente gespendet werden, damit Christus lebt in eurem Land — heute u n d auch morgen? Ich bin fest davon überzeugt: Auch unter euch gibt es zahlreiche J u n g e n u n d Mädchen, M ä n n e r u n d Frauen, die b e r u f e n sind zum Ordensleben u n d zum Priestertum. Gott selber ist es, der euch r u f t . Faßt euch ein Herz, seid mutig! Wagt d e n S p r u n g über die H ü r d e n eurer Einwände u n d Bedenken:Gott, d e r euch r u f t , ist auch getreu. Fangt mit seiner Gnade an; e r wird den ehrlichen Beginn zu einem guten Ende bringen. Liebe B r ü d e r u n d Schwestern! Bischof von Galen hat gegen einen weltlichen Totalitätsanspruch deutlich u n d mutig die elementaren Wahrheiten christlicher Ethik: die zehn Gebote verkündet. Das ,Du sollst nicht...!' des göttlichen Gebotes war seine Antwort auf die H e r a u s f o r d e r u n g durch einen Diktator, d e r in seiner menschenverachtenden Machtausübung die W ü r d e u n d die G r u n d r e c h t e des Menschen sowie die unabdingbaren N o r m e n eines menschenwürdigen Zusammenlebens auf das schwerste verletzte. Als Bischof Clemens August im J a h r e 1941 292

32 Ehrung für den verstorbenen BischofKardinal Clemens August Graf von Galen in d e n bekannten drei großen Predigten seine Stimme erhob, hat er in einer Zeit d e r Lüge Zeugnis abgelegt f ü r die Wahrheit. Gegen die Lehre von einer schrankenlosen Selbstbestimmung des Menschen, von einer Freiheit, die keine Grenzen m e h r anerkennen will, hat er damals gesagt: Der Mensch ist von Gott geschaffen, von Gott geliebt, von ihm getragen. Diese H e r k u n f t ist d e r Adel des Menschen u n d zugleich seine Aufgabe: Er wird w a h r h a f t Mensch, wenn er sich frei u n d treu an Gott bindet und sein Leben auf ihn als höchstes Gut ausrichtet. Wählt der Mensch f ü r sein Leben aber ein geschaffenes Ziel u n d gibt sich ihm ausschließlich hin, so wird er zum Sklaven: Er verliert seine eigentliche W ü r d e ; Verwirrung, Chaos u n d T o d sind die tragischen Folgen. Prophetisch sind die Worte, die Bischof von Galen als K ä m p f e r f ü r die Menschenrechte ausgerufen hat, als die Nationalsozialisten anfingen, Geisteskranke als sogenannte unproduktive Volksgenossen zu verschleppen u n d zu töten. Er sagte damals: Eine Lehre macht sich breit, ,die behauptet, m a n d ü r f e sogenanntes Leben vernichten, also unschuldige Menschen töten, wenn man meint, ihr Leben sei f ü r Volk u n d Staat nichts m e h r wert. Eine furchtbare Lehre, die die E r m o r d u n g Unschuldiger rechtfertigen will, die die gewaltsame T ö t u n g d e r nicht m e h r arbeitsfähigen Invaliden, Krüppel, unheilbar Kranken, Altersschwachen grundsätzlich freigibt... Hier handelt es sich aber u m Menschen, unsere Mitmenschen, unsere B r ü d e r u n d Schwestern... Hast d u , habe ich n u r solange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind? Solange wir von and e r e n als produktiv a n e r k a n n t werden?... Du sollst nicht töten! Dieses Gebot Gottes, des einzigen H e r r n , d e r das Recht hat, über Leben u n d T o d zu befinden, war von A n f a n g an in die Herzen d e r Menschen geschrieben... Gott hat dieses Gebot gegeben, unser Schöpfer u n d einstiger Richter!' (Predigt am 3. August 1941). Diese Worte sollten keineswegs in Geschichtsbüchern u n d Archiven begraben bleiben; sie sind hochaktuell, auch in demokratischen Staaten, in d e n e n gilt, daß das Volk selbst, also die Menschen, gemeinsam ihr Zusammenleben in W ü r d e u n d Freiheit gestalten sollten. Wieder gibt es heute in d e r Gesellschaft starke Kräfte, die das menschliche Leben b e d r o h e n . Euthanasie, Gnadentod aus angeblichem Mitleid, ist e r n e u t ein erschreckend häufig wiederkehrendes Wort und findet ihre neuen irregeleiteten Verteidiger."

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33 200 Jahre Judenschutzbrief Buttenhausen — Der Festvortrag von Paul Sauer bei der Gedenkfeier

Der Leiter des städtischen Archivs der Stadt Stuttgart, Dr. Paul Sauer, der vor langen Jahren bereits durch eine historische Darstellung der jüdischen Gemeinden und der jüdischen Familien in Württemberg bekannt wurde, hat jetzt bei der Gedenkfeier an das 200jährige Jubiläum des Erlasses des Judenschutzbriefes durch die Adelsfamilie von Liebenstein in Buttenhausen den Festvortrag gehalten: „Im 18. Jahrhundert lebten Juden in vielen kleineren oder größeren ländlichen Siedlungen, weit über unser heutiges Bundesland Baden-Württemberg verstreut. Ein kümmerliches Dasein fristend, waren sie gänzlich von den geistlichen und weltlichen Herrschaften abhängig, die ihnen zumeist unter recht demütigenden, ausbeuterischen Bedingungen die Niederlassung in ihren Territorien gewährt hatten. Ungeachtet der Schutzbriefe, die ihnen die jeweiligen Landesherren ausgestellt hatten, waren sie keinen Tag sicher, eines erheblichen Teils ihrer geringen Habe beraubt und vertrieben zu werden. Sie waren dann mit Weib und Kind der Heimatlosigkeit preisgegeben und mußten in zermürbender Geduld darauf harren, daß eine andere Herrschaft ihren .flehentlichen Bitten', wie wir lesen können, stattgab und sie zu häufig noch ungünstigeren Bedingungen bei sich aufnahm. Nicht wenigen von ihnen, so vor allem Angehörigen der jungen Generation, blieben unterdessen selbst solche Niederlassungsmöglichkeiten versagt. Kein Wunder also, wenn Scharen von Betteljungen durch die Lande zogen und zusammen mit anderen Nichtseßhaften zur Landplage wurden. Das Bild des Ahasversus, des ewig wandernden, des heimatlosen Juden hat in dem bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in eine Unzahl von Territorien aufgesplitterten deutschen Südwesten einen sehr realen Hintergrund. Im Mittelalter hatten Juden in den größeren Städten, namentlich in den Reichsstädten, eine bedeutsame Rolle gespielt. Ihnen war es mit zu verdanken gewesen, daß dort Handel und Gewerbe einen mächtigen Aufschwung genommen hatten und weitausstrahlende Mittelpunkte wirtschaftlichen Lebens entstanden waren, in denen ein selbstbewußtes Bürgertum den Ton angab. Freilich, der Wohlstand, zu dem sie es vor allem im Großhandel und im Geldgeschäft gebracht hatten, wurde ihnen nicht selten zum Verhängnis. Ausgelöst durch religiösen Fanatismus und soziale Mißgunst, brachen immer wieder blutige Verfolgungen über sie herein. Blühenden jüdischen Gemeinden wurde durch Feuer und Schwert ein schreckliches Ende bereitet. Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ebbte die Mordlust allmählich ab. Haß und wirtschaftlicher Konkurrenzneid gegen die so unbequemen Fremdlinge, wie er vor allem die vielerorts bestimmenden politischen Einfluß erlangenden städtischen Zünfte beherrschte, blieben. Die Devise hieß jetzt: Ausweisung, Vertreibung. Kaum noch eine Reichsstadt duldete Juden in ihren Mauern. Zahlreiche geistliche und weltliche Herr294

33 200Jahre Judenschutzbrief Buttenhausen — Festvortrag von Paul Sauer

Schäften folgten ihrem Beispiel. So hatten die Juden, diese .nagenden Würm', gegen Ende des 15. Jahrhunderts auch die zum Herzogtum aufsteigende Grafschaft Württemberg zu verlassen. Allerdings für nicht wenige Territorialherren waren sie nach wie vor unentbehrlich. Die Abgaben, die von ihnen zu erlangen waren, vermochten das eine oder andere schlimme Loch in den herrschaftlichen Kassen zu stopfen. Eine kräftige Besteuerung der rechtlosen religiösen Minderheit zahlte sich jedenfalls für geldbedürftige Fürsten, Grafen und Herren aus. Es war deshalb gemeinhin nicht menschliches Mitgefühl oder gar christliche Nächstenliebe, sondern kalte Berechnung, egozentrisches Gewinnstreben, wenn Territorialherren einer beschränkten Zahl von Juden die Niederlassung in ihrem Gebiet erlaubten. Neben diesen persönlichen finanziellen Vorteilen hatte für sie allenfalls noch der Gesichtspunkt Gewicht, die Handelstätigkeit der jüdischen Ansiedler könnte der wirtschaftlichen Entwicklung des Territoriums förderlich sein. Den in Schutz aufgenommenen, d. h. einer gewöhnlich harten, entwürdigenden Aufsicht Unterworfenen, stellten sie Häuser, in denen diese wohnen konnten, oder Bauplätze für Behausungen zur Verfügung, ebenso Areale für die Erstellung von Synagogen und Frauenbädern sowie für die Anlage von Friedhöfen. Für alles andere hatten die verachteten und von der christlichen Bevölkerung mit wachem Argwohn beobachteten Fremdlinge selbst zu sorgen. Erwartet von ihnen wurde vor allem, daß sie die ihnen auferlegten Schutzgelder und die vielfältigen anderen Abgaben ordnungsgemäß entrichteten. Schutz und Niederlassung waren im Wortsinn teuer erkauft. Die Herrschaft übernahm keinerlei sie belastende Verpflichtungen, die in Schutz Aufgenommenen hingegen ein Übermaß von solchen. Die jüdischen Ansiedler mußten sich ,unärgerlich' verhalten, sie hatten still und eingezogen zu leben, d. h. ihre Religion, ihre Sitten und Gebräuche durften bei der christlichen Bevölkerung keinen Anstoß erregen, die christlichen Sonn- und Feiertagsheiligung, die kirchlich reglementierten Lebensgewohnheiten nicht stören, die religiösen Gefühle der evangelischen oder katholischen Untertanen nicht verletzen. Sie mußten sehen, wie sie zu Geld kamen, damit sie ihre finanziellen Verbindlichkeiten gegenüber der Herrschaft erfüllen konnten. Eine Dauerniederlassung war ihnen keinewegs garantiert. Der Schutzherr konnte den Schutzbrief annullieren, sie ausweisen, zumindest aber ihre Abgaben entsprechend seinen Vorstellungen heraufsetzen. Eine brisante Situation bedeutete für sie nicht selten der Tod des Schutzherrn. Der Nachfolger fühlte sich an die Bestimmungen des Schutzbriefs des Vaters oder Rechtsvorgängers nicht gebunden, und war es im rechtlichen Sinn meist auch nicht. Er konnte daher die Bestätigung des Schutzbriefs verweigern oder aber eine Erneuerung von finanziellen Leistungen abhängig machen, die aufzubringen die jüdischen Hintersassen außerstande waren. Im Ermessen des Schutzherrn lag es auch, die Handelstätigkeit seiner Schützlinge einzuschränken, so ihnen den einigermaßen attraktiven Vieh- und Pferdehandel zu verbieten und ihnen lediglich noch den Hausier- oder Schacherhandel mit bestimmten Waren zu gestatten. Grund und Boden zu erwerben, Landwirtschaft zu betreiben, ein Handwerk auszuüben oder eine Universität zu besuchen, um die Qualifikation für einen akademischen Be295

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

ruf zu erlangen, waren ihnen ohnehin überall verwehrt. Der Schutzherr vermochte aber auch ihre religiöse Autonomie in unerträglicher Weise einzuengen, ihnen Vorschriften zu machen, die sie in schwere Gewissenskonflikte brachte. Da die christlichen Einwohner auf ein stärkeres Anwachsen der jüdischen Familien aufs empfindlichste reagierten, legte die Herrschaft eine Höchstzahl jüdischer Haushalte fest, die in dem betreffenden Ort vorhanden sein durften. Die nachwachsenden Kinder hatten nur zu einem geringen Teil Aussicht, in den Schutz nachrücken zu können. Viele mußten den Ort ihrer Kindheit und Jugend verlassen, sich um einen anderen Schutzherrn bemühen oder aber, soweit dies nicht gelang, das bittere Los der Heimatlosigkeit, wie wir gehört haben, auf sich nehmen. Aufs ganze gesehen, triumphierte die Willkür. In einer Herrschaft ging es den Juden erträglich, der Territorialherr mischte sich kaum in ihre inneren Angelegenheiten, war bestrebt, sie ähnlich wie die christlichen Untertanen nach Recht und Gesetz zu behandeln, auch begnügte er sich mit einem noch vertretbaren Maß von Abgaben. In anderen Herrschaften drangsalierte man sie in übelster Weise, holte finanziell aus ihnen heraus, was sich bloß irgendwie herausholen ließ, und war mit der Drohung, sie beim geringsten Verstoß gegen die obrigkeitlichen Anordnungen und Forderungen aus dem Territorium auszuweisen, stets bei der Hand. Bis ins 18. Jahrhundert hinein blieben die Verhältnisse im allgemeinen unverändert. In manchen Judenorten herrschte trotz aller Armseligkeit viel Freizügigkeit und ein verhältnismäßig reges geistigreligiöses Leben, in anderen gab es nur mühselige Plackerei, fortgesetzte entwürdigende Bedrückung und Einschüchterung. Nicht alle Juden waren arm. Es gab eine Reihe Privilegierter: Männer, die es als Geldgeber absolutistischer Fürsten, als deren Finanzberater und im Krieg als deren Heereslieferanten zu Ansehen, Einfluß und Reichtum gebracht hatten. Sie die Hofjuden oder Hoffaktoren, lieferten mit ihrem mitunter geradezu spektakulären Aufstieg - der jähe Fall fehlte gleichfalls nicht - den Beweis, daß Juden Hervorragendes leisten konnten, falls sie die Möglichkeit dazu erhielten. Mancher Reichsfürst oder Heerführer im Zeitalter des Barock hätte sich ohne den jüdischen Finanzmann, Unternehmer oder Heereslieferanten im Rücken sehr schwer getan, wäre mit den wirtschaftlichen Problemen seines Landes oder auch mit den politischen Herausforderungen nicht zurecht gekommen. Freilich, auch die Hoffaktoren waren rechtlos, völlig von der Gunst ihrer Herren abhängig. Dennoch verstanden sie es, aus Unbildung und Rückständigkeit herauszutreten und sich einen dem Adel und dem gehobenen Bürgertum vergleichbaren Lebensstil zu eigen zu machen. Sie vermittelten dadurch aber auch ihren in Armut und bedrückender Unbildung dahinlebenden Glaubensgenossen Hoffnung auf eine Wende zum Besseren. Etliche von ihnen nutzten ihren Einfluß bewußt, um das schwere Schicksal des Schutzjudentums zu erleichtern, die schlimmsten Demütigungen von seinen Schultern zu nehmen. Das Zeitalter der Aufklärung kam solchen Bemühungen entgegen. Menschenrechte und Menschenwürde erlangten einen höheren Stellenwert als bisher. Fürsten, Grafen und Reichsritter begannen, ihre Untertanen humaner zu behandeln, gestanden ihnen einen größeren Freiraum zu. In einzelnen Territorien profitierten auch 296

33 200Jahre JudenschutzbriefButtenhausen — Festvortrag von Paul Sauer die Juden von dem humanen Zug der Zeit. Ihre sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse verbesserten sich, obschon nur in bescheidenem Maß. Bei Neuansiedlungen zeigten sich die Herrschaften großzügiger, entgegenkommender, menschlich einfühlsamer. Ein aufgeklärter Vertreter seines Standes war ohne Zweifel Philipp Friedrich Freiherr von Liebenstein, der Herr des reichsunmittelbaren Ritterguts Jebenhausen bei Göppingen. Er entstammte einem heute noch blühenden Adelsgeschlecht, das seinen namengebenden Stammsitz in der Nähe von Neckarwestheim bei Besigheim zwischen 1673 und 1679 an Württemberg veräußert hatte und das seit 1467 im Besitz einer, wenn auch nicht sehr ausgedehnten, so doch ansehnlichen reichsritterschaftlichen Herrschaft mit dem bereits erwähnten Zentrumjebenhausen war. Wie andere seiner Standesgenossen war der Freiherr von dem Bestreben geleitet, die wirtschaftlichen Verhältnisse seines Zwergterritoriums zu verbessern und auf solche Weise auch die eigenen Einkünfte zu steigern. Daß ihm hierbei Juden von Nutzen sein konnten, wußte er. Als Händler belebten sie die Wirtschaft: Sie sorgten für den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse und brachten Waren in die Herrschaft, die dort sonst nicht zu bekommen waren. Ihnen bei ihren Handelsaktivitäten einen möglichst weiten Spielraum zu lassen und sie auch sonst nicht zu bedrücken, erschien Philipp Friedrich von Liebenstein politisch klug und sinnvoll. Er teilte auch nicht die damals schon vorherrschende mißtrauisch-feindselige Einstellung gegen die kleine nichtchristliche Minderheit, die, ungeachtet aller Benachteiligungen und Diskriminierungen, treu an ihrer Religion festhielt. Im Gegenteil, er brachte den bedrückten Fremdlingen Vertrauen entgegen, war bereit, ihnen in seinem Ländchen eine faire Chance für den Aufbau einer Siedlung zu geben, in der sie ungehindert ihre religiösen Sitten und Gebräuche pflegen konnten. In Verbindung kam er mit Elias Gutmann aus Illereichen bei Memmingen, einem in geordneten Verhältnissen lebenden, über Verhandlungsgeschick verfügenden, charaktervollen jüdischen Handelsmann. Gutmann, wie andere seiner in Illereichen ansässigen Glaubensgenossen durch die restriktiven Maßnahmen der Reichsstadt Memmingen stark behindert, suchte eine Herrschaft, die ihm größere wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten einräumte. Beim Freiherrn von Liebenstein fand er für seine Anliegen ein offenes Ohr. Er gab diesem aller Wahrscheinlichkeit nach auch Kenntnis von dem Schutzbrief, den Maximilian Wilhelm Graf von Limburg-Styrum im Jahr 1719 den in Illereichen sich niederlassenden Juden erteilt hatte. Dieser Schutzbrief war in seinen Bestimmungen recht liberal, gestand den jüdischen Gemeinden in ihren religiösen Angelegenheiten eine weitgehende Autonomie zu und gewährte ihren Mitgliedern in Handel und Wandel günstige Rahmenbedingungen. Seit der Abfassung des IIlereichener Rechtsdokuments waren mehr als fünfzig Jahre ins Land gegangen. Inzwischen waren für zahlreiche andere jüdische Siedlungen neue Schutzbriefe ausgestellt worden. Nur ein Teil von ihnen enthielt ähnlich günstige oder auch günstigere Bestimmungen wie der für Illereichen. Andere Schutzbriefe blieben althergebrachten Denkschemata verhaftet: demütigend für die in Schutz genommenen, ihre Notlage schamlos ausbeutend, damit aber auch unwürdig f ü r die 297

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Aussteller, denen es allein um die rücksichtslose Ausnutzung wirtschaftlicher Vorteile ging. Gewiß, auch für den Freiherrn von Liebenstein standen bei dem Schutzbrief, den er am 7. Juli 1777 für Jebenhausen erteilte, gleichfalls wirtschaftliche Interessen im Vordergrund. Aber diese verdeckten ihm nicht den Blick für die Menschen, die sich in seinen Schutz und Schirm begeben sollten. Bedeutsam war zunächst, daß der Schutzbrief die Form des Vertrags hatte. Elias Gutmann und acht andere Repräsentanten der Judenschaft' traten als gleichberechtigte Vertragspartner auf. Im Schutzbrief sind ihre Namen aufgeführt. Der Freiherr haftete mit seiner Kavaliersehre und die Judenschaft mit ihrem Eid für die Einhaltung der in dem gewichtigen Rechtsdokument festgelegten Bestimmungen. Bei den meisten Schutzbriefen des 18. Jahrhunderts handelt es sich um eine einseitige Willenserklärung des Schutzherrn. Er verfügte, wie und zu welchen Bedingungen die um Schutz und Niederlassung demütigst Bittenden in seinem Territorium aufgenommen und geduldet werden sollten. Diese selbst hatten sich für die ihnen erwiesene herrschaftliche Wohltat, auch wenn es sich um eine Form von Ausbeutung handelte, dankbar zu zeigen. Mindestens ebenso bedeutsam wie die Vertragsform war, daß der Jebenhäuser Schutzbrief den Juden, unbeschadet eines Herrschaftswechsels, ein dauerndes Niederlassungsrecht zusicherte. Das ihnen verbriefte Niederlassungsrecht sollte lediglich dann erlöschen, wenn im .Römischen Reich' keine Juden mehr geduldet würden. Mit einer solchen Möglichkeit war indes in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Im Gegensatz zu den Bewohnern vieler anderer Judensiedlungen brauchten die Jebenhäuser nicht zu befürchten, daß sie eines Tages, etwa beim Tod des Schutzherrn, beim Verkauf der Herrschaft oder bei ihrem im Erbweg erfolgten Übergang an eine andere Adelsfamilie, ausgewiesen oder vertrieben wurden und all das, was sie, ihre Eltern und Vorfahren aufgebaut, geschaffen oder erarbeitet hatten, der Habgier eines ihnen mißgünstig gesinnten Herrn überlassen mußten. Der Schutzbrief erkannte ihnen eine Art Vorform des erblichen Untertanenstatus zu. Ausdrücklich verpflichtete der Freiherr von Liebenstein auch sich, seine Erben und Besitznachfolger, für peinliche, d. h. kriminelle und bürgerliche Verbrechen nur den bzw. die tatsächlich Schuldigen entgelten zu lassen, keinesfalls aber solche Verbrechen zum Anlaß zu nehmen, um die 20 Familien, die künftig den Liebensteinschen Schutz genossen, insgesamt ihres Niederlassungsrechts zu berauben. Die Zahl der Jebenhäuser Schutzjudenfamilien wollte er auf 20 beschränken, doch schloß er für die Zukunft nicht aus, weitere Familien aufzunehmen, allerdings hatte dies mit Billigung der ortsansässigen Juden zu geschehen. Die guten Erfahrungen, die Friedrich Freiherr von Liebenstein mit den in Jebenhausen angesiedelten Juden machte, bewogen ihn, genau zehn Jahre später auch hier in Buttenhausen jüdischen Menschen die Niederlassung zu ermöglichen. Buttenhausen hatte bis zum Ende des alten Deutschen, des Römischen Reichs, eine ungleich verworrenere Geschichte als der reichsritterschaftliche Ort Jebenhausen, der, wie wir gehört haben, mehrere Jahrhunderte lang Mittelpunkt der Herrschaft der Freiherren von Liebenstein gewesen war. Das 1220 erstmals urkund298

33 200Jahre JudenschutzbriefButtenhausen — Festvortrag von Paul Saiter lieh genannte kleine Pfarrdorf im Lautertal gehörte 1365 zum Besitz der Herren von Freyberg, 1384 hatten es die Herren von Gundelfingen inne, von denen es 1409 an die Herren von Stein von Klingenstein kam. Im Jahr 1569 brachte es Eberhard von Gemmingen-Rappenau an sich. Die Gemmingen, deren Besitzungen am mittleren Neckar im näheren und weiteren Umkreis von Heilbronn konzentriert waren, empfanden das entlegene und wirtschaftlich wenig ergiebige Buttenhausen als keine sonderlich glückliche Erwerbung, sie nutzten 1782 die sich bietende günstige Gelegenheit, die kleine reichsritterschaftliche Herrschaft auf der Münsinger Alb gegen Besitzrechte in der Heilbronner Gegend, über die Catharina Friederika, die Frau Philipp Friedrichs Freiherrn von Liebenstein, eine geborene Freiin von Schmidberg, verfügte, zu vertauschen. Obwohl Jebenhausen und Buttenhausen räumlich voneinander getrennt waren, bemühte sich Philipp Friedrich von Liebenstein, die neuerworbene Besitzung nach den bewährten Grundsätzen seiner bisherigen Herrschaft zu verwalten und zu entwickeln. Die bäuerliche Bevölkerung des Albdörfchens lebte in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen. Die von ihr bewirtschafteten und mit hohen Abgaben belasteten Gütlein hatte sie als Fallehen inne, d. h. diese waren den Landwirten jeweils nur auf Lebenszeit verliehen. Über jede Besitzveränderung entschied die Herrschaft. Sie konnte durch den Tod des Inhabers verwaiste Grundstücke zu bestimmten Bedingungen dem nächsten Erben übertragen, mußte es aber nicht. Erst 1787 wandelte der Freiherr von Liebenstein die Fallehen in Erblehen um. Für die Bauern in Buttenhausen bedeutete dies eine wesentlich rechtliche und wirtschaftliche Besserstellung. Sie konnten nunmehr den von ihnen bewirtschafteten Grundbesitz ohne Genehmigung der Herrschaft erwerben und damit wohl auch teilen, vertauschen oder veräußern. Ihr Interesse an Grund und Boden wuchs, wußten sie doch, daß die von ihnen investierte Arbeit ihren Kindern und Erben zugute kam. Freilich, die drückenden Abgaben blieben und mit ihnen bei den geringen Ernteerträgen die unerfreulichen Lebensverhältnisse der Einwohner. Eine wirtschaftliche Hebung des Orts versprach sich Philipp Friedrich von Liebenstein von der Ansiedlung einer größeren Zahl jüdischer Familien. In Buttenhausen hatten sich 1755 immer wieder Juden aufgehalten, und zumindest zeitweise hatten hier auch einige gewohnt. 1782 erteilte Moses Binzwanger hiesigen jüdischen Kindern Privatunterricht. Doch es scheinen von 1787 stets nur einzelne jüdische Familien in unserem Dorf gelebt zu haben. Philipp Friedrich von Liebenstein wünschte aber eine größere Judensiedlung. Wie schon in Jebenhausen stand ihm auch hier bei der Realisierung seines Vorhabens Elias Gutmann beratend zur Seite. Am 7. Juli 1787, zehn Jahre nach der Ausstellung des Jebenhäuser Schutzbriefs und heute auf den Tag genau vor zweihundert Jahren, legte der Freiherr den Grundstein zur Judengemeinde Buttenhausen. Das Rechtsdokument, durch das er diese Gründung aktenkundig machte, war wiederum ein Schutzbrief. Der hier angesprochene Buttenhäuser Schutzbrief stimmte in allen wesentlichen Punkten mit dem Jebenhäuser überein. Er war, sieht man von den etwas höheren Abgaben und einigen veränderten oder zusätzlichen Bestimmungen ab, eine Ko299

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

pie des älteren. Auch diesmal hatte Philipp Friedrich von Liebenstein die Form des Vertrages gewählt. Da der Schutzbrief vom 7. Juli 1787 den Anlaß für unsere heutige Gedenkfeier bildet, wollen wir ihn näher in Augenschein nehmen. Hierbei wiederhole ich nicht, was ich schon beim Jebenhäuser Schutzbrief an allgemeinen Feststellungen getroffen habe. Die Zahl der in den Schutz aufzunehmenden Familien begrenzte die Herrschaft auf 25, schloß indes nicht aus, zu gegebener Zeit weiteren Familien die Ansiedlung zu ermöglichen, allerdings im Einvernehmen mit den ortsansässigen Juden. Die zunächst aufgenommenen 25 Familien — fünf mehr als in Jebenhausen — brauchten keine Aufnahmegebühren zu entrichten. Später jedoch hatte der Sohn eines Buttenhäuser Juden, der in den Schutz aufgenommen wurde, 15 fl, ein fremder Jude 25 fl zu berappen. Die Juden durften eigene Häuser bauen, den Platz dafür stellte die Herrschaft zur Verfügung. Von Wachdiensten, Soldateneinquartierungen, von Fronen und Vorspanndiensten waren die Siedler frei. Lediglich zur Entlohnung des Nachtwächters hatten sie ihren Teil beizutragen. Das mit 12flje Familie und Jahr angesetzte Schutzgeld entsprach dem in Jebenhausen üblichen. Witwen zahlten übrigens die Hälfte. Über 70jährige Familienoberhäupter waren frei. Der Freiherr von Liebenstein betrachtete es als eine Selbstverständlichkeit, daß die Siedler ,ihre Statuta, Zeremonien und Gebräuch nach ihrem Gesetz und Religion ohngehindert exerzieren' konnten und durften. Für ihr Laubhütten- und Pfingstfest stellte er ihnen das Laub, wie es in dem Schutzbrief hieß, aus seinen Waldungen unentgeltlich zur Verfügung. Er erlaubte ihnen, während des Sabbats, an dem sie keine Arbeit verrichten durften, christliche Sabbatmägde zu beschäftigen, Drähte um ihre Häuser und ihre Siedlung zu ziehen, damit die Sabbatruhe nicht durch das Eindringen von Nichtjuden gestört wurde, ihre Feste öffentlich zu feiern, eine Synagoge zu errichten sowie ihre Toten ,nach ihrer Gewohnheit und Gesetzgebräuchen' zu begraben. Wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung der Niederlassung war, daß die hier ansässigen Juden jede Art von Handel treiben durften, den Salzhandel allein ausgenommen. Sie waren also nicht auf den Hausierhandel, das Schachern, beschränkt, sondern durften auch mit Vieh, Pferden und Getreide handeln. Sobald die Zahl der jüdischen Haushalte auf 25 angewachsen war, konnte die Synagogengemeinde eine eigene Gastwirtschaft eröffnen; sie führte den Schild zum König David. Der Wirt, der für den Wein-, Bier- und Branntweinausschank zu demselben Umgeldsatz wie der christliche Gastgeber veranlagt war, durfte lediglich einheimische und fremde Juden, keinesfalls aber Christen verköstigen und beherbergen. Ein Verstoß gegen diese Anordnung wurde mit der recht empfindlichen Geldstrafe von 10 fl geahndet. Die Juden erhielten weiterhin die Erlaubnis, Vieh zu Schächten, d. h. nach ihren rituellen Vorschriften zu schlachten, und das Fleisch pfund- oder viertelweise zu verkaufen. Die Herrschaft beanspruchte von jedem geschächteten Stück Vieh die Zunge oder 15 Kreuzer. Außerdem war der amtlichen Fleischbeschau in jedem Fall anzuzeigen, wann ein Tier geschlachtet wurde, damit sich diese davon überzeugen konnte, daß das zum Verkauf und Verzehr kommende Fleisch den gesundheitlichen An300

33 200Jahre Judenschutzbrief Buttenhausen — Festvortrag von Paul Sauer

forderungen entsprach. An der Weidenutzung und am Wasser hatten die jüdischen Einwohner in gleicher Weise wie die christlichen Anteil. Dagegen blieben sie von den Holzgaben, die den christlichen Bürgern zustanden, und von einer Nutzung des auf der Markung wachsenden Wildobstes ausgeschlossen. Im Hinblick auf ihre Handelstätigkeit, auf die Einhaltung des Sabbats und auf die von den christlichen Feiertagen abweichenden jüdischen Feste waren sie von Personaldiensten befreit, sie mußten dafür aber je Haushalt und Jahr 1 fl (eine Witwe die Hälfte) an die Kasse des Bürgermeisteramts zahlen. Streng untersagte ihnen der Schutzbrief, sich bei rechtlichen Auseinandersetzungen mit ihrem Schutzherrn um Hilfe an eine andere Herrschaft zu wenden. Doch gestand er ihnen für den Fall, daß die ihnen schutzbrieflich zugesicherten Privilegien beschnitten oder verkümmert werden sollten, zu, das Direktorium des Ritterkantons Donau um gütliche Vermittlung zu ersuchen und, wenn eine solche Vermittlung zu keinem befriedigenden Ergebnis führte, wie alle anderen Untertanen die .Kaiserliche Majestät' und eines der höchsten Reichsgerichte anzurufen. Dieser Weg konnte auch beschritten werden, wenn sich ein einzelner Jude durch die Schutzherrschaft in seinen Rechten verletzt glaubte. Bei Streitigkeiten in bürgerlichen Rechtsangelegenheiten zwischen Christen und Juden oder auch von Juden untereinander war zunächst der herrschaftliche Beamte zuständig. Vermochte dieser den Rechtsstreit nicht beizulegen, mußte die Angelegenheit schriftlich der Herrschaft vorgetragen werden. Befriedigte auch deren Entscheidung nicht, stand Christen wie Juden die Appellation an eines der beiden Reichsgerichte frei. Die Herrschaft wies den jüdischen Ansiedlern einen Begräbnisplatz von einem halben Morgen zu, erhob dafür aber eine jeweils an Georgii, am 23. April, fällige jährliche Gebühr von 6 fl. Für die Beerdigung einer verheirateten Person hatte sie zudem Anspruch auf 2 fl, für die einer unverheirateten auf 1 fl. Für mutwillige oder vorsätzliche Grabschändungen, für das Zerschlagen von Grabsteinen und für andere Freveltaten mehr konnten sie angemessene Satisfaktion von den Übeltätern, gleichgültig ob Christen oder Juden, verlangen. Auch die Herrschaft stand nicht an, solche Vergehen strafrechtlich in derselben Weise zu sühnen, wie wenn sie sich gegen einen christlichen Friedhof gerichtet hätten. Ihre Rabbiner, Vorsänger (Vorsinger) und Schulmeister, ebenso ihren Vorsteher oder Barnas wählten die Juden nach freiem Ermessen. Der Vorsteher brauchte kein Schutzgeld zu entrichten. Seine Familie wurde nicht in die Zahl der 25 Haushalte eingerechnet, die vorläufig den herrschaftlichen Schutz in Buttenhausen genossen. Zu den Obliegenheiten des Vorstehers gehörte es, in der Synagoge oder Schule das übliche Gebet für die Herrschaft zu sprechen (im Schutzbrief heißt es ,das gewöhnliche Gebet'). Er schlichtete Streitigkeiten unter den Juden, soweit diese nicht die Gerichtsbarkeit der Herrschaft berührten, und ahndete kleinere Vergehen von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde. Hierbei konnte er Geldstrafen bis zu 5 fl verhängen. Die eine Hälfte der Strafgelder stand der Herrschaft zu, die andere Hälfte floß in den Armenkasten der Synagogengemeinde. Bagatellstrafen, die nicht mit Geld, sondern etwa mit einem bestimmten Quantum Wachs zu begleichen waren, kamen der Synagoge oder Schule zugute. 301

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit In schwierigeren bürgerlichen Rechtsfällen von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, so bei Erbstreitigkeiten, konnte der Vertreter den Rat eines auswärtigen .gelehrten und gesetzverständigen Rabbiners' einholen. Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, beispielsweise das Abschließen von Heiratsverträgen, die D u r c h f ü h r u n g von Erbteilungen, das Abfassen von rechtsgültigen Testamenten, erledigte die jüdische Gemeinde weitgehend in eigener Zuständigkeit. Die Herrschaft verpflichtete sich, ihren Schutzjuden gegenüber auswärtigen Gerichten den reichsgesetzmäßigen Rechtsbeistand zu leisten. Keinerlei Unterstützung hatten diese jedoch zu erwarten, wenn sie sich Verbrechen zuschulden kommen ließen, sich in unerlaubte Händel verstrickten, durch betrügerische Machenschaften das Ansehen der Buttenhäuser Judenschaft schädigten. Mit strengen Strafen waren jüdische Einwohner bedroht, die sich in Buttenhausen auf betrügerisches Geldwechseln einließen. Kam es zu einem solchen Verbrechen außerhalb des Liebensteinschen Territoriums, so wurde den Schuldigen der herrschaftliche Schutz aberkannt, und sie mußten umgehend den hiesigen Ort räumen. Beim Wegzug aus Buttenhausen erhob die Herrschaft von den J u d e n ähnlich wie von den christlichen Untertanen eine Abzugsgebühr von 30 bzw. 15 fl, je nachdem, ob es sich u m einen Erwachsenen oder um einen sich nach auswärts verheirateten jungen Menschen handelte. Ausgenommen war lediglich die Übersiedlung nach Jebenhausen. Zwischen diesem Dorf u n d Buttenhausen galt das Recht des .freien Zugs'. Wenn es nicht gerade während der Weihnachts- und Passionszeit oder an sonstigen christlichen Festtagen und an Sonntagen war, konnten die J u d e n jederzeit Spielleute engagieren und Feste feiern. Selbstverständlich hatten sie sich aber auch während der Trauerzeiten, die beim Ableben des Kaisers oder eines Mitglieds der kaiserlichen Familie, ebenso bei Todesfällen in der Freiherrlichen Liebensteinschen Familie obrigkeitlich angeordnet waren, jeder öffentlichen Lustbarkeit zu enthalten. Der Schutzbrief, den der Judenschultheiß, der Vorsteher, in jedem Jahr einmal den Mitgliedern seiner Gemeinde vorzulesen hatte, wobei auch alle jungen J u d e n , die das 13. Lebensjahr erreicht hatten, anwesend sein mußten, wurde von Philipp Friedrich Freiherr von Liebenstein und seiner Frau Catharina Friederika, der eigentlichen Eigentümerin des Ritterguts Buttenhausen, unterschrieben und besiegelt. In gleicher Weise hatten den Brief auch die bereits ortsansässigen wie die künftig in den Schutz aufzunehmenden Juden zu unterzeichnen, zumal er nach d e m Willen der Herrschaft ,zu einem beständig unabänderlichen und unwiderruflichen Gesetz dienen' sollte. Der Jebenhäuser und der Buttenhäuser Schutzbrief sicherten den J u d e n eine uneingeschränkte religiöse Autonomie zu; sie gehörten in der 2. Hälfte des 18. J a h r h u n d e r t s in Südwestdeutschland zu den liberalsten und fortschrittlichsten Rechtsdokumenten ihrer Art. Das Judentum wurde durch sie als eine eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt. Jede diskriminierende Bestimmung oder Formulierung fehlte. Beide Schutzbriefe markierten das Ende einer langen, schmerzlichen Entwicklung, sie atmeten den Geist der Aufklärung, das T o r zur 302

33 200Jahre JudenschutzbriefButtenhausen — Festvortrag von Paul Sauer beginnenden Emanzipation stießen sie aber noch nicht auf, wie dies das Toleranzpatent KaiserJosefs II. f ü r die J u d e n der österreichischen Stammlande bereits 1781 getan hatte. Die J u d e n blieben von den Christen streng abgesondert. Buttenhausen zerfiel jetzt in zwei Gemeinden, eine christliche u n d eine jüdische. Beid e waren siedlungsmäßig voneinander getrennt: links d e r Lauter die christliche, rechts des Flüßchens die jüdische. Doch auch sonst w u r d e peinlich genau auf strenge T r e n n u n g geachtet. Im Wirtschaftsleben blieben die J u d e n im Ghetto des Händlerdaseins eingezwängt, G r u n d u n d Boden zu erwerben, Landwirtschaft zu betreiben o d e r ein Handwerk auszuüben, waren ihnen weiterhin verwehrt. Sie d u r f t e n zwar mit Christen Handelsgeschäfte abschließen, aber sie sollten möglichst nicht mit ihnen in n ä h e r e menschlich-persönliche Beziehungen treten. Die unsichtbaren, aber sehr realen Mauern d e r Fremdheit, des Mißtrauens u n d der Isolation umgaben auch die jüdische Gemeinde Buttenhausen. Die jüdische Gaststätte zum König David mußte, wie wir gehört haben, Christen verschlossen bleiben, u n d umgekehrt sorgten die jüdischen rituellen Speisegesetze d a f ü r , d a ß christliche Gasthäuser J u d e n versperrt waren. Die großzügigeren Niederlassungsbedingungen — keinerlei A u f n a h m e o b u lus f ü r die zunächst zuziehenden 25 bzw. 26 Familien, kein Nachweis ü b e r den Besitz eines Mindestvermögens, wie dies anderwärts noch vielfach üblich war wirkten einladend auf gut beleumundete, aber nicht eben reiche J u d e n . Bald besaß Buttenhausen eine ansehnliche jüdische Gemeinde. Die Siedler kamen aus zahlreichen J u d e n g e m e i n d e n im süddeutschen Raum: u. a. aus Laupheim, Hechingen, Wankheim bei Tübingen, Illereichen, Ichenhausen bei Günzburg, Fellheim bei Memmingen, H o h e n e m s in Vorarlberg, Bechhofen bei Ansbach, Rexingen bie Horb, Worblingen bei Konstanz, Steinhart bei Oettingen im Ries. In den ersten J a h r z e h n t e n lebten die Buttenhäuser J u d e n in großer Armut. Philipp Friedrich von Liebenstein war bei einem Besuch des Dorfs über d e n j a m m e r würdigen jüdischen Betsaal so entsetzt, daß er u m g e h e n d ein Darlehen zum Bau einer Synagoge bewilligte. Ein W u n d e r war die herrschende A r m u t nicht - den christlichen U n t e r t a n e n ging es nicht wesentlich besser. — Die a n die Herrschaft u n d an die Ortsgemeinde zu entrichtenden Abgaben, die Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben wie d e r Bau der Synagoge u n d des Frauenbads sowie die Anlage u n d die Unterhaltung des Friedhofs stellten an die einzelnen Jud e n h o h e A n f o r d e r u n g e n . Hinzu kam, d a ß sie bei ihrer Handelstätigkeit, die sich vor allem auf die angrenzenden württembergischen Gebiete erstreckte, durch Leibzoll und Geleitgeld zusätzlich belastet wurden, zudem manche Schikanen u n d Behinderungen in Kauf n e h m e n mußten. Die Verhältnisse begannen sich erst zu bessern, als d e r ritterschaftliche O r t Buttenhausen Ende 1805 u n t e r württembergische Landeshoheit kam. Im Lauf d e r folgenden J a h r e fielen Leibzoll u n d Geleitgeld weg, das Schutzgeld, das n u n m e h r an d e n württembergischen Staat a b z u f ü h r e n war, w u r d e u m zwei Drittel auf jährlich 4 fl vermindert. J u d e n d u r f t e n jetzt Grundbesitz erwerben, sich in bürgerlichen Gewerben betätigen u n d in die Zünfte eintreten. Das Gesetz vom 1. März 1828 beendete in W ü r t t e m b e r g die Schutzjudenzeit 303

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit endgültig. In mehreren, sich bis 1864 hinziehenden Etappen erlangten die bis zum Ausgang des 18. J a h r h u n d e r t s meist n u r widerwillig geduldeten, wirtschaftlich ausgebeuteten u n d gesellschaftlich isolierten J u d e n die vollen staatsbürgerlichen Rechte. In Buttenhausen war der Graben, d e n die J u d e n von ihrer Ansiedlung 1787 bis zur Emanzipation überbrücken bzw. überspringen mußten, weit weniger breit u n d tief als in einem Großteil d e r a n d e r e n jüdischen Landgemeinden. Der Schutzbrief des aufgeklärten, menschenfreundlichen Freiherrn von Liebenstein hatte ihnen schon eine gesicherte Niederlassung sowie beschränkte Untertanenrechte gewährt. In religiöser Hinsicht waren sie u n t e r d e m milden Liebensteinschen Regiment sogar freier. Damals konnten sie i h r e Sitten u n d Gebräuche ungezwungen pflegen, ihre Gottesdienste in den traditionellen Formen feiern, an d e r religiösen Überlieferung d e r Väter nach freiem Ermessen festhalten. Später, als württembergische Untertanen, wurde ihnen wie schon zuvor den beiden großen christlichen Konfessionen das J o c h des Staatskirchentums auferlegt, an d e m sie schwer t r u g e n . In d e n ersten sieben J a h r z e h n t e n des 19. J a h r h u n d e r t s wuchs die Zahl d e r j ü dischen Einwohner Buttenhausens stark an; sie überflügelte zeitweise die christliche Bevölkerung. 1870 lebten in dem kleinen Dorf 442 J u d e n u n d 392 Christen. Mithin gehörten in j e n e m J a h r 53 % der ortsansässigen Bevölkerung d e r Israelitischen Religionsgemeinschaft an. Nach der Bismarckschen Reichsgründung kehrte sich mit z u n e h m e n d e r Industrialisierung und mit d e r Erschließung der städtischen Zentren d u r c h die modernen Verkehrsmittel, so zunächst d u r c h die Eisenbahn, die Entwicklung um. Durch A b w a n d e r u n g in die Städte s c h r u m p f t e n u n m e h r d e r Anteil d e r jüdischen Einwohner an der Gesamtbevölkerung ebenso rasch, wie er zuvor angestiegen war. 1925 bekannten sich noch 22,6 % d e r Einwohnerschaft zum J u d e n t u m , 1933 noch 17,34 % . U m 1800 war Buttenhausen ein recht armselig anmutendes kleines Dorf, dessen Bewohner, gleichgültig ob Christen o d e r J u d e n , Not u n d Sorge bitter a m eigenen Leib e r f u h r e n . Mit fortschreitender Emanzipation wandelte sich das äußere Bild. Das Dorf gewann d u r c h stattliche Neubauten, d e r e n Eigentümer vornehmlich jüdische Bürger waren, ein z u n e h m e n d städtisches Aussehen. Mehr u n d m e h r wurde es zu einem gewerblichen Mittelpunkt f ü r die Umgebung. Der Handel florierte. Um 1912 wurden jährlich drei Vieh- u n d Schweinemärkte abgehalten. Zahlreiche jüdische Bürger gelangten zu großem Wohlstand; sie brachten einen erheblichen Teil d e r Gemeindesteuern auf. Indes waren sich die Reichen ihrer sozialen Verpflichtung in hohem Maß bewußt. Nicht wenige von ihnen wurden zu Wohltätern ihres Heimatorts. Besonders zu n e n n e n ist hier d e r M ü n c h n e r Kommerzienrat Lehmann Bernheimer. Er stiftete 1903 eine vierklassige Realschule u n d stellte 110 000 Mark, damals eine beträchtliche Geldsumme, als Grundstock f ü r die Lehrerbesoldung zur V e r f ü g u n g . Die Schule sollten nach d e m Willen des Stifters Buttenhäuser Schulkinder o h n e Unterschied d e r Konfession unentgeltlich besuchen. Leider vernichtete die Inflation von 1923 das Stiftungskapital. Die f ü r eine Gemeinde von noch nicht einmal 700 Einwohnern einzigartige schulische Einrichtung mußte geschlossen werden. Bestrebungen, sie 304

33 200Jahre JudenschutzbriefButtenhausen - Festvortrag von Paul Sauer wieder ins Leben zu rufen, führten nicht zum Ziel. Bernheimer stiftete ferner den Park hinter der Schule sowie das Ehrenmal f ü r die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, auf dem die Namen von 16 christlichen und drei jüdischen Gefallenen eingemeißelt waren. Seine in New York lebende Schwägerin ermöglichte durch eine generöse finanzielle Zuwendung die Errichtung einer Ortsbibliothek. Auch die Kleinkinderschule, der erste Kindergarten, war eine jüdische Stiftung. Im Verhältnis zwischen christlichen u n d jüdischen Einwohnern fehlte es nicht an Spannungen. Doch man kam sich allmählich näher. Eine Dorfgemeinschaft bildete sich heraus, die J u d e n und Christen in gleicher Weise umfaßte. Die kleinen Bauern des Dorfs und die christlichen Gewerbetreibenden profitierten in vielfältiger Weise von den J u d e n , die, soweit sie Arbeitgeber waren, einen guten Ruf genossen. Es gab vor 1953 keine gehässigen Äußerungen über die jüdischen Bürger. Ihre Religion, ihre Sitten und Gebräuche wurden respektiert und als Bereicherung empfunden. Man begegnete sich nachbarlich-freundschaftlich. Die örtlichen Vereine zählten J u d e n wie Christen zu ihren Mitgliedern. Daß J u d e n am öffentlichen Leben regen Anteil nahmen, betrachtete man als Selbstverständlichkeit. Buttenhausen war übrigens die einzige Gemeinde in Württemberg, deren Gemeinderat noch bis 1935 ein jüdischer Bürger angehörte: ein Beweis dafür, wie schwer sich hier die NS-Machthaber taten, Haß und Zwietracht zwischen sogenannten Ariern und Nichtariern zu säen. Dennoch: Die NS-Machtergreifung im J a h r 1933 bedeutete den Anfang vom Ende der jüdischen Gemeinde Buttenhausen. Die Hitlerpartei mit ihren antisemitischen Parolen verschaffte sich gewaltsam Eingang. Ängstliche Bewohner zogen sich von ihren bisherigen jüdischen Freunden und Nachbarn zurück. Diese gerieten immer mehr in die gesellschaftliche Isolation. Die Heimat wurde f ü r sie zur ungastlichen Fremde. Diffamierungen und Diskriminierungen steigerten sich fortwährend. Im November 1938 ging die Synagoge in Flammen auf. Zum Glück gab es auch unerschrockene christliche Bürger. Trotz Beschimpfungen und Benachteiligungen hielten sie ihre freundschaftlichen Beziehungen zu den jüdischen Mitbürgern, so gut dies möglich war, aufrecht. Sie waren eine Minderheit, aber sie leisteten den Erniedrigten und Gequälten unschätzbare Dienste, stärkten in diesen den schwindenden Glauben an Gerechtigkeit und Menschlichkeit. In den J a h r e n 1941 und 1942 hatten die letzten Buttenhäuser J u d e n den Todesweg in die Deportation anzutreten. Was 1787 so menschlich-hoffnungsvoll begonnen hatte, vernichtete anderthalb J a h r h u n d e r t e später menschenverachtender mörderischer Rassenwahn. Von der Jüdischen Gemeinde Buttenhausen, die f ü r unser Dorf in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht gleichermaßen bedeutsam war, haben sich gewichtige Zeugnisse ihrer Geschichte erhalten; sie gilt es zu bewahren und in lebendiger Erinnerung zu behalten. Insbesondere d ü r f e n wir nicht vergessen, daß diese Gemeinde auf die Grundpfeiler von Toleranz, Recht und Gerechtigkeit sowie Achtung vor d e r Würde des Menschen gegründet war. Gewiß, Philipp Friedrich von Liebenstein und seine Frau Catharina Friederika hatten aus der Ansiedlung der J u d e n in Buttenhausen im J a h r 1787 f ü r sich und ihre Herrschaft Nutzen ziehen

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Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit wollen. Wäre dies jedoch ihr vorrangigstes oder gar ihr einziges Bestreben gewesen, dann hätten sie ohne alle Skrupel zu Werke gehen können. Heimatlose Juden gab es gegen Ende des 18. Jahrhunderts in großer Zahl — ich erwähnte es schon. Sie hätten solch unglückliche Menschen auch durch ein selbstsüchtiges, ausbeuterisches Schutzangebot mühelos ködern können. Danach stand indes ihr Sinn nicht. Sie wollten den jüdischen Siedlern, derer sie aus wirtschaftlichen Gründen bedurften, ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen, sie nach Recht und Gerechtigkeit behandeln und ihnen Glaubens- und Gewissensfreiheit garantieren. Philipp Friedrich und Catharina Friederika von Liebenstein waren Kinder ihrer Zeit. Sie lebten in einer ständisch gegliederten Gesellschaft. Mit den Forderungen der bald darauf ausbrechenden Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vermochten sie aller Wahrscheinlichkeit nach wenig anzufangen. Doch nichts destoweniger meine ich, die Schutzbriefe von Jebenhausen und Buttenhausen sind bemerkenswerte Zeugnisse Gerechtigkeits- u n d Wahrheitsstreben verpflichteter Menschlichkeit. Heute vor zweihundert Jahren wurde der Buttenhäuser Schutzbrief erlassen. Ich hoffe, ich konnte in meinem Referat deutlich machen, daß dieser Schutzbrief f ü r die Geschichte unseres Landes und seiner Menschen sehr viel m e h r war als ein Rechtsdokument, das als solches, bedingt durch den Wandel d e r politischen Verhältnisse, schon bald seine Gültigkeit einbüßte."

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Ein Interview mit Simon Wiesenthal

Simon Wiesenthal, von dem bereits viele Veröffentlichungen vorliegen, arbeitet an einem neuen Titel. Ich habe in Wien nicht nur über dieses neue Buch, sondern über viele Einzelfragen, die ihn bewegen, mit ihm gesprochen: Frage: Herr Wiesenthal, Sie kommen gerade aus Israel von einer der vielen Reisen zurück, die Sie schon in dieses Land gemacht haben. Sie haben mit Freunden gesprochen. Dazu gehören natürlich auch viele Menschen des jüdischen und auch des deutschen Dialogs, z. B. Yad Washem. Was haben die jungen Leute gesagt, nachdem Präsident Herzog bei uns war? Wie hat diese Reise gewirkt? Antwort: Ich glaube, daß vor allem nach der Visite von Präsident Herzog, und nachdem er so gut aufgenommen wurde — und nach den Erklärungen, die in Deutschland während des Besuchs von vielen Seiten abgegeben wurden, die Bundesrepublik als ein befreundeter Staat angesehen wird. Gerade in der Zeit, da im Zusammenhang mit Dr. Waldheim das österreichische Image in Israel gelitten hat, wird immer hervorgehoben, das sagen die Leute, warum konnte denn der Waldheim keine solchen Erklärungen abgeben wie der von Weizsäcker. Waldheim war Oberleutnant und der andere war Major. Der andere ist durch das Urteil gegen seinen Vater belastet, wohingegen Waldheims Vater von den Nazis gleich nach dem Anschluß eingesperrt wurde. Das hört man im allgemeinen, und die Leute beginnen zu glauben, daß es doch ein anderes Deutschland gibt. Frage: Das ist sehr wichtig, wenn man das ganze Feld übersieht, die 40 Jahre nach Kriegsende. Ich freue mich darüber, daß Sie aus Israel das berichten. Antwort: Man verbirgt auch nicht, daß den Nazis praktisch nichts geschehen ist. Sie wurden durch den Kalten Krieg gerettet. Wir hatten zwischen 1948 und 1960 in diesen 12 Jahren eine Schonzeit für Mörder, und erst später erfolgte die ganze Abrechnung mit den Tätern. Es sind viele in der Zwischenzeit gestorben und viele ausgewandert. Man hat praktisch nur diejenigen erwischt, die die deutsche Justiz in der 2. und 3. Garnitur erreichte, wobei die Alliierten in Nürnberg nur die Spitzen, die sie erwischen konnten, vor Gericht gebracht haben. Das allein, wissen Sie, mit der Aufarbeitung des ganzen Problems des Holocaust zeigt, daß sehr viele ungeschoren blieben. Das ist natürlich eine Sache, über die die Geschichte noch urteilen wird. Frage: Sind Sie der Meinung, wie man ab und zu wieder hört, daß Millionen Mörder durch die Maschen gefallen sind? Antwort: Es sind keine Millionen. Schauen Sie, es gab 10,5 Millionen Parteimitglieder. Dann kommen noch ein paar Hunderttausend dazu, die Angehörige der SS waren, aber nicht der Partei. Ich estimiere die Zahl der Leute, die direkt oder indirekt in Verbrechen als Täter, als Mittäter, verwickelt waren. Leute, die auf irgendeine Weise zu der Tat geholfen haben, 160 000-170 000. Im ersten Falle sind, sagen wir 2% der Nazis in Prozesse verwickelt, das ist —wenn man diese Zahl nimmt — natürlich eine große Zahl, und die ganze Sache erinnert dann an einen 307

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Eisberg. Maximum 1/3 davon kamen in verschiedenen L ä n d e r n vor Gerichte, d. h. noch nicht, daß alle verurteilt wurden, aber bei einem Eisberg ist n u r ein kleiner Teil ü b e r d e r Oberfläche, der a n d e r e Teil ist dunkel. Ich bin überzeugt, daß in verschiedenen Teilen d e r Welt noch T a u s e n d e unter falschem N a m e n leben, obwohl sie es nicht m e h r nötig haben. Aber eines habe ich immer wieder betont, u n d das ist wichtig zu wissen, daß in keinem Land d e r Welt die Distanz zwischen d e r j u n g e n u n d d e r alten Generation so groß ist wie in d e r Bundesrepublik. Als die Leute mich gefragt haben, wieso kannst Du das sagen? Ich werde I h n e n das beste Beispiel geben. Die j u n g e n Neonazis haben keine Kontakte zu d e n alten Nazis, u n d d a h e r haben sie auch kein Geld. Frage: In Lyon läuft im Augenblick der Prozeß gegen Barbie, d e n Gestapomenschen, d e r T a u s e n d e auf d e m Gewissen hat. N u n erklärt Beate Klarsfeld, sie habe ihn g e f u n d e n . Stimmt das? Antwort: Wie die Sache gelaufen ist, weiß Ludwigsburg. Ich w ü r d e d a h e r vorschlagen, mit Ludwigsburg zu sprechen. Es spielt im übrigen keine Rolle, wer ihn g e f u n d e n hat. Ich glaube, d o r t in Ludwigsburg haben sie die Unterlagen, wie es ü b e r h a u p t zu diesem Fall gekommen ist. Frage: Ich sehe auf I h r e m Schreibtisch I h r neues Buch liegen, das jetzt in mehreren Sprachen herauskommt, in deutscher Sprache im Bleicher-Verlag in Stuttgart. Was ist das f ü r ein Buch u n d was bringt es? Antwort: Ich habe an diesem Buch 6 J a h r e gearbeitet. Eigentlich bin ich dazu gekommen, weil ich a u f g r u n d meiner Vorträge — ich weiß nicht, seit vielen J a h r e n in Amerika habe ich ja allein vor etwa 200 000 Menschen gesprochen — auf viele interessante Menschen gestoßen bin. Der Zulauf zu meinen Vorträgen ist sehr groß. Ich hatte 6 000 Z u h ö r e r in Los Angeles, u n d im Durchschnitt auch a n d e n Universitäten. Ich hatte 1 800 an der Havard-Universität n u r an d e r juristischen Fakultät. In Gesprächen mitj u n g e n Leuten habe ich eine T e n d e n z zu glauben gesehen, d a ß d e r Kampf gegen die J u d e n mit Hitler begonnen hat. Wie o f t ich d e n j u n g e n Leuten gesagt habe, es gab genauso große J u d e n h a s s e r vor Hitler, n u r die Technologie der Zeit von Hitler an gab ihm die Möglichkeit, j a h r h u n d e r t e alte T r ä u m e von J u d e n h a s s e r n zu erfüllen. Hitler selbst hat d e n Antisemitismus nicht e r f u n d e n . Er hat ihn ü b e r n o m m e n . Danach habe ich mir gesagt, man m u ß eigentlich ein Buch machen, wo jeder T a g ein Gedenktag ist. Das ist ein Buch f ü r die letzten 2 000 J a h r e des Judenhasses u n d die ganzen Verfolgungen. Ich habe es am A n f a n g auch nicht geglaubt. Das Buch heißt: „Jeder T a g ein Gedenktag", und ist jetzt in Frankreich herausgekommen. Es umfaßt fast 4 000 Daten. Es gibt keinen einzigen Tag, wo nicht irgendetwas geschehen ist, an was die J u d e n sich erinnern sollten. T a g u n d Monat sind i m m e r dieselben, das J a h r variiert, also beginnt bei mir d e r 1. J a n u a r 1940 in Lodsz. Aber d e r 2. J a n u a r beginnt schon im J a h r e 1235 in Bischofsheim in Deutschland. U n d d e r 3. J a n u a r ist wieder in Greuitz in Polen u n d d e r 4. J a n u a r in Ravensburg in Deutschland im J a h r e 1349. Der 5. J a n u a r beginnt 1895 mit d e r Dreyfuss-Affäre. U n d das geht so bis zum 31. Dezember. Ich habe mit Absicht — das ist ein illustriertes Buch — alle Horrorbilder, die man von d e r Nazizeit kennt, herausgenommen, weil die Menschen einfach 308

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übersättigt sind. Es sind da Zeichnungen aus dem Mittelalter, alle antijüdisch, aber es gibt so etwas wie eine Langeweile des Grauens. Die Leute können nicht mehr zuschauen. Das Buch wird in Holland erscheinen, dann in spanischer Sprache, Mitte September in Amerika, und ich glaube, von allen meinen Büchern wird mich dieses Buch überleben. Warum? Weil ich hoffe, daß es durch die Gründung des Staates Israel keinen 2. Holocaust mehr geben wird und die Daten, die zwar noch einige Nachkriegstage verzeichnen, wie die Ärzte-Affäre in der Sowjetunion unter Stalin und einige Terroristenangriffe, die nicht in Israel und nicht gegen Israel sind, sondern einfach gegen Juden in Europa erfolgt sind, werden mit der Zeit aufhören. Daß die Menschen von all dem, was geschehen ist, eine Lehre für sich und für die Zukunft ziehen werden, ist zu erwarten.

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Dichter, Anwalt, Prediger - Zum 80. Geburtstag von Albrecht Goes. Ein Beitrag von Gisbert Kranz in „Christ in der Gegenwart"

Am 22. März 1988 beging der evangelische Theologe und Schriftsteller Albrecht Goes seinen 80. Geburtstag. Viele Menschen in der Bundesrepublik und Berlin gedachten seiner, vor allem auch in Zeitungen, Zeitschriften und im Fernsehen. Als ein besonderer Beitrag unter dem Stichwort „Zeugen des Jahrhunderts" wurde ein Gespräch gesendet, das der Philosoph Dr. Hans Rüdiger Schwab mit Albrecht Goes aufgenommen hatte. In der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart", 40. Jahrgang, Heft 13,27. März 1988, stand ein Beitrag von Gisbert Kranz über Albrecht Goes. „Der evangelische Theologe und Schriftsteller Albrecht Goes beging am 22. März seinen achtzigsten Geburtstag. Man hat ihn den ,Meister der kleinen Form' genannt (vgl. .Bilder der Gegenwart', April 1987). Er begann in den dreißiger Jahren mit religiösen Laienspielen und Gedichten. Später folgten Erzählungen, auch viele Predigten und Essays (zuletzt: ,Mit Mörike und Mozart', 1988) kennen wir von ihm. Die bekannteste und in viele Sprachen übersetzte Erzählung von Goes heißt ,Das Brandopfer' (zum erstenmal veröffentlicht 1954). Im Mittelpunkt steht die Metzgersfrau Walker. In einer süddeutschen Großstadt erlebt sie während des Krieges den T e r r o r an den Juden. Sie bemüht sich zu helfen und zu lindern, wo sie kann. Den Abtransport eines Juden nach dem andern in die Vernichtungslager gewahrt sie mit ohnmächtigem Entsetzen. Als ihr Haus in Brand steht, versucht sie nicht, sich zu retten, sondern bietet sich Gott als Opfer an. Wie Paul Claudel, Gertrud von le Fort, Charles Williams, C. S. Lewis und andere christliche Autoren des 20. Jahrhunderts konkretisiert Albrecht Goes den Gedanken der Stellvertretung: Da Christus sich für uns hingegeben hat, ist es dem einzelnen Christen möglich, des anderen Last zu tragen, j a sich für einen anderen zu opfern. Das Los der Juden beschäftigte Goes immer wieder, zum Beispiel in den Erzählungen .Begegnung in Ungarn', ,Das Löffelchen' und ,Das mit Katz' und in den Gedichten .Gespräch mit dem Rabbi' und .Die Langverstoßne'. Dieses Gedicht bezieht sich auf die Skulptur der Synagoge an der Südpforte des Straßburger Münsters. Alter und Neuer Bund, Judentum und Christentum sind hier in Frauengestalten allegorisch dargestellt: die Kirche hocherhobenen Hauptes mit Kreuz, Kelch und Krone, die Synagoge gesenkten Kopfes mit Augenbinde, mehrfach gebrochener Lanze und Gesetzestafel. Der Dichter betrachtet die Blinde, Besiegte mit neuen Augen: Die Langverstoßne ist die Sehrgeliebte, die Blickverhüllte, siehe, die Betrübte: Sie wartet und sie weiß. Sie ists, die sieht. Bei einem Gespräch, das ich vor einiger Zeit mit Albrecht Goes hatte, kamen wir 310

35 Zum 80. Geburtstag von Albrecht Goes natürlich bald auf das Verhältnis von J u d e n u n d Christen zu sprechen. Nicht ohne Stolz zeigte Goes die Buber-Rosenzweig-Medaille, mit d e r er ausgezeichnet worden ist. Mit Martin Buber stand der Dichter in enger Verbindung; er hat auch eine Auswahl seiner Schriften herausgegeben. Obwohl Goes sein P f a r r a m t aufgegeben hat, nimmt er i m m e r noch den Predigtauftrag wahr. .Predigt ist wichtiger als Literatur', sagt er. Er steht regelmäßig auf der Kanzel u n d teilt seine Zeit, wegen d e r gewissenhaften Vorbereitung, sorgfältig ein. Wer seine Predigten nicht hören kann, hat die Möglichkeit, sie zu lesen... In .Dunkler Tag, heller Tag' spricht Goes von d e m .Schmerz, ein bestimmtes, vom Geist h e r geliebtes Gesicht nicht m e h r mit eigenen Augen gesehen zu haben' u n d von d e m ,Glück, einem anderen noch begegnet zu sein'; von d e r Betrübnis, ,nicht m e h r Rilke, den Dichter, gesehen zu haben u n d nicht m e h r das wunderbare Antlitz der Katze Kollwitz', u n d von d e m Glück, ,doch noch d e m Doktor Albert Schweitzer begegnet zu sein u n d d e m ehrwürdigen Martin Buber'. Als wir uns von Albrecht Goes verabschiedet hatten, konnten wir ebenso von unserem Glück sprechen, das schöne, alte Antlitz dieses Dichters mit seinen unwahrscheinlich hellen Augen gesehen zu haben."

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Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition. Ein Sonderdruck der Frankfurter Hefte, H. 4, 1988

Friedrich Nietzsche, der seinen Landsleuten die Wahrheit gesagt hat wie kein zweiter, hat gespottet: „Es kennzeichnet die Deutschen, daß bei ihnen die Frage ,was ist deutsch' niemals ausstirbt." Die wieder einmal an sich selbst leidenden Deutschen formulieren die Frage heute tiefsinniger: Sie suchen nach ihrer „Identität". Und sie tun es mit einem Eifer, daß man sich fragen muß, ob sie sich dabei auf der Suche nach ihrer verlorenen Zeit oder nach ihrer verlorenen Unschuld befinden. Wo aber sollen wir sie suchen, die vermeintliche deutsche Identität. Bei den alten Germanen? Die sind nun doch schon sehr weit weg und im übrigen von der deutschen Rechten so oft mißbraucht worden, daß sie zum Identifikationsobjekt nicht mehr recht taugen. Dann also doch lieber Selbstfindung an den großen Identifikations-Figuren der deutschen Geschichte? Die „drei Gewaltigen" hat Thomas Mann sie genannt: Luther, Goethe, Bismarck.

Welche deutsche „Identität"? Luther, der Schöpfer der deutschen Sprache, der Reformator der Kirche, der Erneuerer des christlichen Glaubens, aber eben doch nicht nur das. Einen „stiernakkigen Gottesbarbar" hat Thomas Mann ihn genannt, einen anti-römischen Separatisten und einen Anti-Europäer. Und in der Tat, die Spaltung des Abendlandes, der Dreißigjährige Krieg, der Deutschland entvölkerte und es in seiner bürgerlichen Entwicklung hoffnungslos hinter die westlichen Nationen zurückwarf, sie sind mit Luther ebenso untrennbar verbunden wie die Bibelübersetzung und die Reformation. Er war ein spiritus rector der Liquidierung der ersten deutschen Revolution, des Bauernaufstandes. Er predigte die Rechtfertigung allein durch den Glauben, ermunterte die Fürsten aber, sich durch Totschlagen des Bauernviehs das Himmelreich zu erwerben. Seine „politische Devotheit" hat, so urteilte Thomas Mann, „den deutschen Dualismus von kühnster Spekulation und politischer Unmündigkeit teils begünstigt, teils geschaffen". Goethe dagegen, auch er der Volkskraft und Volkskultur eng verbunden, hat— bei gehöriger Skepsis gegenüber dem Christentum — das Deutsche durch Verbind u n g mit dem Griechischen, mit dem Mediterranen zum Europäischen und Weltbürgerlichen zu erweitern gesucht. Nicht zuletzt darum ist er seinen Landsleuten fremder geblieben als Luther. Zudem stand er dem nationalen Aufbegehren gegen Napoleon gleichgültig, ja kalt gegenüber. Seine Verehrung für den großen Kaiser war einer der Gründe, wofür ihn dieser mit dem Satz geadelt hat, „voilä, un homme" — was Nietzsche so interpretierte: „Das wollte sagen: da ist j a ein 312

36 Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition Mann. Und ich hatte n u r einen Deutschen erwartet". In der Tat, Goethe wurde von Europa und der Welt an- u n d aufgenommen, aber kaum als Prototyp des Deutschen. Andererseits mußte Thomas Mann den Begriff des Demokratischen solange dehnen, bis er mit dem der abendländischen Kultur fast synonym wurde, um Goethe f ü r die Demokratie in Anspruch nehmen zu können. Die Weimarer Exzellenzen hielten in Wahrheit von Demokratie wenig. An deutscher Innerlichkeit zugrunde zu gehen, überließ Goethe zwar klugerweise dem jungen Werther, aber die wichtige Erweiterung des Persönlichen ins Soziale endete in d e r „pädagogischen Provinz". Noch Hermann Hesse hat nicht gewagt, diese Grenze zu überschreiten. So hat denn Thomas Mann geklagt, daß Goethe in seiner Wirkung auf das deutsche Bürgertum den lutherischen Dualismus von geistiger und politischer Freiheit vertieft und den deutschen Bildungsbegriff gehindert habe, das politische Element in sich aufzunehmen. Ludwig Börne war in seinem Urteil bekanntlich weniger moderat gewesen. Er hat Goethe schlicht den „gereimten Knecht" gescholten, im Gespann mit Hegel, dem „Ungereimten". Wer Trost bei Schiller suchen will, sei daran erinnert, daß Schiller drei Freiheitsdramen geschrieben hat. Den „Don Carlos" f ü r die Niederlande, die „Jungfrau" f ü r Frankreich und den „Teil" f ü r die Schweiz. Für seine Landsleute hatte er den Rat parat: „Zur Nation Euch zu bilden, Ihr hoffet es, Deutsche, vergebens, bildet, Ihr könnt es, d a f ü r freier zu Menschen Euch aus". Beide großen Dichter, die auf d e r Grundlage der lutherischen Bibelübersetzung die deutsche Kulturnation recht eigentlich geschaffen haben, sprachen den Deutschen also den Beruf zur politischen Nation ab. Bismarck, ein dynastisch, nicht national denkender Mann, schuf mit Preußen, einem der künstlichsten Gebilde in d e r deutschen Vielstaaterei, das Deutsche Reich — ein diplomatisch-militärisches Kunststück ersten Ranges. Und dieser preußisch-deutsche Staat schuf sich n u n seine Staatsnation, während sich die Völker im Westen, lange vorher, Einheit mit Freiheit verbindend, ihre Nationalstaaten geschaffen hatten. Mit der deutschen Kulturnation deckte sich diese deutsche Staatsnation weder territorial noch geistig. Nietzsche sagte 1871 „die Extirpation des deutschen Geistes zugunsten des .Deutschen Reiches'" voraus. Und Thomas Mann hat nachträglich geurteilt: „Eine kulturelle Enttäuschung war das geeinte Machtreich außerdem. Nichts geistig Großes kam mehr aus Deutschland, das einst d e r Lehrer der Welt gewesen war." Ich habe Thomas Mann übrigens im Verdacht, Bismarck n u r aus bürgerlicher Pietät in eine Reihe mit Luther u n d Goethe gestellt zu haben. Denn eigentlich ist ja gerade nachdenkenswert, daß ein Volk, das Weltgestalten wie Luther u n d Goethe sein eigen nennen darf—von unseren Großen der Musik nicht zu sprechen—politisch allenfalls Bismarck vorzuweisen hat, es sei denn, man will das Prahlen mit „Blut u n d Eisen", das deutsche Spießer von da an f ü r Realpolitik hielten, zum Ausdruck deutschen Geistes erklären. Für Europa signalisierte die Reichsgründung den Umschlag d e r Deutschen 313

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit von unpolitischer Machtenthaltung in ebenso unpolitische Machtanbetung — „der beiden politischen Hauptmängel d e r Deutschen", wie Rudolf Smend einmal bemerkt hat. U n d während m a n jahrzehntelang die anachronistischen innenpolitischen Verhältnisse mit d e m Schlagwort vom „Primat d e r Außenpolitik" zu rechtfertigen versucht hatte, wurde Bismarcks Werk n u r 70 J a h r e nach d e r Reichsgründung von innen heraus zerstört — d u r c h ein Regime, das mit d e m Glauben d e r europäischen A u f k l ä r u n g an Freiheit, Menschenrechte u n d Toleranz endlich u n d endgültig Schluß zu machen gedachte. Diese Probleme mit den großen Figuren unserer Geschichte legen die Frage nahe, ob die Suche nach einer verlorenen deutschen „Identität" überhaupt sinnvoll sein kann. Die Frage nach d e r deutschen „Identität" geht heute allen glatt von den Lippen. Wo d e r inflationäre Gebrauch des Wortes in diesem Zusammenhang seinen U r s p r u n g hat, ist indes nicht klar. Sieht man sich — etwa im Protokoll des Berged o r f e r Gesprächs „Die deutsche Frage — neu gestellt" (1983) — das „Identitäts"Vokabular einmal an: „Identitäts-Frage", „Identitäts-Mangel", „Identitäts-Krise", „Identitäts-Suche", „Identitäts-Erlebnis", „Identitäts-Erfahrung", „Identitäts-Findung", so liegt eine Anleihe bei d e r m o d e r n e n Psychologie nahe. Mit „Identität" soll offensichtlich die Ich-Gewißheit, die Selbstfindung, das Selbstbewußtsein des einzelnen bezeichnet werden. Das Wort kommt j a vom lateinischen idem, derselbe. Gegen eine V e r w e n d u n g des so verstandenen Wortes auf „die" Deutschen m u ß aber einmal eingewandt werden, daß Völker, Staaten, Nationen als überindividuelle Gebilde über eine solche „Identitäts"-Gewißheit von d e r Wiege bis zur Bahre nicht v e r f ü g e n können. Es gibt überindividuelle Anlagen, Charakterzüge, E r f a h r u n g e n , Eigenheiten eines Volkes, die z. B. wir als Deutsche m e h r o d e r minder mit uns h e r u m t r a g e n . Ein bestimmendes Element unserer Weltsicht, unseres Denkens u n d Fühlens ist vor allem die Sprache. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die gesellschaftliche Tradition, in die wir hineingeboren wurden. Aber all das doch nicht im Sinne eines „Charakter indelebilis", einer sich d u r c h alle Geschichte u n v e r ä n d e r t durchhaltende „Identität". Umgekehrt ergibt sich die Identitätsgewißheit des einzelnen nicht allein aus seiner Volkszugehörigkeit, es sei denn, daß er sich im Kollektivrausch verliert. U n d vor allem: Selbst das Individuum, das unteilbare, ist ein Wesen, das aus d e r Haut fahren, das d e n alten Adam ausziehen, vom Saulus zum Paulus werden kann. Und ist sein Identitäts-, sein Selbstbewußtsein einmal gestört, so ist der Versuch des Sich-Wieder-Findens weniger auf das Verlorengegangene als vielmehr auf die zu gewinnende Z u k u n f t gerichtet. U m wieviel m e h r m u ß das f ü r eine soziale G r u p p e gelten. Die Frage, u m die es wirklich geht, ist die Frage nach u n s e r e m politischen Selbstverständnis als Deutsche, ist die notwendige Selbstverständigung über unsere politischen Ziele u n d Wege. Werner Weidenfelds Empfehlung, diese politische Frage als Frage d e r „Moderne" abzutun u n d d u r c h den hochgestochenen Tiefsinn einer „existentiellen" Identitäts-Suche zu ersetzen, signalisiert Flucht. 314

36 Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition An d e r e n Ende könnte ein trotziges Bekenntnis zu alten Fehlern stehen, das die ewig Gestrigen als die „wahren Deutschen" ausweist; „Identität" garantiert. Michael Stürmers Sentenz, „daß in geschichtslosem Land die Z u k u n f t gewinnt, wer die E r i n n e r u n g füllt, die Begriffe prägt u n d die Vergangenheit deutet", hat den Verdacht geweckt, die konservativen Historiker hätten d e n Begriff d e r „nationalen Identität" aus politischen G r ü n d e n in Umlauf gebracht. Der Gebrauch des Begriffs „Identität" als solcher bedeutet zwar noch keine inhaltliche Festlegung. Er präjudiziert aber die Selbstsuche in zweierlei Richtung, in Richtung auf Vergangenheit und in Richtung auf Einheit. Die „nationale Identität" schließlich konzentriert die Identitätsfrage auf die Nation u n d präjudiziert die Identitätssuche im ü b e r k o m m e n e n konservativen Sinne „des" Nationalen. Geht m a n auf d e n einzelnen zurück, in bezug auf den allein d e r Begriff d e r „Identität" Sinn macht, so zeigt sich, daß die Vergangenheitskomponenten seines Identitäts-Bewußtseins weniger im schon relativ abstrakten Bereich des Nationalen als in d e m von Heimat u n d H e r k u n f t liegen. Der Geburtsort, die Landschaft d e r Kindheit, die Stammeszugehörigkeit, d e r Dialekt sind die Bezugspunkte. In diesem Bereich sehen wir uns h e u t e —entgegen d e r konservativen These von d e r Geschichtslosigkeit - einer Geschichtsbewegung des Lokalen u n d Regionalen u n d ihrer „Geschichtswerkstätten" gegenüber. Darin kommt u n t e r a n d e r e m sicher auch ein Sinnverlust des Nationalen, nach „oben" in die Weltzivilisation, nach „unten" in das Lokale wie in das Private zum Ausdruck. Das kann man durch nationale Taufakte nicht rückgängig machen. Erst recht kann man d e n Begriff d e r Identitätsgewißheit nicht vom einzelnen auf soziale G r u p p e n übertragen, die sich aus vielen einzelnen konstituieren u n d in d e n e n d e r einzelne im Widerspiel von Integration u n d Selbstbehauptung seinen Platz in einem größeren Z u s a m m e n h a n g sucht u n d (im positiven Falle) findet. Die Identität vieler einzelner summiert sich eher nicht zu einer „kollektiven Identität". Sie f ü h r t vielmehr gerade zu einer Pluralität sozialer G r u p p e n . Die „Identitäts"-Komponenten des einzelnen lassen sich auch nicht übertragen. Meine Heimat Danzig z. B., die mich — u n d nicht n u r durch die E r i n n e r u n g - noch heute in meiner Identität mit bestimmt, ist weder die Heimat meiner in Westdeutschland geborenen u n d aufgewachsenen Kinder noch die Heimat meiner übrigen nicht in Danzig aufgewachsenen Mitbürger. Für die Bildung einer Kulturnation sind übergreifende Bestimmungsfaktoren von Bedeutung. Allen voran die Hochsprache, sei es in d e r Umgangssprache, im Volkslied o d e r schließlich in d e r Literatur. In ihr wurden u n d werden die Stammesunterschiede — wie die Konfessionsunterschiede — in d e r dreifachen Bed e u t u n g des Wortes „aufgehoben". Was wäre z. B. Heinrich Boll o h n e Köln, Grass o h n e Danzig, Günter Kunert o h n e Berlin, Martin Walser o h n e d e n Bodensee o d e r Christa Wolf o h n e die Mark Brandenburg? Eine Kulturnation ist allerdings, wir haben es in unserer Geschichte schmerzlich e r f a h r e n , noch nicht eine politische Nation. Eine politische Nation konstituiert sich erst in d e r gemeinsam gestalteten u n d erlittenen Geschichte. Rückwärts gewandt in d e r Frage nach politischen Traditio315

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nen, guten u n d schlechten, vorwärts gewandt in d e r Frage nach d e m eigenen Selbstverständnis, in d e r Selbstverständigung über gemeinsame Ziele, über die politische Gestaltung d e r Zukunft, beides in d e r Gegenwartspolitik verbunden. Der O r t d e r Wahl zwischen guten u n d schlechten, richtigen und falschen T r a ditionen, d e r O r t d e r Bildung politischen Selbstverständnisses u n d d e r Selbstverständigung d e r B ü r g e r u n d Wähler über politische Ziele und Wege aber ist die praktische Politik, die politische Praxis. Das gilt f ü r die Einübung demokratischer T u g e n d e n u n d Verhaltensweisen ebenso wie f ü r die Entwicklung von Lösungsvorschlägen f ü r die u n s heute b e d r ä n g e n d e n Probleme, f ü r den Versuch, Wege aus d e r G e f a h r in die Z u k u n f t zu finden. In d e r im weiten Sinne verstandenen politischen Auseinandersetzung um die Fragen von Frieden und Sicherheit, Umwelt u n d Wirtschaft, Leben u n d Technik, Freiheit u n d Gleichheit wird nicht n u r ü b e r das Verständnis d e r Probleme u n d ü b e r Antworten auf sie entschieden. Es wird zugleich auch politisches Selbstverständnis u n d Selbstbewußtsein geformt, politische Tradition gebildet und fortgebildet. Der von konservativen Historikern u n t e r n o m m e n e Versuch, diesen Prozeß als „uneigentlich" abzutun u n d durch die „existentielle" Suche nach „deutscher Identität" zu ersetzen, ist ein Rückfall in unpolitische Traditionen „deutschen Geistes". Wieder einmal wird nicht die politische Wirklichkeit, sondern das „Eigentliche" dahinter als das Wirkliche angesehen, das Erschauern vor d e m Metapolitischen f ü r wichtiger gehalten als die praktische Politik. Das Frappierendste an diesem Versuch ist die Parallele zur Entwicklung im ehemaligen Kaiserreich. Arno Borst hat f ü r das Kaiserreich gezeigt, wie mit d e m Barbarossa d e r Versuch gemacht wurde, Realitätsverlust durch „Identitäts"-Suche u n d -Stiftung zu „kompensieren". Barbarossa, bei d e r Reichsgründung von 1871 aufgeweckt, wurd e „ f ü r das wilhelminische Reich", so Borst, zum Symbol der „Flucht vor d e r Gegenwart". Rudolf von Thadden spricht mit Helmuth Plessner von einem „Verlegenheits-Historismus", d e r überholte konservative Lebensbilder über Kapitalismus u n d Industrialismus hinwegretten wollte. Die Geschichte sei d a d u r c h überfordert gewesen, ja habe regelrecht Ideologiecharakter angenommen. Der Kampf gegen die Weimarer Republik sei d a n n von Historikern u n d historisierenden Intellektuellen mit einem idealisierten Bild des Bismarck-Reiches g e f ü h r t worden. ,Jiitler hatte Erfolg — nicht weil es in Deutschland zu wenig Geschichtsbewußtsein gegeben hätte, s o n d e r n weil ein fragwürdiges u n d höchst anfechtbares Verständnis von Geschichte dominierte und i r r e f ü h r e n d e Geschichtsbilder das Denken d e r Zeitgenossen bestimmten". Die heutige Beschwörung „nationaler Identität" — inhaltlich noch unbestimmter u n d d a h e r noch esoterischer als die im Kaiserreich — signalisiert erneut Flucht aus d e r politisch zu verantwortenden Geschichte, über die in d e r politischen Wirklichkeit, in d e r politischen Praxis u n d nicht in historisierenden Identitätsbeschwörungen entschieden wird. Diese können kein Ersatz f ü r praktische Politik sein, so wenig wie deren metaphysische Belastung oder Ü b e r h ö h u n g - im Sinne von Weltverworfenheit oder aber von Weltverbesserung - zur Lösung politischer Probleme beiträgt. 316

36 Horst Ehmhe: Deutsche Identität und unpolitische Tradition Die Erinnerung an das Vergangene und an das Verlorengegangene ist f ü r unser Selbstverständnis und unsere Selbstgewißheit von großer Bedeutung. Daß sie Mängel und Ängste der Gegenwart kompensieren könnte, ist dagegen ein romantischer Gedanke, der eigentlich n u r zu sozialer und politischer Schizophrenie f ü h r e n kann. Und der Gedanke, sie könne die noch zu gewinnende Zukunft ersetzen, läuft auf eine quietistische Verweigerung gegenüber der Zukunft hinaus. Das politische Selbstverständnis eines Volkes — das mit dem Begriff der „Identität" zu belegen in keinem Falle hilfreich und dem G r u n d e nach unrichtig ist — wird von vielen Faktoren bestimmt, zunehmend von übernationalen. Die Internationalisierung der gesellschaftlichen Entwicklung bildet heute weltweit Hoffnungen wie Ängste aus. Die Ängste vor einem Atomkrieg, vor der rasanten technischen Entwicklung, die u. a. neue Massenarbeitslosigkeit entstehen läßt, vor einer ökologischen Katastrophe mögen als Beispiele genügen. Im nationalen Selbstverständnis brechen sich solche weltweiten Entwicklungen. In seinem Vergangenheitsverständnis, in seiner Gegenwartspolitik wie in seinen Zukunftsentwürfen entscheidet es mit darüber, wie wir mit solchen neuen Herausforderungen fertig werden. Wenn wir von den speziellen Problemen unseres nationalen Selbstverständnisses sprechen, meinen wir vor allem zwei Fragen, die uns als Deutschen eigen sind: In der inneren Dimension die Frage, wie deutsche Politik nach Auschwitz aussehen kann und aussehen muß. In d e r äußeren Dimension die Frage, wie wir zur Teilung Deutschlands stehen. Beide Fragen, die der inneren und die der äußeren Dimension, betreffen zugleich unser Verhältnis zu Europa.

Die

Unpolitischen

Die Frage der inneren Dimension, die nach Jahren d e r Verdrängung die junge Generation glücklicherweise wieder entschiedener stellt u n d die wir immer noch beantworten müssen, lautet: Wie konnte die Nazi-Barbarei in Deutschland die Oberhand gewinnen, im Land der Dichter und Denker, das nicht m ü d e wurde, sich im Vergleich mit der Zivilisation d e r westlichen Länder der Tiefe seiner Kultur zu rühmen? Der Antwortversuch wird immer wieder zurückzukehren haben zu j e n e r Tradition des deutschen Bürgertums, in der Geist und Politik einander ausschlössen, oder jedenfalls nicht zueinander fanden. „Verpflanzt und zerstreut in alle Welt, wie die J u d e n , müssen die Deutschen werden..." Dieser Satz stammt nicht von Stalin und auch nicht von Morgenthau, er stammt von Goethe. Und der sagte auch warum:,... um die Masse des Guten, die in ihnen liegt, ganz und zum Heile aller Nationen zu entwickeln". „Zum Heile aller Nationen", aber den Deutschen sprach er, wie Schiller, den politischen Beruf zur Nation ab. „Deutschland ist nichts, aber j e d e r einzelne Deutsche ist viel, und doch bilden sich letztere gerade das Umgekehrte ein."

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Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Der Ratschlag unserer Dichter-Dioskuren a n ihre Landsleute, die H ä n d e von d e r Politik zu lassen, stand in seltsamem Gegensatz zu d e r Tatsache, daß damals wie später gerade die politischen und sozialen Zustände in Deutschland viele Deutsche - u n d nicht die schlechtesten - in alle Welt zerstreuten, vor allem nach Amerika trieben. Derartige Ratschläge, d e r e n es viele gab, b e r u h t e n nicht auf d e r Ansicht, die Deutschen seien generell lebensfremd oder unpraktisch. Sind doch unsere H a n d w e r k e r u n d später Facharbeiter, unsere Kaufleute u n d U n t e r n e h mer, unsere Ärzte u n d Rechtsanwälte, unsere Wissenschaftler u n d Techniker in aller Welt gelobt worden. Nein, sie meinten, die Deutschen seien speziell in politischer Hinsicht wirklichkeitsfremd und ungeschickt, untüchtig f ü r das politische Leben. I h r e wirkliche B e r u f u n g liege im Geistigen. Bescheinigten den Deutschen ihre eigenen großen Geister, zur Politik nicht zu taugen, so attestierten ihnen große europäische Geister, von der Freiheit nichts zu verstehen. So b e m e r k t e Madame de Stael, die Kühnheit d e r Deutschen kenne im Reich des Geistes u n d der Spekulation keine Grenzen, im politischen Leben aber seien sie Knechtsseelen. Diese Widersprüchlichkeit des deutschen Charakters ist von ihnen i m m e r wieder hervorgehoben worden: „Ihre Kopfged a n k e n passen nicht zu ihren Gemütsgedanken, ihre Amtsgedanken nicht zu ihren Wissenschaftsgedanken, ihre Fassade nicht zu ihren Hintertreppen; ihre Geschäfte nicht zu ihrem T e m p e r a m e n t , ihre Öffentlichkeit nicht zu ihrem Privatleben ...", schrieb Hugo von Hofmannsthal u m die J a h r h u n d e r t w e n d e . O f t ist das „Unpolitische" d e r Deutschen als Kehrseite ihrer Musikalität angesehen worden. Balzac bemerkte vor 150 J a h r e n , die Deutschen könnten auf allen Instrumenten d e r Musik vortrefflich spielen, nicht aber auf d e n großen Instrumenten d e r Freiheit. Thomas Mann hat, als er noch kein Demokrat, sondern ein „unpolitischer Betrachter" war, vom „unsterblich wahren Gegensatz von Musik und Politik, Deutschtum u n d Zivilisation" gesprochen. Das deutsche Volk sei grund-unpolitisch, d e r politische Geist d a h e r „widerdeutsch". Später, nach seiner Z u w e n d u n g zu Republik und Demokratie hat er im Faustus-Roman, d e m deutschesten seiner Romane, das politische Unglück d e r Deutschen in engstem Z u s a m m e n h a n g mit ihrem musikalischen Genie gesehen. Damit korrigierte er zugleich Goethes „Fehler", Faust nicht in d e r Rolle eines Musikers, sondern in d e r eines Magiers u n d Philosophen auftreten zu lassen. Auch Hermann Hesses Steppenwolf hatte das „ebenso r ü h r e n d e wie fatale Verhältnis zur Musik als das Schicksal d e r ganzen deutschen Geistigkeit" erkannt. „Wir Geistigen, statt... d e m Geist, d e m Logos, dem Wort Gehorsam zu leisten und Gehör zu verschaffen, träumen alle von einer Sprache ohne Worte, welche das Unaussprechliche sagt, das Ungestaltbare darstellt". Eine Sprache o h n e Worte gibt es aber so wenig wie ein Denken o h n e Sprache u n d ein Handeln o h n e Denken — es sei denn, m a n täte das Unaussprechliche. Aber auch von unserer Sprache ist gesagt worden, daß sie, verglichen etwa mit dem Englischen, d e r Philosophie und Spekulation holder sei als die Politik. U n d unsere Philosophie, d a f ü r steht GoethesFaust, verband in d e n Worten von Thomas Mann „Weltungeschicklichkeit" mit dem „hochmütigen Bewußtsein, d e r Welt an 318

36 Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition .Tiefe' überlegen zu sein". Heinrich Heine hatte zwar gehofft, die Deutschen würd e n nach ihrer Revolution im Reich des Geistes auch ihre Revolution im„Reich d e r Erscheinungen" machen. Als methodisches Volk hätten sie n u r mit der Philosophie angefangen, die „ n i m m e r m e h r hätte die Köpfe gebrauchen können, die von d e r Revolution, wenn diese ihr vorherging, abgeschlagen worden wären". Als es d a n n aber schließlich in d e r politischen Welt „krachte, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat", da sah das Ergebnis des deutschen Ungewitters sehr anders aus, als Heine es erwartet hatte. Die politische Wirkung d e r „unpolitischen" Deutschen war ebenso gewaltig wie zerstörerisch. Daraus zu schließen, daß die Deutschen gewissermaßen „von Natur aus" zur Politik u n f ä h i g seien, ist aber selbst n u r eine dunkle Spekulation. Die zitierten Ä u ß e r u n g e n unserer großen Geister über die unpolitischen Deutschen müssen nicht n u r im Spiegel der damaligen politischen Zustände, sondern auch in der Tradition des auf Luther zurückgehenden Dualismus von geistiger u n d politischer Freiheit gesehen werden. Genau auf diese Tradition — u n d ihre Schwächen — zielte — darin sehr viel präziser als die deutschen Eigenurteile, die Teil dieser Tradition waren — die ausländische Kritik. Sie behauptete nicht, daß „die" Deutschen unpolitisch seien, sond e r n bemängelte die politische Schwäche des deutschen Bürgertums. Die Deutschen schlechthin, also etwa auch die deutschen Fürsten u n d Aristokraten d e r vorbürgerlichen Epoche — „unpolitisch" zu n e n n e n , ist dem Ausland nicht in den Sinn gekommen. Noch viel weniger d ü r f t e m a n die deutsche Arbeiterbewegung unpolitisch n e n n e n . Die unpolitische Tradition des deutschen Bürgertums w u r d e d u r c h die liberale Niederlage von 1848 besiegelt. Sie f ü h r t e schließlich im Kaiserreich zu einem Auseinanderfallen von Bewußtsein u n d Wirklichkeit. Das politische Bewußtsein blieb hinter d e r stürmischen technischen, wirtschaftlichen u n d auch gesellschaftlichen Modernisierung zurück, es hielt an überholten, zu Klischees gewordenen konservativen Lebensbildern fest. Die Schwäche des deutschen Bürgertums f ü h r t e zu deren Kompromiß mit d e m Obrigkeitsstaat u n d damit zur Kapitulation des politischen Liberalismus im Kaiserreich. Anachronistische innere Zustände w u r d e n nach d e r Reichsgründung durch Machtgehabe u n d Überheblichkeit zugedeckt. Gerade sie aber machten das von Bismarck geschaffene Deutsche Reich zu einem F r e m d k ö r p e r u n d Störenfried im europäischen Staatengefüge. U n d als nach d e m verlorenen Ersten Weltkrieg die Demokraten, voran die Sozialdemokraten, auf d e n T r ü m m e r n des Wilhelminismus die deutsche Republik aufbauten, stand ihnen die Mehrheit des Bürgertums ablehnend, wenn nicht feindlich gegenüber. So war das politische Unglück Deutschlands das Unglück seiner bürgerlichen Epoche. Thomas Mann hat daraus die Folgerung gezogen, „daß eine Kultur ganz nahe d e r Barbarei wohnt, die das Politische u n d Soziale aus ihrem Gesichtskreis ausschließt. Das hat die gebildete deutsche Mittelklasse, das deutsche B ü r g e r t u m getan, u n d daran ist es z u g r u n d e gegangen." Diese Tradition hat nicht n u r der Politik geschadet, in d e r sich die liberalen und die demokratischen Kräfte, die es j a 319

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auch in Deutschland gab, nicht durchsetzen konnten. Er hat auch dem deutschen Geist geschadet, der sich im Selbstverrat mehr als einmal falscher Politik dienstbar gemacht hat. In einer Zeit, in der vermeintliche „Identität" oft im Vergessen gesucht wird, muß nicht nur an die großen Leistungen unseres Volkes, sondern auch an das Negative erinnert werden, z. B. an den Machtrausch, die militärische Kraftmeierei, die kulturelle Überheblichkeit, die Deutschtümelei, den frömmelnden Antisemitismus im Kaiserreich. Keiner hat die Verachtung f ü r sie so zugespitzt wie Nietzsche, bis hin zu seinem Bruch mit Richard Wagner. Dabei hat er den Höhepunkt der Entwicklung, die Großmannssucht und bramarbasierende Pose des Wilhelminismus gar nicht mehr erlebt. Sie führte zum Ersten Weltkrieg. Und da zeigte sich, daß Treitschkes mit heftigem Antisemitismus durchsetzter Deutsch-Nationalismus keineswegs n u r deutschnationale Studienräte „gebildet" hatte.Reihenweise gab es Erklärungen u n d Aufrufe angesehener Männer des Geistes, deren Nationalismus, j a Chauvinismus kaum zu überbieten war. Metaphysische Größen standen danach bei diesem „Waffengang" zur Entscheidung. Deutsche Kultur gegen westliche Zivilisation, deutsche Gemeinschaft gegen westliche Gesellschaft, deutscher Geist gegen angelsächsischen Krämergeist, deutsche Treue gegen das „perfide Albion". Hermann Hesse, der aus der Schweizer Nachbarschaft den deutschen Geist zur Selbstbesinnung, zum Einhalten a u f r u f e n wollte — „O Freunde, nicht diese Töne" - , wurde wegen dieses im November 1914 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienenen Artikels vom geistigen Deutschland geradezu moralisch hingerichet. Gegen Kriegsende spiegelten Thomas Manns „Betrachtungen eines (noch) Unpolitischen" den geistig-politischen Zustand des Kaiserreiches noch einmal. Gegen das, was dann 1933 geschah, erschien der Ausbruch von 1914 nachträglich allerdings wie eine Kinderkrankheit. Reihenweise fielen Repräsentanten des deutschen Geistes um, bis hin zu den „deutschen Christen" und zur „deutschen Physik". „Entsetzlich, entsetzlich, die betrunkene Bildung", schrieb Thomas Mann. Während Hitler, Göring und Goebbels als Führer des nationalen Aufbruchs gehorsamst gefeiert wurden, wurden Männer wie Karl Barth, Albert Einstein, Thomas Mann, um n u r sie zu nennen, ins Exil getrieben. Martin Heidegger amtierte derweil als Rektor von Nazis Gnaden in Freiburg und fand in seiner Seinsmystik vorübergehend sogar f ü r die „junge Bewegung" Platz. Als Thomas Mann auf der ersten Station seiner Emigration bei Hermann Hesse in Montagnola Zuflucht fand, sagte dieser: „Ein großes bedeutendes Volk, die Deutschen, wer leugnet das? Das Salz der Erde vielleicht. Aber als politische Nation — unmöglich! Ich will, ein f ü r alle Mal, mit ihm als solcher nichts mehr zu tun haben." Auch Thomas Mann kehrte nicht wieder zurück. Sein Urteil über die Geschichte seines Vaterlandes, aus dem er vertrieben worden war, war nobel: „Es ist eine melancholische Geschichte — ich nenne sie so und spreche nicht von .Tragik', weil das Unglück nicht prahlen soll. Eins mag uns diese Geschichte zu Gemüte führen: Daß es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug." 320

36 Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition Ich habe aus zwei G r ü n d e n immer wieder auf Thomas Mann hingewiesen. Einerseits war e r ein geistiger Vertreter des deutschen Bürgertums par excellence, andererseits ist er in d e r H i n w e n d u n g von d e n „Betrachtungen eines Unpolitischen" zur Republik, zur Demokratie u n d zum demokratischen Sozialismus einen politischen Weg gegangen, d e r — wäre das deutsche B ü r g e r t u m ihn mitgegangen — Deutschland, Europa u n d d e r Welt den Nazismus erspart hätte. Man wird fragen: Gab es d e n n keinen Anteil d e r deutschen Arbeiterbeweg u n g am politischen Unglück d e r Deutschen? Ich antworte: Es gab Versagen. Der Kriegsausbruch 1914 zum Beispiel kam einem Offenbarungseid des europäischen Internationalismus d e r Arbeiterbewegung gleich. Es gab Fehlentwicklungen, so die Abspaltung d e r Kommunisten, die später die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten" beschimpften u n d teilweise sogar mit d e n Nazis gemeinsame Sache machten. Es gab Fehler d e r Sozialdemokraten. So haben sie am E n d e der Weimarer Republik d e n o f f e n e n Kampf gescheut, weil sie sich o f f e n b a r doch nicht so recht vorstellen konnten, was die Naziherrschaft f ü r unser Volk und Land bedeuten würde. Das Argument, ich habe es erst kürzlich wieder in einer unserer rechten Zeit u n g e n gelesen, das Scheitern Weimars habe primär die deutsche Sozialdemokratie zu verantworten, schließlich sei das ihre Republik gewesen, ist entweder d u m m oder perfide. Die Sozialdemokratie mußte nicht n u r ihren Kampf, aus rechtlosen Proletariern gleichberechtigte Staatsbürger zu machen, gegen Verbot u n d Verfolgung u n t e r Bismarcks Sozialistengesetz f ü h r e n . Sie mußte ü b e r h a u p t erst — u n d zwar gegen wesentliche Teile des deutschen Bürgertums - d e n Kampf u m Demokratie u n d Freiheit zu Ende f ü h r e n , den das B ü r g e r t u m d e r westlichen Nationen selbst g e f ü h r t u n d lange gewonnen hatte. Bei ihrer u n d a n k b a r e n Aufgabe, auf d e n geistigen u n d materiellen T r ü m m e r n des Wilhelminismus die erste deutsche Demokratie zu bauen, schlug ihr d e r Haß d e r e r entgegen, die f ü r die Katastrophe verantwortlich waren. U n d das B ü r g e r t u m insgesamt zeigte kühle Indifferenz. Die Kraft d e r Demokraten, voran der Sozialdemokraten, reichte nicht aus, den Kampf f ü r die erste deutsche Demokratie zu gewinnen — so wie 1848 die liberalen Demokraten zu schwach gewesen waren, Freiheit u n d Einheit zu erringen. Mit ihrer W a r n u n g , d a ß Hitler Krieg bedeute, haben die Sozialdemokraten bitter Recht behalten. Wieviel Not, Elend u n d Schande wäre unserem Volk erspart geblieben, wenn die Mehrheit d e r Wählerinnen u n d Wähler in Weimar auf die deutsche Sozialdemokratie gehört hätte.

Die

Bundesrepublik

Was lehrt uns das? Zunächst dies: Die Frage nach unserem politischen Selbstverständnis, soweit sie die Vergangenheit befragt, ist nicht eine Frage nach einer vermeintlichen metaphysischen oder psychologischen „Identität" d e r Deutschen, sondern vielmehr eine Frage nach richtigen u n d falschen Traditionen in unserer 321

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Geschichte. Sie gilt es aufzuarbeiten, nicht um die Vergangenheit zu „bewältigen" — eine verkrampfte Metapher —, sondern um eine glücklichere Zukunft zu gewinnen. Das setzt Erinnerung voraus und nicht Vergessen. Erinnerung an das Gute wie an das Schlechte, an das Strahlende wie an das Verbrechen. Die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegsgeneration hat die nach Kriegsende in unserem Lande breit einsetzende Selbstbesinnung mitgetragen und den Bruch mit einer scheinbar unpolitischen, in ihrer Wirkung aber sehr politischen Tradition mit vollzogen. Wir sollten das seitdem Erreichte nicht gering achten. Die Bonner Demokratie ist heute älter als die Weimarer Republik und das „Tausendjährige Reich" zusammen genommen. Im nächsten J a h r wird sie 40. Und alles in allem kann sie sich, nicht n u r nach deutschen Maßstäben, in der Welt durchaus sehen lassen. Unser politisches Selbstverständnis nach Auschwitz hat 1949 im Grundgesetz Ausdruck gefunden: Diese deutsche demokratische Republik will als gleichberechtigter Partner in einem Vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen. Warum also diese J a g d nach vermeintlicher deutscher „Identität", woher die darin zum Ausdruck kommende politische Unsicherheit, die durch Beschwörung eines „Verfassungspatriotismus" kaum zu beheben sein wird? Stammt sie aus der Teilung Deutschlands? Sie stammt auch aus ihr. Vor allem aber entspringt sie der Tatsache, daß wir mit unserer Vergangenheit immer noch nicht im reinen sind. Der große Aufbruch zur politischen Selbstbesinnung nach Kriegsende war mit vielen Hypotheken belastet. Es gab eine Chance zum Neubeginn, aber keine Stunde Null. Einerseits mußten Millionen von Mitgliedern und Mitläufern der NSDAP, gerade in der gesellschaftlich führenden Schicht, f ü r die neue Demokratie gewonnen werden. Andererseits gab es eine alliierte Entnazifizierung, die der politischen Selbstbesinnung eher im Wege stand, und eine „re-eduction", die sie n u r sehr partiell förderte. Die physische Not wie die seelische Erschöpfung durch die „Großen Zeiten" begünstigten eine Konzentration auf das Materielle. Das Wirtschaftswunder f ü h r t e dann endgültig dazu, daß das eigentliche Befreiungserlebnis nach dem Krieg kein politisches, sondern ein wirtschaftliches war. Entscheidend f ü r das Versanden der fruchtbaren Phase d e r Selbstbesinnung war der Koreakrieg, genauer, das mit ihm erfolgende Umschalten von „re-eduction" auf Anti-Kommunismus. Der Anti-Kommunismus, vom Einmarsch der Roten Armee in Deutschland mit bitteren Erfahrungen untermauert (darüber, wie die deutschen Armeen die Sowjetunion verwüstet hatten, sprach man weniger), von der Gleichschaltung der osteuropäischen Staaten täglich mit neuem Anschauungsmaterial versehen und vom Kalten Krieg zugespitzt, wurde nun zur eigentlichen demokratischen Tugend erhoben. Und gegen den Kommunismus hatten die Deutschen j a schon gekämpft, woran man nun wieder erinnern durfte. An die „Untermenschen"-Ideologie, die zu den Naziverbrechen in der Sowjetunion geführt hatte, erinnerte man sich weniger. Mit dem Anti-Kommunismus wurde im westdeutschen Bürgertum zugleich noch einmal die ganze Linksfürchtigkeit hochgeschwemmt, die es — eingeklemmt zwischen den Resten des Feuda322

36 Horst Ekmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition lismus und der aufsteigenden Arbeiterbewegung — schon im Kaiserreich entwikkelt hatte. So ist dann unsere Demokratie zunehmend hinter ihren eigenen Maßstäben zurückgeblieben. Die Entnazifizierung ging, um Schumachers Bild zu gebrauchen, nach der Methode des Rübenverziehens vor sich — die Kleinen zog man, die Großen ließ man stehen. Eine offene Abrechnung mit dem Naziregime fand in den Schulen wie in der Öffentlichkeit immer weniger statt. Der Fall Globke, der Skandal der Verschleppung der NS-Prozesse wie die halbherzige Entscheidung des Bundestages in der Verjährungsfrage zeigen: die Restaurationsepoche der 50er Jahre hat—bei allem äußeren Erfolg — dem politischen Selbstverständnis der Deutschen Schaden zugefügt. Wie tief dieser Schaden gegangen ist, hat Ralph Giordano gerade noch einmal ausgelotet. Der Aufstieg der Bundesrepublik zu einem der modernsten und erfolgreichsten Industrieländer war — wie schon der des Kaiserreichs — mit erheblichen Defiziten im politischen Selbstverständnis verbunden. In diesem Klima wurde vor 30 Jahren den Atomphysikern, die vor der Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen warnten, mit erhobenem Zeigefinger bedeutet, sie sollten bei ihren Leisten bleiben. Die Schriftsteller, die sich als von der deutschen Geschichte gebrannte Kinder politisch engagierten, wurden mit dem Schimpfwort „Pinscher" belegt. FritzJ. Raddatz hat die Adenauer-Zeit, in Parallele zur Ulbricht-Zeit drüben, kürzlich als die Zeit beschrieben, „in der Rudolf Alexander Schröder kaum noch atmen mochte, Arno Schmidt überlegte, in die DDR zu übersiedeln, und Boll nach Irland, in der Enzensberger Norwegen vorzog und Alfred Andersch die Schweiz, in der Hans Henny Jahnn gehetzt und Thomas Mann verhöhnt wurden, in der Peter Weiss nicht nach Deutschland zurückkehren und Alfred Döblin in Deutschland nicht mehr leben mochte, und in der kein einziger Emigrant zurückgerufen wurde, von keinem Bundeskanzler, keinem Präsidenten. Derweil Globke beriet." In den 60er Jahren (äußerer Wendepunkt war die „Spiegel"-Affaire) wuchs vor allem in der jungen Generation eine Gegenströmung, die in der „Studentenrevolution" gipfelte. Als ich auf dem SPD-Parteitag 1968 in Nürnberg die Studenten als „die Generation, auf die wir gewartet haben" freudig begrüßte, fiel ich anschließend bei den Vorstandswahlen prompt durch. Dem ironischen Vorschlag, den stolzen Titel doch etwas abzuschwächen, etwa in „die Generation, auf die wir gerade noch gewartet haben", bin ich aber nicht erlegen. Die Studentenrevolte markierte das Ende der Restaurationsepoche. Es führte über das Zwischenspiel der Großen Koalition zur sozial-liberalen Ostpolitik und Reformpolitik. Willy Brandt als Bundeskanzler und Gustav Heinemann als Bundespräsident haben wir nicht unerhebliche Geländegewinne im Ringen um das demokratische Selbstverständnis und die Stärkung des demokratischen Selbstbewußtseins in der Bundesrepublik zu verdanken. Schon im Krisenmanagement von Helmut Schmidt kam dieser Impuls zum Erliegen oder wandte sich erneut gegen die „etablierte" Politik. Seit der „Wende" geht es rückwärts. So wird heute den „Naturwissenschaftlern für den Frieden" oder den „Internationalen Ärzten gegen den Atomkrieg" das gleiche offizielle Mißtrauen entge323

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gengebracht, wie vor 30 Jahren den Unterzeichnern der „Göttinger Erklärung". Politisch engagierte Schriftsteller werden heute politisch eher als noch Schlimmeres angesehen d e n n als bloße „Pinscher". Und die philologische Sorge, ihr politisches Engagement könnte das eigentlich Edle an der Literatur ernsthaft beschädigen, wächst. Aber das erscheint noch relativ harmlos, wenn man sich ins Bewußtsein ruft, daß nicht nur der Rechtsradikalismus anwächst, was man weder dramatisieren noch bagatellisieren sollte, sondern zusätzlich zu revanchistischen Parolen wie etwa „Schlesien ist unser" inzwischen auch einige Unionsfunktionäre mit antisemitischen Äußerungen in der Öffentlichkeit aufgetreten sind. Wie die Fronten im Ringen um das politische Selbstverständnis der Westdeutschen innerhalb und außerhalb der Union verlaufen, ist anläßlich des 40. Jahrestags wie in einem Brennglas deutlich geworden. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat d e n 8. Mai 1985 zum Anlaß genommen, in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag auch im Rückblick auf das seit Kriegsende gemeinsam Geleistete darzulegen, warum dieser Tag f ü r uns trotz allen Elends der Niederlage „ein Tag der Befreiung" gewesen ist. Er hat die Verbrechen des Naziregimes beim Namen genannt und aus dem geschehenen Unheil f ü r unser politisches Selbstverständnis gefolgert: „Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und f ü r sie in H a f t u n g genommen. Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen, zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wach zu halten..." Diese große Rede wurde in weiten Teilen unseres Volkes als befreiend empf u n d e n und angenommen. Gleichzeitig ist der Bundespräsident wegen ihr vom rechten Flügel der Union scharf angegriffen worden, ohne daß er von der Unionsmitte offensiv verteidigt worden wäre. Der Grund d a f ü r ist einsichtig: Das Programm der Kohl-Regierung f ü r die „Bewältigung" deutscher Vergangenheit ist von den Einsichten Richard von Weizsäckers weit entfernt. Treibende Kraft dieses „Programms" ist Helmut Kohl selber, während die FDP sich, um es höflich zu formulieren, mit einer Zuschauerrolle begnügt - was sie dem politischen Liberalismus weiter entfremdet. Wenn Helmut Kohl in Israel „die Gnade der späten Geburt" f ü r sich reklamiert oder in Österreich stolz erklärt, er hätte Waldheim gewählt, wenn er ihn hätte wählen können, wenn er in Bitburg mit Ronald Reagan Versöhnung über Soldatenund SS-Gräbern zelebriert und sich im parallel gehaltenen Gedenken in BergenBelsen vom Protest ehemaliger Insassen dieses KZ nicht stören läßt, wenn er schließlich Michail Gorbatschow mitJoseph Goebbels vergleicht — dem davon peinlich berührten Teil der deutschen Öffentlichkeit kommt sofort d e r sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen in den Sinn, so wie ihn das wichtigtuerische Gerede Helmut Kohls über eine „geistig-politische Erneuerung" an die pompöse Hohlheit des Wilhelminismus erinnert. In dieser Reaktion stecken zwei politische Fehler auf einmal: der Mann wird unterschätzt und die Sache wird verharmlost. Es geht hier nicht u m Ausrutscher, sondern um politische Absicht. Kohl ist—von welchen Historikern und Medienexperten auch immer beraten — nicht nur als 324

36 Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition geistig-politischer Erneuerer", sondern vor allem als deutscher „Identitäts"Stifter tätig. Das Gerede von d e r „Gnade d e r späten Geburt" soll dahin wirken, die NachHitler-Generation aus d e m Zusammenhang des deutschen geschichtlichen Unheils zu lösen, so wie die Waldheim-Äußerung die Vergangenheit konservativ verklären soll. Das aber w ü r d e n u n gerade kein sicheres politisches Selbstverständnis schaffen. Die j u n g e Generation trägt, wie d e r Bundespräsident zu Recht gesagt hat, keine Schuld, wohl aber ein schweres politisches Erbe. Sie ist nicht verantwortlich f ü r das, was damals geschah, aber sie ist verantwortlich f ü r das, was sie in d e r Geschichte d a r a u s macht. Problematischer noch war die Bitburg-Inszenierung. Welcher Eindruck sollte mit diesen Fernsehbildern — im „Einsatz" der Medien geht es d a r u m , das kritische Wort d u r c h das suggestive Bild zu ersetzen — erzielt werden? Eine Bestätigung deutsch-amerikanischer Partnerschaft? Dazu b e d u r f t e es Bitburgs nicht — so wenig wie die deutsch-französische Partnerschaft der laufenden Fernsehsymbolik von H ä n d e d r ü c k e n u n d Händchenhalten bedarf. W o r u m es in Bitburg wirklich ging, war das symbolische Zudecken d e r Vergangenheit des Hitler-Krieges (einschließlich d e r SS-Vergangenheit) d u r c h einen „Versöhnungs-Akt". Darin lag die Verlogenheit d e r Sache. Es ging nicht u m die T o t e n in j e n e n Gräbern. Sie mögen — wenn auch in ganz a n d e r e r Weise als die Hekatomben von O p f e r n d e r Hitler-Armeen u n d d e r Waffen-SS—als j u n g e Menschen selbst O p f e r des Nazi-Regimes geworden sein. U n d a u ß e r d e m hört am Grabe allemal die Feindschaft auf. Nein, u m sie ging es nicht, es ging u m politische Symbolik. Daß deren Peinlichkeit in d e n Vereinigten Staaten weit deutlicher gespürt worden ist als bei uns, ist ein weiterer G r u n d zum Nachdenken, wenn m a n auch gerne einmal eine Erklärung d a f ü r erhalten würde, was Ronald Reagan sich eigentlich dabei gedacht hat. Was uns Deutsche betrifft, so kann ich n u r noch einmal den Bundespräsidenten zitieren: „Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind f ü r die Gegenwart. Wer sich d e r Unmenschlichkeit nicht erinnern will, d e r wird wieder anfällig f ü r neue Ansteckungsgefahren". W e n n die — in gewisser Konkurrenz zur DDR entwickelten Pläne Helmut Kohls f ü r die Einrichtung von Museen zur Deutschen Geschichte heute auf breites Mißtrauen stoßen, so liegt das nicht n u r an d e r autoritären Art, in d e r diese Pläne in Gang gesetzt worden sind. Aus d e m Mißtrauen spricht vor allem die Sorge, diese Museen könnten zu Werkstätten einer derartigen „Identitäts"- Klempnerei d u r c h Verdrängen werden. Vergessen u n d V e r d r ä n g e n aber verlängert die Gefangenschaft falscher Traditionen, n u r das Erinnern kann uns Deutschen ein freies politisches Selbstverständnis geben. Der Gorbatschow/Goebbels- Vergleich schließlich — zunächst vielleich ein Ausrutscher, an d e m d a n n aber festgehalten w u r d e — setzte das T ü p f e l c h e n auf das i. In U m k e h r u n g d e r Geschichte wird insinuiert, im G r u n d hätten die Sowjets mit den Nazis m e h r zu tun als wir selber. Dieser Versuch ist nicht neu. Die Kritik d e r deutschen Rechten an unseren - heutigen - amerikanischen Verbündeten steht in enger V e r b i n d u n g mit ihm. 325

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Alfred Dregger hat diese Kritik für den rechten Flügel der Union sowohl anläßlich des 40. Jahrestags des Sieges der Alliierten über Hitler-Deutschland als auch in der Auseinandersetzung um die Einbeziehung der Pershing I A-Raketen der Bundeswehr in die Vernichtung der Mittelstreckenwaffen klar formuliert. Bei beiden Gelegenheiten wurde deutlich, daß f ü r die westdeutsche Rechte das eigentliche Bindeglied zu den Vereinigten Staaten der Anti-Kommunismus ist. Da man doch — wenn nun leider auch, das war halt so, unter Hitler — als anständiger Deutscher schon gegen den Kommunismus gekämpft hat, als die Amis noch Alliierte der Sowjetunion waren, so möchte man sich doch wenigstens und gefälligst verbitten, daß der Sieg über Deutschland vom Westen auch noch gefeiert wird. Schließlich sind wir in der N A T O und auch sonst wieder wer. Und wenn man sieht, wie die Amis mit den Komis in der Abrüstung auf unsere Kosten gemeinsame Sache machen — „je kürzer die Raketen, desto toter die Deutschen", die Hunderttausende von Amerikanern, Kanadiern, Briten u n d Franzosen in der Bundesrepublik, die Holländer, Belgier und Luxemburg zählen offenbar nicht — da sieht man sich in seinem rechten deutschen Urinstinkt bekräftigt, daß man Amerika, dem nun insoweit die f r ü h e r dem „perfiden Albion" vorbehaltene Rolle zugewiesen wird, eben doch nicht so ganz trauen kann. Wenn Ernst Nolte konsequent wäre, müßte er den Vereinigten Staaten die Allianz mit d e r Sowjetunion im Kampf gegen Hitler-Deutschland als Verrat am europäischen Bürgertum vorwerfen. Denn nach seinen Thesen ist „der europäische Bürgerkrieg" j a zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus geführt worden. Nach dem Urteil von Fachhistorikern hat sein Buch mit einer unbedeutenden Ausnahme kein neues Material zutage gefördert, ja noch nicht einmal alles vorhandene Material aufgearbeitet. Neu ist die weithin apologetische und stellenweise wirre Deutung bekannter Tatsachen. Zweierlei scheint mir besonders bemerkenswert zu sein. Einmal die Unverfrorenheit, mit der die Vergasung der J u d e n mit dem bolschewistischen T e r r o r etwa gegen die Kulaken oder Auschwitz mit dem Archipel Gulag verständlich gemacht und zu rechtfertigen versucht wird. Nicht weniger bemerkenswert aber ist der Mangel an geschichtlichem Sinn. Hitler als selbsternannter Schutz- u n d Schirmherr des europäischen Bürgertums vor dem Bolschewismus, diese Zumutung müßte sich das europäische Bürgertum entschieden verbitten. Schließlich hat ein Teil dieses Bürgertums nach langem Taktieren zusammen mit dem amerikanischen seine politische und private Existenz aufs Spiel gesetzt, um Hitler und seine „Revolution des Nihilismus" (H. Rauschning) niederzuringen. Das war der europäische Bürgerkrieg, der wirklich stattgefunden hat. Und das europäische Bürgertum hat — trotz seines eigenen Anti-Kommunismus, der allerdings mit Hitlers „Untermenschen"-Ideologie nichts gemein hatte — in diesem Krieg die Allianz mit der Sowjetunion nicht gescheut. Neben machtpolitischen Kalkülen war d a f ü r offenbar ein Gespür f ü r den Unterschied zwischen Kommunismus u n d Nazismus von Bedeutung. Der Sowjetkommunismus war selbst noch in Stalins Verbrechen eine Perversion abendländischer Kultur, der Säkularisation ihrer christli326

36 Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition chen Wurzeln — was seine Verbrechen in keiner Weise entschuldigt. Der deutsche Nazismus aber mit seiner Ideologie der „Herren"- und der „Untermenschen" wollte diese Kultur in ihrer Wurzel vernichten, in ihrem Glauben an die Gleichheit aller, die Gottes Kinder sind, an die Würde aller, die Menschenantlitz tragen. Würde die Apologetik Noltes u n d seiner Gesinnungsfreunde bei uns Schule machen, so würde dies nicht deutsche „Identität", möglicherweise aber neues deutsches Unheil begründen. Notwendige Kritik an der politischen Rechten darf uns nicht blind machen f ü r Fehlentwicklungen auf der politischen Linken, die der Ausbildung eines sicheren politischen Selbstverständnisses deutscher Demokraten ebenso im Wege stehen. Ich halte z. B. nichts von einem sich „links" etikettierenden Nationalismus, d e r dann natürlich schnell Gemeinsamkeiten mit der Rechten entdeckt. Ich halte auch nichts von dem damit eng verbundenen kulturellen Anti-Amerikanismus, d e r sich zwar „links" nennt, aber sich alter rechter Klischees bedient: Deutsche Kultur gegen amerikanische Zivilisation (und das möglichst in Jeans, mit Kaugummi im Mund und Walkman auf dem Ohr). Sicher gibt es genug Gründe selbst f ü r massive Kritik an der amerikanischen Politik. Solche Kritik kann man in den Vereinigten Staaten immer offen und stets in dem Bewußtsein vortragen, in Amerika selbst viele Bundesgenossen zu besitzen und in einem Lande zu sprechen, in dem die offene Auseinandersetzung ein selbstverständlicher Bestandteil der politischen Kultur ist. Auch das kulturelle Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Europa ist nicht tabu. Man würde sich allerdings wünschen, daß alle Kritiker Amerikas wenigstens dessen kulturellen Reichtum kennten. Wem z. B. Europas Überschwemmung mit dem „trash" der amerikanischen Filmindustrie aufs deutsche Gemüt schlägt, der soll sich f ü r die Förderung guter deutscher und europäischer Filme einsetzen, in der Produktion wie im Vertrieb und vor allem im Fernsehen. Wer den „American Way of Life" gering schätzt, der soll einen eigenen Lebensstil entwickeln — und die Amerikaner nach ihrer Fasson selig werden lassen. Eine Neuauflage „wahrhaft deutschen" kulturellen Hochmuts steht uns jedenfalls schlecht an. Wir sollten nicht ganz vergessen, daß die Vereinigten Staaten z. B. für Menschenrechte und Demokratie mehr geleistet haben als fast jedes andere Land, weit mehr jedenfalls als wir Deutsche. Amerika hat das Leben seiner Söhne eingesetzt, um den Nazismus niederzuringen. Aus eigener Kraft konnten wir uns nicht befreien. Amerika hat den aus Deutschland Verbannten Zuflucht und Freiheit gewährt und damit zugleich mehr f ü r die deutsche Kultur getan, als seine „linken" Kritiker offenbar wahrhaben wollen. Und Amerika hat nach dem Krieg Westeuropa, einschließlich des besiegten Deutschland - sicher nicht aus bloßem Altruismus, aber doch mit einem Großmut und einer Großzügigkeit, die ihresgleichen sucht — wieder auf die Beine geholfen. Ein Teil der Amerika- wie der allgemeinen Demokratie-Enttäuschung in der j u n g e n Generation hat seine Wurzeln in einem idealistischen Amerika- und Demokratie-Bild der Nachkriegszeit, das von schiefer u n d übereifriger „re-educ327

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit tion" ebenso genährt wurde wie von deutscher bürgerlicher Tradition. Diesem idealisierten Bild konnte die Wirklichkeit beim besten Willen nicht standhalten. Wer übrigens im deutschen Idealismus „Identität" suchen sollte, d e r kann sie vor allem bei d e r RAF finden, j e n e r G r u p p e von Bürgerkindern, von d e r man - wenn man sich d u r c h d e n linken Lack nicht täuschen läßt — mit größerem Recht sagen könnte, was Thoms Mann ü b e r Hitler-Deutschland gesagt hat: „Klänge es nicht wie eine abscheuliche Beschönigung, so möchte man sagen, sie hätten ihre Verbrechen aus weltfremdem Idealismus begangen." Aber nicht n u r rechte u n d linke Fehlentwicklungen g e f ä h r d e n die Ausbild u n g eines ruhigen Selbstbewußtseins in unserer Republik. Auch das „wahrhaft deutsche" antipolitische Geschwätz, das nicht n u r an Stammtischen, sondern teilweise auch in d e n Medien bei uns aufgebrochen ist, darf nicht unwidersprochen bleiben. Wir d ü r f e n unsere Ablehnung von politischer Apathie u n d Indifferenz von keiner „Politikverdrossenheit" übertreffen lassen, so viele G r ü n d e es f ü r harte Kritik an Personen und Vorgängen in d e r Politik gibt. Niemand kann verlangen, f ü r sein politisches Engagement bewundert o d e r bedauert zu werden, es entspringt schließlich seiner eigenen Einsicht u n d Entscheidung. Aber d a r ü b e r sollten wir nicht vergessen, d a ß es zwar sehr bequem ist, die privaten Güter ü b e r das Gemeinwohl zu stellen, daß es aber d e n Menschen vom lieben Vieh unterscheidet, ein f ü r sein Leben u n d Zusammenleben selbst verantwortliches Wesen zu sein. Damit schließt sich der Kreis am Ausgangspunkt meiner Überlegungen: Der unpolitischen Kultur des deutschen Bürgertums.

Die DDR Ich habe u n t e r d e r Fragestellung „Deutsche Identität u n d unpolitische Tradition" die i n n e r e Dimension deutschen politischen Selbstverständnisses in Beschränkung auf die Bundesrepublik behandelt. Das ergibt sich aus d e r äußeren Dimension unserer Fragestellung, aus d e r deutschen Teilung. Ich bin B ü r g e r dieser Republik u n d trage als solcher f ü r sie unmittelbare politische Mitverantwortung. Ü b e r die DDR k a n n ich weitgehend nicht aus eigenem Erleben, sondern n u r aus äußerer Beobachtung sprechen — u n d die Quellen fließen weit spärlicher als bei uns. Sie reichen allerdings aus, u m festzustellen, d a ß die innere Dimension des Selbstverständnisses der DDR mit d e r unseren wenig gemeinsam hat. Eine „Identitäts"-Suche unserer Art ist d o r t nicht ausgebrochen. Die Frage ist eher, mit welchem Ergebnis die von Partei u n d Staat verordnete „Identität" von d e n B ü r g e r n in Anpassung und Widerstand verarbeitet wird. Anders als in d e r Bundesrepublik sind in d e r DDR die Reste des Bürgertums nach Hitler nicht restauriert, sondern geschliffen worden. In einer Revolution von oben w u r d e n die sozialen Strukturen umgekrempelt. Die energische „Säuber u n g " des öffentlichen Dienstes wie die millionenfache Flucht in den Westen beschleunigten diesen Prozeß. So ist der „Erste Deutsche Arbeiter- u n d Bauern328

36 Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition Staat", um Günter Gaus zu zitieren, eine Republik der „kleinen Leute" geworden. Der Antifaschismus wird in der DDR — das zeigt sich auch in ihrer Literatur — weit über die Reihen der SED hinaus als Antwort auf das Unglück deutscher Geschichte akzeptiert. Das ist nicht nur eine Folge der sozialen und politischen Umwälzung, sondern auch ein Ergebnis der Tatsache, daß die Selbstbesinnung der Nachkriegszeit anders als bei uns durch den Kalten Krieg nicht unterbrochen worden ist. Im Antifaschismus als Staatsideologie der DDR steckt aber zugleich auch ein manipulatives Element. Die Bürger der DDR, die nicht anders als die Westdeutschen in Irrtum und Schuld des Nationalsozialismus verstrickt waren, wurden durch ihre T a u f e zu „sozialistischen Menschen" politisch entlastet. Das läßt die „Bewältigung" der Vergangenheit wie Wiedergutmachungsleistungen an Israel als westdeutsche Probleme erscheinen. Die antifaschistische Vergangenheit der SED-Führungsschicht kommt insoweit dem geschichtlichen Selbstverständnis der DDR-Bürger zugute. Erich Honecker kann sich mit seinem Lebenslauf — schon in jungen Jahren illegale Arbeit gegen das Naziregime, mit 23 Jahren für 10 J a h r e ins Zuchthaus, nach der Befreiung Aufbauarbeit in der DDR und heute SED-Generalsekretär und DDR-Staatsratsvorsitzender — überall in der Welt sehen lassen, wenn diese Vergangenheit allein auch den in der DDR „real existierenden Sozialismus" nicht legitimieren kann. Wenn die SED heute in ihrem Streitpapier mit der SPD das Gemeineigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln zum Kernstück des real existierenden Sozialismus erklärt, so ist das nicht der Stein des Anstoßes f ü r die immer noch breite Ablehnung des Regimes durch die Deutschen in der DDR. Diese haben — auch als eifrige Zuschauer des westdeutschen Fernsehens — offensichtlich keine Sehnsucht nach kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen. Wohl aber haben sie, obwohl die meisten von ihnen nie in einer Demokratie gelebt haben, Sehnsucht nach mehr privater, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Entfaltungsmöglichkeit, kurz nach Freiheit. Das bestimmt das gesellschaftliche Bewußtsein untergründig mit. Es gibt z. B. auch in d e r DDR einen Rückzug ins Private, aber aus Mangel, nicht aus Überdruß an Freiheit. Der Geburtsfehler des „Ersten Deutschen Arbeiter- und Bauernstaates" bleibt auch in den Augen seiner Bürger, daß er nicht das Ergebnis einer deutschen demokratischen Entwicklung zum Sozialismus ist, sondern das Produkt der Abspaltung der deutschen Kommunisten von der Arbeiterbewegung und ihre anschließenden Unterordnung unter die unter völlig anderen Verhältnissen lebenden russischen Bolschewiki. Nicht dem Willen des deutschen Volkes in der sowjetisch besetzten Zone, sondern dem Willen der sowjetischen Besatzungsmacht verdankt die DDR ihre Entstehung. Das System des Sowjetkommunismus aber haben die Deutschen in der DDR als Fremdherrschaft e m p f u n d e n . Dieses Gefühl ist, bei allem Stolz auf das seither selbst Geleistete, auch heute keineswegs verschwunden. Weit davon entfernt, das Versprechen des Sozialismus zu erfüllen, „die ökonomische Befreiung der moralischen u n d politischen Person" (Schumacher), enthält das SED-Regime seinen

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Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Bürgern die persönliche wie die politische Freiheit vor. So bleibt die Bundesrepublik in Sachen Freiheit u n d Lebensstandard weiterhin Bezugspunkt. Andererseits hat die DDR im Innern seit ihrer Entstehung deutliche Fortschritte gemacht. Nicht n u r in ihren sozialen Errungenschaften, sondern auch in einer gewissen „Liberalisierung" z. B. im Verhältnis des Staates zu den Kirchen oder in der Abschaffung der Todesstrafe. Der Widerspruch zwischen Wort und Tat ist aber immer noch groß. Ob die Entwicklung eines Reformkommunismus in der DDR möglich ist, ist eine zentrale Frage nicht n u r f ü r die Bürger der DDR, sondern auch für uns in der Bundesrepublik. Das SED-Regime wird von seinen Bürgern jedenfalls um so stärker akzeptiert werden, je stärker sich die Verhältnisse in der DDR den Maßstäben einer demokratisch-sozialistischen Entwicklung angleichen. Daß die SED aus Ideologie, Selbstverständnis und Eigeninteresse nicht vorhat, die einmal errungene Macht wieder abzugeben, hat sie im Streitpapier mit der SPD mit den Worten umschrieben, daß f ü r sie „die politische Macht der Arbeiterklasse im Bündnis mit anderen Werktätigen das Fundament umfassender demokratischer Rechte" sei. Auch f ü r die DDR steht, wie f ü r die Bundesrepublik, die innere Dimension ihres Selbstverständnisses in unlösbarem Zusammenhang mit seiner äußeren Dimension, der deutschen Teilung. Dafür sorgt schon die geschilderte Bezogenheit der DDR-Bürger auf die Bundesrepublik. Dafür sorgt ferner die Einbindung der DDR in den Ostblock. Beobachter stimmen darin überein, daß das Privatleben der Bürger der DDR in viel stärkerem Maße im traditionellem Sinne deutsch geblieben ist als das Leben der Bürger der Bundesrepublik. Das ist einmal eine Folge des weit langsameren Tempos der wirtschaftlichen und sozialen Modernisier u n g in der Nachkriegszeit. Anders als in unserem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten gab es im Ostblock niemanden, von dem f ü r die DDR Modernisierungsimpulse hätten ausgehen können. Aber nicht nur das. Bis hinein in das öffentliche Leben hat sich in der DDR gegenüber den slawischen Nachbarn ein weit stärkeres deutsches Nationalgefühl erhalten — jene klagen gelegentlich sogar über neue deutsche Überheblichkeit—als bei uns gegenüber den Nachbarn im Westen. In der DDR hat auch keine der „Amerikanisierung" d e r Bundesrepublik vergleichbare „Russifizierung" stattgefunden. In der Bevölkerung gibt es eine eindeutige Frontstellung gegen jeden Ansatz dazu. Die bewußte A n k n ü p f u n g des SED-Regimes an die deutsche Geschichte — im Staatsmuseum f ü r deutsche Geschichte im Ost-Berliner Zeughaus, in der Restauration historischer Bauten, in den Luther-Feiern, im Wiederaufstellen des Reiterstandbilds Friedrich des Großen Unter den Linden, in der 750-Jahr-Feier Berlins - dient daher auch der Untermauerung des eigenen Selbstverständnisses und Selbstbewußtseins, j a des eigenen Anspruchs unter den Staaten des Warschauer Pakts. Vor allem aber dient diese Geschichtsübung der besseren Verankerung des SED-Regimes im Bewußtsein seiner Bürger. Sie ist Teil des Wettbewerbs mit der Bundesrepublik um Legitimierung aus deutscher Geschichte. Sie dient der Untermauerung des Anspruchs, nicht das ganze, wohl aber das bessere Deutschland zu sein. Die Automatik des offiziellen Geschichtsverständnisses stuft dabei 330

36 Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition

alles Gute aus dem Erbe deutscher Geschichte als Vorläufer des „Ersten Deutschen Arbeiter- und Bauernstaates" ein, während sie das Schlechte der Bundesrepublik zuweist. Im Selbstverständnis der DDR-Bürger wird dieses verordnete Geschichtsbild aber vielfach gebrochen. Diese Entwicklung zeigt, daß für die DDR wie für die Bundesrepublik trotz der fortgeschrittenen deutschen Teilung, trotz der Unterschiede im inneren Selbstverständnis, die Frage der deutschen Nation nicht vom Tisch ist. Dieser äußeren Dimension unseres Selbstverständnisses hüben und drüben wende ich mich jetzt zu.

Die „deutsche Frage" Die staatliche Einheit der Deutschen - von Bismarck mühsam in das europäische Gleichgewichtssystem eingebaut, aber schon vom Wilhelminismus gefährdet —ist von den Nazis im 2. Weltkrieg gegen West und Ost auf unabsehbare Zeit verspielt worden. Es hat seine politische Logik, daß nach der Niederlage des Naziregimes die Trennlinie der Nachkriegszeit — zwischen Ost und West, zwischen den Einflußbereichen der Großmächte, zwischen ihren gegensätzlichen Gesellschaftsordnungen — durch Deutschland läuft. Bei uns in der Bundesrepublik wird das Problem deutscher „Identität" in engem Zusammenhang mit „der" deutschen Frage gesehen. Das ist ein in dreifacher Hinsicht unklarer Sprachgebrauch. Einmal gibt es, wie wir gesehen haben, nicht eine, sondern viele deutsche Fragen. Zweitens muß man die Frage der deutschen Ostgebiete — vor allem also die der polnischen Westgrenze — sauber von der Frage des Verhältnisses zwischen Bundesrepublik und DDR trennen. Und drittens werden diese deutschen Fragen von uns, von der DDR, von den West- und Osteuropäern und schließlich von den beiden Supermächten ganz unterschiedlich gesehen. CDU/CSU und SPD haben in „der" deutschen Frage eine gegenläufige Entwicklung durchgemacht, deren wichtigste Stationen die Sowjetnote von 1952 und der Mauerbau von 1961 waren. Adenauer, dem es vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte um die feste Einbindung der Bundesrepublik in den Westen ging, war an einer Wiedervereinigung nicht interessiert. Er hatte Sorge, ein unter den gegebenen weltpolitischen Bedingungen vereinigtes Deutschland könnte zum Wanderer zwischen den zwei Welten werden. Wegen der Rücksicht auf die nationalen Gefühle der Westdeutschen, aus Sorge um Wählerstimmen, wagte er aber nicht, das offen zu sagen. So hat die Union in Sachen „Wiedervereinigung" — ein Wort, das übrigens im Grundgesetz gar nicht vorkommt — nach der umgekehrten Maxime von Clemenceau gehandelt: „Immer davon reden, nie daran denken". Das war eine Täuschung der Wähler, vor allem der Vertriebenen, es war aber auch ein Stück Selbsttäuschung der Union. So konnte die Enttäuschung nicht ausbleiben. Man sehe sich heute nur die groteske Diskussion in der Union 331

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit über die Forderung an, die deutsche Einheit müsse Vorrang vor Entspannung und Abrüstung haben. Der Preis, den die Union, aber auch die Bundesrepublik f ü r diese Politik der Täuschung und Selbsttäuschung gezahlt hat, ist hoch. Fern aller Realitäten nahmen wir mit d e r Hallstein-Doktrin f ü r die Bundesrepublik in Anspruch, ganz Deutschland zu vertreten. Noch im März 1953 erklärte ein Mitglied des zweiten und dritten Kabinetts Adenauer, Herr von Merkatz im Bundestag, bei der Wiedervereinigung gehe es um „die Befreiung d e r besetzten deutschen Gebiete". Das zeigt zweierlei. Einmal, daß auch die Frage der deutschen Ostgebiete unter den Begriff d e r „Wiedervereinigung" gebracht wurde. Bis auf den heutigen Tag wird vom rechten Flügel der Union die polnische Westgrenze immer wieder in Frage gestellt. Die zitierte Äußerung zeigt zum anderen, daß man sich in bezug auf die DDR den praktischen Prozeß der postulierten Wiedervereinigung überhaupt nur als „Anschluß" der DDR an die Bundesrepublik vorstellen konnte. Diese Einstellung hat nicht n u r zur Vertiefung der deutschen Spaltung beigetragen, sie stellt bis auf den heutigen Tag die Glaubwürdigkeit der Deutschlandpolitik der Union nach innen und außen in Frage. Dabei hatte sich, j e mehr sich eine „Wiedervereinigungspolitik der Stärke" als Illusion erwies, im Bewußtsein der westdeutschen Bevölkerung längst der Grundsatz durchgesetzt „Freiheit vor Einheit" — notfalls also keine Wiedervereinigung. Für das politische Selbstverständnis d e r Bundesbürger wäre ein offenes Bekenntnis zu diesem Grundsatz förderlicher gewesen als die Unsicherheit schaffende, halb illusionäre und halb verlogene Unionspolitik. „Die" deutsche Frage wäre damit allerdings nicht vom Tisch gewesen. Die deutschen Sozialdemokraten waren im Gegensatz zu Adenauer nicht bereit, die Teilung hinzunehmen. Sie sahen ihre außen- und innenpolitischen Folgen voraus. Die Zwangseingliederung der SPD in die SED hatte davon im Osten einen bitteren Vorgeschmack gegeben. Die von der amerikanischen Besatzungsmacht unterstützte gesellschaftliche Restaurationspolitik im Westen schmeckte der SPD auch nicht. Aus einem Patriotismus, dem der Stachel noch im Fleisch steckte, von den Verderbern Deutschlands als „vaterlandslose Gesellen" diffamiert worden zu sein, setzten sich die Sozialdemokraten auch 1952 d a f ü r ein, j e d e vermeintliche Chance zum Erhalt der staatlichen Einheit zu nutzen. Sie glaubten das auch unseren Landsleuten in der „Zone" politisch und moralisch schuldig zu sein — u n d zugleich den Genossen in den dortigen sozialdemokratischen Hochburgen.Mehr und mehr mußten die Sozialdemokraten aber - die tatenlose Hinnahme des Mauerbaus durch den Westen im August 1961 spielte dabei eine besondere Rolle — zweierlei erkennen: Erstens, daß man den territorialen Status quo in Europa, wie er sich als Folge des Hitlerkrieges ergeben hat, hinnehmen muß, wenn man den politischen Status quo der deutschen und europäischen Teilung ändern will. Und zweitens, daß man nicht mit einer Politik der Konfrontation, die die Teilung nur vertieft, sondern nur mit einer Politik der Entspannung und Zusammenarbeit die Spaltung Deutschlands und Europas überwinden oder doch jedenfalls mildern kann. 332

36 Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition Jeder, der seine politischen Sinne zusammen hat, weiß, daß die deutschen Ostgebiete, die so viel zur deutschen Kultur und Geschichte beigetragen haben, von Hitler verspielt worden sind. Die polnische Westgrenze ist von der DDR im Görlitzer, von der Bundesrepublik im Warschauer Vertrag anerkannt worden. Daß die Verträge ein juristisch als fortbestehend konstruiertes Deutsches Reich nicht binden sollen, ist politisch ziemlich irrelevant. Denn einmal wird es, bei aller Offenheit der Geschichte, eine politische Wiederherstellung des Deutschen Reiches nicht geben, und außerdem würde ein Friedensvertrag nach Überzeugung von Ost und West als erstes die Anerkennung des territorialen Status quo in Europa verlangen. Es geht also, um noch einmal den Bundespräsidenten zu zitieren, nicht darum, Grenzen in Europa zu verändern, sondern darum, ihnen ihren trennenden Charakter zu nehmen. Das gilt auch für die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Was deren Verhältnis betrifft, muß man genau differenzieren. Für die offizielle Politik der Bundesrepublik ist „die" deutsche Frage nach wie vor eine Frage der staatlichen Wiedervereinigung und ihres etwaigen Preises. Für die SED-Führung ist sie dagegen die Frage einer chemisch reinen Teilung bis hin zur „vollen Souveränität" der DDR, was immer dieser Begriff heute noch bedeuten kann. Für die europäischen Nachbarn - und zwar im Westen wie im Osten — ist „die" deutsche Frage dagegen, was immer in Verträgen und Erklärungen steht, die Frage der Aufrechterhaltung der deutschen Teilung. Sie haben unter deutschem Hegemonialstreben und deutscher Übermacht genug gelitten, um in der Teilung Deutschlands ein Stück ihrer eigenen Sicherheit zu sehen. Gelegentliche französische Pflichtübungen zur deutschen Einheit entspringen der mit Adenauer geteilten Sorge, die Westdeutschen könnten Wanderer zwischen zwei Welten werden. Authentischer Ausdruck französischen Selbstverständnisses aber ist die Äußerung von François Mauriac, er liebe Deutschland so sehr, daß er froh sei, nun zwei davon zu haben. Für die Supermächte schließlich läuft „die" deutsche Frage auf die Frage hinaus, wem Deutschland gehört. Dabei hat nicht nur die Sowjetunion Lenins Wort im Ohr, wer Deutschland beherrsche, beherrsche Europa. Gelegentliches sowjetisches Geraune, man könnte eines Tages vielleicht gewissermaßen und man weiß j a nie, die DDR an uns „verkaufen", ist darauf gemünzt, die wachsende Selbständigkeit der Ost-Berliner Blockgenossen zu dämpfen - und selbst dafür taugt es nicht mehr viel. Angesichts dieser Interessenlage werden wir Deutschen — wie schon im größten Teil unserer bisherigen Geschichte — auf nicht absehbare Zeit nicht in einem Staat leben. Die Bürger beider deutscher Republiken wissen das inzwischen und fragen darum — in der DDR verständlicherweise stärker als in der Bundesrepublik —, welche Verbesserungen unseres Zusammenlebens möglich sind und welche Verbesserungen sich daraus für das Leben im eigenen Staat ergeben könnten. Diese Sicht der Dinge ist auch in der Sache keineswegs willkürlich. Könnte 333

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit denn überhaupt der Nationalstaat, der schon 1871 keine tragfähige Antwort auf die deutschen Probleme war, diese heute lösen? Verlieren doch selbst „gestandene" Nationalstaaten in der heutigen Welt mehr und mehr an Bedeutung. Sie müssen einerseits wegen der wachsenden europäischen und internationalen Interdependenz Kompetenzen nach oben abgeben, an supranationale und internationale Institutionen, Einrichtungen und Bündnisse. Und sie müssen andererseits, da sich der Zusammenhang von Schutz und Gehorsam, der an d e r Wiege des modernen Staates Pate gestanden hat, auflöst, neuen regionalen Autonomiebestrebungen mehr u n d mehr Raum geben. Andererseits wäre ein Versuch der Bundesrepublik oder der DDR, deutsches Nationalbewußtsein jeweils n u r f ü r sich zu reklamieren, nicht nur angesichts dieser Entwicklung absurd. Als Nationalismus, der die Nation weiter teilen würde, wäre er die letzte Perversion des nationalen Gedankens in unserer Geschichte. Darum ist auch — was immer DDR-Politiker und -Historiker reden und schreiben — der Versuch der SED gescheitert, nicht nur zwei deutsche Staaten, sondern auch zwei deutsche Nationen zu postulieren. Richtig ist dagegen Honeckers Aussage von 1974: „Staatsbürgerschaft - DDR, Nationalität — deutsch". Für töricht habe ich aber auch den vor einigen J a h r e n in der Bundesrepublik unternommenen Versuch gehalten, eine deutsche Friedenssuche an den Großmächten vorbei als „linken" — vielleicht war ja auch n u r gemeint „alternativen" — Nationalismus auszugeben. Ein polemisch begabter Kritiker hat d a f ü r die Überschrift gefunden „Ein Volk, ein Reich, ein Frieden". Protagonisten einer nationalen Friedenssuche haben dagegen den nicht n u r Verheißung, sondern Gewißheit verkündenden Buchtitel gewählt „Die deutsche Einheit kommt bestimmt". Das Fortbestehen d e r Deutschen als Nation sagt aber nichts über eine zukünftige staatliche Einheit aus. Nation ist als politischer Begriff sehr viel weiter als das Staatliche. Daß die deutsche Nation trotz der Teilung in zwei Republiken fortbesteht, macht gerade die äußere Dimension der Problematik unseres Selbstverständnisses aus. Zunächst besteht die deutsche Nation als Kulturnation fort. Das bezeugt die deutsche Literatur in beiden Republiken in ihren Werken wie in den Äußerungen ihres Selbstverständnisses. Martin Walser hat gesagt: „Aus meinem historischen Bewußtsein ist Deutschland nicht zu tilgen. Sie können neue Landkarten drucken, aber sie können mein Bewußtsein nicht neu herstellen. Dazu war ich zu lange Leser. Ich weiß, was gelaufen ist, bevor es zu so etwas wie Deutschland kam. Ich weigere mich, an der Liquidierung von Geschichte teilzunehmen." Und Stephan Hermlin hat erklärt: „So bin ich denn ein deutscher Schriftsteller, ich sei nur immer, wer ich sei, verbunden mit allem, im Positiven wie im Negativen, was deutsch geschrieben wurde und geschrieben wird. Die G r ü n d u n g der DDR vor fast dreißig Jahren war eines der wichtigsten Ereignisse deutscher Geschichte, und ich darf sagen, ich bin dabeigewesen. Aber diese G r ü n d u n g war nicht das Ende deutscher Geschichte, sondern ein neues Kapitel in ihr." Die Bürger beider Republiken sprechen die gleiche Sprache, haben bis 1945 334

36 Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition dieselbe Geschichte — wenn sie sie heute auch unterschiedlich interpretieren und haben nicht nur das Gefühl fortbestehender Zusammengehörigkeit, sondern auch den Willen, eine Nation zu bleiben. Der durch die Entspannungspolitik ermöglichte millionenfache Besucherverkehr und d e r wachsende vielfältige Austausch legen d a f ü r beredtes Zeugnis ab. Da sich eine Nation politisch aber erst durch gemeinsame Ziele konstitutiert, lautet die Frage an das politische Selbstverständnis der Deutschen insoweit: Haben sie heute trotz der staatlichen u n d gesellschaftlichen Teilung noch solche gemeinsamen Ziele? Herbert Wehner hat dazu 1967, als d e r Kalte Krieg gerade zu Ende ging, ein prophetisches Wort gesagt: „Die Reifeprüfung der Nation besteht darin, daß wir gespalten miteinander zu leben genötigt sind und dabei doch dem Frieden zu dienen haben." Die von der Union erbittert bekämpfte Entspannungspolitik Willy Brandts hat diese Einsicht in die Tat umgesetzt. Zu ihrer realistischen Einschätzung dessen, was die Deutschen selbst zur Verbesserung ihrer Lage tun können, gehörte die Erkenntnis, daß uns nicht eine illusionäre Politik einer deutschen „Wiedervereinigung", sondern nur eine Politik zur Schaffung einer europäischen Friedensordnung weiterbringen kann. Die deutsche Teilung ist ein Teil der Spaltung Europas - unter der alle Europäer leiden - u n d kann n u r zusammen mit dieser gemildert und abgebaut werden. Und wenn ich von Europa spreche, meine ich ganz Europa. Vom Aufwärmen des schillernden Begriffs „Mitteleuropa" erwarte ich außer neuen Mißverständnissen nichts. Spekulationen, zu welchen Formen deutschen und europäischen Zusammenlebens die Fortführung der Entspannungspolitik eines Tages führen kann, sind wohlfeil, aber kaum hilfreich. Wichtig ist, die bereits erzielten Fortschritte nicht n u r mit Klauen und Zähnen zu verteidigen, sondern sie weiter auszubauen. Heute erklären beide deutsche Republiken — und beide mit der breiten Zustimmung sowohl ihrer Bürger als auch ihrer europäischen Nachbarn —, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf. Deutsches und europäisches Selbstverständnis decken sich insoweit. Beide Staaten bekennen sich zu einer Verantwortungsgemeinschaft der Deutschen dafür, daß von deutschem Boden Werke des Friedens ausgehen. Heute drängen beide deutschen Staaten - beide Hauptwaffenlager der einander gegenüberstehenden Supermächte und darum besonders gefährdet — gemeinsam darauf, daß abgerüstet wird. Beide wollen zu dem von Willy Brandt mit seiner Ostpolitik eingeleiteten Prozeß f ü r Sicherheit, Zusammenarbeit und Entspannung in Europa gemeinsame Beiträge leisten. In diesem Prozeß muß auch Berlin eine neue Aufgabe u n d Rolle finden. Skeptiker, vor allem auf dem rechten Flügel der Union fragen, ob das SEDRegime damit nicht n u r die „deutsche Karte" spiele, u m im Auftrag der Sowjetunion die Bindung der Bundesrepublik an den Westen aufzuweichen. Aber wenn irgendjemand davor Sorge haben müßte, daß im weltpolitischen Ringen eines Tages die deutsche Karte gespielt wird, dann ist es die SED. Die könnte sich dabei schnell in der Rolle des Zauberlehrlings finden. Es wäre daher gut, wenn die Kritiker der jetzt breit getragenen Bonner 335

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlandpolitik begriffen: Es gibt d r ü b e n bei d e r F ü h r u n g wie bei d e n Bürgern d e r DDR einen gleichermaßen genuinen Wunsch nach Entspannung u n d Abrüstung wie bei uns u n d auch bei ihnen aus deutschem Interesse. Sicher f ü h r t diese Politik zugleich zu einer weiteren Stabilisierung des SED-Regimes, d a sie — ein f ü r die SED-Führung einigermaßen neues Erfolgserlebnis - von d e n Landsleuten d r ü b e n akzeptiert wird. Aber deswegen darf man doch nicht die Einsicht auch d e r DDR-Führung, d a ß es Sicherheit n u r noch gemeinsam geben kann, als bloße Taktik u n d P r o p a g a n d a abtun. Der Osten vertritt seine Interessen u n d macht seine Propaganda so wie d e r Westen die seine. Aber die Verantwortlichen im Osten sind—im Gegensatz zu den Nazis—weder Nihilisten noch Hasardeure. Die B e h a u p t u n g eines Wesensunterschieds von Kommunismus u n d Nationalsozialismus f ü h r t uns zur inneren Dimension d e r deutschen u n d europäischen Teilung zurück. Die heute auf beiden Seiten u n d vor allem in beiden deutschen Staaten v o r h a n d e n e Einsicht, daß man im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen die Auseinandersetzung d e r Ideologien u n d d e r Gesellschaftssysteme im Interesse des Überlebens d e r Menschheit entmilitarisieren muß, hebt die insofern bestehenden Unterschiede u n d Gegensätze nicht auf. Sie läßt die ideologische Auseinandersetzung aber auch nicht u n b e r ü h r t — wie u. a. die Neufassung des Programms d e r KPdSU zeigt. Eine Lehre vom gerechten Krieg z. B. können sich heute weder d e r Osten noch d e r Westen leisten. Etwas anderes k o m m t hinzu: Die quasi „eigengesetzliche" weltweite technische Entwicklung stellt uns mit ihren wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen u n d psychologischen Folgen, f ü r den einzelnen wie f ü r den Staat, in Ost u n d West wenn nicht vor gleiche, so doch vor sehr ähnliche Probleme. Die Identitätssuche j u n g e r Menschen zwischen Anpassung u n d Protest gehört dazu ebenso wie d e r verstärkte Rückzug von Erwachsenen in scheinbare private Geborgenheit; d e r Ruf nach politischer Orientierung ebenso wie die Unfähigkeit nationaler Entscheidungsstrukturen zur Lösung der inzwischen längst übernationalen Probleme. Dieser Sachlage entspricht es, daß im KSZE-Prozeß nicht n u r über gemeinsame Sicherheit in Europa, sondern auch über technologische u n d wirtschaftliche Kooperation, ü b e r gesellschaftlichen Austausch, über die Verwirklichung von individuellen u n d kollektiven Menschenrechten gesprochen wird. Im Westen wird angesichts der faktischen Mißerfolge d e r „Wende" e r n e u t deutlich, d a ß wir auf D a u e r n u r durch ebenso vorausschauende wie besonnene Reformen innenpolitische Stabilität bewahren können. Der Osten weiß inzwischen unter F ü h r u n g von Gorbatschow selbst, d a ß e r die heutigen Probleme nicht d u r c h den Bindestrich-Dogmatismus des „Marxismus-Leninismus" lösen kann. U n d gleichzeitig entwickelt E u r o p a in Ost und West einen n e u e n Willen zur Selbstbehauptung. Der Prozeß d e r E n t s p a n n u n g eröffnet so auch d e n Dialog über die innere O r d n u n g d e r beiden Blöcke und damit auch der beiden deutschen Republiken. Darin liegt eine List d e r V e r n u n f t und eine weitere R e i f e p r ü f u n g unserer Nation zugleich. Eine List d e r V e r n u n f t , weil n u n das Zusammenleben in d e r Teilung 336

36 Horst Ehmke: Deutsche Identität und unpolitische Tradition vonbeiden Republiken den e r n e u t e n Dialog über Fragen erzwingt, die o h n e die Existenz des a n d e r e n kaum noch diskutiert w ü r d e n . Das vor kurzem vorgelegte Streitpapier zwischen SPD u n d SED stellt in dieser Auseinandersetzung einen historischen Meilenstein dar. Es geht von der Entwicklungsfähigkeit u n d Reformfähigkeit beider Systeme im friedlichen Wettbewerb aus u n d verlangt in Ost u n d West eine o f f e n e Diskussion ü b e r die beiderseitigen Erfolge u n d Mißerfolge. Die SED m u ß jetzt in d e r DDR nicht n u r viele Fragen zu diesem Streitpapier beantworten, sie m u ß auch den Worten Taten folgen lassen. Die Vorgänge in Ost-Berlin u n d Dresden haben gezeigt, wie schwer ihr das fällt. Aber o h n e freieren Dialog nicht n u r zwischen den beiden Gesellschaftssystemen, sondern gerade auch in d e r eigenen Gesellschaft, hat sie keine Zukunft, kann sie auch nicht am Europäischen H a u s mitbauen. Auch bei uns ist, wie die kritische Reaktion auf das Streitpapier bis in die Reihen d e r SPD hinein zeigt, die historische Perspektive dieses Dialogs noch nicht überall verstanden worden. Ich wiederhole dazu die Frage, die ich den Ängstlichen schon zu Beginn d e r Ostpolitik gestellt habe: Was sollen überzeugte Demokraten von einem solchen Dialog eigentlich zu befürchten haben? Die Frage, wieviel Umsicht, Phantasie u n d Geduld wir aufzubringen bereit sind, u m nicht n u r d e n Frieden zu sichern, sondern auch die ideologische Teilung Europas u n d Deutschlands, wenn nicht aufzuheben, so doch abzubauen, stellt uns zugleich vor eine weitere P r ü f u n g unseres politischen Selbstverständnisses als Nation. Wir begehen in d e r Bundesrepublik — von feiern kann man j a nicht recht sprechen - den 17. J u n i als „Tag d e r deutschen Einheit". Aber hat nicht Fritz Stern recht, d e r uns im vergangenen J a h r in einer noblen und nachdenklichen Rede nahegelegt hat, diesen T a g e h e r im Z u s a m m e n h a n g d e r Geschichte d e r Freiheit in Deutschland zu sehen? U n d wissen wir nicht im G r u n d e alle zusammen, d a ß individuelle u n d gesellschaftliche Freiheit in Z u k u n f t noch weniger als bisher mit d e m „sacro egoismo" verwechselt werden darf? Weiß nicht u m g e k e h r t die SED, daß zur Lösung d e r Probleme die bisherige ideologische wie technokratische Gängelei ihrer B ü r g e r in keinem Fall ausreichen wird? Das f ü h r t schließlich zu einer zentralen Frage f ü r die Deutschen in der DDR wie in d e r Bundesrepublik—und nicht n u r f ü r die Deutschen: Ist d e r Kommunismus ü b e r h a u p t reformfähig? Darauf gibt es keine Antwort a priori. Ich halte es f ü r falsch, dem Kommunismus — auch dem an d e r Macht befindlichen Kommunismus — die Reformfähigkeit grundsätzlich abzusprechen. Meines Erachtens unterscheidet auch das ihn — ich m u ß darauf zurückkommen — vom Nationalsozialismus. Die T h e s e d e r Nachkriegsjahre, daß in d e r Nacht des Totalitarismus alle Katzen grau seien, d a ß - u m ein aus bitterer sozialdemokratischer E r f a h r u n g mit d e n deutschen Kommunisten geborenes Wort zu zitieren — die Kommunisten „rot-lackierte Nazis" seien, ist meiner E r f a h r u n g nach falsch. Dem Nationalsozialismus gegenüber wäre ein Appell, sich an seine eigenen Maßstäbe zu halten, geradezu makaber gewesen. Den Kommunismus m u ß man an seine eigenen Maßstäbe erinnern u n d a n den Widerspruch, d e r zwischen seinen Worten u n d seinen 337

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit T a t e n besteht. Die F o r d e r u n g nach einem „Sozialismus mit menschlichem Gesicht" klagt die Verheißung ein. Die F o r d e r u n g nach einem „Faschismus mit menschlichem Gesicht" würde das Unmögliche verlangen. O d e r kann sich jem a n d vorstellen, die Westmächte hätten in einem d e m KSZE-Prozeß vergleichbaren Dialog mit Nazi-Deutschland um die Verwirklichung von Menschenrechten ringen können? Wir müssen in Europa den Versuch wagen, in einem großen Ost/West-Dialog, von d e m d e r deutsch-deutsche Dialog n u r ein — hoffentlich konstruktiver — Teil sein kann, d e m notwendigen Wettbewerb d e r Gesellschaftssysteme nicht n u r seinen friedensgefährdenden Charakter zu n e h m e n , sondern aus ihm soziale u n d politische R e f o r m e n im Interesse d e r Menschen in Ost u n d West zu entwikkeln. Nicht n u r ü b e r den Frieden, auch über R e f o r m e n m u ß in E u r o p a zwischen West u n d Ost gesprochen werden. Hier liegt gerade f ü r unser politisches Selbstverständnis als Deutsche eine lohnende Aufgabe. Denn wo liegt d e r Beginn eines solchen Dialogs n ä h e r als in unserem Land, das d u r c h die Trennlinie d e r Ideologien u n d Gesellschaftssysteme geteilt wird — u n d in dem Karl Marx u n d Friedrich Engels geboren wurden? Mit einer solchen Anstrengung bleiben wir den Aufgaben treu, die wir uns in d e r Präambel des Grundgesetzes gestellt haben: als gleichberechtigtes Glied in einem Vereinten Europa d e m Frieden der Welt u n d zugleich d e r Freiheit u n d dem Zusammenhalt aller Deutschen zu dienen. Die beharrliche Erfüllung dieser Aufgabe in praktischer Politik hat f ü r die Festigung unseres politischen Selbstverständnisses als Bundesbürger und als Deutsche größere Bedeutung, als sie die tiefsinnigste deutsche „Identitäts"-Philosophie jemals haben kann.

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Gedenken an den 44. Jahrestag des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944

Bei einer Feierstunde am 19. Juli 1988 erklärte die Bürgermeisterin von Berlin, Dr. Hanna-Renate Launen, im Rathaus Schöneberg: „Wir sind wieder, nun schon in guter Tradition, versammelt, um an die Menschen zu denken, die die Idee der Freiheit, Menschenwürde und Recht auch vertraten, als dies das Leben kosten konnte. Im Namen des Senats von Berlin und des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen begrüße ich Sie alle —Sie, Träger dieses Widerstandes, Verwandte und Freunde jener Männer und Frauen und Sie, Bürgerinnen u n d Bürger unseres Landes, unserer Stadt. Ich heiße Sie auch im Namen der Stiftung .Hilfswerk 20. Juli 1944', des Zentralverbandes Demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgtenorganisationen und der Union Deutscher Widerstandskämpfer und Verfolgtenverbände zu diesem Empfang herzlich willkommen. Sie und wir alle wissen: Den Widerstandskämpfern des 20. Juli blieb der militärische und politische Erfolg versagt. Unglückliche Umstände und riskante Planung verhinderten das Befreiungswerk. Der 20. Juli 1944 war kein militärischer Erfolg der Deutschen! Durch die Attentäter wurde sichtbar: Hitler gleich Deutschland — das stimmte nicht mehr. Wenn wir feststellen: Die Verschwörung des 20. Juli 1944 war ein .Aufstand des Gewissens'; in diesen Menschen trat das ausgetriebene Gewissen geschichtlich in Erscheinung, so ist damit ein wichtiger Grund genannt, der uns immer wieder Tag und Geschehen erinnern läßt. Es ist aber nicht nostalgisches Erinnern oder ein Alibidatum, das die Deutschen verführen könnte, sich selbst nur als Söhne und Töchter von Opfern, nicht auch von Tätern zu sehen — nein, es ist ein Datum, das uns schmerzlich die damalige Erfolglosigkeit, die Minderheitensituation, befreiend die Größe derer bewußt macht, die keinen Kompromiß mit den Mächtigen eingingen und ihren persönlichen und familiären Frieden, ihren Wohlstand, ihre Freiheit, ihr Leben, ihre Ehre, ja sogar ihren würdigen Tod aufs Spiel setzten. Sie rufen uns in unserer freiheitlichen Staatform nachdrücklich auf, Gewissen, das sich an Recht und Freiheit orientiert, nicht zu vergessen. Keine Meinungsumfrage, keine Zustimmungs- oder Ablehnungsprozente dürfen diese Verantwortung löschen. Es paßt zu diesem Ruf, wenn ich mir erlaube, hier heute unter uns besonders an General Friedrich Olbricht zu erinnern, dessen 100. Geburtstag wir in diesem Jahr gedenken. Im Dreikaiserjahr 1888 geboren, ging der Sohn eines Gymnasialdirektors 1907 zur Armee. Seine militärische Laufbahn spielte sich zumeist im Generalstab ab. Im Sommer 1940 wurde der General der Infanterie zum Chef des Allgemeinen Heeresamtes und des Oberkommandos des Heeres ernannt. In dieser Schlüsselposition erkannte Olbricht f r ü h die Sinnlosigkeit der Kriegsfüh339

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit rung, was ihn dazu bewog, sich dem Widerstandskreis im O b e r k o m m a n d o des Heeres anzuschließen. A m 20. Juli verlangte Olbricht von Generalsekretär Fromm verabredungsgemäß die Ausgabe des Stichwortes .Walküre'. Nachdem d a n n das Scheitern des Attentat-Versuchs b e k a n n t wurde, ist Olbricht mit Stauffenberg, Beck, Hoeppner und Mertz von Qurinheim verhaftet u n d auf Befehl General Fromms noch am Abend des 20. Juli im H o f e des Oberkommandos des Heeres in d e r Bendlerstraße erschossen worden. Er war kein Mann vieler Worte. Er hat auch nicht T a g e b ü c h e r o d e r Aufzeichn u n g e n hinterlassen. Seine letzten Worte wurden von seinem Schwiegersohn und Mitverschwörer, Dr. Friedrich Georgi, Stabsoffizier d e r Luftwaffe, d e r in d e m allgemeinen Durcheinander im Bendlerblock entkommen konnte, f ü r die Nachwelt bewahrt. Sie lauten: ,Ich weiß nicht, wie eine spätere Nachwelt mal einst über unsere T a t u n d über mich urteilen wird, ich weiß aber mit Sicherheit, d a ß wir alle frei von irgendwelchen persönlichen Motiven gehandelt haben und n u r in einer schon verzweifelten Situation das Letzte gewagt haben, Deutschland vor dem völligen U n t e r g a n g zu bewahren. Ich bin überzeugt, daß unsere Nachwelt das einst e r k e n n e n und begreifen wird.' Ich d a n k e I h n e n allen, d a ß Sie mithelfen, nicht n u r dieses Vermächtnis aufzubewahren, sondern diesen Auftrag zu erfüllen. Ich wünsche I h n e n und uns Begegnungen in diesem Geist und schon heute ein glückliches Wiedersehen im nächsten J a h r . " In d e r Gedenkstunde am Mittwoch, 20. Juli, 12 Uhr, in d e r Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Ehrenhof, Stauffenbergstraße 13—14 in Tiergarten) erklärte Bürgermeisterin Dr. Hanna-Renate Laurien: „Sie alle, die ich im N a m e n des Berliner Senats, im N a m e n aller Berlinerinnen und Berliner hier willkommen heiße, wir alle haben uns hier versammelt, u m derer zu gedenken, die Freiheit u n d Recht u n d Menschenwürde als die N o r m e n ihres Handelns bejahten, sie lebend vertraten u n d f ü r sie starben. Der blinden ,Gefolgschaftstreue', deren Anhänger sich nach 1945 i m m e r wieder auf Befehle und Gehorsam beriefen, setzten sie d e n Gehorsam gegenüber ihrem an Recht und Freiheit orientierten Gewissen entgegen. ,Es sollen einmal a n d e r e besser und glücklicher leben d ü r f e n , weil wir gestorben sind' — das formulierte Alfred Delp im Angesicht des T o d e s mit gefesselten H ä n d e n . Uns ist dies M a h n u n g und A u f r u f : Wir d ü r f e n unsere freiheitliche Demokratie nicht zur selbstverständlichen Alltäglichkeit werden lassen. Wie leicht gewöhnen wir uns an ihre Vorteile u n d sehen ihre Schwächen überdeutlich scharf. Bei d e r Grundsteinlegung eines Ehrenmals f ü r die O p f e r des 20. J u l i in Berlin sagte Ernst Reuter 1952: ,Wir erfüllen das Vermächtnis d e r Toten, indem wir aus i h r e m Geiste ein neues Deutschland aufbauen, das f ü r die Welt ein sicherer H o r t d e r Freiheit sein wird.' 340

37 Gedenken an den 44. Jahrestag des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944

Es gehört zu den Stärken der Demokratie, d a ß Schwächen, Fehler, Verfehlungen nicht unter den Teppich gekehrt, sondern offenbar werden. Nur Diktaturen bekennen öffentlich keine Fehler! Unser Bekenntnis zur Demokratie schließt die ganze Wirklichkeit des Menschen ein — seine Gefährdungen und seine Vorbildhaftigkeit, seine Schwächen und seine Stärke. Es tut wohl not in diesem Jahr, in dem wir im November an den 50. Jahrestag d e r entsetzlichen ,Reichspogromnacht' erinnert werden, indem wir soeben das 40jährige Jubiläum d e r DM und das unser Grundgesetz und die parlamentarische Versammlung vorbereitende T r e f f e n der deutschen Ministerpräsidenten in Koblenz festlich begangen haben, in diesem Jahr vertieft und dankbar zu begreifen, daß unsere heutige Wirklichkeit auf dem .anderen Deutschland' aufgebaut ist, uns bewußt zu machen, daß diese Männer, denen man das Recht verweigerte, die als Wehrkraftzersetzer, Kollaborateure, Volksfeinde, schlechte Deutsche verteufelt wurden, daß sie uns heute ermöglichen, wieder von Deutschland zu sprechen. ,Wir haben das Letzte gewagt f ü r Deutschland', sagte General Friedrich 01bricht, dessen 100. Geburtstag sich in diesem Jahr jährt, kurz vor seiner Hinrichtung am 20. Juli 1944. Diese Männer mahnen uns, niemals jenen von freiheitlicher Menschenwürde bestimmten Gegensatz im Umgang mit Andersdenkenden zu vergessen, den ich kurz so beschreiben möchte: In der Diktatur ist der Gegner der Feind, der Schurke, der Verbrecher; in der Demokratie müssen wir alle dazu beitragen, niemals aus d e m Gegner den Feind werden zu lassen. Gerade in Berlin kann man hautnah erfahren, daß Freiheit kein Naturgesetz, sondern Verpflichtung, Auftrag, auch Geschenk ist. Berlin war Zentrum des Terrors u n d des Widerstandes. Berlin ist heute der Ort, wo wir Deutschen uns selbst begegnen können, ist Grenze und Stätte des Dialogs, Berlin ist Gefährdung und Chance. Berlin — Kulturstadt 1988 — verdeutlicht, daß Europa größer ist als die EG, daß Freiheit nicht durch Mauern aufzuheben ist. ,Es sollen einmal andere besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.' Wir leben besser, hoffentlich auch glücklicher und bekennen uns in Dankbarkeit und Ehrfurcht zu diesem Auftrag, zu dieser Verpflichtung f ü r Freiheit u n d Recht." Die Hauptrede hielt in der Stauffenbergstraße die Tochter des hingerichteten Widerstandskämpfers Dr. Goerdeler, Frau Marianne Meyer-Kramer: „Die erste Nachricht vom Fehlschlag des Attentats kam in der Nacht vom 20. zum 21. Juli durch den Rundfunk. Am Vormittag des 21. Juli wurden Extra-Blätter verkauft. Sie priesen die Bewahrung des .Führers' vor dem Anschlag einer .kleinen Clique von Ehrgeizlingen'. Nie werde ich das Entsetzen vergessen, als ich auf dem Blatt den Namen Stauffenbergs las. Der strahlende Sommertag wurde dunkel. Ich wußte, ich würde auch meinen Vater nie wiedersehen. Die Alten der hier Anwesenden werden den Schrecken dieses Tages — wie ich 341

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit — noch fühlen. Wir waren uns darüber klar: es war nicht ,eine kleine Clique', die hinter dem Versuch stand, dem Regime endlich ein Ende zu machen. Wohl, es waren nicht viele, aber es gab ein mit Wagemut, Überlegungen u n d mit Bedacht geknüpftes Netz von Verbindungen zwischen Hitler-Gegnern. Sie waren unterschiedlicher sozialer Herkunft und hatten divergierende politische Ansichten im einzelnen. Mit ihrem Lebensalter umspannten sie zwei Generationen. Aber es war alles andere als eine Clique, die sich n u r f ü r sich selbst interessierte. Sie waren durch das gemeinsame Ziel verbunden, den Verbrechen und dem Krieg ein Ende zu setzen. Sorgsame Vorbereitungen waren notwendig gewesen, f ü r die Tat selbst, f ü r die rasche Ausschaltung des nationalsozialistischen Machtapparates unmittelbar danach und f ü r eine schnelle Beendigung des Krieges, dem alle Völker täglich Tausende von Menschen zu opfern gezwungen waren. Das Netz der Verbindungen verknüpfte Militärs in maßgeblichen Positionen mit Zivilisten, ehemalige Beamten, Führern der verbotenen Sozialdemokratischen Partei, des Zentrums und der Gewerkschaften verschiedener Richtungen, Kirchenmännern. Alle waren sie, wenn irgend möglich, mit anderen kleinen Gruppen verbunden — nicht durchorganisiert, nicht hierarchisch gegliedert und doch in geregeltem Kontakt. Wie hätte das unter den Argusaugen der Gestapo auch anders möglich sein sollen? Und doch, wenn auch die Zahl der zur Tat Entschlossenen nicht sehr groß war, das Netz zog sich von Süddeutschland zum Saarland und zum Ruhrgebiet, Sachsen, Thüringen, Schlesien, bis nach Ostpreußen; nicht zu reden von den Verbindungen nach Paris und Wien und zur Heeresgruppe Mitte, der Ostfront. Berlin war Mittelpunkt. Hier waren die Orte der heimlichen Treffen: in Lebers Kohlenhandlung, in d e r Wittelsbacher Straße bei Jacob Kaiser, in der Hortensienstraße bei Yorck, im Arbeitszimmer von Hermann Kaiser bei General Olbricht. Aber dies f ü r den Umsturzplan so wichtige Verbindungsnetz sollte zum Fangnetz für alle werden, die ihr Leben riskierten, als sie bereit waren, sich an der T a t zu beteiligen. Auch nach 1945 ist der Umsturzversuch des 20. Juli nicht selten als Tat einer kleinen G r u p p e bezeichnet worden, die sich lediglich ein Alibi angesichts des voraussehbaren Sieges der Alliierten verschaffen wollte. Nüchterne Tatsachen können diese Behauptungen widerlegen. Tatsachen, die wir vielleicht erst jetzt durch eine vollständige Erschließung von zum Teil ausländischem Material übersehen können. Ich meine die nachweisbaren Vorgänge, die außergewöhnlichen Vorgänge des Jahres 1938. Es liegt nahe, sie gerade heute ins Bild zu rücken, da sie fast bis auf den Tag genau 50 Jahre zurückliegenZiehen wir zunächst die Summe des Jahres 1938 aus dem Aspekt der damaligen Zeit: Hitler hatte dem deutschen Volk außenpolitische Erfolge in einem Ausmaß beschert, wie die Politiker der Weimarer Republik sie sich nicht hätten erträumen können: Remilitarisierung des Rheinlandes, E i n f ü h r u n g der allgemeinen Wehrpflicht, Verträge mit Polen und England. 342

37 Gedenken an den 44. Jahrestag des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 Im Frühjahr 1938 war die Eingliederung Österreichs ohne nennenswerte Reaktion des Auslandes gelungen. Und dies alles trotz des ostentativen Austritts aus dem Völkerbund! 1936 wurde die Olympiade zum großen Schaufest: Allgemeine Anerkennung auch durch das Ausland. Innenpolitisch glaubte Hitler, alle bedeutenden Gegner ausgeschaltet zu haben, wenn sie es überhaupt gewagt hatten, im Lande zu bleiben. Nach oft jahrelanger KZ-Haft war ihnen, den ehemaligen Führern der Sozialdemokraten, des Zentrums, der Gewerkschaften, den Kommunisten, nur ein Leben unter strenger Beobachtung und in bescheidenen Verhältnissen möglich. Der Entzug der Pässe war eine Selbstverständlichkeit! So glaubte man sie unschädlich. Wer vermutete hinter der kleinen Kohlenhandlung Julius Lebers oder dem Betrieb Wilhelm Leuschners konspirative Tätigkeit? Aber ausgerechnet auf der Höhe seiner Erfolge sollten dem Nazi-Regime die Gegner aus einem anderen ,Lager' entgegentreten: dem Militär, dem Auswärtigen Amt und Zivilisten - alle eher .konservativer' Anschauung. Bald sollte sich allerdings die Frage stellen, ob das Verhalten dieser Männer mit dem Attribut .konservativ' noch zulänglich beschrieben ist. Was ging vor? Am 30. Mai des Jahres 1938 hatte Hitler der Wehrmacht als seinen .unabänderlichen Entschluß' mitgeteilt, ,die Tschechoslowakei... durch eine militärische Aktion zu zerschlagen'. Ludwig Beck, der Generalstabschef des deutschen Heeres, fürchtete für diesen Fall das bewaffnete Eingreifen von Frankreich und England. Hitlers Vorhaben würde ,mit einer Katastrophe für Deutschland endigen'. Deshalb forderte er in einer Denkschrift die höchsten Führer der deutschen Wehrmacht zu nicht weniger als einer gemeinsamen Gehorsamsverweigerung auf, um Hitler zur Aufgabe seiner Kriegspläne zu zwingen. ,Ihr soldatischer Gehorsam', so schreibt er am 16. Juli 1938, ,hat dort eine Grenze, wo Ihr Wissen, Ihr Gewissen und Ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbieten' - .Letzte Entscheidungen stehen auf dem Spiel'. - Dabei geht es ihm, dem Militär, um mehr als die Abwendung eines Krieges, der nur verloren werden kann. Er will ,die Wiederherstellung geordneter Rechtszustände' und erwartet die .unausbleibliche Auseinandersetzung mit der SS und der Bonzokratie'. Mindestens so ungewöhnlich in der deutschen Geschichte, j a westlicher Tradition überhaupt, wie die Mahnungen eines Generalstabschefs, dem Führer des Staates nicht mehr Gefolgschaft zu leisten, ist das Verhalten von drei Männern, die aus der alten .Machtelite' — wie man heute so gern im Soziologendeutsch sagt — stammen: Am 1 8 . 8 . 1 9 3 8 reist der pommersche Gutsbesitzer, iswaWi/on^/mi-Se/wremziM, ein früherer Hitler-Gegner aus dem konservativen Lager, nach London. Einverständnis besteht zwischen ihm, Generaloberst Beck und dem Chef der Abwehr, Canaris, der englischen Regierung über Vansittart dringend zu einer demonstrativen Bekundung ihrer Abwehrbereitschaft zu raten. Dadurch hofft er, die deutschen Generale von der Notwendigkeit zu überzeugen, Hitler zu stürzen oder 343

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit einem zurückweichenden Diktator eine politische Niederlage zu bereiten, die sein Regime erschüttern könnte. Der zweite deutsche Zivilist wird von dem Ständigen Unterstaatssekretär im britischen Außenamt Cadogan in seinem Tagebuch mit den Buchstaben X bezeichnet, um dessen Leben nicht zu gefährden. W i r wissen heute, es handelt sich um einen aktiven Angehörigen des diplomatischen Dienstes, den damaligen deutschen Geschäftsträger in London, Theodor Kordt. E r .stelle sein Gewissen über seine Loyalität' erklärt Kordt am 6. September seinen britischen Gesprächspartnern. Er informiert sie ebenso wie Kleist über Hitlers Kriegsabsichten und dringt gleichfalls a u f eine unmißverständliche öffentliche britische W a r n u n g vor einem deutschen Gewaltakt — möglichst in einer Rundfunkbotschaft an das deutsche Volk. Sie soll die Führer des deutschen Heeres psychologisch in die Lage versetzen, Hitler an der Ausführung seiner Kriegspläne zu hindern und dabei das einem Krieg abgeneigte deutsche Volk vollends gegen Hitler stimulieren. Der dritte Zivilist, der im Ausland mahnt, ist Carl Goerdeler, mein Vater. Schon Mitte des J a h r e s 1937 hatte er in England, Frankreich und den U S A maßgebliche Politiker aufgesucht, um vor den weitreichenden Eroberungsabsichten Hitlers zu warnen und ebenso die Tatsache ins Bewußtsein zu rücken, daß sich in Deutschland ein Terror-System etabliert habe. A m 1. Dezember 1937 hatte er in New York bei einem befreundeten Emigranten ein .Politisches Testament' hinterlegt, das einmal von diesen Warnungen Zeugnis ablegen sollte. 1945 wurde es veröffentlicht. , Man soll in der Welt mitjeder Gewalttat und m i t j e d e r Schrecklichkeit menschlichen Geschicks rechnen. Denn dieser Weg wird um so schrecklicher sein, weil der Nationalsozialismus es meisterhaft verstanden hat, zeitweise 8 0 % des deutschen Volkes, j a eine ganze Welt zu täuschen.' Düster und grundsätzlicher hätte die Mahnung vor Hitler-Deutschland nicht ausfallen können! Dann, im Frühjahr 1938, bei einem erneuten Besuch in England, als das Ausland auf den Anschluß Österreichs kaum reagiert hatte, weist Goerdeler auf die nächste Gefahr hin: ,Ein Diktator muß stets neues Wildbret auf den Frühstückstisch bringen, wenn er bestehen und überleben will. Diesmal ist es Österreich, das nächstemal wird es die Tschechoslowakei sein, und so weiter, und so weiter...'. So gibt A. P. Young, der Verbindungsmann zu Vansittart, meines Vaters Worte wieder. Schließlich, im August und September 1938, beschwor er— wieder über den von Vansittart zu ihm gesandten Young—die britische Regierung, Hitler öffentlich in unmißverständlicher Form zu erklären, daß sie einem deutschen Gewaltakt gegen die Tschechoslowakei mit Gewalt begegnen würde. Wieder sollten die deutschen Generale von dem Ernst der Situation überzeugt und damit vor die Wahl gestellt werden, entweder Hitler zu gehorchen und den Untergang des Reiches heraufzubeschwören, oder eine Umsturzaktion gegen den Diktator zu planen. Nicht, daß die vier genannten Männer einer Erfüllung gerechtfertigter Wünsche der Sudetendeutschen widerstrebt hätten! Sie war j a auch verhältnismäßig bald gesichert.

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37 Gedenken an den 44. Jahrestag des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 Wohl aber wollten sie einen f ü r Deutschland u n d die Welt verhängnisvollen Krieg verhindern u n d h o f f t e n - sozusagen mit englischer N a c h h i l f e - d i e s e Gelegenheit zum Sturz des Nazi-Regimes nutzen zu können. Daß England damals auf keine so unsichere Chance wie einen Militärputsch gebaut hat, wird man ihm nicht zum Vorwurf machen können. Fraglich bleibt aber wohl, ob nach allen mit Hitler gemachten E r f a h r u n g e n , d e r britische Premier d e m deutschen Diktator so viel Vertrauen schenken d u r f t e , wie e r ihm vor .München', in .München' und unmittelbar nach .München' wirklich geschenkt hat. Jedenfalls gibt Hitler bereits drei Wochen später d e n Geheimbefehl zur Zerschlagung der sogenannten .Resttschechei'. Im März 1939 zeigt er sein wahres Gesicht vollends d u r c h d e n Marsch nach Prag! Die deutschen M a h n e r hatten zweifellos klarer gesehen als d e r britische Premier. N u r glaubten sie, d a ß das, was d e n Nationalsozialisten o h n e entscheidende Friedenssicherung zugebilligt wurde, die Revision von Versailles, auch ihnen, die gerade keine Expansionspolitik über nationalstaatliche Grenzen hinaus anstrebten, zugestanden werden könnte, d e n n ein d a u e r h a f t e r Friede war ihr Ziel. Am 3. Oktober, nach den .Erfolgen von München' — Hitlers n e u e Kriegsabsichten a h n e n d — richtete deshalb Goerdeler wieder eine (kürzlich erst entdeckte) Denkschrift an das deutsche Militär: ,Ich bleibe also bei meiner Empfehlung, die deutschen Lebensinteressen jetzt erst recht auf dem Verständigungswege zu verwirklichen und insbesonders d e r Versuchung zu j e d e r abenteuerlichen Expansionspolitik zu widerstehen... Die entscheidende Gefahr auch f ü r die deutsche Außenpolitik bleibt die aus d e m Totalitätsanspruch d e r Partei u n d aus d e m T e r r o r system sich ergebende Recht- u n d Sittenlosigkeit'. Noch o f f e n e r , j a verzweifelt, heißt es in einem Brief vom 11. Oktober 1938 an Spencer Miller, einen amerikanischen F r e u n d : .Eigentlich könnte ich n u n sagen: immerhin vergrößert diese Entwicklung die Macht u n d d e n Lebensraum meines Landes. Als Deutscher sollte ich an sich sehr zufrieden sein. Ich weiß jedoch, daß diese Diktatoren nichts als Verbrecher sind'. Vergegenwärtigen wir uns heute, 50 J a h r e nach diesen Vorgängen, das Außergewöhnliche am T u n dieser Männer, die d a n n alle am Umsturzversuch des 20. Juli wieder beteiligt sein werden. 1. Sie, die eher von traditionellen Vorstellungen geprägt sind, warnen im Ausland vor der eigenen Regierung—das war wohl schon deshalb f ü r konservative Engländer so schwer verständlich, weil .man' das als echter Patriot nicht tat. 2. Selbst die materielle Machterweiterung des eigenen Staates, die auch von diesen Deutschen, die da warnten, so ersehnte .Revision von Versailles', täuschte sie nicht über den Charakter des Verbrechensstaates hinweg. 3. Ludwig Beck, Kleist-Schmenzin, Theo Kordt, Carl Goerdeler gehörten nicht zu denen, die schon deshalb Hitler-Gegner waren, weil sie von Hitler verfolgt wurd e n . Im Gegenteil, sie hatten alle die Chance, im Hitler-Staat ihr Auskommen zu haben. Wenn sie sich zurückhielten u n d abwarteten, war ihnen sogar in einer Nach-Hitler-Zeit A n e r k e n n u n g gewiß. Statt dessen riskierten sie schon 345

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit mit i h r e m Auftreten im Ausland, das mit einer Fülle von Gestapo-Spitzeln durchsetzt war, ihre Freiheit, wenn nicht ihr Leben. Diese Männer selbst haben ihr T u n k a u m als außergewöhnlich oder schon gar nicht als h e l d e n h a f t betrachtet. Sie taten n u r das f ü r sie Selbstverständliche. Vielleicht waren sie gerade d a r i n an Traditionen gebunden: I h r Ehrbegriff u n d ihre Vaterlandsliebe geboten ihnen, gegen eine Regierung anzukämpfen, die eine gesamteuropäische, ja eine gesamtmenschliche B e d r o h u n g bedeutete, ganz gleichgültig, ob sie sich als deutsche deklarieren konnte. J e w s are driven like animals' — J u d e n werden wie Tiere herumgetrieben' — schreibt mein Vater an A. P. Young 1938. Wollten die Demokratien das wirklich weiter geschehen lassen? Aber die Warner haben vergeblich gewarnt. Als Hitler in d e r Tschechoslowakei einmarschiert, wird die AppeasementStimmung in England radikal umschlagen u n d n u r noch ein Kampf bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands g e f ü h r t werden. Der Zweite Weltkrieg hat eine zweigeteilte Welt hinterlassen, die bald aufs neue hochrüsten sollte u n d n u n erst langsam, langsam die Schritte n e u e r Sicherungen gegen den Krieg geht. Die deutschen Hitler-Gegner vor 50 J a h r e n sind aber auf das schwierige fast aussichtslose Vorhaben verwiesen, eine Verschwörung im Krieg planen zu müssen — ein noch gewagteres T u n . Das Netz d e r Hitler-Gegner, von d e m ich zu Beginn sprach, wird n u n e n g geknüpft. Denkt man an das häufige Auseinanderbrechen von Koalitionen in d e r Weimarer Republik, m u ß man erstaunt sein, wie bald n u n eine Koalition entsteht, die ich — in A n l e h n u n g an Annedore Leber — eine .Koalition d e r Gewissen' n e n n e n möchte. Die Divergenzen zwischen den G r u p p e n d e r entschlossenen Hitler- Gegner sollen nicht vorschnell harmonisiert werden; dennoch wird der Koalitionscharakter d e r Verbindung häufig unterschätzt, wenn man vorschnell .Kreise' voneinander abgrenzt. N ä h e r e Betrachtung d e r Memoirenliteratur zeigt eine ganze Anzahl von Q u e r v e r b i n d u n g e n . N a t u r g e m ä ß haben die Kaltenbrunner-Berichte, die Berichte d e r Gestapo, S p a n n u n g e n zwischen d e n G r u p p i e r u n g e n gern herausgearbeitet o d e r heraushören wollen. Wir Angehörigen und Nachkommen sollten uns da nicht verwirren lassen. Der Druck d e r stets präsenten Gefahr hat manche G r u p p e n n u r zu ganz wenigen Gesprächen zusammenkommen lassen. So hat es n u r zwei Begegnungen zwischen Goerdeler u n d d e m ,Kreisauer Kreis' gegeben. Manche Diskussion war d a d u r c h viel zu sehr verkürzt. Menschen wie Leber, Leuschner, Beck, Moltke u n d Goerdeler, die zum Handeln Entschlossenen, waren zudem besonders starke Persönlichkeiten, mit sehr entschiedenen Standpunkten. Politische Auseinandersetzung und Diskussion, d. h. d e n Pluralismus d e r offenen Meinungsäußerung, schützen wir heute als eine d e r kostbarsten G ü t e r d e r Demokratie — sollten wir ihn Hitler-Gegnern, die ein gemeinsames Hauptziel einte, nicht genauso zubilligen? Ich möchte die B e h a u p t u n g wagen, d a ß es - bei allen Divergenzen — auch ein Ergebnis dieser .Koalition d e r Gewissen' war, wenn die Bundesrepublik nicht mit 346

37 Gedenken an den 44. Jahrestag des Attentats auf Hitler am. 20. Juli 1944 derartigen ideologischen G r a b e n k ä m p f e n belastet wurde wie die Weimarer Republik. So gerät zum Schluß das Gedenken in ein Nachdenken über d e n Staat, in dem wir heute leben. Ein Nachdenken ü b e r die Botschaft, die aus einer fernen, heute noch einmal so n a h e n Zeit zu uns h e r ü b e r k o m m t . Wohl gedenken wir d e r einmaligen Tat, als Männer u n d Frauen in ungewöhnlicher Situation handelten. Nachdenken aber sollten wir d a r ü b e r , was ihnen als selbstverständlich galt und u m dessentwillen sie handelten. Sind es überholte Selbstverständlichkeiten'? Haben sie noch Aktualität? Wir leben nicht in d e r ungewöhnlichen Situation eines Terror-Systems in unserem Land. Sind uns die .Selbstverständlichkeiten' d e r Männer und Frauen des Widerstandes, so sie aktuell sind, auch selbst-verständlich, d. h. gesichertes Gut, gesicherte N o r m des Handelns? Ich möchte n u r drei Bereiche ansprechen, hier u n d heute nicht auf ihre Europa* u n d Friedenssicherungspläne eingehen. Es ging den Hitler-Gegnern u m die Pflicht d e r politisch H a n d e l n d e n , wahrhaftig zu sein. Sind heute Verläßlichkeit u n d Integrität d e r Politiker u n d aller Verantwortlichen selbstverständlich? Ist es selbstverständlich, die Öffentlichkeit ü b e r Sachverhalte aufzuklären, damit sie sich ihr eigenes Urteil bilden kann? Kennen wir nicht die Arroganz d e r Macht, die Volksaufklärung gar nicht nötig hat? Geben wir uns selbst nicht zu oft damit zufrieden, daß politische Maßnahmen uns ,gut verkauft' werden? Es ging d e n Hitler-Gegnern u m die W a h r u n g d e r Menschenwürde, der Menschenrechte aller Menschen. Sie forderten, ü b e r nationale Grenzen hinweg, sich f ü r sie einzusetzen; wohl wissend, daß es Terror-Systeme gibt, in d e n e n die Schwachen, Machtlosen allein sich nicht wehren können. Ist d e r Schutz von Minderheiten in u n s e r e m eigenen Land uns selbstverständlich? Ist d e r Schutz von Schwachen u n d Machtlosen unserer Welt selbstverständlich? Es ging d e n Hitler-Gegnern u m die W a h r u n g gerade auch d e r eigenen Menschenwürde. D a r u m , daß j e d e r einzelne mit sich u n d seinem Gewissen im reinen sein konnte, d e r V e r f ü h r u n g widerstand, n u r d e n eigenen Vorteil zu suchen. Schon die Einstellungen in einer Gesellschaft k ö n n e n diesem Opportunismus Vorschub leisten o d e r ihn eindämmen. Noch entscheidender ist d e r Einfluß des Staates. Der nationalsozialistische Staat machte sich die Verführbarkeit des Menschen zunutze. So konnte d e r O p p o r t u n i s m u s ein Einfallstor f ü r Hitlers Erfolge werden u n d die Menschen k o r r u m p i e r e n . Ist unsere Gesellschaft, ist j e d e r einzelne von uns ganz selbstverständlich gegen die Gefahr des Opportunismus gefeit? Auch wenn in eine Vergangenheitsform gekleidet, können uns Bonhoeffers Worte noch heute als d r ä n g e n d e Fragen begleiten; sie finden sich in d e r Samm347

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit lung von Betrachtungen .Nach zehn Jahren' unter d e r Überschrift: Sind wir noch brauchbar? ,Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden sind wir noch brauchbar? Nicht Genies, nicht Zyniker, nicht Menschenverächter, nicht raffinierte Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen werden wir brauchen. Wird unsere innere Widerstandskraft gegen das uns Aufgezwungene stark genug und unsere Aufrichtigkeit gegen uns selbst schonungslos genug geblieben sein, daß wir den Weg zur Schlichtheit und Geradheit wiederfinden?' Sind wir noch brauchbar?" Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl erklärte: „Heute jährt sich zum 44. Mal das Attentat des 20. Juli 1944: Die mutige Manifestation des deutschen Widerstandes gegen das Terrorregime des Dritten Reiches. Jene Männer u n d Frauen, die in ihrer Gewissensnot nur den Ausweg eines Staatsstreiches sahen, kamen aus allen Schichten des Volkes, aus allen weltanschaulichen u n d politischen Richtungen. Sie hatten schwer u m ihre Entscheid u n g gerungen, aber sie waren um des Vaterlandes willen entschlossen zu handeln: Sie wollten, daß in Deutschland die Menschenwürde wieder geachtet und die Freiheit wiederhergestellt werde — und sie wollten den Frieden. Doch das Attentat Graf Stauffenbergs scheiterte. Der Diktator überlebte und nahm grausame Rache. Die meisten der Verschwörer mußten ihre aufrechte Gesinnung mit d e m Leben bezahlen. Ihr Widerstand aber war nicht vergebens. Vor der Geschichte sind nicht sie gescheitert, sondern das nationalsozialistische Terrorregime. Der Widerstand gegen die NS-Diktatur ist f ü r uns eine bleibende Verpflichtung, die unantastbare Menschenwürde zu achten und den Frieden in Freiheit zu bewahren. Diese Verantwortung für Würde und Freiheit des Menschen ist unteilbar und bezieht das gesamte deutsche Volk mit ein. Darin liegt die nationale Verpflichtung der Erinnerung an den 20. Juli 1944. Das Vermächtnis des Widerstands zu erfüllen, heißt deshalb nicht nur, wachsam und standhaft die freiheitlich-demokratische O r d n u n g d e r Bundesrepublik Deutschland zu verteidigen, sondern stets auch, sich der Verantwortung f ü r Deutschland als geteilte Nation zu stellen: wir wollen unser ganzes Vaterland als eine Demokratie, in der die Würde des Menschen gewahrt u n d die Freiheit des einzelnen gewährleistet ist, in d e r der Bürger Verantwortung übernimmt gegenüber seinen Mitbürgern wie gegenüber dem Ganzen. Der 20. Juli ist Beweis d a f ü r , daß die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Selbstbestimmung sich nicht auf Dauer unterdrücken läßt. Deshalb ist es f ü r uns auch ein bleibendes Zeichen der Hoffnung." 348

38 Dreißig Jahre Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg

38.1 Die Ansprachen Die Feier des SOjährigen Bestehens der Zentralen Stelle in Ludwigsburg am 9.9. und 10.9. 1988 war ein Ereignis, das es verdiente, durch den Landesminister Dr. Heinz Eyrich, für Justiz-, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Baden-Württemberg eröffnet zu werden. Heinz Eyrich, der vor langen Jahren selbst in der Zentralen Stelle als Jurist tätig war, gab einen Rückblick auf dieses bedeutsame Beginnen, das zu einer Auswertung von 1,5 Mio Dokumenten führte und dadurch die Möglichkeit erbrachte, vielen Verbrechen und ihren Tätern auf die Spur zu kommen. Heinz Eyrich sagte in seiner Begrüßungsansprache: „Dreißig Jahre Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg — das ist sicherlich kein Anlaß zu feiern. Aber es ist doch ein guter Grund, heute hier in diesem Kreise zusammen zu kommen, um sich zu besinnen und darüber nachzudenken, was hier in drei Jahrzehnten für das Recht geleistet worden ist. Ich freue mich, daß Sie meiner Einladung heute so zahlreich gefolgt sind. Der würdige Rahmen, den wir für dieses Symposion gewählt haben, entspricht der hohen Bedeutung dieser Zusammenkunft. Es ist mir eine besondere Freude, als Vertreter der Landesjustizverwaltung den derzeitigen Vorsitzenden der Konferenz der Justizminister und -Senatoren, den Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, Herrn Senator Volker Krönig, heute hier willkommen heißen zu dürfen. Ebenso freut es mich, Herrn Staatssekretär Dr. Klaus Kinkel als Vertreter des Bundesministers der Justiz in unserer Mitte begrüßen zu können. Mein ganz besonderer Gruß gilt dem früheren Justizminister unseres Bundeslandes Baden-Württemberg, Herrn Justizminister a. D. Dr. Wolfgang Hausmann, der vor 30 Jahren maßgeblichen Anteil hatte an der Gründung der Zentralen Stelle. Meiner Einladung gefolgt sind auch Vertreter unseres Landesparlaments. Ich begrüße herzlich - den Vorsitzenden des ständigen Ausschusses des Landtags von Baden-Württemberg, Herrn Abgeordneten Dr. Lang, und - den Vorsitzenden des Finanzausschusses, Herrn Abgeordneten Beerstecher. Sein Erscheinen zur Podiumsdiskussion am Samstag hat auch Herr Bundestagsabgeordneter und Staatsminister a. D. Huonker zugesagt, den ich bereits heute willkommen heißen darf. 349

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Als offizielle Vertreter des Landkreises und der Stadt Ludwigsburg, in d e r die Zentrale Stelle ihren Sitz hat, begrüße ich herzlich H e r r n Landrat Dr. Hartmann und f ü r den auf Dienstreise befindlichen Oberbürgermeister Henke H e r r n Ersten Bürgermeister Schäfer. Für die großzügige Unterstützung, die ich bei der Ausgestaltung dieser Veranstaltung von Stadt und Landkreis erfahren durfte, danke ich beiden Körperschaften und ihren Repräsentanten schon an dieser Stelle sehr herzlich. Ich begrüße weiterhin den ständigen Vertreter des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof, Herrn Bundesanwalt Löchner, sowie vom Bundesgerichtshof, Herrn Bundesrichter Dr. Meyer. Für die Gerichte des Landes Baden-Württemberg heiße ich willkommen den Präsidenten des Oberlandesgerichts Stuttgart, Herrn Weinmann. Für die Staatsanwaltschaften unseres Landes gilt mein Gruß dem Generalstaatsanwalt in Karlsruhe, Herrn Bauer. Als Vertreter der Polizei begrüße ich den Präsidenten des Landeskriminalamts Baden-Württemberg, Herrn Bux. Stellvertretend f ü r unsere ausländischen Gäste, die uns heute abend die Ehre ihrer Anwesenheit geben, darf ich begrüßen den Gesandten an der Botschaft des Staates Israel in Bonn, Herrn Dr. Padon. Meine Damen und Herren, ein wissenschaftliches Symposion, zu d e m wir uns hier versammelt haben, ist nicht durchführbar ohne aktive Teilnehmer und Mitgestalter. Ich freue mich deshalb, unter uns begrüßen zu können die Referenten des morgigen Tages u n d die Teilnehmer der Podiumsdiskussion am Samstag. Im einzelnen heiße ich mit Dank f ü r das Erscheinen willkommen: — H e r r n Dr. Kamis von der Tschechoslowakischen Regierungskommission zur Verfolgung von NS-Verbrechern, Prag, — H e r r n Prof. Dr. Kakol, den Direktor der polnischen Hauptkommission zur Untersuchung von NS-Verbrechen in Warschau, — H e r r n Stellvertretenden Generalstaatsanwalt Brilman aus Amsterdam, — H e r r n Direktor Sher vom Office of Special Investigations des US- Justizministeriums, Washington, — H e r r n Archivdirektor Dr. Krakowski von der Gedenkstätte Yad Washem, Jerusalem, — H e r r n Prof. Dr. Friedländer aus Washington, — H e r r n Prof. Dr. Schefffler von der Technischen Universität Berlin, — H e r r n Oberstaatsanwalt Röseler von der Zentralstelle f ü r die Bearbietung von national-sozialistischen Verbrechen bei der Staatsanwaltschaft Köln, — an Stelle des kurzfristig verhinderten Institutsleiters Prof. Dr. Broszat— Herrn Weiß, den Stellvertretenden Archivleiter des Instituts f ü r Zeitgeschichte in München. Meine Damen und Herren, gerne würde ich Sie alle mit Ihrem Namen begrüßen und dabei zugleich hervorheben, wie wichtig Ihre Verbundenheit mit der Zentra350

38 DreißigJahre Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen len Stelle ist. Die so erfreulich große Zahl d e r Anwesenden erlaubt dies — wofür ich u m Verständnis bitten m u ß — leider nicht. Lassen Sie mich mit einem herzlichen Willkommensgruß den Dank f ü r ihre Anteilnahme an d e n schweren Aufgaben der Zentralen Stelle verbinden. Über das Interesse, das die Medien an dieser Veranstaltung gezeigt haben, f r e u e n wir uns sehr. Ich begrüße deshalb die D a m e n u n d H e r r e n d e r Presse, des R u n d f u n k s u n d des Fernsehens sehr herzlich. Die Einrichtung einer Zentralen Stelle zur A u f k l ä r u n g von NS-Verbrechen war bekanntlich im Gefolge des sogenannten ,Ulmer Einsatzkommando-Prozesses' (ab 1956; in seinem Verlauf war bekannt geworden, daß zahlreiche vor allem im Osten begangene schwerste NSVerbrechen bis dahin gerichtlich nicht geahndet worden waren) auf Anregung des Justizministeriums Baden-Württemberg von d e n Justizministern u n d -Senatoren d e r deutschen Bundesländern am 3. Oktober 1958 in Bad H a r z b u r g beschlossen worden. Zum ersten Leiter d e r Zentralen Stelle w u r d e damals H e r r Generalstaatsanwalt a. D. Schule bestellt, den ich gleichfalls heute abend herzlich hier begrüßen darf. Er hat die Zentrale Stelle seinerzeit aus ihren Anfängen h e r a u s g e f ü h r t und zu einer effektiv arbeitenden B e h ö r d e gemacht. Sein Nachfolger, d e r 1986 allzu f r ü h verstorbene Leitende Oberstaatsanwalt Dr. Dr. h. c. Rückerl— dessen Witwe zu meiner Freude ebenfalls a n d e m Symposion teilnehmen wird —, hat diese Arbeit vom September 1966 bis zu seinem Eintritt in d e n Ruhestand im Frühjahr 1984 mit großem Erfolg f o r t g e f ü h r t . Seitdem wird die zentrale Stelle von H e r r n Leitendem Oberstaatsanwalt Streim geleitet, d e r zuvor schon lange J a h r e als Vertreter von H e r r n Dr. Rückerl tätig war. Ich darf H e r r n Streim an dieser Stelle ebenfalls noch als Referenten bei d e m morgigen Symposion u n d als Teilnehmer an d e r Podiumsdiskussion am Samstag herzlich willkommen heißen u n d ihm außerd e m auch meinen besonderen Dank d a f ü r aussprechen, daß e r die Organisation dieser Veranstaltung ü b e r n o m m e n hat. Doch zurück zum J a h r e 1958: Aus heutiger Sicht ist n u r schwer nachvollziehbar, warum es erst so spät, 13 J a h r e nach Kriegsende, zur G r ü n d u n g einer solchen Einrichtung gekommen ist. Man darf dabei jedoch nicht übersehen, d a ß sich die deutsche Justiz mit der A u f k l ä r u n g u n d Verfolgung d e r nationalsozialistischen Verbrechen einer Aufgabe gegenübergestellt sah - u n d noch heute sieht —, wie sie Rechtspflegeorgane kaum zuvor jemals, eigentlich noch nie u n d nirgends, zu lösen hatten. Ich bin der Meinung, daß die deutsche Justiz dabei das Mögliche geleistet hat. Zwischen d e n J a h r e n 1950 (Übergang d e r Zuständigkeit d e r Strafverfolgung von den Alliierten auf die deutschen Gerichte) u n d etwa 1957/58 gab es zwar sicherlich eine gewisse Lücke in d e r Verfolgung d e r NS-Verbrechen. Das ist zweifellos ein Versäumnis, das man nicht wegdiskutieren u n d auch nicht entschuldigen, allenfalls erklären kann: Nach d e m N ü r n b e r g e r Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichshof u n d d e n Nachfolgeprozessen von alliierten Militärgerichten Ende d e r vierziger J a h r e sowie einigen 351

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit wenigen NS-Verbrecherverfahren vor deutschen Gerichten - die dabei verhängten Strafen w u r d e n im übrigen teilweise nach unangemessen kurzer Zeit im Gnadeweg wieder erlassen — war nämlich in weiten Kreisen d e r deutschen Bevölker u n g u n d auch bei vielen deutschen Juristen d e r — irrige — Eindruck entstanden, d e r Täterkreis dieses Komplexes sei im wesentlichen erfaßt u n d abgeurteilt worden. Erst durch die G r ü n d u n g d e r Zentralen Stelle w u r d e die Möglichkeit f ü r eine systematische A u f k l ä r u n g d e r NS-Verbrechen geschaffen; seit dieser Zeit hat die deutsche Justiz — mancherlei materiellen, personellen und zeitweilig auch politischen Schwierigkeiten zum T r o t z - tatsächlich alles getan, u m diese Verbrechen zu a h n d e n . So hat zum Beispiel das Land Baden-Württemberg erst Ende des J a h r e s 1987 eine Belohnung in H ö h e von 500 000,— DM f ü r einen Hinweis gezahlt, d e r dazu f ü h r t e , daß ein seit m e h r als 25 J a h r e n international gesuchter NS-Verbrecher, Josef Schwammberger, in Argentinien zum Zwecke seiner Auslieferung in die Bundesrepublik Deutschland festgenommen werden konnte. Das Auslieferungsverf a h r e n ist derzeit noch nicht abgeschlossen. Wertvolle Unterstützung haben wir dabei auch d u r c h das Simon-Wiesenthal-Center in L. A. u n d das Dokumentationszentrum des Bundes jüdischer Verfolgter in Wien e r f a h r e n , dessen Leiter H e r r Simon Wiesenthal ist, den ich bei dieser Gelegenheit gleichfalls herzlich unter uns begrüßen darf. Nach d e m Vollzug d e r Auslieferung wird das V e r f a h r e n gegen Josef Schwammberger, bei d e m es sich um einen d e r letzten größeren NS-Prozesse in Baden-Württemberg handeln d ü r f t e , vor dem Landgericht Stuttgart d u r c h g e f ü h r t werden. Im Falle des gleichfalls seit vielen J a h r e n flüchtigen f r ü h e r e n SS-Arztes Dr. med. Aribert Heim ist durch mein Haus die E r h ö h u n g d e r ausgelobten Belohnung auf n u n m e h r 250 000,— DM in die Wege geleitet worden. Der A u f t r a g an die Zentrale Stelle lautete damals wie heute, alle erreichbaren einschlägigen Unterlagen u n d Informationen ü b e r die im Z u s a m m e n h a n g mit d e r nationalsozialistischen Gewaltherrschaft begangenen Verbrechen zu sammeln, zu sichten, Tatkomplexe herauszuarbeiten, voneinander abzugrenzen u n d sodann die Tatverdächtigen festzustellen. Nach Abschluß dieser Vorermittlungen gibt die Zentrale Stelle — d a sie selbst keine Anklage erheben kann — ihre Vorgänge zur Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens an die zuständige Staatsanwaltschaft ab. Die Arbeit erfolgt somit zumeist im Stillen und ist als solche nicht spektakulär. I h r e Ergebnisse bilden aber die unverzichtbare Basis f ü r die spätere strafrechtliche Verfolgung im gerichtlichen V e r f a h r e n . A u f g r u n d d e r Ermittlungstätigkeit der Zentralen Stelle konnten in den zurückliegenden J a h r e n zahlreiche schwerste NS-Verbrechen, namentlich auch Tötungsverbrechen in d e n Konzentrations-, Zwangsarbeits- u n d Vernichtungslagern, geahndet werden. Viele, die m e h r Verurteilungen erwartet haben, werd e n mit diesem Ergebnis nicht zufrieden sein. Es ist darauf zurückzuführen, d a ß ein großer Teil d e r beschuldigten Personen nicht m e h r a u f f i n d b a r oder zwischenzeitlich verstorben war; in vielen Fällen mußte auch — a u f g r u n d des Rechts352

38 Dreißig Jahre Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen

staatsprinzips und der Grundsätze des deutschen Strafprozesses mit dem Erfordernis des Nachweises einer Individualschuld jedes einzelnen Angeklagten - das Verfahren eingestellt werden bzw. nach dem Grundsatz ,in dubio pro reo' ein Freispruch erfolgen. Wie belastend diese Verfahren sind aufgrund nicht nur ihrer langen Dauer, ihrer rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten — einschließlich der erforderlichen Ermittlung und Vernehmung von Zeugen im Ausland — sondern vor allem der grauenvollen Erkenntnisse wegen, die dabei über das Ausmaß der Nationalsozialistischen Verbrechen zutage kamen, habe ich unmittelbar in der Zeit erlebt, während der ich selbst als Staatsanwalt derartige Taten verfolgt und in NS-Verfahren die Anklage vertreten habe. Gegen insgesamt 1 164 Personen waren am 1. Januar 1988 bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten noch Verfahren anhängig. Ob sie noch in nennenswertem Umfang zu — rechtskräftigen — Verurteilungen und zur Strafverbüßung führen werden, muß freilich bezweifelt werden, da nicht übersehen werden kann, daß nach dem derzeitigen Erkenntnisstand mit der Aufdeckung großer, bisher noch unbekannter Verbrechenskomplexe kaum mehr zu rechnen ist und —soweit Verbrechen aufgeklärt werden konnten - die Täter schon wegen des Zeitablaufs seit der Tatbegehung, den daraus resultierenden Beweisschwierigkeiten und aufgrund ihres Alters (Problem der Verhandlungs- bzw. Haftfähigkeit) jetzt nur noch ausnahmsweise einer Strafe zugeführt werden können. Ich meine aber, daß es auf die Zahl der Verurteilungen wegen NS-Verbrechen letztlich auch gar nicht so entscheidend ankommt. Wichtig ist vor allem, daß es überhaupt solche Prozesse und Verurteilungen vor deutschen Gerichten gegeben hat (und immer noch gibt). Durch diese Prozesse ist jedem Einzelnen vor Augen geführt worden, daß er damit rechnen muß, für seine Handlungen individuell zur Verantwortung gezogen zu werden, und zwar auch dann, wenn seine Straftaten mit Duldung, Billigung oder gar auf Anordnung einer pervertierten Staatsführung begangen worden sind. Dadurch ist das Bewußtsein dafür geweckt worden, daß die Berufung auf eine Anordnung der Obrigkeit nicht von Strafe befreit, daß Begriffe wie Rechtsstaatlichkeit und Rechtsempfinden nicht zu bloßen Worthülsen degradiert werden dürfen, und daß sich niemand, auch nicht der Staat, über allgemein verbindliche sittliche Wertvorstellungen, unter denen Achtung vor dem menschlichen Leben den ersten Rang einnimmt, hinwegsetzen darf. Daß die Verfahren die Leute dazu gebracht haben, tatsächlich hierüber nachzudenken, ergibt —so meine ich —auch einen generalpräventiven Effekt, der eine mögliche Wiederholung solcher oder ähnlicher Straftaten verhindert. Das heißt mit anderen Worten: Der Rechtsstaat hat nicht kapituliert — auch nicht angesichts der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen. Ohne die Tätigkeit der Zentralen Stelle, bei der - trotz mannigfacher Schwierigkeiten — insgesamt beeindruckender Erfolge erzielt wurden, wäre eine Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung der nationalsozialistischen Verbrechen in dem Ausmaß, wie sie stattgefunden hat (und noch stattfindet), zweifellos nicht möglich gewesen. Zu Recht ist die Arbeit der Zentralen Stelle im In- und Ausland daher geradezu zum Maßstab für das Bemühen der Bundesrepublik Deutsch353

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit land geworden, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Auch in Zukunft wird die Zentrale Stelle ihre Tätigkeit solange fortsetzen, wie sie ihrem Auftrag sinnvollerweise nachkommen kann. Dieser Auftrag ist auch heute — dreißig Jahre nach Errichtung der Dienststelle — noch nicht erledigt. Für eine Abschlußbilanz d e r Strafverfolgung der nationalsozialistischen Verbrecher ist es daher auch im gegenwärtigen Zeitpunkt noch zu f r ü h . Eine Reihe von Verfahren sind derzeit noch im Gange; einige werden mit Sicherheit noch folgen. Sobald die Tätigkeit es zuläßt, wird die Zentrale Stelle sich daran machen, eine Dokumentation zu erstellen, in der im einzelnen die systematische Aufklärung der NS-Verbrechen und d e r Gang ihrer strafrechtlichen Verfolgung dargestellt werden soll. Ich begrüße diesen Plan, dessen Verwirklichung einen eindrucksvollen Abschluß der aktiven Ermittlungstätigkeit der Zentralen Stelle bedeuten würde. Der heutige Tag bietet mir die Gelegenheit, allen Angehörigen der Zentralen Stelle — sowohl den jetzigen wie den früheren — f ü r ihre Tätigkeit und ihr Engagement meinen Dank u n d meine Anerkennung auszusprechen. Zu diesem Dank besteht besonderer Anlaß, wenn man sich die persönliche Belastung vor Augen hält, die f ü r die Mitarbeiter der Zentralen Stelle mit ihrer Arbeit zwangsläufig verbunden ist. Wer dienstlich ständig mit den grausamen Seiten einer leidvollen Vergangenheit befaßt ist, hat eine gewiß nicht leichte Aufgabe zu bewältigen." Nach der Rede des Ministers verlas der Leiter der Zentralen Stelle in Ludwigsburg, Leitender Oberstaatsanwalt Alfred Streim, ein Grußwort von Prof. h. c. Dr. Robert M. W. Kempner, d e r aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen war, nach Ludwigsburg zu kommen: „Zunächst möchte ich Sie alle herzlich begrüßen, meine ehemaligen Kollegen, meine jetzigen Kollegen und die neuen Kollegen und Mitarbeiter aus vielen Staaten. Als vor 43 Jahren, am 8. August 1945, durch die Londoner Charter der Nürnberger Justizstaat gegründet wurde, entstand zum erstenmal, aus zahlreichen Mächten zusammengesetzt, der erste Justizstaat der Welt zur Aburteilung von europäischen Verbrechern. Wenige Wochen später vernahm ich als Mitglied der amerikanischen Anklagebehörde den Hauptangeklagten, Reichsmarschall Hermann Göring, der mich selbst Anfang Februar 1933 als damaligen Preußischen Staatsbeamten entlassen hatte. Vier J a h r e später, bei Beendigung der 13 Prozesse vor den Internationalen Militärtribunalen, wurde ich selbst und meine Kollegen von Justizministern und hohen deutschen Beamten bestürmt mit der Frage: Was soll denn aus den Tausenden von Strafakten gegen NS-Verbrecher werden, die hier angesammelt sind. Ihr habt doch n u r 200 Personen angeklagt. Soweit deutsche Gerichte nicht bereits mit Prozessen begonnen haben, fehlt uns doch das massive hier angesammelte Material. 354

38 DreißigJahre Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen Richterliche Verbindungsbeamte wurden eingesetzt. Wir alle durchforschten das historisch, ethisch, erzieherisch und vor allem strafrechtlich wichtige Material. Kollegen aus den alliierten Staaten halfen dabei. Die großen Dokumentarchive wollten einen Anteil an den Akten haben, in Washington, London, Paris, Jerusalem etc. Die United Nations hatten T o n n e n von Akten von der War Crimes Commission .geerbt', die sie erst nach Jahrzehnten .herausrückten'. In der Bundesrepublik kam es vor 30 Jahren zur Schaffung unserer Zentrale. Das war ein höchst erfreulicher Schritt und zu der Weiterentwicklung gratuliere ich herzlichst. Verfolgt man die neueste amerikanisch-russische Justiz-Entwicklung und die Zusammenarbeit mit den europäischen Staaten, so d ü r f t e der Zentralstelle noch eine wichtige Entwicklung bevorstehen im Interesse des internationalen Strafrechts." Das Thema des internationalen Symposium lautete: „Justiz- und NS-Verbrechen — die Bedeutung der Zentralen Stellen f ü r die Aufklärung von NS-Verbrechen u n d die Geschichtswissenschaft". Angesichts der Fülle der Vortragstexte und der restriktiven Möglichkeiten, die Texte zu bekommen, müssen wir uns auf einige beschränken. Der Staatssekretär des Bundesjustizministeriums, Dr. Klaus Kinkel, sagte in seiner Grußadresse: „Der heutige T a g ist kein T a g der Freude, kein normales Justizjubiläum, eher eine Stunde des Nachdenkens, erfüllt mit dem Gedenken an die unzähligen Opfer, deren Mörder von der Zentralen Stelle verfolgt wurden und werden. Ich überbringe Ihnen die Grüße des Bundesministeriums der Justiz. H e r r Bundesminister Engelhard bedauert, daß er wegen der Haushaltsdebatte nicht persönlich teilnehmen kann. Ich will nur einen Gedanken aufgreifen: Wie ist die bundesdeutsche Justiz mit d e r juristischen Bewältigung der NS-Zeit zurechtgekommen? Nicht gut, um die Antwort vorwegzunehmen. — Natürlich war f ü r die Justiz nach dem Zusammenbruch diese Aufgabe besonders schwer — besonders schwer vor allem ja auch deshalb, weil sie zwangsläufig häufig von eben denen zu bewältigen war, die sich in den vorausgegangenen Jahren nicht gerade ruhmreich verhalten hatten. H e r r Rückerl, der persönlich sich so große Verdienste erworben hat, hatte Recht, als er in einem Interview 1984 betonte, daß man ,die deutsche Justiz nicht mit dem Verlangen überfordern dürfte, die 1945 bei uns unterbliebene Revolution im Gerichtssaal nachzuholen'. Dieses Thema ist sensibel, es wurde bezeichnenderweise über J a h r e oder sogar Jahrzehnte innerhalb der Justiz — vielleicht aus nachvollziehbaren Gründen — weitgehend verdrängt. Nun aber in den letzten J a h r e n - also fast 40 J a h r e nach Kriegsende - hat eine Diskussion zu dieser Frage in der interessierten Öffentlichkeit eingesetzt, eine Diskussion, die wir seitens der Justiz nicht meiden, sondern im Gegenteil mit offenem Visier f ü h r e n sollten. Die Justiz muß sich nicht n u r dieser Diskussion stellen u n d ihre Kritiker anhören, 355

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sondern — u n d daran f ü h r t m. E. kein Weg vorbei — auch Fehlleistungen eingestehen. Dazu gehört: daß es der bundesdeutschen Justiz nicht gelungen ist, auch n u r einen einzigen der Richter des Volksgerichtshof rechtskräftig wegen seiner Rechtsprechung an diesem Gericht zu verurteilen, einem Gerichtshof, der — vor allem in der Ära Freister- ausschließlich ein Terrorinstrument der nationalsozialistischen Staatsführung zur rückhaltlosen Bekämpfung ihrer Gegner war. Dazu gehört: die Täter-Gehilfenproblematik. Sie ist von Herrn Rückerl in seinem ,NS-Verbrechen vor Gericht' kritisch dargestellt worden. Selbst diejenigen, die eigenhändig Tötungsdelikte begangen hatten, konnten nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes dann als bloße Gehilfen angesehen werden, wenn sie o h n e eigenes Interesse am Taterfolg sich dem Willen d e r NS-Größen vollständig untergeordnet hatten. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Rechtsprechung ergaben, sind n u r schwer zu vermitteln: Hatte das Dritte Reich denn wirklich n u r relativ wenig Täter und Tausende von Gehilfen? Dazu gehört: daß die Justiz im Nationalsozialismus — bei löblichen Ausnahmen — insgesamt in weiten Bereichen versagt hat. Ich denke an die erschreckende Bereitschaft vieler großer und berühmter Juristen aus Lehre und Wissenschaft, dem Unrechtsregime eine pseudowissenschaftliche Legitimation zu verschaffen. Ich meine den schlimmen, vorauseilenden Gehorsam, d e r sich in der alltäglichen — fast möchte ich sagen: d e r .normalen' — Justiz fand und sich z. B. in der pervertierten Analogie - Rechtsprechung zu den Rassenschutzgesetzen, z. B. in der Versagung des Kündigungsschutzes f ü r jüdische Mieter u n d Arbeitnehmer in der Zivilrechtsprechung u n d vielem mehr ausdrückte. Es ist eben leider so: Die Vernichtungslager des Dritten Reiches waren n u r der Endpunkt einer Entwicklung, die stets mit der bürgerlichen Entrechtlichung des Einzelnen anfing. Dazugehört: daß gefragt wird, warum von den seit Kriegsende wegen nationalsozialistischer Straftaten eingeleiteten 91 481 Ermittlungsverfahren — gemessen an dem begangenen Unrecht wahrhaftig keine übermäßig große Zahl - überhaupt nur 6 482 zu rechtskräftigen Urteilen geführt haben. Zwölf J a h r e eines Unrechtsregimes, das Millionen von Menschen das Leben gekostet hat, hat zu weniger als 7 000 von d e r deutschen Justiz rechtskräftig geahndeten Straftaten g e f ü h r t - dies ist kein Ruhmesblatt der deutschen Nachkriegsgeschichte ! Was tun? H e r r Bundesminister Engelhard hat sich seit seinem Amtsantritt mit Nachdruck f ü r eine objektive, schonungslose und offene Auseinandersetzung mit der Problematik des Dritten Reiches durch die Justiz eingesetzt. Von den verschiedenen Initiativen möchte ich einige nennen: — Das Bundesjustizministerium hat einen umfassenden Forschungsauftrag zur Geschichte und Entwicklung des Volksgerichtshofes an den Bielefelder Rechtswissenschaftler Prof. Marxen vergeben. — Zur Zeit bereiten wir eine umfassende Wanderausstellung zum Thema Justiz im Nationalsozialismus' vor. 356

38 DreißigJahre Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen Ziel dieser Ausstellung ist es, einer breiten Öffentlichkeit einen Komplex d e r nationalsozialistischen Vergangenheit zu verdeutlichen. Es soll die Haltung d e r Justiz zur Weimarer Republik und zum a u f k e i m e n d e n Nationalsozialismus dargestellt werden; die Ausstellung soll aufzeigen, wie die Justiz nach d e r Machtü b e r n a h m e zur Selbstgleichschaltung schritt, nationalsozialistische Rechtsauffassungen adaptierte, anwandte u n d sogar fortentwickelte. Ein weiterer Abschnitt soll sich mit d e m N ü r n b e r g e r Juristenprozeß u n d d e m Wiederbeginn d e r Justiz unter alliierter Aufsicht beschäftigen. Nicht ausgespart werden soll auch die Frage, ob u n d in welchem U m f a n g es d e r Justiz in d e n J a h r e n von 1949 bis 1985 gelungen ist, mit d e r eigenen Vergangenheit umzugehen. Der wissenschaftliche Beirat u n t e r Vorsitz von H e r r n Prof. Dr. Pfeiffer arbeitet mit Hochdruck daran, daß die Ausstellung am 24. April 1989, d e m 55. Jahrestag des Reichsgesetzes zur Errichtung des Volksgerichtshofs in Berlin, e r ö f f n e t werden kann. Wir d e n k e n weiter daran, einen Gesprächskreis zur .Aufarbeitung d e r NSJustiz' in Form eines Symposiums einzurichten. Bei d e r Richterakademie in T r i e r wird ein Denkmal f ü r die O p f e r d e r Nazi-Justiz errichtet werden. — Alle diese Aktivitäten mögen zu a n d e r e n Initiativen anregen. Sie sollen deutlich machen, daß die Justiz in d e r Bundesrepublik Deutschland nicht länger gewillt ist, ihre Vergangenheit bloß zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie aufzuarbeiten u n d sich dabei zu ihrer Betroffenheit u n d schließlich ihrer H a f t u n g zu bekennen. Meine Damen u n d H e r r e n ! Die Mitarbeit d e r Zentralen Stelle Ludwigsburg, allen voran d e r unvergessene Leitende Oberstaatsanwalt Dr. Rückerl u n d Sie, H e r r Leitender Oberstaatsanwalt Streim, haben eine aufopferungsvolle, rechtlich und historisch bedeutende Arbeit geleistet. H i e r f ü r spreche ich I h n e n den Dank d e r Bundesregierung aus. Der Dank verbindet sich mit u n s e r e m Gedenken an die O p f e rj e n e r Verbrechen, d e r e n Verfolgung zu Ihrer Aufgabe geworden ist." Der Vorsitzende d e r Konferenz d e r Justizminister u n d -Senatoren des Bundes und d e r Länder, Senator Volker Kröning, Senator f ü r Justiz u n d Verfassung d e r Freien Hansestadt Bremen, sprach ein Grußwort: „Es ist mir eine Ehre, Sie als gegenwärtiger Vorsitzender d e r Konferenz d e r J u stizminister u n d -Senatoren des Bundes u n d d e r Länder b e g r ü ß e n zu d ü r f e n . Ich tue dies allerdings mit gemischten Gefühlen. Auf d e r einen Seite steht ein Jubiläum, das wir mit gutem G r u n d mit dieser Veranstaltung begehen. In d e r Zentralstelle würdigen wir eine Einrichtung u n s e r e r Justiz, die sich in ihrer fachlichen Arbeit einen ausgezeichneten Ruf erworben hat. Sie ist — international gesehen — wahrscheinlich die deutsche Justizbehörde mit dem größten Ansehen, weil sie sich u m die A u f k l ä r u n g von Verbrechen b e m ü h t hat u n d b e m ü h t , die - ich gebrauche einen Ausdruck aus d e m N ü r n b e r g e r Juristenurteil —das Weltgewissen e m p ö r t haben u n d bis heute e m p ö r e n . Es ist u n d bleibt das Verdienst d e r Zentralstelle, durch die Anklage der T ä t e r einen wesentlichen Beitrag geleistet zu haben, daß wir u n t e r d e r schweren Prüfung, ob wir d e n O p f e r n d u r c h die Bestrafung d e r Verbrecher wenigstens post357

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit h u m Gerechtigkeit haben widerfahren lassen, nicht mit ganz leeren H ä n d e n dastehen. Dieses Verdienst ist schwer e r r u n g e n , u n d niemand, d e r weiß, u n t e r welchen Umständen es zustandegebracht wurde, wird der Zentralen Stelle d e n Vorwurf machen, sie habe zu wenig bewirkt. Ich ergreife ganz im Gegenteil die Gelegenheit, allen denen, die in d e n vergangenen drei J a h r z e h n t e n in d e r Zentralen Stelle tätig waren, u n d allen gegenwärtigen Mitarbeitern im Namen d e r Justizminister u n d -Senatoren d e r Länder meinen Dank u n d meine A n e r k e n n u n g auszusprechen; stellvertretend f ü r alle gedenke ich in Dankbarkeit des verstorbenen langjährigen Leiters Adalbert Rückerl. Doch denke ich auch an die a n d e r e Seite. Die Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen ist kein Ruhmesblatt unserer Justiz. Sie ist ungeachtet vieler Erfolge m e h r eine Geschichte d e r Mißerfolge. Ich meine, wir d ü r f e n gerade bei einem Jubiläum nicht die bittere Erkenntnis verschweigen, daß die B e m ü h u n g e n um die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen das Kennzeichen ,zu wenig' u n d ,zu spät' tragen. Ich betone: mit diesem Urteil meine ich ausdrücklich nicht die Arbeit d e r Zentralstelle. Es geht ü b e r h a u p t nicht u m Vorwürfe gegen j e m a n d e n . Mir kommt es darauf an, daß wir uns in dieser Stunde als Juristen gemeinsam Rechenschaft ablegen über unsere Art u n d Weise d e r Auseinandersetzung mit d e n Verbrechen des Nationalsozialismus. Da gibt es viele dunkle Seiten. Es beginnt schon unmittelbar in d e r Nachkriegszeit, als nicht wenige Juristen sich zum Ziel machten, u m keinen Preis ,in d e r Vergangenheit zu wühlen'. Es geht weiter mit d e r lange währenden Tendenz, nationalsozialistische Gewaltverbrechen in die Kategorie im G r u n d e aus nicht une h r e n h a f t e n Motiven begangener Verbrechen einzuordnen und so zu privilegieren. Die dunklen Seiten setzen sich fort in nicht wenigen Gerichtsurteilen, die in einer aus heutiger Sicht geradezu skandalösen Weise versucht haben, nationalsozialistische Verbrecher, wenn nicht ganz frei zu sprechen, so doch mit milden Strafen zu belegen. Hinzu kommt die m e h r als merkwürdige Art u n d Weise, in d e r westzonale Juristen mit den auf die Bestrafung d e r Verbrecher zielenden Vorschriften des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 u m g e g a n g e n sind: das Kontrollratsgesetz 10 ist u n t e r ihren H ä n d e n zu einer sehr zweischneidigen Waffe im Kampf u m die Bestrafung großer und kleiner Handlanger des Nationalsozialismus gemacht worden. O h n e unzulässige Verallgemeinerung m u ß gesagt werden: das Gesamtbild unserer gerichtsförmlichen Auseinandersetzung mit d e m Nationalsozialismus ist bis weit in die 60er J a h r e hinein von d e m Streben nach Verharmlosung u n d von geringer Aktivität gekennzeichnet. Für die, die sich d e r Aufgabe gestellt haben, war es eine Sisyphusarbeit, die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in Gang zu bringen. Stellvertretend f ü r alle diejenigen, die sich dieser Arbeit unterzogen haben, n e n n e ich d e n verstorbenen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, d e r aus eigenem bitteren Erleben mit d e m Nationalsozialismus genau wußte, um was e r sich m ü h t e . Die Frage nach d e r Auseinandersetzung mit d e n Verbrechen des Nationalso358

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zialismus ist auch und in besonderem Maße eine Frage an die Justiz. Es ist allerdings eine sehr prekäre Frage. Denn die Justiz war in den Jahren des III. Reiches ein oft willfähig funktionierender Teil des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates, sie hat sich auch in leider gar nicht wenigen Fällen an den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt, und gar nicht wenige Männer im Richtertalar haben sich selbst des Justizverbrechens schuldig gemacht. Die Lektüre des Nürnberger Juristenurteils vom Jahr 1947 belegt dies für einige Richter, Staatsanwälte und Ministerialbürokraten des III. Reiches exemplarisch. Von Gustav Radbruch stammt das Wort, daß die Justiz der Nachkriegszeit ihren Willen zum Neubeginn auch durch die Art und Weise unter Beweis zu stellen habe, wie sie sich mit der Liquidierung der Erbschaft des Dritten Reiches befasse. So gesehen ist die Frage nach der Verfolgung von NS-Verbrechen auch die Frage nach der Grundhaltung der deutschen Justiz gegenüber ihrer eigenen Vergangenheit. Vor der Aufgabe, darauf Antwort zu geben, steht jede neue Generation. Wir kennen die Antworten, die unsere juristischen Väter gegeben haben. Sie bestanden überwiegend in Apologie, in Rechtfertigungslehren und in dem Versuch, die Schuld ihres Berufsstandes auf einige wenige Sündenböcke abzuladen. Diese Antworten waren und sind nicht akzeptabel. Der Aufgabe, sich selbstkritisch und schonungslos mit der Vergangenheit unseres Faches und unserer Zunft zu befassen, hat sich jeder Jurist zu stellen. Sie gilt aber auch den Institutionen und denjenigen, die politisch Verantwortung f ü r unsere Justiz tragen. Wir überlegen auch im Kreis der Justizminister und -Senatoren, wie wir die Bemühungen um die Erforschung der NS-Justiz und ihres Beitrages zum Funktionieren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft voranbringen können, und wir unterstützen die Bemühungen des Herrn Bundesjustizministers auf diesem Gebiet nach Kräften. Meine Damen und Herren, die Verfolgung der NS-Verbrecher wird durch Zeitablauf in nicht ferner Zukunft zum Ende kommen. Das wird jedoch nicht das Ende der Tätigkeit dieser Stelle sein. Das natürliche Ende der Täter von einst löscht ihre Taten nicht aus. Jede nachwachsende Generation hat die Pflicht, sich an diese Vergangenheit zu erinnern. Die Zentralstelle wird für ihren Aufgabenbereich die Erinnerung wachzuhalten haben, sie wird weiterhin der Forschung zu dienen und damit auch die Auseinandersetzung unserer Generation mit der deutschen Geschichte zu fördern haben. Nur wer weiß, von welchen Erfahrungen und Lehren aus die Väter und Mütter unserer Landesverfassungen und des Grundgesetzes die Dritte Gewalt gestärkt und sie gleichberechtigt neben Legislative und Exekutive gestellt haben, kann begreifen, was unsere Verfassung — deren 40. Jahrestag wir 1989 begehen werden — von unseren Richtern und Richterinnen verlangt, nicht nur in ihrer täglichen Praxis, sondern auch in dem Selbstverständnis, mit dem sie unserem Rechtsstaat dienen. In diesem Sinne wünsche ich ihren Gesprächen in den nächsten Tagen einen reichen Ertrag. Möge sich die kritische Auseinandersetzung mit dem, was war, mit der Einsicht verbinden, daß die Behörde, deren Jubiläum wir feiern, noch eine wichtige Aufgabe für die Bewältigung unser aller Zukunft hat." 359

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

Von den ausländischen Gästen, bei denen von der tschechoslowakischen Regierungskommission zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Prag, Dr. Kamis, auftrat, sowie Oberstaatsanwalt Brilman, Landelijk Officier van justitie belast met de opsporing van Oorlogsmisdadigers en andere polotieke delinkwenten uit de tweede wereldoorlag, Amsterdam, Direktor Sher, U. S. Department of Justice, Office of Special Investigations, Washington, anwesend waren, soll hier das Referat von Professor Dr. Kazimierz Kakol, Direktor der Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen, Institut des Nationalen Gedenkens, stellvertretend wiedergegeben werden: „Von der Fahndung nach den Verbrechen aus der Vergangenheit — zur Erhaltung des Gedenkens im Namen der Zukunft ohne Verbrechen.

I. Die Erhaltung des Gedenkens über die Vergangenheit ist und sollte keinesfalls das hartnäckige Hinsehen auf das sein, was vergangen ist und besiegt wurde. Ganz im Gegenteil, es sollte das Betrachten dessen sein, was kommt, also ein Instrument zur Gestaltung der Zukunft. Es sollte danach trachten, daß die Maxime aus dem Altertum, daß ,Die Geschichte die Lehrerin des Lebens ist', praktische Anwendung findet. Daß diese Postulate, die in der Vergangenheit eingeführt wurden, in der Zukunft zur Eliminierung all dessen führen, was verbrecherisch und des Menschen unwürdig ist. Nur so ein Sicherinnern an die Vergangenheit kann der Faktor zur Sicherung der positiven Perspektiven für die Zukunft, die von subjektiven Fälschungen gesäubert wurde, sein. Die Gerechtigkeit, die der Vergangenheit bemessen wurde (Menschen, Institutionen, Ideologien, gesellschaftlichen Prozessen), und das während eines kontradiktorischen Prozesses, gestützt auf ein vollständiges Beweismaterial, macht diese Tätigkeit zu Gunsten der Zukunft objektivistisch.

II. Diese Reflexion scheint mir eine begründete zu sein am Tage des heutigen Jubiläums. Das dreißigjährige Bestehen der Zentrale in Ludwigsburg verdient Beachtung und Kenntnisnahme. Im allgemeinen genügt es, eine runde Zahl des Existierens irgendeiner Institution zu nennen, um diese Tatsache wahrzunehmen und die öffentliche Meinung darüber zu informieren. Wenn es sich aber um die Zentrale Stelle in Ludwigsburg handelt, so sind alle Grundlagen vorhanden, um nicht nur ihr Bestehen zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch ihr Funktionieren, ihre Tätigkeit und ihre Errungenschaften. Das Ziel, zu dessen Erfüllung diese Institution gegründet wurde, die Umstände ihrer Gründung stellen uns vor die Notwendigkeit, eine Antwort zu geben auf die Frage, nämlich auf die, ob dieses Ziel erreicht wurde. Meiner Meinung nach — J a ' 360

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und ,Nein'. Wir erinnern uns daran, daß der 1958 in Ulm laufende Prozeß gegen die Verbrecher aus der Einsatzgruppe A bei der öffentlichen Meinung eine ziemlich große Erregung hervorrief. Wegen dem Unmaß der Verbrechen. Dem Mechanismus der verbrecherischen Handlungen. Der Straflosigkeit der Verbrecher. Der Beschluß der Staatsbehörden der Bundesrepublik Deutschland über die Schaffung einer Institution, die Ordnung hineinbringen würde in das Vorgehen hinsichtlich der Rechtsprechung gegenüber denjenigen, die Verbrechen verübt hatten, der unter dem Druck der öffentlichen Meinung gefaßt wurde, besserte den Fahndungsprozeß. Die Aufgaben dieser Institutionen war die Aufklärung. Sie wurden mit einer gewissen Reserve festgelegt. Die Befugnisse, welche der Zentrale erteilt wurden, waren ebenfalls begrenzte. Die Vereinbarung der Justizminister der Bundesländer und der Vertreter von West-Berlin sahen für die Zentrale keine lange Lebensdauer voraus. ,Für vorübergehende Dauer' — die Absicht der Initiatoren und Schöpfer war es bestimmt nicht, daß sie dreißig Jahre werden soll. Die dreißig Jahre der Aktivität der Zentrale in Ludwigsburg gibt die Grundlage zur Feststellung, daß das Ziel, zu welchem sie berufen wurde, im festgelegten, organisatorischen und kompetenten Rahmen erfüllt wurde. Das beweisen konkrete Tatsachen und Angaben, die ihre Widerspiegelung in der Statistik finden. Wertvolle Aktenbestände von Ludwigsburg umfassen die Akten von rund 20 000 Ermittlungs- und Strafverfahren, Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen, Urteile und Einstellungsverfügungen. Dazu kommen 500 000 Blatt einschlägige Dokumente zu NS-Verbrechen, 1,3 Millionen Karteikarten enthalten archivalische Schlüssel zur Registratur des Grauens; das Beschuldigten-Register, das Zeugenregister, die Tatort- und Einsatzort-Kartei, das Register der Einheiten und Dienststellen. Man kann davon ausgehen, daß sehr viel in Ludwigsburg gesammelte Ermittlungsakten heute nicht mehr vorhanden wären, hätten die jeweils zuständigen örtlichen Staatsanwaltschaften über ihre Aufbewahrung allein zu entscheiden gehabt. Und das sind eben die dauerhaften Depositen des Gedenkens. Sie dienen bis heute direkt der Fortsetzung der Ermittlungen, bei denen die Zentrale Stelle eine wesentliche Rolle erfüllt, morgen werden sie zu Studien über das formell abgeschlossene aber trotzdem noch immer offenstehende Kapitel der neuesten Geschichte dienen. Mit einem J a ' auf die Frage antwortend, ob das Ziel, das man der Zentrale in Ludwigsburg stellte, erreicht wurde, müssen wir (um mit der Wahrheit und dem Gewissen der Geschichte in Einklang zu bleiben, dem Gewissen eines ehrlichen Menschen) gleichzeitig auch mit einem ,Nein' antworten. Mit einem ,Nein', weil die vollkommene Ermittlungsbilanz, deren integraler Teil die Tätigkeit von Ludwigsburg war, die rechtlich-gerichtliche, gesellschaftliche und moralische Bilanz, eine höchst unzureichende, fast eine klägliche ist. Auf die Frage, warum das so geschehen ist, eine Antwort zu geben, geht über den Rahmen meines Vortrages hinaus. Am kürzesten würde ich sagen, daß das Verständnis gefehlt hat für die Bedürfnisse, die Vergangenheit bis zum Schluß zu be361

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit siegen, daß es am politischen Willen des Handelns in dieser Richtung mangelte. Der rechtsprechende Apparat wurde nicht mit Instrumenten des effektiven Vorgehens ausgerüstet, was in seinem Wesen allein schon die Kapitulation vor dem Verbrechen verursachte. Die Bilanz der Untersuchungen d e r Naziverbrechen durch die Organe der Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland sind höchst unzufriedenstellend. Für die Polen, die Gegenstand einer besonders brutalen Behandlung, Exploitation und Extermination waren, ist die Tatsache, daß in d e r Bundesrepublik Deutschland die an Polen verübten Verbrechen fast kaum vor Gericht kamen, schockierend. Der hervorragende deutsche Publizist Reinhard Henkys (Die NS-Gewaltverbrechen. Geschichte und Gericht, Stuttgart 1964) charakterisierte dieses Kapitel der Praktiken der Gerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland wie folgt: ,1m Nachkriegsdeutschland, insbesonders aber in der BRD, gelang es mit Erfolg aus dem Gedächtnis der breiten gesellschaftlichen Kreise, den Zeitabschnitt des Terrors auszuwischen, der gegen die Polen angewandt worden war. Es kam fast kaum zu Prozessen gegenüber Verbrechen, die von uns in Polen u n d an Polen verübt wurden. Diese einzelnen Prozesse über Morde an Polen wurden meistens n u r am Rande der Prozesse geführt, die der Ermordung polnischer J u d e n betrafen, und sie machten auf die deutsche Gesellschaft keinen Eindruck. Tatsächlich aber sind diese Verbrechen, welche Nazisten an Polen verübten, in ihrem Umfang und ihrer Bestialität den Verbrechen gleichzustellen, die an J u d e n verübt wurden'. Die Geschichte der Verfolgung der NS-Verbrechen durch Staatsanwaltschaften u n d Gerichte ist zweifellos auch von Unterlassungen und Versäumnissen begleitet. Das von vielen Seiten als verspätet e m p f u n d e n e Einsetzen einer nachdrücklichen Verfolgung mag Mißverständnisse und Mißdeutungen hervorgerufen haben. Dennoch bleibt die Feststellung von Adalbert Rückerl bedenkenswert, daß die Geschichte der NS-Prozesse keineswegs vorwiegend eine Geschichte der Versäumnisse und Fehleinschätzungen ist, sondern nicht zuletzt auch eine Geschichte des guten Willens. Zahlreiche Repräsentanten d e r Rechtslehre, Publizisten, Juristen die in Verfolgungsorganen und Rechtsprechung aktiv sind, politische und gesellschaftliche Aktivisten, Denker und Pädagogen, Soziologen und Psychologen bewerten die Effekte der Verfolgung recht kritisch. Generell formulieren sie negative Bewertungen, bringen konkrete und im allgemeinen begründete Vorwürfe vor. Die offizielle Bilanz über die Fahndung nach Naziverbrechern, die etwas zu früh aufgestellt wurde und von behördlichem Optimismus gezeichnet ist, weist durch die statistischen Angaben die tatsächliche Unfähigkeit dieser Verfolgung auf. Albrecht Goetz, der vom Justizminister der Bundesrepublik Deutschland empfohlen wurde, trachtet augenscheinlich danach, den westdeutschen Justizbehörden ein Sittenzeugnis auszustellen. Diese Bemühung hat allerdings nicht die erwarteten Ergebnisse gebracht, weil sie sie auch nicht bringen konnte. Die Aussage der Zah362

38 DreißigJahre Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS- Verbrechen len ist eine zerschmetternde. Unter den 90 921 Angeschuldigten, gegen die Verfahren eingeleitet wurden, endeten bis 1983 140 ohne Strafausspruch (Freispruch, Verzicht auf den Hauptprozeß, Einstellung d e r Verfahren). Diese Proportionen besagen sehr viel. Die meritorische Analyse der Resultate des Vorgehens der Regierung besagt noch mehr. Im Zusammenhang mit d e m Prozeß, der über die Ermordung von Ernst Thälmann geführt wurde, unterstrichen Publizisten renommierter Zeitungen (keine Schmierblätter), daß erst die Veränderungen in der Richtergeneration es möglich gemacht hätte, den Prozeß zu Ende zu f ü h r e n . Nach dem Urteil, in dem das Gericht den Nazi-Täter, trotz der vom Staatsanwalt gestellten Anträge auf Freispruch, verurteilte, verkündete man in einem Zeitungsartikel mit Genugtuung: ,Es gibt noch Richter in der Bundesrepublik Deutschland'. Diese Stimme der Genugtuung klang jedoch gleichzeitig wie eine Stimme des Bedenkens hinsichtlich der Möglichkeiten, daß die Wahrheit und Gerechtigkeit die Barrieren wird durchbrechen können, die verschiedene gesellschaftlich-politische Systeme auf ihren Weg aufgebaut hatten. Ein ungewöhnliches beredtes bilanzierendes Dokument, das jene .Vergangenheitsbewältigung wider Willen' behandelt, ist die Antwort der Bundesregierung (24. XI. 1986) auf die Parlamentäre Interpellation d e r , G r ü n e n ' vom 5. III. 1986. Die Bundesregierung stellt u. a. wie folgt fest: ,Die Geschichte der Verfolgung der NS-Verbrechen durch Staatsanwaltschaften und Gerichte ist zweifellos auch von Unterlassungen und Versäumnissen begleitet. Das von vielen Seiten als verspätet e m p f u n d e n e Einsetzen einer nachdrücklichen Verfolgung mag Mißverständnisse und Mißdeutungen hervorgerufen haben. Dennoch bleibt die Feststellung von Adalbert Rückerl bedenkenswert, daß die Geschichte der NS-Prozesse keineswegs vorwiegend eine Geschichte der Versäumnisse u n d Fehleinschätzungen ist, sondern nicht zuletzt auch eine Geschichte des guten Willens. (BT Drucksache 10/6566 vom 24. XI. 1986). Die Antwort der Bundesregierung in den Spalten d e r Zeitschrift .Kritische Justiz' (1/87) kommentierend, schreibt Günter Frankenberg (in der Reihenfolge betitelt: .Nochmals Entsorgung der Vergangenheit'): .Bei allen Zugeständnissen an eine kritische Sicht auf die NS-Justiz und auf deren bundesrepublikanische Richter offeriert die Bundesregierung letztlich das Bild einer . Versäumnisse seien wohl zu beklagen, so diese Lesart der bundesrepublikanischen Justizgeschichte, aber im wesentlichen — oder, wie Juristen sagen: grundsätzlich — gehe die Vergangenheitsbewältigung in Ordnung. Diese Offerte zur positiven Identifizierung ist nachdrücklich zurückzuweisen. Nicht mit einer rigorosen Aufklärung und normativen Bewertung begangenen Unrechts wird den O p f e r n die ihnen gebührende solidarische Erinnerung zuteil. Nein, nach dem Versagen einer solchen Aufklärung folgt nun noch die regierungsamtliche Verhöhnung mit einer «Geschichte des guten Willens>!

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Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit III. Die Zusammenarbeit d e r Hauptkommission zur U n t e r s u c h u n g d e r Naziverbrechen in Polen — d e m Institut des Nationalen Gedenkens, mit d e r Zentrale in Ludwigsburg findet in einem bedeutend weitreichenderem Zeitrahmen Platz, als das Goetz in seiner Bearbeitung, die einen amtlichen Charakter trägt, sagt. Goetz stellt auf Seite 118 überaus kategorisch fest, daß ,Ab F r ü h j a h r 1965 auch polnisches Dokumentenmaterial eingesehen werden könnte'. Diese Feststellung steht im Widerspruch zur Information von Dr. Rückerl, die in d e r Bearbeitung enthalten ist, welche 1983 zur Wissenschaftlichen Sitzung zum T h e m a .Nazivölkermörder in Polen u n d Europa 1939-1945' zugesandt wurde. Adalbert Rückerl stellte fest: ,Die Hauptkommission zur U n t e r s u c h u n g d e r Naziverbrechen in Polen hat bereits im F r ü h j a h r 1960 d e r Zentralen Stelle in Ludwigsburg eine größere Anzahl von Kopien entsprechender D o k u m e n t e als auch in d e n d a r a u f f o l g e n d e n J a h r e n Beweismaterial zu d e n einzelnen Ermittlungen u n d Strafverfahren zugesandt'. Wert scheint es, d a r a n zu erinnern, d a ß an d e r Schwelle d e r sechziger J a h r e die Vorbereitungen zum Prozeß gegen die Angehörigen d e r verbrecherischen Mannschaft des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau (Mulha u n d andere), der Verbrecher aus d e m Konzentrationslager in Majdanek als auch zum Prozeß gegen Krumey u n d Hunsche voll im Gang waren. Die Zusammenarbeit des unvergeßlichen Generalstaatsanwalts von Hessen, Fritz Bauer, mit d e r polnischen Kommission war eine besonders intensive. Dr. Jan Sehn, der diese Zusammenarbeit organisierte, starb an einem Herzschlag in F r a n k f u r t am Main, sein frühzeitiger T o d stand selbstverständlich mit seiner Tätigkeit und d e r sie begleitenden Überlastung d e r Nerven in Verbindung. Albrecht Goetz verschiebt das Datum des Anfangs d e r Zusammenarbeit mit Polen auf das J a h r 1965, u m diese Tatsache als das Resultat des Appells anzuerkennen, d e n der Bundestag an alle Interessierten richtete, welche beantragt hatten, ihnen die Archivmateriale zugänglich zu machen. Die positiven Folgen ausschließlich mit diesem Appell verbindend — verschwieg Goetz die Saumseligkeit d e r Behörden in d e r Bundesrepublik Deutschland während d e r Zeit vor November 1964. Und eben Rückerl bewertet diese Saumseligkeit sehr kritisch. Er unterstreicht, d a ß es die Bundesregierung in der damaligen Zeit nicht f ü r angebracht hielt, sich an die Länder Osteuropas, mit d e n e n sie — die UdSSR ausgen o m m e n — noch keine diplomatischen Beziehungen unterhielt, mit d e r Bitte zu wenden, sich mit den in d e n dortigen Archiven b e f i n d e n d e n Dokumentensammlungen bekanntmachen zu können. Es konnte jedoch keinem Zweifel unterliegen, daß m a n gerade von d o r t umfangreiches Beweismaterial bekommen könnte und das schon a u f g r u n d vieler Anzeichen, die z. B. aus Polen kamen, sodaß man mit Sicherheit damit rechnen konnte, eine positive Antwort zu bekommen. Erst gegen Ende 1964, einige Monate vor Ablauf des ersten gültigen — damals zwanzigjährigen Termins, nach dem die verübten Morde in d e r Zeit d e r Faschistenherrschaft d e r V e r j ä h r u n g unterliegen sollten, erhielt das Zentralamt in 364

38 DreißigJahre Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen Ludwigsburg den Auftrag und die Vollmacht, die entsprechenden archivalen Unterlagen, die sich in den Ländern Osteuropas befanden, zu nutzen. Inzwischen waren vom Augenblick an, da diese strafbaren Handlungen verübt worden waren — 20 bis 25 Jahre vergangen! Diese relative Übereinstimmung hinsichtlich der Ansichten zwischen der Zentrale in Ludwigsburg und der Hauptkommission in Frage der politischen Voraussetzungen bezüglich der Effektivität der Verfolgung, ist, wie bekannt, nicht die Übereinstimmung der Standpunkte in bezug auf die Bewertung der Verfolgungspraktiken. Die polemischen Bemerkungen gegenüber den Thesen, die in der Bearbeitung von A. Rückerl unter dem Titel ,Die Strafverfolgung von NSVerbrechen 1945—1979' enthalten sind, wurden von C. Pilichowski 1980 veröffentlicht. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Vereinbarung der Standpunkte in diesen Fragen nicht möglich sein werden. Unserer Meinung nach sollte das Respektieren des Rechts zur Erhöhung der Effektivität der Verfolgung führen, nicht aber einen formellen Vorwand darstellen, um nicht zu verfolgen, um nur entschuldigende Argumente zu finden. Diese Einstellung hat in der Bundesrepublik Deutschland keine Anwendung gefunden. Auch das von der polnischen Seite von der Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen, vorgelegte Postulat über das Respektieren der Grundsätze der Gegenseitigkeit in der Zusammenarbeit mit der deutschen Seite, hat keine Anwendung gefunden. Und dieses Postulat ist ein elementares, was man nicht verneinen kann. Bitte mir zu gestatten in diesem Kontext (Strittigkeiten und Unterschiede der Ansichten), die Meinung meines Vorgängers, Herrn C. Pilichowski vorzubringen. Er schrieb 1980 in seiner polemischen Bearbeitung hinsichtlich des Standpunkts von A. Rückerl: ,Ich unterstreiche, daß während der langjährigen Zusammenarbeit mit den Justizbehörden der Bundesrepublik Deutschland die Hauptkommission sich nicht nur einmal von den ehrlichen Bemühungen einer Reihe von Gerichten und Staatsanwaltschaften überzeugen konnte, die Zentrale Stelle in Köln und Dortmund schätzte diese Bemühungen, die zur völligen Aufklärung der Naziverbrechen und Bestrafung der Täter gemacht wurden, voll ein.' Ich weiß nicht, wie hier bei Euch in Ludwigsburg die Situation, die für mich eine Evenement darstellt und der Beachtung wert scheint, eingeschätzt wird. Und zwar handelt es sich darum, da, obwohl es keine formalen Verträge über die rechtliche Zusammenarbeit von Staatsrang gibt, unsere Zusammenarbeit fast 30 J a h r e lang währt. Sie bestand, noch bevor die diplomatischen Beziehungen zwischen unseren Staaten aufgenommen wurden, und sie besteht auch heute, obwohl nicht alle positiven Relationen der gegenseitigen Normalisierung unser gemeinsamer Anteil sind.

IV. Die Verfolgung der Naziverbrecher nähert sich unabwendbar dem Ende. Bestimmt wird sie aber doch noch eine Reihe von Jahren anhalten.

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Diese Überzeugung begründen ebenfalls einige Ereignisse aus den letzten Monaten. Kompetente Stellen bei den Justizbehörden in England, Australien und Kanada sind aktiver geworden bei der Aufnahme der Aufklärung, ob und inwiefern die Vermutungen einer verbrecherischen Vergangenheit der Einwanderer aus den europäischen Ländern zutreffen, die sich nach dem 2. Weltkrieg in ihren Ländern angesiedelt hatten. Die Hauptkommission hat die Zusammenarbeit mit folgenden Stellen aufgenommen: — englischen War Crimes Inquiry — australischen Special Investigations Unit — kanadischen Deschenes Commission of Inquiry Investigating War Criminals. Die Grundlage zu dieser Zusammenarbeit sind formale Vereinbarungen, in denen die Grundsätze und Formen der Handlungsweisen und Pflichten beider Seiten festliegen. Der nächste Impuls in Richtung der Intensivierung der Verfolgung ist das Zugänglichmachen der archivalen Dokumente bei der United Nations War Crimes Commission. Klar ist, daß recht bald die Zeit der Verfolgung der NS-Verbrecher zu Ende gehen wird. Die Modifizierung des Profils der Institution, wie es die Zentrale Stelle in Ludwigsburg oder die Hauptkommission in Warszawa ist, hat einen natürlichen Charakter.

V. Die Anzahl derjenigen, die der ,Segen des Später-Geborenseins' betrifft, wächst unaufhörlich. Das richtige Verstehen jenes .Segens des Später-Geborenseins ist eine Frage von großer Wichtigkeit. Das .Später-Geborensein' befreit nämlich ganz bestimmt vor der Schuld, oder vor dem Gefühl der Verantwortung für die Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit, den Völkerbund. Das ,Später-Geborensein' sollte aber auf keinen Fall vor der Verantwortung des Kennenlernens der Wahrheit befreien, vom Verkünden der Wahrheit, ihrer Verbreitung. Es sollte auch vom Gedenken an die Vergangenheit nicht befreien. Das Erinnern ist das Geheimnis der Versöhnung. Zu dieser Wahrheit bekennen sich überaus viele Jugendgruppen praktisch in ihrem Handeln in der Bundesrepublik Deutschland. Mit nicht geringer Genugtuung konnte ich mit den jungen Teilnehmern am Wettbewerb für die Schuljugend um den Preis des Präsidenten der Bundesrepublik, unter dem Patronat der Körber-Stiftung, zusammentreffen. Die Forschungsarbeiten dieser jungen Menschen, Rundfragen in den lokalen Archiven, das Suchen der Spuren aus der Vergangenheit, das Vordringen zu den Zeugen der Geschichte, brachte Resultate, die beachtet werden sollen. Die Jahre des 2. Weltkrieges, das Schicksal der ausländischen Arbeiter, die unter den Voraussetzungen einer extremalen Exploitation Sklavenarbeit verrichteten, wurden auf ehrliche, sachliche Weise dargestellt, mit einer Grundsätzlichkeit und Kompromißlosigkeit, zu welcher sich nur junge Geiste und Charaktere aufraffen können. 366

38 DreißigJahre Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS- Verbrechen Publikationen, auch Bücher, einer Ausstellung, die in vier polnischen Städten Aufsehen erregte, Begegnungen d e r polnischen J u g e n d mit d e n Autoren d e r Bearbeitungen, zeigten die Wahrheit über die Kriegsjahre. Eine a n d e r e Wahrheit als die d e r amtlichen Angaben, die leider in den Schulbüchern enthalten sind. Angaben, die wirkliche und gleichzeitig unwirkliche sind. Die Archive bestehen deshalb, um sprechen zu können. Die Archive, wie diese in Ludwigsburg, haben eine besondere Mission zu erfüllen. Bestimmt m u ß man Eberhard Rondholz recht geben, wenn er die Ansicht von A. Rückerl zum T h e m a d e r Verbindungen zwischen d e m Funktionieren der Rechtsprechung u n d den Nachforschungen der Historiker zitiert. ,Die Straf justiz hat gewiß nicht die Aufgabe, Geschichtsforschung zu betreiben oder zeitgeschichtliche Dokumentation zu liefern. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungsweise steht primär nicht ein historisches Ereignis, sondern d e r Mensch, dem vorgeworfen wird, sich gegen die Gesetze vergangen zu haben. Die A u f k l ä r u n g und A h n d u n g nationalsozialistischer Verbrechen brachte es aber n u n einmal mit sich, d a ß zehntausend von Zeugen u n d Tatbeteiligten, d e r e n Identität u n d Aufenthalt oft n u r mit Mühe u n d unter Einschaltung des gesamten Polizeiapparates festgestellt werden konnte, vernommen u n d ihre B e k u n d u n g e n schriftlich festgehalten wurden ..., so d a ß erst die Strafjustiz gerade auf d e m Gebiet d e r Ahnd u n g nationalsozialistischer Straftaten d e n Historikern einen Großteil des Materials liefern konnte, auf d e n e n deren Forschungsergebnisse letztlich beruhten.' Man m u ß ihm recht geben, wenn es zur Formulierung einer Konklusion kommt, ü b e r eine mögliche Z u k u n f t seiner ehemaligen Dienststelle angedeutet, wenn ihr ursprünglicher Gründungszweck sich einmal erledigt haben sollte. Wie bekannt, begann 1984 der Prozeß die Hauptkommission mit n e u e n Eigenschaften auszurüsten. Kraft des Gesetzes wird die Hauptkommission wohl zum Institut des Nationalen Gedenkens umgestaltet, hört jedoch nicht auf, auch weiterhin ein O r g a n zur Untersuchung d e r NS-Verbrechen u n d Verfolgung der NS-Verbrecher zu bleiben. Ob es sich bereits eine Position, Autorität, Bürgerrecht u n t e r den spezialisierten wissenschaftlichen Forschungszentren erworben hat, die seit J a h r e n auf d e m Gebiet d e r Geschichtslehre tätig sind? Die Antwort kann keine eindeutige sein. Der Prozeß, eine Position zu erringen, hält an. Besonders behilflich bei der Gestaltung dieser Position ist der Wissenschaftliche Rat des Instituts, zu dem die hervorragendsten Wissenschaftler, Spezialisten im Bereich d e r neuesten Geschichte sowie alle Zentren im Lande gehören. Hier möchte ich meine Überzeugung zum Ausdruck bringen, d a ß ähnlich wie bei d e r Untersuchung d e r NS-Verbrechen und bei d e r Vorbereitung der geschichtlichen Bearbeitung wir nicht n u r einmal wieder miteinander zusammenarbeiten werden.

VI. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg, bedeutet selbstverständlich die Dokumentation, die archivalen Sammlungen, Kartotheken, F a h n d u n g e n , Beschlüsse, Kon367

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit takte mit d e r ganzen Welt — vor allem aber sind es die Menschen. Hochachtung verdienen die Menschen aus d e r Zentralen Stelle f ü r ihr fachliches Wissen, f ü r ihren Charakter, f ü r ihre Haltung, die es gestattet haben, d e n Interessen des eigenen Volkes u n d Staates u n d d e n Interessen der Menschheit zu dienen. U n d das möchte ich im N a m e n aller polnischen Kollegen zum Ausdruck bringen. In einem .feindlichen Umfeld' hat die Zentrale Stelle ihre Arbeit stets verrichtet, seit ihrer G r ü n d u n g im Dezember 1958, was u n s dazu bewegt, ihr unsere höchste A n e r k e n n u n g auszusprechen." Der Leitende Oberstaatsanwalt und Leiter d e r zentralen Stelle in Ludwigsburg, Dr. Alfred Streim, behandelte das T h e m a der Prozesse zu d e n NS-Verbrechen u n d damit die B e d e u t u n g d e r Zentralen Stelle f ü r Justiz u n d die Geschichtswissenschaft in einem ausführlichen Referat: „Als das 3. Reich zusammenbrach, hatte sich die deutsche Justiz mit d e n Verbrechen des Systems zu befassen. Zunächst war durch das Kontrollratsgesetz N r . 2 die v o r ü b e r g e h e n d e Schließung aller Gerichte angeordnet worden. Erst zwischen Spätsommer u n d Ende Herbst 1945 konnten sie jeweils auf schriftliche Anweisung d e r Militärregierungen ihre Tätigkeit wieder a u f n e h m e n . Eine Zuständigkeitsregelung erfolgte jedoch erst mit d e m Kontrollratsgesetz Nr. 4 betreffend die .Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens' vom 30. Oktober 1945, das a m 30. November 1945 in Kraft trat. Die Zuständigkeit erstreckte sich auf alle Zivil- u n d Strafsachen, bei letzteren u n t e r a n d e r e m mit folgender Ausnahme: Die Verfolgung strafbarer Handlungen, die von Nationalsozialisten o d e r von a n d e r e n Personen begangen wurden, u n d die sich gegen Staatsangehörige alliierter Nationen oder d e r e n Eigentum richteten sowie Versuche zur Wiederherstellung des Naziregimes oder zur W i e d e r a u f n a h m e d e r Naziorganisationen, behielten sich die Alliierten vor. Durch das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 (Amtsblatt des Kontrollrates vom 20. Dezember 1945, S. 50 ff.), betreffend die .Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen d e n Frieden o d e r gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatten' wurde die Zuständigkeit erweitert. Deutsche Gerichte konnten—wie alliierte Gerichte — u n t e r die Tatbestände des Kriegsverbrechens, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit fallende Handlungen a h n d e n , wenn —ähnlich wie beim Kontrollratsgesetz N r . 4 — die Verbrechen von deutschen Staatsbürgern oder Staatsangehörigen gegen a n d e r e deutsche Staatsbürger o d e r Staatsangehörige o d e r — was später hinzugefügt w u r d e — gegen Staatenlose begangen worden waren u n d die Besatzungsbehörden deutsche Gerichte f ü r die Strafverfolgung ermächtigt haten. (In d e r amerikanischen Zone wurden die Ermächtigungen jeweils im Einzelfall erteilt, in d e r britischen Zone (VO N r . 47 vom 30.8.46, Amtsblatt d e r Militärregierung, S. 306) u n d französischen Zone ( V e r f ü g u n g Nr. 154 d e r Militärregier u n g vom 1.6.50) allgemein. Mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 13, b e t r e f f e n d .die Gerichtsbarkeit auf vorbehaltenen Gebieten' vom 1. J a n u a r 1951 (Amtsblatt d e r Alliierten H o h e n Kommission, S. 54.) u n d d e m A u f h e b e n d e r Ermächtigungsvor368

38 Dreißig Jahre Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen

aussetzungen der Alliierten für die Durchführung von Verfahren wegen NSVerbrechen im August 1951 (VO Nr. 234 der britischen Militärregierung vom 31.8.51- Amtsblatt der Alliierten Hohen Kommission, S. 1138 —, VO der französischen Militärregierung von demselben Tage — Amtsblatt der Alliierten Hohen Kommission, S. 1137 —; die amerikanische Militärregierung ließ die deutschen Strafverfolgungsbehörden wissen, daß Ermächtigungen nicht mehr erforderlich seien.), wurden die Schranken für die deutsche Justiz im wesentlichen beseitigt. Die volle Justizhoheit wurde jedoch erst mit dem zwischen den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik am 26. Mai 1952 geschlossenen und am 5. Mai 1955 in Kraft getretenen .Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen', dem sogenannten Überleitungsvertrag (Bundesgesetzblatt, Teil II, S. 405.), wiederhergestellt, wenn man von einer Ausnahme absieht: Sofern die Untersuchung wegen der angeblichen Straftat von den Strafverfolgungsbehörden der betreffenden Macht/oder Mächte endgültig abgeschlossen oder diese Straftat in Erfüllung von Pflichten oder Leistung von Diensten für die Besatzungsbehörden begangen worden war, blieb die deutsche Gerichtsbarkeit ausgeschlossen. Diese Ausnahme erwies sich später als schwerwiegendes Hemmnis bei der Strafverfolgung bestimmter NS-Verbrecher. Bis zum Inkrafttreten des Kontrollratsgesetzes Nr. 13 und dem Fallenlassen der Ermächtigungsvoraussetzungen für die Durchführung von NS-Verfahren für die deutsche Justiz im Jahre 1951 waren nach deutschem Recht und dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 rund 5 230 Personen verurteilt worden. In den folgenden Jahren nahmen die Verurteilungen zügig ab. Bemerkenswert ist, daß unter den ca. 5 230 Verurteilungen nur 100 wegen Tötungsverbrechen festzustellen sind. Diese verhältnismäßig geringe Ahndung von NS-Mordtaten war nicht fehlende Bereitschaft der deutschen Strafverfolgungsbehörden, schwere NS-Verbrechen zu ahnden; es lag einfach an formellen Voraussetzungen — an mangelnden Zuständigkeiten nach unserer Strafprozeßordnung —, Ermittlungen aufzunehmen. Die überwiegende Anzahl der Verbrechen war in den ehemals besetzten Gebieten begangen worden; eine Zuständigkeit des Tatortes war folglich nicht gegeben. Die Täter waren nicht bekannt oder wenn sie bekannt waren, wußte man nicht wo sie sich aufhielten; eine Zuständigkeit nach dem Wohnort entfiel damit auch. Was fehlte, war eine den Staatsanwaltschaften vorgeschaltete überregionale Stelle, die die Verbrechen nach möglichst systematischer Sichtung des noch vorhandenen Materials erfaßte und solange ermittelte, bis eine Zuständigkeit durchweg auf Grund des Wohnortes einer der ermittelten Beschuldigten — begründet wurde. Anstoß hierzu gab das Land BadenWürttemberg aufgrund des sogenannten Ulmer Einsatzgruppen-Prozesses. Mit Verwaltungsvereinbarung der Justizminister und -Senatoren der Bundesländer vom 6. November 1958 wurde diese Stelle gegründet, die am 1. Dezember 1958 ihre Tätigkeit aufnahm. Sie wertete zunächst die Literatur sowie das vorhandene einschlägige Material — namentlich aus den Nürnberger Prozessen — aus, leitete Vorermittlungsverfahren ein und gab die Verfahren an die Staatsanwaltschaften ab, sobald eine Zuständigkeit begründet war. Im Dezember 1964 beauftragten 369

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diejustizminister und -Senatoren der Bundesländer im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Justiz die Zentrale Stelle, die Auswertung des einschlägigen Materials im In- und Ausland zu übernehmen. Kurze Zeit später wurde die Zuständigkeit der Dienststelle im wesentlichen auch auf Taten mit innerdeutschem Begehungsort erweitert, die bisher nur auf die Verfolgung von im Ausland begangener Verbrechen beschränkt gewesen war. Ausgeschlossen waren lediglich die Überprüfungen des Reichssicherheitshauptamtes und des Volksgerichtshofes, die von der Staatsanwaltschaft beim Kammergericht bzw. Landgericht Berlin durchzuführen waren. Bis zum 1. September 1988 hat die Zentrale Stelle 5 429 Verfahren mit einer Vielzahl von Beschuldigten eingeleitet, von denen 5 270 an die Staatsanwaltschaften zur weiteren Ermittlung abgegeben worden sind. Aus den 5 270 abgegebenen Verfahren haben sich durch Abtrennung etwa 13 000 Ermittlungsverfahren ergeben. Seit 1. April 1987 ist die Dienststelle zusätzlich mit der Auswertung der Fahndungslisten d e r , United Nations War Crimes Commission' beschäftigt, um die sie sich bereits Ende 1964 bei der UNO bemüht hatte, aber erst auf Umwegen Ende 1986 erhielt. Von den darin aufgeführten 30 000 Deutschen, die als Beschuldigte, Verdächtige und Zeugen gesucht werden, sind bis jetzt rund 27 000 überprüft worden. Etwa 3/4 der Vorgänge konnten im Hause wegen Verjährung, Tod, bereits geführter Verfahren vor alliierten und deutschen Gerichten oder weil keine strafrechtlich relevanten Anhaltspunkte für die Einleitung von Verfahren ersichtlich waren, weggelegt werden; die restlichen Vorgänge werden seit Anfang des Jahres 1988 an die Staatsanwaltschaften zum weiteren Befinden abgegeben. Aus allem ergibt sich, daß die Verfolgung der NS-Verbrechen in den fünfziger Jahren aus überwiegend formellen Gründen zum Stillstand gekommen wäre, wenn diejustizminister und -Senatoren der Bundesländer nicht die Zentrale Stelle gegründet hätten. Ohne diese Dienststelle wären schwerste NS-Verbrechen wie zum Beispiel die Massenmorde in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, die Vernichtungsaktionen der Einsatzgruppen und Polizeibataillone zum Nachteil der Zivilbevölkerung in den besetzten Ostgebieten sowie die Judendeportationen aus dem Reich und den okkupierten Ländern in die Vernichtungslager ungesühnt geblieben. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß nach Abgabe der Verfahren die Zentrale Stelle die Staatsanwaltschaften bei ihren Ermittlungen laufend unterstützte. Neu in Ludwigsburg anfallende Erkenntnisse wurden an sie weitergeleitet, bei Beweisschwierigkeiten mögliche Zeugen genannt und beweiserhebliche Dokumente zur Verfügung gestellt bzw. Hinweise gegeben, die der Auffindung von Zeugen oder Dokumenten dienlich waren. Darüber hinaus hat die Zentrale Stelle in Tausenden von Fällen zur Klärung bestimmter Fragen beigetragen, zum Beispiel Fragen nach der Echtheit von Dokumenten, zum Befehlsnotstand, Aufbau von Dienststellen sowie Einheiten und zu Befehlswegen. Soweit die Fragen für NS-Verfahren von allgemeinem Interesse waren, wurden sie mit den Antworten den Staatsanwaltschaften in einem von Zeit zu Zeit herausgegebenen 370

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Rundschreiben mitgeteilt. Manches Verfahren hätte mit Sicherheit nicht zur Anklage geführt, wenn es der Zentralen Stelle nicht möglich gewesen wäre, mit ihren Erkenntnissen zu helfen, die aufgetretenen Schwierigkeiten zu beseitigen. Unterstützt wurden jedoch nicht nur die Strafverfolgungsbehörden in der Bundesrepublik; in großem Umfang ist für ausländische Stellen Rechtshilfe geleistet worden, so u. a. für Australien, Frankreich (Barbie-Verfahren), Israel (Demjanjuk-Verfahren), Kanada und die Vereinigten Staaten. Mit den Erkenntnissen aus Ludwigsburg erfuhren die einschlägigen Verfahren in diesen Ländern eine Förderung, die die Ermittlungstätigkeit der dortigen Behörden bemerkenswert erleichterte, wie uns immer wieder versichert wurde. Allein vom 1. Juli 1987 bis zum 30. Juni 1988, dem letzten Berichtszeitraum der Dienststelle, wurden zum Beispiel in Rechtshilfeangelegenheiten etwa 180 000 Blatt Ablichtungen von Unterlagen der zentralen Stelle den ersuchenden ausländischen Behörden übermittelt. Aufgrund von Amtshilfeersuchen deutscher Behörden wurden schließlich bis jetzt ungefähr 50 000 Auskünfte erteilt, die zur Klärung von Sach- und Rechtsfragen unter anderem in (Wieder-)Einstellungs-, Beförderungs-, Wiedergutmachungs- sowie Pensions- und Rentenangelegenheiten durchweg eine nicht zu verkennende Entscheidungshilfe waren. Seit einigen Jahren geht die Bedeutung der Zentralen Stelle für die deutsche Justiz und auch für bestimmte inländische Behörden infolge Zeitablaufs langsam - aber stetig—zurück. Noch bei den Staatsanwaltschaften anhängig werdende Ermittlungsverfahren erledigen sich häufig durch Tod der Beschuldigten oder müssen wegen dauernder Vernehmungs- und Verhandlungsunfähigkeit infolge hohen Alters bzw. aus Gesundheitsgründen eingestellt werden. Unterstützungen der Strafverfolgungsbehörden durch die Zentrale Stelle sind demgemäß im Gegensatz zu früheren Jahren nur noch in begrentem Umfange erforderlich. Ähnlich verhält es sich mit den Amtshilfeersuchen der Verwaltungsbehörden, deren Vorgänge zum Beispiel wegen Ablebens in Frage kommender Antragsteller oder Beschwerdeführer abnehmen. Dagegen ist die Bedeutung der Ludwigsburger Dienststelle für die Rechtshilfeersuchen ausländischer Stellen weiterhin groß und noch im Steigen begriffen. Während sich der Zeitablauf für den Aufgabenbereich der Zentralen Stelle immer negativer auswirkt, wenn man von der Rechtshilfe absieht, hat er auf einem anderen Gebiet zu einer positiven Entwicklung geführt. Im Laufe des 30jährigen Bestehens der Dienststelle sind Materialien angefallen, die für die Zeitgeschichte von erheblichem Wert sind. Hunderttausende von Vernehmungsniederschriften, Zehntausende von Abschlußverfügungen der Staatsanwaltschaften, Urteile der Gerichte, Gutachten, die im Ermittlungsverfahren erstellt wurden, rund 530 000 Dokumente überwiegend in Ablichtung und weitere 220 000 auf 521 Mikrofilmen, liegen in den Archiven der Dienststelle. Ferner sind Erkenntnisse über Beschuldigte, Zeugen, Einheiten, Dienststellen, Tat- und Einsatzorte in der Zentralkartei auf etwa 1 430 000 Karteikarten verzeichnet. Da aus Koordinierungs- und anderen Unterstützungsgründen die Strafverfol371

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gungsbehörden in der Bundesrepublik gemäß Verwaltungsvereinbarung der Justizminister und -Senatoren gehalten sind, alle bei ihnen anfallenden Unterlagen in Durchschrift oder Ablichtung der Zentralen Stelle zur Kenntnisnahme und Auswertung zu überlassen, befindet sich bei ihr ein mehr oder weniger vollständiges Spiegelbild aller in der Bundesrepublik geführten Verfahren wegen NSVerbrechen seit Gründung der Dienststelle. Nebenher wurde im weiteren Interesse der Sache versucht, alle seit dem Zusammenbruch bis zum 1. Dezember 1958 auf westdeutschem Gebiet anhängig gewesenen einschlägigen Verfahren zu erfassen und die Unterlagen herbeizuziehen. Die Erfassung ist seit einiger Zeit bereits im wesentlichen abgeschlossen. Das Herbeiziehen bereitet Schwierigkeiten, da ein großer Teil der Akten nicht auffindbar ist. Teilweise muß davon ausgegangen werden, daß sie bereits vernichtet worden sind. Durch die Unterlagen der Zentralen Stelle hat sich die Quellenlage f ü r die zeitgeschichtliche Forschung nicht nur verbessert, sondern eine Form angenommen, die für die Arbeit der Historiker als ausgezeichnet zu bezeichnen ist. Lange Zeit haben sie sich nahezu nur auf Erkenntnisse aus alliierten Prozessen stützen können, insbesondere auf die Beweisdokumente der Anklagebehörden. Daß die mit Hilfe dieser Materialen erstellten Arbeiten nicht selten einen Charakter der Einseitigkeit haben und infolgedessen oft an der Objektivität, die die Geschichtswissenschaft anstrebt, vorbeigehen, braucht wohl nicht näher dargelegt zu werden. In all diesen Fällen wäre man der Wahrheit näher gekommen und hätte Fehler vermieden, wenn man das bei der Zentralen Stelle befindliche Material verwertet hätte. Dann wären zum Beispiel Dokumente nicht falsch ausgelegt worden und die Heranziehung falscher eidesstattlicher Erklärungen zur Beweisführung unterblieben. Nun wenden einige Historiker ein, nicht die Materialien der Alliierten, sondern die der Zentralen Stelle führten zu subjektiven Ergebnissen, und einer weist zum Beispiel insoweit auf Veröffentlichungen von Angehörigen der Dienststelle hin. Ohne zu zögern, räume ich ein, daß eine Arbeit unter Verwendung der Ludwigsburger Unterlagen einseitig werden kann. Einseitigkeit ergibt sich aber beispielsweise nur dann, wenn man lediglich Vernehmungsniederschriften f ü r eine Arbeit verwendet und darüber hinaus diese Quellen nicht mit der gebotenen Sorgfalt auswertet. So wurde aber von keinem Angehörigen der Zentralen Stelle verfahren. Bereits eine oberflächliche Einsichtnahme in deren Publikationen ergibt, daß auf diese Weise von Angehörigen der Zentralen Stelle keine Arbeit erstellt worden ist. Stets sind alle bei der Dienststelle vorhandenen Quellen berücksichtigt worden — Dokumente, Vernehmungsniederschriften und sonstige einschlägige Unterlagen, wobei Ausgangspunkt für die Beantwortung von Fragen immer Dokumente waren, sofern solche vorlagen. Hierbei wurde stets der Grundsatz beachtet, daß ein Dokument nicht mehr aussagt, als dort festgehalten ist. Ohne weitere Erkenntnisse hieraus Schlüsse zu ziehen, gehört in den Bereich der Spekulationen, die in wissenschaftlichen Arbeiten nichts zu suchen haben. Transparent wird der Inhalt eines Dokumentes erst durch einen Vergleich mit Einlassungen von Beschuldigten und Bekundungen von Zeugen, die sich auf das 372

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dort Festgehaltene beziehen. Gerade einer dieser Historiker, der das Material der Zentralen Stelle wegen angeblicher Subjektivität ablehnt, der im übrigen noch nie bei der Dienststelle gewesen ist und die Materialien nicht kennt, hat in einer seiner Arbeiten dieses verschiedentlich nicht beachtet. Zum Beispiel hat er für Massenerschießungen von Kriegsgefangenen durch die Wehrmacht eine Meldung eines Kommandanten eines rückwärtigen Heeresgebietes angeführt, in dem über die Erschießung von 10 000 Gefangenen berichtet wird. Hätte er die Unterlagen der Zentralen Stelle eingesehen, wäre er auf ein Verfahren gestoßen, dessen Gegenstand diese Erschießungen waren. Er hätte hierbei festgestellt, daß die 10 000 Gefangenen nicht Kriegsgefangene waren, sondern Juden und daß diese bedauernswerten Opfer auch nicht durch die Wehrmacht, sondern von Polizei-Einheiten erschossen worden sind. Ferner wird behauptet, das bei der Zentralen Stelle befindliche Material sei nur zur Beantwortung von Detailfragen geeignet, auf die es bei der Bearbeitung eines Gesamtkomplexes nicht ankomme. Und ein .fürsorglicher' Hinweis unsererseits auf eine falsche Feststellung in einer Veröffentlichung aufgrund einer wahrheitswidrigen eidesstattlichen Erklärung, die bereits in den Nürnberger Prozessen vorlag, sich später in einem Ermittlungsverfahren einer deutschen Strafverfolgungsbehörde als völlig unrichtig herausstellte, wird dann zum Beispiel von einem Verlag im Auftrag des Autors damit abgetan, daß es im Ergebnis hierauf nicht ankomme und im übrigen so gewesen sein könne; eine Berichtigung sei deshalb nicht notwendig. Die sachlich unbegründete Einwendung der bloßen Detailfragen-Bedeutung des Materials steht aber nur vereinzelt da. Sie kommt durchweg von solchen Historikern, von denen bereits einschlägige Veröffentlichungen erschienen sind, der eine oder andere Punkt jedoch aufgrund neuer, durch die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden gewonnener Erkenntnisse zu berichtigen ist oder einer Überprüfung bedarf. Nach allem ist festzuhalten, daß das Material der Zentralen Stelle für die Anfertigung wissenschaftlicher Arbeiten nach Inhalt und Umfang zu beachten ist, wobei zum Inhalt noch bemerkt werden darf: Der Inhalt der Verfahrensunterlagen ergibt sich aus der Aufgabenstellung der Zentralen Stelle, die aus der Verwaltungsvereinbarung der Landesjustizverwaltungen vom 6. 11. 1958 in der Fassung vom 24. 1. 1967 über die Errichtung der Dienststelle in Verbindung mit den Richtlinien der ständigen Justizministerkonferenz zur Verwaltungsvereinbarung vom 27./28.4.1965 zu entnehmen ist. Hiernach betreffen die Vorgänge Tötungshandlungen mit Tatort innerhalb und außerhalb des Geltungsbereichs unserer Strafprozeßordnung. Da die Zentrale Stelle darüber hinaus gehalten ist, alle Stellen und Einheiten, die in Verdacht stehen, an NS-Verbrechen beteiligt gewesen zu sein, systematisch nach noch verfolgbaren Handlungen zu überprüfen, liegen auch Unterlagen vor, die den Verdacht nicht bestätigten, oder aus denen sich ergibt, daß festgestellte Straftaten bereits verjährt sind. In vielen Fällen sind auch sie für die wissenschaftliche Forschung im Rahmen eines Gesamtkomplexes von Bedeutung. Insoweit darf zum Beispiel auf die zahlreichen Arbeits373

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

kommandos der Konzentrationslager verwiesen werden, bei denen zwar häufig strafrechtlich relevante Handlungen festzustellen sind, die aber oft wegen bereits eingetretener Verfolgungsverjährung nicht mehr geahndet werden können. Mangels Zuständigkeit sind im allgemeinen keine Unterlagen vorhanden, die Kriegsverbrechen betreffen. Jedoch liegen Materialien über solche Taten vor, die eine Verbindung von NS- und Kriegsverbrechen beinhalten, etwa Judenerschießungen im Rahmen von Partisanenaktionen, oder bei denen Tateinheit zwischen beiden Verbrechenskomplexen besteht, zum Beispiel in Aussonderung auf Tötung von sowjetischen Kriegsgefangenen aus politischen, religiösen und rassischen Gründen aufgrund der berüchtigten Einsatzbefehle 8,9 und 14 des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD. Zu den Verfahrensunterlagen gehört naturgemäß ein Großteil der Dokumente. Die restlichen sind überwiegend als mögliches Hintergrundmaterial zu werten, das zur Einführung und damit zum besseren Verständnis des seinerzeitigen Geschehens geeignet ist. Die Einsichtnahme in die Unterlagen der Zentralen Stelle setzt ein Antrag voraus, der nach den .Richtlinien für das Strafverfahren' bei Antragstellern mit Wohnsitz innerhalb des Geltungsbereichs der Strafprozeßordnung von der Zentralen Stelle, mit Sitz außerhalb der Bundesrepublik von dem Justizministerium Baden-Württemberg, entschieden wird. Gemäß Nr. 185 a kann für wissenschaftliche Vorhaben Akteneinsicht gewährt werden, wenn und soweit deren Bedeutung dies rechtfertigt, der Verwaltungsaufwand vertretbar ist und die Gewähr besteht, daß ein Mißbrauch der erlangten Erkenntnisse nicht zu befürchten ist. Sperrfristen — wie nach den Archivgesetzen — bestehen keine. In der Regel liegen die Voraussetzungen zur Einsichtsnahme vor, so daß bisher nur in wenigen Fällen diesbezügliche Anträge abgelehnt werden mußten. Im großen und ganzen stehen den Antragstellern nach Gewährung ihres Begehrens, das durchweg zum Schutz von Persönlichkeitsrechten mit Auflagen versehen wird, alle Materialien zur Verfügung. Ausgenommen sind im wesentlichen die, welche noch offene Verfahren und die Erschließungsunterlagen der Dienststelle mit personenbezogenen Daten betreffen, zum Beispiel der Zentralkartei. Die Nichteinsichtnahme in die noch offenen Vorgänge dürfte mit Sicherheit die Forschungsprojekte nicht stören, da Gegenstand der Verfahren heute im allgemeinen nur noch Exzeßtaten in Lagern und bei Evakuierungsmärschen oder sonstige Taten am Rande bereits erledigter Komplexe sind. Keine Beeinträchtigung wird sich auch aus der nicht zulässigen Verwendung von Erschließungsmaterialien der Zentralen Stelle ergeben, da dieses Problem mit Hilfe von sachkundigen Angehörigen der Behörde zu überwinden ist. Unterstützung können die Wissenschaftler im übrigen von Angehörigen der Zentralen Stelle noch anderweitig erfahren. Zusammengefaßt kann sie etwa bestehen: — in der Zugänglichmachung von Material für einen Gesamtkomplex, zu bestimmten Fragen zur Sache oder zu Personen der Zeitgeschichte, - soweit sich gesuchtes Material nicht bei der Dienststelle befindet, im Hinweis auf mögliche Fundorte in Archiven des In- und Auslandes, 374

38 Dreißig Jahre Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS- Verbrechen

— im Hinweis auf Querverbindungen zu Sach- und Personenfragen sowie entsprechenden Unterlagen, — in der Hilfeleistung bei der Auswertung der Ermittlungsakten, zum Beispiel Ziel der Ermittlungen, Wertung der Einlassung der Beschuldigten, Wertung der Beweismittel unter sachlichen und prozessualen Gesichtspunkten, insbesondere der ent- und belastenden Zeugenaussagen und der Dokumente, — in der Hilfeleistung bei der Auswertung von Urteilen, da z. B. bei den Feststellungen zur Vorgeschichte des Gegenstandes des Verfahrens und bei der der Auswertung des Tatsächlichen wegen der Hervorhebung der Tatbestandsmerkmale Vorsicht geboten ist, — in der Prüfung der Echtheit von Dokumenten, soweit sie Aussteller, Adressat, Zeit und Geschehen betreffen, — im Hinweis auf den Aufbewahrungsort der Originaldokumente und — im Hinweis auf strittige Fragen und die bestehenden Meinungen, teilweise unter Angabe der bereits in Verfahren erstellten Gutachten und diesbezüglichen Veröffentlichungen. Bemerkenswert ist, daß der Wunsch nach Hilfeleistung durchweg bei den Historikern besteht. Die Unterstützung wird als sachfördernd und zeitsparend angenommen. Einschränkend ist jedoch zu bemerken, daß sie nicht in einer dauernden Betreuung bestehen kann, da die eigentliche Aufgabe der Dienststelle, die Verfolgung bzw. Aufklärung von NS-Verbrechen, vorgeht. Nicht unerwähnt soll in diesem Zusammenhang bleiben, daß es auch Begehren um Hilfeleistung gibt, die von vornherein keine Aussicht haben, genehmigt zu werden. Vereinzelt meinen Wissenschaftler zum Beispiel, daß sie sich den Weg nach Ludwigsburg sparen könnten und wenden sich schriftlich an die Dienststelle mit der Bitte, alles zur Beantwortung von bestimmten Fragen vorhandene Material herauszusuchen und zu übersenden. Abgesehen davon, daß der Verwaltungsaufwand erheblich wäre, lassen sich derartige Ersuchen mit der Aufgabenstellung der Zentralen Stelle nicht vereinbaren. Hierbei darf auch daraufhingewiesen werden, daß Bitten auf Übersendung von Akten, Aktenbestandteilen und Dokumenten zur Auswertung nicht stattgegeben werden kann. Zum einen ist die Zentrale Stelle kein Archiv, sondern Strafverfolgungsbehörde, die die Unterlagen ständig für die noch offenen Verfahren und für Ersuchen der Strafverfolgungsbehörden sowie die Rechtshilfe benötigt; zum anderen steht eine solchen Bitte Nr. 189 der .Richtlinien für das Strafverfahren' entgegen, dessen Absatz 3 die Einsichtsnahme von Akten (grundsätzlich) nur in den Diensträumen gestattet. Abschließend ist festzustellen, daß die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen nicht für die Justiz, sondern auch für die Geschichtswissenschaft von Bedeutung ist, wobei die Bedeutung in beiden Fällen in der Unterstützung besteht, was zu unterstreichen ist. Denn bei aller Bedeutung der Dienststelle ist insoweit zu bemerken, daß bei der Strafverfolgung und der Ahndung von NS-Verbrechen die Hauptlast und ein Großteil der Verantwortung bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften lag bzw. noch liegt. Ähnliches gilt für die Geschichtswissen375

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit schaft: Aufgabe d e r Zentralen Stelle ist es nicht, zeitgeschichtliche Forschung zu betreiben; das ist allein Sache der Historiker. Wenn sie aber f ü r ihre Arbeiten Material oder sonstige Unterstützung benötigen, d a n n werden wir im Rahmen des Möglichen nach besten Kräften helfen. Allerdings m u ß es d e n Angehörigen der Zentralen Stelle a u f g r u n d ihrer E r f a h r u n g e n erlaubt sein, immer dort, wo offene Fragen sind o d e r a u f g r u n d n e u e r Materialien bestehende Meinungen überholt scheinen, darauf hinweisen zu d ü r f e n , o h n e dabei die eigentliche Aufgabe aus d e n Augen zu verlieren. Die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen geht aus natürlichen G r ü n d e n dem E n d e zu. Vieles ist im Rahmen der Ermittlungen aufgeklärt word e n ; vieles kann bei weiterer D u r c h d r i n g u n g des vorhandenen Materials noch offengelegt werden. Letzteres kann n u r noch Aufgabe d e r Historiker sein. Hoffen wir, daß man eines Tages von der Bewältigung d e r Vergangenheit im Sinne einer umfassenden A u f k l ä r u n g sprechen kann."

38.2

Statistiken zur Arbeit der Zentralstelle

(Stand: 1.7.1988) Vorermittlungsverfahren (AR-Z-Sachen) (Bei den Zahlenangaben in d e n folgenden Abschnitten sind in Klammern jeweils Vergleichszahlen aus d e m vorhergehenden Tätigkeitsbereich vom 1. Juli 1987 genannt) Gesamtzahl d e r seit d e r G r ü n d u n g der Zentralen Stelle bis zum 30. J u n i 1988 eingeleiteten Vorermittlungsverfahren 5 228 (4 993) Gesamtzahl d e r bis zum 30. J u n i 1988 bei d e r Zentralen Stelle erledigten Vorermittlungsverfahren 5 079 (4 922) Zahl d e r am 1. J u l i 1988 noch anhängigen Vorermittlungsverfahren 149 (71) Im Berichtszeitraum w u r d e n 235 (27) neue Vorermittlungsverfahren eingeleitet. U n t e r diesen V e r f a h r e n b e f a n d e n sich 216 (0) mit 2 554 Beschuldigten, die aufg r u n d der U N W C C - Ü b e r p r ü f u n g s v o r g ä n g e zur Einleitung kamen. 19 (18) Verf a h r e n beruhten auf Anzeigen d e r Polnischen Hauptkommission zur Untersuc h u n g von NS-Verbrechen in Warschau. 157 (41) V e r f a h r e n wurden abgeschlossen u n d an die zuständigen bzw. vom Bundesgerichtshof erklärten Staatsanwaltschaften abgegeben. Von d e n abgegeb e n e n Verfahren stammen 32 (17) aus der Vorermittlungsabteilung; die restlichen Verfahren g r ü n d e t e n sich auf UNWCC-Überprüfungsvorgänge.

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38 Dreißig Jahre Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS- Verbrechen

Allgemeine Vorgänge (AR-Sachen): In den vergangenen 12 Monaten wurden 26 938 (3 768) neue AR-Sachen bearbeitet, von denen 26 467 die Überprüfung von UNWCC-Unterlagen betrafen. Die Gesamtzahl der seit der Errichtung der Zentralen Stelle verzeichneten ARVorgänge erhöhte sich damit auf 73 450 (46 500). Die Anfragen von Behörden in Entschädigungs-, Wiedergutmachungs- und Rentenangelegenheiten sind in etwa gleich geblieben. Gestiegen sind dagegen erneut die Anfragen von Professoren, Lehrern, Studenten, Schülern und sonstigen Personen, die sich mit historischer Forschung befassen. Die Beantwortung dieser Auskunftsbegehren erfordert durchweg einen erheblichen Arbeits- und Zeitaufwand. Anfragen insgesamt: 471 (414). Außer den genannten AR-Vorgängen wurden, im Berichtszeitraum 1 507 (1 400) Personalanfragen von Verfassungsschutzämtern bearbeitet. Das Bundesministerium der Justiz ersuchte darüber hinaus um Auskunft über 643 (375) Personen. Zentralkartei: Am 30. Juni 1988 enthielt die Zentralkartei insgesamt 1.427.389 (1.371.498) Karten, davon die Namenskartei 583.752 ( 565.478) die Ortskartei 533.714 ( 508.479) und die Einheiten- und Dienststellenkartei 309.923 ( 297.541). Zur Zeit sind 19.985 (17.495) Tat- und Einsatzorte und 3.849 (3.789) Einheiten und Dienststellen erfaßt. Neben den neu angelegten Karteikarten sind etwa 16.500 (ca. 8.500) bereits vorhandene Karten aufgrund neuer Informationen ergänzt worden. Die erhebliche Zunahme der neu angelegten und ergänzten Karteikarten ist im wesentlichen auf die Auswertung der UNWCC-Fahndungslisten zurückzuführen. Dokumentensammlung: Die Dokumentensammlung der Zentralen Stelle enthielt am 30. Juni 1988 rund 530.600 (530.000) Blatt Kopien einschlägiger Dokumente, von denen rund 373.500 (372.000) auf ca. 146.200 (145.000) Karteikarten in der Dokumentenkartei nach Stichworten erfaßt sind. Weitere Dokumente (ca. 220.000) sind auf 521 (520) Mikrofilmen erfaßt. Neue Dokumentenverzeichnisse für die mit einschlägigen Verfahren befaßten Dienststellen wurden im Berichtszeitraum nicht angefertigt. Die Zahl der bisher erstellten Verzeichnisse beträgt 51. Verfahrenskartei: In der Verfahrenskartei der Zentralen Stelle waren am 30. Juni 1988 12.876 (12.640) Vorermittlungs-, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren wegen NS-Verbrechen registriert, über die Unterlagen bei der Zentralen Stelle vorliegen. Dar377

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

über hinaus sind rund 1.452 (1.501) staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren in der Verfahrenskartei erfaßt, über die keine weiteren Vorgänge vorhanden sind. Unterlagen über 49 dieser Vorgänge konnten im Berichtszeitraum herangezogen werden.

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Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988 an Siegfried Lenz

„Der Stiftungsrat f ü r den Friedenspreis hat Siegfried Lenz zum diesjährigen Träger des Friedenspreises gewählt. Als Schriftsteller und Essayist setzt er sich in seinem umfangreichen literarischen Werk, in dessen Mittelpunkt die Frage der deutschen Identität steht, unpathetisch u n d bewußt mit den Themen Krieg, Gewaltherrschaft und Macht auseinander. Siegfried Lenz strebt entschlossen eine moralische Wirkung der Literatur an und tritt f ü r eine menschlichere, eine menschenwürdigere Welt ohne Haß und Intoleranz ein. Der Preis wird am Sonntag, dem 9. Oktober 1988, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main überreicht werden." Der Stiftungsrat für den Friedenspreis, Günther Christiansen, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels u n d Vorsitzender des Stiftungsrates.

39.1 Die Rede von Yohanan Meroz Es wird berichtet, daß das Manuskript der ersten Übertragung des Faust ins Jiddische vor m e h r als anderthalb Jahrhunderten dem Erzengel Gabriel den Wechsel von Paradieseshölle mit tiefer, schauerlicher Nacht in den Mund zu legen versuchte. Den kleinen Wilnaer Verleger — unbewandert zwar in damals zeitgenössischer Literatur, doch mit gesunden Sinnen gesegnet - mutete die erstaunliche Metapher seltsam an, und so bat er den draufgängerischen Übersetzer um verständnisfördernde Erklärung. Dieser jedoch verwies ihn an d e n Dichter mit den Worten: „Wenn der große Goethe dieses Gleichnis wählt, wird er wohl wissen, was er sich dabei denkt." Zu Ihrer Beruhigung darf ich festhalten, daß die Antwort den Frager nicht überzeugte; allerdings beraubte seine unbefriedigte Skepsis die Nachdichtkunst einer phantasievollen Stilblüte. Ich erzähle dies nicht, um der anglo-amerikanischen Sitte zu entsprechen, daß auch Ernstes einer unbeschwerten E i n f ü h r u n g bedarf, sondern weil ich mich heute dem eigenwillig-forschen, impressionistischen Vermittler deutscher Dichtung jener Tage nahe und wahlverwandt fühle. Wenige Entscheidungen sind mir j e schwerer gefallen als die bejahende Beantwortung des so unerwarteten wie überwältigenden Angebots des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, hier heute zu u n d über Siegfried Lenz zu sprechen. Nicht oft bemühte, nicht immer ganz überzeugende Demut oder Beschei379

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit denheit lösten das Zögern aus, sondern die ungeschminkte Erkenntnis objektiver Unzulänglichkeit jemandes, der weder Friedensforscher noch b e r u f e n e r Richter literarischen Schaffens ist. Wenn ich d e n A u f t r a g nach vielen S t u n d e n innerer Einkehr d e n n o c h a n g e n o m m e n habe, so tat ich es aus zwei Gründen—aus natürlicher, tiefer u n d bewegter Dankbarkeit gegenüber einem treuen F r e u n d , nicht m i n d e r aber auch, weil ich in d e r W ü r d i g u n g eines hervorragenden deutschen Zeitgenossen d u r c h einen Israeli an diesem, von positiven Geschichtsgeschehen getragenen O r t einen weiteren Markstein auf d e m langen Wege deutsch-jüdischer E n t k r a m p f u n g sehe. Ich ließ Dich meine Bedenken wissen, Siegfried. Zwar hast Du sie nicht völlig ausgeräumt, aber in Deiner lieben Art doch so weit beschwichtigt, d a ß ich beschloß, mich d e m Wagnis zu stellen. Du erteiltest mir fast einen Freibrief, ü b e r alles zu sprechen, was mir in d e n Sinn kommt; dieser Großzügigkeit d u r f t e ich mich nicht verweigern. Ich bitte u m Verständnis u n d Nachsicht. Nicht ungebührliche Aufdringlichkeit verleitet mich, von mir zu sprechen; auch im folgenden werde ich unkonventionelle Ichbezogenheit nicht ausklamm e r n können. Sie ist mit dem verflochten, was uns z u s a m m e n f ü h r t , u n d es ist mir wichtig, daß Sie die Beweggründe sowohl des Zögerns wie d e r Zustimmung kennen. Vielleicht werden Sie Ihrer Bereitschaft zu freundlicher Nachsicht eine Stütze sein; in j e d e m Fall bestimmen sie mein B e m ü h e n , d e r Bedeutung dieser Feierstunde gerecht zu werden. Wenn es an objektiver Befähigung mangelt, ist man nolens-volens auf Subjektives angewiesen, u n d dazu gehört n u n mal das Fürwort „ich". So setze ich auf ganz persönlicher Ebene an, in bekennender Beschränklichkeit — vielleicht im Doppelsinn des Wortes —, doch von d e m aufrichtigen Wunsche getrieben, des Vertrauens und d e r teuren Beziehung würdig zu sein. Aus Gründen, die wohl k a u m d e r Erläuterung b e d ü r f e n , kam ich erst lange nach dem Krieg mit deutscher Literatur in B e r ü h r u n g . Zwar hatte ich mich nie „grundsätzlich" weder von d e r Sprache getrennt noch von ihren hervorragenden T r ä g e r n aus a n d e r e n Zeiten losgesagt, aber in d e r lebendigen Wirklichkeit von Schrekkens- u n d Leidenserinnerung war das Prinzip theoretischer Differenzierung nahezu bedeutungslos. Die f r ü h e n Erzeugnisse der n e u e n deutschen Literatur — in West u n d Ost — waren mir unbekannt; die N a m e n sagten mir nichts. Es fehlte sowohl die innere Bereitschaft wie vor allem die Fähigkeit, die Überbrückbarkeit von Unvergänglich-Vergangenem u n d einer a n d e r e n Gegenwart —und gar möglicher Z u k u n f t — auf die Probe zu stellen. Neugier u n d Interesse hielten sich in engen Grenzen; wo sie bestanden, galten sie a n d e r e n Bereichen. Mitte d e r fünfziger J a h r e - ich war in Amerika auf Posten — verbrachte ich einmal einige T a g e auf der Durchreise in Paris. Bei einer Begegnung mit Manis Sperber, die wir mit einem guten Sancerre begossen, tauschten wir unsere Gedanken und Reminiszenzen aus (nach seiner Absage an den Kommunismus hatte e r sich dem linken Flügel d e r zionistischen Bewegung genähert, d e r einst auch meine politische Heimat gewesen war) — bei dieser Begegnung also fragte er mich plötzlich, ob mir d e r N a m e Siegfried Lenz ein Begriff sei. Als ich dies verneinte u n d erklärend hinzusetzte, daß mein Interesse an n e u e m deutschen Kulturgut gering sei, erwiderte er, daß e r das 380

39 Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988 an Siegfried Lenz wohl verstehe, doch habe jede Regel ihre Ausnahme, und er empfahl mir, sie einmal walten zu lassen. Bevor sich die Gelegenheit bot, seinen Rat zu beherzigen, vergingen mehrere Jahre. Erst 1959, als ich ganz unerwartet nach 26 J a h r e zum ersten Male wieder in Deutschland war — nicht dem eigenen Triebe gehorchend, sondern höherer Anweisung, der ich mich nur ungern fügte - begann ich trotz mancher bis heute nicht beseitigter Fragezeichen, die Gegenwart eines neuen Humanismus von Geist und Herz zu erleben, der mich immer noch in Atem hält. Es waren Habichte in der Luft, zu der Zeit schon fast zehn J a h r e alt, gehörte damals u n d gehört im Rückblick noch heute zu den frühesten Anstößen einer allmählichen Umstellung, die mich, der Fragezeichen ungeachtet, seither begleitet. Es war die erste Begegnung mit Siegfried Lenz, lange bevor wir uns kennenlernten und Freunde wurden; es war die erste vieler Deutschstunden, der ich bedurfte, um Grundsätze in die Praxis umsetzen zu können. Die Bedeutung dieses ersten Romans lag für mich damals besonders darin, daß er sich äußerlich nicht mit dem zu befassen scheint, was im Mittelpunkt der deutsch-jüdischen Thematik steht. Äußerlich. O h n e in jener Zeit mit der Lenzsehen Biographie vertraut zu sein und in den finnischen Wäldern die dänischen seines Eigenerlebens zu erkennen, waren mir jedoch Stenka und Erkki Vermittler seines Gleichnisses, in dem ich sicher war, Unausgesprochenes zu finden. Alles, was später folgte, bestätigte die Eindrücke und Empfindungen der ersten Begegnung. Was Friede besagt, ist bei diesen Anlässen, seit Aiax Tau vor 38 J a h r e n die Auszeichnungerhielt, Gegenstand unterschiedlicher Betonungen und Interpretationen gewesen, doch in einem herrschte stets Übereinstimmung: Friede ist nicht allein, u n d nicht in erster Linie, eine Funktion oder ein Zeugnis verstandesgeprägter und zweckbezogener Vernunft, Einsicht, Aufgeschlossenheit, Kompromißbereitschaft und vieles anderem mehr, sondern vor allem des innermenschlichen Bestrebens und Bedürfnisses, Erlebtes und Erfahrenes nicht nur zu „bewältigen", sondern sich geistig und seelisch damit auseinanderzusetzen. Die deutsche Sprache, Medium der deutschen Psyche, ist diesem Bedürfnis nicht immer gerecht geworden. Gewisse Begriffe, wie wohlmotiviert auch geprägt, erwecken Bedenken, darunter manche, die in den letzten Jahrzehnten in d e n Wortschatz eingingen und in nicht genügend durchdachten Sprachregelungen aufgenommen worden sind. Die mit Gedanken- und Ausdrucksklarheit Begnadeten waren u n d sind sich d e r Schwierigkeit — ja, der gelegentlichen Unlösbarkeit — sprachlich angemessener und treffender Antworten bewußter als ihre weniger zimperlichen Mitmenschen. Siegfried Lenz hat die Gnade in höchstem Maße erfahren; er strahlt sie überzeugend aus. In seinen 1980 veröffentlichten Überlegungen, nach einer ersten Begegnung mit israelischen Schriftstellern, fragt Lenz, was in Israel von deutscher Gegenwartsliteratur erwartet wird. Die Antwort ist, wie er schreibt „ebenso naheliegend wie verständlich: keine .Aufarbeitung*, keine .Bewältigung', sondern dies: nicht die Leiden zu übergehen, die das jüdische Volk durch uns erfahren hat". 381

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Genau. Nicht eine Wiederholung teils verfehlter, weil unglücklich gewählter, teils abgenützter Formeln wird erhofft, s o n d e r n aus Bewußtseinsstärke gewachsene u n d auf die Gegenwart bezogene Kenntnis und Vermittlungsfähigkeit. Die Antwort bestimmt im übrigen das Gesamtbild des deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen Verhältnisses nicht allein auf d e m Gebiet literarischer Erwartungen. Der w a h r h a f t historische Versuch eines n e u e n Brückenschlages kann n u r d a n n Aussicht auf Erfolg haben, wenn er dieser Bestimmung nicht n u r als bisweilen fast mechanisch bemühte Aussage dient, s o n d e r n in inhaltlicher Aufrichtigkeit praktischer Verwirklichung nähergebracht wird. Davon wird noch die Rede sein. Das d e m Außenstehenden wohl vertrauteste Wort der hebräischen Sprache — Schalom — ist hier an diesem O r t in der Vergangenheit des öfteren b e m ü h t worden u n d , bezeichnenderweise, nicht nur, wenn d e r Gewürdigte d e rjüdischen Gemeinschaft angehörte. Als Vision und Bekenntnis d e r Gottbegeisteten, d e r Propheten —Jesaja, Jeremia, Micha u n d anderer—, ist die Vokabel vermeintlich leicht deutbar u n d in ihrer prosaischen Übersetzung „Friede" überall geläufig u n d verständlich. Es ist ein ganz wesentlicher Bestandteil des Gedankenguts, des geistigen Vermächtnisses, das u n t e r d e r Bezeichnung „jüdisch-christliches Erbe" von der westlich benamten Welt (nicht allein in geographischer Benennung) beansprucht u n d bei passenden Anlässen vorgezeigt wird. Doch die einfache Übersetzung verkennt d e n tieferen Sinn. Zu d e n prägenden Merkmalen d e r semitischen Sprachen gehört d e r dreilautige Wortstamm, der d u r c h interne Flektion u n d Aufteilung in H a u p t - und Nebenlaute eine Vielfalt inhaltlich-gedanklicher Betonungen u n d Erweiterungen anbietet, die a n d e r e Sprachfamilien nicht - o d e r nicht in vergleichbarem Maße — vorweisen. Die linguistische Abschweifung ist n u r scheinbar ohne Bezug. Bevor Schalom zum Innenbegriff des äußeren Friedens a u f r ü c k t e — von Mensch zu Mensch, Gemeinschaft zu Gemeinschaft—, bezeichnete seine Wurzel zunächst die innere Verfassung einer in sich abgeschlossenen Ganzheit und Vollkommenheit, d e r das Deutsche, im Anklang an d e n ursprünglichen Gehalt, mit d e m Wort „Zufriedenheit" n a h e z u k o m m e n sucht. Jeremias verzweifelte Klage, an die Manes Sperber hier vor f ü n f J a h r e n erinnerte — „Friede, Friede, aber es ist kein Friede" —, ist zunächst nicht an Um- und Außenwelt gerichtet, sondern ist die ihn quälende Widerspiegelung, die Bestätigung des f r ü h e n Gotteswortes aus d e m 8. Kapitel d e r Genesis, nach d e r Entlassung Noahs aus d e r Arche, das Buber so ü b e r t r u g — „... weil das Gebild des Menschenherzens von seiner J u g e n d h e r bös ist..." Es ist die Korrektur d e r Bösheit, des i n n e r e n Unfriedens, d e n e n d e r schmerzvolle Ruf des Propheten nach Schalom gilt. Sie ist die Voraussetzung f ü r ein erfolgreiches B e m ü h e n u m den äußeren Frieden, das menschliche Bangen u n d Sehnen durchzieht oder durchziehen sollte.Dieser Korrektur widmet sich Siegfried Lenz in einer Vielfalt von Gestalten u n d Formen, ohne einerseits die Grenzen des Möglichen zu verkennen, aber auch o h n e sich von ihnen abschrecken zu lassen. Der j u n g e Gedächtniskünstler in der Erzählung Der Spielverderber begibt sich auf eine riskante Gratwanderung, die das B e m ü h e n um Korrektur fast allegorisch veranschaulicht. 382

39 Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988 an Siegfried Lenz Eine besondere starke Vergegenwärtigung der zentralen T h e m e n seines Schaffens legt Lenz in einigen der kürzeren, zum Teil weniger bekannten Werken vor; in Bühnenstücken, Novellen und Essays. Die großen Romane sind erzählerische Meisterwerke auch f ü r den, der nicht ungern problembehafteter Auseinandersetzung und Herausforderung aus dem Wege geht und vor allem fesselnde Darstellung sucht. Auch mich nahmen nach den Habichten zunächst die Romane in die erste Nach- und Aufholpflicht der vielen Wissenslücken. Sie sind natürlich hervorragende Vehikel der Botschaft, doch kommt bei ihnen auch der Unbekümmerte, der von Themen der Zeit vermeintlich Unbelastete oder Unberührte mühelos zu seinem Recht. Eine wesentliche Komponente des Menschen und des Dichters Lenz ist seine Zurückhaltung. Die beiläufige, beim Lesen nahezu unbeachtete oder übergangene thematische Vermittlung strahlt auf dem häufig mehrspurigen Umweg über Un- und Unterbewußtsein spätzündende, doch um so nachhaltigere Wirkung aus. Damit werden wir uns noch im Zusammenhang mit der Entschlüsselung befassen. Ich sagte schon, daß ich einige der „kleineren", manchmal fast miniaturhaft anmutenden Schriften als besonders prägnante Vertiefer der Suche nach innerem Frieden empfinde — im Zwiegespräch, im szenischen Rahmen oder im Gedankenaustausch z. B. mit Kolakowski oder Sperber, aber auch im Gespräch des Autors mit sich selbst, wie in seiner Rede im Hamburger Auditorium Maximum am 23. Juni 1976 oder in seinen Überlegungen zu Thorkild Hansens „HamsunProzeß". Gewiß, im einzelnen ist das Tableau der T h e m e n ,an sich' nicht neu, doch selten hat es in seiner Gesamtheit eine so ausführliche — und dabei ausgeglichene — Behandlung erfahren: Macht und Willkür, ihre inneren Schranken und äußeren Grenzen; abgeleitet und in integraler Abhängigkeit von ihnen Fragen von Verantwortung und Schuld; nicht zuletzt das weite Geäst der Pflicht, wahrer wie vermeintlicher. Siegfried Lenz bezeugt und vermittelt hohe Moral, aber er ist kein Moralist; er lehrt eindringlich, ohne aufdringlich zu belehren. Er vertraut dem Leser; er übt ihm gegenüber das gleiche Maß an Toleranz, das er in von Zorn u n d Eifer freier Darstellung selbst wählen läßt. Wo Kläger auftreten, kommen auch Verteidiger zu Wort, in der Erwartung, daß das verhaltene Urteil unübersehbar ist. Es ist die Toleranz des Optimisten. Marcel Reich-Ranicki nennt Siegfried Lenz einen „gütigen Zweifler". Dem Adjektiv ist gewiß nicht zu widersprechen, doch vielleicht darf es auf „gütig-hoffnungsvoll" erweitert werden? Nicht immer allerdings ist der allzu oft krasser, simplistischer Schwarzweißmalerei ausgesetzte Leser der eigenen Entscheidung gewachsen. Ich erinnere mich an ein recht lautstarkes Gespräch, in d e m mir ein Bekannter nach der Lektüre der Novelle Ein Kriegsende zu meiner Überraschung die Frage stellte, ob ich eigentlich wüßte, wie der Autor „nun wirklich" zu der Meuterei auf dem Minensucher steht. Er sah sich zu Eigenbemühung genötigt, der er zwar nicht Unwillens war, die ihn jedoch zu überfordern schien. 383

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Diese zufällige E r i n n e r u n g veranschaulicht eine wesentliche Problematik in d e r Wechselbeziehung zwischen Autor u n d Leser: Das begriffliche Durcheinander von vermeintlicher Bewältigung von Vergangenheit u n d Geschichte (einer seit J a h r z e h n t e n gern benützten, doch, wie bereits angedeutet, i r r e f ü h r e n d e n Vokabel) u n d wirklicher Auseinandersetzung mit ihr. Nicht o h n e Scham gestehe ich heute, daß es mir einmal ähnlich ging, als ich die Deutschstunde zum erstenmal zu schnell u n d zu oberflächlich gelesen hatte. Ich war mir nicht sicher, wie Lenz „nun wirklich" zu d e m bizarren Pflichtverständnis des Rugbüller Polizisten stand. Vielleicht war mein A u g e n m a ß von den kurz zuvor wiedergelesenen Goetheschen Worten angeschlagen — „... wir Deutschen sind geneigt, u n s in f r ü h e r e Zeiten und Sitten, so abstehend u n d wunderlich sie auch sein mögen, mit einem heitern Patriotismus zu versetzen." Daß ich d e n Autor damals noch nicht persönlich kannte, bietet keine Erklär u n g , geschweige d e n n Entschuldigung, f ü r die getrübte Sicht. Es sei mir gestattet, aus handschriftlichen Briefen zu zitieren, d e r e n sich Siegfried Lenz — zumindest im Wortlaut - wahrscheinlich nicht erinnert. Nach seiner Rückkehr aus Israel schrieb er im Herbst 1979: „Ich höre viele Stimmen, doch wie viel Unterschiedliches sie mir auch zutrugen, von einem Problem gab es n u r eine einzige bezwingende Übereinstimmung: d e m Sicherheitsproblem des Landes. Von allen Eindrücken, W a h r n e h m u n g e n u n d I n f o r m a t i o n e n ist dies f ü r mich fraglos die wichtigste E r f a h r u n g : das inständige, manchmal verzweifelte, o f t bis in d e n T r a u m reichende B e d ü r f n i s nach Sicherheit, nach endlicher Sicherheit..." Diese kluge, einfühlsame Erkenntnis f ü h r t e mich in eigenen Aufzeichnungen zu d e r Feststellung, daß wenige Deutsche — wenige Menschen ü b e r h a u p t - Israel so umfassend „verstehen" wie Siegfried Lenz. Der aus d e m T r a u m a jahrtausendealter Verunsicherung entstandene T r a u m ist nicht n u r d e r Lebensfaden, die Achse unserer existentiellen Eigenarten, sondern auch der Schlüssel zu politischen Rätseln, die wir anderen — gelegentlich uns selbst - aufgeben. Lenz erkannte dies in d e n wenigen T a g e n seines Aufenthaltes in Israel. Was e r anspricht, ist die auf d e m H i n t e r g r u n d unvergleichbarer E r f a h r u n g e n gesammelte und gehegte Sehnsucht nach Frieden, die die Zerstörung zweier T e m p e l — nicht allein im physischen o d e r glaubensbezogenen Sinne - so ungemein belastet. Das o f t in den V o r d e r g r u n d gerückte „Politische" ist dabei fast nebensächlich. I n einem a n d e r e n Zusammenhang schrieb er wenige J a h r e später: „... es ist schon deprimierend zu e r f a h r e n , wie wenig sich das Selbstverständnis von selbst versteht." F ü r eine Auswahl gedanklich u n d sprachlich h a r m o n i e r e n d e r „Geflügelter Worte" sind die Bühnenstücke eine unerschöpfliche Quelle. Das früheste — Zeit der Schuldlosen — vermittelt einen großartigen Erkenntnisreichtum zu d e r unendlichen Machtthematik, die auch d a im Mittelpunkt Lenzschen Schaffens steht, wo sie scheinbar auf ein Nebengleis verwiesen zu sein scheint. Die Konfrontation von Überzeugung u n d Anpassung, von Gewissen u n d Bequemlichkeit, bestimmt das packende dramatische Geschehen. Der Student, thematische H a u p t p e r s o n , sagt: 384

39 Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988 an Siegfried Lenz „Wer zu handeln versäumt, ist noch keineswegs frei von Schuld. Niemand erhält seine Reinheit d u r c h Teilnahmslosigkeit..." u n d d a n n : „Wer sich entscheidet, als Mitwisser von Verbrechern zu leben, der kann es n u r unter d e r Bedingung, d a ß er sich verantwortlich fühlt." Das ist Quintessenz Lenzscher Moral, in der die zeitliche Nähe zur damals noch j u n g e n Vergangenheit nachdrücklich mitschwingt. In einem vergleichsweise schmalen Rahmen bietet das Stück einen Mikrokosmos gewaltigen Ausmaßes an (eine mit Bedacht genützte contradictio-in-adiecto). Das Zwie- oder Vielgespräch ist von j e h e r ein erprobtes Mittel zur Verdeutlichung gedanklich-existentieller Befragung. Lenz beherrscht auch dieses Mittel in einer Vollkommenheit, die die Frage aufwirft, w a r u m er sie nicht noch häufiger b e m ü h t hat. Sein Bühnenwerk ist manchen seiner Bewunderer nicht genügend vertraut. Es ist bemerkenswert u n d kein Zufall, daß zwei seiner Stücke in Israel schon zu einem Zeitp u n k t a u f g e f ü h r t w u r d e n , als deutscher Bühnendichtung gegenüber noch Zurückhaltung bestand — lange vor seiner Begegnung mit israelischen Kollegen. Siegfried Lenz verkörpert in ganz h o h e m Maße die geistige u n d menschliche Haltung, die d e r sogenannte Wald- u n d Wiesen-Israeli im U m g a n g mit Deutschen sucht u n d erhofft. Das erklärt die Nachfrage nach d e n — meines Wissens — bis jetzt f ü n f ins Hebräische übersetzten Romanen. Daß Deutschstunde u n d Stadtgespräch d a r u n t e r sind, ist kaum erstaunlich; eher schon, d a ß auch das Heimatmuseum dabei ist. Obwohl sich d e r J u d e nicht zu Unrecht als Angehöriger d e r Gemeinschaft des Buches bezeichnet, u n d das kleine Israel eine vergleichsweise große Lesergemeinde aufweist, ist es keineswegs selbstverständlich, daß eine ihm so u n b e k a n n t e Menschen- u n d Naturlandschaft wie die des Heimatmuseum diesen Anklang g e f u n d e n hat. Ich spreche hier auch stellvertretend f ü r seine vielen Anh ä n g e r unter meinen Mitbürgern. Was ihnen Lenz so zugänglich macht, ist der v o r n e h m e Abstand von aufdringlicher, selten überzeugender Selbstgeißelung; die schlichte Zurückhaltung vermittelt ihnen die innere Aufrichtigkeit, die sie überzeugt. Die großen existentiellen T h e m e n , die sein Werk durchziehen u n d bestimmen, sind von stets aktueller, heute auch von besonders akuter Bedeutung f ü r die Menschen in Israel. Die Auseinandersetzung mit ihnen wird die Z u k u n f t prägen, ihren inneren u n d ä u ß e r e n Frieden, in d e r komplexen Wechselwirkung von Dingen wie Macht und Gewalt, Recht u n d Gerechtigkeit, die die politische B ü h n e seit g e r a u m e r Zeit über Grenzen vermeintlich „örtlicher" Zuständigkeit hinaus in Anspruch nehmen. Ein a n d e r e r Freund, Teddy Kollek, w u r d e hier vor drei J a h r e n geehrt. In seinem Lebenswerk, d e r positiven Auseinandersetzung mit diesen T h e m e n , k o n n t e er ungeahnte Gipfel erklimmen, u n d trotz aufgezogener Wolken und Widrigkeiten hat es Bestand. Seinen weisen Worten folgend kann ich n u r einmal m e h r d e n Wunsch u n d d e r H o f f n u n g Ausdruck geben, d a ß die V e r n u n f t und Toleranz aller das Vorbild im Auge behält, mit dem Ägypten u n d Israel vor mehr als zehn J a h r e n die vermeintliche „Unmöglichkeit" eines arabisch-israelischen, eines islamisch-jüdischen Friedens widerlegten. 385

Atiseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Doch nicht mit dieser Komplexität, zu der ich bestenfalls Wunsch und Gebet, jedoch keine Lösung beitragen kann, will ich mich befassen, wohl aber mit den Auswirkungen — richtiger, mit den potentiellen Gefahren —, die aus ihr den neuen Beziehungen unserer beider Völker entstehen können. Daß ich dies in Anwesenheit des verehrten H e r r n Bundespräsidenten tun darf, erfüllt mich mit tiefer Bewegung. Niemand hat sich der unendlich tragischen, zugleich aber auch nicht aussichtslosen deutsch-jüdischen Thematik mit größerer ethischer Kraft und Weisheit zugewandt; niemand hat, wie er, verstanden, den der Vernarbung noch immer harrenden Wunden des Schreckens Linderung u n d H o f f n u n g zuteil werden zu lassen. Es ist wahrhaft wundersam, daß sich heute J u d e n und Deutsche mit einem Maß an Unbefangenheit gegenüberstehen, daß sie ehrlich darum bemüht sein können. Nicht nostalgisch-irrige Erinnerungen an eine legendäre „Symbiose" — oft bemüht, doch nie belegt — hat uns nähergebracht, sondern ihr Gegenteil: die Entlassung aus Fesseln fehlgedeuteter Bindung und Abhängigkeit in beiderseitige Freiheit, die zum ersten Male einen Rahmen von Gemeinsamkeit und Zusammenwirken bietet, den f r ü h e r e Generationen in selbsttrügerischer Gutgläubigkeit gefunden zu haben glaubten. Natürlich darf die Vergangenheit nicht ausgeklammert werden. Zugleich können wir uns heute manches sagen, auch kritisches, ohne die Last j e n e r Zeit mit Worten in jeden Gedankenaustausch einzuflechten, wiewohl sie im Bewußtsein nicht erlischt. Dazu gehört auch die freie geäußerte Meinung zum Tagesgeschehen. Doch auch dies muß mit allem Nachdruck gesagt werden: Unerträgliches Suchen nach „Vergleichen", Angebote selbstgefälliger „Analogien", auf dem Hintergrund der unmenschlichsten aller Versündigungen am Antlitz Gottes, bezeugen nicht n u r Niedertracht oder unverbesserliche Blindheit. Sie sind nicht minder eine neue Saat alter Vorurteile, die den schweren, noch schmalen Weg des Verständnisses, zu dem wir uns bekennen, überwuchern und unbegehbar machen kann. Was sich einst anzubieten schien, verlief in leidensgetränktem Sande. Die unzähligen Namen, die den Versuch zu bestätigen schienen, sind uns heute, bei aller Größe, Symbole tragischer Illusionen. Weder Stefan Zweigs Nachtrauern der „Welt von Gestern", noch, auf anderem Boden, Prousts Suche nach der „Verlorenen Zeit" werden d e n jungen Pfad der Gegenwart zu einem Weg freier und bekennender Gemeinsamkeit machen. Andere Menschen, andere Namen verkörpern ihn: Ben-Chorin und Adenauer, ShumuelJosef Agnon und Heinrich Boll, Teddy Kollek u n d Richard von Weizsäcker, Arnos Oz und Siegfried Lenz. Das wirkliche Heutige, nicht das trügerische Gestrige, ist der Born der H o f f n u n g f ü r das MorgigeAll dies weißt Du wohl, lieber guter Freund Siegfried. Möge Dein begnadetes Schaffen auch unter d e m Leitstern dieser Ehrung dem Ausbau und der Festigung dieses Weges dienen. Die Wünsche und das Vertrauen aller begleiten Dich, Dich und Lilo, in Eurer wunderbaren Unbeirrbarkeit. Schalom.

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39.2

„Am Rande des Friedens": Die Dankrede von Siegfried Lenz

Soviel scheint mir sicher: Wo es um die Sache des Friedens geht, gibt es keine Inkompetenz. J e d e r hat seinen T r a u m , jeder ist betroffen, wer sich um den Frieden sorgt, hat das Recht mitzureden, und wer gelitten hat, ist zuständig; denn Leiden, so glaube ich, sind Legitimation genug. Wir wollen den Herren der Staatskunst nicht die Kompetenz bestreiten — die alleinige Kompetenz indes, f ü r den Frieden tätig zu sein, können wir ihnen nicht zubilligen. Geschichtliche Erfahrung rät uns, auf eigenem Mitspracherecht zu bestehen, und das heißt: das Wort zu nehmen — und ein Wort nehmen ist gleichbedeutend mit Handeln —, wenn wir den Frieden bedroht sehen. Und er ist immer bedroht, immer löcherig, im Kleinen und im Großen. Keine Zeit — von den alttestamentarischen Propheten bis zu den heiser gewordenen Kassandras unserer Tage —, in d e r das Sehnsuchtsziel Friede nicht in Gefahr gesehen wurde. Keine Zeit auch, in d e r sich Vernunft nicht genötigt fühlte, auf die erkannte Gefährdung zu anworten: mit visionärem Programm, mit utopischem Entwurf. Der oft verheißene neue Mensch — der friedfertige, der konfliktfreie, der gute Mensch — schritt bisher unter keinem Horizont hervor, und es ist nicht schwer vorauszusagen, daß wir vergeblich auf ihn warten werden. Gezwungen, mit offenen Problemen zu leben, müssen wir uns anscheinend auch mit einem Frieden abfinden, der immer etwas zu wünschen übrig läßt — was aber heißt, daß wir nicht n u r zu begleitender Sorge, sondern j e nach Möglichkeit auch zu gebotener Handlung aufgefordert sind. Mag er auch ausgefragt sein als Begriff, als Thema, als Wunschzustand, mag er auch erforscht und erkundet sein in seinen vielfältigen Bedingungen u n d Voraussetzungen: immer wird der Friede Aufgabe bleiben, denn wo er herrscht: er ist allemal unvollkommen. Als Schriftsteller habe ich erfahren, wie wenig Literatur vermag, wie dürftig u n d unkalkulierbar ihre Wirkung war und immer noch ist. Niemals wurden kriegsentschlossene Mächtige zum Frieden hingeschrieben; kein Werk der Einbildungskraft reichte aus, um die Folter abzuschaffen, Kinder vor dem Hungertod zu bewahren, die Rechte Andersdenkender zu sichern. Literatur hat auch nicht verhindern können, daß Millionen unter der Armutsgrenze leben, daß wir zu Gefangenen monströser Bürokratien geworden sind, und daß wir fassungslos dem Sterben unseres Planeten zuschauen müssen. Und schließlich hat Literatur es auch nicht vermocht, der Instanz zu gebieterischer Autorität zu verhelfen, die nach Ansicht erfahrener Friedensforscher die bedeutendste Rolle bei der Lösung von Konflikten spielt: die menschliche Vernunft. Nein, es ist nicht weit her mit der greifbaren Wirkung von Literatur; der Geschichtenerzähler von heute, der immer noch aus einer Art Notwehr handelt, hat manche Gründe zur Mutlosigkeit, und er wird, seine enttäuschten Hoffnungen bilanzierend, zugeben, daß Literatur niemals die Politik ersetzen kann. Die Ungleichheit ihrer Bedeutung und Wirkung läßt sich schon allein daran erkennen, daß, wenn ein Buch mißlingt, der 387

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

Schaden auf Autor und Verleger begrenzt bleibt, daß aber, wenn eine fragwürdige Politik zum Ende kommt, alle betroffen sind und die Folgen auszubaden haben. Angesichts ihrer offenbaren Wirkungslosigkeit muß man sich allerdings fragen, wodurch sich Literatur zu jeder Zeit die besondere Aufmerksamkeit der Mächtigen verdiente. Man muß sich fragen, wodurch sie Argwohn und Verdacht auf sich zog und woran es wohl lag, daß ihre Geschichte — wenigstens zu einem beträchtlichen Teil — gleichbedeutend ist mit der Geschichte ihrer Verfolgung. Traute man ihr doch mehr zu, als man sich eingestehen wollte? Was besagen - bei unterstellter Wirkungslosigkeit — die unablässigen Bemühungen der Mächtigen, Schriftsteller auf sich zu verpflichten und aus ihnen schön sprechende Bauchredner zu machen, die nur den Refrain kennen: Es herrscht Friede im Land. Verwiesen auf die Reservate der Phantasie, zum Sachwalter des Scheins bestellt: so wollte man den Schriftsteller am liebsten. Ein Zierfisch, dessen Möglichkeiten an der Glaswand des Aquariums endeten: so ertrug man ihn. Es spricht für sich, daß sich Literatur fast immer dem Schicksal ausgesetzt fand, entweder verdächtigt oder verharmlost zu werden. Das freilich — Verdächtigung und Verharmlosung - sind ja wohl nun Reaktionsweisen, die nicht einem Gegenstand entsprechen, von dessen vollkommener Wirkungslosigkeit man überzeugt ist. Sollte es sich ausschließlich um Überreaktionen handeln? Zu einem Teil — gewiß; zum anderen keinesfalls. Die Hellhörigkeit war allemal gerechtfertigt; denn wenn es der Literatur auch nicht gelang, die spektakulären Probleme einer Zeit kalkuliert zu lösen, den Forderungen des Tages den entscheidenden Impuls zu geben oder die Vernunft für immer zu inthronisieren — vollkommen wirkungslos war sie nicht. Immerhin muß man zugeben, daß sie, auch wenn sie die Verhältnisse nicht geändert hat, etwas anderes erreicht, nämlich unser Verhältnis zur Welt zu ändern. Indem sie bloßstellte, aufklärte, bewußt machte, wirkte sie. Indem sie Alternativen anbot, forderte sie dazu auf, die eigene Lage zu überprüfen, mit einem Wort, deutlicher zu leben. Oft aus der Defensive handelnd, schlug Literatur uns vor, den Traum von besseren Wirklichkeiten nicht aufzugeben. Immer an den einzelnen gewandt, machte sie das Angebot, sich mit anderem Schicksal zu vergleichen, und gegebenenfalls, Schlüsse aus dem Vergleich zu ziehen. Und gerade dies: das unkontrollierbare Zwiegespräch mit dem einzelnen, ließ sie in den Augen der Mächtigen als subversive Bedrohung erscheinen. Schließlich wirkte Literatur auch immer dadurch, daß sie aufhob und bewahrte, daß sie sich zu erkennen gab als geräumiges Gedächtnis. Und auf Erinnerung zu bestehen kann mitunter schon Widerstand sein — zumindest dann, wenn Vergeßlichkeit groß geschrieben oder gar dekretiert wird. Ist Literatur unfriedlich? Sie ist es, sie mußte es wohl immer sein, da vorgefundene Wirklichkeit ihr nichts anderes übrig ließ. Ihr unfriedlicher Charakter, das ist klar, besteht darin, daß sie gewaltsam herbeigeführte Ruhe stört, daß sie sich nicht abfindet mit verfügtem Schweigen, daß sie für die spricht, die man stimmlos gemacht hat. Unfriedlich, um einem besseren, einem nicht vorgetäuschten Frieden zu dienen, hat Literatur uns auch daran erinnert, daß Vergangenheit nicht 388

39 Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988 an Siegfried Lenz aufhört und daß diese, die uns Wesen und Rolle des Menschen zugleich zeigt, uns in der Gegenwart überprüft. Es hat den Anschein, daß ohne diese Art von Unzufriedenheit nicht der Friede erreicht werden kann, den zu wünschen wir nicht müde werden. Wir können es uns wohl nicht leisten, Frieden ausschließlich als Nicht-Krieg zu definieren. Auch Definitionen kommen in die Jahre, sie schränken ein und verarmen und werden den Veränderungen nicht gerecht, die ein Begriff erfahren hat. Welch ein aufschlußreiches Zögern zum Beispiel bei dem Versuch, den Begriff „Gewalt" zu definieren: bei Kant, einem ihrer bittersten Verächter, eindeutige Bezogenheit; bei Alfred Grosser, unter dem Blickwinkel dieser Zeit, vielfältige Erwägungen. Nein, so wie „Gewalt" heute weiter ausgelegt werden muß, so müssen wir wohl auch den Begriff „Frieden" weiter fassen, müssen jedenfalls fragen, ob er bereits besteht, wenn sich, sozusagen, der Lärm d e r Waffen gelegt hat. Es ist ja nicht nur denkbar, sondern entspricht auch unserer Erfahrung, daß wir den Krieg aus wohlerwogenen Gründen ablehnen und uns dennoch nicht als friedensfähig erweisen, im Gesellschaftlichen, im Privaten, in unserem Verhältnis zu den Problemen der Zeit. Ich weiß nicht, ob unsere H o f f n u n g gerechtfertigt ist, daß wir jemals friedensfähig werden können — die schmerzhafte Unvollkommenheit des Friedens, in d e m wir uns gegenwärtig befinden, bestätigt da eher meine Zweifel. Und dieser Zweifel wächst u n d findet seine Gründe angesichts von Sachverhalten, die nicht erlauben, von erreichtem Frieden zu sprechen, sondern allenfalls von unfertigem. Was auch zu ihm gehört — außer Waffenstillständen, Friedensschlüssen und Verträgen — daran möchte ich erinnern. Nicht erst seit Shakespeares Königsdramen wissen wir, was der Macht zu ihrer Selbsterhaltung einfällt u n d wozu sie sich bereit findet; schon die Antike liefert uns genügend Aufschluß. Außer einer Methodenlehre zur Beseitigung von Unruhestiftern und Rivalen, von Jugendverderbern und Staatsfeinden vermitteln uns vergangene Zeiten die Einsicht, daß Wörter ein Risiko darstellen können. Einmal ausgesprochen u n d vervielfältigt, können sie Waffe u n d Bedrohung bedeuten; sie können Forderungen zusammenfassen — wie die klassische Forderung: Mehr Brot, mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit —, und sie können, was sich an Herrschaft verselbständigt hat, in Frage stellen. Das ist leider keine Erfahrung, die der Geschichte angehört. Welch eine Gefahr von Wörtern immer noch auszugehen scheint, belegt ein Bericht des Komitees im Internationalen PENClub: Writers in Prison (Schriftsteller im Gefängnis). Es ist der einstweilen letzte Bericht vom Juli 1988, und er besagt, daß zu diesem Zeitpunkt 305 Schriftsteller und Journalisten in den Gefängnissen von Ländern saßen, zu denen wir wirtschaftliche, kulturelle u n d sogar freundschaftliche Beziehungen unterhalten und mit denen wir in Allianzen verschiedener Art verbunden sind. Weil Herrschende nicht einverstanden waren mit ihrem Gebrauch von Wörtern, setzten sie diese 305 Männer und Frauen gefangen; es sind, ich muß es erwähnen, einige weniger als im letzten Jahr, doch wie der Bericht hervorhebt, bedeutet die verringerte Zahl keineswegs, daß die Freiheit des Wortes in der Welt sich zum Wünschenswerten hin verändert hätte. Die Gründe, die zu Verhaftung und Anklage 389

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit führten, sind uns allesamt bekannt; es sind die alten, die trostlosen, die schmierigen Gründe, die eine argwöhnische Macht zu Hilfe nimmt, um die Störer der Kirchhofsruhe zum Schweigen zu bringen. Erbittert, doch ohne Erstaunen erfahren wir, daß eine Dichterin verurteilt wurde, weil sie in einem Poem an ein Massaker erinnert, das die Regierung zu verantworten hatte: Erinnerung an ein Datum nationaler Schande darf nicht erlaubt sein. Wir hören von einem Urteil, das gegen einen Schriftsteller erging, der das Datum eines historischen Aufstands feierte: die Strafwürdigkeit, klar erkennbar, liegt in versuchter Aufwiegelung. Einer wurde verurteilt, weil er mit Studenten über Gedichte diskutierte, in denen die Ideale d e r Demokratie verherrlicht wurden; ein anderer, weil er ein „Buch der Demokratie" schrieb. Die Gründe der Anklage studierend, überraschte es mich nicht, „Verschwörer gegen den Staat" als häufigstes Vergehen genannt zu finden. Im Gebrauch von Wörtern wird eine „Rebellion gegen die Autoritäten" erkannt, Wörter fordern Regierungschefs heraus, sie verbreiten „umstürzlerische Gedanken", sind also konterrevolutionär, sie tragen eine „gefährliche Ideologie" ins Volk, sie mißinterpretieren die Verlautbarungen der Herrschenden u n d bedrohen somit den Frieden. Über die Beschaffenheit dieses Friedens braucht nicht viel gesagt zu werden; man kann, wie der Bericht „Writers in Prison" zeigt, verurteilt werden f ü r die Verbreitung marxistischer Ideen, und man kann heute ebenso hinter Gittern landen, wenn man sich weigert, sich auf den Katechismuscharakter Marxscher Erkenntnisse einschwören zu lassen. Ein Frieden unter Menschen — das ist wohl sicher — bestimmt sich nicht durch Palmenzweig und Cimbelton. Sanftmut in allen Herzen und verzichtbereites Glück sind auch nicht das Ziel. Zu einem Frieden, wie wir ihn herbeiwünschen, gehören durchaus Spannungen, Konflikte, auch ein unvermeidliches Maß an Unruhe. Er ist um so verläßlicher, je bereiter er unsere Widersprüche aufhebt. Und deshalb können wir uns nicht mit einem Frieden abfinden, in dem es keine Antagonismen mehr gibt, keinen Einspruch, keinen Widerspruch zum Bestehenden. Mögen Eigentümer der Macht auch der Ansicht sein, daß es genug sei, wenn sie f ü r uns denken u n d reden: das uns allen verheißene Wohlgefallen auf Erden wird sich erst dann einstellen, wenn die Freiheit des Wortes f ü r jedermann garantiert ist. Sie gehört zum Frieden. Sie macht ihn zu ihrem Teil aus. Sie ist eine Forderung. Ich weiß, es ist eine alte Forderung, wir können sie n u r wiederholen — wie wir auch n u r ins Gedächtnis rufen können, was bereits die alten Propheten als unerläßlich f ü r den Frieden ansahen. Was zweitausend J a h r e lang überhört wurde, ist deshalb keineswegs aus der Zeit: den Haß zu begraben und aufs Schwert zu verzichten, der Tyrannei ein Ende machen und einen Zustand schaffen, in dem, wie es bei Arnos heißt: das Recht offenbart und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom wird — diese alten Forderungen gelten auch heute noch. Gewiß, in ihren Erwartungen berufen sich die großen Verkünder oft auf das Wörtchen „nachdem" — nachdem die Herrscher weise, die Wölfe freundlich geworden sein werden,... — 390

39 Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988 an Siegfried Lenz doch das ändert nichts daran, daß wir die alten Propheten zu den bedeutenden Aufklärern zählen müssen. Sie haben uns vor Augen geführt, daß, wie es einen Krieg nach außen u n d nach innen geben kann, der äußere Friede seine Ergänzung findet im inneren Frieden. Was heißt das: innerer Friede? Vielleicht ist er das „volle Beisichsein", von dem Ernst Bloch einmal sprach. Vielleicht ist er das Ende langer Identitätsnot, das Happy-End nach beschwerlicher Selbstsuche; also restlose Einigkeit mit sich und der Welt. Innerer Friede: vielleicht schimmert er im Lächeln des Genügsamen auf, vielleicht manifestiert er sich auch in der Genugtuung eines Menschen bei seiner Arbeit. Satt an eingelösten Wünschen, geben wir uns dem Gefühl hin, das Erreichbare erreicht zu haben — nichts ist mehr offen, die Sehnsucht ist an ihrem Ort angelangt, an dem nur noch Harmonien walten. Ich glaube, daß der innere Friede immer ein utopisches Fernziel bleiben wird, ein notwendiges Fernziel, und daß er, selbst wenn uns dies gelingen könnte, schwerer zu verwirklichen wäre als der äußere Friede, denn der Naturzustand des Menschen ist nun einmal notorisch friedlos. Was auch zum Frieden gehört: daran möchte ich erinnern. Mir ist klar, welch eine außerordentliche Bedeutung f ü r unser Leben die Rüstungskontrolle hat, mir ist auch bewußt, wieviel von Konfliktregulierung, von Abrüstung u n d der Errichtung eines europäischen Sicherheitssystems abhängt, doch wie erfolgreich diese Probleme auch gelöst werden mögen: der Friede, der uns wunschlos sein läßt, wird sich nicht zeigen. Er umfaßt, wie gesagt, mehr als den erklärten Verzicht auf Gewalt. Er bestimmt sich auch als ein Zustand, in dem es ebenso ein Recht auf H o f f n u n g f ü r alle gibt wie die Pflicht zur Verantwortung f ü r das, was ist, und f ü r das, was war. Verantwortung sagt—so bilanziert Hans Jonas—, daß uns etwas anvertraut ist. Es kann der Nächste sein, der Schwächere, der Verirrte; es kann aber auch eine Erkenntnis sein oder das Wasser oder die eigene Geschichte. Für das Anvertraute müssen wir einstehen, aufweiche Probe es uns auch stellt. Wir haben in jüngster Zeit eine Auseinandersetzung über deutsche Geschichte erlebt, die unter dem Begriff „Historikerstreit" Aufmerksamkeit in der ganzen Welt fand. Bestürzt nahmen wir das Bemühen akademischer Lehrer zur Kenntnis, Auschwitz, also d e m industrialisierten Mord an Millionen, seine Singularität abzusprechen, ja es „verstehbar" zu machen. Auf Stalins Archipel Gulag verweisend, in dem bereits zuvor Millionen den Tod fanden, wollte man uns glauben machen, daß Hitler hier sein Beispiel gefunden habe. Schroff verkürzt, wurde uns das Fazit nahe gelegt: Ohne Archipel Gulag kein Auschwitz. Noch erschrocken über diese Schlußfolgerung, e r f u h r e n wir, daß es n u n m e h r an der Zeit sei, auch die Geschichte des „Dritten Reiches" zu historisieren, seine Taten und Untaten zu entemotionalisieren. Historisierung und Entemotionalisierung: sie wurden reklamiert, um uns letzte Aufklärung über geschichtliche Ereignisse zu bringen. Doch sind das die Vehikel, die Geschichte besonders erkennbar machen, die ja ein Zweig der Geisteswissenschaft ist? Spricht Geschichte noch zu uns, betrifft sie uns noch, wenn wir uns leidenschaftslos über sie beugen wie über ein Herbarium u n d kühl registrieren, was sich auf dem Grund tut? Und welch eine Art von 391

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Verständnis läßt sie übrig, wenn wir uns von ihr amputieren, u m d e m namenlosen Entsetzen eine wissenschaftliche Fassung zu geben? Wenn Historisierung bedeutet, ein Ereignis als abgeschlossene Akte zu behandeln, als vorbei u n d erledigt u n d gereinigt von Schrecken, erweist sie sich als fragwürdiges Mittel geschichtlichen Erkennens. Denn Geschichte ist nie abgeschlossen, sie wirkt in j e d e Gegenwart hinein, sie ü b e r p r ü f t uns, gibt uns etwas auf, sie verstört, erinnert und verpflichtet uns u n d läßt uns erschauern vor d e n Möglichkeiten des Menschen. U m d e n Geist o d e r Ungeist einer Epoche zu ermitteln — das zumindest glaube ich —, bedarf es weniger einer Entemotionalisierung als zum Urteil bereiter Anteilnahme: d e n n i m m e r stand, immer steht die Sache des Menschen auf d e m Spiel. Das historische D o k u m e n t findet j e d e r , den Geist einer Epoche aber n u r der, der sich selbst einbringt, d e r nicht absieht von sich selbst. Die Untaten a n d e r e r sind kein A r g u m e n t d e r Entlastung. Auschwitz läßt sich nicht im historischen Vergleich erfassen, der, a u ß e r willentlicher oder unwillentlicher Verharmlosung, keinen zusätzlichen Aufschluß gibt. U n d Auschwitz läßt sich auch nicht verstehen. Gewiß, wir sollten i m m e r zu verstehen suchen, bevor wir urteilen, aber hier, vor diesem Verbrechen, spüren wir, d a ß d e m Verständnis Grenzen gesetzt sind. Im übrigen frage ich mich, wie wohl die O p f e r unser B e d ü r f n i s nach Verständnis quittieren könnten, sie u n d die Überlebenden, die noch u n t e r uns sind. Dolf Sternberger hat gesagt, was in diesem Zusammenhang n u r festgestellt werden kann: „Wenn wahrhaftig die Absicht des Verstehens den Sinn von Wissenschaft ausmachte, so müßte man d e n Schluß ziehen, daß zur Erkenntnis des Phänomens .Auschwitz' die Wissenschaft untauglich ist." So seltsam es klingen mag: Auschwitz bleibt u n s anvertraut. Es gehört uns, so wie uns die übrige eigene Geschichte gehört. Mit ihr in Frieden zu leben ist eine Illusion; d e n n die H e r a u s f o r d e r u n g e n u n d Heimsuchungen n e h m e n kein Ende. Schließlich haben wir es nicht mit der spirituellen Hinterlassenschaft von Hegels Weltgeist zu tun, sondern mit überlieferten unsagbaren Leiden. So ist zu fragen, ob es einen Frieden geben kann, in dem auch die Unversöhntheit einen Platz findet. Ich glaube: ja. Der Friede, der uns entspricht, schließt meist Verstörungen durch das Gedächtnis aus. J e d o c h : Unversöhnt mit d e r Vergangenheit, sind wir um so leidenschaftlicher f ü r d e n Frieden. Unversöhnt, geben wir der Vergangenheit, was wir ihr schulden u n d d e r Gegenwart, was sie a n n e h m b a r macht. „Wer vor d e r Vergangenheit die Augen verschließt", sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer unvergessenen Rede, „wird blind f ü r die Gegenwart." Geschichte, wir e r f a h r e n es, hat kein Ziel, läuft keinem strahlenden Ende zu; achselzuckend geht sie über unsere Taten u n d I r r t ü m e r u n d Verhängnisse hinweg, und auf die Lektionen, die sie uns erteilt, ist nicht viel Verlaß. Des alten Gandhi Erfahrungsbilanz: History teaches man that history teaches man nothing, ist schwer widerlegbar. Dennoch, glaube ich, läßt sie etwas zu: die Einsicht nämlich, daß j e d e Zeit ihre F o r d e r u n g e n stellt u n d d a ß wir keine Wahl haben, als diesen F o r d e r u n g e n zu entsprechen. Auch das ist Friedensarbeit. Wo sich h e u t e auch etwas ereignet: Wir werden zu Mitwissern. Wo etwas in 392

39 Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988 an Siegfried Lenz Scherben fällt, wo Mächtige Krieg gegen das eigenen Volk f ü h r e n , wo Heuschrecken einfallen, Delphine Marinedienst leisten, Verträge signiert u n d Politiker von Politikern geküßt werden: wir sind dabei, wir entgehen nicht d e r Mitwisserschaft. U n d fast täglich n e h m e n wir Augenschein a m Elend, am Elend in den Slums, in d e n Zonen des Hungers, am Elend in d e n großen Deltas. Wir glauben uns im Bilde. Gespickt von Informationen, sagen wir uns, d a ß die Erde kleiner geworden ist. Sie ist in d e r T a t kleiner geworden. Wir haben Anlaß zu d e r Frage: Wieviel trägt u n d erträgt e r noch, der alte ramponierte Planet, u n d wenn wir an den Frieden denken, zu d e m j a auch Sattsein u n d Warmsein gehören: Wie vielen wird, angesichts der Explosion der Weltbevölkerung, die H o f f n u n g auf ein friedsames Leben bleiben? Eingedenk der Endlichkeit d e r Ressourcen u n d die Zeit vor Augen, in der sich die Weltbevölkerung verdreifacht haben wird, erscheint es mir nicht als ausgeschlossen, daß d e r Friede bedroht sein könnte d u r c h Ereignisse, die Lenin, doch nicht n u r er allein, „gerechte Kriege" g e n a n n t hat. Die H e r a u s f o r d e r u n g ist unübersehbar. Wie kann uns ein Krieg als gerecht o d e r unvermeidlich o d e r gar als heilig vorkommen, wenn wir im voraus wissen, daß viele sterben müssen. Kein Ziel — das ist meine Überzeugung, das d e n gewaltsamen T o d von Mitmenschen rechtfertigt, auch kein sogenanntes großes Ziel, das Herrschende ausrufen, um die V e r n u n f t zu dispensieren. Doch wenn wir schon zur Kenntnis n e h m e n müssen, d a ß die Möglichkeit eines sogenannten gerechten Krieges gedacht wird, u n d es könnte n u r ein Krieg u m Brot sein, ums Sattwerden —, d a n n müssen wir uns beizeiten, nämlich heute, m e h r als besorgt zeigen. U m d e m sozialen Elend, das auf Milliarden von noch Ungeborenen wartet, als Konfliktquelle entgegenzuwirken, m u ß heute gehandelt werden. Als ich geboren wurde, lebten zwei Milliarden Menschen auf d e r Welt, heute sind es über f ü n f Milliarden, und u m die J a h r t a u s e n d w e n d e werden es — nach einem Bericht des amerikanischen Büros f ü r Bevölkerungsstatistik - ü b e r sechs Milliarden sein. W ä h r e n d die Geburtenrate in den Industrienationen sinkt, nimmt die Bevölk e r u n g in d e n Entwicklungsländern ständig zu. Daß Milliarden d e r nächsten Generation nicht damit rechnen können, eine bescheidene G e n u g t u u n g in d e r Arbeit zu finden, kann als sicher gelten. Aber wenn sie schon nicht die Zufriedenheit finden werden, die aus d e r Arbeit kommt, so werden sie doch genötigt sein zu essen. Da heute schon Millionen Hungers sterben: Welche Nahrungsquellen sollen zusätzlich erschlossen werden, damit d e r H u n g e r t o d von Milliarden abgewendet werden kann? U n d wenn es Nahrungsmittel genug geben sollte — woher soll die Energie kommen, u m — schlicht gesagt — das Essen zu kochen am Nil, am Ganges, in brasilianischen u n d philippinischen Slums? Schließlich kann ich auch nicht die nächste Frage u n t e r d r ü c k e n : Welche absehbaren Folgen f ü r die Erdatmosphäre wird d e r gigantische Energieverbrauch haben? Fragen, die uns nicht friedlich stimmen können. Wir werden den Frieden nicht gewinnen, wenn wir nicht bereit sind, uns des Elends d e r Dritten Welt a n z u n e h m e n , des gegenwärtigen u n d des noch f u r c h t b a r e r e n in d e r Zukunft. Daß eine n e u e Weltwirtschafts- u n d auch So393

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zialordnung dazu beitragen könnten, das Elend zu lindern, ist wohl wahr; von gleicher Bedeutung aber scheint mir ein bevölkerungspolitisches Aktionsprogramm, das unumgänglich ist, wenn wir uns auf diesem engen Planeten eine friedliche Zukunft teilen wollen. Bevölkerungsprobleme —darin stimmen Experten überein — sind nicht Ursache, sondern Begleiterscheinungen der Unterentwicklung. Diese Probleme zu lösen, stößt auf Schwierigkeiten mannigfacher Art. Eine der subtilsten Schwierigkeiten liegt im religiösen Glaubensbekenntnis.

39.3 Die bisherigen Friedenspreisträger und ihre Laudatoren 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 394

Max Tau (Adolf Grimme) Albert Schweitzer (Theodor Heuss) Romano Guardini (Ernst Reuter) Martin Buber (Albrecht Goes) Carl J. Burckhardt (Theodor Heuss) Hermann Hesse (Richard Benz) Reinhold Schneider (Werner Bergengruen) Thornton Wilder (Carl J. Burckhardt) Karl Jaspers (Hannah Arendt) Theodor Heuss (Benno Reifenberg) Victor Gollancz (Heinrich Lübke) Sarvepalli Radhakrishnan (Ernst Benz) Paul Tillich (Otto Dibelius) Carl Friedrich von Weizsäcker (Georg Picht) Gabriel Marcel (Carlo Schmid) Nelly Sachs (Werner Weber) Augustin Kardinal Bea VF. A. Visser T Hooft (Paul Mikat) Ernst Bloch (Werner Maihof er) Léopold Sédar Senghor (François Bondy) Alexander Mitscherlich (Heinz Kohut) Alva und Gunnar Myrdal (Karl Kaiser) Marion Gräfin Dönhoff (Alfred Grosser) Janusz Korczak (Hartmut von Heutig) The Club ofRome (Nello Celio) Frère Roger ( — ) Alfred Grosser (Paul Frank) Max Frisch (Hartmut von Hentig) Leszek Kolakowski (Gesine Schwan) Astrid Lindgren (Hans-Christan Kirsch, Gerold Ummo Becker) Yehudi Menuhin (Pierre Bertaux) Ernesto Cardenal (Johann Baptist Metz)

39 Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988 an Siegfried Lenz 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987

Lew Kopelew (Marion Gräfin Dönhoff) George F. Kennan (Carl Friedrich von Weizsäcker) Manès Sperber (Siegfried Lenz) Octavio Paz (Richard von Weizsäcker) Teddy Kollek (Manfred Rommel) Wladyslaw Bartoszewski (Hans Meier) Hans Jonas (Robert Spaemann)

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40 Die Ansprache Richard von Weizsäckers zur Eröffnung des 37. Historikertages in Bamberg am 12. Oktober 1988

„Mit großer F r e u d e u n d herzlicher Dankbarkeit folge ich I h r e r Einladung, a m 37. Historikertag teilzunehmen. Sie erwarten von mir zu diesem Anlaß einige Gedanken. Das e h r t mich — auch h i e r f ü r Dank. Es zwingt mich zunächst zu einer Bem e r k u n g ü b e r d e n Standpunkt, von d e m aus ich spreche. I h r e Veranstaltung ist ein Kongreß von Wissenschaftlern. Zu diesen gehöre ich nicht. E h e r bin ich einer d e r Verbraucher geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse — eine Kundschaft, u m die es I h n e n freilich auch geht. I h r Fach sollte j a seiner N a t u r nach über sich selbst hinaus wirken u n d will es auch. Das ist sein Reiz u n d seine Verantwortung. Soll sich d e r Verbraucher äußern, d a n n wird e r es aus seiner eigenen Erfahr u n g mit d e m Nutzen und Nachteil d e r Historie f ü r das Leben tun; auf ihn bezieht sich j a Nietzsches Formel. So geht es mir aus d e r E r f a h r u n g meines T u n s u n d damit auch meines jetzigen Amtes um die öffentliche Bedeutung des Nachdenkens über Geschichte, u m die gesellschaftliche Wirkung I h r e r Wissenschaft. Es ist aus vollem Herzen zu begrüßen, u n d ich gratuliere I h n e n dazu, daß I h r Kongreß die außereuropäische Geschichte zu seinem zentralen T h e m a macht. Es ist ein Gegenstand, d e r f ü r u n s e r Bewußtsein, f ü r unsere Beziehungen u n d Zusammenarbeit mit d e r Welt nicht weniger wichtig ist als f ü r die Wissenschaft a n sich. Von Hause aus sind wir gewöhnt, Geschichte als Erkenntnis d e r eigenen Vergangenheit auf d e n eigenen Schauplätzen zu betreiben. Geschichte als E r f a h r u n g u n d Erkenntnis ist jedoch Vergegenwärtigung des Vergangenen. Für uns in unserer heutigen Gegenwart ist d e r R a u m weit weniger als f r ü h e r n u r die uns selbst zugehörige Region. Er ist vielmehr die Welt, in d e r wir leben. Die Gleichsetzung von Ferne u n d F r e m d e gilt nicht m e h r so wie f r ü h e r . Weltweite Kommunikation u n d Zusammenarbeit haben ihr ebenso die Grundlage entzogen wie die Zerstörungsmittel, die allen gemeinsam d r o h e n . Es gibt nicht m e h r die Grenze zwischen u n s e r e r und d e r weiten Welt. Natürlich konnte diese Grenze, als es sie noch gab, d u r c h Entdecker, Forscher, Missionare u n d Eroberer überschritten werden. Ihr Neuland ließ uns nicht gleichgültig. Die Geschichte d e r Entdeckungen u n d Eroberungen im politischen, wirtschaftlichen u n d geistigen Sinn zeigt dies zur Genüge. Die Weite w u r d e jedoch auch gesucht, als Selbstvergewisserung a n h a n d des Fremden. Sie war u m so wirksamer, j e f r e m d e r das Fremde erschien. Man d e n k e an das, was Hegel über die außereuropäische Welt zu sagen hatte. Das Bewußtsein d e r Grenze legitimierte die Abgrenzung. Der Glaube an die eigene Überlegenheit wurde zur Rechtfertigung des Zugriffs — mit den Mitteln d e r politischen Macht u n d des Geistes. 396

40 Die Ansprache Richard von Weizsäckers zur Eröffnung des 37. Historikertages 1988

In welchem Umfang beeinflußt dies, so frage ich mich, auch heute noch unser Bewußtsein, welches seinerseits seine spezifische Geschichte hat? Ziehen wir nicht auch heute noch allzuoft aus der Beobachtung, daß die Umwandlung der großen weiten Welt im wesentlichen ein Werk europäisch geprägter Philosophie und Politik, Wissenschaft und Technik ist, den Schluß, diese Welt sei damit insgesamt auch ein Produkt unserer Geschichte — mit eigenen exotischen Relikten? Diese Fragen richten sich offenkundig nicht an die reine Wissenschaft. Mir ist wohl bewußt, welche Leistungen gerade auch die deutsche Geschichtswissenschaft bei der Erschließung der außereuropäischen Geschichte erbracht hat. Und ich bin sicher, daß Ihr Kongreß weitere Impulse hierfür geben wird. Dennoch glaube ich, daß solche Fragen auch an dieser Stelle ihr Gewicht haben, weil Ihre Wissenschaft eben nicht nur Diskurs unter Wissenschaftlern ist, sondern das Selbstverständnis und Selbstbewußtsein eines Volkes zu beeinflussen vermag. Sie trägt Verantwortung nicht nur für die Richtigkeit ihrer Ergebnisse, sondern auch für deren Vermittlung. Gelingt diese schwierige Aufgabe nicht in ausreichendem Maß, so bleibt nicht nur eine Lücke in Gestalt harmloser Unwissenheit zurück. Der Mensch macht sich dann vielleicht ein falsches Bild von sich und von der ihn umgebenden Welt. Er kann ja nicht leben und die Zukunft gestalten ohne ein Bild davon, wie er sich und seine Umgebung sieht. Was es aber politisch und moralisch bedeutet, wenn dieses Bild falsch ist, das ist uns allen klar. Erlauben Sie mir, einige wenige persönliche Erfahrungen zu schildern. Immer wieder ist es für mich bewegend, bei Besuchen in Ländern anderer Kontinente auf die Spuren der Arbeit deutscher Wissenschaftler zu stoßen, deren Namen und Werk dort in höchsten Ehren gehalten werden. Man verdankt ihnen die Erschließung der eigenen Geschichte. Die Einfuhr westlichen wissenschaftlichen Denkens, zunächst dem dortigen fremd, erstickte an Ort und Stelle nicht die Eigenart, sondern brachte sie ans Licht der Rationalität. Deren Einübung, eine Vorbedingung des Eintritts in die moderne Welt, wurde so nicht zum Vehikel der Selbstentfremdung, sondern zur Geburtshelferin eines neuen Selbstbewußtseins. Warum nehmen wir außerhalb der Wissenschaft diese Leistungen so wenig wahr, obwohl wir auf sie, die ja ein bedeutender Teil unserer eigenen geistigen Überlieferung sind, durchaus stolz sein können? In Indien und Bangladesh, in Mali und Nigeria, in fast ganz Lateinamerika, um nur diese Plätze eigener Beobachtung zu nennen, sind diese Leistungen deutscher Wissenschaftler Teil der Geschichte der betreffenden Länder, auf die man dort stolz ist. Unser Ansehen in der Welt beruht nicht nur auf unserer Wirtschaft und Technik, sondern länger und tiefer auf unserer Philosophie und Geschichte, unserer Ethnologie und Naturkunde, auf unserem ,Humboldt'-Ruf. Wie groß aber ist dort die Enttäuschung, wenn heutige Deutsche davon nichts wissen und desinteressiert daran sind! Lassen Sie mich ein ganz anderes konkretes Beispiel nennen. Es ist wiederum nicht als Klage an Ihre Adresse gemeint, es soll nur die große Bedeutung Ihrer Aufgabe im Felde der außereuropäischen Geschichte unterstreichen. Sie werden 397

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

von dem höchst erfolgreichen Film ,Der letzte Kaiser' gehört haben. Gemeint ist der letzte chinesische Kaiser, der dann für einige Jahre Kaiser des japanischen Satellitenstaates Mandschukuo war. Man darf, wie ich hoffe, das oft sehr profane Medium Film in Ihrem Kreise der Wissenschaft ansprechen. Ich glaube, man muß es. Welches Buch eines Historikers wird jemals so viele Menschen erreichen, wie dieser Film? Soweit ich es zu beurteilen vermag, hat sich sein Regisseur im Detail um peinlichste historische Akribie bemüht. Fast alles schien an Situationen und Personen zu stimmen, zum größten Teil nur dem Kenner sichtbar. Und dennoch fragt sich, ob das eigentlich Entscheidende stimmte. Schließlich wurde das persönliche Schicksal einer politischen Figur dargestellt. Von den politischen Zusammenhängen aber wurde etwas verdeutlicht. Verborgen blieb vor allem auch, daß es sich um Geschehnisse unserer Zeit und unserer Welt handelte, immerhin Geschehnisse, die auf den Zweiten Weltkrieg hinführten und zu ihm gehörten. Es mag sein, daß der Film, der ja sehr gut ist, mit solchen Erwartungen überfordert ist. Ich will nur von der Wirkung sprechen. Der europäische und amerikanische Zuschauer, und zwar gerade der mit einer historischen Allgemeinbildung, wird in seiner Vorstellung von der Ferne und Fremde bestätigt. Er nimmt eine exotische Staatsaktion wahr. Für die Millionen Zuschauer wird es das einzige bleiben, was sie je über jene Vorgänge erfahren, letztlich eher interessante Klischees als wirklich Geschichte. Ist dies auch nur annähernd zu korrigieren? Durch die Wissenschaft? Vor allem durch einen klugen Geschichtsunterricht, der weltgeschichtliche Ereignisse und Zusammenhänge einzuordnen vermag? Ich weiß es nicht — ich frage nur. Darf ich eine weitere Beobachtung anschließen? Ich hörte von einem Großen Ihres Faches, der nicht mehr unter uns weilt, wie er die Intensität der Beziehungen zu seinen Kollegen in einem asiatischen Land lobte. Gemeint war Japan. Aber es hätte wohl auch ein anderes sein können. Zusammen mit seinem Lob beklagte er zugleich die Begrenztheit dieser Kontakte. Sie bestünden eigentlich nur zwischen den Spezialisten für europäische Geschichte auf beiden Seiten, wohl auch zwischen den beiderseitigen Sachverständigen für die Geschichte Asiens. Das Gespräch zwischen dem Experten für die moderne Geschichte Asiens und dem Fachmann für die moderne Geschichte Europas gäbe es praktisch nicht, und gerade diese könnte so fruchtbar sein. Ist diese Beobachtung nicht sehr bedenkenswert? Vielleicht trifft sie heute nicht mehr so zu wie seinerzeit. Dennoch habe ich den Eindruck, daß sie eine paradoxe Situation beleuchtet: Moderne Verkehrs- und Kommunkationsmittel haben die Distanz zwischen engeren Fachkollegen aufgehoben, aber nicht ohne weiteres die Fremde und Ferne zwischen verschiedenen Sachgebieten. Das Programm Ihrer Tagung ist höchst eindrucksvoll, wiederum auch als Kennzeichen einer phantastischen Spezialisierung und Parzellierung von Wissen. Ich denke und hoffe, es ist gerade die Absicht, die mit der Wahl Ihres Hauptthemas verbunden ist, es von seiner Spezialistenexklusivität zu befreien. Dies wäre f ü r den wissenschaftlichen Diskurs selbst wichtig, aber nicht weniger für die 398

40 Die Ansprache Richard von Weizsäckers zur Eröffnung des 37. Historikertages 1988

Aufgabe der Vermittlung, von der ich sprach. Wie lernen wir in der Öffentlichkeit und Gesellschaft das Gewicht der außereuropäischen Geschichte für uns besser verstehen? Wie begreifen wir Ihren Zusammenhang mit der unsrigen? Jedes Volk erfährt die Weltgeschichte sicher auf seine Weise. Aber jedes sollte sie als die Geschichte dieser einen Welt erfahren. Dies kann auf mehreren Stufen gefördert werden: durch die Leistung des Forschers, durch die Zusammenarbeit der Sachverständigen über die Grenzen spezialisierter Disziplinen hinweg, schließlich und vor allem durch den Geschichtslehrer; er ist uns Laien am nächsten. Gelegentlich wird von den .heilen' Gebieten der Geschichte gesprochen, offenkundig im Gegensatz zu den unheilvollen Zeiten unserer Geschichte. Ist die außereuropäische Geschichte ein solches .heiles' Gebiet? Setzen wir uns, wenn wir seine Bearbeitung für dringlich halten, dem Verdacht des Eskapismus aus? Kann man uns vorwerfen, hier werde auf eine alles umfassende Historisierung der Welt abgezielt, in deren Ozeanen von Vergleichen, parallelen Beziehungen das uns noch immer naheliegende düstere Kapitel unserer eigenen Geschichte gleichsam untergehen, zu einer Episode gemacht werden soll? Es ist schwer zu vermeiden, solche Fragen vor dem Hintergrund des sogenannten Historikerstreits zu sehen und zu behandeln. Ich will dem nicht ausweichen, beschränke mich aber auf einige allgemeine Sätze und enthalte mich der Auseinandersetzung mit einzelnen Positionen, die dort eine Rolle spielen. Wie jedes andere Volk, so will auch das unsrige sich in seiner Geschichte wiedererkennen. Der Blick in den Spiegel dieser Geschichte erfordert wahrhaft Kraft. Wer darf sich verwundern, daß Versuchungen auftauchen wegzusehen oder den Spiegel dort als Zerrspiegel zu denunzieren, wo er die Entstehung des Nationalsozialismus und seine namenlosen Untaten wiedergibt? Tiefes Verstörtsein löst der Blick aus, wie sollte es anders sein? Es ist nicht gut, diese Vergangenheit, auch wenn sie zum Wegsehen verleitet, von vornherein als moralisch heillos zu diffamieren. Wissen wir immer, was sich dahinter verbirgt? Ist es wirklich stets moralische Unempfindlichkeit? Oder ist es eine Form nicht ertragender Betroffenheit? Gewiß kann es nicht darum gehen, einfach hinzunehmen, daß einer wegsehen oder vergessen will. Aber ebensowenig ist die Aufgabe, den zu verdammen, der sich in seiner Verstörtheit verschließt. Notwendig dagegen ist es, ihm Mut zu machen. Das deutsche Volk hat wie andere Völker auch, immer wieder unter der Geschichte gelitten, wahrlich nicht erst seit 1933. Was aber ihm und seinen Nachbarn unter dem Nationalsozialismus widerfuhr, dafür kann es nicht andere verantwortlich machen. Es wurde von Verbrechern geführt und hat sich von Verbrechern führen lassen. Es weiß dies, gerade dort, wo es dies lieber nicht wissen will. Ein Weg von Gewalt, Not und Tod führte zum Ende des Krieges. Für viele Menschen brachen Unrecht und Leid dann erst in vollem Maße an. Allmählich erst kam ans volle Tageslicht, was sich in Wahrheit zugetragen hatte. Es wahrzu399

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nehmen, bleibt unermeßlich schwer. Und dennoch vollendet sich die Befreiung gerade darin, sich in Freiheit der Wahrheit zu stellen, sich von ihr überwältigen zu lassen. Hier liegen die verantwortungsvollen Aufgaben der historischen Wissenschaft. Nichts was sie zutage fördert, wird die Verbrechen des Nationalsozialismus mindern. Die Historiker sind, wie wir alle, einer großen gemeinsamen Not ausgesetzt. J e d e r wird für sich seinen Forschungen nachgehen. Dabei wird es oft Unterschiede geben. Das sollte man sich gegenseitig zubilligen. Eine moralische Relativierung aber, so glaube ich, stellt keiner zur Debatte, der es ernst meint. Historische Bezüge und Vergleiche haben in der Wissenschaft ihren Platz. Wissenschaft und moralisches Empfinden aber geben dieselbe Antwort auf die Frage nach der Singularität. Alles geschieht im Geflecht der historischen Bezüge. Zugleich ist alles in der Geschichte singulär. Es ist so und nicht anders geschehen, anders als anderwärts. Was sollte es auch für uns bedeuten, ob Auschwitz einen Vergleich zur grausamen Ausrottung anderer Menschen aushalten könnte? Auschwitz bleibt singulär. Es geschah im deutschen Namen durch Deutsche. Diese Wahrheit ist unumstößlich. Und sie wird nicht vergessen. .Auschwitz bleibt uns anvertraut', so hat Siegfried Lenz vor ein paar Tagen gesagt, es gehört zu uns, so, wie uns die übrige eigene Geschichte gehört. Es kann nicht darum gehen und nicht gelingen, sich mit Geschichte auszusöhnen. Historische Verantwortung bedeutet viel mehr, Geschichte als die eigene auf sich zu nehmen. Gerade um der Gegenwart willen müssen wir es tun. Der Zeitablauf verändert dies nicht. Was in Auschwitz geschehen ist, hat an Gewicht im Bewußtsein der Menschheit in den Jahrzehnten seit Kriegsende eher zugenommen. Aber etwas anderes ist ebenfalls gewachsen: eine Demokratie, zu der wir uns mit Überzeugung bekennen. Es ist eine Demokratie, die sich seit vierzig Jahren bewährt, nicht zuletzt in der Offenheit gegenüber ihrer Geschichte. Daß wir dies leisten können und immer wieder lernen, ermöglicht uns in des Wortes wahrer Bedeutung Selbstbewußtsein. Das ist Befreiung. Wir nutzen sie mit dem, was wir aus eigener Kraft in unserer Zeit daraus machen. Daß dies bis heute nicht in einem Deutschland geschehen kann, erfahren wir schmerzlich. Dennoch geschieht nichts unverbunden. Die Deutschen in der DDR, die unter ganz anderen, schwer bedrückenden Umständen die Folgen des Nationalsozialismus zu tragen hatten und haben, stellen sich auf ihre gegebene aufrechte Weise der Geschichte. Für beide, für sie und für uns, ging und geht die Geschichte weiter — die deutsche Geschichte. Von zentraler Bedeutung ist die Suche der Jüngeren nach ihrer Selbstachtung und ihrem Platz in der heutigen Welt. Sie wollen und müssen wissen, wer sie sind, wo sie herkommen und wer die anderen sind, mit denen sie diese teilen und gestalten sollen. Es hat für sie existentielle Bedeutung, wie es in den Zeiten ihrer Großväter zu der moralischen und politischen Katastrophe kam. Ist ihr Volk nur vorüberge-

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40 Die Ansprache Richard von Weizsäckers zur Eröffnung des 37. Historihertages 1988

hend aus der Gemeinschaft der Zivilisation ausgeschieden und jetzt, wenn auch mit der Last jenes schrecklichen Irrweges, auf ihren natürlichen Platz zurückgekehrt? Oder bleiben sie, die jungen Deutschen und ihre Nachkommen, auf alle Zeiten gezeichnet und ausgeschlossen? Nein, gewißlich nein! Diese Frage haben die Jungen für sich so eindeutig beantwortet, wie es Menschen tun und wie wir es an ihrer Stelle auch täten. Sie sind durchaus nicht die Außenseiter. Sie gehören dazu. Könnte es denn überhaupt anders sein? Sollte man es gar anders wünschen? Widerspricht es historischen Einsichten und Lehren? Wahrlich nicht, nach meinem Gefühl. Ich verneine es vor dem Hintergrund vor allem einer Erfahrung, nämlich den bohrenden Fragen, die die Jungen selbst an die Adresse ihrer Eltern und Großeltern immer wieder gerichtet haben. Sie brauchen für ihr eigenes Leben eine Antwort darauf, wo wir waren, was wir gemacht, welche Verantwortung wir übernommen, welche wir schwer versäumt haben. Über diese Suche habe ich vor kurzem von Jugendpfarrern aus der DDR einen Bericht gehört, der mich stark beeindruckt hat. Die Fragen nach der Vergangenheit sind dort von besonders großer und gewissenhafter Intensität. Dabei werden wichtige Erfahrungen gemacht, zuweilen deutlicher als bei uns. Es ist nicht verordneter Antifaschismus, der in die Tiefe führt; viel eher bringt er eine übermäßige Tabuisierung mit sich. Nur eine freie innere Haltung kann wahrhaftige Betroffenheit erzeugen. Es sind gerade die äußeren Lebensumstände, die diese innere Haltung dort keineswegs ersterben lassen, sondern im Gegenteil so aufrichtig und so wesentlich werden lassen. Die Jungen tragen wahrlich nicht die Schuld. Anderes lehrt sie weder die Geschichte noch die Bibel. Die Befreiung davon wird für sie in ihrer eigenen Lebensgeschichte aber nur dann zur Chance, wenn sie fragen und verstehen wollen, wo sie herkommen, wenn sie sich ihrer Geschichte in innerer Freiheit öffnen. Niemand wird diesen Prozeß idealisieren dürfen, weder drüben noch bei uns. Wir wissen, daß viele Gespräche, die so notwendig und hilfreich gewesen wären, nie stattgefunden haben. Auch sind Generationen im Urteil übereinander selten ganz frei von Selbstgerechtigkeit. Das Wichtige aber und das Ermutigende ist es, daß die Jüngeren als Deutsche ihren Platz in der heutigen Welt suchen, daß sie sich und die Welt verstehen wollen und sich hierzu ihre Geschichte lebendig aneignen. Dabei brauchen sie Ihre, der Historiker Einsichten, nicht zuletzt unter dem Vorzeichen des Themas Ihres Kongresses. Die Macht geschichtlicher Tatsachen ist gefragt, nicht die Verwendung von Geschichte für bestimmte Zwecke. Der sogenannte Historikerstreit hat große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Zu Recht, denn er reflektierte eine öffentliche Bewußtseinslage bezüglich ganz entscheidender Fragen. Manchmal konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß er gerade deswegen zu sehr unter den Bedingungen der Insider-Diskussion und der Insider-Konfrontation stattgefunden hat. Ich denke, daß er darüber hinausgewachsen ist. Das ist auch notwendig. Der Umgang mit einer unheiligen Erbschaft der Geschichte spielt sich im Herzen der ganzen Na401

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

tion ab. Mit .heiliger Nüchternheit' können Historiker helfen. Sie können und sie müssen allen helfen. Denn die Geschichte, unsere Geschichte, gehört eben nicht nur den Historikern."

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Ein Gespräch mit Heinz Galinski über seinen Besuch in Ostberlin

Am 19. Oktober 1988 empfing mich Heinz Galinski, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden zu einem Gespräch. Frage: Herr Galinski, Sie waren am 6. Juni dieses Jahres in Ostberlin und haben mit dem Staatsratsvorsitzenden Honecker auch über die Frage der Wiedergutmachung gesprochen und der Dinge, die in der DDR bisher nicht nur bei Seite geschoben wurden, sondern abgelehnt worden sind für die vielen Menschen, die ja dort genauso gelitten haben wie die jüdischen Mitglieder Ihrer Gemeinschaft hier in der Bundesrepublik. Wie hat sich das weiterentwickelt, nachdem Herr Bronfman am 18. Oktober in Ostberlin auch bei Herrn Honecker war? Antwort: Anläßlich meiner Begegnung am 6. Juni dieses Jahres mit dem Staatsratsvorsitzenden Honecker hatte ich ja Gelegenheit, nicht nur über das Problem Wiedergutmachung zu sprechen, sondern habe auch alle die Punkte angeschnitten, die jetzt erneut von Herrn Bronfman wiedergegeben worden sind. Ich habe Herrn Honecker glatt erklärt, daß ich jedenfalls nicht die Absicht habe, die DDR aus ihrer Mitverantwortung für das Geschehen in Israel zu endassen. Dort leben Überlebende des Völkermordes, begangen an uns Juden, und insofern ist auch eine Verantwortung für die DDR festzustellen. Außerdem gilt das für beide deutsche Staaten. Auch die Frage der moralischen Mitverantwortung für alles, was in der Vergangenheit geschehen ist. Mir war ja bekannt, daß seit geraumer Zeit Verhandlungen liefen zwischen der Claims-Konferenz und der Regierung der DDR, denn der Präsident Miller war ja schon vor längerer Zeit in Ostberlin. Er war auch Gast des Staatsratsvorsitzenden, und es wurden die ersten Verhandlungen geführt über eine etwaige Zahlung. Ich möchte das nicht Wiedergutmachung oder Entschädigungszahlung nennen, sondern gewisse Zahlungen. Darin hat ja die Regierung der DDR zum Ausdruck gebracht, daß sie auch hier ihre Mitverantwortung trägt und auch eine moralische Mitverantwortung. Die Verhandlungen wurden dann nach Washington verlagert, wo der Botschafter der DDR, der deutsche Botschafter, dann die Verhandlungen weiterführte mit der Claims-Konferenz. Auf meine Frage damals an Herrn Honecker, was er sich vorstellt, welche Zahlungen in Betracht kämen, nannte er mir den Betrag von 100 Mio Dollar. Das war zum erstenmal, daß eine Zahl genannt wurde. Ich habe jedenfalls weiter gefragt, und es wurde mir damals entgegengehalten, dieses Geld solle Menschen zugutekommen, die sich in einer sozialen Notlage befinden und früher auf dem Territorium der heutigen DDR gelebt haben. Insofern ist ja auch durch den Besuch von Herrn Bronfman keine neue Situation eingetreten. Es ist eigentlich nur das bestätigt worden, was Vertreter der Claims-Konferenz oder ich später mit Herrn Honecker besprochen haben. Nur damals war eine konkrete Zahl genannt worden. Ich habe nicht die Absicht — und das war ja auch nicht mein 403

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Mandat - darüber zu verhandeln, wie hoch der Betrag sein soll und sein muß. Das kann man hier jedenfalls nicht als Wiedergutmachungszahlung bezeichnen. Frage: H e r r Galinski, wenn man bedenkt, daß die Bundesrepublik über 80 Milliarden DM verausgabt hat, Israel-Vertrag, individuelle Wiedergutmachung und ähnliche Beträge, dann kann man von Wiedergutmachung sprechen. Aber 100 Mio Dollar, das ist ja ein Trinkgeld - würde man sagen — angesichts der furchtbaren Verbrechen, die j a auch f ü r die DDR gelten. Antwort: Ja, die beiden Beträge können bestimmt hier nicht in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, auch wenn das Gebiet der DDR heute viel kleiner ist und auch die DDR finanzschwächer ist als die Bundesrepublik Deutschland. Dann stehen die Beträge in keinerlei Verhältnis zueinander. Sondern diese Gelder — ich will jetzt gar nicht einen erneuten Betrag nennen — dienen eigentlich n u r dazu, sozial schwachen Familien zu helfen. Frage: N u n kam gestern bei dem Kommunique und bei den Verlautbarungen, die H e r r Bronfman nach dem Besuch abgegeben hat, heraus, er sei hoch zufrieden. Antwort: Ja, ich kann hier nicht Herrn Bronfman interpretieren, das istja seine Ansicht, seine Meinung. Es besteht gar kein Zweifel, daß seit geraumer Zeit ein Wandel vor sich gegangen ist. Es kam auch schon in dem Gespräch mit mir zum Ausdruck, daß heute nicht mehr die Mitverantwortung geleugnet wird, daß — und das hat man damals auch schon gesagt—das Existenzrecht Israels anerkannt wird. Das wäre j a nun das letzte und das allerschlimmste. Das habe ich als eine Selbstverständlichkeit hingenommen. Nur diplomatische Anerkennung und Anerkennung des Existenzrechts sind ja zweierlei. Insofern ist ja kaum etwas Neues eingetreten. Ich glaube, der jüdische Staat ist eine Realität. An dieser Realität kann kein Staat — und erst recht nicht ein deutscher Staat — vorbeigehen. Frage: 100 Mio Dollar, wie sollen diese verteilt werden? Antwort: Nein, die Einzelheiten sind Gegenstand von Absprachen zwischen der Claims-Konferenz u n d der Regierung der DDR. Frage: Mit der Claims-Konferenz stehen Sie ja auch in Verbindung? Antwort: Ja, aber nicht diesbezüglich. Ich stehe in Verbindung jetzt hier mit den Nachwehen der Affäre Nachmann, und zweitens bin ich auch nicht mit allem einverstanden. Ich habe ja auch die Absicht, mit den Verantwortlichen, die f ü r die deutsche Industrie zuständig sind, ein Gespräch zu führen, und zwar wie man sich das denkt, die Entschädigungszahlungen von den Industriebetrieben, die sich bisher an Wiedergutmachungszahlungen an f r ü h e r e jüdische Zwangsarbeiter ausgeschlossen haben. Ich sehe das nicht ein, daß einige Betriebe sich ja bereiterklärt haben, gewisse Zahlungen zu leisten, während andere bis zum heutigen Tage dies kategorisch abgelehnt haben. Man kann das Problem einfach nicht lösen, indem hier Einzelne sogenannte Prozesse anstrengen. Ich habe die Absicht, doch mit den Verantwortlichen zu sprechen, daß es endlich hier an der Zeit wäre, auch moralisch auf die Industriekreise hinzuwirken, daß sie auch ihren Verpflichtungen nachkommen. 404

41 Ein Gespräch mit Heinz Galinski über seinen Besuch in Ostberlin Frage: Nun, dieses Problem ist j a ein vielfältiges, vor allen Dingen gerade in der Hinsicht auf die Verantwortlichkeit der Betriebe. Es gibt j a einen Rechtstandpunkt, daß man sagt, für all diese Dinge ist das Reich verantwortlich gewesen. Antwort: J a , nun gut, die Betriebe sind j a ein Rechtsnachfolger der ehemaligen Betriebe. Die Betriebe waren damals Nutznießer. Ich denke nur an mich. Ich war bei IG-Farbenwerk in Auschwitz-Monowitz tätig. Da habe ich gesehen und erlebt, wie die führenden Leute von IG-Farben dorthin kamen. Sie hatten Verträge mit der SS. Diese wurden abgeschlossen. Die Häftlinge bekamen j a überhaupt keine Entlohnung. Und da die Betriebe heute Rechtsnachfolger sind, sind sie meiner Meinung nach auch verpflichtet, diese Schuld einzulösen. Daran halte ich fest. Frage: Herr Galinski, Sie haben nach der furchtbaren Affäre Nachmann den Vorsitz des Zentralrates übernommen und regieren eigentlich ziemlich klar und eindeutig von Berlin und von Bonn aus. Wie sehen Sie Ihre Lage jetzt in der jüdischen Gemeinschaft? Antwort: Ich würde erst einmal sagen, ich regiere nicht, sondern ich habe das Amt übernommen — zu meiner großen Überraschung, daß ich gewählt worden bin —, und mir geht es darum, doch hier einmal den politischen Schaden so klein wie möglich zu halten. Ich habe einen Vertrauensbonus — glaube ich zu Recht — sowohl in der jüdischen als auch in der nichtjüdischen Öffentlichkeit. Ich will die ganzen Kreise hier nicht irgendwie — sagen wir mal — enttäuschen, sondern bin gewählt, klar und eindeutig Stellung zu beziehen, die Ergebnisse dann der Öffentlichkeit mitzuteilen. Mir fehlen noch einige Aussagen der Bundesregierung. Ich habe auch einige Fragen an die Bundesregierung gestellt. Mir geht es darum, hier auch mehr die Öffnung der Gemeinden voranzutreiben, damit hier die Öffentlichkeit noch besser informiert ist über die Sitten und Gebräuche. Mir geht es darum, auch hier klar und eindeutig Stellung zu beziehen, soweit sie die Vergangenheit berühren und heute auch hier in die Gegenwart hineingehen. Mir geht es darum, diejüdische—unsere eigene Identität zu stärken, d. h. hier auch die Gemeinden in die Lage zu versetzen, auf die Zukunft mehr ausgerichtet zu sein, d. h. hier Kindertagesstätten, Tagesschulen zu vermehren. Nicht um uns abzusondern, sondern man kann einfach nicht durch Religionsunterricht und durch solche ähnlichen Erscheinungen das Problem lösen. Es ist ein Überlebensprozeß. Dieser Überlebensprozeß kann nur verwirklicht werden, wenn wir unsere junge Generation in die Lage versetzen, mit jüdischem Wissen und der jüdischen Lehre mehr vertraut gemacht zu werden, als dies bislang der Fall ist. Hinzu kommt, daß wir einen Facharbeitermangel haben. Die Zeiten sind vorbei, Menschen aus dem Ausland hier für die Gemeindearbeit zu gewinnen, weil sie nicht mehr die deutsche Sprache beherrschen, weil sie zu alt sind. Deswegen ist hier die zwingende Frage, junge Menschen aus unseren eigenen Reihen zu gewinnen und sie hier ausbilden zu lassen, damit sie in der Lage sind, hier einmal die veranwortlichen Positionen zu übernehmen. Wenn jüdisches Leben in diesem Land eine Zukunft haben soll, muß es uns gelingen, dieses Problem zu lösen. Frage: Herr Galinski, Sie sagten eben, Ihnen fehlen noch einige Auskünfte, wann 405

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit etwa sehen Sie eine Chance, daß die Öffentlichkeit über die Hintergründe im Falle Nachmann informiert wird? Antwort: Wenn es nach mir gehen würde, hätte ich das Problem schon gelöst insofern: durch eine Offenlegung gegenüber der öffendichkeit. Ich will das ja gemeinsam mit Herrn Bundesminister Schäuble tun, weil hier eine gewisse moralische Mitverantwortung sowohl des Zentralrats als auch der Bundesregierung besteht. Ich habe gerade vor ein paar Tagen mit Herrn Schäuble gesprochen und habe noch einmal darauf hingewiesen, daß es jetzt an der Zeit wäre, die letzten Auskünfte vom Bundesfinanzministerium zu bekommen, damit auf dieser Ebene der Bericht von Seiten der „Treuarbeit" vervollständigt werden kann. Es gibt andere Ermittlungen, die dahingehen, evtl. noch Quellen ausfindig zu machen, wo evtl. noch Gelder sein könnten. Frage: Herr Galinski, ich möchte Ihnen sehr herzlich danken für Ihre Offenheit, die hat sich ja neulich auch schon in Bonn gezeigt, als Sie zum erstenmal vom Zentralrat aus eine Pressekonferenz gehalten haben. Ich nehme an, daß Sie das fortsetzen werden. Antwort: Ja, das war nicht nur eine Eintagsfliege, sondern ich habe die Absicht, mit den Medien Kontakte zu halten und über die ganze Arbeit der jüdischen Gemeinde in der Bundesrepublik zu berichten. Es ist das geeignete Mittel, sich mit Hilfe der Medien verständlich zu machen.

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„Jeder Tag ein Gedenktag": Vorstellung von Simon Wiesenthals neuem Buch in der Landesvertretung von Baden-Württemberg in Bonn

Simon Wiesenthal kam nach Bonn, wo d e r Bleicher Verlag aus Gerlingen sein ergreifendes, neues Buch vorstellte. Aus dem Vorwort: „Das vorliegende Buch ist kein Kalender im üblichen Sinn, wie Sie ihn j e d e n T a g benützen. Es ist ein Gedenkbuch des Grauens, geordnet nach Tagen, es ist die Geschichte des jüdischen Martyriums, des Leidens, es ist ein Dokument, das aufzeigen soll, was d e r Mensch imstande ist, einem anderen Menschen anzutun. 2000 J a h r e begleitet das Geschehen, wie es in diesem Kalender aufgezeichnet ist, die Juden." Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, d e r das Buch mit einer Rede vorstellen wollte, woran er d u r c h die Arbeiten im Plenum des Deutschen Bundestages gehindert worden war, hatte ebenfalls ein kurzes Grußwort im Klappentext des Buches geschrieben: „,Die Chronik jüdischen Leidens' ist ein Teil d e r großen Lebensaufgabe Simon Wiesenthals: Sie erweist sich als Beitrag zur B e k ä m p f u n g des Antisemitismus u n d zur A n p r a n g e r u n g seiner mörderischen Konsequenzen. Die europäische Geschichte, in der j e d e r Tag' ein von V e r f e m u n g , Verfolgung u n d Pogromen gezeichneter .Gedenktag' war, markiert f ü r uns eine Verpflichtung. Sie weist uns die Richtung f ü r die Verwirklichung einer menschenwürdigen Gegenwart u n d Zukunft. Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl." U n d die weiteren Persönlichkeiten, die kurze Klappentexte schrieben sind folgende: „Imponierend und deprimierend ist, was Simon Wiesenthal zusammengetragen hat. Es ist die uralte Geschichte von Vorurteilen, christlicher Verklemmung, d e r ökonomischen Gier u n d des Neids, d e r geistig-politischen Perversion. Möge es k o m m e n d e n Generationen zur W a r n u n g vor den V e r i r r u n g e n menschlichen Denkens dienen. Prof. Dr. Wolfgang Scheffler, Berlin." „Mit diesem Buch schuf Simon Wiesenthal ein H a n d b u c h , das in die Bibliothek eines j e d e n Nachgeborenen des .Dritten Reiches' gehört, aber auch u n d vor allem in die Bücherregale j e n e r Historiker, die heute noch die Einmaligkeit d e r nationalsozialistischen Verbrechen an J u d e n zu leugnen versuchen. Die 365 Gedenktage indessen bleiben eine traurige Chronik d e r jüdischen Geschichte. Dr. Heinz Galinski, Berlin." „Simon Wiesenthal ist ein überzeugender u n d verläßlicher Zeuge des Holocaust. In diesem Buch gibt er uns j e d e n T a g Anlaß, die E r i n n e r u n g an das ganze

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Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit jüdische Martyrium wachzuhalten. Wir schulden ihm Achtung und Dankbarkeit f ü r dieses Buch. AbbaEban." N a c h d e m d e r Landesminister von Baden-Württemberg, H e r r Eyrich, die Gäste begrüßt hatte, kam auch d e r Verleger Heinz M. Bleicher zu Wort. Sein ganzes Engagement f ü r dieses Werk wurde d u r c h seine wenigen Worte deutlich. In der Rede von Minister Eyrich konnte man bemerken, d a ß er etliche J a h r e in d e r Zentralstelle f ü r die B e k ä m p f u n g des Nationalsozialismus gewirkt hatte. D a n n trat aber d e r n e u e Minister d e r Verteidigung, Prof. Scholz, ans Rednerpult, u m f ü r d e n verhinderten Bundeskanzler die große Ansprache u n d die Laudatio zu halten. Seine Ansprache lautete: „Sie haben aus vielfältigen Andeutungen eben schon gehört, daß mir die E h r e — ich sage ausdrücklich: die E h r e — zugefallen ist, den H e r r n Bundeskanzler hier zu vertreten u n d an seiner Stelle zum Erscheinen des Buches J e d e r T a g ein Gedenktag' zu sprechen. Das Parlament f o r d e r t sein Recht, es fordert d e n Bundeskanzler, u n d aus diesem G r u n d e kann er nicht kommen. Ich kann I h n e n allen sagen — H e r r Wiesenthal weiß es vom Bundeskanzler selbst—daß der Bundeskanzler hierüber außerordentlich betrübt ist. So sehr er natürlich das Parlament achtet — er e m p f i n d e t es als wirklich äußerst bedauerlich, an dieser Buchvorstellung nicht teilnehmen zu können. Denn es wäre ihm wichtig gewesen, zu den hier Anwesenden u n d vor allem zu I h n e n , lieber H e r r Wiesenthal, zu sprechen u n d seine Gedanken zu diesem Buch zu sagen. Er hat mich gebeten, dies an seiner Stelle zu tun. Meine Damen u n d H e r r e n ! Der H e r r Bundeskanzler hat mir vor allem aufgetragen, I h n e n — lieber H e r r Wiesenthal - seine Hochachtung u n d seine Sympathie auszudrücken u n d vor allem auch seinen Dank f ü r I h r unermüdliches Wirken im Dienste d e r Wahrheit, d e r Gerechtigkeit u n d der Versöhnung. Die Selbstbeh a u p t u n g des Rechts gegen das Unrecht, d e r Sittlichkeit gegen die Barbarei, prägt I h r Lebenswerk, lieber Herr Wiesenthal, ebenso wie die Bereitschaft, auf jene zuzugehen, in d e r e n N a m e n Sie selbst Furchtbares erleiden mußten. Daß V e r s ö h n u n g mit d e m jüdischen Volk und Verständigung mit d e m Staate Israel möglich wurde, d a ß gerade unter j u n g e n Menschen wieder Freundschaft wächst, würdigen wir mit Dankbarkeit u n d mit h o h e m Respekt f ü r j e n e Männer u n d Frauen, die mit Blick auf die Z u k u n f t bereit waren, d e n Haß mit der Kraft d e r Menschlichkeit zu überwinden. Im Kreis dieser Menschen n e h m e n Sie, lieber H e r r Wiesenthal, einen herausragenden Platz ein. I h r Motiv war nie das Bedürfnis nach Vergeltung, s o n d e r n stets der unbedingte Wille zur Gerechtigkeit. U n d ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben — weder zwischen d e n Völkern noch zwischen den Menschen, noch in d e n Herzen d e r Menschen. In Yad Washem findet sich das Wort eines jüdischen Mystikers aus d e m Anf a n g des 18. J a h r h u n d e r t s . Dort heißt es: ,Das Vergessenwollen verlängert das Exil, u n d das Geheimnis d e r Erlösung heißt Erinnerung.' 408

42 „Jeder Tag ein Gedenktag' — Vorstellung von Simon Wiesenthals neuem Buch Für uns Deutsche bedeutet dies: Wir müssen uns der ganzen Wahrheit stellen — der ganzen Geschichte mit ihren Höhen und mit ihren Tiefen. Wir müssen vor allem mit der schrecklichen Wahrheit leben, daß den Juden in den Jahren des Nationalsozialismus von Deutschen unsagbares Leid zugefügt wurde; daß das Verbrechen dieses Völkermordes in der Geschichte der Menschheit einmalig ist — in seiner kalten, unmenschlichen Planung und in seiner tödlichen Wirksamkeit. Es ist Teil unserer Verantwortung gegenüber den Opfern, aber auch gegenüber unseren eigenen Kindern, das Bewußtsein hierfür stets wachzuhalten. Wir wollen nicht vergessen, und wir werden uns gegen jeden Versuch zur Wehr setzen, die Verbrechen zu verdrängen oder zu verharmlosen. Nur so finden wir zu uns selbst — und nicht dadurch, daß wir die düsteren Kapitel unserer Geschichte ausblenden. Nur so ist Versöhnung mit den Überlebenden des Holocaust, mit den Hinterbliebenen und Nachkommen der Opfer möglich. Deutsche wurden als Einzelpersonen schuldig, aber sie haften in ihrer Gesamtheit für das Unrecht, das in ihrem, in unserem deutschen Namen begangen wurde. Es ist eines Ihrer großen Verdienste, lieber Herr Wiesenthal, immer wieder daran erinnert zu haben, daß es eine »Kollektivschuld', nicht gibt. Aber es gibt, dies will ich ausdrücklich hinzufügen, die gemeinsame Verantwortung f ü r eine bessere, für eine gemeinsame Zukunft. Dazu zähle ich an erster Stelle den Auftrag, das demokratische Gemeinwesen im freien Teil unseres Vaterlandes zu bewahren und auszubauen; dazu zähle ich in gleicher Weise unsere Verpflichtung zum Einsatz f ü r die Achtung der Menschenrechte auf der ganzen Welt — einschließlich des Rechts der Deutschen auf nationale Selbstbestimmung. Indem wir uns diesen Herausforderungen stellen, bekräftigen wir durch praktisches Handeln stets aufs Neue jene geistig-sittliche Umkehr, die die Deutschen nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vollzogen haben. Dieser Neuanfang war nur möglich — ich sage dies auch mit Blick auf den 40. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland und ihrer freiheitlich-demokratischen Verfassung, des Grundgesetzes, im kommenden J a h r —, weil die Gründergeneration, weil die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes die Kraft hatten, die Veranwortung der Geschichte anzunehmen. Dadurch haben sie uns den Wert und die Würde verantworteter Freiheit zurückgewonnen. Wir, die das Glück haben, in Frieden und Freiheit leben zu dürfen, haben kein Recht, jene zu vergessen, denen dieses Glück noch versagt ist. Ich sage bewußt .vergessen': Es gibt ja nicht n u r die Versuchung, Gewesenes zu verdrängen; genau so schlimm ist es, vor dem Leid der Zeitgenossen die Augen zu verschließen — vor dem Leid jener Menschen, die heute in Unfreiheit leben müssen. Ich erinnere hier nur an die Lage der deutschen und der jüdischen Minderheit in der Sowjetunion. Fortschritte zum Wohle dieser Menschen — wie auch Fortschritte in Fragen der Religionsfreiheit — gehören zu den Taten, mit denen 409

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sich das ,neue Denken', mit denen sich .Perestroika' und ,Glasnost' in d e r Sowjetunion unmittelbar bewähren können. Und zu dieser Bewährungsprobe sei ausdrücklich auch von dieser Stelle her aufgerufen. In diesem Zusammenhang möchte ich an eine alte historische Erfahrung erinnern: Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit ihren jüdischen Mitgliedern umgeht, ist immer auch ein Indikator f ü r die Lage der Menschenrechte in dieser Gesellschaft ganz allgemein. Die Geschichte der europäischen J u d e n — bis hin zum Holocaust — liefert dafür zahlreiche, meist schlimme Beispiele; Ihr Buch J e d e r T a g ein Gedenktag', — lieber H e r r Wiesenthal — ist voll davon. Es ist sehr zu begrüßen, daß nach 1945 in den christlichen Kirchen ein Prozeß des Umdenkens einsetzte angesichts der verheerenden Folgen, an denen ein religiös motivierter Antijudaismus seinen Anteil hatte. Gewiß: Wir müssen unterscheiden zwischen religiös motiviertem Antijudaismus und rassistischem Antisemitismus. Aber daß der eine ungewollt eine der Bedingungen d a f ü r schuf, daß d e r andere sich ausbreiten konnte, läßt sich schwerlich bestreiten. Es ist eine alte menschliche Erfahrung, daß gerade Familienstreitigkeiten oft mit besonderer Erbitterung ausgetragen werden. J u d e n und Christen gehören zu einer großen Familie. T r e f f e n d hat dies Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in der Synagoge von Rom im April 1986 ausgedrückt mit den Worten, die J u d e n seien ,die älteren Brüder' der Christen. Dies ist, wie ich meine, ein sehr schönes Bild. Es gibt Anlaß zur Hoffnung, daß ein brüderliches Miteinander von Juden und Christen f ü r immer mehr Menschen selbstverständlich wird — ein Miteinander, in dem das Trennende nicht mehr den Blick auf das Gemeinsame, das Verbindende verstellt. Fast zwei Jahrtausende lang hat der Bruderzwist zwischen J u d e n und Christen ein friedliches Zusammenleben beider Gemeinschaften immer wieder behindert — und das ging meist zu Lasten der jüdischen Minderheit. Zeiten der Aufgeschlossenheit füreinander folgten Zeiten der Diskriminierung, der Verfolgung, der Vertreibung, des Ghettos. Die entsetzlichen Folgen solcher geistigen und sittlichen Verirrungen sind bekannt. Viele Daten erinnern uns immer wieder daran: so demnächst — Herr Eyrich hat bereits darauf hingewiesen — der 50. Jahrestag der Pogromnacht des 9. November 19B8, aber auch unzählige weniger bekannte Gedenktage, wie sie von Simon Wiesenthal in diesem seinem Buch festgehalten worden sind. Wer sich dem stellt, wer sich beispielsweise in die erschütternden Einzelschicksale hineinversetzt, von denen dieses Buch berichtet, der könnte — und ich glaube, dieses Gefühl wird vielen Lesern zunächst einmal begegnen — fast resignieren, der könnte an der Lernfähigkeit und Lernbereitschaft der Menschheit fast verzweifeln. Indessen: Sie selbst, lieber Herr Wiesenthal, haben uns vorgelebt, daß Resignation die falsche Antwort wäre. Sie haben uns gezeigt, daß gerade aus der Erinnerung der Mut erwächst, den Kräften des Bösen in der Geschichte zu widerstehen. Deshalb ist Ihr Lebenswerk für uns alle eine Quelle der Zuversicht." 410

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Die zentrale Veranstaltung in Frankfurt zum 50. Jahrestag der November-Pogrome 1938

Einladung Anläßlich des 50. Jahrestages der Pogrome vom 9. November 1938 in Deutschland findet am Mittwoch, dem 9. November 1988, um 11.00 Uhr eine Gedenkstunde in Anwesenheit des Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker in der Westend- Synagoge, Freiherr-vom-Stein-Straße 30, Frankfurt am Main, statt. Gebet: Rabbiner Ahron Daum, B. A. M. S., Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. Ansprachen: Ignatz Bubis, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, Dr. h. c. Heinz Galinski, Vorsitzender des Direktoriums des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Walter Wallmann, Ministerpräsident des Landes Hessen Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland El mole rachamim: Shlomo Reiss, Ober kantor der Jüdischen Gemeinde Frankfurt Schlußgebet und Kaddisch: Dr. Sigmund Szobel, Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Gebet (Ein Psalm Davids) Der Ewige erhöre dich am Tage der Not. Er selbst, der Gott Jakob's sei dein Beschützer! Er sende dir Hilfe und Beistand aus seinem Heiligtum, und von Zion aus stütze er dich. Er vergesse keine deiner Opfergaben und nehme dein Opfer gnädig an! Er erfülle deine Wünsche und all was dein Herz begehrt und lasse alle deine Pläne und Ratschlüsse gelingen. Dann wollen wir voll Freude jubeln, weil er dir zum Sieg verholfen hat, im Namen unseres Gottes das Banner erheben. Der Ewige erfülle all dein Verlangen. Nun bin ich gewiß, daß der Ewige seinem Gesalbten beisteht, ihm aus seinem heiligen Himmel antwortet und ihm mit der Macht seiner Rechten hilft. Manche schwören auf gepanzerte Fahrzeuge, andere verlassen sich auf Pferde, doch wir vertrauen auf den Ewigen, unseren Gott! Sie sind gestürzt und gefallen, wir aber, wir bleiben aufrecht und überdauern. Ewiger, Hilf uns! Unser König erhöre und antworte uns, wenn wir zu Dir beten! 411

43.1 Ignatz Bubis, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt

„Meine Herren Rabbiner, verehrte Trauerversammlung, wir gedenken heute der Geschehnisse des 9. und 10. November 1938. Es sind die Tage, in denen im damaligen Deutschen Reich Hunderte von Synagogen und Betstuben angezündet, demoliert, zerstört und geschändet wurden. Tausende von jüdischen Geschäften wurden geplündert, und unschätzbare Kultur- und Vermögenswerte sind in dieser Nacht durch den wütenden Mob vernichtet worden. Es gab an die h u n d e r t Todesopfer unter der jüdischen Bevölkerung, 30 000 wurden verhaftet oder in Konzentrationslager verschleppt. Für den ihnen angerichteten Schaden wurde den jüdischen Opfern auch noch eine Milliarde Reichsmark als Kontributionszahlung auferlegt. Es war eine Eskalation der Unmenschlichkeit, eine weitere Zwischenstufe auf d e m Weg zur Vernichtung des überwiegenden Teils des europäischen Judentums. Es begann mit dem Boykott jüdischer Geschäfte. Es folgten die Einschränkung der Bürgerrechte, die Rassengesetze und nach der Verbrennung von Büchern das Verbrennen von Gotteshäusern. Danach folgte der Völkermord. All das geschah in staatlicher Regie durch ein verbrecherisches Regime im Namen des deutschen Volkes vor dessen Augen. Gerade deshalb halten wir es f ü r richtig, daß heute die Kinder und Enkelkinder der Opfer — 50 J a h r e danach — gemeinsam mit Ihnen dieses Tages gedenken, mit Ihnen, sehr verehrter Herr Bundespräsident, als dem ersten Repräsentanten der Bundesrepublik, mit dem Bundestagspräsidenten, dem Bundeskanzler, den Ministerpräsidenten der Länder, Vertretern der DDR, Vertretern der Stadt, mit den Bischöfen der beiden Kirchen, den Gewerkschaften, Vertretern gesellschaftlicher Gruppen und der Parteien sowie mit den Botschaftern bzw. Vertretern der Länder, die gegen den Nationalsozialismus Krieg führten und denen wir unsere Befreiung verdanken sowie dem Botschafter des auch aus der Asche des Holocaust entstandenen Staates Israel. Die Geschichte des Nationalismus zeigt uns, daß die Menschen damals die politische Entwicklung schweigend hinnahmen. Der Nationalismus ist nicht erst 1933 wie ein unabwendbares Gewitter über Deutschland hereingebrochen. Schon 1920 rief z. B. der deutsch-völkische Schutz- und Trutzbund zum Boykott jüdischer Geschäfte auf, und die Nationalsozialisten im Frankfurter Stadtparlament sprachen es schon 1929 — wie sie es selbst sagten—offen und ehrlich aus: Wir bekämpfen diesen Oberbürgermeister (gemeint war Landmann), diesen Kämmerer Asch in erster Linie deshalb, weil sie J u d e n sind. Zu viele zogen es vor, weg- statt hinzusehen, und zu wenige handelten mutig wie d e r alte Kastellan Bachmann, dem es zu verdanken ist, daß dieses Haus, in dem wir uns heute befinden, nicht völlig zerstört wurde, zerstört wie die anderen Syna412

43 Die zentrale Veranstaltung zum 50. Jahrestag der November-Pogrome 1938 gogen Frankfurts in d e r Börnestraße, am Börneplatz, wo wir vor drei T a g e n gemeinsam mit d e r Stadt d e n Gestaltungswettbewerb zur Errichtung einer Gedenkstätte, die sowohl an die Zeit des Nationalismus, an die dortige Synagoge u n d an das mittelalterliche Ghetto erinnern soll, abgeschlossen haben, u n d die Synagoge in d e r Friedberger Anlage, f ü r die wir die neu gestaltete Gedenkstätte — zusammen mit Ihnen, H e r r Oberbürgermeister - gestern eingeweiht haben, sowie an die zahlreichen Betstuben in der ganzen Stadt, von d e n e n nichts geblieben ist. Zu d e r Geschichte d e r Vernichtung des europäischen J u d e n t u m s erinnert sich Manös Sperber in seinem Buch .Churban' - dieses Wort bedeutet Zerstörung, Verwüstung, Vernichtung und bezeichnet insbesondere die Zerstörung des ersten u n d zweiten T e m p e l s - an ein überliefertes aramäisches Pfingstgedicht. Dort heißt es: .Selbst wenn das Firmament über uns aus Pergament wäre und wenn Tinte die Meere füllte, wenn alle B ä u m e Federn u n d die Bewohner d e r Erd e allesamt Schreiber wären - u n d wenn sie T a g u n d Nacht schrieben — so vermöchten sie d e n n o c h nicht, die Größe zu beschreiben u n d den Glanz des Schöpfers d e r Welt.' Dazu schreibt Sperber: ,Die E r i n n e r u n g an dieses Gedicht wird jedesmal lebendig, wenn ich einsehen muß, daß es uns nie gelingen wird, j e n e n , die nach uns leben werden, den C h u r b a n , die jüdische Katastrophe unserer Zeit, zu erklären. Die zahllosen Dokumente, die die unermüdliche Bürokratie d e r Ausrotter hinterlassen hat, die Berichte der E n t r o n n e n e n , all die Tagebücher, Chroniken u n d Annalen, so viele Millionen Worte, sie alle e r i n n e r n mich daran, daß So weit Sperber. W e n n auch die Monstrosität d e r Verbrechen nicht zu bewältigen ist, so bleibt uns das Wort des Bundespräsidenten, ,sich in Freiheit d e r Wahrheit zu stellen' u n d wie es in Yad Washem in Jerusalem heißt: Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Die Vernichtung des fast gesamten europäischen J u d e n t u m s vergessen oder verdrängen, oder auch n u r relativieren zu wollen, hieße, die Gemordeten noch einmal zu töten."

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Heinz Galinski, Vorsitzender des Direktoriums des Zentralrats der Juden in Deutschland

„Meine sehr verehrten Damen u n d H e r r e n , zum fünfzigsten Male blicken wir heute auf den 9. November 1938 zurück, auf den T a g , an d e m das nationalsozialistische Gewaltregime die letzten Reste seiner zivilisierten Maske fallenließ und sein wahres barbarisches Gesicht zu erkennen gab. 413

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Es war ein Tag der Ernüchterung für alle diejenigen —Juden und Nichtjuden—, die bis dahin die verbalen Drohungen der Nationalsozialisten nicht ernst nehmen wollten u n d sich in der Illusion der verpflichtenden Tradition des Volkes der Dichter und der Denker wiegten. Es war ein Tag der Schmach f ü r die schweigende Mehrheit und vor allem f ü r die Gebildeten, die sich der besagten Tradition tatsächlich verpflichtet fühlten. Und es war ein Tag, an dem die sich anbahnende Katastrophe einen ihrer vorläufigen Höhepunkte erreicht hatte für die Opfer — für 91 Menschen ihr Todestag. Für die damaligen Machthaber und ihre Helfershelfer war es hingegen ein Tag des kalten politischen Kalküls. Nach genauer Berechnung und mit perfekter, fast maschineller Logistik wurden hier in einer breit angelegten Aktion die niedrigsten Instinkte bei einer ganzen Masse von Menschen geweckt. Für eine Nacht — vorerst — brach mitten im Herzen Europas das Mittelalter aus, und die Welt hat geschwiegen. Der Tag selbst wurde auch nicht durch Zufall bestimmt. Schon vor dem J a h r 1938 versuchten die Nationalsozialisten einmal diesen Tag seiner ursprünglichen Bedeutung f ü r die deutsche Geschichte zu berauben und seine Aussagekraft umzufunktionieren. Der 9. November 1918 war die Geburtsstunde der deutschen Demokratie, der Gründungstag der Weimarer Republik, die bei allen ihren Schwächen den ersten Versuch darstellte, auf deutschem Boden nicht nur Recht, sondern auch Freiheit und Gleichheit walten zu lassen. Die Tatsache, daß die Fanatiker der NSDAP ihren Anschlag auf die Republik ausgerechnet am 9. November 1923 ausgeübt haben, zeigt deutlich genug, daß sie ihre Waffen von Anfang an ganz bewußt gegen den Staat erhoben haben, und nicht — wie aus manchen einflußreichen Kreisen bis heute verlautet - zu seinem Schutz. Der Münchner Staatsstreich von 1923 ist gescheitert. Aber der Haß gegen die Demokratie und ihre Verkörperung in den Einrichtungen und Symbolen der Weimarer Republik lebte in den Köpfen seiner Urheber weiter. Und ich sehe eine tiefere Bedeutung darin, daß an jenem 9. November 1938 das verbrecherische Regime gleichzeitig mit dem Judentum und mit der jungen Tradition der deutschen Demokratie abrechnen wollte. In jener Nacht geschah Unfaßbares. Aufgehetzt von einem kleinen Haufen Fanatisierter fielen Bürger eines zivilisierten Landes über ihre Nachbarn her, zerstörten, brandschatzten, plünderten, folterten und mordeten. Die Opfer des gesteuerten Gewaltausbruches waren Angehörige einer Gruppe, die sich in der Geschichte dieses Landes mit einem besonders wertvollen Beitrag hervorgetan hatte, einer Gemeinschaft, die die in nicht allzu ferner Vergangenheit liegende Gleichberechtigung der Gesamtgesellschaft mit einem enthusiastischen Patriotismus vergolten hat. Aber dieser Anschlag galt nicht nur den einzelnen Menschen und ihrem Eigentum. Er richtete sich vielmehr gegen das Wort, gegen den Geist, gegen den Gott der Bibel, die das Judentum der Welt geschenkt hatte. In jener Nacht brannten die jüdischen Gotteshäuser, und das entfachte Feuer erfaßte später den gan414

43 Die zentrale Veranstaltung zum 50. Jahrestag der November-Pogrome 1938

zen Kontinent, ja die ganze Welt. Bis heute sind die Wunden dieses Brandes nicht ganz verheilt. In ihm fanden die hervorragenden sozialen und kulturellen Einrichtungen des deutschen Judentums den Untergang, später mit der Ausweitung der Expansion fiel ihm die ganze traditionsreiche geistige Welt des osteuropäischen Judentums zum Opfer, schließlich dann in einer nie zuvor dagewesenen Todesfabrik Millionen von Menschenleben, für deren Schicksal stellvertretend die schrecklichen Worte .Auschwitz' und .Endlösung' stehen. Angesichts dieser sichtbaren Gewalt, des Umfangs der begangenen Verbrechen, ist es entwürdigend, so viele sagen zu hören — ,wir wußten von nichts, wir haben nichts gesehen'. Konnte man denn in der Nacht des 9. November die Flammen derbrennenden Synagogen übersehen, das Schreien der Geprügelten überhören? Konnten in den späteren Jahren Hunderttausende von Menschen von den Nachbarn unbemerkt aus ihren Wohnungen abgeholt werden, von ihren Arbeitsplätzen verschwinden, ohne daß ihre Mitarbeiter Notiz davon genommen hätten? Das Jahrzehnt, das wir seit 1983 erleben, ist ein Jahrzehnt von runden und hierzulande zumeist schmerzhaften Jahrestagen. Zum 50. Male hatten wir uns an die Machtergreifung zu erinnern, an den Boykott jüdischer Geschäfte, an die Bücherverbrennung, an den Erlaß der Nürnberger Rassegesetze, heute an die Novemberpogrome, und weitere Tage der Trauer werden in den kommenden Jahren folgen. Parallel dazu begehen in den letzten Jahren zahlreiche Unternehmen ihr 50. Gründungsjubiläum, und es ist beschämend, zusehen zu müssen, wie bei den diesbezüglichen Festreden und Festschriften schamhaft verschwiegen wird, daß diese sogenannten Gründungen in Wirklichkeit Arisierungen bestehender jüdischer Firmen waren. Als ähnlich beschämend empfinde ich die Tatsache, daß sich die meisten industriellen Betriebe, die uns Verfolgte damals als Sklaven ausgenutzt haben, bis heute weigern, die Überlebenden auch nur mit einem Pfennig zu entschädigen. Das ist für mich die Fortsetzung des Schweigens vom 9. November 1938. Denn aus der Sicht der Gejagten hüllte sich die Welt um sie herum damals in Schweigen. Die verfolgten Juden wurden in der Nacht des 9. November allein gelassen, und wenn auch die Mehrheit des Volkes an den Verwüstungen des Pogroms nicht aktiv teilnahm, so gab sie in keiner Weise zu erkennen, daß sie das Vorgehen der Machthaber mißbillige. Am Abend des 10. November — es war ein Donnerstag — füllten sich die Theaterhäuser, die Kino- und Konzertsäle, als sei in der Nacht zuvor nicht die Kulturfähigkeit dieses Landes brutal in Frage gestellt worden, als sei überhaupt nichts passiert, als könne man, nach dem man Zeuge schlimmster Verbrechen wurde, unbeschwert zur Tagesordnung übergehen. Und dabei wäre es so leicht, so einfach, so ohne jede Gefahr nachteiliger Folgen gewesen, durch diese Art von Boykott zumindest dem passiven Protest Ausdruck zu verleihen. Die Welt ist im Verlauf des halben Jahrhunderts, das uns heute von den 415

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Ereignissen j e n e r Nacht trennt, eine andere geworden. Die Veränderungen sind zum Teil eine direkte Folge der Jahre des Schreckens. N e u hinzugekommen sind technische Mittel, die es der Menschheit ermöglichen, nach den Sternen zu greifen, aber auch sich selbst und sämtliches Leben a u f d e r Erde auszulöschen. Neu hinzugekommen sind Mittel der Kommunikations- und Informationstechnik, die gleichzeitig die Entfernungen zwischen den Menschen extrem verkürzen und in undemokratischen Gesellschaften eine beinahe totale Manipulation u n d Überwachung des Einzelnen möglich machen. Neu hinzugekommen sind schließlich ganze Nationen, die sich aus den Herrschaftssystemen alter Kolonialmächte emanzipierten u n d die politische Karte der Welt grundlegend verändert haben. Es ist nicht leicht, den eigenen Standort in diesen Zeiten des Umbruchs zu bestimmen, sich unter neuen Bedingungen zurechtzufinden und zueinanderzufinden, aber es ist ein Gebot des Überlebens. U n d es ist ein Gebot des menschenwürdigen Überlebens, dabei stets das Memento der Jahre der Unmenschlichkeit vor A u g e n zu behalten. Ich habe — wie ich schon oft betonte - Auschwitz nicht überlebt, um dort wegzusehen, wo Unrecht geschieht, wo Rassen- und Fremdenhaß zum Vorschein kommen, wo versucht wird, das Andenken derjenigen, die nicht überleben konnten, zu beschmutzen. U n d es ist mir gerade an dem heutigen T a g ein Bedürfnis, vor Ihnen allen deutlich zu machen, daß das Wegschauen, das Nicht-Sehen-Wollen zu den wichtigen Wurzeln des Übels von damals zählt, und daß es o f t schon ausreicht, den Unterdrückten die eigene moralische Unterstützung sichtbar zuteil werden zu lassen, um Unrecht zu verhindern. Immer wieder, u n d in den letzten Jahren mehr den j e , machen sich Tendenzen bemerkbar, einen Schlußstrich unter der nicht abgeschlossenen u n d nicht zu bewältigenden Vergangenheit zu ziehen. Die letzte starke Welle solcher Bestreb u n g e n mußten wir während des sogenannten Historikerstreits über uns ergehen lassen. Allen denjenigen, die meinen, sich aus der historischen Verantwortung hinausschleichen zu können, möchte ich diesbezüglich empfehlen, sich an Herrn Bundespräsidenten Dr. von Weizsäcker ein Beispiel zu nehmen, der seine eindeutige Haltung zuletzt bei der E r ö f f n u n g des Historikertages zum Ausdruck gebracht hat. A b e r darüber hinaus möchte ich ihnen von dieser Stelle aus auch deutlich die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens vor A u g e n führen. Sie mögen sich mit der H o f f n u n g täuschen, daß es eines T a g e s keine A u g e n z e u g e n mehr gibt, niemanden, der aus persönlicher Betroffenheit heraus sein Veto gegen Geschichtsverfälschungen erheben könnte. Sie vergessen dabei, daß unsere Kinder — die Kinder der O p f e r — aus eigenem emotionellen Antrieb unseren A u f t r a g auf sich nehmen werden. Es sind Kinder, die den Tätern von damals nie vergessen werden, d a ß sie ihre Großeltern nicht kennengelernt haben, daß sie in den ersten Jahren nach der Katastrophe — in den Jahren ihrer Kindheit — auf eine Mauer aus betretenem Schweigen gestoßen sind, wann immer in der Öffentlichkeit das Wort J u d e ausgesprochen wurde, d a ß ihre Eltern vielfach Jahre brauchten, um sich von dem T r a u m a der Verfolgungszeit einigermaßen zu erholen. Die Generation der Kin416

43 Die zentrale Veranstaltung zum 50. Jahrestag der November-Pogrome 1938

der der Opfer ist noch nicht bereit, ist noch nicht in der Lage, Schlußstriche zu ziehen, sie ist — genau wie wir selbst — stets auf der Hut vor einer Wiederkehr des Unbeschreiblichen. Und ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln, daß es sich auch die nichtjüdische junge Generation nicht nehmen lassen wird, den Erfahrungsschatz der eigenen Geschichte genau auszuleuchten. Aber selbst wenn die Erinnerung der Nachfahren versagen sollte — es bliebe das eigene Gewissen der Geschichtsklitterer, es bliebe die Bedrohung der Wiederholung der Vergangenheit mit allen ihren Konsequenzen, die letzten Endes schwerwiegendes Unheil über dieses Land selbst gebracht haben. Jeder, der sich von der unbequemen Geschichte abwenden möchte, sollte zur Kenntnis nehmen, daß die Lüge über die eigene Vergangenheit eine sehr schlechte Basis für die Zukunft bildet. Daher darf nicht das Vergessen, sondern das Erinnern unser Gebot werden, das Gebot für uns alle, denen die künftigen Jahre und Jahrzehnte in diesem Land auf dem Herzen liegen. Es muß aktives Erinnern sein, wie auch unser Einsetzen für die Demokratie ein aktives Einsetzen sein muß, wenn wir sie vor ihren leider noch viel zu agilen Feinden wirksam schützen wollen. Aktives Erinnern — das bedeutet unter anderem auch den respektvollen Umgang mit den stummen Zeugnissen jener Nacht vor fünfzig Jahren. Viel zu viele ehemalige Synagogen in unseren Städten, die seit dem 9. November 1938 nicht mehr als Gotteshäuser genutzt werden konnten, wurden zweckentfremdet und dienen heute Bestimmungen, die oft entwürdigend sind. Ich meine, daß es wichtig ist, daß es unsere Verpflichtung ist, die Orte des Verbrechens zumindest für die Nachgeborenen als solche kenntlich zu machen und dafür zu sorgen, daß die ihnen gebührende Würde erhalten bleibt. Unser Mahnen, unser Appellieren, unser Warnen geschieht nicht als Selbstzweck, es entspringt nicht — wie uns manche unterstellen — einer billigen Lust an Nörgelei sowie unsere beharrliche Pflege der eigenen Identität nicht dem Willen dient, uns abzusondern. Es sind auch nicht Gefühle des Hasses und der Unversöhnlichkeit, durch die wir uns leiten lassen: Solche Gefühle widersprechen dem Geist des Judentums, und hätten diese Gefühle uns angetrieben, wären wir nach den Schreckensjahren nicht zurückgekehrt. Wir hätten nicht die Kraft gefunden, uns an dem Wiederaufbau und Erneuerungswerk zu beteiligen und damit Deutschland die Rückkehr in die Völkerfamilie zu erleichtern. Nein, was uns zur Tat zwingt, ist das Vermächtnis der Opfer, ist der Auftrag, eine Wiederkehr in welcher Art auch immer zu verhindern. Unser Weg muß der Weg einer produktiven Aufarbeitung und nicht der Verdrängung der Vergangenheit sein. In dieser Hinsicht ist in den Jahren seit 1945 sehr vieles versäumt worden und vielleicht wäre unser heutiger Rückblick weniger schmerzhaft, wenn von Anfang an eine ehrliche Auseinandersetzung an die Stelle des Verdrängens getreten wäre. Wir müssen uns der Geschichte so stellen, wie sie sich ereignet hatte, in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit. Es hilft weder das Vertuschen noch das Mystifizieren und Mythologisieren des furchtbaren Massenmordes. Wir dürfen es weder zulas417

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

sen, daß die Einmaligkeit der monströsen Verbrechen in Frage gestellt wird, noch können wir es dulden, daß eben diese Monstrosität zu einer — wenn auch negativen — Faszination führt, daß der Massenmord des .Dritten Reiches' zu einer Art Ersatzreligion erhoben wird. Und schon gar nicht können wir der zweifelhaften Auffassung zustimmen, daß das Erlebnis der Schreckensjahre tatsächlich im jüdischen Bewußtsein unsere Religion, unsere Überlieferung ersetzen könnte. Das hieße, den Fehler der Assimilanten zu wiederholen, deren jüdische Identität auf eine negative, auf eine nur durch die äußere Ablehnung bestimmte reduziert wurde. Der Weg der produktiven Aufarbeitung der Übernahme der Verantwortung ist der einzige zukunftsweisende Weg. Und es erfüllt mich heute mit Genugtuung, daß dieser Weg auch grenzüberschreitend zu Erfolgen führt, daß es durch die Gemeinsamkeit der Verfolgten möglich wurde, heute hier neben den höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik auch die Vertreter der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zu begrüßen. Hier, in dieser Synagoge haben sich heute Menschen versammelt, die fast alle Gruppen, Organisationen und auswärtige Mächte repräsentieren, die die Voraussetzungen besitzen, einen wirksamen Schutzwall gegen alle antidemokratischen Bestrebungen zu errichten. Hervorheben möchte ich unter ihnen vor allem die Vertreter jener Länder, die vor nunmehr 43 Jahren den Nationalsozialismus bezwungen und die Gefahr der Versklavung Europas gebannt haben. Ihnen gebührt nach wie vor unser Dank. Unsere ganz besondere Verbundenheit und Hoffnung gilt indessen dem Staat Israel — dem Land, das eine lebendige Antwort auf den Ausrottungsversuch der Nationalsozialisten verkörpert. Es war die Gründung des jüdischen Staates, die ein neues, ein unerschrockenes jüdisches Bewußtsein auch in den Ländern der Diaspora erzeugte, und — wenn man den Blick auf jene Nacht vor 50 Jahren richtet — es wären vielleicht nicht so viele Menschenleben geopfert worden, wenn es damals schon einen jüdischen Staat gegeben hätte. Daher ist es unser dringendstes Anliegen, alles menschenmögliche für die gesicherte Existenz des Staates Israel zu unternehmen. Und ich möchte von dieser Stelle an alle den Appell richten: Im Namen derer, die durch Gewalt zu Tode gebracht wurden und im Namen der kommenden Generationen — setzen wir uns ein für eine aktive und kämpferische Demokratie, überlassen wir die politische Szene nicht den Demagogen und den Predigern des Hasses. Lassen wir nicht zu, daß die furchtbaren Lehren aus den Jahren des Unrechtsregimes in Vergessenheit geraten. Denn das Vergessen würde in diesem Falle nicht nur die Brücken zerstören, die wir in den letzten Jahrzehnten mühselig aufgebaut haben, es würde vor allem auf unsere gemeinsame Zukunft einen Schatten der Unsicherheit werfen, der noch unsere Kinder und Kindeskinder belasten könnte. Das ist die Verantwortung, der sich keiner von uns entziehen kann. Wir stehen in der Bewährung, und es liegt an uns allen, wie die Geschichte über uns urteilen wird. Schlagen wir gemeinsam ein neues Kapitel in der Geschichte des Menschen auf — ein Kapitel, in dem Ereignisse wie die des 9. November 1938 undenkbar werden." 418

43.3

Walter Wallmann, Ministerpräsident

von Hessen

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dieser Stunde gedenken wir der Opfer eines Verbrechens, das auch nach 50 Jahren unser Entsetzen hervorruft. Und wir wissen: Das, was in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 in Deutschland geschah, war nur ein grausames Vorspiel zu noch viel Schlimmerem: dem Versuch, ein ganzes Volk zu ermorden. Wir sind deshalb, wie immer wieder in den zurückliegenden Jahren, hier zusammengekommen, um an diesem Tag der vielen Millionen Juden zu gedenken, die in deutschem Namen von Deutschen ermordet worden sind. Wir wollen die Erinnerung an jenen Holocaust wachhalten, der spätestens am 9. November 1938 seinen Anfang nahm. Mit diesem Tag konnte es keinen Zweifel mehr geben, daß Recht und moralische Verpflichtung, Nächstenliebe, Toleranz und die Achtung vor religiöser Überzeugung in Deutschland außer Kraft gesetzt worden waren. Für viele Juden ist dieser Tag die ganz persönliche und schmerzhafte Erinnerung, die Erinnerung an die Ermordung nächster Angehöriger, die Erinnerung an Konzentrationslager, an brutale Gewalt und Todesangst. Kein anderes Volk war im Verlauf seiner Geschichte so oft mit Verfolgung und Tod konfrontiert wie das jüdische. Doch was Deutsche ihren jüdischen Mitbürgern zufügten, war einzigartig. Deshalb sind die Fragen verständlich: Dürfen Deutsche anderen Glaubens dabeisein, dürfen Deutsche sprechen, wenn sich Juden versammeln, um ihre Toten zu beklagen? Haben Deutsche das Recht mitzutrauern, mitzubeten, um Vergebung zu bitten? Diese Fragen sind uns gestellt auch gerade in dieser Stadt. Wir dürfen den Fragen nicht ausweichen. Die Antwort können Deutsche, die nichtjüdischen Glaubens sind, nicht geben. Wir können die Anforderung, uns unserer Geschichte, dem Versagen und der Schuld zu stellen, nur annehmen. Wir können uns nicht rechtfertigen, wir können nicht um Verzeihung bitten, sie kann uns nur geschenkt werden. Es nützt auch nicht, daß Schuld immer persönlich ist, denn im deutschen Volk sind zu viele schuldig geworden. Es gab auch diejenigen, die .Nein' sagten zur Tyrannei, die sich dem Widerstand anschlössen, die ,Nein' sagten zur Ausgrenzung und mutig genug waren, Juden vor ihren Verfolgern zu verbergen und zu retten. Einen Augenblick lang verkörperte sich in diesen Menschen die ganze Humanität, von der sich Deutschland so verhängnisvoll abgewandt hatte. Doch das Schlimme ist, daß wir nichts ungeschehen machen können. Denn alles, was wir in Erinnerung an das grauenhafte Geschehen sagen, beweist nur unsere Sprach- und Hilflosigkeit. Wiedergutmachen können wir nicht. Dürfen wir Deutsche überhaupt noch dazu sprechen? Haben nicht andere viel mehr Recht zu sprechen, und ist nicht von ihnen alles gesagt? Oder können wir es uns heute gar leicht machen, indem wir auf die verweisen, die in Schuld befangen oder verstrickt sind - uns geht das nichts mehr an? Wenn wir die Einladung der Jüdischen Gemeinde oder des Zentralrates der 419

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit J u d e n in Deutschland a n n e h m e n , so deswegen, weil wir die Pflicht haben, uns unserer Verantwortung zu stellen, uns zu erinnern u n d diese E r i n n e r u n g weiterzugeben. E r i n n e r u n g vorzuenthalten, wäre nicht menschlich. Denn wir würden die Möglichkeit verhindern, aus Geschehenem zu lernen, unser Gewissen zu schärfen u n d so vielleicht einen Beitrag zu leisten, unsere Welt ein wenig menschlicher zu machen. Ich n e h m e die Worte auf, die in Yad Washem geschrieben stehen u n d die Sie, H e r r Bundeskanzler, in I h r e r bewegenden Rede vom 21. April 1985 in BergenBelsen vortrugen: ,Das Vergessenwollen verlängert das Exil, u n d das Geheimnis d e r Erlösung heißt Erinnerung.' N u r wenn wir d e r Realität ins Auge sehen, uns nicht in Selbsthaß zerstören, sondern bereit sind, aus unserer Geschichte die notwendigen Lehren zu ziehen, d a n n können wir mit a n d e r e n in Frieden leben. ,Das Entscheidende ist die Liebe zum Nächsten u n d die Liebe zu unserem Volk', so sagte es Konrad Adenauer in einer seiner letzten öffentlichen Äußerungen. U n d es ist richtig, n u r wer in d e r Lage ist, sich selbst a n z u n e h m e n , kann auch a n d e r e lieben—ist auch fähig, ein guter u n d verläßlicher Partner zu sein. N u r so wird es gelingen, d e n vermeintlichen Ausweg des Totalitarismus zu vermeiden u n d ,die Furcht vor d e r Freiheit', vor d e r Erich Fromm warnte, zu überwinden. N u r so wird es gelingen zu verstehen, d a ß die E r i n n e r u n g an Verfolgung u n d Vernichtung d e r J u d e n zum elementaren Bestand unserer politischen Kultur gehört. Es gehört zur Tragik unserer Geschichte, d a ß sich mit dem 9. November zwei Ereignisse verbinden, die die Problematik unserer Geschichte schlaglichtartig deutlich werden lassen. Heute vor siebzig J a h r e n rief Philipp Scheidemann die deutsche Republik aus. Der Versuch, Anschluß an die Werte des Westens zu finden, scheiterte. Genau 20 J a h r e danach wurde dieses Scheitern in d e r Barbarei gegen sich selbst sichtbar: Denn indem das deutsche Volk das Volk Israel schändete, legte es H a n d an sich selbst. Trotz allem, was uns gerade am 9. November belastet und bedrückt, was wir auch in unserer Zeit an Uneinsichtigkeit u n d Verbohrtheit e r f a h r e n , wir d ü r f e n uns nicht n u r d e r T r a u e r u n d dem Blick zurück hingeben. Erschütterndes Gedenken an das Geschehene u n d T r a u e r u m die O p f e r u n d T o t e n von damals einerseits sowie d e r Wunsch nach Versöhnung mit d e n Überlebenden u n d der Wille zur Freundschaft zwischen d e n Menschen von heute u n d morgen andererseits gehören zusammen. Wir müssen gerade d e n jüdischen wie den nichtjüdischen j u n g e n Menschen in d e r Bundesrepublik Deutschland sagen, d a ß es auch viele Zeichen d e r Hoffn u n g gibt. Im k o m m e n d e n J a h r besteht die Bundesrepublik Deutschland 40 J a h re — u n d bei allen Unzulänglichkeiten—es waren 40 J a h r e der Demokratie. Es gibt auch das a n d e r e Deutschland. Diesem Deutschland ist die Freundschaft zu Israel Herzenssache. Beide Länder haben eine gemeinsame Geschichte. Daher wissen wir u m den Wert des Staates, d e r sich der menschlichen W ü r d e verpflichtet weiß. Die W ü r d e des Menschen zu schützen, die Freiheit zu verwirklichen, Toleranz zu 420

43 Die zentrale Veranstaltung zum 50. Jahrestag der November-Pogrome 1938

üben, anderen zu helfen - das kann unsere Antwort auf die Jahre der Schuld und der Menschenverachtung sei. Dabei wissen wir, wir Menschen sind immer nur auf dem Weg zu einer wahren Ordnung des Friedens, der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit. Doch Voraussetzung dazu ist der Wille. Ihn weiterzutragen, ist die Herausforderung an uns alle und besonders an unser Volk."

43.4

Bundeskanzler Helmut Kohl

„Sehr verehrte Damen und Herren, heute vor 50 Jahren brannten in ganz Deutschland die Synagogen: Gotteshäuser, errichtet zur Ehre des einen Schöpfers, zu dem Juden und Christen sich bekennen. Das ebenso zynische wie verharmlosende Wort von der .Kristallnacht' bemäntelt, was damals wirklich geschah: Am 9. November 1938 erreichte der nationalsozialistische Terror gegen die jüdischen Mitbürger eine neue Dimension. Zehntausend von ihnen wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt, Tausende mißhandelt, Hunderte ermordet oder in den Tod getrieben. Die Pogromnacht war Fanal einer zielbewußten, systematischen und gnadenlosen Verfolgung der Juden. Spätestens damals mußte wirklich jedem bewußt werden, daß der Antisemitismus zum Kern der nationalsozialistischen Ideologie gehörte: daß er also nicht bloß ein Herrschaftsinstrument unter vielen war — und schon gar nicht eine eher zufällige Nebenerscheinung der Diktatur. Unter dem Terror des Nationalsozialismus haben unzählige Menschen leiden müssen. Viele davon wurden wegen ihrer politischen oder religiösen Überzeugung verfolgt. Doch der Haß gegen die Juden — Männer, Frauen und Kinder ging weiter: Allein die Tatsache, daß jemand jüdischer Abstammung war, bedeutete schon ein todeswürdiges Verbrechen. Heute vor fünfzig Jahren konnten sich die meisten freilich immer noch nicht vorstellen, daß der nationalsozialistische Rassenwahn kurze Zeit später noch barbarischer wüten würde — daß er in letzter, furchtbarster Konsequenz auf den Völkermord an den europäischen Juden hinauslief. Nie wird menschliche Vorstellungskraft ermessen können, was die abstrakten Zahlen einer kalten Statistik uns hierüber berichten. Aber eines können wir im Rückblick sagen: Auschwitz und Treblinka, Majdanek oder Bergen-Belsen — die Stätten des Grauens waren von vornherein angelegt in jener gottlosen Ideologie, die eine Rasse zum Götzen erhoben hatte. Wir fragen uns heute, weshalb nur so wenige Menschen widersprachen, als die späteren Gewaltherrscher für ihr menschenverachtendes Programm warben — zunächst in den Hinterzimmern und später auf Straßen und Plätzen. Diese Frage schmerzt; schmerzlicher noch ist die Frage, weshalb sich kein breiter Protest erhob, als die Juden in Deutschland verhöhnt und drangsaliert, isoliert und verfolgt wurden. Denn wahr ist nun einmal, daß die jüdischen Mit421

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bürger vom ersten T a g an, seit dem SO. Januar 1933, diskriminiert wurden: politisch, moralisch, dann auch rechtlich - mit wachsender Brutalität und vor den Augen der Öffentlichkeit. Immer alltäglicher wurde der staatliche T e r r o r ; er d r a n g vor bis in die allernächste Nachbarschaft. Die Rechtsordnung diente immer weniger dem Schutz der Schwachen und immer mehr deren Unterdrückung. Unrecht wurde in die Form von Gesetzen gegossen; ein besonders abstoßendes Beispiel hierfür sind die rassistischen Nürnberger Gesetze von 1935. Die Novemberpogromnacht war keineswegs eine spontane Entladung des sogenannten Volkszorns. Es handelte sich vielmehr um eine von zentraler Stelle ausgelöste, vor Ort organisierte Aktion. Aus heutiger Sicht fällt es schwer zu begreifen — und es bleibt eine Ursache tiefer Scham —, daß am 9. und 10. November 1938 die Mehrheit der Bevölkerung geschwiegen hat. Hier kam vieles zusammen: mangelnde Zivilcourage oder gar lähmende Angst bei den einen, Gleichgültigkeit bei den anderen. Es gab jene, die bestürzt waren — u n d jene, die mit vielerlei Argumenten ihr Gewissen beruhigten: etwa mit dem verbreiteten Vorurteil vom jüdischen Einfluß', der zurückgedrängt und ausgeschaltet werden müsse. Die einen fühlten sich durch das Leiden ihrer jüdischen Mitbürger persönlich betroffen — die anderen meinten, das alles gehe sie selbst gar nichts an. Es gab jene, die voller Schadenfreude zusahen, die mitmachten oder gar wirtschaftlich davon profitierten. Doch dürfen auch jene nicht vergessen werden, die ihre Mißbilligung ausdrückten oder gar im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen suchten. Wir erinnern uns heute mit hohem Respekt und mit Dankbarkeit an die mutigen Männer und Frauen, die vor fünfzig Jahren und in der Zeit danach unter Gefährdung ihres eigenen Lebens — und oft auch der Sicherheit ihrer Familien ihren jüdischen Mitbürgern in vielfältiger Weise beistanden: indem sie ihnen beispielsweise zu einem Versteck oder zur rettenden Flucht ins Ausland verhalfen. Der heutige Gedenktag wirft viele Fragen auf. Auch die Jüngeren unter uns mögen sich ehrlich prüfen, was sie in einer solchen Situation getan oder unterlassen hätten. Und wenn ich .ehrlich* sage, dann meine ich vor allem: ohne Selbstgerechtigkeit. Die Menschen von heute - das ist meine feste Überzeugung—sind nicht besser oder mutiger als die Menschen von damals. Nur stehen wir nicht mehr vor der Alternative, entweder durch Wegschauen oder Mitmachen in Schuld verstrickt zu werden oder durch Auflehnung uns selbst oder andere in Gefahr zu bringen. Unter der Herrschaft des Rechts bleibt uns jene furchtbare Bewährungsprobe erspart, die wohl auch heute viele überfordern würde. Dieses Wissen lehrt uns Bescheidenheit, ja Demut. Es lehrt uns, dankbar zu sein d a f ü r , daß wir in einer freiheitlichen Demokratie leben dürfen. Und es mahnt uns zu nie ermüdender Wachsamkeit gegenüber allem, was totalitärer Herrschaft den Weg bereiten könnte. Ich denke, daß Sie, Herr Dr. Galinski, dies gleichfalls meinten, als Sie kürzlich bei einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung deutscher und französischer Soldaten im Konzentrationslager Dachau erklärten: ,Denn das Vergessen 422

43 Die zentrale Veranstaltung zum 50. Jahrestag der November-Pogrome 1938 zu verhindern, ist auch ein wichtiges Mittel, u m den Menschen zu Bewußtsein zu bringen, was sie an der Demokratie zu schätzen haben.' So einzigartig der von deutscher Hand verübte Völkermord an den europäischen J u d e n auch dasteht: Wir müssen immer und überall d a f ü r eintreten, daß Vergleichbares nie wieder geschieht. Deshalb darf die Mahnung des heutigen Tages niemals verlorengehen. Sie ist ein Anruf an jeden von uns, das eigene Denken immer wieder zu überprüfen. Rechtsgarantien sind zwar die notwendige Bedingung d a f ü r , daß es nie wieder zu einem Rückfall in die Barbarei kommt. Hinzukommen muß jedoch die Verankerung der freiheitlichen Demokratie in unseren Herzen — denn hier ist nicht allein der Verstand gefordert. Uns muß immer und überall gegenwärtig bleiben: wo die Menschenwürde in unserem Mitmenschen beleidigt wird, da wird sie in uns selbst verwundet. N u r wenn wir uns diese Fähigkeit zum Mit-Leiden, zur Identifikation mit den Opfern bewahren, kann es uns dauerhaft gelingen, eine gerechte Gesellschaft zu gestalten, in der Menschen verschiedener Herkunft und verschiedener religiöser und politischer Überzeugungen in Frieden und Freiheit zusammenleben. Die Achtung vor der Unverfügbarkeit des anderen verlangt von uns, daß wir uns — biblisch gesprochen — kein Bildnis von ihm machen, sondern ihn als das gelten lassen, was er wirklich ist. Von Max Frisch, der sich auf besonders eindringliche Weise mit den Mechanismen und der Wirkung antisemitischer Vorurteile auseinandergesetzt hat, stammt der Satz, daß wir alle ,auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich' sind für das Gesicht, das der andere uns zeigt. Indem wir ihm unsere Vorstellungen aufzwingen, verweigern wir ihm ,den Anspruch alles Lebendigen, das unfaßbar bleibt.' Es geht also darum, den Mitmenschen ohne Vorbehalt in seiner Einzigartigkeit, in seinem Anderssein zu bejahen — ihn nicht vor die Wahl zu stellen zwischen Anpassung und Isolation. Das ist gelebter Pluralismus - Pluralismus, wie er den Vätern und Müttern unseres Grundgesetzes vorschwebte. Die Männer und Frauen, die vor 40 J a h r e n im Parlamentarischen Rat über diese Verfassung berieten, konnten uns auch deshalb den Wert und die Würde verantworteter Freiheit zurückgewinnen, weil sie die Kraft aufbrachten, die Last der Vergangenheit anzunehmen. Die Wahrheit ist: Deutsche wurden als Einzelpersonen schuldig — doch das Unrecht, das unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft begangen wurde, ist Teil ihrer gemeinsamen Geschichte. Diese Geschichte ist uns in ihrer Gesamtheit anvertraut und aufgegeben. Indem wir uns ihr in Freiheit stellen, kann aus der Last eine Chance werden: die Chance, daß wir zu uns selbst finden und Wege in eine bessere Zukunft erschließen. Es wäre unwahrhaftig, sich aus der deutschen Geschichte n u r die genehmen Teile herauszusuchen. Denn diese Geschichte ist unteilbar — sie ist unser im Guten wie im Bösen. Deshalb begrüße ich es, daß die Regierung der DDR in jüngster Zeit die Bereitschaft gezeigt hat, sich zu der Verantwortung zu bekennen, die uns Deutschen insgesamt auferlegt ist — und sei es auch n u r durch symbolische Gesten. Zu dieser Verantwortung zählt insbesondere auch die Solidarität mit den Le423

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bens-, Freiheits- und Sicherheitsinteressen Israels. Diese Solidarität wird durch Meinungsverschiedenheiten im politischen Alltag nicht in Frage gestellt. Solche Diskussionen beziehen sich a u f Einzelheiten der Politik. Unsere Solidarität j e doch betrifft immer das Grundsätzliche. Nicht zuletzt in ihr drückt sich die Umkehr aus, die das deutsche Volk nach 1945 vollzogen hat. S o wenig es möglich ist, sich der Last der Vergangenheit zu entziehen, so sehr sind wir gefordert, uns immer wieder a u f die besten, a u f die freiheitlichen Traditionen der deutschen Geschichte zu besinnen — Traditionen, zu denen auch zahlreiche J u d e n beigetragen haben. Ich nenne nur Gabriel Riesser, den Vizepräsidenten der Nationalversammlung in d e r Frankfurter Paulskirche, und Hugo Preuß, der die Weimarer Verfassung maßgeblich mitgestaltet hat. Mit besonderer Dankbarkeit nenne ich f e r n e r j e n e jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die nach 1945 im Blick a u f die Zukunft bereit waren, zum Aufbau unseres freiheitlichen Gemeinwesens beizutragen. Und hervorheben möchte ich schließlich auch, daß es bei uns heute j u n g e j ü dische Männer und Frauen gibt, die sich ganz bewußt und mit einem besonders wachen staatsbürgerlichen Verantwortungsbewußtsein in unserem freiheitlichen Gemeinwesen engagieren. W i r — J u d e n , Christen, alle freiheitlich gesonnenen Menschen hierzulande — stehen vor einer großen Zukunftsaufgabe: Am Ende dieses J a h r h u n d e r t s mit all seinen Schrecken, mit so unsagbar viel menschlichem Leid bauen wir — an einem Europa, dessen Fundament die von J u d e n und Christen gemeinsam vertretenen Werte sind, — einem Europa, daß sich von der Geißel der Nationalismen befreit, — einem Europa, das Menschen und Völker aus Ost und West in gemeinsamer Freiheit zusammenführen soll. Vergessen wir j e n e Menschen und Völker nicht, denen es noch versagt ist, über ihren Weg selbst zu bestimmen. Es gibt j a nicht nur die Versuchung, Gewesenes zu verdrängen; genauso schlimm ist es, vor dem Leid der Zeitgenossen die Augen zu verschließen — vor dem Leid j e n e r Menschen, die heute in Unfreiheit leben müssen. Der heutige Gedenktag ist nicht zuletzt eine Mahnung, sich zu vergegenwärtigen, daß J u d e n und Christen in den fundamentalen Fragen der Ethik übereinstimmen. Viel zu häufig hört man - auch aus dem Munde wohlmeinender Menschen - die abwegige T h e s e vom angeblichen ,alttestamentlichen Rachedenken'. Gedankenlos sprechen wir von .christlicher Nächstenliebe' und vergessen dabei, daß bereits in der T h o r a geschrieben steht: ,Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.' Überhaupt gilt es, die Vorstellung zu überwinden, daß J u d e n in der Geschichte des Abendlandes gleichsam am Rande stehen. Das Gegenteil ist richtig: Ihr Platz ist mitten in der großen Tradition, welche die politischen Kulturen Europas und Amerikas geprägt hat. In vielen Ländern standen J u d e n in vorderster Reihe, wenn es um Menschenwürde und Bürgerrechte, um Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit, um Demokratie und Selbstbestimmung ging. Zu Recht hat Heinrich 424

43 Die zentrale Veranstaltung zum 50. Jahrestag der November-Pogrome 1938 Heine von dem Stolz gesprochen, ,daß seine Ahnen dem edlen Hause Israel angehörten, daß er ein Abkömmling jener Märtyrer, die der Welt einen Gott und eine Moral gegeben, u n d auf allen Schlachtfeldern des Gedankens gekämpft und gelitten haben'. Die Nationalsozialisten gaben vor, unsere europäische Kultur retten zu wollen. In Wirklichkeit war ihre Ideologie ein einziger Angriff auf die Werte, die eben diese Kultur geprägt haben. Ich erwähne hier n u r einige jener Überzeugungen, die Juden und Christen gemeinsam sind und die den geistigen Boden für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und pluralistische Demokratie bereitet haben: — Die Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit, der Einzigartigkeit u n d der unveräußerlichen Würde des Menschen; — der Glaube, daß uns die Schöpfung anvertraut ist, damit wir sie erhalten und weitergestalten — als Gottes Helfer u n d Gefährten, wie Martin Buber es einmal ausgedrückt hat; — und nicht zuletzt das Verbot des Götzendienstes, das uns vor der Versuchung bewahrt, die Macht anzubeten oder die Absolutheitsansprüche von Ideologien anzuerkennen. Weil der Judaismus in seinem innersten Wesen anti-totalitär ist, ist auch der Totalitarismus, wie Mants Sperber einmal schrieb, .überall antijudaistisch'. Juden und Christen sind gleichsam natürliche Verbündete in der Opposition gegen alle ideologisch-politischen Absolutheitsansprüche. Diese Einsicht möglichst vielen Menschen bewußt zu machen, ist aus meiner Sicht eine der entscheidenden Aufgaben des christlich-jüdischen Dialogs. Mit besonderer Dankbarkeit möchte ich deshalb daran erinnern, daß vor 10 J a h r e n das Generalsekretariat des Internationalen Rates der Christen und Juden von London in das Martin-Buber-Haus nach Heppenheim verlegt wurde. Die Pogromnacht vom 9. November 1938 bleibt uns gegenwärtig. Mit Schmerz und mit Scham ist sie Teil unserer Gegenwart: Unter uns leben noch viele von denen, die damals verfolgt wurden. Sie tragen schwer an quälenden Erinnerungen, und wir wissen, daß ihr Schmerz nicht in Worte zu fassen ist. Auch jenen, die vor fünfzig Jahren als Kinder, Jugendliche oder Erwachsene Zeugen des Pogroms wurden, stehen noch beklemmende Bilder vor Augen — Bilder, die uns mit Scham erfüllen. Dies kann und darf nicht bedeuten, daß mit dem T o d des letzten Zeitzeugen auch die Erinnerung verschwinden wird. Es ist vielmehr unsere Aufgabe, an die Generation unserer Kinder und Enkel die Einsicht weiterzugeben, daß es alles andere als selbstverständlich ist, in Freiheit und Würde leben zu dürfen. Die nachwachsenden Generationen können — glücklicherweise — nicht aus eigener Anschauung wissen, was Unfreiheit und Diskriminierung konkret bedeuten. Sie sollen diese Erfahrung auch nie machen müssen, und deshalb schulden wir das Erinnern nicht allein den Opfern, sondern auch unseren Kindern und Enkeln. Liebe jüdische Mitbürgerinnen u n d Mitbürger! Lassen Sie mich mit einer 425

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit persönlichen Bemerkung schließen: Daß Sie hier in der Bundesrepublik Deutschland leben, ist Zeichen eines Vertrauens, das uns - und ich spreche jetzt für die nichtjüdische Mehrheit — tief bewegt. Denn auf dieses Vertrauen hatten wir wahrlich keinen Anspruch — nach allem, was in Deutschland vor und nach dem 9. November 1938 geschehen ist. Es ist ein kostbares Geschenk — mit das kostbarste, das uns nach 1945 in die Hände gelegt wurde. Es ist auch ein zerbrechliches Geschenk. Ich bin mir bewußt, daß Ihr Vertrauen leicht zu erschüttern ist: durch die Gemeinheit von Ewiggestrigen — und manchmal auch durch die Gedankenlosigkeit von Wohlmeinenden. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Das freiheitliche Gemeinwesen, das vor bald 4 0 Jahren auf deutschem Boden entstand, ist unsere gemeinsame Heimat. Wir wollen es gemeinsam schützen und weiterentwickeln. Dazu bedarf es der engagierten Mitwirkung alle Menschen guten Willens. Um diese Mitwirkung bitte ich auch Sie."

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„Simon Wiesenthal, der Anwalt der Menschlichkeit": Bundeskanzler Helmut Kohl zu Wiesenthals 80. Geburtstag

Am 14. November 1988 gaben jüdische Organisationen in New York ein Abendessen, bei dem der Bundeskanzler eine Ansprache zu Ehren von Simon Wiesenthal hielt, der am 31. Dezember 1988 seinen 80. Geburtstag feiert. Schon seit etlichen Jahren verbindet d e n Bundeskanzler mit diesem Leiter des Jüdischen Dokumentationszentrums in Wien eine enge Freundschaft. So war es trotz der Belastung des Bundeskanzlers eine Selbstverständlichkeit, zu diesem Essen in New York zu sein, bevor er am 15. November 1988 nach Washington weiterflog, um sich von Präsident Reagan zu verabschieden und ein erstes Gespräch mit dem neu gewählten Präsidenten George Bush zu haben. I n d e r Rede hat Dr. Helmut KohlDr. h. c. Simon Wiesenthal als Anwalt der Menschlichkeit gefeiert. Zu Beginn d e r Rede hat sich der Bundeskanzler auch noch einmal eindeutig zu PhilippJenninger geäußert, der über seine Rede im Deutschen Bundestag „gestolpert" ist. „Meine sehr verehrten Damen u n d Herren! Lassen Sie mich — ehe ich mich an Simon Wiesenthal wende—gleich zu Beginn einige Worte sagen zu der Rede, die Philipp Jenninger als Präsident des Deutschen Bundestages am vergangenen Donnerstag gehalten hat. Ich weiß, daß diese Rede, die Reaktion in der Bundesrepublik Deutschland und auch sein Rücktritt hier in d e n USA sowie in Israel große Beachtung gefunden haben. Er selbst hat dazu erklärt: ,Die Reaktionen auf meine gestrige Ansprache vor dem Deutschen Bundestag haben mich erschrocken, u n d sie bedrücken mich auch. Meine Rede ist von vielen Zuhörern nicht so verstanden worden, wie ich sie gemeint hatte. Ich bedaure das zutiefst, u n d es tut mir sehr leid, wenn ich andere in ihren Gefühlen verletzt habe.' Ich selbst möchte hinzufügen, daß PhilippJenninger während seiner ganzen politischen Laufbahn — zuletzt als Präsident des Deutschen Bundestages — sich in besonderer Weise f ü r die Aussöhnung mit den J u d e n und f ü r die Lebensinteressen des Staates Israel engagiert hat. Er war stets ein kompromißloser Gegner jeder Form totalitärer Herrschaft - nicht zuletzt wegen der Erfahrungen seiner Eltern unter dem nationalsozialistischen Regime. Die politische Integrität Philipp Jenningers und die Redlichkeit seiner Absichten sind gerade auch in Israel nach seinem Rücktritt ausdrücklich anerkannt worden. Lieber Simon Wiesenthal, als Sie mich einluden, an der heutigen Feier anläßlich 427

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Ihres bevorstehenden 80. Geburtstags teilzunehmen, da habe ich gern zugesagt. Ich bin hierher gekommen, um einem ganz außergewöhnlichen Manne meinen Respekt und meine Freundschaft zu bezeugen. Wir kennen uns nun schon seit Jahren; und deshalb bedarf es nicht vieler Worte, um Ihnen zu sagen, was mich in dieser Stunde bewegt. Manches gute Gespräch mit Ihnen kommt mir in Erinnerung. Es waren oft sehr ernste Unterredungen — geprägt von kompromißloser Ehrlichkeit, und doch ohne jeden Unterton von Anklage. Wer Ihnen atemlos zuhört, wie Sie mit der Ruhe des Erzählers über Ihren Lebensweg berichten, über Ihre Odyssee durch den Osten Europas, Ihren ganz persönlichen Leidensweg durch die Hölle der Konzentrationslager, über Ihren Kampf um Überleben und Selbstbehauptung — der kann an Ihrem Gesicht nicht ablesen, was dabei in Ihrem Innersten vorgeht. Allein durch Ihre Worte teilt sich dem Zuhörer eine Ahnung davon mit, was Sie wohl empfinden mögen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie Sie vor etwa einem halben Jahr in einem Fernseh-Interview über persönliche Erlebnisse aus der Nachkriegszeit berichteten. Eine besonders ergreifende Begebenheit hat sich mir tief eingeprägt: Sie schilderten, wie Ihre 9jährige Tochter kurz vor Weihnachten weinend nach Hause kam, weil sie außer ihren Eltern keine Familienangehörigen habe - im Gegensatz zu all den anderen Kindern mit ihren Großeltern oder Onkeln und Tanten. Die Tränen eines unschuldigen Kindes - Ihres Kindes - haben Ihnen sehr weh getan, lieber Simon Wiesenthal. Sie baten deshalb einen Freund, sich Ihrer Tochter gegenüber als Cousin auszugeben und sie zu sich einzuladen. Sie wollten damit verhüten, daß die Seele Ihrer Tochter .vergiftet' werde — so drückten Sie es aus. Dieser Bericht macht ohne viel Aufhebens etwas von der persönlichen Tragödie so unvorstellbar vieler Opfer deutlich - und er sagt etwas aus über Ihre Fähigkeit, Menschen aufzurichten und Ihnen Mut zu machen. Sie können auf einen schier unerschöpflichen Fundus an Geschichten zurückgreifen, denen eines gemeinsam ist: Sie sind Zeugnisse einer großen Sympathie f ü r den unbekannten Einzelmenschen mit seiner Freude und mit seinem Leid — Zeugnisse einer Menschlichkeit, die durch das Feuer schrecklichster Erfahrungen mit der Unmenschlichkeit gegangen ist. Die Geschichten, die Sie erzählen, sind durch eigenes Erleben und Erleiden beglaubigt. In Ihnen, lieber Simon Wiesenthal, lebt das Gedächtnis an ungezählte Menschen, die wir nicht vergessen dürfen und nicht vergessen wollen. Wer das Glück hat, Sie persönlich zu kennen, der spürt, daß Freundlichkeit und Offenheit bei Ihnen nie an der Oberfläche bleiben. Denn diese Eigenschaften sind einem Leben abgetrotzt, das Sie die Abgründe des Bösen hat schauen lassen. Unser Jahrhundert wurde nicht nur geprägt von einem zuvor kaum vorstellbaren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Wandel; es wird auch in die Geschichte eingehen als eine Zeit, in der Krieg und Völkermord neue, unvorstellbare Dimensionen des Grauens erreichten. Sie, lie428

44 Bundeskanzler Helmut Kohl zu Wiesenthals 80. Geburtstag ber Simon Wiesenthal, haben indessen immer wieder daran erinnert, daß uns die Statistik des millionenfachen Sterbens nicht den Blick auf das einzelne Opfer verstellen darf: auf das Antlitz des Kindes, der Frau oder des Mannes, die im Namen einer menschenverachtenden Ideologie gequält, gedemütigt und in den Tod getrieben wurden. Im Vorwort zu Ihrer aufrüttelnden Chronik jüdischen Leidens, dem Buch Jeder Tag ein Gedenktag', berichten Sie von einem Gespräch, das AdolfEichmann im Herbst 1944 mit gleichrangigen SS-Offizieren geführt haben soll. Einer aus dieser Runde wollte wissen, was denn sein werde, wenn die Welt eines Tages nach den Millionen Opfern des Holocaust frage. Darauf soll Eichmann geantwortet haben: .Hundert Tote sind eine Katastrophe, eine Million Tote nur eine Statistik.' Und Sie, lieber Simon Wiesenthal, fügen den bitteren Kommentar hinzu: ,Ich kann leider nicht umhin, die Richtigkeit dieses £icA?reawn-Ausspruchs zu bestätigen.' In Wirklichkeit wollen Sie uns sagen: Die Wahrheit ist immer konkret, sie duldet nicht die Ausflucht in abstrakte Zahlen. Die Versuchung, davor die Augen zu verschließen, wird freilich umso größer, je schrecklicher diese Wahrheit ist. Doch haben wir Deutschen nach 1945 auch die Erfahrung gemacht, daß erst die Bereitschaft, der ganzen Wahrheit ins Auge zu schauen, ein wirkliches Verständnis für Wert und Würde verantworteter Freiheit ermöglicht. Stellvertretend für die vielen, die die Kraft zu diesem entscheidenden Schritt auf dem Weg in eine bessere Zukunft aufbrachten, erwähne ich nur Konrad Adenauer, den ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Ich erinnere an seine historischen Begegnungen mit Nahum Goldmann 1951 in London und mit David Ben Gurion 1960 hier in New York. Wir Deutschen müssen mit der schrecklichen Tatsache leben, daß unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus vor allem den Juden unsagbares Leid zugefügt wurde und daß das Verbrechen dieses Völkermordes ohne Beispiel ist— in seiner kalten, unmenschlichen Planung und in seiner tödlichen Wirksamkeit. Gleichwohl hat es immer wieder Versuche gegeben, diese Tatsache zu relativieren — beispielsweise durch den Hinweis darauf, daß damals auch andere Menschen verfolgt wurden: wegen ihrer politischen Überzeugung oder wegen ihres religiösen Bekenntnisses. Doch wer so argumentiert, der übersieht oder leugnet, daß der Haß gegen die Juden tiefer ging: Allein die Tatsache, daß jemand jüdischer Abstammung war, bedeutete schon ein todeswürdiges Verbrechen. Und deshalb lief er in letzter, furchtbarster Konsequenz auf den Völkermord an den europäischen Juden hinaus. Vor wenigen Tagen, bei der zentralen Gedenkveranstaltung in der Frankfurter Westend-Synagoge anläßlich des 50. Jahrestages der Pogromnacht vom 9. November 1938, habe ich einmal mehr auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Ich habe daran erinnert, daß der Antisemitismus zum Kern der nationalsozialistischen Ideologie gehörte. Er war nicht bloß ein Herrschaftsinstrument unter vielen — und schon gar nicht eine eher zufällige Nebenerscheinung der Diktatur. Spätestens nach der .Kristallnacht' — dieses Wort verharmlost, was damals geschah - mußte das wirklich jedem bewußt werden. Aus heutiger Sicht fällt es 429

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit schwer zu begreifen- und es bleibt für uns eine Ursache tiefer Scham daß am 9. und 10. November 1938 die allermeisten Deutschen in der Öffentlichkeit geschwiegen haben. Es wäre freilich ungerecht, dieses Schweigen als Ausdruck einer breiten Zustimmung zu interpretieren: Ich selbst war damals 8 J a h r e alt und entsinne mich noch, wie meine Eltern, die beide gegen den Nationalsozialismus eingestellt waren, bedrückt über dieses Geschehen sprachen. Damals kam bei den Deutschen vieles zusammen: Lähmende Angst bei den einen, Gleichgültigkeit bei den anderen. Es gab jene, die bestürzt waren — und jene, die mit vielerlei Argumenten ihr Gewissen beruhigten. Die einen fühlten sich durch das Leiden ihrer jüdischen Mitbürger persönlich betroffen, die anderen meinten, das alles gehe sie selbst nichts an. Und es gab auch jene, die voller Schadenfreude zusahen, die mitmachten oder gar wirtschaftlich davon profitierten. Doch dürfen auch die nicht vergessen werden, die ihre Mißbilligung ausdrückten oder gar im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen suchten. Wir erinnern uns heute mit hohem Respekt und mit Dankbarkeit an die mutigen Männer und Frauen, die vor fünfzig Jahren und in der Zeit danach unter Gefährdung ihres eigenen Lebens — und oft auch der Sicherheit ihrer Familien — ihren jüdischen Mitbürgern in vielfaltiger Weise beistanden: indem sie ihnen beispielsweise zu einem Versteck oder zur rettenden Flucht ins Ausland verhalfen. Es gibt keine ,Kollektivschuld1 - darauf hat Simon Wiesenthal stets mit Nachdruck hingewiesen; denn gäbe es sie, dann würde der Unterschied zwischen Gerechten und Ungerechten verwischt, und dem einzelnen Verbrecher würde gleichsam das Recht eingeräumt, sich in die Anonymität einer Gruppe zu flüchten. Wohl aber gibt es eine gemeinsame Verantwortung dafür, daß sich die Geschichte nicht wiederholt. Deutsche wurden als Einzelpersonen schuldig — doch das Unrecht, das unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft begangen wurde, ist Teil ihrer gemeinsamen Geschichte. Diese Geschichte ist uns in ihrer Gesamtheit anvertraut und aufgegeben. Es wäre unwahrhaftig, sich aus der deutschen Geschichte nur die genehmen Teile herauszusuchen. Denn diese Geschichte ist unteilbar — sie ist unser im Guten wie im Bösen. Deshalb begrüße ich es, daß die Regierung der DDR in jüngster Zeit die Bereitschaft gezeigt hat, sich zu der Verantwortung zu bekennen, die den Deutschen insgesamt auferlegt ist. Ich sage allerdings ebenso deutlich, daß symbolische Gesten allein nicht genügen. Zu dieser Verantwortung zählt für mich insbesondere auch die Solidarität mit den Lebens-, Freiheits- und Sicherheitsinteressen Israels. Diese Solidarität wird durch Meinungsverschiedenheiten im politischen Alltag nicht in Frage gestellt. Solche Diskussionen beziehen sich auf Einzelheiten der Politik. Unsere Solidarität mit Israel jedoch betrifft immer das Grundsätzliche. Nicht zuletzt in ihr drückt sich die Umkehr aus, die das deutsche Volk nach 1945 vollzogen hat. So beispiellos der Holocaust auch dasteht: Wir müssen immer und überall dafür eintreten, daß Vergleichbares nie wieder geschieht. Deshalb darf die Mahnung dieses Völkermordes nicht verloren gehen. Sie ist ein Anruf an jeden von uns, sein eigenes Denken ständig zu überprüfen. Sie ist ein Appell zu nie ermü-

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44 Bundeskanzler Helmut Kohl zu Wiesenthals 80. Geburtstag d e n d e r Wachsamkeit — vor allem gegenüber jenen Anfechtungen, die totalitärer Herrschaft den Weg bereiten können. Entscheidend ist, daß uns immer und überall gegenwärtig bleibt: Wo die Menschenwürde in unserem Mitmenschen beleidigt wird, da wird sie in uns selbst verwundet. Nur wenn wir uns die Fähigkeit zum Mit-Leiden, zur Identifikation mit d e n Opfern bewahren, kann es uns dauerhaft gelingen, eine gerechte Gesellschaft zu gestalten, in der Menschen verschiedener Herkunft und verschiedener religiöser und politischer Überzeugungen in Frieden und Freiheit zusammenleben. Ein altes jüdisches Wort sagt: ,Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt.' Das Ethos dieses Satzes steht in fundamentalem Widerspruch zu jenen modernen Ideologien, in deren Mittelpunkt nicht der individuelle Mensch mit seiner Würde u n d seinen Rechten steht, sondern ein Kollektiv - sei es eine Rasse von angeblich höherem Wert oder eine bestimmte gesellschaftliche Klasse. Juden und Christen sollten sich immer wieder darauf besinnen, daß die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie auf einem biblischen Fundament stehen, das ihnen gemeinsam ist. Damit meine ich zum einen die Lehre, wonach jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist. Zum anderen denke ich an das Verbot der Götzenverehrung, das uns vor d e r Versuchung bewahrt, die Macht anzubeten oder uns dem Aberglauben an die .geschichtliche Mission' einer Rasse oder eine Klasse hinzugeben. Wenn wir uns diesen antitotalitären Konsens bewahren, wenn wir ihn zum geistigen Bollwerk gegen die Absolutheitsansprüche menschenfeindlicher Ideologien ausbauen — dann beherzigen wir die entscheidende Lehre aus der furchtbaren Vergangenheit. Glücklicherweise d ü r f e n wir heute mehr denn je hoffen, daß ein brüderliches Miteinander von J u d e n und Christen f ü r immer mehr Menschen selbstverständlich wird - ein Miteinander, in dem das T r e n n e n d e nicht mehr den Blick auf das Gemeinsame, das Verbindende verstellt. Ganz in diesem Sinne hat Simon Wiesenthal den historischen Besuch Papst Johannes Pauls II. in der Synagoge von Rom im April 1986 als einen Schritt bezeichnet, d e r ihm — nach zwei Millennien der Abgrenzung — ,fast wie das Licht am Ende des Tunnels' erscheine. In der Tat: Johannes Paul II. hat mit dem Wort, die J u d e n seien die .älteren Brüder' der Christen, bei diesem Besuch eine wegweisende Aussage getroffen, die meine volle Zustimmung findet. Der totalitäre Unrechtsstaat hat — auch das ist meine feste Überzeugung seinen tiefsten Grund im Abfall von Gott. Die heuchlerische Berufung der nationalsozialistischen Machthaber auf die .göttliche Vorsehung' diente allein der Vertuschung eigener Willkür; sie war und bleibt in Wahrheit die schlimmste Perversion religiösen Glaubens —ein Hohn auf den lebendigen Gott, zu dem J u d e n und Christen sich bekennen. Es ist n u r zu verständlich, daß vielen Menschen Verzweiflung als einzig mögliche Antwort erscheint auf die drängenden Fragen, mit denen eine schreckliche Vergangenheit uns konfrontiert. Simon Wiesenthal hat jedoch gezeigt, daß es eine Alternative gibt: Wir können die Finsternis besiegen, indem wir unbeirrt die Fakkel d e r Menschlichkeit hochhalten. 431

Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Wenn ich auf eine möglichst knappe Formel bringen sollte, was Sie, lieber Simon Wiesenthal, kennzeichnet, dann sage ich: Sie sind ein Anwalt der Menschlichkeit. Die Selbstbehauptung des Rechts gegen das Unrecht, der Sittlichkeit gegen die Barbarei, prägt Ihr Lebenswerk. Ebenso kennzeichnend ist aber auch Ihre Bereitschaft, auf die Angehörigen der nichtjüdischen Bevölkerungsmehrheit in Deutschland zuzugehen, aus deren Mitte jene hervorgingen, unter denen Ihre Familie und Sie selbst Furchtbares leiden mußten. Lieber Simon Wiesenthal, wir brauchen das Zeugnis und das Vorbild von Menschen wie Ihnen. Die Mehrzahl der heute in der Bundesrepublik lebenden Deutschen hat nie etwas anderes gekannt als Frieden, Freiheit und Wohlstand. Und das ist auch gut so. Doch werden sie den Wert dieser Güter nur dann wirklich zu schätzen wissen, wenn die Erinnerung daran wachbleibt, was eine Gewaltherrschaft, was Not und Verfolgung, Krieg und Unfreiheit konkret bedeuten. Ich denke übrigens, daß gerade meiner Generation dabei eine besondere Verantwortung zukommt. Die Angehörigen dieser Generation - ich selbst bin 1930 geboren — waren zu jung, um selbst in Schuld verstrickt zu werden — aber auch alt genug, um die Schrecken der Gewaltherrschaft und das Leid des Kriege^ wahrzunehmen. Dies erlegt uns eine besondere Verpflichtung auf. Es bewahrt uns aber auch vor Überheblichkeit: Die Menschen stehen in unserem freiheitlichen Gemeinwesen nicht mehr vor der Alternative, entweder durch Wegschauen oder Mitmachen in Schuld verstrickt zu werden oder aber durch Auflehnung sich und andere in Gefahr zu bringen. Unter der Herrschaft des Rechts bleibt ihnen jene furchtbare Bewährungsprobe erspart. Dieses Wissen lehrt uns Bescheidenheit. Es lehrt uns Dankbarkeit dafür, daß wir unter der freiheitlichsten Verfassung leben dürfen, die es in der deutschen Geschichte je gegeben hat. ,Die Würde des Menschen ist unantastbar'. Dieser Satz aus dem ersten Artikel unseres Grundgesetzes, das vor bald 40 Jahren in Kraft trat, ist unsere Antwort auf die Menschenverachtung der Nationalsozialisten. Er ist damit auch unsere Antwort auf den Holocaust. So haben ihn jene Männer und Frauen verstanden, die damals die Fundamente eines neuen Deutschlands legten - eines Deutschlands, das nach den Schrecken der Barbarei wieder zu seinen humanen Traditionen zurückfinden sollte. Auf diesem Weg haben uns auch jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger geholfen, die nach 1945 im Blick auf die Zukunft bereit waren, zum Aufbau unseres freiheitlichen Gemeinwesens beizutragen. Wie können wir nach alledem - und das ist die heute entscheidende Frage — unseren Kindern und Enkeln ein Bewußtsein für den Wert dieses unschätzbaren Erbes vermitteln? Gerade auch für die jungen Deutschen ist es nämlich nicht einfach, sich mit einem Vaterland zu identifizieren — oder es gar zu lieben —, das mit dem Stigma des Holocaust behaftet ist. Andererseits ist es im Interesse der demokratischen Stabilität unseres Landes von allergrößter Bedeutung, den jungen Menschen bei uns das Bewußtsein zu vermitteln, einem Volk anzugehören, das der Menschheit in seiner Geschichte auch viel Gutes geschenkt hat und das heute dort, wo es 432

44 Bundeskanzler Helmut Kohl zu Wiesenthals 80. Geburtstag seinen Weg selbst bestimmen kann, anerkanntes Mitglied in der großen Familie freier Völker ist. Es geht darum, daß sich der Patriotismus der jungen Deutschen untrennbar mit den Werten von Freiheit, Pluralismus und Demokratie verbindet. Es geht darum, daß bei uns der antitotalitäre Grundkonsens erhalten bleibt und gefestigt wird, der die einzig richtige Antwort auf die schrecklichen Erfahrungen dieses Jahrhunderts war und ist. Freiheitsliebe und Lebensbejahung unserer jungen Generation sind wie ein kostbarer Schatz, den es zu bewahren und zu schützen gilt. Und dazu tragen Menschen wie Sie, lieber Simon Wiesenthal, entscheidend bei. Wir werden den Weg in eine bessere Zukunft nur gemeinsam finden können. Sie, lieber Simon Wiesenthal, gehen diesen oft noch steinigen und dornigen Weg mit uns. Dafür werden wir Deutschen Ihnen immer zu Dank verpflichtet sein."

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