Der Cliffhanger und die serielle Narration: Analyse einer transmedialen Erzähltechnik [1. Aufl.] 9783839429761

The so-called cliffhanger, that is, the narrative technique of interrupting a serial narration at a suspenseful moment,

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Der Cliffhanger und die serielle Narration: Analyse einer transmedialen Erzähltechnik [1. Aufl.]
 9783839429761

Table of contents :
Inhalt
I. Die Poesie der Unterbrechung
1. Einleitung
2. Text und Kontext – Cliffhanger und serielle Narration
3. Allgemeine Methoden
4. Allgemeiner Textaufbau
5. Kapitelaufbau
II. Vorüberlegungen: Der Cliffhanger und die serielle Narration
1. Der Cliffhanger
1.1 Wortherkunft
1.2 Bisherige Forschung
1.3 Fazit
2. Eine Annäherung an die serielle Narration
2.1 Der schlechte Beigeschmack der Worte ‚Serie‘ und ‚Serialität‘
2.2 Was aber ist serielle Narration?
2.3 Der serielle Textbegriff: Mikro- und Makrotext
2.4 Die Erzählprinzipien ‚Episodennarration‘ und ‚Fortsetzungsnarration‘
2.5 Über das Verhältnis zwischen Spannung und Auflösung
2.6 ‚Mit der Erzählung leben‘: Wirkungsästhetik von Fortsetzungsnarration
2.7 Der ‚aktivierte‘ Rezipient oder: Serielle Fortsetzungsnarration als Droge
2.8 Der Cliffhanger und seine Rolle in der seriellen Fortsetzungsnarration
III. Begriffe und Methoden
1. Medien und ihre Eigenheiten
1.1 Wie kommunizieren Medien eine Erzählung?
1.2 ‚The medium is not the message, the medium is its own context‘
1.3 Inter- und Transmedialität
1.4 Ein Versuch einer transmedialen Erzählmethode
1.5 Narratologie
2. Werkzeugkasten
2.1 Kontext: Gründe für einen Werkzeugkasten
2.2 Vorausweisende Erzähltechniken
3. Zeitliche Strukturen (eigenes Werkzeug)
3.1 Werkzeug Nr. 2: Nicht-diegetische zeitliche Begriffe der seriellen Narration
3.2 Werkzeug 3: Diegetische zeitliche Begriffe der Unterbrechung und Fortsetzung
4. Statt eines Fazits: Arbeitsdefinition des Cliffhangers
IV. 1001 Nacht – Der Ursprung des Cliffhangers?
1. Kontext
1.1 Einleitung: Warum 1001 Nacht?
1.2 Der Inhalt der Rahmenhandlung von 1001 Nacht
2. Die Unterbrechungsmomente
2.1 Deskription
2.2 Übersetzungsvergleich
2.3 Analyse
2.4 Resümee: Eine erste Cliffhanger-Kategorisierung
3. Die Funktion der Unterbrechungsmomente in 1001 Nacht
3.1 Die inhaltliche Funktion
3.2 Die strukturelle Funktion
4. Fazit und Ausblick
4.1 1001 Nacht als Stellvertreter oraler Literatur – eine Spurensuche
4.2 Die Bedeutung des Cliffhangers in der oralen Erzählpraxis
4.3 Fazit und Ausblick: Die ersten Cliffhanger?
V. Viktorianische Fortsetzungsromane
1. Kontext: Vorgeschichte und Vorläufer
1.1 Begründung der Eingrenzung und Auswahl
1.2 Veröffentlichungspraktiken im England des 18. Jahrhunderts
1.3 Die Vorläufer des englischsprachigen Fortsetzungsromans
2. Shilling numbers: Charles Dickens' serielle Veröffentlichungen
2.1 The Pickwick Papers und der Weg zur Fortsetzung
2.2 Oliver Twist und der Binnencliff
2.3 Bleak House: Der vorausdeutende Cliffhanger mit langer Spannbreite
2.4 Dickens’ Gebrauch serieller Erzähltechniken
3. Der triple-decker: George Eliot
3.1 Kontext: Triple-deckers und circulating libraries
3.2 The Mill on the Floss
4. Romane in Zeitschriften: Wilkie Collins und Thomas Hardy
4.1 The Woman in White: Wilkie Collins hält seine Leser in Atem
4.2 A Pair of Blue Eyes – der Ursprung der Bezeichnung?
5. Fazit und Ausblick
5.1 Der Einsatz von Cliffhangern im viktorianischen Fortsetzungsroman
5.2 Wegweisungen
5.3 Ausblick
5.4 Aktualisierung der Cliffhangerkategorien
VI. Französische Feuilletonromane
1. Kontext
1.1 1836–1848: Ökonomischer Entstehungsimpuls
1.2 1848–1863: Der schlechte Ruf des Feuilletonromans
2. Alexandre Dumas: Les Trois Mousquetaires
2.1 Einleitung
2.2 Erzählunterbrechungen
2.3 Resümee und Schlussfolgerungen
3. Fazit und Ausblick
VII. Kinoserien
1. Kontext
1.1 Einleitung: „Die unterbrochene Schöpfung“
1.2 Der Weg zur Kinoserie
1.3 Die Kinoserie: Technische, kulturelle und marktwirtschaftliche ‚Brücke‘
2. Die 1910er Jahre
2.1 Literatur als Inspiration: What happened to Mary
2.2 Französische Inspiration? – Juve contre Fantômas
2.3 Serial-Queen Melodramas – The Perils of Pauline und Co
2.4 Resümee
3. Die 1920er Jahre
3.1 Gefahrensituative Cliffhanger
3.2 Pulp-Veröffentlichung und Kinoserie ? ein Vergleich von Tarzan and the Jewels of Opar und Tarzan the Tiger
3.3 Resümee
4. Die 1930er Jahre
4.1 Kontext
4.2 Flash Gordon
4.3 Comic und Kinoserie ? ein Vergleich am Beispiel von Dick Tracy
4.4 Radiohörspiel und Kinoserie: The Lone Ranger
5. Die 1940er und 1950er Jahre
5.1 The Phantom – Erzählwandel
5.2 Radar Men from the Moon – „That isn’t what happened last week!“
5.3 Ausklang: Das Ende der Kinoserie
6. Fazit und Ausblick
6.1 Gefahrensituative Cliffhanger
6.2 Die Kinoserie ? „Bastard of art“
VIII. Seifenopern
1. Kontext
1.1 Einleitung
1.2 Historischer Hintergrund: Die Heirat zwischen Werbung und Narration
2. Seifenopern der 1930er–1950er Jahre
2.1 Myrt and Marge (27.12.1937)
2.2 The Guiding Light (1949?1950)
2.3 Zweifache Serialität und die Kategorien des Mini- und Binnencliffs im Rundfunk
2.4 Resümee und Ausblick
3. Seifenopern der 1950er–1970er Jahre
3.1 Kontext
3.2 The Guiding Light (04.04.1953)
3.3 Love of Live (20.03.1953)
3.4 As the World Turns (29.03.1962)
3.5 Resümee und Ausblick
4. Seifenopern der 1970er–1990er Jahre
4.1 Guiding Light (15.11.1989)
5. Prime-time-soap: Kostspielige Oper ohne Seife
5.1 Die Macht des Cliffhangers: Dallas' „Who shot JR?“ (21.03.1980)
6. Fazit und Ausblick
6.1 Recap der bisherigen Resümees
6.2 Eine neue Form der seriellen Narration
IX. Moderne (Fernseh-)Serien
1. Kontext
1.1 Einleitung
1.2 Hintergründe: Das US-amerikanische Broadcasting-System
1.3 HBO und the third golden age of television
1.4 Distributionsveränderungen: Fernsehserien ohne Fernsehen
1.5 Technik- und Rezeptionsveränderungen
2. Erzähltypen und Erzählmittel
2.1 Der gefahrensituative Cliffhanger: Braquo
2.2 Der enthüllende Cliffhanger: 24
2.3 Der vorausdeutende Cliffhanger: Sleeper Cell
3. Die Poesie und Kraft der Vorausdeutung
3.1 The Wire
3.2 Deadwood
3.3 Resümee
4. Serielle Erzähltradition und Mischtypen: Game of Thrones
4.1 Die Gefahren-Wende (Folge 1)
4.2 Die Voraus-Wende (Folge 2)
4.3 Der vorausdeutende Cliffhanger (Folge 3)
4.4 Vergleich mit der Vorlage
4.5 Resümee: Literaturverfilmung mit großer Erzählbreite
5. Zeitsprünge und Positionswechsel
5.1 Der proleptische Minicliff mit ergänzendem Auflösungsmoment: Alias
5.2 Cliffhanger und proleptische cold open in Breaking Bad
5.3 Resümee: cold open, Prolepse und Cliffhanger
6. Finalecliffs
6.1 Der Finalecliff in der Episodenserie: Spooks
6.2 Der selbstreflexive (und aktivierende) Finalecliff: Sherlock
6.3 Der (selbstreflexive und) aktivierende Finalecliff: Sherlock
6.4 Resümee: Convergence Culture und Postmoderne
7. Fazit und Ausblick
X. Ausblick: In der Zukunftwird die Vergangenheit wiederholt
1. On-Demand: Netflix, Web-Serien und House of Cards
2. E-Book: Amazon, Kindle-Serials und Option to Kill
3. Digital Download: Videospiel, Game-Series und The Walking Dead
4. Fazit und Ausblick
XI. Schlussfolgerungen
1. Der Cliffhanger…
1.1 Wirkung
1.2 Erzählformen
1.3 Erzähltypen
1.4 Erzählmittel und Erkenntnisse aus der transmedialen Vergleichsanalyse
1.5 Resümee und Kategorisierungsübersicht
2. …und die serielle Narration
2.1 Serielle Narration im ökonomischen Spannungsfeld zwischen Produktion, Distribution und Rezeption
2.2 Serielle Narration und die Einführung von technischen Medien
2.3 Geschichte und Charakteristik der seriellen Narration und des Cliffhangers
3. Ende und Öffnung
XII. Quellenverzeichnis
1. Primärliteratur
2. Fernsehen und Webserien
3. Filme, Kino- und Miniserien
4. Musik, Hörspiele, Computerspiele und Comics
5. Theorie und Sekundärliteratur
XIII. Anhang

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Vincent Fröhlich Der Cliffhanger und die serielle Narration

Edition Medienwissenschaft

Vincent Fröhlich (M.A.) lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienkomparatistik, serielle Narration und »1001 Nacht«.

Vincent Fröhlich

Der Cliffhanger und die serielle Narration Analyse einer transmedialen Erzähltechnik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Die Denver-Damen im Schleier Schahrasads. Dank an Ralf König (Köln, 2007) für die maßangefertigte Zeichnung. © Vincent Fröhlich Lektorat & Satz: Vincent Fröhlich Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2976-7 PDF-ISBN 978-3-8394-2976-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Meiner Schahrasad und den zwei Jungs, die sie mir schenkte während der mehr als 1001 Nächte an dieser Publikation.

Die vorliegende Studie ist eine Überarbeitung meiner Dissertation Der Cliffhanger. Formen und Funktionen einer kultur- und medienübergreifenden Erzähltechnik, die im Juni 2014 vom Fachbereich 05 der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommen wurde. Besonderer Dank gilt meinen beiden Betreuerinnen, Prof. Dr. Annette Simonis und Prof. Dr. Lisa Gotto, die geduldig und kritisch die Arbeit begleitet haben und den Mut hatten, dieses Thema anzunehmen. Sehr wichtige Impulse, Kritik, Korrekturen und Anregungen habe ich zudem erhalten von Prof. Dr. Dr. h. c. Eberhard Lämmert, Dr. Matthias Däumer, Regine Leitenstern, Maren Scheurer, meinem Schwiegervater Michael Mertes und meinen Eltern Reinhard und Antje Bettina Fröhlich. Ohne meine Frau, Elisabeth Mertes, hätte ich diese Arbeit sicherlich nicht schreiben können. Ihr danke ich für den finanziellen Rückhalt, für die Diskussionen, Spaziergänge, für ihren klaren Verstand, das gute Zureden, die Hilfe beim Überwinden der großen Zweifel ‒ und zuletzt auch dafür, dass diese persönliche Arbeit nicht zu persönlich geworden ist. Dank gilt auch meinen beiden Söhnen Hannes und Lovis, die beide geduldig im Tragetuch, im Betrieb meiner Frau und an anderen (eigentlich Baby- und Doktorarbeit-untauglichen) Orten ihren Papa mit dieser Dissertation teilen mussten. Ein Großteil des Aufwandes für diese Studie besteht aus der Recherche zu den seriellen Erstveröffentlichungen. Ich bedanke mich bei allen, die mir im Verlauf der Jahre in Bibliotheken, Archiven, in Chat-Rooms und über E-Mail Informationen und Kopien beschafft und mir Teile der Geschichte der seriellen Narration offengelegt haben. Bei der Arbeit zum Kapitel über 1001 Nacht danke ich Dr. Hassan Wassouf. Es gebührt großer Dank Prof. Dr. Ulrike Stehli-Werbeck, die mir stets eine unermüdliche und verlässliche Ratgeberin war. Bei der Suche nach Quellen zu dem arabischen Berufserzähler ḥakawātī half mir Prof. Dr. Heinz Grotzfeld. Die Recherche zum viktorianischen Fortsetzungsroman haben vor allem erleichtert: Prof. Dr. Mark W. Cronin, Prof. Dr. Jeremy Tambling, Prof. Dr. Norbert Lennartz, Prof. Dr. David Paroissien, Prof. Dr. Michael Hollington und Dr. Andrea Stiebritz. Hilfreich bei der Forschung zu den Kinoserien und deren Beschaffung waren: Das UCLA Film&Television Archive, Dr. Grood vom Serialsquadron und Tom Meyers. Die detaillierte Analyse der pulp-Ausgabe von Tarzan and the Jewels of Opar wäre nicht ohne die äußerst engagierte Vermittlung von Bill Hillman und den Usern von www.ERBzine. com möglich gewesen. Vor allem aber bedanke ich mich für die großzügige Bereitstellung der Originalausgaben bei George T. McWhorter. Dank gilt auch dem Forum von „Artagnan. Die Seite für Dumas Liebhaber“ und bei Recherche und Beschaffung von Seifenopern dem Museum of Broadcast Communications und den Betreibern von http://www.otrcat.com/. Entgegenkommend bei der Recherche waren zudem Christiane Eulig, Uschi Rühle und Christof Schöbel von der Filmbibliothek des deutschen Filminstituts (Frankfurt a. M.) und die geduldigen Mitarbeiter der Bibliothek der deutschen Kinemathek in Berlin. Bei der Betrachtung von Kinoserien stand mir Michael Schurig vom Filmarchiv Wiesbaden zur Seite.

Inhalt

I. Die Poesie der Unterbrechung | 15

1. 2. 3. 4. 5.

Einleitung | 15 Text und Kontext – Cliffhanger und serielle Narration | 18 Allgemeine Methoden | 22 Allgemeiner Textaufbau | 25 Kapitelaufbau | 27

II. Vorüberlegungen: Der Cliffhanger und die serielle Narration | 31

1. Der Cliffhanger | 31 1.1 Wortherkunft | 31 1.2 Bisherige Forschung | 36 1.3 Fazit | 46 2. Eine Annäherung an die serielle Narration | 47 2.1 Der schlechte Beigeschmack der Worte ‚Serie‘ und ‚Serialität‘ | 47 2.2 Was aber ist serielle Narration? | 57 2.3 Der serielle Textbegriff: Mikro- und Makrotext | 60 2.4 Die Erzählprinzipien ‚Episodennarration‘ und ‚Fortsetzungsnarration‘ | 61 2.5 Über das Verhältnis zwischen Spannung und Auflösung | 66 2.6 ‚Mit der Erzählung leben‘: Wirkungsästhetik von Fortsetzungsnarration | 81 2.7 Der ‚aktivierte‘ Rezipient oder: Serielle Fortsetzungsnarration als Droge | 84 2.8 Der Cliffhanger und seine Rolle in der seriellen Fortsetzungsnarration | 91 III. Begriffe und Methoden | 93

1. Medien und ihre Eigenheiten | 93 1.1 Wie kommunizieren Medien eine Erzählung? | 93 1.2 ‚The medium is not the message, the medium is its own context‘ | 95 1.3 Inter- und Transmedialität | 98 1.4 Ein Versuch einer transmedialen Erzählmethode | 102 1.5 Narratologie | 110 2. Werkzeugkasten | 111 2.1 Kontext: Gründe für einen Werkzeugkasten | 111 2.2 Vorausweisende Erzähltechniken | 112

3. Zeitliche Strukturen (eigenes Werkzeug) | 116 3.1 Werkzeug Nr. 2: Nicht-diegetische zeitliche Begriffe der seriellen Narration | 116 3.2 Werkzeug 3: Diegetische zeitliche Begriffe der Unterbrechung und Fortsetzung | 122 4. Statt eines Fazits: Arbeitsdefinition des Cliffhangers | 127 IV. 1001 Nacht – Der Ursprung des Cliffhangers? | 129

1. Kontext | 130 1.1 Einleitung: Warum 1001 Nacht? | 130 1.2 Der Inhalt der Rahmenhandlung von 1001 Nacht | 136 2. Die Unterbrechungsmomente | 137 2.1 Deskription | 137 2.2 Übersetzungsvergleich | 141 2.3 Analyse | 147 2.4 Resümee: Eine erste Cliffhanger-Kategorisierung | 149 3. Die Funktion der Unterbrechungsmomente in 1001 Nacht | 155 3.1 Die inhaltliche Funktion | 155 3.2 Die strukturelle Funktion | 158 4. Fazit und Ausblick | 162 4.1 1001 Nacht als Stellvertreter oraler Literatur – eine Spurensuche | 162 4.2 Die Bedeutung des Cliffhangers in der oralen Erzählpraxis | 168 4.3 Fazit und Ausblick: Die ersten Cliffhanger? | 172 V. Viktorianische Fortsetzungsromane | 179

1. Kontext: Vorgeschichte und Vorläufer | 179 1.1 Begründung der Eingrenzung und Auswahl | 179 1.2 Veröffentlichungspraktiken im England des 18. Jahrhunderts | 182 1.3 Die Vorläufer des englischsprachigen Fortsetzungsromans | 188 2. Shilling numbers: Charles Dickensʼ serielle Veröffentlichungen | 192 2.1 The Pickwick Papers und der Weg zur Fortsetzung | 192 2.2 Oliver Twist und der Binnencliff | 207 2.3 Bleak House: Der vorausdeutende Cliffhanger mit langer Spannbreite | 212 2.4 Dickens’ Gebrauch serieller Erzähltechniken | 219 3. Der triple-decker: George Eliot | 223 3.1 Kontext: Triple-deckers und circulating libraries | 223 3.2 The Mill on the Floss | 225 4. Romane in Zeitschriften: Wilkie Collins und Thomas Hardy | 227 4.1 The Woman in White: Wilkie Collins hält seine Leser in Atem | 227 4.2 A Pair of Blue Eyes – der Ursprung der Bezeichnung? | 235

5.

Fazit und Ausblick | 245 5.1 Der Einsatz von Cliffhangern im viktorianischen Fortsetzungsroman | 245 5.2 Wegweisungen | 247 5.3 Ausblick | 255 5.4 Aktualisierung der Cliffhangerkategorien | 257

VI. Französische Feuilletonromane | 261

1.

2.

3.

Kontext | 262 1.1 1836–1848: Ökonomischer Entstehungsimpuls | 262 1.2 1848–1863: Der schlechte Ruf des Feuilletonromans | 268 Alexandre Dumas: Les Trois Mousquetaires | 270 2.1 Einleitung | 270 2.2 Erzählunterbrechungen | 272 2.3 Resümee und Schlussfolgerungen | 275 Fazit und Ausblick | 278

VII. Kinoserien | 285

1.

2.

3.

4.

5.

Kontext | 286 1.1 Einleitung: „Die unterbrochene Schöpfung“ | 286 1.2 Der Weg zur Kinoserie | 289 1.3 Die Kinoserie: Technische, kulturelle und marktwirtschaftliche ‚Brücke‘ | 297 Die 1910er Jahre | 301 2.1 Literatur als Inspiration: What happened to Mary | 301 2.2 Französische Inspiration? – Juve contre Fantômas | 308 2.3 Serial-Queen Melodramas – The Perils of Pauline und Co. | 314 2.4 Resümee | 320 Die 1920er Jahre | 327 3.1 Gefahrensituative Cliffhanger | 327 3.2 Pulp-Veröffentlichung und Kinoserie ‒ ein Vergleich von Tarzan and the Jewels of Opar und Tarzan the Tiger | 330 3.3 Resümee | 342 Die 1930er Jahre | 343 4.1 Kontext | 343 4.2 Flash Gordon | 344 4.3 Comic und Kinoserie ‒ ein Vergleich am Beispiel von Dick Tracy | 347 4.4 Radiohörspiel und Kinoserie: The Lone Ranger | 353 Die 1940er und 1950er Jahre | 357 5.1 The Phantom – Erzählwandel | 357 5.2 Radar Men from the Moon – „That isn’t what happened last week!“ | 360 5.3 Ausklang: Das Ende der Kinoserie | 364

6.

Fazit und Ausblick | 365 6.1 Gefahrensituative Cliffhanger | 365 6.2 Die Kinoserie ‒ „Bastard of art“ | 368

VIII. Seifenopern | 373

1.

2.

3.

4. 5. 6.

Kontext | 373 1.1 Einleitung | 373 1.2 Historischer Hintergrund: Die Heirat zwischen Werbung und Narration | 378 Seifenopern der 1930er–1950er Jahre | 390 2.1 Myrt and Marge (27.12.1937) | 390 2.2 The Guiding Light (1949‒1950) | 395 2.3 Zweifache Serialität und die Kategorien des Mini- und Binnencliffs im Rundfunk | 397 2.4 Resümee und Ausblick | 399 Seifenopern der 1950er–1970er Jahre | 403 3.1 Kontext | 403 3.2 The Guiding Light (04.04.1953) | 406 3.3 Love of Live (20.03.1953) | 409 3.4 As the World Turns (29.03.1962) | 410 3.5 Resümee und Ausblick | 414 Seifenopern der 1970er–1990er Jahre | 417 4.1 Guiding Light (15.11.1989) | 421 Prime-time-soap: Kostspielige Oper ohne Seife | 429 5.1 Die Macht des Cliffhangers: Dallasʼ „Who shot JR?“ (21.03.1980) | 431 Fazit und Ausblick | 442 6.1 Recap der bisherigen Resümees | 442 6.2 Eine neue Form der seriellen Narration | 445

IX. Moderne (Fernseh-)Serien | 451

1.

2.

3.

Kontext | 451 1.1 Einleitung | 451 1.2 Hintergründe: Das US-amerikanische Broadcasting-System | 455 1.3 HBO und the third golden age of television | 457 1.4 Distributionsveränderungen: Fernsehserien ohne Fernsehen | 466 1.5 Technik- und Rezeptionsveränderungen | 471 Erzähltypen und Erzählmittel | 474 2.1 Der gefahrensituative Cliffhanger: Braquo | 474 2.2 Der enthüllende Cliffhanger: 24 | 478 2.3 Der vorausdeutende Cliffhanger: Sleeper Cell | 484 Die Poesie und Kraft der Vorausdeutung | 488

4.

5.

6.

7.

3.1 The Wire | 489 3.2 Deadwood | 495 3.3 Resümee | 504 Serielle Erzähltradition und Mischtypen: Game of Thrones | 507 4.1 Die Gefahren-Wende (Folge 1) | 509 4.2 Die Voraus-Wende (Folge 2) | 510 4.3 Der vorausdeutende Cliffhanger (Folge 3) | 512 4.4 Vergleich mit der Vorlage | 514 4.5 Resümee: Literaturverfilmung mit großer Erzählbreite | 516 Zeitsprünge und Positionswechsel | 518 5.1 Der proleptische Minicliff mit ergänzendem Auflösungsmoment: Alias | 518 5.2 Cliffhanger und proleptische cold open in Breaking Bad | 523 5.3 Resümee: cold open, Prolepse und Cliffhanger | 536 Finalecliffs | 538 6.1 Der Finalecliff in der Episodenserie: Spooks | 538 6.2 Der selbstreflexive (und aktivierende) Finalecliff: Sherlock | 542 6.3 Der (selbstreflexive und) aktivierende Finalecliff: Sherlock | 550 6.4 Resümee: Convergence Culture und Postmoderne | 562 Fazit und Ausblick | 564

X. Ausblick: In der Zukunft wird die Vergangenheit wiederholt | 569

1. 2. 3. 4.

On-Demand: Netflix, Web-Serien und House of Cards | 569 E-Book: Amazon, Kindle-Serials und Option to Kill | 573 Digital Download: Videospiel, Game-Series und The Walking Dead | 575 Fazit und Ausblick | 577

XI. Schlussfolgerungen | 579

1. Der Cliffhanger… | 579 1.1 Wirkung | 579 1.2 Erzählformen | 582 1.3 Erzähltypen | 585 1.4 Erzählmittel und Erkenntnisse aus der transmedialen Vergleichsanalyse | 598 1.5 Resümee und Kategorisierungsübersicht | 602 2. …und die serielle Narration | 605 2.1 Serielle Narration im ökonomischen Spannungsfeld zwischen Produktion, Distribution und Rezeption | 605 2.2 Serielle Narration und die Einführung von technischen Medien | 608

3.

2.3 Geschichte und Charakteristik der seriellen Narration und des Cliffhangers | 609 Ende und Öffnung | 613

XII. Quellenverzeichnis | 617

1. 2. 3. 4. 5.

Primärliteratur | 617 Fernsehen und Webserien | 619 Filme, Kino- und Miniserien | 621 Musik, Hörspiele, Computerspiele und Comics | 622 Theorie und Sekundärliteratur | 623

XIII. Anhang | 663

I. Die Poesie der Unterbrechung „[L]a double fonction de la fin dʼun roman [est]: fermer la diégèse, ouvrir la réflexion.“ DEBRAY GENETTE: „COMMENT FAIRE UNE FIN (UN CŒUR SIMPLE)“.

IN: METAMORPHOSES DU RECIT,

1988, S. 112.

1. E INLEITUNG In dem Computerspiel The Last of Us ist die Menschheit einer furchtbaren Seuche anheimgefallen – Weltordnung und Zivilisation sind dabei sich aufzulösen. Rettung könnte die 14jährige Ellie bringen: Zwar wurde sie von dem tödlichen Pilz befallen, doch hat ihr Immunsystem Antikörper gegen die Seuche gebildet. Von Joel, dem erfahrenen Schwarzmarkthändler wird sie zu einer Untergrundgruppe begleitet, wo man mithilfe ihres Blutes vielleicht ein Heilmittel herstellen kann. Im Auto dorthin unterwegs ruft Ellie wütend: Ellie:

Shit!

Joel:

What?

Ellie:

This is actually not a bad read. [Zeigt auf ein Comicheft in ihrer Hand, das die beiden auf der Straße gefunden haben.] The only problem is: [Richtet ihren Finger auf die Comicseite und die unten stehende Schrift] ‚To be continued‘. [Genervt:] Man, I hate cliffhangers.

Der Cliffhanger ist der Begriff für eine Erzähltechnik, bei der in einem Moment großer Spannung die serielle Erzählung unterbrochen wird, um den Leser, Zuschauer oder Hörer1 zu veranlassen, die Fortsetzung herbeizusehnen und diese dann später zu

1

Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form gemeint.

16 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION

rezipieren. Gemeinhin gilt diese Erzähltechnik als enervierend, frustrierend oder sogar niederträchtig, da man beim Genuss serieller Werke unterbrochen und dann gezwungen wird, erneut zu rezipieren, um die Auflösung zu erfahren. In einer untergehenden Welt, wie der von Ellie und Joel, birgt serielle Narration, die Teilung von Texten, natürlich eine noch größere Frustration, denn höchst wahrscheinlich werden die zwei Hauptfiguren in der sich auflösenden Zivilisation die Fortsetzung des Comics nicht mehr aufspüren können. Die zerstörte Weltordnung umfasst auch die bei der seriellen Narration essentiellen Distributionswege. Zu diesen und ökonomischen Gesichtspunkten steht der Cliffhanger in Verbindung – wie das Beispiel ebenfalls zeigt. Zudem wird die Erzähltechnik mit ‚trivialen‘ Genres und Formaten wie der Seifenoper oder dem Comic assoziiert, die verstärkt auf den Cliffhanger setzen und ihn überaus deutlich verwenden. Dem gegenüber steht das Anfangszitat, in dem das Ende als Kontemplationsraum gesehen wird – und der Cliffhanger ist letztendlich auch eine Art der Schlussgebung. Es gilt, diese verschiedenen Bestandteile und Perspektiven auf den Cliffhanger zu vereinen: Einerseits die ökonomischen, produktionsästhetischen und distributorischen Hintergründe zu berücksichtigen, andererseits Poesie und Spielarten der Unterbrechung nicht aus den Augen zu verlieren. Der Cliffhanger als Forschungsobjekt bietet die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Horizonterweiterung im Hinblick auf Narration. Zahlreiche der in dieser Studie berücksichtigen Werke sind kaum bekannt oder nur in ihrem späteren, nicht-seriellen Erscheinungsbild. Serialität bildet in den Einzelbetrachtungen dieser Werke meist nur eine Fußnote. Das Aufsuchen der seriellen Erstveröffentlichung war eine große Herausforderung, aber auch eine Chance: In den Sekundärtexten ließen sich gelegentlich Behauptungen finden, die sich bei der Betrachtung des seriellen Textes nicht bewahrheitet haben. Außerdem sind etliche dieser Werke weniger ‚trivial‘, als man annehmen mag. Folgt man der Spur des Cliffhangers, gelangt man zu den Rhapsodien, zu 1001 Nacht, zu oraler Literatur, zu den Fortsetzungsromanen von Charles Dickens und Wilkie Collins, den Feuilletonromanen von Alexandre Dumas und Eugène Sue, zu den Kinoserien der 1930er bis 1950er, zu Comics, Hörspielen und schließlich Fernsehserien. Viele narrative Werke erzählen fortgesetzt. Der Cliffhanger ist eine Gelegenheit, anhand des fokussierten Forschungsbereichs einer einzelnen Erzähltechnik auch Einblicke in das wissenschaftlich vernachlässigte große Gebiet der seriellen Fortsetzungsnarration zu erhalten, ja überhaupt erst einmal zu bestimmen, inwiefern man überhaupt von der seriellen Narration als einem Forschungsgegenstand sprechen kann, der eindeutige Charakteristiken und eine Geschichte hat. Annäherung und Beschäftigung mit der seriellen Narration sind besonders wichtig, weil sie in der Gegenwart überraschenderweise einen neuen Stellenwert erlangt hat. Spätestens seit 1999 – mit der Ausstrahlung der Serie The Sopranos über den US-amerikanischen Fernsehsender HBO – herrscht Erstaunen über die ungeheure

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‚erzählerische Potenz‘ serieller Narration.2 Es folgte eine Flut aufwendig produzierter Fernsehserien, die sowohl eine immense Anzahl an komplexen Figuren und Handlungssträngen aufweisen als auch fortgesetzt erzählen, häufig in „epischer Breite“3. Diese neue Art der Fernsehserie wird in den Feuilletons mit Literatur verglichen, gar als „Roman des 21. Jahrhunderts“4 bezeichnet. Viele Filmregisseure, teils dem Arthouse-Kino zugehörig,5 schufen in den letzten Jahren Serien. Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen sprechen von einer narrativen Revolution.6 Ob Revolution oder nicht – die neuen Serien machen sich die althergebrachten Techniken der seriellen Narration zunutze. Die Wissenschaft aber hat die serielle Narration vernachlässigt, abschätzig als profan, als industriell und trivial abgestempelt. Sie kann daher noch nicht aufzeigen, in welch langer Tradition des seriell fortgesetzten Erzählens die neuen Serien stehen. Zu einer Beschäftigung mit dem Cliffhanger gehört entschiedenes Umdenken in Bezug auf die Wertigkeit serieller Narration. Sicherlich kann man wie Ellie ‚Cliffhanger hassen‘, aus Empörung über das Vorenthalten der Spannungsauflösung. Den Cliffhanger als Erzähltechnik ausschließlich auf eine vordergründige, sehr offensichtliche Spannungserzeugung zu reduzieren hieße aber, in alte Muster der Qualitätsunterscheidung und Deklassifizierung von Erzählkunst zu verfallen. Auch Ellie betont: „This is actually not a bad read.“ Wenn auch serielle Fortsetzungsnarration genauso wie andere Narration alles sein kann, von trivial bis zu außerordentlich anspruchsvoll – und gerade die Entdeckung der narrativen Komplexität der neuen TVSerien legt nahe, dass dem so ist –, wird sie auch über Erzähltechniken verfügen, die ein Spektrum von simpel über schlicht bis künstlerisch und intellektuell fordernd umfassen.7 Unterbrechungen vermögen nicht nur zu frustrieren, sondern auch Reflekti-

2

Kelleter: „Serien als Stresstest“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Februar 2012, S.

3

Siehe v. a.: Schneid: Die Sopranos, Lost und die Rückkehr des Epos, 2012.

31. 4

„Der Roman der Gegenwart ist eine DVD-Box: Amerikanische Serien wie The Wire beweisen die Emanzipation einer epischen Form von der Unterhaltungsindustrie und sind längst zum ernsthaften Konkurrenten der Literatur geworden.“ Kämmerlings: „Ein Balzac für unsere Zeit“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Mai 2010, S. 33.

5

Siehe dazu vor allem das Kapitel: „Die moderne (Fernseh-)Serie“, S. 451.

6

Siehe bspw.: Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012. „Dass ausgerechnet Fernsehserien einmal zum letzten großen Innovationsformat der amerikanischen Kulturindustrie werden, dieser Gedanke war vor kurzem noch so abwegig wie die Vorstellung, das anonyme Kollektivtexte im Internet irgendwann den Brockhaus abschaffen.“ Kelleter: „Serien als Stresstest“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Februar 2012, S. 31.

7

Vgl. auch: „The cliffhanger is part of some of the silliest shows on TV; itʼs also key to understanding many of the greatest ones. Itʼs the visceral jolt that’s not so easily detached

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onsräume, Ellipsen, Pausen zu schaffen. Man könnte gegen das Image des Cliffhangers als frustrierende Erzähltechnik argumentieren, in der Fortsetzungsserie werde die Reflexion am Ende der Folge nicht bereits wieder abgeschlossen, sondern erneut angestoßen. Dieser Argumentation folgend regt serielle Fortsetzungsnarration mit ‚anspruchsvollen‘ Cliffhangern im Gegensatz zu nicht-seriellen Texten den Rezipienten immer wieder zum Nachdenken an und zu einem längeren Dialog mit dem Werk. Als Rezipient habe ich Zeit, das Geschehen zu reflektieren und vorauszudenken, ehe die Erzählung wieder aufgenommen wird. Sie kann mir mit dem Cliffhanger Anhaltspunkte geben, meine Phantasie beflügeln, ein Bild einprägen, das ich nicht so schnell vergesse, eine Melodie, die mich in den Alltag begleitet, einen Satz, der haften bleibt: Finis coronat opus. Häufig sind es die Enden, die unser Urteil über ein Werk bestimmen und uns am deutlichsten im Gedächtnis bleiben, die zentrale Themen und Motive in einer Art Essenz noch einmal präsentieren und durch die Dichte des Moments eine ganz eigene Poesie in sich tragen.

2. T EXT UND K ONTEXT – C LIFFHANGER UND SERIELLE N ARRATION Im Kapitel „Bisherige Forschung“ wird gezeigt, dass der Cliffhanger bereits Gegenstand fruchtbarer Einzelanalysen war. Im Folgenden geht es aber um eine diachrone, medienkomparatistische und narratologische Bestimmung des Cliffhangers, da er noch nicht, beziehungsweise erst ansatzweise in seinem transmedialen (gattungs- und medienübergreifenden) Stellenwert für die Erzähltheorie erschlossen wurde. Unterstreichen möchte ich damit, dass ein besseres Verständnis für die serielle Narration und den Cliffhanger meines Erachtens vor allem über die Betrachtung der Entwicklung und Geschichte, das heißt: der Eigenheiten dieses Narrations- und Publikationsformats möglich ist. Es geht dabei nicht um eine kaum zu bewerkstelligende systematische und vollständige Geschichte der seriellen Fortsetzungsnarration oder des Cliffhangers. Sich in der Analyse hingegen von den wichtigsten seriellen Wellen und einigen aussagekräftigen Beispielen leiten zu lassen erscheint mir als gewinnbringende und realisierbare Methode. Nicht also eine Geschichte der seriellen Narration ist das Ziel dieser Arbeit, aber angestrebt wird eine Studie, welche die geschichtliche Dimension der seriellen Narration berücksichtigt und damit besser zu einer differenzierten Definition des Cliffhangers unter Hinzuziehung der Kontexte führt. In der Einzelanalyse der Werke ist es zunächst wichtig, den Cliffhanger an sich zu betrachten, an welcher inhaltlichen Stelle er auftritt (histoire-Ebene) und wie er

from televisionʼs most erudite achievements.“ Nussbaum: „Tune in Next Week“. In: New Yorker, 30. Juli 2012, S. 74.

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gestaltet ist (discours-Ebene). Danach ist der textimmanente Zusammenhang von Bedeutung: Wie wird die Erzählunterbrechung vorbereitet? Zahlreiche Informationen und Andeutungen, Konflikte und Verstrickungen im Handlungs-Vorlauf, aus früheren Episoden, ermöglichen erst eine wirkungsvolle Entfaltung des Cliffhangers. Zusammengefasst: je subtiler der Cliffhanger, desto wichtiger das inhaltliche Verwoben-Sein. Dazu kommt die Frage: Wann wird der Konflikt aufgelöst, beziehungsweise wann wird der Held von der Klippe heraufgezogen? Schon immer ist die Auflösung Teil des Cliffhangers. Erst sie macht den Cliffhanger zu einer Erzählunterbrechung und nicht zu einem (folgenlosen) offenen Ende. Ellie kann die Erzählunterbrechung ihres Comics als Cliffhanger bezeichnen, weil sie anhand des Satzes „to be continued“ erkennt, dass es eine Fortsetzung und damit höchstwahrscheinlich auch eine Auflösung gibt ‒ das heißt, der Computerspieler kann in der untergegangenen Zivilisation von The Last of Us nach dem Comic-Folgeheft suchen und es womöglich in einem der Level finden. Auch für ihn ergibt sich aus der richtigen Aneinanderreihung der Teile eine zusammenhängende (Binnen-)Erzählung. Alle möglichen Formen von Erzählungen sind fester Bestandteil unserer Sozialisierung mit Geschichten. In der heutigen narrativen Welt spielen nicht nur Romane und Filme, sondern auch TV-Serien, Comics, Seifenopern und ebenso Computerspiele eine mehr oder weniger große Rolle. Alle diese Formate erzählen auch seriell Geschichten und verwenden Cliffhanger. Der Cliffhanger ist eine Erzähltechnik, die in den verschiedensten Erzählmedien zu den unterschiedlichsten Zeiten vorkommt und immer von den jeweiligen (Produktions-, Distributions- und Rezeptions-)Faktoren beeinflusst wird. So wie Ellie die Auflösung des Cliffhangers in ihrem Comic nur unter Umständen erfährt, weil die Publikationsform einer vergangenen Ära und deren distributorischen Gegebenheiten angehört, so ist der Cliffhanger immer abhängig von den Erzählmedien und den Epochen, in denen er benutzt wird. Der primäre Kontext des Cliffhangers ist somit die Veröffentlichungsform der seriellen Fortsetzungsnarration. Diese wiederum wird deutlich beeinflusst von den zeitabhängigen Faktoren der Produktion, Distribution und Rezeption. Nicht nur narratologisch, sondern auch produktions- und rezeptionsästhetisch gilt es Zusammenhänge aufzudecken.

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Übersicht 1: Die erste Kontextebene Distribution

Serieller Text

Produktion

Rezeption

Produktion, Distribution und Rezeption wirken auf den seriellen Text ein.

Hinter Produktions-, Distributions- und Rezeptions-Zusammenhängen stehen vor allem ökonomische und mediale Gesichtspunkte, die auf einer zweiten Kontextebene wichtig sind. Auch sie formen die serielle Narration und damit das Umfeld des Cliffhangers. Der Cliffhanger ist eine Erzähltechnik, die den ökonomischen Impuls in einen narrativen übersetzen kann. Der ökonomische Antrieb lautet, der Rezipient solle auch die nächste Ausgabe rezipieren (also meist kaufen). Dies ist ein simpler und wirtschaftlich ‚nackter‘ Gedanke. Er wird in den Cliffhanger übersetzt, der ihn relativ ‚wortgetreu‘ zu einem analog-narrativen Rezeptionsanreiz formt. Ökonomie und Narration gehen eine Verbindung ein. Bei der seriellen Narration ist diese Kombination noch direkter und damit noch weniger zu vernachlässigen als bei der Veröffentlichung einzelner vollständiger Werke. Der wirtschaftliche Erfolg bestimmt über die Fortsetzung einer Narration. Auf diese Weise erhält der Rezipient große Macht. Er entscheidet mit seinem Kauf oder seiner Rezeption zu einem erheblichen Teil, ob etwas seriell wird oder nicht. Die drei Konstanten Produktion, Distribution und Rezeption hängen eng zusammen mit den Medien, ihrem Aufkommen und ihrer Art zu

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erzählen – sie sind daher auch in dieser Studie die steten Begleiter der CliffhangerAnalyse. Übersicht 2: Die zweite Kontextebene

Technische Medien

Systemische Medien

Buch Zeitung Radio Film

Schriftsprache Bildsprache Musiksprache Wortsprache

Narration (Allgemein: Fortsetzungsnarration) spezifische Serie – spezifische Folge – spezifischer Cliffhanger

Formate (Auswahl)

Ökonomie

(Allgemein: Serialität) Vortrag shilling numbers Feuilletonroman Zeitschriften-Roman Radiohörspiel Kinoserie 15-/30-/60-Minüter (Seifenoper) 45-/60-Minüter (TV-Serie)

Bildungsstand Wirtschaftslage Verlage (soziale Medien) Fernsehanstalten (soziale Medien) Produktionsmöglichkeiten Distributionsmöglichkeiten

Ein Modell, das die Einwirkung der verschiedenen Kontext-Bereiche aufeinander aufzeigt.

Gleichzeitig entwickelt sich der Cliffhanger ‒ zunächst von ökonomischen und marktstrategischen Erwägungen motiviert ‒ zu einer autonomen Erzähltechnik, deren poetischer und ästhetischer Stellenwert nicht zu verkennen ist. Anhand der Analysebeispiele lässt sich beobachten, inwieweit sich dieser Kunstgriff zu einer narrativen Form sui generis entfaltet und zu einer teilweise subtilen Ästhetik der Unterbrechung avanciert. Deren spezifische rhetorische, poetische und medienästhetische Eigenheiten medienübergreifend in der historischen Entwicklungsdimension zu erfassen und zu analysieren, ist Ziel der vorliegenden Untersuchung.

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3. ALLGEMEINE M ETHODEN „Ist aber nicht bei genauerer Betrachtung der Vergleich das Richtmaß für jede Form von Wahrheit, die sich entsprechend der abendländischen Tradition als adaequatio rei et intellectus versteht.“ LUTZ U. A.: „EINLEITUNG“. IN: DIES. (HG.): ÄPFEL UND BIRNEN, 2006, S. 10.

Ein Verständnis des Cliffhangers ist nur anhand einer Analyse der Entwicklung und Geschichte dieser Erzähltechnik möglich. Der diachrone Weg ist die einzige Option, diese Tradition aufzudecken. Der Vergleich ist die dabei essentielle, bereits im Namen der Wissenschaft verankerte Methode der Komparatistik.8 „Ein Ding bekommt nur dann eine individuelle Identität, wenn man es mit anderen vergleicht.“9 Durch den Vergleich lassen sich im Kontrast die Eigenheiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der zwei zu vergleichenden Objekte ausmachen – durch diese Methode erlangt der Cliffhanger als Forschungsgegenstand Kontur.10 Die Gegenüberstellung mit anderen Erzähltechniken ermöglicht die Beantwortung der Frage nach der Eigenart des Cliffhangers; der Vergleich von verschiedenen Cliffhangern hilft, Bandbreite und Ausprägungen der Erzähltechnik herauszuarbeiten. Ohne auf die Feinheiten des Vergleichs als wissenschaftliche Methode eingehen zu können, gelten vier sich aus der bisherigen Forschung ergebende Grundsätze: 1. Der Kontext der zwei zu vergleichenden Objekte muss berücksichtigt werden.11

8

Siehe zur Methode des Vergleichens in der Komparatistik: Zelle: „Komparatistik und comparatio ‒ der Vergleich in der Vergleichenden Literaturwissenschaft“. In: Komparatistik (2004/2005), S. 13–34. „Die literarische Komparatistik […] lebt vom interkulturellen Vergleich. Eine ihrer Thesen lautet: Man versteht ein literarisches Phänomen besser, wenn man es im interkulturellen Kontext betrachtet und mit analogen Erscheinungen in anderen Kulturen (Literaturen) vergleicht.“ Zima: Komparatistische Perspektiven, 2011, S. 10. Diese Aussage lässt sich ebenso auf Intermedialität und andere für diese Arbeit wichtige ‚Dialoge‘ erweitern.

9

Aarebrot u. a.: „Die vergleichende Methode in der Politikwissenschaft“. In: Berg-Schlosser u. a. (Hg.): Vergleichende Politikwissenschaft, 2003, S. 57.

10 „Der Vergleich zielt darauf, die jeweilige Eigenart des Verglichenen durch den Kontrast herauszuarbeiten.“ Zelle: „Komparatistik und comparatio ‒ der Vergleich in der Vergleichenden Literaturwissenschaft“. In: Komparatistik (2004/2005), S. 14. 11 Die Kontexte der Vergleichsobjekte müssen beachtet werden, damit keine falschen Schlussfolgerungen über Beziehungen und Ähnlichkeiten sowie falsche Traditionsbezüge

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2. Ein bewusst gewähltes tertium comparationis gibt dem Vergleich eine Bezugsinstanz, die den Vergleich rahmt und eingrenzt.12 3. Ebenso muss aber die begriffliche und umfeldbezogene Konstruktion des tertium comparationis bedacht werden.13 Diese drei Punkte machen offensichtlich, dass ein fundierter wissenschaftlicher Vergleich bereits eine für diese Arbeit so essentielle Kontextualisierung als Prinzip in sich trägt. 4. Der Vergleich sollte über sich selbst hinausweisen.14 Die Mikroanalyse des Cliffhangers sollte auch eine gewisse Aussagekraft über serielle Narration haben.

hergestellt werden. Jürgen Osterhammel gibt in seinem Aufsatz „Zivilisationen im Vergleich“ ein gutes Beispiel, wenn er davor warnt, Strukturähnlichkeiten zwischen westeuropäischer Gesellschaft des Hochmittelalters und Japan auf gegenseitige Beeinflussung zurückzuführen: „Die erstaunlichen Strukturähnlichkeiten zwischen der westeuropäischen Gesellschaft des Hochmittelalters und Japan […] können unmöglich auf Kontakte zwischen Europa und Japan zurückgeführt werden, denn es ist ziemlich sicher, dass kein Europäer vor 1543 japanischen Boden betreten hat.“ Osterhammel: „Zivilisationen im Vergleich“. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde, 28, 1998, S. 35. Osterhammel formuliert Ideale für den Vergleich in der Geschichtswissenschaft, die auch auf die komparatistische Literatur- und Medienwissenschaft übertragbar sind: „Der Vergleich muss beziehungsgeschichtlich abgefedert, bewußte kulturelle Transfers und nicht-intendierte Akkulturationsprozesse müssen aufgespürt, ‚erfundene Traditionen‘ ausfindig gemacht, Mischformen […] entschlüsselt werden.“ Ebd. 12 Der zweite wesentliche Punkt für eine wissenschaftliche Vergleichsanalyse ist das tertium comparationis. Es liefert einen Vergleichsrahmen und Bezugspunkt für eine angemessene Vergleichbarkeit. Zum tertium comparationis empfiehlt sich die Lektüre von Joachim Matthes: „The Operation Called ‚Vergleichen‘“. In: Ders. (Hg.): Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, 1992, S. 75-99. 13 Das dritte zu beachtende Moment im Vergleich ist die Frage nach der Konstruiertheit der Identität bzw. der Bezeichnung der zu vergleichenden Gegenstände oder des tertium comparationis. Ein Beispiel: Vergleicht man Ecos Der Name der Rose mit Süskinds Das Parfum und nimmt als tertium comparationis den von Jean-Francois Lyotard geprägten Begriff der ‚Postmoderne‘ so muss man sich über die Konstruiertheit, Beschaffenheit sowie die unterschiedlichen Auslegungen des Begriffes klar sein. Im Falle des Cliffhangers müssen den Vergleichen eine Hinterfragung und versuchte Definition des Begriffes sowie eine Abgrenzung zu anderen Begrifflichkeiten vorausgehen. Bspw. müssen auch die ‚Katapher‘ (siehe S. 112) und das ‚offene Ende‘ (siehe S. 77) in ihrer Begriffsidentität überprüft werden. 14 „Der Vergleich – welcher Art auch immer – sollte über sich selbst hinausweisen.“ Zima: Vergleichende Wissenschaften, 2000, S. 19.

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Eine hilfreiche generelle Herangehensweise für überzeitliche und übermediale Phänomene ist eine etymologische.15 „Etymology forms part of the wider field of historical linguistic research, that is to say of attempts to explain how and why languages have changed and developed in the ways that they have.“16 Bei einer Übertragung auf die folgende Studie geht es nicht um die Etymologie einer Sprache, sondern um die einer Erzähltechnik. Mit der Frage nach der eigentlichen Wortbedeutung des Phänomens, die am Anfang zahlreicher Überlegungen dieser Arbeit steht, geht man gleichzeitig zu einem vermeintlichen Ursprung zurück; mit der ursprünglichen Bedeutung wird meist auch die theoretische Grundlage des Phänomens geklärt. Auf eine Frage nach der Wortbedeutung folgt die, woher das Phänomen stammt und wie es sich verändert hat.17 Die beiden Grundbetrachtungsweisen der Etymologie, Wortentstehung beziehungsweise Wortbedeutung und Wortgeschichte,18 sind wichtig für den Cliffhanger, aber auch für die Methoden, sich dem Cliffhanger als Erzähltechnik zu nähern. Mit dieser weit gefassten etymologischen Herangehensweise kann man einer Ursprungs- und häufig auch Minimaldefinition nahe kommen, mit der sich trotz aller medialen und zeitlichen Unterschiede der Objekte dieser Studie arbeiten lässt. Gerade in Anbetracht der vielen verschiedenartigen medialen und historischen Kontexte, in denen der Cliffhanger auftritt, muss die Frage immer lauten: Was verbindet diese Kontexte, was ist der kleinste gemeinsame Nenner? Die ‚ursprüngliche‘ Wortbedeutung und der Ursprung einer Methode sind hilfreich, weil im Ursprung meist

15 Genauso könnte man auch von einer genealogischen Herangehensweise (v.a. nach Foucault) sprechen. Die Genealogie ist aber eine von verschiedensten Wissenschaften erörterte und geprägte Methode, die darum einer längeren Herleitung bedürfte – wie bereits die griechischen Bedeutungen des Wortes offenlegen: „Genealogie (gr. genea: Geburt, Abstammung, Geschlecht; gr. logos: Darlegung, Erzählung, Rechnung), durch die Vieldeutigkeit dieser gr. Wörter ergibt sich für das Kompositum G. ein breites begriffliches Spektrum zwischen ‚Herkunftserzählung‘, ‚Entstehungslogik‘ und ‚Gattungslehre‘.“ Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 2008, S. 247. 16 Durkin: The Oxford Guide to Etymology, 2009, S. 2. 17 Die Etymologie bietet sich als Herangehensweise auch an, weil die bereits erwähnte diachrone Betrachtungsweise des Cliffhangers auch wichtiger Teil der Etymologie ist (allerdings mehr, wenn die Wortgeschichte und nicht so sehr, wenn die Wortentstehung nachgezeichnet wird). „Und schließlich gibt es die Möglichkeit, die Sprachen auch in ihrer zeitlichen Entwicklung zu untersuchen – die diachronische Betrachtungsweise, die historisch (nach rückwärts gerichtet) oder prozessual (die Weiterentwicklung von einem bestimmten Stadium aus betrachtend) sein kann. Die Etymologie würde man auf den ersten Blick selbstverständlich in die diachronische Betrachtungsweise einordnen.“ Seebold: Etymologie, 1981, S. 54. 18 Vgl. ebd.

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noch eine unkompliziertere Basis vorhanden ist, die sich mit anderen Disziplinen verknüpfen lässt.19 Grenzüberschreitungen sind Herausforderung dieser Studie. Der Cliffhanger bewegt sich zwischen Epochen-, Medien- und Genregrenzen. Es gilt diese Überschreitungen zu wagen, sich der Grenzen ‚sehenden Auges‘ bewusst, aber sie nicht als feste, unverrückbare Größen hinnehmend. Denn das sind sie nicht.

4. ALLGEMEINER T EXTAUFBAU Die Konzentration der vorliegenden Studie liegt auf den größeren ‚Wellen‘ der seriellen Narration. Jedes große ‚Wellen-Kapitel‘ beschäftigt sich mit der seriellen Fortsetzungsnarration in einer bestimmten Zeit. Bei der Wahl der Primärwerke wurden entweder wichtige erste Werke der spezifischen Narrationswelle, sehr erfolgreiche (die durch ihre Popularität die weitere Benutzung des Cliffhangers geprägt haben) oder im Gebrauch der Erzählunterbrechung besonders innovative Werke herangezogen. Natürlich war wegen zahlreicher verlorener und nicht restaurierter Werke die Vorauswahl eingeschränkt. Eine der großen Herausforderungen bestand darin, die serielle Erstveröffentlichungs-Form der Werke aufzuspüren. Der erste Teil „Bisherige Definitionen“ des am Beginn stehenden großen Kapitels bildet die Basis der Studie. Dort werden die veröffentlichten Texte zum Cliffhanger behandelt; dabei geht es darum, welche bisherigen Thesen zum Cliffhanger vorhanden sind, was kontrolliert werden muss, und welche Fragestellungen und Ziele sich daraus ergeben. Der zweite Teil „Eine Annäherung an die serielle Narration“ beschäftigt sich mit Themen, die dem Cliffhanger benachbart sind – vor allem der seriellen Narration, die gleichsam den natürlichen Lebensraum des Cliffhangers darstellt. Der Cliffhanger ist ein Ende ‒ wenn auch nur ein vorläufiges ‒ an einem spannenden Moment. So bietet sich eine Betrachtung der Themen ‚offenes Ende‘, ‚Abschluss‘, ‚Auflösung‘ und ‚Spannung‘ an – sie ist hilfreich zur genaueren Abgrenzung des Forschungsobjekts. In den bisherigen Texten zum Cliffhanger nehmen Zeitstrukturen einen relativ großen Raum ein, sodass abschließend die Prolepse (Vorwegnahme) und die Katapher (vorausweisendes Element) als mögliches Handwerkszeug dieser Arbeit untersucht werden.20 Im dritten Teil „Begriffe und Methoden“ stehen Überlegungen zu den Möglichkeiten einer transmedialen Vergleichsanalyse und die Besonderheiten der Zeitstrukturen in der seriellen Narration im Vordergrund. Bei der bisherigen Suche nach ‚Gerätschaften‘ (in den zwei vorherigen Kapiteln), war nicht alles zu finden, was für die 19 Für eine ausgeprägte Übertragung der Etymologie auf andere Arbeitsbereiche siehe bspw.: Willer: Poetik der Etymologie, 2003. 20 Siehe zu einer Erklärung beider Begriffe: Kapitel III, 2.2.1., S. 112.

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Analyse brauchbar sein könnte. Deshalb muss zum Teil eigenes Werkzeug geschaffen werden. 1001 Nacht stellt den Beginn dieser Studie dar – und ist sofort ein Sonderfall. Denn erhalten ist nur ein fortlaufender Text, der nur ursprünglich wahrscheinlich serieller Natur war. 1001 Nacht ist trotzdem ein gut geeignetes Forschungsobjekt für die Betrachtung des Cliffhangers, weil der Text die werkexterne Erzählunterbrechung in der Diegese spiegelt. Zudem hatte das Werk eine ungewöhnlich große Wirkung auf die westliche Erzählkunst, die noch heute spürbar ist – einschließlich der innerdiegetischen Erzählunterbrechungen. Um diese Breitenwirkung beurteilen zu können, konzentriere ich mich nicht nur auf die älteste erhaltene Handschrift, sondern schließe die wichtigsten Übersetzungen von 1001 Nacht ein. Denn nicht das Original, sondern hauptsächlich die Übersetzungen wurden gelesen. Der Fortsetzungsroman des 19. Jahrhunderts, eine große Welle der seriellen Narration, wird nach den unterschiedlichen Sprachräumen getrennt analysiert. Den größeren Teil nimmt der viktorianische Fortsetzungsroman ein. Dank der englischen Sprache und des kaufmännischen Geschicks der Verleger war er die wirkungsbreitere Ausformung. Auf den französischen Feuilletonroman fällt daher nur ein Seitenblick. Die Entwicklung der US-amerikanischen Kinoserie wird vorbereitet durch die Fortsetzungsgeschichten in amerikanischen Frauenillustrierten. Besonders pulp-Magazine (preiswerte amerikanische Unterhaltungszeitschriften), Radiohörspiele und Comics wurden zu Inspirationsquellen für die späteren Kinoserien. Deshalb wird allen drei Erzählformaten Aufmerksamkeit gewidmet. Ein wichtiges Genre für den Cliffhanger ist die Seifenoper; mit ihr assoziiert man ihn häufig. Vor allem die Entwicklung der Seifenoper vom einsträngigen, stark Sponsor-gebundenen Radiohörspiel der 1930er Jahre zur mehrsträngigen Fernsehserie der 1980er Jahre wird analysiert. Zusätzlich zur daily soap wird die prime time soap Dallas berücksichtigt. Sie war für das Genre sehr prägend. Ein langes Kapitel bilden die Fernsehserien der vergangenen zehn Jahre, die jüngste und zur Zeit größte Welle der seriellen Fortsetzungsnarration.21 Ein letzter Seitenblick beschäftigt sich mit den Fortsetzungsserien und seriellen Narrationsformaten der Zukunft (bzw. Gegenwart). Hier gibt es zum Beispiel Fortsetzungsromane als E-Books, Computerspiele und on-demand-Serien.

21 Fernsehserien der 1970er bis 1990er Jahre, die sich auf eine fortgesetzte Erzählweise konzentrierten, erhalten hier keine Aufmerksamkeit, da sie im Bereich der dramatischen Fernsehserie Ausnahmen waren.

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5. K APITELAUFBAU Alle Kapitel beschäftigen sich mit Wellen der seriellen Narration, also Zeiten, in denen besonders viele serielle Werke veröffentlicht wurden. Jedes dieser Wellenkapitel ist dreiteilig: Teil eins, genannt „Kontext“, ist eine untergliederte Einleitung, welche die serielle Fortsetzungsnarration in einen zeitspezifischen Zusammenhang bettet – das heißt, der wirtschaftliche und mediale Rahmen sowie die Distributions- und Rezeptionsbedingungen der seriellen Narration zur damaligen Zeit werden aufgezeigt (Kontextebenen eins und zwei). Der zweite Teil jedes Wellenkapitels beinhaltet die Deskriptionen und Analysen einiger „Erzählunterbrechungen“. Die Primärwerke beziehungswiese besonders die Stellen der Erzählunterbrechungen werden jedes Mal kontextualisiert, sodass der Leser die Bedeutung des Werks innerhalb der Zeitspanne des Kapitels, aber auch die Erzählunterbrechung im Inhalt und der Struktur des Werkes einordnen kann. Aufgrund der schwierigen Verfügbarkeit der Primärtexte habe ich versucht, die Cliffhanger in einem „Deskription“ betitelten Teil darzustellen, damit die Kategorisierung des Cliffhangers und die Entwicklung der seriellen Narration nachvollziehbar werden – zudem ist eine rekonstruierte Wirkungsvielfalt des Cliffhangers essentiell. Wem diese Teile überflüssig erscheinen oder wer die Primärtexte samt ihrer Cliffhanger kennt, kann diese Abschnitte überspringen und die Arbeit dennoch verstehen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass diese Deskriptionen nicht nur aufgrund der schlechten Verfügbarkeit der Quellen für den Leser nötig waren, sondern auch, weil wissenschaftliche Texte immer in der (scheinbar selbstverständlichen) Pflicht stehen zu beweisen und zu belegen, statt nur zu behaupten. In der Forschung zur seriellen Fortsetzungsnarration bin ich hingegen immer wieder darauf gestoßen, dass es über diesen Gegenstand viele Vermutungen, aber bisher kaum grundlegende Untersuchungen gibt. Die serielle Narration ist zu einer Art von ‚sagenumwobenem Objekt‘ geworden: Viele scheinen eine Ahnung davon zu haben, was serielle Narration ist und in welchen Werken Cliffhanger vorkommen – an den eigentlichen seriellen Erstveröffentlichungen ist allerdings wenig geforscht worden. Auch dass der Cliffhanger eine Erzähltechnik ist, die transmedial und epochenübergreifend eingesetzt wird, von 1001 Nacht bis zur modernen Fernsehserie Verwendung findet, ist bisher nur eine vielfach geäußerte Annahme gewesen.22 Zahlreiche ähnliche Behauptungen haben sich bei einer Aufsuchung des seriellen Textes nicht bewahrheitet.23 Diese Hintergründe machten eine genaue Arbeitsweise und Deskription zwingend notwendig. 22 Siehe Kapitel: II., 1.2 „Bisherige Forschungsliteratur“, S. 36. 23 Um nur ein paar wenige Beispiele von Behauptungen zu nennen, die sich im Laufe der Arbeit als nicht nachprüfbar oder falsch erwiesen haben: Der Cliffhanger würde vornehmlich in der Übersetzung von Galland eingesetzt und nicht in der ältesten erhaltenen Handschrift (siehe S. 141). Dickens und Dumas verwendeten keine Cliffhanger (siehe S. 280).

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Denn die bisherigen Fragen der Forschungsliteratur über die Charakteristiken des Cliffhangers und wann eine Erzählunterbrechung als Cliffhanger zu bezeichnen ist, mussten am Primärwerk selbst beantwortet werden. Zudem war es nötig, die in dieser Studie eingeführten Begriffe anhand der Deskription in dem darauffolgenden Kapitel „Kategorisierung und Analyse“ immer wieder zu überprüfen und zu aktualisieren, damit sie dem vielgestaltigen Gegenstand ‚Cliffhanger‘ gerecht werden.24 Am Ende des zweiten Teils werden die Ergebnisse der Einzelanalysen festgehalten – das Hauptaugenmerk liegt auf den Neuerungen im Gebrauch der Erzählunterbrechung. Der dritte Teil jedes Wellenkapitels nennt sich „Fazit und Ausblick“ und kontextualisiert die Ergebnisse der Einzelanalysen mit dem Rest der Studie. Hier wird aufgezeigt, was im Vergleich zu früheren Kapiteln neu an der Erzählunterbrechung ist und inwiefern dies auf die serielle Fortsetzungsnarration dieser Welle ausstrahlt. Im Ausblick wird die Weiterentwicklung von Cliffhanger und serieller Fortsetzungsnarration innerhalb dieser Welle und in dem jeweiligen technischen Medium verdeutlicht. Die einzelnen Wellenkapitel lassen sich fast vollständig losgelöst voneinander

Der Cliffhanger käme nicht in ‚epischen‘ TV-Serien wie Deadwood und The Wire vor (siehe S. 488ff.). Der Begriff ‚Cliffhanger‘ würde in A Pair of Blue Eyes (siehe S. 235) oder in der ersten Cliffhanger-Kinoserie The Perils of Pauline (siehe S. 314ff.) geprägt. Die Kinoserien übernähmen im Grunde nur die Struktur und Erzähltechniken der Fortsetzungs-Comics, -Hörspiele und -Romane (siehe S. 310ff.). Zudem wurden zahlreiche Entwicklungen und als bekannt vorausgesetzte Charakteristiken serieller Formate, die in dieser Studie belegt werden, bisher nie wirklich herausgearbeitet: bspw. die langsame Entwicklung vom lediglich geteilten zum seriell geplanten viktorianischen Fortsetzungsroman, die strukturelle Veränderung der Seifenoper vom Radio-Hörspiel zur Fernsehserie, die 4-AktStruktur zahlreicher TV-Serien usw. 24 Bei den literarischen Werken können die relevanten Stellen für den Leser dieser Studie zitiert und beschrieben und der Erzählabbruch kann im Zitat kenntlich gemacht werden. Schwieriger ist die Vermittlung der Erzählunterbrechungen in den anderen technischen Medien. In akustischen und audiovisuellen Werken vergegenwärtigt Verschriftlichung daher das Geschehen. In die „Deskription“ von filmischen Werken sind meist Bilder der letzten wichtigen oder ersten neuen Einstellungen der Folge eingefügt. In der Deskription und Analyse wird der Fließtext durch die Bilder untermauert und ergänzt. Neben der Nachvollziehbarkeit für den Leser wird so der Film „zitierbar“ gemacht. Das flüchtige Filmerlebnis nachvollziehbar zu machen, stellt eine grundlegende Schwierigkeit in der Analyse des Films dar. Dieser Schwierigkeit versuche ich normalerweise mit Filmprotokollen beizukommen. Da es aber in der folgenden Arbeit hauptsächlich nicht um den Film und seine Struktur im Ganzen geht, sondern nur um die letzten Einstellungen, bilden die Filmbilder einen Ersatz, um die letzten Einstellungen „zitierbar“ zu machen. Siehe dazu: Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, 2001, S. 36.

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lesen: Beispielsweise das Kapitel über die Seifenoper bietet eine relativ in sich geschlossene historische Darstellung der Entwicklung dieses Genres von den Anfängen im Radio bis zu der modernen Form der 1980er Jahre. Der Einstieg in die Wellenkapitel mag häufig zunächst langatmig erscheinen. Meist muss zunächst aber eine zeitliche Annäherung an die ersten Cliffhanger einer seriellen Welle dargestellt werden. Denn aufgrund des unerforschten Neulandes ist es zunächst wichtig, dass auch die zeitlichen Anfänge und Enden sowie Ursachen und Bedingungen einer seriellen Welle erkannt werden. Mögen diese Passagen auch scheinbar vom Cliffhanger wegführen, bietet die Studie anhand der Erforschung des Cliffhangers einige Antworten auf die Fragen, was serielle Narration ist, was sie charakterisiert, inwiefern sie überhaupt einen klar abzugrenzenden Forschungsbereich darstellt, welche seriellen Wellen es gibt und wodurch sich diese auszeichnen. Der Cliffhanger und die serielle Narration, Teil und Ganzes, werden in dieser Studie in ihrer ständig sich gegenseitig beeinflussenden Wechselbeziehung dargestellt.

II. Vorüberlegungen: Der Cliffhanger und die serielle Narration „Ein Cliffhanger ist eine intendierte Unterbrechung der Narration, die im weitesten Sinne Interesse am Fortgang der Handlung weckt.“ WEBER U. A.: „TO BE CONTINUED…“. IN: METELING U. A. (HG.): „PREVIOUSLY ON…“, 2009, S. 113.

1. D ER C LIFFHANGER 1.1 Wortherkunft Über die Herkunft des Begriffs ‚Cliffhanger‘ gibt es verschiedene Theorien. Eine besagt, dass er bereits in Rezensionen zu Thomas Hardys A Pair of Blue Eyes aufkam.1 In dem in elf Teilen veröffentlichten Fortsetzungsroman endet eine Folge damit, dass der Held tatsächlich an einer Klippe hängt; die Situation erscheint vollkommen aussichtslos.2 Nach einer zweiten Theorie wurde der ‚Cliffhanger‘ in Rezensionen zu amerikanischen Kinoserien der 1920er bis 1950er Jahre geprägt, weil jede

1

„Remember the famous cliff-hanging scene in A Pair of Blue Eyes“. Hughes u. a.: The Victorian Serial, 1991, S. 12. Außerdem: Halperin: „Leslie Stephen, Thomas Hardy, and A Pair of Blue Eyes“. In: The Modern Language Review, Vol. 75, 1980, S. 742. Die wissenschaftlichen Quellen bezeichnen die Stelle als Cliffhanger, behaupten allerdings nicht, dies sei der Ursprung der Bezeichnung. Der deutsch- und der englischsprachige Eintrag auf Wikipedia zum Lemma ‚Cliffhanger‘ proklamieren, der Begriff stamme aus A Pair of Blue Eyes – für diese Behauptung wird aber keinerlei Beleg geliefert (http://de.wikipedia.org/wiki/Cliffhanger [vom 23.08.2013]).

2

Siehe dazu Kapitel: V., 4.2 „A Pair of Blue Eyes – Der Ursprung der Bezeichnung?“, S. 235.

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Folge in einem spannenden Moment endet, meist damit, dass der Held oder die Heldin in unmittelbarer und tödlicher Gefahr ist.3 Vor allem die Kinoserie The Perils of Pauline wird in diesem Zusammenhang häufig genannt als erste Kinoserie, bei welcher Cliffhanger am Ende jeder einzelnen Episode benutzt werden.4 Dem Erfolg von The Perils of Pauline folgend, gab es in den 1930er bis 1950er so viele Kinoserien, die alle ihre Folgen mit Cliffhangern beendeten, dass ‚Cliffhanger‘ auch zu einer Format-Bezeichnung wurde:5 „Cliffhanger. […] A motion picture serial telling a long mystery/adventure story by the showing of one chapter per week that concluded with the hero’s life in peril, and possible escape unresolved.“6 Eine dritte Theorie besagt, dass der Begriff erst mit den Radio-Hörspielen und Seifenopern der 1930er Jahre aufkam. So wird zum Beispiel erwähnt, dass eine der wegweisenden und prominentesten Schöpferinnen von Seifenopern, Irna Phillips, sagte: „To get them [d.s. die Zuschauer] to tune in again, she once said she liked to ‚cliff-hang‘ her audience.“7 Ob das aber die erste Nutzung des Begriffs war, ließ sich nicht herausfinden. Es ist eher wahrscheinlich, dass der Begriff mit den Kinoserien der 1930er oder 1940er Jahre aufkam, weil diese Erzähltechnik dort zum ersten Mal sehr häufig und einprägsam eingesetzt wurde.8 Die drei unterschiedlichen Theorien sind symptomatisch dafür, dass der Cliffhanger als Erzähltechnik unterschiedlichen Medien, Genres, Erzählformaten und Zeiten in der Entstehung und ersten Benutzung des Begriffs zugeordnet wird: Englischer 3

Siehe bspw. http://oxforddictionaries.com/definition/english/cliffhanger [vom 11.04. 2013].

4

Siehe dazu Kapitel: VII. 2.3 „Serial-Queen Melodramas – The Perils of Pauline und Co.“, S. 314. Außerdem: Neumann: „Cliffhanger“. In: Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, 2002, S. 100.

5

Siehe auch: „Usually ignored in histories of science fiction movies, or casually dismissed, are the serials, the ‚continued next week‘ chapterplays shown in weekly episodes (running 15 or 20 minutes each), somewhat derisively known as ‚cliffhangers‘ in reference to the hair-raising situations that left viewers dangling in suspense until the next week’s installment.“ Ebd., S. 1.

6

Agnes (Hg.): Websterʼs New World Dictionary, 2004, S. 64.

7

Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without

8

In der ersten Auflage des Oxford English Dictionary von 1933 ist der Begriff noch nicht

End, 1997, S. 18. Leider gibt Simon nicht an, woher dieses Zitat stammt. vertreten. In der zweiten Auflage von 1989 ist er als Lemma aufgeführt. Er wird dort bis 1937 zurückverfolgt und nachgewiesen. Die erste Nennung von 1937 ist als Form- und Genrebezeichnung: „1937 Amer. Speech XII. 318/1 Cliff-hanger, type of serial melodrama. 1940 Sat. Even. Post 6. Apr. 18/1 The picture started out to be one of those cliff-hangers, with Indians, strong and silent men, the great out-doors, mail robbers.“ Simpson (Hg.): The Oxford English Dictionary, 1989, S. 321.

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Fortsetzungsroman, amerikanische Action-Kinoserien und Radio-Seifenopern sind nicht nur in unterschiedlichen Zeiten und technischen Medien beheimatet, sondern handeln auch von differierenden Themen und wurden von sehr verschiedenen Publikumsgruppen rezipiert. Heutzutage wird der Begriff in Lexika mit drei Konnotationen versehen, die alle drei mit Spannung zusammenhängen. Bereits 1962 werden in der linguistischen Zeitschrift American Speech zwei Konnotationen festgestellt – die Bezeichnung für eine Erzähltechnik fehlt jedoch.9 „The word cliffhanger, used frequently to describe a particularly thrilling event of experience, is a leftover from the days of silent movies which were often shown in weekly ‚chapters‘ or episodes. Each episode purposely ended with the heroine or hero in a dangerous situation, such as, literally hanging to the edge of a cliff by the finger tips. Thus, the movie patrons were enticed back to the theatre the next week to learn if the characters had been saved. The following example illustrates the current usage of the word. ‚Test pilot Joe Walker flew the X15 rocket ship a record 31 miles above the earth Thursday in a flight he describes as ‚a cliffhanger all the way‘.‘“10

An erster Stelle steht der Begriff auch heute noch für eine Folge oder eine ganze Serie, die an einem spannenden Punkt abbricht und so den Rezipienten animiert, auch die nächste Folge zu konsumieren.11 An zweiter Stelle wurde der Begriff im Hinblick auf die von den Cliffhanger-Serien genutzte Mechanik, die Erzählung an der spannendsten Stelle zu unterbrechen, auch für das genutzte Mittel selbst gebraucht – in den Lexika ist es also teilweise so, dass zunächst der Begriff für das Format vorhanden war und dieser später vom Format auf die zugehörige Technik übertragen wurde. Als Erzähltechnik beschränken die Lexika den Cliffhanger meistens auf einige wenige Medien. Während das Lexikon der Zeitung Die Zeit den Cliffhanger vornehmlich in der Radio- oder Fernsehserie sieht,12 grenzt das Metzlers Literatur Lexikon ihn auf den Gebrauch im Fortsetzungsroman und in der Fernsehserie ein.13 Keines der Lexika, ob englisch oder deutsch, gibt Sekundärwerke an, mit denen die Funktionsweise und die Medienrestriktion nachgeprüft werden könnten. 9

Dabei ist anzumerken, dass in einigen Texten und Lexika der Begriff getrennt geschrieben wird als „cliff-hanger“. Siehe bspw.: Webster: Websterʼs Encyclopedic unabridged Dictionary of the English Language, 1989, S. 277.

10 Ackerman: „Cliffhanger“. In: American Speech, May 1962, S. 157. 11 „Cliff-hanger a serial film in which each episode ends in a desperate situation; a story etc. with the outcome excitingly uncertain; cliff-hanging a. full of suspense.“ Brown: The New Shorter Oxford English Dictionary, 1993, S. 417. 12 Vgl. Buhl u. a.: Die Zeit – Das Lexikon, 2005, S. 112. 13 Vgl. Burdorf u. a.: Metzler-Lexikon Literatur, 2007, S. 126.

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An dritter Stelle steht eine Übertragung auf eine generell spannende Situation oder knappe Entscheidung, wie der im Zitat von 1962 beschriebene Flug mit einem ‚Raketenschiff‘. Mit dieser Cliffhanger-Konnotation üblicherweise versehene Gegebenheiten sind Kopf-an-Kopf-Rennen, also Situationen mit einem bis zuletzt ungewissen Ausgang.14 So lautete 2012 eine gelegentlich genannte Formulierung über die Wahl zwischen den Präsidentschaftskandidaten Romney und Obama, es habe sich um einen „election cliffhanger“ gehandelt: „Democrat Barack Obama and Republican Mitt Romney made last-minute appeals for votes on Tuesday as Americans trooped to the polls to decide a cliffhanger race for the White House.“15 Auch im deutschen Feuilleton ist der Begriff längst gebräuchlich und wird anscheinend als so etabliert betrachtet, dass er bei der Benutzung keinerlei Erklärung bedarf. Exemplarisch dafür ist ein Artikel über die Bergung des verunglückten, auf eine Klippe gelaufenen Kreuzfahrtschiffs Concordia 2012. „Die Concordia ist anders, ihre Bergung ist ein wirklich schwieriger Fall. Sie hat das Zeug zum Kliffhänger [sic], im Wortsinn.“16 Der Begriff hat sich in das populäre Wissen eingeprägt: eine Erzähltechnik, deren Mechanismus einem vollkommen bewusst ist, während man sich zugleich nicht dagegen wehren kann, dass man die Spannungsauflösung erfahren will. Völlig selbstverständlich benutzt die deutsche Punkband Die Ärzte beispielsweise den Terminus in dem Lied „Bettmagnet“. 14 „Cliff-hanger n 1: an adventure serial or melodrama; esp: one presented in installments each of which ends in suspense (cliff-hangers on radio) 2: a contest whose outcome is in doubt up to the very end (the election was a cliff-hanger)“ Gove (Hg.): Websterʼs Third New International Dictionary of the English Language, 2002, S. 354. 15 Artikel vom 07.11.2012 auf Channelnewsasia: „US votes in election cliffhanger“. Siehe: http://www.channelnewsasia.com/stories/afp_world/view/1235668/1/.html [vom 29.03. 1913]. 16 Sietz: „Der Drahtseilakt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Januar 2012, S. T1. Die FAZ brachte zwei Artikel, in denen sie relativ frei mit dem Begriff umging. Auch in einer Rezension der Autobiographie des Aufsichtsratchefs von Siemens, Heinrich von Pierer, ist vom Cliffhanger die Rede. Der spannende Moment, warum Heinrich von Pierer Schmiergeld annahm, was bei der Entdeckung zu einer bundesweit diskutierten Affäre führte, wird direkt zu Anfang des Buches thematisiert, dann aber wird diese Erzählung unterbrochen und eine 400 Seiten lange Rückblende eingeflochten. „Das Buch ist in eine CliffhangerDramaturgie gespannt: Am Anfang, auf Seite 7, die Forderung der Staatsanwaltschaft: ‚Am Montag müsse der Bescheid unterschrieben werden.‘ Dann vierhundert Seiten Buch, um auf Seite 417 mit dem Satz zu enden: ‚Am Montag, 1. März 2010, habe ich den Bußgeldbescheid unterschrieben.‘“ Geyer: „Verstohlene Nachtarbeit im leeren Chefsessel“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Januar 2011, S. 26. Mit der in dieser Studie eingeführten Begrifflichkeit wäre diese Unterbrechung passender als analeptischer Minicliff zu bezeichnen, da es sich nicht um ein serielles Werk handelt, das unterbrochen wird.

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„Du drückst auf Stopp wir fallen übereinander her Das Einzige, was hilft gegen üble Cliffhanger Nachspiel fällt heute aus, die Serie ist noch drin Und ich weiß, dass ich verliebt in dich bin“17

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in den Lexika die primäre Definition des Cliffhangers immer die folgenden Bestandteile enthält: Eine Unterbrechung an einer spannenden Stelle einer seriellen Erzählung animiert zu einer fortgesetzten Rezeption. Der später nachweisbare Gebrauch des Begriffs ‚Cliffhanger‘ als Beschreibung einer bis zuletzt spannenden Situation erscheint als Übertragung und Weitung der ersteren Konnotation: Die Funktionsweise des Cliffhangers wurde hier allein auf seine Konnotation als eine spannende, wie auch immer sonst geartete Begebenheit übernommen. Dass der Begriff inzwischen sogar generell auf spannende Geschehnisse transponiert wurde, macht aber deutlich, wie populär er inzwischen im Sprachgebrauch ist. Der Cliffhanger ist kein aus der Wissenschaft stammender Begriff – diese damit einhergehende Unschärfe muss hervor- und ins Bewusstsein gehoben werden: Es gibt keine dem Ursprung nach richtige Definition des Cliffhangers. Die Wissenschaft hat diesen Begriff aus dem allgemeinen Sprachgebrauch übernommen, weil er dort fest etabliert ist und sogar generell auf spannende Situationen übertragen wurde. Die verschiedenen Theorien über die Herkunft des Begriffs sind sich in einem Punkt einig: Er fiel (vermutlich) in einer Rezension, das heißt, ein Journalist beschrieb seine eigene subjektive Rezeptionserfahrung, die der an der Klippe hängende Held bei ihm hinterlassen hatte; er formte aus dieser Rezeptionserfahrung ein Wort, das von anderen als passend empfunden und deshalb in ihren eigenen Sprachgebrauch aufgenommen wurde. Das ist die sprachliche Qualität der Wortschöpfung ‚Cliffhanger‘: Der Begriff beschreibt bildlich sowohl das ungewisse Schicksal des Helden als auch die gespannte Erwartungshaltung des Rezipienten zum Zeitpunkt der Handlungsunterbrechung. Das Wort ‚Cliffhanger‘ gilt somit für beide Ebenen: Die Diegese und die Rezeption, beide werden bildlich an der Klippe hängen gelassen; das Schicksal des Protagonisten spiegelt sich in der Rezeptionserfahrung. Eine Rezeptionserfahrung ist aber per se ein subjektives, ‚ungenaues‘ Erleben, das sich schwer als eindeutige Definition formulieren lässt. Dennoch sollte eine Begriffsübernahme in die Wissenschaft möglichst klar sein – bisher ist diese aber nur bruchstückhaft wissenschaftlich fundiert und eingegrenzt worden. Vor allem die in den Lexika behauptete Medienrestriktion zeigt dies.

17 Aus dem Song „Bettmagnet“ von Dirk Felsenheimer im Album Auch der Band Die Ärzte, Universal, 2012.

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1.2

Bisherige Forschung

1.2.1 Definition und Medienrestriktion In den Geisteswissenschaften gibt es bisher vier Aufsätze zur Erzähltechnik des Cliffhangers18 – und unzählige, die den Cliffhanger namentlich erwähnen und fast ebenso viele, die eine Erzähltechnik umschreiben, die dem Cliffhanger sehr ähnelt oder gleicht. Die vier Aufsätze befassen sich mit dem Cliffhanger in unterschiedlichen Medien, nähern sich der Analyse der Erzähltechnik dementsprechend aus ganz verschiedenen Bereichen und Blickwinkeln. Pionierarbeit leistete 1998 Martin Jurga mit seinem Aufsatz „Der Cliffhanger. Formen, Funktionen und Verwendungsweisen eines seriellen Inszenierungsbausteins“. Genau wie ein zweiter Aufsatz über den Cliffhanger von Tanja Weber und Christian Junklewitz „To Be Continued… Funktion und Gestaltungsmittel des Cliffhangers in aktuellen Fernsehserien“ aus dem Jahre 2010 beschränkt sich Jurgas Aufsatz auf den Cliffhanger im Fernsehen. In Matthias Däumersʼ „Der Held an der Klippe“ von 2010 wird die Funktionsweise des Cliffhangers auf einige Beispiele des höfischen Romans übertragen und dabei Bezug auf Jurga genommen. Und Josh Lamberts „Wait for the Next Pictures“ (2009) widmet sich dem Cliffhanger im frühen Comicstrip. Die letzten beiden genannten Aufsätze sind objektbezogen, das heißt, der Cliffhanger wird als Begriff herangezogen, um Phänomene in der jeweiligen Einzelwissenschaft zu erklären – eine Definition oder Klassifizierung des Cliffhangers ist kein Ziel dieser Aufsätze. Trotzdem werden hier alle vier Aufsätze herangezogen, um die bisher in der Forschungsliteratur genannten Charakteristiken des Cliffhangers zusammenzufassen. An den aktuellen Forschungsstand kann so angeknüpft werden. In der grundsätzlichen Definition, was einen Cliffhanger ausmacht, sind sich die Verfasser einig: Der Cliffhanger ist eine Unterbrechung der Narration an einer spannenden Stelle zum Zwecke der Spannungssteigerung. Jurga definiert den Cliffhanger wie folgt: „Es handelt sich um den abrupten Handlungsabbruch an einer besonders spannenden Stelle, der der Markierung des Endes einzelner Erzählsegmente und -einheiten dient und den (temporären) Endpunkt eines klimatischen Handlungsverlaufes bildet. Dieses Mittel ist in der Film18 Außerdem ist der Cliffhanger noch Thema zweier Kapitel in Monographien. Mielke: Zyklisch-serielle Narration, 2006, S. 476–480. Mielke setzt den Cliffhanger mit dem Begriff der ‚Katapher‘ gleich (siehe dazu das Kapitel über die Katapher auf S. 112); Däumer: Stimme im Raum und Bühne im Kopf, 2013, S. 450–494. Däumer wiederholt zum größten Teil seinen Aufsatz Der Held an der Klippe und führt seine Argumentation mit weiteren Beispielen aus. In zwei journalistischen Artikeln spielt der Cliffhanger eine bedeutende Rolle: Nussbaum: „Tune in Next Week“. In: New Yorker, 30. Juli 2012; Davidson: „The Mad Men Economic Miracle“. In: New Yorker, 4. Dezember 2012, S. 65.

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und Fernsehdramaturgie als ‚Cliffhanger‘ bekannt. Es hat spezifische Funktionen innerhalb serieller Texte und dient der Aufrechterhaltung der Zuschauer-Text-Beziehung, die – das wäre der Idealfall – sich zu einer Gesamtrezeption der Serie verfestigt (bzw. habitualisiert).“19

Weber und Junklewitz definieren den Cliffhanger am offensten und bieten damit die am weitesten reichende Definition an: „Ein Cliffhanger ist eine intendierte Unterbrechung der Narration, die im weitesten Sinne Interesse am Fortgang der Handlung weckt.“20 Dabei ist sowohl aus der Definition als auch aus einigen ihrer ergänzenden Sätze abzulesen, dass sie den Cliffhanger nicht auf serielle Werke beschränken. „Aber auch in Einzelwerken lassen sich Cliffhanger finden. So stehen Cliffhanger häufig an Kapitelenden, beispielsweise in der Spannungsliteratur wie in Stephen Kings Brennen muß Salem.“21 Während die anderen drei von seriellen Texten sprechen und den Cliffhanger auf diese Veröffentlichungsform begrenzen, gehen Junklewitz und Weber darüber hinaus.22 Einigkeit herrscht bei allen Aufsätzen, dass der Cliffhanger nicht auf den Gebrauch in einem einzigen Medium eingeschränkt werden kann. Jurga weist darauf hin, dass dieses „Inszenierungsmittel“ zwar hauptsächlich aus dem Fernsehen bekannt ist, aber aus andern Medien stammt und nennt das Comic, die „seriellen Kinofilme“, 1001 Nacht und den Fortsetzungsroman. Junklewitz und Weber nennen wie Jurga die üblichen Verdächtigen wie 1001 Nacht etc. und erweitern – wie bereits erwähnt – den Begriff auf geschlossene Werke.23 Däumer nimmt Bezug auf Jurga und damit die Fernsehserie und weist Spuren von Cliffhangern in höfischen Romanen

19 Jurga: „Der Cliffhanger“. In: Willems u. a. (Hg.): Inszenierungsgesellschaft, 1998, S. 472. 20 Weber u. a.: „To Be Continued…“. In: Meteling u. a. (Hg.): „Previously on…“, 2009, S. 113. 21 Ebd. 22 Umso erstaunlicher ist angesichts der weiten Definition des Cliffhanger dann aber die Einschränkung, die Weber und Junklewitz in einer Fußnote vornehmen: „Epische Erzählungen wie The Wire oder Deadwood arbeiten üblicherweise nicht mit Cliffhangern. Es ist anzunehmen, dass der Zuschauer dabei andere Erwartungen an das Unterhaltungserlebnis hat, die vornehmlich nicht auf Spannung beruhen.“ Weber u. a.: „To Be Continued…“. In: Meteling u. a. (Hg.): „Previously on…“, 2009, S. 121. Zwei Serien bzw. zur epischen Breite tendierende Erzählungen werden plötzlich ausgeklammert und Spannung als Kernelement des Cliffhangers genannt, was bei ihrer Definition nicht der Fall ist. Siehe dazu Kapitel: II., 2.5.1 „Spannung, suspense und tension“, S. 66 und über Cliffhanger in The Wire (S. 489) und Deadwood (S. 495). 23 „Dieses Phänomen kann in allen Erzählungen vorkommen, ist also nicht auf den audiovisuellen Kontext beschränkt, sondern ein medienübergreifendes narratives Gestaltungsmittel.“ Ebd., S. 113.

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nach, macht damit also klar, dass er ebenso von einer medienübergreifenden Einsetzung des Cliffhangers überzeugt ist.24 Däumer schließt seinen Aufsatz mit der These: „Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Cliffhanger ein narratives Phänomen aller Kulturepochen darstellt und dass er, jenseits der historischen Wandelbarkeit der Medien, in seinen Funktionen, wie bspw. seinem Memorialeffekt, viele unhistorische Züge aufweist.“25 Lambert reiht sich in diese Behauptung ein: Eine der Hauptaussagen seines Aufsatzes ist, dass zwar Comics den Cliffhanger vor der Kinoserie benutzt haben, die Kinoserien aber nicht unbedingt von ihnen inspiriert wurden: „What was required in order for filmmakers to begin using cliffhanger continuity was not inspiration, apparently – cliffhangers were common features of nineteenthcentury novels, and thus no hidden treasure waiting to be discovered.“26 Die Einigkeit der vier Aufsätze ist erstaunlich, hält man fest, dass sie alle sich nur mit dem Cliffhanger in einem spezifischen Medium befassen. Alle vier Aufsätze belegen Cliffhanger nur in einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Medium. Die Aussagen, der Cliffhanger sei eine transmedial und transhistorisch gebrauchte Erzähltechnik, bleiben damit hauptsächlich Behauptungen, die überprüft werden müssen. 1.2.2 Wirkungsästhetik des Cliffhangers Jurga bemerkt bereits 1998, dass der Cliffhanger immer häufiger eingesetzt wird, vor allem weil er im Programm- und Senderflussangebot des Fernsehens den Zuschauer an ein Programm und damit auch zeitweise an einen Sender bindet.27 Einen Grund dafür meint Jurga in einer wesentlichen Funktionsweise des Cliffhangers zu erkennen, die er mithilfe von Isers Leerstellentheorie erklärt. „Die Zukunft der Geschichten scheint nach dem Ende jeder Folge noch ungewiß zu sein, was die Vorstellungsintensität der Zuschauer steigert. Der Cliffhanger ist das Mittel, das diesen Effekt unterstützt und verstärkt. Er eröffnet ein kontingentes Möglichkeitsfeld, das man auch in Anlehnung an rezeptionsästhetische Modelle als ‚Super-Leerstelle‘ bezeichnen kann.“28

24 Vgl. Däumer: „Der Held an der Klippe“. In: Kapp u. a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 2010, S. 35. 25 Ebd., S. 42. 26 Lambert: „Wait for the Next Pictures“. In: Cinema Journal, Winter 2009, S. 18. 27 Vgl. Jurga: „Der Cliffhanger“. In: Willems u. a. (Hg.): Inszenierungsgesellschaft, 1998, S. 471. 28 Ebd., S. 476.

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Tatsächlich lassen sich verschiedene Stellen bei Wolfgang Isers Der Akt des Lesens ganz in dieser Weise lesen. So zum Beispiel wenn Iser erklärt, dass nur das abschnittsweise Lesen von (ursprünglichen) Fortsetzungsromanen einem in der Lektüre den Erfolg dieser Romane vergegenwärtigen kann: „Liest man solche Romane [d.s. Fortsetzungsromane] abschnittsweise, so mag das hingehen; liest man sie als Buch, dann steht man sie selten durch. Die Bedingung solcher Unterschiede gründet in der Schnitttechnik des Fortsetzungsromans. Er unterbricht im allgemeinen dort, wo sich eine Spannung gebildet hat, die nach einer Lösung drängt, oder wo man gerne etwas über den Ausgang des soeben Gelesenen erfahren möchte. Das Kappen bzw. das Verschleppen der Spannung bildet eine Elementarbedingung für den Schnitt. Ein solcher Suspens-Effekt [sic] aber bewirkt, dass wir uns die im Augenblick nicht verfügbare Information über den Fortgang des Geschehens vorzustellen versuchen. Wie wird es weitergehen? Indem wir diese und ähnliche Fragen stellen, erhöhen wir unsere Beteiligung am Vollzug des Geschehens. Dickens hat von diesem Sachverhalt gewußt; seine Leser wurden ihm zu ‚Mitautoren‘.“29

Isers und Jurgas These legt womöglich eine Funktionsweise des Cliffhanger offen: Die serielle Erzählung steuert zu einer spannenden Stelle hin, bricht dann aber ab; der Reiz und kalkulierte Sinn dieses Abbruchs besteht darin, dass der Rezipient wissen will, wie es weiter geht. Durch die Pause, die in einer seriellen Erzählung entsteht, hat er die nötige Zeit und wird von der Erzählung nicht weiter mit narrativen Informationen versorgt, sodass die Frage, wie es weitergehen mag, auch direkt mögliche Antworten in sich trägt, der Rezipient also selbst die durch die Unterbrechung entstandene Leerstelle füllen könnte. Jurgas und Isers These widerspricht zu einem gewissen Grad Däumer in seinem Aufsatz „Der Held an der Klippe“ und stellt statt der Antizipation vielmehr die Einprägung ins Gedächtnis in den Vordergrund der Wirkungsweise des Cliffhangers. „Natürlich werden die Rezipienten eines Cliffhangers die abgebrochene Erzählung in ihrer Fantasie fortführen, doch die Autorität einer ‚Autorschaft‘ liegt ganz klar in den Händen der Fortsetzer der Erzählung. Deshalb scheint es ratsam, den Effekt nicht nur im Sinne der rational konstruierten und ebenso rational genutzten Leerstelle zu verstehen, sondern im Sinne eines irrationalen Traumas zu beschreiben, welche durch den plötzlichen Wechsel aus der Fiktion in die Realität ihrer Vermittlung entsteht. Ein Trauma wie dieses wirkt zwar sekundär auch auf die Imagination, primär aber auf eine Einschreibung ins Körpergedächtnis des Rezipienten ein; nicht die imaginatio, sondern die memoria ist als primäres Ziel des Cliffhangers zu betrachten.“30 29 Iser: Der Akt des Lesens, 1994, S. 297. 30 Däumer: „Der Held an der Klippe“. In: Kapp u. a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 2010, S. 30.

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Als unterstützenden Beweis nennt Däumer den Zeigarnik-Effekt aus der Psychologie.31 Die Psychologin Bluna Zeigarnik stellte anhand eines Experiments fest, dass unabgeschlossene Handlungen sich besser ins Gedächtnis einprägen als abgeschlossene. Dieser Effekt wird in der Psychologie als Zeigarnik- oder gelegentlich als Cliffhanger-Effekt bezeichnet,32 was meine eigene in 1001 genannte These und Däumers unterstützt, dass der Cliffhanger auch bei der Einprägung wirksam ist. Ob die Wirkungsweise des Zeigarnik-Effektes wirklich so zu sehen ist, muss mit direktem Blick in Zeigarniks-Studie überprüft werden. 1.2.3 Exkurs: Die Forschungen Bluna Zeigarniks Die Psychologin Bluna Zeigarnik untersuchte, wie sich das Einprägen von abgeschlossenen und unterbrochenen Handlungen unterscheidet. Sie kommt zu dem Schluss, dass unterbrochene Handlungen wesentlich besser im Gedächtnis bleiben als abgeschlossene. Ihre Forschungen helfen, Details der Wirkungsweise des Cliffhangers und der seriellen Fortsetzungsnarration zu erklären. Zeigarnik baut auf den Forschungen von Kurt Lewin auf, der den Begriff ‚Quasibedürfnis‘ einführte. Ein Quasibedürfnis entsteht, wenn sich eine Person Ziele setzt und daraufhin ein Spannungszustand entsteht. Der Spannungszustand wird dabei nicht durch die Handlungen, die zum Ziel führen sollen, hervorgerufen, sondern allein durch die eigene Verpflichtung, das Ziel zu erreichen.33 „Bei aller Bedeutung der äußeren Triebanreize haben wir es bei den Bedürfnissen im wesentlichen mit Spannungszuständen zu tun, die auf Befriedigung des betreffenden Bedürfnisses hindrängen. Die Befriedigung hat eine Beseitigung des Spannungszustandes zur Folge und läßt sich als psychische ‚Sättigung‘ beschreiben.“34 31 Siehe: Fröhlich: 1001, 2011, S. 24. 32 „Zeigarnik-Effekt, das bevorzugte Erinnern von unterbrochenen Handlungen. Bedürfnisartige Spannungen und situative Ursachen (warum und wie eine Handlung unterblieb) seien die Ursache des Erinnerns (Ovsiankina-Effekt, Motivation). Ovsiankina-Effekt, nach W. Ovsiankina benannte Effekte bei Unterbrechen einer und Wiederaufnahme der Handlung. Wie um 1927 publizierte Untersuchungsergebnisse zeigten, ergibt sich eine deutliche Tendenz, eine unterbrochene Handlung wieder aufzunehmen, wenn das Handlungsziel vorher noch nicht erreicht ist. Erklären läßt sich diese Tendenz mit Hilfe von Lewins Feldtheorie und der Deutung der unterbrochenen Handlung als Zustand eines gespannten Systems (Zeigarnik-Effekt).“ Wenninger (Hg.): Lexikon der Psychologie, Band 5, 2002, S. 205. 33 Vgl. auch allgemein zu von Lewin als „Vornahme“ bezeichnete Zielsetzung bzw. Planung: „Es besteht vielmehr ein innerer in eine bestimmte Richtung gehender Druck, ein innerer Spannungszustand, der auf die Ausführung der Vornahme hindrängt“. Lewin: Vorsatz, Wille und Bedürfnis, 1926, S. 57. 34 Ebd., S. 65.

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Das Quasibedürfnis bleibt erhalten, bis das Ziel erreicht ist: „Somit bleibt der Spannungszustand, das Quasibedürfnis auch dann bestehen, wenn eine Person in ihren zielerreichenden Aktivitäten unterbrochen wird, kann aber reduziert werden, wenn sich statt dessen Ersatzziele erreichen lassen.“35 Zeigarniks Untersuchungsfrage lautet, ob solche durch Quasibedürfnisse hervorgerufenen Spannungen die Gedächtnisleistung steigern.36 Sie kommt zu dem Ergebnis:37 „[D]ie unerledigten Aufgaben werden um 90% besser behalten als die erledigten.“38 Das eindeutige Resultat ist umso erstaunlicher, als die Versuchsperson mit den erledigten Aufgaben rein rechnerisch mehr Zeit verbracht hat als mit den unterbrochenen Aufgaben, die Einprägung also unabhängig vom Zeitaufwand funktioniert, sondern nur abhängig von der Vollendung oder Unterbrechung der Aufgabe ist.39 Weiterhin empfindet die Versuchsperson die Unterbrechung am intensivsten, wenn sie in ihre Arbeit vertieft ist und diese als wichtig ansieht.40 „Wenn nicht die Unterbrechungserlebnisse als solche für unsere Ergebnisse entscheidend sind, sondern das tatsächliche Unerledigtsein im Zeitpunkt des Abfragens, so ist damit gesagt, daß das Fortbestehen des Quasibedürfnisses die Ursache auch für das gedächtnismäßige Bevorzugen der unerledigten Handlungen ist. Die bedürfnisartigen Spannungen wirken sich also nicht nur unmittelbar in der Richtung auf das Erledigen der Aufgaben aus, sondern haben auch eine Begünstigung der späteren Reproduktion zur Folge.“41 35 Ebd., S. 81. 36 Vgl. Zeigarnik: „Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen“. In: Lewin (Hg.): Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie, 1927, S. 3. 37 Zeigarnik führte 1924-1926 im psychologischen Institut der Universität Berlin und zu einem kleinen Teil in der litauischen Stadt Prienai Versuche durch. Mit 164 Versuchspersonen wurden Einzelversuche gemacht. Dazu noch zwei „Massenversuche“, der erste mit 47 Erwachsenen, der zweite mit 45 Volksschulkindern von 13 bis 14 Jahren. Die Versuchspersonen wurden in einem für die Versuchspersonen nicht nachvollziehbaren Schema jeweils bei gestellten Aufgaben unterbrochen oder man ließ sie die Aufgaben zu Ende führen. Danach wurden die Versuchspersonen über die Aufgaben befragt; was sie für Aufgaben hatten, an welche Details sie sich erinnern können, wie sie die Aufgaben empfanden etc. 38 Ebd., S. 10. 39 Die Versuchspersonen nannten zudem die unterbrochenen Aufgaben immer zuerst. Vgl. ebd., S. 11. 40 Ebd., S. 20. 41 Ebd., S. 29. Vor allem die unterschiedlichen Arten von Aufgaben, die Zeigarnik ihren Versuchspersonen erteilte, könnte man auf die Arten von seriellen Erzählweisen übertragen: zum einen bekamen die Versuchspersonen zielgerichtete Aufgaben und zum anderen Aufgaben, bei denen die Versuchspersonen weder Ziel noch zeitliches Ende der Tätigkeit wussten. „Eine Endhandlung ist also eine Handlung, die ein fest bestimmtes, absehbares

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Zeigarnik stellt zudem fest, dass ein klares Ziel, wie die Lösung eines Rätsels und eine bereits erkennbare Annäherung an dieses Ziel das Quasibedürfnis steigern: „Das Ziel der Endhandlung, z. B. die Lösung eines Rätsels, hat für die Vp. [d.i. die Versuchsperson] die Funktion eines positiven Aufforderungscharakters, von dem sie angezogen wird. […] Die Spannung steigert sich im allgemeinen, wenn die Vp. ihrem Ziele näher kommt. Die ganze Situation erhält gegen das Ende der Handlungen hin eine Verdichtung.“42

Viele der Versuchspersonen reagieren mit Widerwillen auf die Unterbrechung des Versuchsleiters, wollen die Aufgaben noch beenden und tun dies meist noch entgegen der Anweisung: „Auch später beim Ausführen der Aufgabe macht sich eine Tendenz bemerkbar, die fortlaufende Handlung durch ein tatsächliches Ende abzurunden. Wenn die Perlen aufgezogen sind, so pflegt die Vp. das nicht als eine vollkommen erledigte Aufgabe anzusehen. Häufig will sie aus ihnen noch ein Halsband oder Armband machen, um so der Sache einen wirklichen Abschluß zu geben.“43

Zuletzt stellt Zeigarnik fest, dass die Erinnerungsleistung und die damit verbundene Restspannung bei einer Unterbrechung höher sind, wenn die Versuchsperson sich der Aufgabe ausgiebig widmet. Bei Kindern ist das Quasibedürfnis noch ausgeprägter und die Restspannung noch höher, weil sie die Versuchsanordnung sehr ernst nehmen.44 „Je ungebrochener die Bedürfnisse des Menschen sind, je weniger er auf die Stillung des Bedürfnisses verzichten kann, je ,kindlicher‘ und natürlicher er im Versuch steht, desto stärker ist bei ihm das Überwiegen der unerledigten Handlungen.“45 Zusammengefasst sind die für diese Studie relevanten Untersuchungsergebnisse folgende:

Ziel besitzt. Eine fortlaufende Handlung dagegen hat kein ausgesprochenes festumgrenztes Ende.“ Ebd., S. 50. Als Beispiel einer fortlaufenden Handlung sollte die Versuchsperson immer weiter Perlen an eine lange Schnur machen. „Die End- und fortlaufenden Handlungen unterscheiden sich außer durch das Vorhandensein oder Fehlen eines festen Zieles auch durch ihre ,Antriebskräfte‘. Für eine Endhandlung ist es typisch, daß der Handelnde vom Ende, vom Ziele angelockt wird. Bei der fortlaufenden Handlung wird man dagegen von der vorhergegangenen Phase der Ausführung immer weiter getrieben.“ Ebd., S. 54. 42 Ebd., S. 57f. 43 Ebd., S. 53. 44 Vgl. ebd., S. 81. 45 Ebd., S. 85.

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1. Mit der Setzung eines Ziels entsteht ein Spannungszustand, der ein Quasibedürfnis hervorruft, dieses Ziel zu erreichen. Beim Erreichen des Ziels erfährt die Versuchsperson eine Sättigung. 2. Wird die Versuchsperson bei der Erreichung des Ziels unterbrochen, bleiben Restspannungen. 3. Die Restspannungen führen dazu, dass der Proband die unterbrochenen Aufgaben wesentlich besser im Gedächtnis behält und reproduzieren kann als abgeschlossene Aufgaben. Zahlreiche Versuchspersonen führen nach der Unterbrechung die angewiesene Tätigkeit weiter aus, obwohl ihnen vom Versuchsleiter gesagt wurde, sie sollten diese beenden. 4. Die Einprägung und spätere Reproduktion der Aufgaben ist wesentlich höher, wenn die Versuchsperson in einem Moment unterbrochen wird, an dem sie 4.1 besonders in die Arbeit vertieft ist, 4.2 die Zielsetzung als sinnvoll, die Aufgabe als notwendig und zielgerichtet ansieht, 4.3 mit ‚kindlicher‘, naiver Ernsthaftigkeit an die Aufgabenerfüllung geht 4.4 und die Erreichung des Ziels bereits absehbar ist. Übertragung auf den Cliffhanger Festzuhalten ist, dass eine Unterbrechung die Einprägung, Reproduktion und Weiterführung von Aufgaben begünstigt.46 Der Rezipient einer Erzählung erhält im engeren Sinne keine Aufgabenstellung wie in den Versuchen Zeigarniks. Für eine Übertragung von Zeigarniks Ergebnissen muss also angenommen werden, dass das Erreichen des Abschlusses der Erzählung vom Rezipienten als Ziel gesehen wird und damit vergleichbar ist mit einer aktiven und zielgerichteten Handlung beziehungsweise Verpflichtung.47 Die Analogiebildung zwischen Zeigarniks Versuchsanordnungen und der Rezeption von Erzählungen hieße, dass der Rezipient die Rezeption als „Aufgabe“ annimmt und in ihm bei der Unterbrechung ein unbefriedigtes „Quasibedürfnis“ entsteht, dessen Intensität von dem Moment der höchsten Involvierung unterstützt wird. Der Cliffhanger unterbricht den Rezipienten immer wieder in der Erreichung seines Ziels, indem kleinere Höhepunkte mit zugehörigen Auflösungen ‒ bei 46 Der Zeigarnik-Effekt hat Eingang in die Psychologie gefunden, ist dort etabliert und in den wichtigen Fach-Lexika zu finden. Einschränkend muss jedoch hinzugefügt werden, dass dieser Effekt inzwischen von einigen wenigen Psychologen bezweifelt wird. (Vgl. Heckhausen u. a.: Motivation und Handeln, 2010, S. 114–116.) 47 Bereits in der Wortwahl Lewins und Zeigarniks zeigen sich Gemeinsamkeiten mit narratologischer Wirkungsbeschreibung, was eine analoge Übertragung nahelegt und erleichtert. Lewin und Zeigarnik sprechen beide in ihren Versuchsbeschreibungen und -auswertungen von „Spannung“, „Entspannung“ und „Entladung“ ‒ nach der Erreichung des Ziels würde sich eine „Sättigung“ ergeben.

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Zeigarnik als „Ersatzziele“48 bezeichnet ‒ in den Erzählfluss eingebaut werden. Bei jeder Unterbrechung bleiben Restspannungen übrig. Diese führen nicht nur dazu, dass der Rezipient sich besser an die Erzählung erinnern kann, sondern auch dazu, dass er sie besser reproduzieren kann und das Bedürfnis hat, die Erzählung im Geiste bereits fortzuführen. Die Unterbrechung ist am wirksamsten an der „Stelle des stärksten Kontaktes der Versuchsperson mit der Aufgabe“ ‒ übertragen auf den Cliffhanger wäre dass der Moment der größten Spannung. Zeigarnik stellt fest, wie sehr die Versuchspersonen die Unterbrechung ablehnen und wie gefühlsintensiv sie häufig auf die Unterbrechung reagieren. Diese Reaktion könnte man in einer Übertragung auf das Rezeptionsverhalten als das Bedürfnis nach Abschluss und damit einem abschließenden Sinn der Erzählung interpretieren.49 Der Cliffhanger betont immer wieder aufs Neue die „Endhaftigkeit“ der Erzählung und erneuert den „Aufforderungscharakter“, das Ziel, den Abschluss der Serie zu rezipieren.50 Aussagekräftig ist auch die Art der Aufgaben, die den Ehrgeiz der Versuchspersonen besonders weckten: Aus dem langen Aufgabenkatalog des Versuchs waren dies vor allem das „Rätsel“, die „arithmetische Aufgabe“ und die „Abwicklungsaufgabe“.51 Sie wurden besonders gern gemacht, und nach dem Unterbrechen erinnerten sich die Probanden daher als erstes an sie und gaben die Aufgabenstellung am besten wieder. Die später eingeführten Kategorien des enthüllenden und vorausdeutenden Cliffhangers unterbrechen den Rezipienten häufig bei ähnlichen Aufgaben wie den von allen Versuchspersonen präferierten: der Rätsellösung, der Auflösung eines Geheimnisses.52 48 Zeigarnik: „Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen“. In: Lewin (Hg.): Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie, 1927, S. 57f. 49 Hierfür bietet sich als Beispiel die Serie Twin Peaks an, bei der die Haupterzählung um den Mörder von Laura Palmer kreiste. In der ersten Staffel erreichte die Serie sehr hohe Einschaltquoten und wurde landesweit intensiv diskutiert und rezipiert. Als Mitte der zweiten Staffel jedoch Lauras Mörder enttarnt wird und stirbt, sanken die Zuschauerzahlen so schnell, dass die Serie nach dem Ende der zweiten Staffel abgesetzt wurde. Siehe: Lavery (Hg.): Full of Secrets, 1995, S. 15. 50 Vgl. Zeigarnik: „Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen“. In: Lewin (Hg.): Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie, 1927, S. 54. 51 Vgl. ebd., S. 108. 52 Vgl. auch: „There is one further variant in how the cliffhanger is used to engage the audience with the narrative of the serial. This depends on the type of knowledge the audience is given within a specific episode and which in turn affects the kind of puzzle which is offered to the listener/viewer. Audiences can be kept in the dark over a particular problem – Benny, in Crossroads, is accused of murder, we do not know whether he did it or not, we want to get an answer to this question. […] These are two different types of suspense, the

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1.2.4 Typisierung und Zeitkomponenten Dass Zeit eine wichtige Komponente des Cliffhangers und seiner narrativen Umgebung ist, kommt in allen vier Aufsätzen zum Ausdruck. Alle Autoren weisen hin auf die Verbindung zwischen serieller Narration und Cliffhanger, also zwischen zeitlich abgetrennt publizierten Segmenten und dem Cliffhanger.53 Jurga betrachtet die Zeitfaktoren am deutlichsten. Er spricht davon, dass der Cliffhanger sowohl zurückweisende als auch vorausweisende Funktion hat.54 Aufgrund dieser zeitlichen Komponenten versuchen sich Jurga und zum Teil auch Weber und Junklewitz an einer Typisierung verschiedener Cliffhanger.55 Vor allem Jurga benutzt Zeitspannen für eine Unterscheidung und spricht von einem „narrativen Skopus“,56 den er als Hauptunterscheidungsmerkmal benutzt. Losgelöst von zeitlichen Dimensionen grenzen Jurga sowie Junklewitz und Weber physische von psychischen Cliffhangern ab ‒ also Cliffhanger, in denen die Figuren entweder in körperlicher Gefahr sind oder sich in einem psychologischen Konflikt befinden.57 Bei den Gestaltungsmitteln differenziert Jurga zwischen visuellen Mitteln (Bildebene), verbalen Mitteln (Sprachebene), tonalen Mitteln (Musik, Geräusche) und schriftlichen Mitteln (Schrift, Schriftinserts, Untertitel) – also einem Großteil der Bestandteile des modernen Films.

former much more a question of solving the mystery“. Geraghty: „The Continous Serial“. In: Television Monograph 13: Coronation Street, 1981, S. 15. 53 Däumer erwähnt kurz die selbstreferenziellen Zeitaspekte in 1001 Nacht: „Schahriyār bedeutet ‚König der Zeit‘[...]: Schahrazād stoppt mit ihrer Erzählung das Walten des ‚Königs der Zeitʽ; sie friert die erzählte Handlung bis zur nächsten Nacht ein und verhindert so ihre Segnung des Zeitlichen im todbringenden Abschluss der Erzählung.“ Däumer: „Der Held an der Klippe“. In: Kapp u. a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 2010, S. 33. 54 Vgl. Jurga: „Der Cliffhanger“. In: Willems u. a. (Hg.): Inszenierungsgesellschaft, 1998, S. 483. 55 Webers und Junklewitz’ Aufsatz ist zudem in dem Sammelband Previously on…Zur einer Ästhetik der Zeitlichkeit neuerer TV-Serien erschienen – dieser Umstand spricht für sich. 56 Skopus ist ein Begriff, der vorwiegend aus der Logik und Linguistik bekannt ist, er beschreibt in seiner allgemeinsten Bedeutung einer Art von Reichweite (von gr. Σκοπός: Aussicht, Sichtweite). „Je nach dem Zeitpunkt der Wiederaufnahme der thematisierten Aspekte innerhalb der Erzählung sind die Bezugspunkte der Cliffhanger – man könnte auch von einem narrativen Skopus sprechen – mal entfernter, mal näher gesetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die in den Cliffhangern thematisierten Komplikationen weiterzuführen bzw. aufzulösen.“ Ebd., S. 484. 57 Vgl. Weber u. a.: „To Be Continued…“. In: Meteling u. a. (Hg.): „Previously on…“, 2009, S. 123.

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Außerdem stellen Jurga sowie Junklewitz und Weber Minicliffs58 (Jurga) beziehungsweise Binnencliffs (Junklewitz und Weber) fest. Sie meinen damit Cliffhanger innerhalb eines Erzählsegments. „Der sogenannte Binnencliff hingegen ist werkimmanent in die Erzählung eingebettet und kann sowohl episodisch wie auch bei fortgesetzt erzählenden Serien vorkommen. Er unterbricht die Narration beim Wechsel von einem Handlungsstrang zum nächsten oder vor dem Werbeblock.“59 Als Spielart nennen Junklewitz und Weber noch den ‚additiven Cliffhanger‘, einer Addition verschiedener Cliffhanger. 1.3 Fazit Aus den bisherigen objekt- und subjektbezogenen Aufsätzen zum Cliffhanger ergibt sich folgende Zusammenfassung: ‚Cliffhanger‘ ist ein Begriff für eine Technik, die beschreibt, dass eine Erzählung an einem Moment unterbrochen wird, der auf die Fortsetzung gespannt macht. Bisher wird unterschieden zwischen Binnencliffs und Cliffhangern. Spannung und Unterbrechung kristallisieren sich als wichtige Kernelemente der Technik heraus – wie diese Elemente eingesetzt werden, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und wie unterschiedlich sie je nach Veröffentlichungsmedium und Zeit eingesetzt werden, kann ein diachroner Vergleich von Cliffhangern erhellen. Dabei gilt es noch zu überprüfen, ob der Cliffhanger wirklich eine transmedial und transhistorisch eingesetzte Erzähltechnik ist, wie von allen Aufsätzen behauptet wird. Einprägung und Antizipation wurden bisher als wichtige Zielmechanismen des Cliffhangers erkannt, wobei je nach Aufsatz der eine Mechanismus über den anderen gestellt wird. Der in der Psychologie geprägte Zeigarnik-Effekt zeigt, dass sich unterbrochene Handlungen sowohl besser einprägen als auch oftmals zu einer Vollendung der unterbrochenen Aufgabe animieren. Zeitliche Kategorien spielen in allen Aufsätzen zum Cliffhanger eine entscheidende Rolle; dabei bleibt aber unklar, mit welchen zeitlichen Kategorien der Cliffhanger zusammenhängt. Vor allem Jurga versucht sich an einer Kategorisierung des Cliffhangers anhand der Vorausspanne (Skopus) sowie zurück- und vorausweisender (ana- und kataphorischer) Elemente. Jurga, Junklewitz und Weber teilen die Cliffhanger allgemein in physische und psychische Cliffhanger ein.

58 Jurga übernimmt den Begriff von Hans W. Geißendörfer, dem Schöpfer der deutschen Seifenoper Lindenstraße. 59 Vgl. Weber u. a.: „To Be Continued…“. In: Meteling u. a. (Hg.): „Previously on…“, 2009, S. 114.

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2. E INE ANNÄHERUNG

AN DIE SERIELLE

N ARRATION

2.1 Der schlechte Beigeschmack der Worte ‚Serie‘ und ‚Serialität‘ „The serial is a form not unique to television or the cinema. But history, as someone once remarked, is written by the conquerors, and in the history of narrative, the serial has been (with television a notable exception) a consistent loser.“ HAGEDORN: „TECHNOLOGY AND ECONOMIC EXPLOITATION. THE SERIAL AS A FORM OF NARRATIVE

PRESENTATION“. IN: WIDE ANGLE, 1988 (4), S.4.

Die serielle Narration ist das ungeliebte Kind der Erzählkunst. Wie sehr sie in geisteswissenschaftlichen Forschungen bisher ausgeklammert wurde, ist bereits ersichtlich aus der Begrifflichkeit: Es gibt nicht einmal einen Namen für das Gegenteil, die Narration in abgeschlossenen Teilen, so sehr wurde sie als nicht weiter differenzierbare Norm gesehen. „Im Kontext von Literatur und Literaturwissenschaft – für die bildende Kunst oder die Musik ist der Gebrauch analog – meint Werk das fertige und abgeschlossene Ergebnis der literarischen Produktion, das einem Autor zugehört und in fixierter, die Zeit überdauernder Form vorliegt, so daß es dem Zugriff des Produzenten ebenso enthoben ist wie dem Verbrauch durch den Rezipienten. Texte, allgemeiner Kunstgebilde, die vom Urheber nicht vollendet oder die durch die Überlieferung verstümmelt wurde, bezeichnet man im Gegensatz dazu als FRAGMENTE [Herv.i.O.].“60

Die serielle Narration stellt aufgrund des schwer zu bestimmbaren Werkbegriffs eine Herausforderung für die Geisteswissenschaft dar. Die seriellen Werke sind während der Publikationsspanne der einzelnen Folgen nicht abgeschlossen, sie sind nicht „dem Zugriff des Produzenten enthoben“ – oftmals eilt die Produktion der Publikation und Rezeption nur gering voraus. Serielle Werke sie sind in diesem Sinne also keine Werke.61 Sie als Fragmente zu bezeichnen wäre aber ebenso unzutreffend beziehungsweise nur vorübergehend während der Publikation der einzelnen Teile passend, da es nach der Veröffentlichung aller ‚Fragmente‘ ja eine ‚Voll-Endung‘ des seriellen Werks gibt. Die seriellen Veröffentlichungen sind insofern durch eine Zwitterform gekennzeichnet – die einzelnen Folgen sind in gewisser Weise Fragmente 60 Fricke u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 2007, S. 832. 61 Auch die alt- und mittelhochdeutsche Wortherkunft steht für ein Resultat: „Ahd. werc, wer(a)h, mhd, werc bezeichnet allgemein eine Arbeit, Tätigkeit und deren Resultat.“ Ebd.

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oder zumindest fragmentarisch62 – sie sind eben nur Teile; aber sie sind Teile eines zusammengehörigen ganzen Werks.63 62 „Fragmentarisch kann sowohl das Relikt einer zerfallenen wie auch der Teil einer nie gewesenen oder erst noch im Entstehen begriffenen Ganzheit genannt werden.“ Ostermann: „Der Begriff des Fragments als Leitmetapher der ästhetischen Moderne“. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 190. Wenn fragmentarisch also auch als „Teil einer […] erst noch im Entstehen begriffenen Ganzheit“ gesehen werden kann, ist die Folge tatsächlich ein Fragment – dieses Verständnis des Begriffs Fragment ist jedoch weit entfernt von den anderen zwei Konnotationen: Teile eines seriellen Ganzen sind weder Relikte noch Teile eines nie Gewesenen. Im in der Einleitung genannten Beispiel aus dem Computerspiel The Last of Us ist eine Folge tatsächlich zu einem Relikt geworden. Folgen können also Fragmente werden – genau aus diesem Grund ist es wichtig, die Begriffe zu trennen. 63 Das Werk als Beschreibung eines Ideals der ästhetischen Ganzheit ist spätestens durch die Tendenzen der Destruktion, vor allem von Avantgarde-Bewegungen seit dem 20. Jh. nicht mehr gültig. Aber schon zuvor wurde das Fragmentarische, nie Vollendete dem Ideal des ästhetisch vollendeten Ganzen gegenübergestellt. Schlegel postuliert in der Frühromantik, dass bspw. die Poesie „ewig nur werden, nie vollendet sein kann“. Schlegel u. a.: Kritische Ausgabe, 1967, S. 183. Die Diskussion über Fragment und Ganzheit stellt sich als noch wesentlich komplizierter und länger dar, kann hier aber nur stichwortartig und aufs Wesentliche konzentriert wiedergegeben werden, siehe dazu: Ostermann: „Der Begriff des Fragments als Leitmetapher der ästhetischen Moderne“. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 189–205. Wobei einschränkend hinzugefügt werden muss, dass es sich bei der Diskussion Ganzheit und Fragmentarisches selten um den physischen Werkbegriff handelt, sondern vorwiegend um ein ästhetisches Verständnis der Abgeschlossenheit und Ganzheit von Werken, die aber immer als ein physisches Ganzes veröffentlicht wurden, während es sich bei der seriellen Narration zunächst einmal um eine physische Aufteilung handelt. Vornehmlich seit der Moderne stößt der Begriff der ‚Offenheit‘ zur Werkdiskussion hinzu. Vor allem Umberto Eco hat die verschiedenen Formen des „offenen Kunstwerks“ in seinem gleichnamigen Aufsatz zusammengefasst und beschrieben: „[D]iese neuen Musikwerke hingegen bestehen nicht aus einer abgeschlossenen und definiten Botschaft, nicht aus einer eindeutig organisierten Form, sondern bieten die Möglichkeit für mehrere, der Initiative des Interpreten anvertraute Organisationsformen.“ Eco: „Die Poetik des offenen Kunstwerkes“. In: Im Labyrinth der Vernunft, 1995, S. 115. Wenn auch diese Werke oder ähnlich gestaltete, die Eco auch unter einer weiteren Kategorie der „Kunstwerke in Bewegung“ (ebd., S. 126) subsumiert, bewusst unvollendet und uneindeutig sind, so gibt es dennoch den großen Unterschied zur seriellen Narration, dass diese Werke meistens nur aus einem zusammenhängenden physisch Ganzen bestehen, das unvollendet sein soll. Die Unfertigkeit ist Programmatik und damit als Vollendung des Werks gedacht. Die offenen Kunstwerke sind eben selten Teile, die zusammen etwas Ganzes ergeben, sondern ein Ganzes, das aber ästhetisch nur als Teil gesehen werden soll, das vom Rezipienten

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Inzwischen wird die serielle Narration von der ganzheitlichen begrifflich abgegrenzt, aber diese Unterscheidung ist relativ neu: 64 Noch vor einigen Jahrzehnten war die serielle Narration nicht nur ein ungeliebtes Kind, sondern vor allem in der deutschsprachigen Wissenschaft ein totgeschwiegenes. Dabei ist der Begriff ‚ganzheitliche Narration‘, den ich hier als Kontrast zu ‚serielle Narration‘ einführe, ein ungenügender. ‚Ganzheitlich‘ suggeriert, die serielle Narration sei bruchstück- wenn

vollendet bzw. weitergeführt wird. Eco zitiert den italienischen Philosophen Luigi Pareyson und nennt seinen Text Estetica – Teoria della formativitá, einen der wichtigsten zu dieser Thematik: „Das Kunstwerk…ist eine Form, d.h. eine geschlossene Bewegung […]. Seine Totalität resultiert aus einem Abschluß und ist darum zu betrachten nicht als die Geschlossenheit einer statischen und unbeweglichen Realität, sondern als die Offenheit eines Unendlichen, das, indem es sich in eine Form faßte, sich zu einem Ganzen gemacht hat. Es gibt deshalb unendlich viele Aspekte des Kunstwerkes, die nicht nur ‚Teile‘ oder Fragmente von ihm sind, weil jeder von ihnen das ganze vollständige Werk enthält und in einer bestimmten Perspektive enthüllt.“ S.194ff. zitiert nach: ebd., S. 139. Es mag vorkommen, dass einige der offenen Kunstwerke auch die Form von Fragmenten und Teilen haben, die aufeinander aufbauen und voneinander getrennt veröffentlicht wurden; in diesen wenigen Ausnahmefällen finden Berührungen mit bzw. Grenzverwischungen zur seriellen Narration statt. Gegen eine vollkommen von Werk gelöste Geistes-, vor allem aber Literaturwissenschaft hat sich vor allem Karlheinz Stierle gewendet, der dazu anregte, „die Verbindlichkeit werkhaft gebundener Kunst neu zu bedenken.“ Stierle: Ästhetische Rationalität, 1997, S. 11. 64 Selbst der Begriff ‚serielle Narration‘ ist eine relativ neue Differenzierung in der deutschsprachigen Wissenschaft (im immerhin acht-bändigen Literatur Brockhaus finden sich beide Lemmata nicht: Habicht u. a. (Hg.): Der Literatur Brockhaus, 1995). Das Metzlers Literatur Lexikon führt inzwischen (1990 noch nicht, seit 2007 aber schon) die Lemmata „Serialität“ (mit einem einzigen CD-Rom-Literaturhinweis zu Reihen und Netzen, der völlig unpassend ist, weil es sich um ein digitales Kunstprojekt handelt und keine Sekundärquelle) und „Serie“: Burdorf u. a.: Metzler-Lexikon Literatur, 2007, S. 703–704. Noch vor einigen Jahren war in wissenschaftlichen Werken nicht die Rede von serieller Narration, oder es wurden die im Englischen seit längerem geläufigen Termini „serial“, „serial narrative“ oder „serial fiction“ direkt übernommen. In älteren deutschen Veröffentlichungen über Dickens’ und Dumas’ serielle Werke wurde meist der englische Begriff ‚serial narration‘ gewählt (siehe bspw. Kuehn: Marie Corelli und der spätviktorianische Bestseller, 2001, S. 16). Der Begriff ‚serial narration‘ ist aber nicht wortwörtlich als serielle Narration übersetzbar, sondern als serielle Fortsetzungsnarration. Weitere Erläuterungen zu den Erzählprinzipien ‚serielle Episodennarration‘ und ‚serielle Fortsetzungsnarration‘ folgen in den anschließenden Kapiteln.

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nicht gar fehlerhaft. Damit schlägt der Begriff genau in die Kerbe der bisherigen Vorurteile.65 In Ermangelung eines besseren, aber der gleichzeitigen Notwendigkeit eines derartigen Begriffs gebrauche ich ihn trotzdem:66 Erst durch den Vergleich mit der ganzheitlichen Narration und die Abgrenzung davon lassen sich die Charakteristiken der seriellen Narration herausarbeiten. Das Fehlen eines passenden Begriffs zeigt jedoch von Anfang an, welch unerforschtes Neuland betreten wird. Gründe für die geisteswissenschaftliche Ignorierung der seriellen Narration finden sich in den Konnotationen und Assoziationen der Worte ‚seriell‘, ‚Serie‘ und ‚Serialität‘. „Die ‚moderne‘ Ästhetik hat uns daran gewöhnt, als ‚Kunstwerke‘ lediglich solche Objekte anzuerkennen, die sich als ‚einmalig‘ (also nicht wiederholbar) und ‚original‘ präsentierten. […] Als die moderne Ästhetik sich dann mit den Werken der Massenmedien konfrontiert sah, hat sie ihnen jedweden künstlerischen Wert abgesprochen, da sie ‚repetitiv‘ erschienen, konstruiert nach einem gleichbleibenden Modell, um ihren Adressaten genau das zu geben, was sie erwarteten und verlangten. Sie hat diese Werke als Serienprodukte definiert, als Erzeugnisse einer Industrie, vergleichbar mit Automobilen, die in großer Stückzahl nach einem konstanten

65 Selbst die Unterbrechung – charakteristischer Teil der seriellen Narration – wurde in der Literatur- und Kulturwissenschaft vorwiegend in Bezug auf ganzheitliche Werke untersucht. Siehe zum Beispiel: Hilmes u. a. (Hg.): Die Magie der Unterbrechung, 1999. Obwohl es in ihm um „Abbruch, Grenze, Übergang und Zäsur“ (S.7) geht, kommt die serielle Narration nicht vor. Siehe mit einem ähnlichen Schwerpunkt der Untersuchung von Unterbrechung außerhalb der seriellen Narration auch: Metz: „Rhetorik der Unterbrechung“. In: Bischoff u. a. (Hg.): Rhetorik, 2010, S. 78–94. Das Buch von David Lynwood Smith beschäftigt sich mit diegetischen Unterbrechungen von Reden in ganzheitlicher Literatur, vor allem im Lukas-Evangelium und antiker griechischer Literatur. Vielleicht könnte sich bei ausgiebigem Vergleich der über 100 Stellen, die Smith gefunden hat, in denen eine Rede unterbrochen wird, der eine oder andere Hinweis auf einen Cliffhanger bzw. ein Binnencliff oder serielle Narration als solche finden. Zunächst einmal scheinen die Unterbrechungen der Redesituationen aber andere Hintergründe zu haben. „Most frequently, interruptions are rooted in conflict, and we found multiple examples of conflict-based interruption that were motivated by one of the following: heated rivalries between peers, the despair of the defeated, righteous rebuttals of the wicked, and impious incursions against the just.“ Smith: The Rhetoric of Interruption, 2012, S. 244. 66 Frank Kelleter bspw. umschreibt die ganzheitliche Narration in seinem Vorwort mehrmals als „abgeschlossene Einzelgeschichten“. Kelleter: „Populäre Serialität“. In: Ders. (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion, 2012, S. 13. Für eine ganze Studie wäre diese Umschreibungstaktik aber sehr umständlich.

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Modell gebaut werden. Die ‚Serialität‘ der Massenmedien ist sogar negativer als die der Industrie bewertet worden.“67

Serielle Narration weckt den Verdacht industrieller (Massen-)Produktion und Repetition. Der Begriff suggeriert somit, dass es sich zwar um Kunst handelt, die aber im Widerspruch zum Gedanken des einzigartigen Genies steht, welcher das unverwechselbare geschlossene Kunstwerk erschafft. „[E]rhalten hat sich jedoch auch die Kritik und die pejorative Geste, mit der diese serialisierte Form der Narration als stereotypisierend, gleichförmig, wenig innovativ, nach industriellen Verfahren gefertigt und in Schematismus befangen bezeichnet wird.“68 Jean Baudrillard bezeichnete die Serie an sich sogar als Grundlage der industriellen Revolution: „Ihre Voraussetzung [d.i. die der industriellen Revolution] ist die Serie, das heißt die Möglichkeit, zwei oder n identische Objekte zu produzieren.“69 Baudrillards Beobachtung wird wiederum mit der Funktionsweise der seriellen Narration assoziiert.70 Häufig wird serielle Narration mit den Begriffen der ‚Serie‘ und der ‚Serialität‘ gleichgesetzt. Dadurch erhält die serielle Narration dieselben negativen Konnotationen und Assoziationen, einschließlich einer ähnlichen zeitlichen Einschränkung.71 67 Eco: „Die Innovation im Seriellen“. In: Ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, 2001, S. 155. Siehe auch: „Die Produkte der Massenmedien wurden jenen der Industrie gleichgesetzt, da sie in Serien produziert wurden, und die ‚serielle‘ Produktion wurde als mit der künstlerischen Erfindungsgabe unvereinbar betrachtet.“ Eco: „Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien“. In: Im Labyrinth der Vernunft, 1995, S. 302. 68 Mielke: Zyklisch-serielle Narration, 2006, S. 3. 69 Baudrillard u. a.: Der symbolische Tausch und der Tod, 2011, S. 87. 70 Vgl. Beil u. a.: „Die Serie“. In: Ders. u. a. (Hg.): Die Serie, 2012, S. 10. 71 „Der Duden kennt das Wort ‚Serialität‘ noch nicht, und zur ‚Serie‘ gibt er als Erklärung an: ‚Reihe; Folge; Gruppe gleichartiger Dinge‘. In den anschließend aufgelisteten Zusammensetzungen und Wortkombinationen (z.B. Serienproduktion) assoziiert er das Fabrikmäßige, das Industrielle als Bauprinzip der Serie, die damit zugleich indirekt als Produkt menschlichen Schaffens charakterisiert ist. Serialität wäre demzufolge das einende Merkmal einer ‚Gruppe gleichartiger Dinge‘, das nämlich, an dem die Gleichartigkeit sich im Produkt ablesen läßt. Dieser Erklärungszusammenhang ist widersprüchlich: er verbindet die Vorstellung menschlichen Schöpfertums mit der entindividualisierten Herstellungsweise von Gegenständen, scheint zugleich Kreativität und maschinelle Massenhaftigkeit zu meinen und damit, wenn es sich um künstlerische Produkte handelt, zugleich deren Kunstcharakter und -wert in Zweifel zu ziehen.“ Giesenfeld: „Serialität als Erzählstrategie in der Literatur“. In: Ders. (Hg.): Endlose Geschichten, 1994, S. 1. 2013 „kennt“ die inzwischen online herausgegebene Version des Dudens immer noch nicht den Begriff ‚Serialität‘ und fragt mich, ob ich vielleicht ‚Spezialität‘ meine. http://www.duden.de/suchen/ dudenonline/serialit%C3%A4t [vom 17.04.2013].

52 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „Serielle Produktion, Strukturen und Ästhetiken der Serialität und serienförmige Zeit- und Verhaltensordnungen sind ein ausgezeichnetes Signum der Moderne. Sie sind eng verbunden mit den zyklischen Bewegungen der Maschinen und der damit einhergehenden serialisierten industriellen Produktion.“72

Sicherlich nimmt eine künstlerische Thematisierung der Serialität (beispielsweise in der Popart) seit der industriellen Revolution und dem Anfang der Moderne zu, weil in einer Welt mit industriell-serieller Produktion auch die Kunst diese Arbeitsweise thematisiert und adaptiert.73 Aufgrund der neueren Beschäftigung mit Serialität in der Kunst wird aber fälschlicherweise davon ausgegangen, serielle Kunst sei ausschließlich ein „Signum der Moderne“. Serialität in der Narration aber ist vermutlich so alt wie das Erzählen selbst. „Wenn Sie frühe epische Werke nehmen (Odyssee, Ilias), das sind rhapsodische Gesänge, die natürlich nicht an einem Stück vorgetragen, und auch nicht gelesen, sondern mündlich vorgetragen wurden. Was Sie heute als Buch, als eine zusammenhängende, ungeteilte Darstellung vor sich haben, ist ursprünglich eine Serie gewesen, in Episoden erzählt, immer wieder variiert, immer wieder neu produziert.“74

Die ursprüngliche Wortbedeutung von Rhapsode zeigt an, dass Erzählen bereits zu jener Zeit unterteilt wurde.75 „Rhapsode, m [aus rháptein = zusammennähen, ódé = Gesang; die Bez. deutet auf die Fähigkeit hin, Gesänge improvisierend aneinander zu reihen].“76 Dieses „Zusammennähen“ aus Teilen eines (vorgestalteten) Ganzen, die Rhapsoden-Erzähltradition, ist eine serielle Narrationspraxis, die weit vor der Moderne und industriellen Produktion üblich war. Die Sänger reproduzierten Abschnitte 72 Beil u. a.: „Die Serie“. In: Ders. u. a. (Hg.): Die Serie, 2012, S. 10. 73 Vgl. Blättler: „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Kunst der Serie, 2010, S. 7. 74 Hickethier: „Diskussion: Etwas Aufregung und etwas Abregung“. In: Giesenfeld (Hg.): Endlose Geschichten, 1994, S. 37. Siehe auch: „Itʼs clear that humans have always loved seriality. Bards, jongleurs, griots and yarn-spinners (not to mention parents and nurses) have all long known the value of leaving their listeners wanting more, of playing on the mix of repetition and anticipation, and indeed of the anticipation of repetition, and underpins serial pleasure.“ Dyer: „Kill and Kill Again“. In: Sight and Sound, 7.9, 1997, S. 14. 75 Siehe auch: Däumer: „Der Held an der Klippe“. In: Kapp u .a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 2010, S. 32. Außerdem: „Der Name rhapsodós gehört, obwohl die Rhapsoden beim Vortrage einen Stab in der Hand hielten, nicht zu gr. rhábdos = Stab, sondern zu rháptein = nähen; ‚einer, der Lieder (odai) näht‘, d. h. kunstreich erfindet; dasselbe rhaptein liegt im neugr. raptomechané = Nähmaschine vor.“ Link: Wörterbuch der Antike, 2002, S. 649–650. 76 Burdorf u. a.: Metzler-Lexikon Literatur, 2007, S. 651.

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einer Erzählung wie die der Odyssee bei Versammlungen und Festessen.77 Dabei fand eine doppelte Teilung statt: Erstens wurden die abendlichen Erzählungen von der Länge der Menügänge bestimmt und entsprechend unterteilt und (je nachdem) auch unterbrochen. „Der Sänger, der sein Publikum vor sich hat, muß Rücksicht auf die Zeit, die ihm zur Verfügung steht, nehmen. Sein Lied darf z.B. nicht länger dauern als die Mahlzeit, bei der er es vortragen soll. […] Der [in Homers Odyssee auftauchende] Phäakenkönig Alkinoos zögert nicht, Demodokos zu unterbrechen, als dessen Lied beim Festmahl die Stimmung des Gastes trübt (8,537).“78

Zweitens ergaben zusätzlich alle an dem Abend oder dem Fest dargebotenen Teile wiederum insgesamt nur Ausschnitte einer zusammenhängenden Erzählung, die für den jeweiligen Erzählanlass aus Teilen ‚zusammengenäht‘ und verkürzt wurde. „Da der Sänger sein Publikum direkt vor sich hatte, konnten seine Lieder eine gewisse Länge nicht überschreiten. Er konnte von einer längeren Geschichte wie dem ‚Trojanischen Krieg‘ also nur Ausschnitte oder einzelne Episoden vortragen.“79 Auch 1001 Nacht und die arabisch-orientalische Erzähltradition der mündlichen Überlieferung sind im Kontext einer frühen seriellen Narration zu sehen.80 Arabische Berufserzähler waren ebenso Produzenten serieller Kunst, die ihre Geschichten kommerziell reproduzierten. Die späteren Verschriftlichungen der Geschichten dienten den mündlichen Erzählern als Anhaltspunkte; anhand des Skripts wurde eine serielle Reproduktion möglich oder zumindest deutlich erleichtert. Auch modernere Texte wie die von Dumas’ und Dickens’ werden vorwiegend nicht mehr als serielle Texte81 angesehen. Die 77 „Seit Anbeginn der Verschriftlichung von Dichtung und Prosa stellten diese Texte sich als reproduktionsfähige Kunstobjekte dar, die sich in einem künstlerischen Vortrag dem Hörer über das Ohr erschlossen.“ Eideneier: Von Rhapsodie zu Rap, 1999, S. 22. 78 Siehe: Seeck: Homer, 2004, S. 47. 79 Ebd., S. 19. 80 Siehe dazu das Kapitel IV über 1001 Nacht, ab S. 129. 81 Der Begriff ‚Text‘ wird im Folgenden als sehr weiter Begriff benutzt. „Zeichen stehen im Zusammenhang mit anderen Zeichen. Die Verbindung mehrerer Zeichen zu einem größeren Zeichengefüge nennen wir ‚Text‘. […] Der Textbegriff gilt nicht nur für schriftliche, sondern auch für nicht-schriftliche Formen. Damit sind Kommunikationseinheiten gemeint, die auditiv […], visuell oder audiovisuell […] realisiert werden […]. Die Etablierung eines solchen Text-Verständnisses steht in Verbindung mit Konzepten, die jegliche kulturelle Artikulation als Textrealisation verstehen und damit der kulturellen ‚Lektüre‘ bzw. der Interpretation erschließen.“ Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, 2010, S. 101. Das heißt, alle Erzählungen in allen Medien werden im Folgenden als ‚Texte‘ bezeichnet. Der Gebrauch von ‚Text‘ als medienübergreifendem Begriff geschieht nicht

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heutige Erscheinungsform als Buch, als ganzheitliche Narration, verschleiert häufig den seriellen Ursprung und führt damit mit zu einer einseitigen Verknüpfung von der seriellen Narration mit der Moderne. Die zeitliche Eingrenzung von ‚Serialität‘ und damit serieller Narration hängt auch damit zusammen, dass der Begriff ‚Serie‘ mit serieller Narration gleichgesetzt wird, aber gleichzeitig ‚Serie‘ vorwiegend mit der Fernsehserie assoziiert wird.82 ohne Zweifel an der Adäquatheit dieser Verwendung, wenn auch besonders in der Filmwissenschaft der „Film als Text“ eine lange Tradition aufweist (v.a. in der Filmsemantik bzw. Filmsemiologie: Metz: Langage et cinéma, 1977), die immer wieder aufgegriffen, reformuliert und aktualisiert wurde (vgl. Kessler: „Filmsemiotik“. In: Felix (Hg.): Moderne Film Theorie, 2002, S. 104–125). Beim Film wäre es sinnvoll, mehr die Verwobenheit hervorzuheben – also die ursprüngliche Bedeutung von ‚Text‘ als die assoziative Verbindung von Text und Schrift bzw. Materie. Die Wesensunterschiede sind massiv: Die Rezeption des skripturalen Texts kann selbst bestimmt werden. Dagegen befindet sich bspw. bei einer Kinovorführung oder einem oralen Erzählvorgang kein eigentlicher Text vor dem Rezipienten; vielmehr findet ein Rezeptionsvorgang statt, der fremdbestimmt und nicht selbst wiederholbar ist. Das ‚Verwobensein‘, das der Begriff ‚Text‘ beschreibt, ist aber auch beim Film gegeben, da die verschiedenen Bestandteile des Films zusammen ein Objekt ergeben: „[T]aking text not as script or book but in its etymological sense of textum, that which is woven and made up of varied components to make a whole. The film should be seen as the end product of many strands and contributions – cinematic images, representation and acting, make-up, costumes and sets, special effects and photography, colour, lightning, sound, music, etc. – all coming together and contributing to the final product: the text or cloth viewed by the spectator.“ Bentley: „The Film as Text“. In: Forum for Modern Language Studies, 1995 (1), S. 1–2. Bei der seriellen Narration ist zusätzlich die Frage, inwieweit Kohäsion (v.a. syntaktischer Zusammenhang, Verknüpfung) und Kohärenz (v.a. inhaltlicher Zusammenhang), die Grundmerkmale des Textbegriffs, noch greifen: siehe dazu das Kapitel „Der serielle Textbegriff“, S. 60. 82 „Die Vorstellungen, die mit dem Begriff ‚Serie‘ verbunden werden, sind heute wesentlich durch die fiktionalen Serien im Fernsehen geprägt.“ Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, 2010, S. 147. Siehe ergänzend auch den Aufsatz von Stanley Cavell: „Die Tatsache des Fernsehens“. In: Adelmann u. a. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, 2002, S. 125–164. Cavell geht dem schlechten Ruf des Fernsehens nach und bezeichnet als eine der Hauptursachen dafür (auch an Ecos „Wiederkehr des Immergleichen“ erinnernd), die Serialität des Fernsehens als Wiederholungsmechanismus. „Stanley Cavell [hat] die Serialität als Grundcharakteristikum des Fernsehens ausgemacht. Allerdings ist für ihn eben diese Fundierung des Fernsehens in der Serialität ein Ausweis seiner Stagnation; Fernsehen besteht demnach in einer flächigen, erschöpfenden Entfaltung immer gleicher Schemata.“ Engell: „Zur Chemie des Bildes“. In: Freyermuth u. a. (Hg.): Bildwerte, 2012, S. 195–196.

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„Trotz der Ubiquität serieller Phänomene und Formen, die auch in der Gegenwart weder an Aktualität noch an ästhetischer und epistemischer Sprengkraft verloren haben, hat jedoch keine Produktionstechnik, keine Kunstform und kein Medium dem Seriellen auf vergleichbare Weise Aufmerksamkeit geschenkt und ihm zu ähnlicher Komplexität verholfen wie das Fernsehen, und umgekehrt ist kein anderes Medium so stark von der Form der Serie geprägt.“83

Dass Serie, Serialität und damit auch serielle Narration hauptsächlich mit dem Fernsehen verknüpft werden, hat zum schlechten Ruf der Serie beigetragen. Das Fernsehen wurde (außer in den Medien- und Fernsehwissenschaften) seit geraumer Zeit vorwiegend als massenkulturelle, kommerziell geprägte und daher triviale Form angesehen.84 Eine vorurteilsbeladene negative, berüchtigte Beurteilung von Fernsehen und Serie brachte Adorno in seinen Aufsätzen zum Ausdruck – das Fernsehen, aber auch die Serie werden als geistig noch beschränkter eingestuft als der Film. Adorno spricht zwar vom „Fernsehspiel“, aufgrund der Erzählzeit von 15 und 30 Minuten ist aber eher davon auszugehen, dass er eigentlich die Fernsehserie meint: „Der Hauptunterschied [zwischen Fernsehspiel bzw. Fernsehserie und Film] ist eben jene viel kürzere Dauer der Fernsehspiele: meist eine Viertelstunde, höchstens eine halbe. Die Qualität wird davon mitbetroffen. Selbst die bescheidene Entfaltung der Handlung und der Charaktere, die der Film duldet ist [hier] unterbunden; alles muß sogleich feststehen; die angebliche technologische Notwendigkeit, die selber vom kommerziellen System herrührt, kommt der Stereotypie und ideologischen Starrheit zugute […]. Die Kurzatmigkeit der Form steht […] im Dienst einer geistigen.“85

Wenig verwunderlich ist daher, dass (bis auf die Fernseh- und Medienwissenschaften) in den Geisteswissenschaften bisher nur ein geringes Interesse an der Serie oder der übergeordneten seriellen Narration vorhanden war. Die serielle Narration steht zu sehr im begrifflichen Dunstkreis der negativ behafteten Phänomene der industriellen Herstellung von Fernsehen und (Fernseh-)Serie.

83 Beil u. a.: „Die Serie“. In: Ders. (Hg.): Die Serie, 2012, S. 13. 84 Siehe zum Beispiel Jerry Manders berühmte Streitschrift: Four Arguments for the Elimination of Television, 1978. Lorenz Engell erklärt auch aus diesen Vorurteilen heraus, warum es kaum eine Theorie des Fernsehens gibt: „Beides, das Vulgäre wie das technisch Komplexe [des Fernsehens], zieht akademische Begriffs- und Theoriebildung nicht gerade an. Es lädt im Gegenteil dazu ein, Fernsehen mit Verachtung und eindeutiger Abwertung zu begegnen.“ Engell: Fernsehtheorie, 2012, S. 14. 85 Adorno: „Fernsehen als Ideologie“. In: Ders. u. a. (Hg.): Kulturkritik und Gesellschaft, 2003, S. 519.

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Steigendes Interesse an serieller Narration und eine Neubewertung wurde vor allem durch die so genannten Quality-TV-Serien der letzten Jahre hervorgerufen – und das Etikett ‚Quality TV‘ zielte direkt darauf ab, sich von den bisherigen Negativ-Konnotationen abzusetzen.86 Der Begriff wirkt so, als wolle man von vornherein klarstellen, dass eben keine schnell und industriell-massenproduzierten, verdummenden Unterhaltungsserien im Fernsehen gemeint seien. Die Quality-TV-Serien erzählen auf komplexe Weise häufig als „episch“ bezeichnete Fortsetzungsgeschichten.87 Auffallend oft werden sie mit Literatur – beispielsweise mit Balzac, Shakespeares Hamlet und Thomas Manns Buddenbrooks88 – verglichen, als könne nur ein Vergleich mit ernst zu nehmender Literatur der Serie (und damit der seriellen Narration) zu einem besseren Ruf verhelfen. Eine Flut an wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Quality-TV-Serie sowie einige wenige Veröffentlichungen, die sich mit serieller Narration allgemein beschäftigen, zeigen, dass dieser Forschungsbereich zeitgemäß ist – und bisher wenig erkundet.89 Da die Serie und das Fernsehen zum großen Teil mit serieller Narration gleichgesetzt werden, war es folgerichtig, dass eine Aufwertung 86 „Quality TV is best defined by what it is not. It is not ‚regular‘ TV.“ Thompson: Televisionʼs Second Golden Age, 1997, S. 13. Thompson lieferte anhand seiner 12 Punkte, was Quality-TV auszeichnet, eine erste wissenschaftliche Begriffsprägung. 87 Siehe z. Bsp.: Schneid: Die Sopranos, Lost und die Rückkehr des Epos, 2012. 88 The Wire bzw. ihr Schöpfer David Simon wurde häufig mit Balzac verglichen (siehe zum Beispiel: Kämmerlings: „Ein Balzac für unsere Zeit“, in: FAZ, 08.05.2012, S.33), Sons of Anarchy hat starke Anleihen bei Shakespeares Hamlet (vgl. Bevington: Murder Most Foul, 2011, S. 193; Dunn u. a.: Sons of Anarchy and Philosophy, 2013, S. 118) und The Sopranos wurde Thomas Manns Buddenbrooks gegenübergestellt (Dreher: „Autorenserien – Die Neuerfindung des Fernsehens“. In: Ders. u. a. (Hg.): Autorenserien, 2010, S. 25). 89 Die folgenden drei Bände stellen zumindest in den Titeln oder Untertiteln immer einen Bezug zur seriellen Narration her: Kelleter (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion, 2012; Seiler (Hg.): Was bisher geschah, 2008; Blanchet u. a.: Serielle Formen, 2010. Eine frühe Auseinandersetzung mit Serialität bietet der Sammelband: Giesenfeld (Hg.): Endlose Geschichten, 1994. Mielkes Monographie hat keinen direkten Bezug zum Quality-TV. Mielke: Zyklisch-serielle Narration, 2006. Ihre Studie ist ein erster Versuch, Zusammenhänge zwischen seriellen Werken herzustellen. Allerdings ist es in seiner Auswahl sehr speziell. Mielke beschäftigt sich mit einer, wenn man so will, von ihr erfundenen Gattung, der zyklisch-seriellen Narration. „Relativ selbständige Einzelerzählungen werden durch eine Rahmung in einen größeren Erzählzusammenhang eingefügt und erzeugen so einen geschlossenen Kreis von Erzählungen.“ Ebd., S. 17. Bei der zyklischseriellen Narration muss immer ein Rahmen vorhanden sein, „ein Wechsel von Geschichten und Kommentieren“ (ebd.). Diese Definition von zyklisch-serieller Narration ‒ vor allem das Zyklische der von ihr ausgiebig behandelten Seifenoper ‒ will mir nicht einleuchten.

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der seriellen Narration auch aus der Fernsehserien-Narration kam. Es scheint tatsächlich so, als hätte es das Quality-TV geschafft, durch den Verweis auf allgemein als anspruchsvoll anerkannte Erzählungen, der sich selbst schadenden Trias aus serieller Narration, Serie und Fernsehen zu einem besseren Ruf zu verhelfen. Vor allem diese aktuelle Aufwertung der Serie fördert eine Neubewertung der seriellen Narration und das Interesse an ihrer Geschichte. 2.2 Was aber ist serielle Narration? Die nur skizzierten Reduzierungen und assoziativen Verknüpfungen der Begriffe ‚Serie‘ und ‚Serialität‘ bieten Erklärungen, warum die serielle Narration noch so wenig erforscht ist und welche Vorurteile mit einer Beschäftigung einhergehen. Das schwere Gepäck lenkt aber von der grundlegenden Frage ab, was die serielle Narration ist und was sie für das Erzählen und Rezipieren von Geschichten bedeutet. Serielle Narration beschreibt zunächst einmal nur eine Veröffentlichungsform: Statt eine Erzählung beziehungsweise auf irgendeine Art verbundene Teilerzählungen als ein geschlossenes Ganzes zu veröffentlichen, wird sie in verschiedenen, voneinander getrennten Teilen publiziert. „Eine Serie besteht aus zwei oder mehr Teilen, die durch eine gemeinsame Idee, ein Thema oder ein Konzept zusammengehalten werden und in allen Medien vorkommen können.“90 Die Unterbrechung ist damit immer schon ein Teil beziehungsweise das Alleinstellungsmerkmal der seriellen Narration, wie Robert C. Allen betont: „A serial narrative is not merely a narrative that has been segmented, but one whose segmentation produces interruption in the reading, listening, or viewing process. Furthermore, that interruption is controlled by the producer or distributor of the narrative, not by the reader. In other words, the producer of the narrative determines not only how and when the narration of the story stops and starts, but also how and when the readerʼs engagement with the text stops and starts.“91

Umgekehrt bedeutet dies, dass wenn die Serie definitorisch ganz auf ihre segmentierte Publikationsform beschränkt wird, sie keine Serie mehr ist, wenn die Unterbrechungen wegfallen. „Ein Roman, der als geschlossenes Werk verfasst wurde, wird bei einer Veröffentlichung als Fortsetzungsroman in einer Zeitung zur Serie. Umge-

90 Weber u. a.: „Das Gesetz der Serie.“. In: Medienwissenschaft, 1/2008, S. 18. 91 Allen: „Making Sense of Soaps“. In: Hill u. a. (Hg.): The Television Studies Reader, 2004, S. 242.

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kehrt ist eine TV-Produktion, die als Serie angelegt war und zu einem Film zusammengefügt wurde, in diesem Fall keine Serie mehr.“92 Die Unterbrechung, Grundvoraussetzung serieller Narration, ist gleichfalls wichtige Charakteristik des Cliffhangers: Erst die Unterbrechung an einem spannenden Moment weckt die Neugier auf die nächste Folge. Diese sehr weite Definition von serieller Narration kann für eine Analyse des Cliffhangers als intendierter Erzählunterbrechung eingrenzt werden: „Formal setzen sich Serien aus einer Reihe einzelner Elemente oder Glieder zusammen, entstehen können sie aus einem einzigen Element heraus. Es können aber auch bereits existierende Elemente aneinandergereiht werden, ohne dass vorher schon eine Beziehung zwischen ihnen bestehen müsste; der springende Punkt ist dann, dass die Beziehung erst durch die serielle Anordnung gestiftet wird.“93

Aus Christine Blättlers Definition von ‚Serie‘ lässt sich für die serielle Narration schlussfolgern, dass unterschieden werden muss, ob die Narration auf der Produktionsebene seriell konzipiert war, auf der Publikationsebene seriell veröffentlicht beziehungsweise seriell distribuiert wurde oder werkimmanent eine serielle Struktur vorweist. Sicherlich gibt es seriell konzipierte Werke, die zunächst seriell publiziert wurden, aber später dann ganzheitlich veröffentlicht werden ‒ Rezipienten der ganzheitlichen Veröffentlichung empfinden dementsprechend dieses Werk womöglich nicht mehr als seriell.94 Umgekehrt gibt es ganzheitlich geplante Narrationen oder sogar ursprünglich getrennt voneinander konzipierte Werke, die später erst seriell veröffentlicht werden. Obwohl sie nicht als serielles Werk geplant waren, werden sie

92 Weber u. a.: „Das Gesetz der Serie.“ In: Medienwissenschaft 1/2008, S. 17. Natürlich ergeben sich hier bereits Fragen: Ist eine Serie, die als DVD-Box erscheint, keine Serie mehr, denn hier kann der Rezipient ja direkt alle Folgen hintereinander schauen? Meines Erachtens bleibt sie eine Serie, da die Unterbrechungen nicht geglättet werden. Die Unterbrechungen, die Folgen- und Staffelstruktur sind immer noch offensichtlich und eine Fortsetzung muss durch Klicken oder sogar DVD-Wechsel und Kauf der weiteren Staffel bestätigt werden. Warum die Buchveröffentlichungen von Dickens’ und Dumas’-Werken keine Serien mehr sind, ist auch dem Umstand geschuldet, dass möglichst alle Hinweise auf die serielle Veröffentlichungsform getilgt wurden: Die Brüche sind geglättet, damit die ganzheitliche Veröffentlichung auch als ganzheitliche Narration erscheint und nicht als aus Teilen ‚Zusammengenähtes‘. 93 Blättler: „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Kunst der Serie, 2010, S. 8. 94 Ein Großteil der in dieser Studie behandelten Werke ist dem heutigen Rezipienten nicht als serielle Literatur bekannt, sondern in ihrer ganzheitlichen Veröffentlichungsform, bspw. die Werke von Charles Dickens.

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dann in ihrer seriellen Publikation auch vom Rezipienten als seriell konzipiert angesehen. In diesem Fall wird tatsächlich „die Beziehung [der verschiedenen Teile untereinander] erst durch die serielle Anordnung gestiftet“.95 Und als drittes gibt es auch Werke, die nie seriell konzipiert oder veröffentlicht wurden, aber eine serielle Struktur haben und Serialität inhaltlich behandeln und widerspiegeln und dementsprechend vom Rezipienten als serielle Erzählung angesehen werden.96 Grenzverwischungen zwischen den Ebenen sind unvermeidbar und evident, zumal eine gegenseitige Beeinflussung dieser Parameter offensichtlich ist. Wenn der Cliffhanger aber als intendierte Erzählunterbrechung verstanden wird, muss im Folgenden serielle Narration betrachtet werden, die bereits im Konzeptionsprozess als solche gedacht war. Diese Grenzziehung ist nicht immer einfach, da häufig nicht offenkundig ist, ob die Produktionsintention ganzheitlich oder seriell war. Daher gilt als wichtigstes Kriterium, ob die Erstveröffentlichung des Werks serieller Form war oder das Werk für eine spätere serielle Publikation verändert wurde und damit dem seriellen Format angepasst. In diesen beiden Fällen ist von intendierten Erzählunterbrechungen auszugehen. Eine weitere im Zitat von Allen genannte Charakteristik der seriellen Narration ist ebenfalls für den Cliffhanger von Bedeutung: Der Rezipient kann die Rezeption nicht selbst fortsetzen und zu Ende führen. Der Autor oder Produzent hat die Autorität über die Weiterführung der Geschichte. Innerhalb der ganzheitlichen Narration ist der Rezipient Herr über den Rezeptionsrhythmus des gesamten Werks – nicht aber bei der seriellen Narration; er kann hier ausschließlich die Teile der Erzählung rezipieren, die der Produzent (bisher) veröffentlicht hat.97 Nur wenn der Rezipient die Serie als nicht mehr serielles Werk kauft, das heißt in einer anderen Publikationsform, meist in einer späteren Gesamtveröffentlichung oder wenn bereits alle Teile des seriellen Werks vorliegen, kann er selbst den Rezeptionsrhythmus bestimmen. Aus diesem Umstand lässt sich auch eine hohe Attraktivität von DVD-Serien-Boxen und von Büchern mit dem ganzen seriellen Werk ableiten: Der Rezipient selbst kann die Cliffhanger hier auflösen, also die Erzählung fortsetzen, wann immer er will; er 95 Beispielhaft dafür ist die erste Welle an seriell veröffentlichten Werken in England. Diese Werke wurden zunächst ganzheitlich konzipiert und veröffentlicht und erhielten häufig erst später eine serielle Publikation. Siehe Kapitel: V. 1.2 „Veröffentlichungspraktiken im England des 18. Jahrhunderts“, S. 182. 96 In diese Kategorie fallen bspw. zyklische Rahmenerzählungen wie Das Wirtshaus im Spessart von Wilhelm Hauff und Il Decamerone von Giovanni Boccaccio. 97 Vgl. zum Feuilletonroman z. Bsp.: „Obwohl es sich bei ihm [d.i. der Feuilletonroman] um einen gedruckten Text handelt und die einzelnen Episoden archiviert werden können, ist der Roman in seinem gesamten Umfang erst nach und nach zugänglich.“ Türschmann: „Spannung in Zeitungsliteratur“. In: Irsigler u. a. (Hg.): Zwischen Text und Leser, 2008, S. 225.

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wird wie bei einer ganzheitlichen Narration Herr des Rezeptionsrhythmus. Für die Gewinnung der Rezeptionsfreiheit ist er bereit zu zahlen. 2.3 Der serielle Textbegriff: Mikro- und Makrotext Serielles Erzählen besteht immer aus Teilen und dem Ganzen, das die einzelnen Teile zusammen ergeben. Die Grundmerkmale des linguistischen Textbegriffs, Kohäsion (v.a. syntaktischer Zusammenhang, Verknüpfung) und Kohärenz (v.a. inhaltlicher Zusammenhang), sind also bei seriellen Texten nur begrenzt gültig.98 Denn beim geteilten Text wird das Gewobene, das der lateinische Begriff ‚Text‘ bedeutet, unterbrochen – der ‚Erzählfaden‘ wird am Ende einer Folge durchschnitten und dann zu Beginn der nächsten neu eingefädelt. Daraus ergibt sich auch die Frage, ob nun die einzelnen Folgen als ein Text oder die Serie als ein zusammenhängender Text zu bezeichnen sind. Was ist bei der seriellen Narration der Text? Aufgrund dieser Problemstellung bietet sich ein linguistisch weit gefasster Textbegriff für die serielle Narration an. Meist wird in diesem Zusammenhang von ‚Seriellen Textformen‘ gesprochen,99 was beschreiben soll, dass beides Texte sind: Viele Mikrotexte (Folgen) die zusammen einen Makrotext (Serie) ergeben.100 Da im Folgenden alle Erzählungen in allen Medien als ‚Texte‘ bezeichnet werden,101 erlaubt diese Begrifflichkeit eine transmediale Nutzbarkeit: Während ‚Folge‘ und ‚Serie‘ – wie bereits beschrieben – stark mit der Fernsehserie assoziiert werden, sind die Begriffe ‚Mikro-‘ und ‚Makrotext‘ eine neutralere Beschreibung dessen, dass es sich um einen kleinen Text han-

98

Vgl. Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 2008, S. 712. Diese Definition von ‚Text‘ ergibt sich nur bei einer textlinguistischen Bestimmung, während die Übertragungen auf kulturelle Gebilde ‚Text‘ wesentlich offener definieren.

99

Vgl. Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, 2010, S. 114.

100 Im Folgenden werden Mikrotext und Folge sowie Makrotext und Serie synonym gebraucht. Ich verwende die zwei Begriffe ‚Mikro-‘ und ‚Makrotext‘, um die übermediale Struktur von seriellen Erzählungen deutlich zu machen. Diese Begriffe bieten sich für einen derartigen Gebrauch an, da sie auch in der Linguistik als offen definiert sind. Siehe zum Beispiel: „Termini wie Äußerung, Satzperiode, Phrase, Superphrase, transphrastische Einheit, Texteinheit, thematische Einheit oder Mikrotext stehen oft gleichberechtigt für eine über den Satz hinausgehende in sich geschlossene Einheit.“ Brinker: Text- und Gesprächslinguistik, 2000, S. 156. Außerdem: „Makrotexte können [...] aus zahlreichen, vielfältig aufeinander bezogenen Mikrotexten bestehen, können von verschiedenen Textproduzenten, zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit unterschiedlichen Handlungsintentionen erweitert werden.“ Blühdorn: „Textverstehen und Intertextualität“. In: Ders. u. a. (Hg.): Text - Verstehen, 2006, S. 280. 101 Siehe Fußnote 81 über den weit gefassten Textbegriff der vorliegenden Studie.

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delt, der eine physische ganze Texteinheit innehat, aber ebenso Bestandteil eines größeren Textes ist. Die Begriffe beinhalten, was Hickethier als „doppelte Formstruktur“ der Serie bezeichnet: „Diese doppelte Formstruktur der Serie, einerseits zeitlich und inhaltlich begrenzte Einheit zu bieten, andererseits sich auf einen größeren, häufig auch vom Zuschauer gekannten Gesamtzusammenhang zu beziehen, stellt einen der vielen Attraktionsmomente der Serie dar.“102 2.4 Die Erzählprinzipien ‚Episodennarration‘ und ‚Fortsetzungsnarration‘ Innerhalb der generellen „doppelten Formstruktur“ der seriellen Narration gibt es zwei Erzählprinzipien,103 die in der englischsprachigen Wissenschaft als series und serial bezeichnet werden.104 Series wurde von Junklewitz und Weber als ‚Episodenserie‘, serial als ‚Fortsetzungsserie‘ in die deutschsprachige Wissenschaft übertragen.105 Die Erzählprinzipien wurden bisher hauptsächlich in der Fernsehwissenschaft (TV-Studies) benutzt; sie werden dort vor allem am Beispiel der Fernsehserie erklärt. Gleichzeitig aber wird eine intermediale Anschlussfähigkeit angeboten, die auch in zahlreichen Forschungswerken zu seriellen Werken außerhalb des Fernsehens vorhanden ist.106 Die Episodenserie zeichnet sich durch Mikrotexte aus, die eine in sich geschlossene Erzählung und einen inhaltlichen Schwerpunkt aufweisen. Folgen einer Episodenserie können meist ohne Vorkenntnisse rezipiert werden. Beispiele dieses Erzählprinzips sind die meisten Kriminal-, Detektiv-, Anwalts- sowie einige Krankenhausund Comedyserien, da die (Kriminal-, Gerichts- und Krankheits-)Fälle und Sketche 102 Hickethier: Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens, 1991, S. 10. 103 Ich übernehme den Begriff der „Erzählprinzipien“ von Ruchatz: „Sisyphos sieht fern“. In: Beil (Hg.): Die Serie, 2012, S. 80–89. 104 Ein grundlegender und früher Aufsatz zu Serialität und den Erzählprinzipien series und serial ist: Oltean: „Series and Seriality in Media Culture“. In: European Journal of Communication, 8 (5), 1993. Die wissenschaftliche Einführung der Begriffe erfolgte von Raymond Williams: „Beyond the characteristics of the single television play […] there is the significant and indeed central fact of the television series or serial. These have precedents in cinema and in radio, and an earlier precedent in the serialised fiction of the late eighteenth and nineteenth centuries.“ Williams: Television, 2003, S. 56. 105 Weber u. a.: „Das Gesetz der Serie“. In: Medienwissenschaft, 1/2008, S.13‒31. 106 Türschmann erkennt trotz zahlreicher Kombinationen der Erzählprinzipien auch schon im Fortsetzungsroman diese Grundprinzipien. Türschmann: „Spannung in Zeitungsliteratur“. In: Irsigler u. a. (Hg.): Zwischen Text und Leser, 2008, S. 226. Im Comic sind die Erzählprinzipien ebenfalls nachgewiesen worden, zum Beispiel: Gardner: Projections, 2012, S. 40–41.

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bereits einen episodischen Charakter vorgeben, der auf die Form der Episodenserie übertragen wird.107 Zu dieser Art von Serie passt Ecos Formulierung „Wiederkehr des Immergleichen“108 besser als zur Fortsetzungsserie.109 Denn die Fortsetzungsserie ist die Narration einer fortgesetzten Handlung: die Mikrotexte der seriellen Erzählung behandeln einen Teil der größeren, zusammenhängenden und fortschreitenden Geschichte.110 107 Selbst die Mystery-Serie X-Files verfolgt hauptsächlich eher ein Prinzip der geschlossenen Folgen. Fans sprachen deshalb vom „Monster of the Week“ – ein Monster bzw. Alien wurde jede Woche ‚erlegt‘. Vgl. Seiler: „Abschied vom Monster der Woche“. In: Ders. (Hg.): Was bisher geschah, 2008, S. 6. 108 Eco: „Die Innovation im Seriellen“. In: Ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, 2001, S. 160. 109 Jörg Berns bietet als Äquivalent zu Episodenserie und Fortsetzungsserie das ebenso überzeugende Begriffspaar „zyklische“ und „lineare Serie“ an, das sich jedoch bisher nicht durchgesetzt hat. „Zyklisch“ deutet bereits eine Wiederkehr an, während „linear“ (was teilweise auch als horizontal beschrieben wird) die Fortsetzung davon abgrenzt: „Da [bei den narrativen Serien des Fernsehens] gibt es zyklische Serien (Typ Columbo), bei welchen die Reihenfolge der Einzelteile beliebig ist, weil der Protagonist und dessen Ambiente nicht altern. Und da gibt es lineare Serien (Typ Dallas), wo die Protagonisten gemeinsam altern [...] und wo deshalb die Einzelteile der Folge nicht vertauschbar sind.“ Berns: „Frühformen des Seriellen in Theaterpraxis und Erzählliteratur des 15. bis 17. Jahrhunderts“. In: Giesenfeld (Hg.): Endlose Geschichten, 1994, S. 13. Eine weitere Begriffsalternative haben die Herausgeber des „Living Handbook of Serial Narration on Television“, ein Projekt der Komparatistik der Universität des Saarlandes, eingeführt. „‚Status-Quo‘-Series“ (Episodenserie), „‚Progressive‘-Series“ (Fortsetzungsserie) und „‚Progressive Complete‘-Series“ (flexi-narrative – Erklärung des Begriffs siehe Fußnote 115) werden von ihnen gebraucht – die Begriffswahl wird aber bisher nur unzureichend erklärt. (Siehe: http://www.uni-saarland.de/lehrstuhl/solte-gresser/forschung/aktuell/seri al-narration/handbook/glossary.html [vom 03.09.2013]). 110 Eco bewertet den Begriff des serial genauso negativ und damit meines Erachtens falsch wie den der series: „Anders liegt der Fall dagegen bei Formen, die bloß ‚vorgeben‘, immer neu und anders zu sein, um jedoch faktisch immer dieselben elementaren Inhalte auszudrücken. So etwa, in den Massenmedien, die kommerziellen Filme, die Comic strips [sic], die Tanzmusik und – speziell im Fernsehen – die sogenannten serials, bei denen man immer etwas Neues zu lesen, zu sehen, zu hören meint, während letztlich immer dieselbe Geschichte erzählt wird.“ Eco: „Die Innovation im Seriellen“. In: Ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, 2001, S. 156. Den Beweis, dass letztendlich immer sogar „dieselbe“ und nicht nur die gleiche Geschichte erzählt wird, bleibt Eco dem Leser schuldig (ob Eco das auch so im italienischen Original geschrieben hat, wurde allerdings nicht überprüft). Sicherlich muss man Eco zubilligen, dass er einer der wenigen und dazu noch

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„Während das serial auf das Moment der Fortsetzung setzt und eine offene, noch nicht geschriebene Zukunft impliziert, garantiert die series die fortdauernde Wiederkehr des immer gleichen Schemas und propagiert damit gerade keine offene, sondern eine erwartbare Zukunft.“111

Natürlich sind beide Begriffe nur die Extreme der seriellen Erzählung. Eine große Vielseitigkeit der seriellen Erzählung ist, das sie jederzeit zwischen diesen Polen wechseln kann beziehungsweise zwischen ihnen auf verschiedenen Graden wandern, da die Veröffentlichungsform bei beiden Erzählprinzipien dieselbe ist: seriell. Eine serielle Erzählung kann dem Prinzip einer Episodenserie folgen, aber dann für zwei ein früher Theoretiker der Serialität ist. (Zur Serialität hat er geschrieben: „Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien“. In: Im Labyrinth der Vernunft, 1995, S. 301–324. Und: „Die Innovation im Seriellen“. In: Über Spiegel und andere Phänomene, 2001, S. 155–180; zu seriellen Werken hat er unter anderem „Lob des Monte Christo“. In: Über Spiegel und andere Phänomene, 2001, S. 181–199 und „Eugène Sue: Sozialismus und Trost“. In: Im Labyrinth der Vernunft, 1995, S. 333–371 veröffentlicht). Aber Eco macht nur einen ‚Wert‘ serieller Werke ersichtlich, indem er das Erkennen und den Genuss der Schemata von Wiederholung und leichter Variation hervorhebt und die erst in der Romantik aufkommende Wertschätzung des ‚einmaligen‘ und ‚originalen‘, ganzheitlichen Werks als relativ neues und nicht alleingültiges Maß kennzeichnet; er zeigt, dass diese Vorstellung eines Kunstwerks aus der Romantik stammt und antike Werke ebenfalls serielle Züge hatten, weil es sich häufig um Wiederholungen von bekannten Schemen handelte (z.B. Mythos). Eco fasst aber zum einen den Begriff der Serialität sehr weit, indem er unter ihr fast jedwede Art von künstlerischer Wiederholung fasst, so zum Beispiel Intertextualität als Form des Seriellen begreift und damit den Begriff des Seriellen verwässert. Zum anderen schränkt er die Serialität ein, wenn er sie vornehmlich auf Schemen der Wiederholung reduziert. Hickethiers doppelte Formstruktur wird bei Eco im Grunde zu einer einseitigen Formstruktur der Wiederholung; die Rezeption zu einem alleinigen Genuss der Repetition samt dem gelegentlich Erkennen leichter Variation. Selbst wenn man die zur Zeit der Niederschrift von Ecos Aufsätzen noch nicht vorhandene Quality-TV-Serie ausklammert, hätte Eco die Werke von Dickens, Balzac, Dumas einbeziehen können bzw. wären die Werke dieser Autoren demnach auch die „Wiederkehr des Immergleichen“. (Siehe auch: „Für Umberto Eco […] war Serialität lediglich ein anderer Terminus für ‚Wiederholungskunst‘. Natürlich können Serien aus allen möglichen Wiederholungen bestehen, sie müssen aber nicht.“ Blättler: „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Kunst der Serie, 2010, S. 8. Für eine gewinnbringende Auseinandersetzung mit den Themen ‚Wiederholung‘ und ‚Serialität‘ siehe auch: Wünsch: „Serialität und Wiederholung in filmischen Medien“. In: Blättler (Hg.): Kunst der Serie, 2010, v. a. S.191‒ 200). 111 Ruchatz: „Sisyphos sieht fern“. In: Beil (Hg.): Die Serie, 2012, S. 81.

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Folgen eine fortgesetzte Handlung haben (Doppelfolge), um dann wieder in das Prinzip einer Episodenserie zu wechseln.112 Selbst bei einer ‚reinen Episodenserie‘, bei der also die Vergangenheit der bisherigen Handlung unwichtig ist, kennt der regelmäßige Rezipient die immer wieder auftretenden Charaktere und ihre Verhaltensweisen, ihren Lebensweg – auch wenn dieser nur wenig auf die momentane Episode ausstrahlt – und hat mit ihnen selbst eine Vergangenheit. Moderne Fernsehserien setzen aufgrund einer vielsträngigen Erzählweise meist auf beides:113 episodische Handlung für einen Erzählstrang (Anreiz und Einstiegsmöglichkeit für ein gelegentliches Publikum) und fortgesetzte Narration (Anreiz für ein kontinuierliches Publikum) für einen anderen.114 Sobald serielle Narration mindestens zwei Erzählstränge aufweist, kann sie mit dem einen Erzählstrang das Prinzip der Episodennarration und mit dem anderen eine fortgesetzte Handlung verfolgen.115 Gerade in modernen Fernsehserien wird also häufig das Attraktionspotenzial der „doppelten Formstruktur“ ausgereizt. Die „doppelte Formstruktur“ ist die Wesensform und damit Ursache dafür, dass der seriellen Narration generell beide Erzählprinzipien innewohnen: Sie besteht aus Fortsetzung und episodischer Wiederholung, ihr Wesen setzt sich aus Erneuerung und Repetition zusammen. Die Erzählprinzipien zeigen lediglich auf, wieweit die jeweilige Serie zum Pol der episodischen Wiederholung oder zum Pol der Fortsetzung 112 Junklewitz und Weber bieten in ihrem Aufsatz über die Serie zwei gute Begriffe an, die die Schwierigkeit der Unterscheidung verdeutlichen. Mit Fortsetzungsreichweite meinen sie die Länge der Erzählzeit (bzw. Folgen), über die sich ein Handlungsbogen erstreckt, mit Fortsetzungsdichte beschreiben sie „das quantitative Verhältnis […] zwischen Folgen, die fortsetzt erzählen und denjenigen, die abgeschlossen erzählen.“ Weber u. a.: „Das Gesetz der Serie“. In: Medienwissenschaft, 1/2008, S. 24. Siehe außerdem: Allrath u. a.: „Introduction: Towards a Narratology of TV Series“. In: Dies. u. a. (Hg.): Narrative Strategies in Television Series, 2005, S. 6. Hier wird eine hilfreiche Skala (Figure 1.2) angeboten, bei der das rechte Ende als „serial“ beschriftet ist, das linke als „series“ und Beispielserien nach ihrer „Fortsetzungsdichte“ eingeordnet werden; beim Anblick wird direkt deutlich, dass auf der Skala allerlei Graduierungen zwischen Episodenserie und Fortsetzungsserie vorhanden sind. (Junklewitz und Weber übernehmen diese Art der Skala und verfeinern sie. Weber u. a.: „Das Gesetz der Serie“. In: Medienwissenschaft, 1/2008, S. 27.) 113 Siehe auch: „Seit Ende der achtziger Jahre verwischt die Differenz zwischen series und serial.“ Krützen: Dramaturgie des Films, 2006, S. 324. 114 Häufig wird im englischen Sprachgebrauch von story arcs und im deutschen – vor allem in der Produktion – von ‚horizontalen Handlungsbögen‘ gesprochen. Siehe bspw.: Eschke u. a.: Bleiben Sie dran!, 2010, S. 130. 115 In den TV-Studies hat sich die Bezeichnung flexi-narrative (Begriffsprägung von Robin Nelson) für diese Form der Serie etabliert. Siehe dazu: Kapitel IX. 1.1 „Einleitung“, S. 451.

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neigt. Die Wesensform liegt bereits in der Natur der Publikationsform begründet: Folgen werden normalerweise in einem regelmäßigen Rhythmus (halbjährlich, monatlich, wöchentlich, täglich) veröffentlicht und haben eine ähnliche Länge – der Rhythmus und die Gleichförmigkeit strahlen zu einem gewissen Grad auf den Inhalt aus und bedingen vor allem das Element der Wiederholung. Obwohl die Grenzen zwischen den Erzählprinzipien Episoden- und Fortsetzungsserie verschwimmen, ist eine Unterscheidung und Bewusstwerdung der Erzählprinzipien beim Cliffhanger wichtig. Eine Folge, die eine bis auf das wiederkehrende Auftreten der Hauptfiguren komplett abgeschlossene Handlung erzählt, wird im Grunde nicht unterbrochen, sondern zum größten Teil abgeschlossen. Mikrotexte, die die Auflösung eines Falls von Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes behandeln,116 können ebenso wenig mit einem Cliffhanger enden wie die Folgen der EpisodenFernsehserie Miami Vice. Der Cliffhanger läuft vollkommen konträr zum Geschlossenheitskonzept einer Episodenserie, denn um die Auflösung des Cliffhangers verstehen zu können, muss fortgesetzt erzählt werden. Der Rezipient benötigt mindestens das Wissen über den Inhalt des vorausgegangenen Cliffhangers, um in die Rezeption der Folge einsteigen zu können. Angesichts dieser Wesensunterschiede liegt es nahe, die serielle Narration auch begriffstechnisch zu unterteilen in (serielle) Episodennarration und (serielle) Fortsetzungsnarration. Denn Episodennarration und Fortsetzungsnarration sind zwei unterschiedliche Erzähltraditionslinien, die sich auch anhand der Erzähltechniken differenzieren lassen – auch wenn sich beide Linien immer wieder berühren. Der Cliffhanger ist ausschließlich eine Erzähltechnik der Fortsetzungsnarration.117 Ob die beiden Erzählprinzipien, die bisher hauptsächlich für narrativ-serielle Fernsehformate gebraucht wurden, auch auf andere Werke übertragbar sind, kann auch die vorliegende Studie zeigen – sie sind aber unbedingt eng verbunden mit dem die serielle Narration ausmachenden Verhältnis zwischen Auflösung und Offenheit, das im Folgenden betrachtet wird. 116 Als Einschränkung der Aussage, dass Doyles Sherlock-Holmes-Erzählungen keine Cliffhanger haben, könnte die Geschichte The Final Problem gesehen werden. Holmes stürzt darin mit seinem Feind Moriarty die Reichenbachfälle hinab. Doyle ließ den Helden aufgrund eines großen finanziellen Anreizes und zahlreicher Beschwerden in The Hound of the Baskervilles ‚wiederauferstehen‘. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Tod des Helden sowohl für den Autor als auch die Leser Fakt war und damit keineswegs ein Cliffhanger. Siehe auch Kapitel: IX. 6.3, „Der (selbstreflexive und) aktivierende Finalecliff: Sherlock“, S. 550. 117 Selbst bei der Definition der Fortsetzungsserie werden Cliffhanger von Weber und Junklewitz ausdrücklich genannt. Vgl. Weber u. a.: „Das Gesetz der Serie“. In: Medienwissenschaft, 1/2008, S. 16. Siehe auch: Allrath u. a.: „Introduction: Towards a Narratology of TV Series“. In: Dies. u. a. (Hg.): Narrative Strategies in Television Series, 2005, S. 3.

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2.5

Über das Verhältnis zwischen Spannung und Auflösung „Jeder Text will bis zu seinem Ende gelesen werden und muss dementsprechend Strategien entwickeln, den Leser an sich zu binden […]. Spannung, so lässt sich diese Einsicht zuspitzen, spielt auf der Ebene der Aufrechterhaltung und Lenkung von Aufmerksamkeit letztendlich in jedem Text eine Rolle.“ IRSIGLER U. A.: „EINLEITUNG: SPANNUNG IN DER LITERATUR(WISSENSCHAFT)“. IN:

DERS. U. A. (HG.):

ZWISCHEN TEXT UND LESER, 2008, S. 8. 118

2.5.1 Spannung, suspense und tension In allen Definitionen des Cliffhangers wird Spannung als Bestandteil angeführt. Jurga schreibt von einem „abrupten Handlungsabbruch an einer besonders spannenden Stelle.“119 Selbst Iser nennt seine dem Cliffhanger stark ähnelnde Erzähltechnik den „Suspens-Effekt“.120 Nur Weber und Junklewitz vermeiden die Erwähnung von Spannung in ihrer Definition, aber sprechen im Folgenden darüber, dass bestimmte Serien keine Cliffhanger haben, weil in ihnen nicht das Hauptaugenmerk auf Spannung liegt.

118 Siehe auch: „Presumably we expect a degree of suspense in almost any work of prose, be it a novel, a short story or a play. Indeed, even a poem will tend to have some ingredients that whisper to the reader, ‚on on, donʼt stop reading here!‘ A work of literature which fails to arouse any questions or expectations in the reader is hard to imagine.“ Bonheim: „Spannung, Suspense, Tension – A Survey of Parameters and a Thesis“. In: Borgmeier u. a. (Hg.): Spannung, 2001, S. 1. 119 Jurga: „Der Cliffhanger“. In: Willems u. a. (Hg.): Inszenierungsgesellschaft, 1998, S. 472. Das Websters Lexikon definiert den Cliffhanger als Ende mit einem „suspenseful or melodramatic unresolved conflict.“ Gove (Hg.): Websterʼs Third New International Dictionary of the English Language, 2002, S. 354. Siehe außerdem: „Cliffhanger [engl.] der, effektvoller, Spannung hervorrufender Schluss der Folge einer Fernseh- oder Hörfunkserie, der Neugier auf die Fortsetzung wecken soll.“ Buhl u. a.: Die Zeit – Das Lexikon, 2005, S. 112. „[E]ffektvoller Schluss, der die gespannte Einstellung des Rezipienten über die Unterbrechung bis zum Beginn der nächsten Folge erhalten soll.“ Burdorf u. a.: Metzler-Lexikon Literatur, 2007, S. 126. „Cliff-hanger a serial film in which each episode ends in a desperate situation; a story etc. with the outcome excitingly uncertain; cliffhanging a. full of suspense.“ Brown: The New Shorter Oxford English Dictionary, 1993, S. 417. 120 Iser: Der Akt des Lesens, 1994, S. 297.

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Spannung ist ein rezeptions-subjektivistisches Textmerkmal, das von zahlreichen Parametern abhängig ist und darum Probleme in der wissenschaftlichen Analyse mit sich bringt.121 „Als zugleich objektives Textmerkmal wie emotionale Leserreaktion scheint sich Spannung dem Zugriff einer durch den Strukturalismus geprägten Textwissenschaft zu entziehen, die ihr Augenmerk auf den Text als Objekt richtet und das Paradigma der Wissenschaftlichkeit damit an die Kriterien der ‚Nachprüfbarkeit‘ und ‚Intersubjektivität‘ bindet. Wie kann also ‚Spannung‘ – die sich im Zustand der ‚Angespanntheit‘ des Lesers bei der Lektüre manifestiert – in Texten greifbar gemacht werden? Muss nicht jeder Versuch, diese ‚Wirkungsdisposition‘ eines Textes in diesem selbst zu verorten, als unsachgemäße Verallgemeinerung subjektiver Reaktionen kritisiert werden, die ohne empirische Überprüfung an einer statistisch signifikanten Menge von Lesern bloße Spekulation über die ‚Wirkung‘ des Textes bleiben muss?“122

Aus den zwei Erkenntnissen ergibt sich eine heuristische Aporie: Die Definitionen des Cliffhangers nennen Spannung als wichtigen Bestandteil des solchen, gleichzeitig ist aber Spannung ein Kriterium, das sich größtenteils der geisteswissenschaftlichen Forschung und einer Überprüfbarkeit aufgrund des Rezeptions-Subjektivismus entzieht.123 Im Sinne der im Vorwort genannten etymologischen Methode liefern vielleicht einige Grundüberlegungen zur Spannung eine Basis, welche die Wirkungsweise des Cliffhangers erläutert. Der Fokus einer Betrachtung von Spannung liegt für die serielle Narration auf dem Verhältnis zwischen Spannung und Ende beziehungsweise Auflösung. Lange Zeit wurden die Begriffe ‚Spannung‘ und suspense vor allem in Hinblick auf eine Dominanz der Handlung über die Bildlichkeit und den impliziten Gehalt sowie der Aktion über die Kontemplation gesehen und damit eher der Unterhaltungsliteratur zugeschrieben. Wie bereits im Anfangszitat erwähnt, versucht der Produzent

121 „Spannung als Aktualisierung des Spannungspotentials eines Textes im Rezeptionsprozeß ist ja von sehr vielen individuellen und überindividuellen Parametern abhängig (z.B. der individuellen Aufmerksamkeitsstruktur, dem über-individuellen Rezeptionshabitus, den äußeren Aufführungsbedingungen usw.), die nur von einer systematischen Pragmatik vollständig erfaßt werden könnten.“ Pfister: Das Drama, 2001, S. 142. 122 Irsigler u. a.: „Einleitung: Spannung in der Literatur(wissenschaft)“. In: Ders. u. a. (Hg.): Zwischen Text und Leser, 2008, S. 8. 123 Siehe zu den Problematiken einer Nachprüf- und Messbarkeit von suspense: Friedrichsen: „Problems of Measuring Suspense“. In: Vorderer u. a. (Hg.): Suspense, 1996, S. 329–346.

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beinahe jedes Textes zumindest einen derartigen Spannungsaufbau einzubauen, dass der Rezipient das Ende des Textes erfahren beziehungsweise erreichen will.124 „[D]er Begriff ‚Spannung‘ […] kann nicht bloß die handlungsorientierten Spannungsarten von Zukunfts- und Bedrohungsspannung (suspense) oder Rätselspannung (mystery) meinen, sondern auch ‚subtilere‘ Spannungstechniken – etwa statische Arten von Spannung, die von der angloamerikanischen Forschung unter dem Begriff tension subsumiert werden.“125

Innerhalb der erzählerischen Spannungsforschung wird tension auf weniger handlungsbezogene Spannung,126 nicht so sehr auf das ‚Was‘, sondern auf das ‚Wie‘ einer Rezeptionserwartung eingegrenzt.127 Tension als Begriff für eine unterschwellige, latente Spannung ist für subtilere Formen des Cliffhangers ein wichtiger Begriff, wenn man den Begriff ‚Cliffhanger‘ weit fasst, wie es beispielsweise in der Definition von Junklewitz und Weber geschieht. Bei der seriellen Narration ist eine der im Anfangszitat genannten „Strategien […], den Leser an sich zu binden“128 der Cliffhanger. Denn gerade bei serieller Narration ist zunächst einmal der Energieaufwand für eine Fortsetzung der Rezeption höher als bei ganzheitlicher Narration. Bei serieller Narration muss sich der Rezipient erneut über das Veröffentlichungsdatum informieren (und muss informiert werden), damit er weiterhin kauft oder einschaltet. Die im Anfangszitat genannte ‚BindungsStrategie‘ muss besonders effektiv sein, damit die nötige Energie des Rezipienten mobilisiert wird: Es sollte ein starker Impuls zur erneuten Rezeption gesendet werden; ein Impuls, die Auflösung einer Spannung zu erleben und den Abschluss einer Erzählung zu erfahren: nach Zeigarnik die Sättigung eines Quasibedürfnisses. Das

124 Diese Aussage ist allerdings für die von Eco beschriebenen ‚offenen Kunstwerke‘ (siehe Fußnote 63) nur sehr begrenzt gültig. 125 Irsigler u. a.: „Einleitung: Spannung in der Literatur(wissenschaft)“. In: Ders. u. a. (Hg.): Zwischen Text und Leser, 2008, S. 9. 126 Tension ist aber trotz einer guten Nutzbarkeit für „subtilere Spannungstechniken“ auch ein Begriff, der die Spannung zwischen zwei Polen beschreibt – diese Konnotation muss hier ausdrücklich ausgeklammert werden, weil sie für die weitere Studie irrelevant ist. 127 „Sind mit tension also im Gegensatz zum dynamischen Konzept des suspense statischstrukturelle Textspannungen angesprochen, so liegt die begriffliche Differenzierung zwischen handlungsorientierten Spannungsformen als suspense (im weiten Sinne) auf der einen Seite und nicht-handlungsorientierten Spannungsformen auf der anderen Seite nahe, die man also mit dem Begriff der tension belegen könnte.“ Langer: „Literarische Spannung/en“. In: Irsigler u. a. (Hg.): Zwischen Text und Leser, 2008, S. 18. 128 Irsigler u. a.: „Einleitung: Spannung in der Literatur(wissenschaft)“. In: Ders. u. a. (Hg.): Zwischen Text und Leser, 2008, S. 8.

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Zusammenspiel zwischen Spannung und Auflösung bei serieller Narration ist bereits in der Minimaldefinition von Spannung allgemein enthalten. „Der kleinste gemeinsame Nenner verschiedener Definitionen besteht in einem vom Text (oder Film) hervorgerufenen Mangel an Informationen bzw. einer Ungewissheit oder auch Unsicherheit (uncertainty) auf Seiten des Lesers (oder Zuschauers) im Zusammenspiel mit dem Wunsch, dem Bedürfnis oder auch der Erwartung nach einer Auflösung dieses defizitären Zustandes.“129

Das Grundbedürfnis, etwas Angespanntes zu entspannen, ist auch in der Psychologie beschrieben worden: Der Psychologe Kurt Lewin setzt voraus, dass jedes gespannte System in einem Menschen nach Entspannung strebt;130 auch progressive Relaxation und andere Entspannungstheorien bauen auf diesem Grundprinzip auf.131 In der Dramentheorie ist ebenfalls auffallend oft von Spannung und Auflösung die Rede: „Aristoteles (Poetik, Kap.18) stellt sich die Handlung des Dramas, jedenfalls der Tragödie, als Knüpfung (desis) und Lösung (lysis) eines Knotens vor.“132 Auch die für spezielle dramatische Handlungselemente stehenden Begriffe der solutio (lat. Auflösung) und dénouement (fr. Auflösung) beschreiben diese ‚Lösung des Knotens‘.133 Die Spannung der Erzählung setzt eher auf wünschenswerte Spannung als auf unangenehme Spannung.134 Aber auch die Spannung der Erzählung sucht nach einer Entspannung: „Wie Spannung allgemein verlangt auch suspense im Besonderen nach Lösung. „Suspense is a ‚temporal‘ experience... We cannot forever remain in suspense. Sooner or later uncertainty 129 Langer: „Literarische Spannung/en“. In: Irsigler u. a. (Hg.): Zwischen Text und Leser, 2008, S. 12–13. 130 „Lewins zentraler motivationspsychologischer Begriff ist die Spannung. […] Diese Spannung ist – analog zum Trieb – eine dynamische Größe, die insbesondere den Unterschied zwischen An- und Abwesenheit eines Drangs zur Handlung erklären soll. Wenn ein System gespannt ist, wird also die Person zum Handeln gedrängt. Hat sie die Handlung ausgeführt, verschwindet die Spannung und der Drang zum Handeln kommt zum Erliegen.“ Horstmann u. a.: Allgemeine Psychologie 2 Kompakt, 2012, S. 114. 131 „Der amerikanische Physiologe Edmund Jacobson veröffentlichte […] 1929 sein Konzept der progressiven Muskelentspannung. […] Jacobson hatte aufgrund seiner Forschungen erkannt, dass sich ein Muskel gründlicher entspannt, wenn er vorher kräftig angespannt war.“ Morschitzky: Angststörungen, 2009, S. 511. 132 Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse, 2009, S. 130. 133 Siehe: Pfister: Das Drama, 2001, S. 137–138. 134 „Die Unterscheidung zwischen Eutension (wünschenswerte Spannung) und Dystension (unangenehme Spannung), die hier in Anlehnung an Hans Selyes Eustress und Dystress eingeführt wird, soll zum Ausdruck bringen, dass nicht jede Spannung etwas Gutes und Erstrebenswertes ist.“ Fill: Das Prinzip Spannung, 2003, S. 9.

70 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION has give way to certainty.“135 […] Nach unserer These wird suspense selbst als angenehm empfunden, aber eben deshalb weil in ihr schon später relaxation impliziert und vorweggenommen ist.“136

Die Erwartung und das indirekte Versprechen einer Auflösung sind als Teile des Dialogs zwischen Text (oder Produzent) und Rezipient zu sehen. Der Rezipient erwartet von der Fortsetzung eine Auflösung, die Erzählung gibt indirekt das Versprechen, dass in der Fortsetzung eine Auflösung und Entspannung kommt. Natürlich kann auch keine Auflösung folgen, aber dies ist immer ein bewusstes Unterlaufen der Rezeptionserwartung. Spannung ist ‒ abgesehen von der Freude an dem Spannungsgefühl ‒ selbst immer auch freudige Erwartung, wie die Auflösung des Gespanntseins und die daraus resultierende Entspannung aussehen mag. Die Teilung einer zusammenhängenden Geschichte, an welcher der Rezipient vielleicht nur ein minimales Interesse hat, ist nach einer allgemeinen Definition an sich schon ein Spannung verursachender Vorgang: „Spannung realisiert sich also immer im ‚Spannungsfeld‘ von Nichtwissen und antizipierender Hypothese aufgrund gegebener Informationen. Eine total offene Zukunft würde die völlige Unmöglichkeit antizipierender Hypothesenbildung implizieren und somit den einen Pol des Spannungsfeldes ausschalten, während totale Informiertheit jedes Nichtwissen aufheben und damit den anderen Pol ausschalten würde.“137

Nach dem Ende einer Erzähleinheit, befindet sich der Rezipient in diesem Spannungsfeld aus Nichtwissen und der bisher gegebenen Information. Die Frage, wie könnte es weitergehen, steht am Ende jeder Folge, wenn der Rezipient Interesse an der Erzählung entwickelt hat. Insofern ist es eine Versuchung, der widerstanden werden muss, jede serielle Unterbrechung als Cliffhanger zu bezeichnen. Wie jedoch die Unterbrechung stattfindet, wie eine antizipierende ‚Hypothese‘ von den in der Erzählung gegebenen Informationen unterstützt wird, dies sind Elemente, die analysiert werden können. Während Spannungsempfinden etwas rezeptions-subjektivistisches ist, lassen sich Spannungsaufbau und Spannungsevozierung nachvollziehen. Der Grad der Gespanntheit ist weder vorseh- noch messbar. Wo Spannung anfängt, ist von dem individuellen Rezipienten abhängig. Spannung wird hier aber unter dem Gesichtspunkt berücksichtigt, inwiefern der Text den Rezipienten auf die Fortsetzung 135 Fill zitiert hier eine unveröffentlichte Diplomarbeit von Ewald Ring: Suspense in Fiction. The Case of 18th and Early 19th Century Gothic Fiction (Graz). Aufgrund der so treffend formulierten Aussage zitiere ich sie, obwohl sie als Quelle nicht von mir überprüft werden konnte. 136 Fill: Das Prinzip Spannung, 2003, S.71. 137 Pfister: Das Drama, 2001, S. 143.

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spannt, inwiefern also eine Auflösung verhindert, aufgeschoben wird oder sogar neue Stränge eingeflochten oder Konflikte angedeutet werden. Eine Analyse der Spannungs-Verursachung konzentriert sich somit hauptsächlich auf die textimmanenten (und damit analysierbaren) Komponenten. Es wird also nicht Spannung untersucht, sondern das, was Spannung evozieren könnte. „It is of absolute importance for the dramaturgy of suspense to be informed about the place of suspense – for suspense is not in the text, but rather in what the text triggers.“138 Damit trennt sich die Analyse vom schwer nachweisbaren Zustand der Spannung und spürt den analysierbaren Mitteln der Spannungserzeugung nach. 2.5.2 Das Spannungsfeld zwischen Auflösung und Offenheit Die Erzählprinzipien seriell-episodische und seriell-fortgesetzte Narration und die Überlegungen zur Spannungserzeugung führen zu einer Reflexion über das Verhältnis von Auflösung und Offenheit in der seriellen Narration. Beides sind Extreme, die im Wesen der seriellen Narration verankert sind: Die Abgeschlossenheit der Episode ist ebenso Teil der seriellen Narration wie die Offenheit der Fortsetzung. Frank Kelleter beginnt seine Einführung zum Band Populäre Serialität bezeichnenderweise mit einigen Gedanken zum Enden.139 „Das Aufhören macht den Text zum Text, auch wenn die erzählte Geschichte keine Lösungen mehr anbietet. Die Literaturwissenschaften wissen seit langem von der sinnlichen, psychologischen, sogar epistemologischen Befriedigung, die mit der Figur der Schließung einhergeht. The sense of an ending: Ganze Gesellschaftsmodelle wie die Systemtheorie profitieren hiervon. Das ist aber nur ein Teil dessen, was Erzählungen leisten. Der andere Teil, scheinbar entgegengesetzt, hat mit der Ungewissheit über die Möglichkeit einer finalen Lösung zu tun, mit dem Aufschub eines endgültigen Endes, dem Versprechen ständiger Erneuerung. Seitdem Menschen sich Geschichten erzählen, tun sie das in Fortsetzungen.“140

138 Wulff: „Suspense and the Influence of Cataphora on Viewersʼ Expectations“. In: Vorderer u. a. (Hg.): Suspense, 1996, S. 2. 139 Auch in dem ausgezeichneten Aufsatz von Jens Ruchatz über die Unabgeschlossenheit (bestimmter) Episodenserien (Miami Vice und The Prisioner) – in gewisser Weise über das Erzählprinzip der Episodenserie als symbolische Form – sind die drei Begriffe ‚Ende‘, ‚offenes Ende‘ und ‚Abschluss‘ von zentraler Bedeutung. Ruchatz: „Sisyphos sieht fern“. In: Beil (Hg.): Die Serie, 2012, S. 80–89. 140 Kelleter: „Populäre Serialität“. In: Ders. (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion, 2012, S. 11. Obwohl Kelleter zahlreiche Elemente der Argumentationsstruktur der vorliegenden Studie in dem Zitat vereint, ist vor allem der Satz „Das Aufhören macht den Text zum Text“ zu problematisieren: Macht nicht eher das Aufhören

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Übertragen auf die narrative Spannung würde ein finaler Abschluss ohne offene Fragen die vollständige Entspannung des Rezipienten bedeuten. Tatsächlich nehmen zahlreiche Narratologen an, dass der Rezeptionsvorgang immer zu einem Ende und einem Abschluss strebt. „What we can say is that closure is something we tend to look for in narratives. We look for it in the same way that we look for answers to questions or fulfillment of expectations. […] For this reason, the promise of closure has great rhetorical power in narrative. Closure brings satisfaction to desire, relief to suspense, and clarity to confusion.“141

Obwohl Episoden-Enden von serieller Narration keine finalen Enden sind, streben die Erzählung und die Rezeption auch bei serieller Narration zu Endpunkten: zum Ende eines Handlungsstrangs, einer Folge, einer Staffel und der Serie als Ganzes. Serielle Narration und Auflösung stehen somit in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander, ein stetes Equilibrium aus Auflösung und Offenheit, aus vorläufigem Ende und Fortsetzung – letztendlich bedeutet jede Fortsetzung, dass es zunächst einmal ein vorläufiges Ende gab. „Klassischerweise werden die beiden Grundimpulse des Erzählens – die Befriedigung eines Abschlusses und der Reiz der Erneuerung – durch Spannung ausbalanciert: Erregung wird aufgebaut, um wieder abgebaut zu werden. Wer diesen Sachverhalt nur mit Blick auf abgeschlossene Einzelgeschichten betrachtet, so wie es uns die traditionelle Literaturwissenschaft mit ihrer Konzentration auf Werke lehrt, verliert aus den Augen, dass die Spannungskurve nach dem Ende einer Erzählung wieder ansteigt: Was mag wohl im nächsten Buch stehen?“142

Vermutlich haben alle – Lewin, Zeigarnik, Abbott und Kelleter – Recht: Der Mensch strebt immer nach End-Spannung, nach dem Abschluss und Ende eines Ganzen (Lewin, Zeigarnik und Abbott), und gleichsam hat er Freude an der Fortsetzung und das Werk zum Werk, „auch wenn die erzählte Geschichte keine Lösungen mehr anbietet“? Kelleters Aussage müsste zumindest mit einem sehr weiten Textbegriff relativiert werden. 141 Abbott: The Cambridge Introduction to Narrative, 2011, S. 64. Siehe: „A classic closed ending; no questions are left to be asked, the text closes because there is nothing more that could be told.“ Morgan: „A Sense of the Ending“. In: Transactions of the American Philological Association, 1989 (19), S. 318. Auch wenn Morgan von „ending“ spricht, bringt er die Essenz des ‚Erzählabschlussʽ auf den Punkt und nicht die des Endes. Das im nächsten Kapitel folgende ‚offene Ende‘ kann dementsprechend als genaues Gegenteil dieser Definition gesehen werden, also als Gegenteil des Abschlusses. 142 Kelleter: „Populäre Serialität“. In: Ders. (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion, 2012, S. 13.

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Erneuerung (Kelleter). Daraus ergibt sich, dass der Grundmechanismus der seriellen Narration eine stete Pendelbewegung zwischen den Polen Auflösung und Offenheit, ein bewusstes Spiel mit der Rezeptionserwartung eines abschließenden und auflösenden Endes sind – ein Spiel, das der Rezipient willentlich mitspielt, weil das Spielen mit der Spannung, mit Offenheit und Endpunkten an sich Freude bereitet. Es ist nicht ‚L’art pour l’art‘, sondern ‚la narration pour la narration‘. In extremer Form ist dies bei der Seifenoper zu beobachten. Sie hat kein abschließendes Ende. Selbst wenn die Seifenopern irgendwann enden – als extremstes Beispiel sei The Guiding Light mit 72 Jahren Ausstrahlung erwähnt – sind selten alle Handlungsstränge abgeschlossen. Stattdessen hangelt sich die Erzählung von vorläufiger und partieller Auflösung zu vorläufiger und partieller Auflösung; dazwischen stehen in vielgestaltiger Breite Spannung, Offenheit und Unaufgelöstheit. Der Rezipient will die Auflösung erfahren, das finale Ende der Narration erreichen, weil die Narration ihn spannt – gleichzeitig ist es die Spannung im weitesten Sinne, die die Rezeption erwartungsgemäß in Gang hält. Ohne irgendeine Form von Spannung, würde sich der Rezipient zurückziehen. Die Produzenten serieller Narration nutzen dieses Bedürfnis und reizen die bereits der seriellen Narration immanenten Charakteristiken der Auflösung und Offenheit aus, um den Rezipienten möglichst lange einem Wechselbad aus Auflösung und Spannungserzeugung auszusetzen. 2.5.3 Die Position des Cliffhangers im ‚Ganzen‘ Aristoteles schrieb in seiner Poetik zu der Beschaffenheit von Werken: „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. [...] Demzufolge dürfen Handlungen, wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an die genannten Grundsätze halten.“143

Setzt man den klassischen aristotelischen Werkbegriff und die Erkenntnisse über das Bedürfnis nach Auflösung und Spannung in Verbindung zur Position des Cliffhanger, wird deutlich: Im Grunde genommen ist der Clou des Cliffhangers genau, dass er an einer Stelle endet, die eben nichts von einem Ende im Sinne eines Abschlusses hat – also auch dem klassischen Verständnis eines Werks entgegenläuft –, sondern gerade sehr vielfältige inhaltliche Entwicklungsrichtungen möglich erscheinen lässt. Natürlich hat der moderne Rezipient – im Gegensatz zum Herrscher Schahriyar aus 1001 Nacht – die Erzähltechnik des Cliffhangers längst verstanden und weiß, dass 143 Aristoteles: Poetik, 2010, S. 25.

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der Cliffhanger keinesfalls ein beliebiger Moment ist, sondern ein vollkommen (auch wirtschaftlich) kalkulierter – widerstehen kann er ihm dennoch nicht: Die Spannung und ein vages Versprechen auf Auflösung sind zu stark. Der Cliffhanger ist somit keine „beliebige Stelle“; er ist aber ein Ende, das keinen Abschluss hat, sondern im Gegenteil die dramaturgische Funktion eines Mittelteils: Klimax, Wendepunkt oder nur eine Andeutung, dass noch etwas Dramatisches folgen wird, sind Teile, die nicht dem Ende einer Geschichte zugedacht sind und deshalb Aufmerksamkeit erregen. Das Ende wird nur ein vorläufiges sein: Es wird noch etwas ‚eintreten‘. Der Cliffhanger weist darauf hin, dass dies noch kein „Ganzes“ ist.144 Wenn der Rezipient Aristoteles’ „Ganzes“ erfahren will, muss er alle Mikrotexte rezipieren. Aus den bisherigen Erkenntnissen ergibt sich, dass in der folgenden Studie klar zwischen ‚Ende‘, ‚Auflösung‘ und ‚Abschluss‘ unterschieden werden muss. In der englischen Literaturwissenschaft wird größtenteils differenziert zwischen ‚closure‘ und ‚end‘.145 Im Deutschen ist eine Übersetzung von ‚closure‘ mit ‚Abschluss‘ am besten. 146 Eine ‚End-spannung‘ ist eine Auflösung, die einen Abschluss bedeutet, wenn sie mit einem Ende zusammenfällt. Ein Abschluss par excellence ist immer noch das Happy End; der Gegenstand ist allgemein vertraut, weil er die Sogkraft einer Verbindung aus Ende und Auflösung demonstriert. Aber selbst bei einem Happy End ist der individuelle Rezipient entscheidend. Selbst dort kann er sich noch fragen, wie es nach all dem Glück weitergeht.147 Für eine vorausweisende Spannbreite des Cliffhangers könnte es wichtig sein, ob er nur für eine kurze Zeitspanne Bedeutung hat, also eine baldige Auflösung das Ziel ist, oder ob er gleichfalls für den Abschluss des Makrotextes gewichtig ist. Um die drei Komponenten des Cliffhangers, Auflösung, Spannung und Offenheit, ebenfalls im Hinblick auf Aristoteles’ Aussage über ein Ganzes zu verstehen, 144 Eine ähnliche Auffassung wie Aristoteles findet man in den Progymnasmata von Aelius Theon aus dem 1. Jh. n. Chr. Vgl. Troftgruben: A Conclusion Unhindered, 2010, S. 48. 145 Ein Ende (end) zusammen mit einer Auflösung (solution) bedeutet einen Abschluss (closure). Das deutsche Wort ‚Abschluss‘ ist dem englischen Wort ‚closure‘ auch in der eigentlichen Wortbedeutung am ähnlichsten. „But closure does not have to come at the end of a narrative; in fact, it does not have to come at all. So it is important to keep the two concepts – the ending and closure – distinct.“ Abbott: The Cambridge Introduction to Narrative, 2011, S. 56. 146 „Though there are many different usages of the term in recent criticism, closure generally indicates a sense of completeness, integrity, and coherence, both formal and thematic, that the reader experiences at the end of the work.“ Fusillo: „How Novels End“. In: Roberts (Hg.): Classical Closure, 1997, S. 210. 147 Zahlreiche Fortsetzungs-Filme spielen mit dem Gedanken: Wie mag es nach diesem Abschluss weitergehen? Siehe zum Beispiel: Keinohrhasen und Zweiohrküken (D 2007– 2013) sowie die Before Sunrise-Trilogie (USA/Österreich/Schweiz 1995‒2013) u.a.

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ist es hilfreich, sich die dramaturgische Position eines Cliffhangers in einer Fortsetzungsfolge an einem Modell zu vergegenwärtigen. Das englische Wort suspense, aus dem lateinischen suspendere, könnte man mit „schweben lassen“ übersetzen. „In der Schwebe“ beschreibt bildlich gleichzeitig den Moment, in dem der Rezipient – und häufig mit ihm auch der Protagonist – zurückgelassen wird und charakterisiert auch den Cliffhanger selbst. Gustav Freytag hat in seinem Werk Die Technik des Dramas (1863) den Aufbau eines klassisch-traditionellen Dramas in fünf Akten anhand eines achsensymmetrischen Dreiecks veranschaulicht. Freytags Aufbau und Pyramidenschema findet sich in erstaunlich vielen modernen Roman- und Drehbuchratgebern – ein ähnlicher Aufbau wird also noch immer Autoren ganzheitlicher Werke empfohlen.148 Übersicht 3: Pyramidenschema der Akte im klassizistischen Drama 3. Akt des Höhenpunktes (Peripetie, Wendepunkt)

2. Akt der Steigerung (Erregendes Moment)

1. Akt der Exposition (Einleitung)

4. Akt der Umkehr (Retardierendes Moment)

5. Akt der Katastrophe (Auflösung)

Pyramidenschema nach Gustav Freytag. 148 Siehe bspw.: „Freytags Pyramidenschema der Akte im klassizistischen Drama hat in die aktuellen literatur- und theaterwissenschaftlichen Nachschlagewerke Eingang gefunden, und noch 2003 erschien eine ‚bearbeitete Neuausgabe‘ von Manfred Plinke, die das Werk für Theater- und Hörspiel- und Drehbuchautoren empfiehlt.“ Langemeyer (Hg.): Dramentheorie, 2011, S. 342–343. In R. Andrew Wilsons Write Like Hemingway (2009) wird Freytags Schema sowohl als perfektes Modell für den Aufbau von Hemingways Romanen als auch für moderne Erzählkunst schlechthin deklariert (S. 199). Auch in unzähligen Schreib-Ratgebern im Netz taucht Freytag’s Schema auf. Siehe bspw.: http://ifp.12writing.com/2011/02/writing-conflict-freytags-pyramid-and.html [vom 29. 04.2013]. Mit dem Pyramidenschema sowie dessen Nennung in zahlreichen Schreib-Ratgebern ist natürlich auch eine industrielle Normierung des Aufbaus von fiktionalen Werken erkennbar.

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Der linke unterste Punkt stellt die Exposition im ersten Akt dar, die nach rechts ansteigende Schräge beschreibt den zweiten Akt als erregendes Moment, der dritte Akt stellt die Spitze des Dreiecks dar: Höhepunkt, Klimax, Wendepunkt. „Der Akt des Höhenpunktes hat immer das Bestreben sich um eine Mitte zu concentriren.“149 Im vierten Akt gibt es häufig ein retardierendes Moment, das noch einmal eine Spannungssteigerung verursacht.150 Erst im fünften Akt kommt es zur Katastrophe, die entweder bei einer Tragödie großes Unglück mit sich bringt oder bei einer Komödie aus einer positiven Auflösung besteht.151 Übersicht 4: Freytag-Dreieck und Schwebeform

Episodenserie

Fortsetzungsserie

Spannungskurve Folge Höhe- / Wendepunkt

Höhe- / Wendepunkt

Exposition

Ein Modell-Vergleich der Spannungskurve bei Episodenserie (Freytag-Dreieck) und Fortsetzungsserie (Phasenverschiebung des Höhepunkts, genannt Schwebeform).

Bei der Episodenserie ähnelt die Spannungskurve Freytags Modell: Der Höhepunkt findet relativ spät statt, um die Spannung lange zu halten, dann folgt eine schnelle Auflösung. Die Graphik (Übersicht 4) macht den Unterschied zu einer mit Cliffhanger beendeten Fortsetzungsserie klar: Hier können der Spannungshöhepunkt und die

149 Freytag: „Die Technik des Dramas“. In: Langemeyer (Hg.): Dramentheorie, 2011, S. 348. 150 Vgl. ebd., S. 349. 151 „Katastrophe in diesem Sinne ist nicht nur der schlimme Ausgang der Tragödie, auf den sich der Begriff heute verengt hat, sondern auch der heitere der Komödie.“ Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse, 2009, S. 130.

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anschließende Auflösung nicht so gestaltet sein wie bei Freytag – es findet eine Phasenverschiebung statt. Der Höhe- bzw. Wendepunkt ist am Ende der Folge, damit das Spannungslevel zwischen den Episoden auf dem Maximal-Stand gehalten wird. Schahrasads Erzählstrategie in 1001 Nacht unterscheidet sich davon nicht: Auch bei ihr fällt das Ende einer Geschichte nie auf das Ende einer Nacht, auch bei ihrem Erzählen ist eine Phasenverschiebung vorhanden. Ihr Rezipient, König Schahriyar, spürt dementsprechend das Bedürfnis nach Auflösung und Abschluss: „Da erreichte das Morgengrauen Schahrasad, und sie hörte auf zu erzählen. Aber das innere Gemüt des Königs Schahriyar verlangte nach der Fortsetzung der Geschichte.“152 Natürlich ist die Graphik ein Modell. Sehr selten findet der Aufbau einer Episoden- oder Fortsetzungsserie exakt so statt. Doch macht das Modell den grundsätzlichen Unterschied klar: Der Spannungsaufbau einer mit Cliffhanger versehenen Fortsetzungsgeschichte ruft, statt des Freytags-Dreiecks, das Modell eines auf dem Kopf stehenden Dreiecks hervor, das im Folgenden als Schwebeform bezeichnet wird. Mit der Bezeichnung ‚Schwebeform‘ wird zum einen die wichtige ursprüngliche Bedeutung von suspense aufgegriffen, zum zweiten der Schwebe-Zustand des Rezipienten bis zur nächsten Folge beschrieben und zum dritten auch die generelle Form der Spannungskurve erfasst: Anders als der Episodenserie erreicht die Spannungskurve nie den Nullpunkt, sondern verharrt in verschiedenen ‚Schwebe-Graden‘. Darüber hinaus zeigt die Graphik, wie die Auflösung phasenverschoben nicht in derselben Folge stattfindet, sondern frühestens in der nächsten. Der Cliffhanger nutzt den Zustand des ‚in der Schwebe-Seins‘ und verlängert diesen Moment werkextern, damit er die Rezipientenerwartung über die Zeitspanne der Erzählpause aufrechterhält. 2.5.4 Der Unterschied zwischen dem offenen Ende und dem Cliffhanger Der Cliffhanger wird häufig mit dem offenen Ende verwechselt.153 Aber eine Definition des ‚offenen Endes‘ ist nicht leicht: In den einschlägigen literaturwissenschaftlichen Lexika findet sich unter dem Lemma ‚Ende‘ oder ‚offenes Ende‘ kein Eintrag.154 Immerhin ist seit dem letzten Jahrzehnt ein verstärktes Interesse an der 152 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 33. 153 So wurde zum Beispiel das bereits erwähnte finale offene Ende der Sopranos gelegentlich als Cliffhanger bezeichnet. In: Brichzi: „Bye, bye, Sopranos. Schwarz sehen und trauern“. Spiegel

Online,

01.01.2008.

http://www.spiegel.de/kultur/kino/bye-bye-sopranos-

schwarz-sehen-und-trauern.html [vom 26.04.2013]. 154 „Dabei hat man sich immer auf bestimmte Aspekte, wie beispielsweise die Erzählinstanz oder die Handlung, besonders konzentriert, während andere Aspekte, wie zum Beispiel der hier zu behandelnde Erzählschluss, bislang relativ wenig Beachtung gefunden haben. Selbst in so wichtigen literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken wie M.H. Abrams‘ A Glossary of Literary Terms, J. A. Cuddons Penguin Dictionary of Literary Terms

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Schlussgebung in der Literatur und im Film zu beobachten, das sich jedoch meistens auf einzelne Aspekte in verschiedenen Gattungen beschränkt.155 Eine übergreifende Arbeit zum ‚Ende‘ in der Literatur oder auch im Film fehlt noch immer. Während Begriffe wie das ‚offene Ende‘ und inzwischen auch der ‚Cliffhanger‘ im alltäglichen Sprachgebrauch etabliert sind beziehungsweise von dort stammen, in Diskussionen über gelungene und weniger gelungene, zufriedenstellende und weniger zufriedenstellende Schlüsse im Film und in der Literatur gesprochen wird, scheint die Literatur- und Filmwissenschaft kaum dieses Themas Herr zu werden. Die Bezeichnung ‚offenes Ende‘ wird gerne als unzureichende Kategorie für eine Art des Erzähl-Endes in der Literaturwissenschaft gesehen, da unter den Oberbegriff zu viele Varianten gefasst werden.156 Aber an der Schwerfälligkeit, mit der sich so viele an der Bezeichnung abarbeiten und sie dann doch benutzen, erkennt man, dass die Literaturwissenschaft am ‚offenen Ende‘ nicht vorbei kommt, zu sehr hat er sich bereits im Sprachgebrauch verfestigt. Als Oberbegriff ist das ‚offene Ende‘ sehr wohl and Literary Theory oder Gero von Wilperts Sachwörterbruch der Literatur findet man unter diesem Begriff keinen Eintrag.“ Krings: Zur Typologie des Erzählschlusses in der englischsprachigen Kurzgeschichte, 2003, S. 11. Ergänzend kann sogar hinzufügt werden, dass auch im Metzler Lexikon-Literatur nichts zum ‚Ende‘ zu finden ist. Eine kurze Thematisierung der ‚closure‘ findet sich in: Cooke: „Closure/Dis-closure“. In: Makaryk (Hg.): Encyclopedia of Contemporary Literary Theory, 2000, S. 522–524. 155 Pionier einer Erforschung des Erzählschlusses ist vor allem Frank Kermode, der mit The Sense of an Ending 1967 die erste Arbeit zum Ende in der Literatur lieferte. Vielfache zitiert wird auch das Pionierwerk Poetic Closure: A Study of How Poems End von Barbara Herrnstein Smith. Herrnstein Smith unterscheidet vor allem zwischen formalen und thematischen Elementen der Schlussgebung. Einen relativ aktuellen Überblick über die Forschungsliteratur bietet Hasubek: Finis Coronat Opus, 2007, S. 7–24. Ergänzend zu Hasubek seien noch der angesichts des Titels zu kurz geratene Sammelband von Claude Duchet erwähnt: Genèse des fins, 1996. Außerdem gibt es das Werk von Thomas Christen, der sich ausgiebig (mitsamt zahlreicher Fotogramme von Endsequenzen) mit dem Ende im Film beschäftigt: Das Ende im Spielfilm, 2002. 156 Besonders Constanze Krings kritisiert den Begriff, da sie bei Hans-Wilhelm Schwarzes Aufsatz „Ereignisse, Zeit und Raum, Sprechsituationen in narrativen Texten“ zu unterschiedliche Enden aufgelistet findet. Vgl. Krings: Zur Typologie des Erzählschlusses in der englischsprachigen Kurzgeschichte, 2003, S. 17. Siehe auch die Kritik zum ‚offenen Ende‘ in Christen: Das Ende im Spielfilm, 2002, S. 43f. Auch Peter Hasubek will sich keinesfalls eine Reduzierung auf die reine Dichotomie geschlossenes Ende/offenes Ende nachweisen lassen (vgl. Hasubek: Finis Coronat Opus, 2007, S. 22). Interessant ist, dass trotzdem Thomas Christen, Peter Hasubek und Constanze Krings den Begriff fortwährend gebrauchen und zahlreiche ihrer Kapitelüberschriften sogar die Bezeichnung „offene Enden“ (oder bei Hasubek „offener Schluss“, vgl. ebd., S. 143) tragen.

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auch wissenschaftlich von Nutzen: Unter dem Begriff können viele differenzierende Unterkategorien gefasst werden. Das ‚offene Ende‘ ließe sich wie folgt definieren: als zur Kategorie Erzähl-Ende gehörendes Finale, unter das alle Schlussgebungen zusammengefasst werden, bei denen wesentliche Konflikte beziehungsweise Fragestellungen der Erzählung nicht geklärt sind und die so dem Rezipienten keine vollständige Spannungsauflösung erlauben. „Where the concluding section of a work makes the reader feel that it has closed satisfactorily by resolving all the conflicts of the work, the reader will tend to see the meaning of the work in that resolution. A work on the other hand which leaves questions unanswered will be ‚open‘ to different interpretations, and may leave the reader feeling that where the work stops is not really The End.“157

Fowler beschreibt, dass das ‚offene Ende‘ den Rezipienten mit dem Gefühl des Unvollständigen zurücklässt, da die Geschichte keinen Abschluss hat: Dies ermöglicht dem Rezipienten die eigene Imagination einer Fortführung der Handlung und sogar ihren Abschluss.158 Das von Fowler beschriebene ‚Unabgeschlossenheitsgefühl‘ ist ein subjektives Erleben, und natürlich ist die Fortsetzung und Abschließung der Geschichte in der Imagination des Rezipienten nur eine Rezeptionsmöglichkeit.159 Gleichzeitig unterstützen Zeigarniks Forschungsergebnisse ‒ wie bereits gezeigt wurde ‒ derartige

157 Fowler: „Second Thoughts on Closure“. In: Roberts (Hg.): Classical Closure, 1997, S. 4. 158 Dass offene Enden die „Vorstellungstätigkeit“ des Lesers fordern, weil der Text nicht alle Informationen gibt, wird vor allem von Wolfgang Iser behauptet: Der Akt des Lesens, 1994, S. 297. Isers Einschätzung lässt sich auch auf den Cliffhanger übertragen, da er ein offenes Ende ist, das fortgesetzt wird. Wenn für den Rezipienten beim ‚offenen Ende‘ Fragen unbeantwortet bleiben, die er daraufhin selbst beantwortet, also eigenständig die Leerstelle füllt und die Geschichte in seiner Imagination weiterführt, so überträgt sich diese Charakteristik auch auf den Cliffhanger, dessen zunächst ‚offenes Ende‘ den Rezipienten herausfordert, es mit seiner Imagination zu füllen. Dieser Drang ‚des Weiterwissenwollens‘ führt ihn dazu, sich auch auf die nächste Folge der Geschichte einzulassen. Siehe dazu das Kapitel: II. 1.2.2 „Wirkungsästhetik des Cliffhangers“, S. 38ff. 159 Kermode, Herrnstein Smith, Torgovnick, Krings und Hasubek bieten unterschiedliche Unterkategorien an – bisher hat sich aber keine dieser Unterkategorien des offenen Endes durchgesetzt. Eine Ausnahme bildet die von Barbara Korte eingeführte Unterscheidung in ‚emische‘ und ‚etische‘ Schlussgebungen, die gelegentlich aufgegriffen wird. Sie entlehnt die zwei Begriffe aus der Sprachwissenschaft (wobei es sie auch in den Sozialwis-

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Aussagen.160 Wichtig für diese Arbeit ist eine Definition des ‚offenen Endes‘, die sich vom Abschluss und vom Cliffhanger unterscheidet.161 Weitere Unterkategorien des offenen Endes sind für diese Arbeit nicht von Belang und würden zu sehr vom eigentlichen Thema wegführen.162 Festzuhalten gilt vor allem, dass das offene Ende

senschaften gibt) und meint damit die sprachexternen (etischen) und sprachinternen (emischen) Charakteristiken von Enden. Vgl. Korte: Techniken der Schlussgebung im Roman, 1985. 160 Siehe dazu Kapitel: II. 1.2.3 „Exkurs: Die Forschungen Bluna Zeigarniks“, S. 40ff. 161 Siehe zum Beispiel die plausibel erscheinende Kritik von Thomas Christen am ‚offenen Ende‘ und den Alternativbezeichnungen für strukturell anders konzipierte Enden, die ‚offen‘ scheinen: „Umgangssprachlich bedeutet die Bezeichnung ‚offenes Ende‘ in der Regel, dass das betreffende Werk eigentlich kein ‚richtiges‘ Ende besitzt, sondern ‚irgendwie‘ aufhört. Eine solche Vorstellung leitet sich vom Modell der klassischen Narration ab, deren Merkmal ja die Geschlossenheit ist. Der Eindruck, ein Film höre einfach auf, ohne zu enden, hat nur so lange Bestand, als die Kausalität als leitendes Strukturmerkmal der Narration verstanden wird. In diesem Sinne scheint es mir wichtig zu unterscheiden, ob ein Film erzählerisch prinzipiell nach dem Kausalitätsprinzip funktioniert, aber am Ende auf Geschlossenheit verzichtet, [...] oder aber eine andere narrative Struktur wählt. [...] Grundsätzlich davon [d.i. vom ‚offenen Ende‘] unterschieden werden müssen jedoch jene Filme, deren Narration sich nicht primär am Kausalitätsprinzip orientiert. Sie weisen eine Struktur auf, zu deren Charakterisierung Begriffe wie ‚subjektlos‘, ‚episodisch‘, ‚zyklisch‘ verwendet werden können.“ Christen: Das Ende im Spielfilm, 2002, S. 43. Auch wenn diese Kritik sicherlich ihre Berechtigung hat, bin ich trotzdem der Auffassung, dass die von Christen genannten Kategorien als Unterkategorie unter dem Schirm ‚offenes Ende‘ stehen können, denn auch wenn die Erzählstruktur des Werks keine Geschlossenheit anstrebt, bleibt die Schlussgebung dennoch ein ‚offenes Ende‘. 162 Bei Hektor Haarkötter (vgl.: Nicht-endende Enden, 2007, S. 11) ist im Grunde genommen jedes Ende insofern offen, als jeder Rezipient dazu angeregt wird, über das beendete Werk nachzudenken. Raymonde Debray-Genette fasst die Doppelfunktion des Romanendes am Beispiel von Gustave Flauberts Un cœur simple zusammen. „L’excipit dʼUn cœur simple est peut-être exemplaire et marqué de la double fonction dʼune fin de roman: fermer la diégèse, ouvrir la réflexion.“ Debray Genette: „Comment faire une fin (Un cœur simple)“. In: Dies.: Métamorphoses du récit, 1988, S.112. Häufig wird dabei die generelle (auch interpretatorische) Offenheit postmoderner Werke angeführt. Dabei sei jedoch auf Ecos „Das offene Kunstwerk“ verwiesen, in dem er unterscheidet „zwischen der programmatischen Offenheit der heutigen Kunstrichtungen und jener Offenheit, die wir als charakteristisch für jedes Kunstwerk feststellen.“ Eco: Das offene Kunstwerk, 2006, S. 60. Das ‚offene Ende‘ kann also höchstens mit den postmodernen Strukturen Schnittmengen und mit der Offenheit jedes Kunstwerks Ähnlichkeit aufweisen. Das ‚offene Ende‘

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nicht fortgesetzt werden kann – sobald es fortgesetzt wird, ist es eine Erzählunterbrechung (und damit womöglich ein Cliffhanger). Das offene Ende kann also nur am finalen Ende einer Narration stattfinden. Beim Cliffhanger wird das offene Ende aufgelöst. Ein unaufgelöster Cliffhanger ist immer ein offenes Ende. 2.6 ‚Mit der Erzählung leben‘: Wirkungsästhetik von Fortsetzungsnarration Ein weiteres Charakteristikum von Fortsetzungsnarration taucht in zahlreichen Sekundärwerken über serielle Narration auf und wird von Frank Kelleter als eine „intensive Rückkopplung zwischen Diegese und Alltag“ bezeichnet. „Schon aufgrund ihres Fortsetzungsinteresses und ihrer kommerziellen Programmabhängigkeit sind populäre Serien meist sehr eng in die Lebenswelt und (bei regelmäßiger Präsentationstaktung) den Wochen- oder Tagesrhythmus ihrer Adressaten eingebunden.“163 Je nach Rezipientenbindung und Identifikation können die Erzählung und die Charaktere Teil des Rezipientenalltags werden.164 Überspitzt müsste man sagen: Der Rezipient lebt mit den Figuren – und zumindest bei täglich ausgestrahlten Seifenopern scheint dies relativ gut nachweisbar der Fall zu sein.165

ist eine Erzähltechnik, ganz im Gegensatz zu der allgemeinen programmatischen Offenheit postmoderner Kunstwerke, die sich höchstens in zahlreichen ‚offenen Enden‘ zeigt. Die Offenheit jedes Kunstwerks wird durch das offene Ende unterstützt. Dies ist aber kein direkter Widerspruch zu dieser Offenheit, sondern nur ein andere Technik, um die Analyse des Rezipienten in andere Interpretationsrichtungen zu leiten als direkt zum Abschluss des Werks. 163 Kelleter: „Populäre Serialität“. In: Ders. (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion, 2012, S. 24. Siehe auch: „Serielle Erzählungen sind von Unterbrechungen gekennzeichnet. Diese treten regelmäßig auf, sodass die Erzählung im täglichen und wöchentlichen Rhythmus fortgesetzt wird. Die Erzählfolgen fügen sich in den Tagesablauf des Rezipienten ein.“ Türschmann: „Spannung in Zeitungsliteratur“. In: Irsigler u. a. (Hg.): Zwischen Text und Leser, 2008, S. 225. 164 „Die periodische Weitererzählung einer Geschichte entspricht dem menschlichen Rezeptionsrhythmus. Eine sukzessiv aufgebaute Welt der Geschichte entsteht, die sich in den Fortsetzungen vervollständigt, erweitert und ständig modifiziert. Der Leser, Hörer oder Zuschauer baut sich damit in seiner Vorstellung einen eigenen Kosmos auf, der durch die Dauer der Rezeption den Charakter einer ‚parallelen Welt‘ zu seiner erlebten Alltagswelt erhält.“ Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, 2010, S. 147. 165 „Soaps offer continuity. People don’t just watch soap operas; they live with them. Day after day, ‚as the world turns,‘ soap characters bare their struggles without making any real-life demands upon the viewer.“ Rosen: „Search for Yesterday“. In: Gitlin (Hg.):

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Für die beschriebene „Rückkopplung“ hat der Cliffhanger große Bedeutung. Er lässt die Erzählung offen enden, sodass auch im Alltag die Geschichte nachhallt. Obwohl Jurgas und Isers „Mitautorschaft“-Theorie in ihrer Absolutheit kritisch zu sehen ist,166 unterstützt der Cliffhanger eine Rückkopplung in den Alltag, denn die Erzählung endet völlig offen mit Hinweisen auf die Fortsetzung; eine ungefähre Antizipation oder zumindest die Fragestellung, wie es weitergehen mag, verlängert die Rezeption in den Alltag hinein. Der Rezipient ist kein „Mitautor“, aber er wird zu einer minimalen Antizipation oder Fragestellung animiert. Einige sehr bekannte Cliffhanger und offene Episodenenden haben einen Nachhall in den Alltag hinein oder sogar eine stark ausgeprägte Spekulation und Antizipation des Publikums bewirkt: 167 In Dickensʼ The Old Curiosity Shop stirbt im letzten Drittel des Romans eine der Hauptfiguren, das Mädchen Little Nelly. Da die Folgen in England aufgrund der weiten Entfernung früher veröffentlicht wurden als in den USA, sollen bei der Ankunft von englischen Schiffen in den Vereinigten Staaten Passanten die Passagiere gefragt haben, ob Little Nelly wirklich gestorben ist oder in der nächsten Folge doch noch lebt.168 Außerdem führten vornehmlich Cliffhanger zu den Überlegungen, wer Laura Palmers Mörder in der TV-Serie Twin Peaks169 ist und wer auf J.R. Ewing in der Seifenoper Dallas geschossen haben könnte.170 All diese Fragen zur Handlung hätte es bei einem ganzheitlichen Werk nicht geben können. Die Pause zwischen den Veröffentlichungen der einzelnen Mikrotexte erlaubte es dem Publikum, die Handlung zu antizipieren und darüber zu spekulieren.171

Watching television, 1987, S. 45. Außerdem weisen die folgenden älteren Studien in Interviews mit Rezipienten derartige Rezeptionserfahrungen nach: Geraghty: Women and Soap Opera, 1991; Brunsdon: „The Role of Soap Opera in the Development of Feminist Television Scholarship“. In: Allen (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 49–65. 166 Siehe zur „Mitautorschaft“-Theorie von Iser und Jurga das Kapitel: II. 1.2.2 „Wirkungsästhetik des Cliffhangers“, S. 38. 167 Zuletzt schaffte es das finale Ende der Serie The Sopranos, in den USA solch eine öffentliche Diskussion um ein Erzähl-Ende hervorzurufen. Das Besondere: Hier wird ein Cliffhanger im Grunde ad absurdum geführt – er ist kein Cliffhanger, das Ende bleibt offen. Der Cliffhanger ist hier das bewusste und geplant offene (endgültige) Ende der Serie. Dieses offene Ende führte zu zahlreichen Spekulationen in TV-Sendungen und im Internet, wie dieser Schluss zu interpretieren sei und vor allem, was vermutlich in den nächsten Minuten in der Diegese passieren würde. 168 Es gibt allerdings keine stichhaltigen Beweise für diese häufig zitierte Anekdote. Vgl. Brennan: „Introduction“. In: Dickens: The Old Curiosity Shop, 2008, S. VII–XXXII. 169 Siehe: Lavery: „Introduction“. In: Ders. (Hg.): Full of secrets, 1995, S. 7. 170 Ang: Watching Dallas, 1985, S. 86. 171 Vgl. Fröhlich: „Filling In.“ In: Nesselhauf u. a.: Quality TV, 2014, S. 219‒220.

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Serielle Narration bietet die Möglichkeit, wenn sie noch nicht veröffentlicht und teilweise noch nicht einmal produziert ist, aufgrund der Segmentierung dem Rezipienten, Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte zu nehmen. Zahlreiche Rezipienten nahmen und nehmen auch heute noch diese Möglichkeit wahr: Dumas und Dickens erhielten unzählige Briefe, wie die weitere Erzählung verlaufen, dass beispielsweise Little Nelly nicht sterben sollte – heutzutage erhalten Serienproduzenten zahllose Mails und Forenbeiträge entsprechenden Inhalts.172 Ob die Rezipienten nun wirklich Einfluss nehmen können oder dies gelegentlich ein ‚Produzenten-Trick‘ ist, um eine Involvierung und Antizipation durch das Versprechen eines angeblichen Mitspracherechts zu bestärken?173 Vermutlich kommt beides vor: Produzenten suggerieren gerne, dass sie die Wünsche des Publikums berücksichtigen, ohne dies letztendlich immer zu tun. Sie wissen, dass sie einerseits die eigene Vision der bereits geplanten Geschichten erzählen und andererseits die Wünsche des Publikums kennen müssen in Hinblick auf den Erfolg der Serie.174 Jedenfalls ist die ‚Einmischung‘ in den unmittelbaren Verlauf einer Erzählung von Seiten des Publikums bei einem ganzheitlichen Werk nicht möglich. Sie ist aber denk- und realisierbar, wenn, wie bei Dickens und Dumas, die nächsten Folgen eines seriellen Werk noch nicht feststehen oder bei Serienstaffeln die nächsten Handlungsschritte noch nicht produziert wurden, wenn also der Produktions- dem Rezeptionsrhythmus nur gering vorauseilt. Inzwischen geht die Involvierung über gedankliche Antizipation, mündliche Spekulation und schriftliche Anregung hinaus. So genannte Fan-Fiction ist im Internet

172 Vgl. ebd. „On their side, producers, out of necessity, have increasingly turned to a collaborative productive process, forming creative teams to handle the high volume of serial production, asking audiences for their suggestions to ensure high sales or ratings, and even (in some on-line serials) providing ‚alternate‘ episodes for readers not satisfied with the standard episode an easy e-mail buttons for readers to write to characters or forward their ideas directly to creators.“ Hayward: Consuming Pleasures, 1997, S. 15. 173 „This is the fantasy the serial encouraged: that by writing in you could be a collaborator in the production of the serial narratives, and by actively reading you could be a collaborator in the adventures themselves.“ Gardner: Projections, 2012, S. 39. 174 Ein Beispiel für den ‚Produzenten-Trick‘, den Rezipienten zu Antizipation und Involvierung zu animieren, aber letztendlich nicht auf seine Wünsche einzugehen: Die Chicago Tribune und die Tanhouser Film Produktionsfirma machten 1914 eine Ausschreibung in der Höhe von 10.000 Dollar für den besten Vorschlag, wie die Fortsetzungs-Kinoserie The Million Dollar Mystery zu beenden sei. Miss Ida Damon, ein Stenographistin aus St. Louis, gewann den Wettbewerb. Obwohl das Ende bereits gedreht worden war, setzten sich die Rivalen der Chicago Tribune und Ermittler der United States Post Office dafür ein, dass der Vorschlag von Miss Damon auch genauso gedreht werden müsse, was zu guter Letzt dann auch geschah. Siehe dazu Kapitel: VII 2.1, S. 301ff.

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stark vertreten. In Foren zu Serien wird nicht nur über die weitere inhaltliche Entwicklung der Serie – und besonders über die Auflösung von Cliffhangern – spekuliert, sondern Fortsetzungserzählungen werden auch selbstständig und eigenmächtig weiterentwickelt. Besonders unabgeschlossene, unvollendete Serien erhalten von den Fans ein zweites (fortgesetztes) Leben. Hier wird nicht mehr nur spekuliert und antizipiert, sondern hier werden nach Jurga und Iser die Rezipienten tatsächlich zu Mitautoren beziehungsweise zu Autoren; die Autorität einer Fortführung erhält leihweise der Rezipient. Der beschriebene Handel zwischen Autor und Rezipient, also das Versprechen auf Auflösung und ein finales Ende, ist bei eingestellten Serien, unvollendeten Makrotexten ungültig, darum nimmt teilweise der Rezipient selbst die Produktion in die Hand. 2.7 Der ‚aktivierte‘ Rezipient oder: Serielle Fortsetzungsnarration als Droge Die beschriebenen Wirkungsmechanismen zeigen, dass der Rezipient auf verschiedenste Art und Weise von serieller Narration und ihren Erzähltechniken ‚aktiviert‘ wird.175 Eine derartige Sichtweise deckt sich stark mit einer neoformalistischen Filmtheorie, wie sie von David Bordwell und Kristin Thompson geprägt wurde. „Die Beziehung des Zuschauers zum Kunstwerk wird aktiv. Der Zuschauer sucht im Werk aktiv nach Hinweisen (cues) und reagiert darauf mit den Wahrnehmungsfähigkeiten (viewing skills), die er durch seinen Umgang mit anderen Kunstwerken und mit dem Alltagsleben erworben hat.“176

Der Grundgedanke der neoformalistischen Filmtheorie ist, „dass der Zuschauer den eigentlichen Film […] erst in einem Akt der Konstruktion erschafft. Aus dem Rohmaterial des plot […] entsteht im Kopf des Zuschauers die story“.177 Dieser Gedanke lässt sich insofern auf die Rezeption von serieller Fortsetzungsnarration übertragen, als der Rezipient hier immer nur Teile eines plots bekommt und diese selbst ‚zu einer story zusammensetzen muss‘. Alle Rezipienten, denen die bisherigen Folgen nicht

175 Siehe zur Aktivierung des Seifenopern-Publikums vor allem: Hobson: Soap Opera, 2003, S. 166–174; Hayward: Consuming Pleasures, 2009. Siehe zur Aktivierung des ComicPublikums v. a.: Gardner: Projections, 2012, S. 36–70. Siehe zur Aktivierung des Publikums von serieller Narration: Fröhlich: „Filling In.“ In: Nesselhauf u. a.: Quality TV, 2014, S. 213‒225. 176 Thompson: „Neoformalistische Filmanalyse“. In: Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, 1990, S. 430. 177 Elsaesser u.a : Filmtheorie zur Einführung, 2007, S. 60.

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auf einem Trägermedium zugänglich sind, müssen sich den bisherigen Inhalt einprägen, ihn rekapitulieren, eventuelle Zeitsprünge und Ellipsen zwischen den Folgen füllen und all diese Elemente mit der aktuellen Folge verknüpfen, damit sie in ihrem Kopf eine fortlaufende story erhalten. Das Ausmaß der Rezipienten-Aktivierung bei der seriellen Narration geht sogar noch über das in der neoformalistischen Filmtheorie beschriebene hinaus. Der Rezipient wird noch nach der Rezeption aktiv – er ist also nicht wie bei Bordwell und Thompson nur während der Rezeption aktiv, sondern wird von der Erzählung auch aktiviert, die nächste Folge zu konsumieren und eventuell den weiteren Verlauf zu antizipieren. Die Ermunterung zu einer vagen Antizipation, zu Einprägung, Fan-Fiction und einem Nachhall im Alltag ist nicht nur auf die Konstruktion der Narration im Kopf beschränkt, sondern aktiviert den Rezipienten zum Handeln: Vor allem die Handlung, auch die nächste Folge zu rezipieren, ist Fokus der Aktivierung. Aber auch die Analyse von cues im Text ist nützlich, um die Wirkungsweise des Cliffhangers als Anregung zur Antizipation und Aktivierung zu betrachten.178 Die Rückkopplung in den Alltag und die Aktivierung lassen sich zu einem gewissen Grad auch daran erkennen, dass serielle Fortsetzungsnarration häufig sehr aktive und große Fangemeinschaften hervorruft. Henry Jenkins ist momentan der wichtigste Analyst der aktuellen Fan-Culture, die er allen voran in seinem Hauptwerk Convergence Culture beschreibt. In allen seinen Büchern über Fan-Culture spielen Fernsehserien179 oder Filmreihen (vor allem Matrix und Star Wars,180 die beide mit Cliffhangern arbeiten) eine große Rolle.181 Jenkins’ Hauptthese lautet: Der Rezipient 178 Auf die Aktivierung des Rezipienten beim Cliffhanger lässt sich auch folgende Aussage übertragen: „Vielmehr liefern die Verfahren des jeweiligen Werks eine Reihe von cues, die uns dazu anregen, bestimmte Wahrnehmungsaktivitäten aufzunehmen.“ Thompson: „Neoformalistische Filmanalyse“. In: Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, 1990, S. 441. Außerdem: „Der Neoformalismus betrachtet die Zuschauer nicht als passive ‚Subjekte‘, […] sondern die Zuschauer sind weitgehend aktiv und tragen damit wesentlich zur letztendlichen Wirkung eines Werks bei. Der Zuschauer vollzieht eine Reihe verschiedener Aktivitäten: physiologische, vorbewußte, bewußte und vermutlich unbewußte.“ Ebd., S. 443. 179 Siehe zur Werkauswahl von ausschließlich serieller Narration bei Jenkins z. B.: Die Pilotfolge der nicht ausgestrahlten Serie Global Frequency (Convergence Culture, 2008, S. 263), Buffy und Star Trek (Fans, Bloggers, and Gamers: Exploring Participatory Culture, 2006) sowie allgemein zu Serien (Textual Poachers, 2012). 180 Siehe zu Matrix: Jenkins: Convergence Culture, 2008, S. 95–134. Siehe zu Star Wars: Ebd., S. 135–174. 181 In keinem von Henry Jenkins’ Büchern ist ein ausdrücklicher Hinweis darauf zu entdecken, dass Serien als ‚aktivierender‘ betrachtet werden als ganzheitliche Narration – diese Aussage lässt sich nur aus seiner Werkauswahl ablesen.

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hat auf soziale Medien182 massiven Einfluss, vor allem auf die von ihnen produzierten Narrative. Er ist statt eines passiven Zuschauers ein aktiver Teilnehmer der Kultur. Dies gilt insbesondere heutzutage aufgrund der neuartigen und vielfältigen Kommunikationswege zwischen Produzenten und Rezipienten. „The term participatory culture contrasts with older notions of passive media spectatorship. Rather than talking about media producers and consumers as occupying separate roles, we might now see them as participants who interact with each other according to a new set of rules that none of us fully understands.“183

Der Rezipient kann heutzutage zu einem noch aktiveren Mitgestalter der Kultur werden, wenn er sich seiner Macht und Fähigkeit bewusst wird. „Consumers will be more powerful within convergence culture – but only if they recognize and use that power as both consumers and citizens, as full participants in our culture.“184 Gründe dafür, warum die Fan-Kultur zu seriellen Werken ausgeprägter ist als bei ganzheitlichen Werken, sind zum einen die bereits besprochene Rückkopplung in den Alltag; zum anderen die Unterbrechungen der seriellen Narration, die es dem Rezipienten ermöglichen, aktiver ‚Kultur-Teilnehmer‘ zu sein: In den Pausen kann er tätig werden und mitbestimmen. Wie im Falle der abgesetzten Fernsehserien Firefly, Jericho etc. ersichtlich, sind sich die Fans ihrer Macht bewusst. Firefly erhielt vor allem aufgrund der umfangreichen und andauernden Fan-Aktivitäten einen Kinofilm, die Serie Jericho wurde allein wegen des massiven Fan-Protestes gegen die Absetzung um eine zweite Staffel verlängert.185 Gerade bei Fernsehserien mit relativ schlechten Einschaltquoten werden die Fans besonders aktiv – sie wissen, dass sie mit einer aktiven Teilnahme am Publikations- und Rezeptionsprozess und einer Aktivierung weiterer Rezipienten unter Umständen eine Fortsetzung der Serie bewirken können. Häufig werden sie dabei von der Hoffnung getragen, den inhaltlichen Abschluss der Erzählung noch selbst zu erfahren.

182 ‚Soziale Medien‘ sind nach Roland Posner Institutionen zur Organisation von Zeichenvermittlung (also Fernsehanstalten, Verlage etc.). Roland Posners Unterteilung des Medienbegriffs wird im Folgenden verwendet und wird im Kapitel „Medien und ihre Eigenheiten“ (S. 95) ausführlicher erklärt. 183 Jenkins: Convergence Culture, 2008, S. 3. 184 Ebd., S. 270. 185 Beide Serien hatten eine so loyale Fangemeinde, dass die Fans teilweise selbst Anzeigen zu den Ausstrahlungsterminen und der DVD-Auswertung schalteten – vor allem in der Hoffnung, auf diese Weise mehr Zuschauer und somit eine Verlängerung der Serie zu erwirken. Siehe für Firefly http://www.weeklystandard.com/Content/Public/Articles/ 000/000/005/757fhfxg.asp [vom 05.08.2013].

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Wie auch bei der von Kelleter beschriebenen Rückkopplung in den Alltag spreche ich der Episodennarration weniger Aktivierungs-Potenz zu, da dort die Folgen abgeschlossen sind. Zwar werden auch diese Erzählungen aufgrund ihrer regelmäßigen Veröffentlichung in den Alltag eingebunden. Die Folgen der Episodennarration können aber leichter versäumt werden (die Bedeutung des Rezeptionstermins ist also beschränkter) und der Nachhall der Geschichte im Alltag ist nicht so stark: Statt der Frage, wie es weitergehen mag, geht es eher darum: Wie mag es neu beginnen? Überspitzt lautet die Antwort: Höchstwahrscheinlich repetitiv, so wie letztes Mal. Auch die als Fan-Fiction betriebene Weiterschreibung scheint für die Rezipienten von geringerem Interesse zu sein: Die Fan-Fiction zu Episodenserien weist weniger Webseiten und weniger Beiträge auf als zu Fortsetzungsserien.186 Ein vehementer FanProtest wie zu der Absetzung von Firefly und Jericho ist bei der Absetzung einer Episodenserie bisher meines Wissens noch nicht beobachtet worden. Trotzdem darf die Episodenserie keinesfalls generell im Vergleich zur Fortsetzungsserie als Erzählprinzip deklassiert werden. Episodenserien wie zum Beispiel The Prisoner und einige Folgen von Space: Above and Beyond, Miami Vice, CSI: Crime Scene Investigation und The Simpsons187 besitzen die Qualität, sehr komprimiert und teilweise sehr elliptisch eine Geschichte ‚auf den Punkt zu bringen‘: In einer inhaltlich geschlossenem 186 Die Aussage, dass Fortsetzungsserien allgemein mehr Fan-Fiction haben als Episodenserien würde einer eigenen Studie bedürfen, in der man auch den Ausstrahlungszeitraum mit berücksichtigen müsste. Sicherlich findet sich zu der seit Ende 1989 laufenden Episodenserie The Simpsons sehr viel Fan-Fiction. Exemplarisch wurde hier nur dem ‚FanFiction-Aufkommen‘ einiger weniger Serien nachgegangen. Im Internet ließ sich zu den sehr erfolgreichen und langlebigen Episodenserien CSI und Navy CIS nur wenig FanFiction finden, während zu einer kurzlebigen Fortsetzungsserie wie Jericho und einer erfolgreichen wie Sons of Anarchy vergleichsweise viel Fan-Fiction vorhanden war. Die sich daraus ergebende Hypothese lautet, dass das Ecosche „Immergleiche“ der Episodenserie Fans nicht zur Autorschaft zu animieren scheint. Zu der vorwiegend episodischen Fernsehserie CSI gibt es immerhin etwas Fan-Fiction (verglichen mit dem Erfolg und der Langlebigkeit der Serie ist sie allerdings erstaunlich spärlich). Die mageren Fan-FictionBeiträge befassen sich zudem fast ausschließlich mit den wenigen fortgesetzten Handlungssträngen der Serie – vor allem der über viele Folgen fortgeführte Nebenstrang der Liebesbeziehung zwischen den Ermittlern Gil Grissom und Sara Sidle wird in zahlreichen Fan-Fiction-Beiträgen aufgegriffen. Siehe: http://www.fanfiction.net/tv/CSI/ [vom 05. 04.2013]. 187 Einige außergewöhnliche Folgen von Episodenserien, die aufgrund ihrer komprimierten Erzählweise und teilweise auch ihrer Poesie an Gedichte erinnern, sind bspw.: Space: Above and Beyond („Who Monitors the Birds“ S1E21), Miami Vice („Forgive Us Our Debts“ E11S3 und „Shadow in the Dark“ S3E6), CSI: Crime Scene Investigation („Rashomama“ S6E21), Southland („U-Boat“ S2E3), Abschnitt 40 („Straßen in der

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Fernsehfolge Atmosphäre, Thematik, neue Charaktere und plot innerhalb von 43 Minuten zu entwickeln oder beim Comic auf einem Viertel einer Zeitungsseite Komik zu vermitteln, ist eine erzählökonomische Herausforderung.188 Umso erstaunlicher und gelungener sind die Folgen, in denen Neues und ein Ausbruch aus der Wiederholung der spezifischen Struktur und Thematik der jeweiligen Episodenserie gewagt wird. Wenn man die modernen Fernseh-Fortsetzungsserien mit Romanen vergleicht, wie es ja so häufig getan wird,189 so könnte man diese außergewöhnlichen (zugegebenermaßen wenigen) Folgen von Episodenserien meines Erachtens aufgrund ihrer Verdichtung und gelegentlich sogar Poesie mit Gedichten vergleichen190 – sie haben womöglich sogar eine noch höhere Aktivierungs-Potenz als Folgen von Fortsetzungsserien.191 Egal ob nun Episodenserie oder Fortsetzungsserie eine stärkere Aktivierung hervorruft: Die Rückkopplung in den Alltag, die initialisierte vage Antizipation und Spekulation, die intendierte Treue zu einer Serie, die Pausen, die eine Reflexion der bisherigen Narration ermöglichen – all das sind Anhaltspunkte dafür, dass serielle Fortsetzungsnarration eine Aktivierung des Rezipienten fördert. Tudor Oltean geht bei der Aktivierung des Rezipienten sogar so weit, generell der seriellen Narration die mächtigere Stellung zuzubilligen, den Rezipienten als ‚Rekreierer der Diegese‘ einzustufen. Wenn man dem Verhältnis zwischen Autor und Rezipient einen derart absoluten Standpunkt zugesteht, ist dies ebenso bei ganzheitlicher Narration der Fall. „It is quite likely that this is the most important outcome of media serial products: ‚mediatization‘ of the audience, establishing co-operation and the interdependency between producer (or Nacht“ S2E3), Buffy the Vampire Slayer („Hush“ S4E10) und The Simpsons („Bart the Daredevil“, S2E8). 188 Man denke beim Comic zum Beispiel an das häufig als erstes Comic-Strip bezeichnete The Yellow Kid und andere frühe Comics, bei denen zunächst sogar innerhalb eines einzigen Bildes eine Geschichte mit zeitkritischen Bezügen erzählt wird. Siehe: Harvey u. a.: Children of the Yellow Kid, 2009, S. 15. 189 Siehe bspw. Fußnote 88. 190 Besonders ‚aktivierend‘ sind Folgen von Episodenserien, die mit einem offenen Ende schließen, der auf den Rezipienten wie ein Schock wirken kann und damit eine noch stärkere Aktivierung erwarten lässt als bei der Fortsetzungsserie. Denn von seiner Sehgewohnheit her geht der Rezipient davon aus, dass der Handlungsstrang der Folge nicht fortgesetzt wird, und er ist deshalb umso mehr von dem unerwartet offenen Ende überrascht. Gleichzeitig bietet aber die Form der Serie generell die Möglichkeit, die Geschichte zu Ende zu erzählen, und der Rezipient mag sich unbewusst oder bewusst fragen, ob der Handlungsstrang nicht vielleicht doch noch einmal aufgegriffen wird. 191 Zur Episodenserie empfiehlt sich die Lektüre von Jens Ruchatz: „Sisyphos sieht fern“. In: Beil (Hg.): Die Serie, 2012, S. 80–89.

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‚creator‘) and audience (or ‚recreator‘). Series is not a production followed by reception, but a co-operative process of creating and recreating fictional words.“192

Die Kehrseite der Medaille: Serieller Narration (und dem Cliffhanger) wird nachgesagt, eine Abhängigkeit, eine Sucht zu erzeugen.193 Dies wird vor allem dadurch begründet, dass Rezipienten einer seriellen Narration wiederholt Mini-Auflösungen erhalten ‒ was man nach Zeigarnik auch „Ersatzziele“194 nennen könnte ‒ eine finale Auflösung aber hinausgezögert wird, damit der Rezipient ‚bei der Stange bleibt‘. Die Spannung und die Fragen „wie mag es weitergehen und wie wird es aufgelöst oder enden“ können bei serieller Narration so vorherrschend sein, dass Sucht, Manipulation und Fremdbestimmung als primäre Wirkungsfaktoren angesehen werden können. „The series is, in the first instance, not a dialogue between author and audience, but between medium (newspapers, radio or television broadcasting) and its audiences. The paradigm implies audience participation, with intervals of gratification and interludes of anticipated gratification.“195

Die regelmäßige Ausstrahlung, die rituelle Rezeption stets am gleichen Tag zur feststehenden Uhrzeit im Fernsehen oder, wie bei Kinoserien und Fortsetzungsromanen üblich, zumindest immer am gleichen Wochentag oder einem festen Tag im Monat, begünstigt eine Art von narrativem Sog. Der Cliffhanger ist in diesem Vorgang sehr wichtig, weil er als Rezeptionsimpuls das Interesse an der Narration und die Spannung ‚auffrischt‘. Die negative Beurteilung des Rezeptions-Sogs der seriellen Narration hat eine lange Tradition. Jennifer Hayward zeichnet diese Tradition in ihrem Buch Consuming Pleasures nach. Sie zitiert beispielsweise die Predigt eines englischen Pfar-

192 Oltean: „Series and Seriality in Media Culture“. In: European Journal of Communication, S. 12. 193 „Viewers use the discourse of addiction: they are hooked, have to get a fix, go through withdrawal, are in All My Children ecstasy. Clearly soaps work […] to arouse some need that can only be satisfied by – more soap.“ Hayward: Consuming Pleasures, 1997, S. 155. Siehe auch: „The construction of the serial narrative as addictive or as somehow infectious is interwoven with constructions of the reader in this discourse.“ Gibson: „Sick Fictions“. In: Lee (Hg.): Cultures of Addiction, 2012, S. 121. 194 Zeigarnik: „Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen“. In: Lewin (Hg.): Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie, 1927, S. 57f. 195 Oltean: „Series and Seriality in Media Culture“. In: European Journal of Communication, S. 13.

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rers von 1837 an die Jugend, in der die Lektüre von Fortsetzungs-Romanen ausdrücklich mit dem Konsum von Drogen verglichen wird.196 Sie nennt aber auch bekanntere Kritiker der seriellen Narration, die ihr eine Verursachung von Abhängigkeit unterstellen, wie den italienischen Schriftsteller und marxistischen Philosophen Antonio Gramsci sowie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer.197 Besonders die Seifenoper wurde lange Zeit als süchtig machend und moralisch verrohend eingestuft.198 „Daytime serials were said to be not only immoral but unhealthy as well. Most notorious among the critics was Dr. Louis Berg, who claimed, using himself as a test subject, that soaps created anxiety in viewers. Soon, a scholarly paper appeared which ‚concluded‘ that (female) soap opera listeners exhibited ‚stereotyped thinking,‘ had less ‚imagination and personal resources,‘ and saw the world ‚in terms of men and women having trouble maintaining stable relationships.‘“199

Tatsächlich wählt die Distributionsseite häufig eine Preispolitik, die auch der Drogendealerei nachgesagt wird: Die DVD-Box der ersten Staffel wird meist zu einem Einstiegspreis angeboten, der sich auf dem Niveau einer Spielfilm-DVD befindet, während die weiteren Staffeln wesentlich teurer sind.200 Häufig werden bei DVD196 Hayward: Consuming Pleasures, 1997, S. 6. Auch der französische Feuilletonroman wurde angegriffen, seine Leser süchtig zu machen: „Heftig attackieren sie [d.s. die legitimistischen Zeitungen, die sich anfangs stark gegen die Feuilletonromane wehren] immer wieder die ‚lasterhaften Schundromane‘, die eine narkotisierende Wirkung auf ihre unbedarfte Leserschaft ausüben und diese FR-süchtig [FR steht für den Feuilletonroman] machen.“ Neuschäfer u. a.: Der französische Feuilletonroman, 1986, S. 31. Und zu allgemeinen Konnotation mit Sucht: „On s’effare: l’imagination menace d’engloutir la raison, le plaisir prime la vertu politique, la fascination de la fiction détourne l’attention du réel, bref: le roman-feuilleton, c’est lʼopium du peuple‘.“ Queffélec: Le roman-feuilleton français au XIXe siècle, 1989, S. 4. Besonders auch in der heutigen Presse werden Fernsehserien meist mit Drogen verglichen bzw. wenn eine Fernsehserie als gut bezeichnet wird, bekommt sie das Attribut der Suchterzeugung zugewiesen: Der Untertitel der Sammlung von den Kritikern der Süddeutschen Zeitung lautet bspw.: „Serien, die süchtig machen.“ http://www.sueddeutsche.de/thema/Lieblingsserien [vom 04.07.2013]. 197 Hayward: Consuming Pleasures, 1997, S. 7. 198 „New York psychiatrist Dr. Louis Berg compared the repetitiveness of the soaps to Hitler’s propaganda machine, claiming that each was corrupting the human nervous system.“ Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 20. Siehe dazu auch das Kapitel: VIII. 1.1 „Einleitung“, S. 373ff. 199 Blumenthal: Women and Soap Opera, 1997, S. 37. 200 Diese an Drogendealerei erinnernde Preispolitik zeigt sich zum Beispiel bei Game of Thrones: Der Preis von Staffel eins liegt ein halbes Jahr nach Erscheinen bereits bei

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Boxen auch schon einzelne Folgen von anderen Serien umsonst beigefügt. Ähnliche Praktiken zeigten sich bei Fortsetzungsromanen, Groschenromanen und Comics: Auf der letzten Seite des Hefts, wird der Anfang einer anderen Serie ‚ungefragt‘ angeboten – die Werbung ist der Text selbst.201 Der Rezipient soll mit der ersten Staffel, ersten Folge oder ersten Seite ‚angefixt‘ werden. Wenn die ‚narrative Abhängigkeit‘ dann erreicht ist, kauft der Rezipient das Produkt auch zu einem höheren Preis – unter anderem sicherlich auch, weil er wissen will, wie der Cliffhanger, mit dem die letzte Staffel endete, aufgelöst wird. Die Cliffhanger haben an dem Sog großen Anteil, weil sie den Drang nach Auflösung und Spannung serieller Narration maßgeblich mitgestalten und fördern. Die Cliffhanger sind somit wesentlich am schlechten Ruf der seriellen Narration beteiligt, vor allem – darin liegt eine gewisse Paradoxie –, weil sie effektiv die von Hayward beschriebenen Consuming Pleasures und den narrativen Sog hervorrufen oder verstärken. 2.8 Der Cliffhanger und seine Rolle in der seriellen Fortsetzungsnarration Aufgrund der Teilung des seriellen Textes in formal relativ einheitliche Mikrotexte, die zusammen einen Makrotext ergeben, ist serielle Narration von Wiederholung und Fortsetzung geprägt, der „doppelten Formstruktur“. Die Aufteilung ermöglicht eine gegenseitige Beeinflussung von Produktion, Distribution, Rezeption und seriellem Text (Kontext-Ebene 1). Der Cliffhanger ist eine Erzähltechnik, die eng mit der seriellen Fortsetzungsnarration verbunden ist. Aufgrund der regelmäßigen Veröffentlichung ist serielle Narration von einer „Rückkopplung in den Alltag“ des Rezipienten geprägt – der Cliffhanger verstärkt diesen Effekt, in dem er das Bedürfnis nach der nächsten Folge transportiert, einen Rezeptionsimpuls zum Rezipienten sendet. Die Aktivierung des Rezipienten zur Antizipation, Spekulation und Rezeption äußert sich unter anderem darin, dass serielle Werke meistens eine sehr aktive und große Fange-

14,99€, Staffel zwei kostet mit 29,99€ das Doppelte. (Preise abgerufen bei Amazon.de am 06.06.2013). Eine Zeitlang wurden spätere Staffeln einer Serie zusätzlich in zwei Teile geteilt, wodurch der Rezipient, um eine ganze Staffel zu besitzen, zwei Mal kaufen musste. Bei Battlestar Galactica ist Staffel eins als Gesamtbox erschienen, Staffel zwei, drei und vier wurden hingegen jeweils in zwei Teilen veröffentlicht. Der einzelne Abschnitt einer Staffel wirkt dadurch billiger und attraktiver, die Staffel als Ganzes ist jedoch durch die Aufteilung wesentlich teurer. 201 Siehe bspw. zum Comic: Sugar and Spike (Band 26, Dezember 1959) enthält auf der letzten Seite die erste Seite des Comics The Atomic Age (beides DC Comics, damals noch als National Comics Publications, Inc, bekannt).

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meinschaft haben, die vehement für die Fortsetzung ihrer Serien kämpft und die serielle Texte in eigener Fan-Fiction fortschreibt. Ein wesentlicher Aspekt des Cliffhangers ist sein Versprechen der Auflösung, teilweise sogar das Versprechen, dass es irgendwann eine finale Auflösung, einen Abschluss der fortgesetzten Erzählung geben wird – der Cliffhanger kann auch deshalb definitorisch kein offenes Ende sein.202 Das Versprechen eines Abschlusses, über das Abbott schreibt, macht die von ihm als „rhetorisch“ bezeichnete „Macht“ des Cliffhangers aus.203 Der Cliffhanger verspricht, dass der Rezipient irgendwann die Auflösung, die Entspannung erlebt, wenn er die Erzählung weiter verfolgt. Statt wie bei der Episodenserie den Höhepunkt in der Mitte oder dem letzten Drittel des Mikrotextes zu erfahren, findet eine Phasenverschiebung des Höhepunktes statt, sodass die Klimax mit dem Ende der Folge zusammenfällt (Schwebeform). Der Held hängt am Ende des Mikrotextes an der Klippe, der Rezipient will wissen, ob sein Held gerettet wird und kauft deshalb den nächsten Mikrotext; (meist) zu Beginn des neuen Mikrotextes zieht der Autor den Helden von der Klippe. Es ist im Grunde ein einfacher Tauschhandel zwischen Autor und Rezipient. Der Cliffhanger samt Auflösung ist bei diesem Tauschhandel ein guter ‚Lückenbüßer‘: Anstelle der vollständigen Auflösung der Erzählung wird der Rezipient mit einer Teilauflösung, dem Erreichen eines „Ersatzziels“204 in der Mitte der Folge oder alternativen Spannungsmomenten und deren Auflösung hingehalten und teilbefriedigt. Durch eine derartige Ersatzbefriedigung kann der Abschluss, das finale Ende der Serie mit weiteren Folgen herausgezögert, der Makrotext insgesamt verlängert werden. Der Handel zwischen Produzent und Rezipient sowie das spannungsreiche Spiel mit Spannungserzeugung und Auflösung offenbart die Macht des Cliffhangers: Jeder Cliffhanger erweckt letztendlich des Rezipienten Wunsch und Bedürfnis nach Auflösung und einem abschließenden Ende. Der Cliffhanger ist eine Erzählstrategie, die sich dieses Bedürfnis zu Nutze macht.

202 Bei Seifenopern, so genannten Endlosserien ist das Versprechen auf einen Abschluss nicht gegeben, höchstens das Versprechen des Abschlusses eines Handlungsstrangs. Siehe: Kapitel VIII. 6.2 „Eine neue Form der seriellen Narration“, S. 445. 203 „[T]he promise of closure has great rhetorical power in narrative.“ Abbott: The Cambridge Introduction to Narrative, 2011, S. 64. 204 Zeigarnik: „Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen“. In: Lewin (Hg.): Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie, 1927, S. 57.

III. Begriffe und Methoden „Each medium has its own properties, for better and worse usage, and intelligent film viewing and criticism, like intelligent reading, needs to understand and respect both the limitations these create and also the triumphs they invite.“ CHATMAN: „WHAT NOVELS CAN DO THAT FILMS CAN’T (AND VICE VERSA)“. IN: MITCHELL (HG.): ON NARRATIVE, 1981, S. 136.

1. M EDIEN

UND IHRE

E IGENHEITEN

1.1 Wie kommunizieren Medien eine Erzählung? Die bisherigen Aufsätze über den Cliffhanger zeigen, dass der Cliffhanger eine Erzähltechnik ist, die in verschiedenen Medien1 eingesetzt wird. Aus dieser Feststellung ergeben sich aber Fragen, die die bisherigen Aufsätze nicht beantworten konnten: Gibt es Unterschiede im Gebrauch des Cliffhangers in den unterschiedlichen technischen Medien? Wird der Cliffhanger beispielsweise in den Erzählungen (tertiärer)

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Der Begriff ‚Medium‘ hat je nach wissenschaftlicher Disziplin oder nicht-wissenschaftlichem Hintergrund ganz unterschiedliche Bedeutungen. Eine Aufgliederung der verschiedenen Konnotationen von ‚Medium‘ bieten vor allem: Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, 2010, S. 18–36; Ryan: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): Narrative across Media, 2004, S. 15–20; Hickethier: „Das ‚Medium‘, die ‚Medien‘ und die Medienwissenschaft“. In: Bohn (Hg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, 1988, S. 51–74. Im Folgenden halte ich mich an die Unterscheidung des Medienbegriffs von Roland Posner (siehe nächste Fußnote).

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Medien wie Film, Radio und Fernsehen anders eingesetzt als in Erzählungen der (sekundären) Medien Zeitung, Comic und Buch?2 Diese Fragen ergeben sich vor allem aus der Tatsache, dass zwar in all diesen technischen Medien seriell erzählt werden kann, sie zum Teil aber jeweils andere Zeichensysteme benutzen, um eine serielle Geschichte darzubieten. Welche Unterschiede bestehen zwischen einem Cliffhanger in einem Text und einem audiovisuellen Cliffhanger? Auf welche Weise wird der Cliffhanger in einem audiovisuellen Medium (wie der Fernsehserie) anders genutzt als in einem audiophonen (wie dem Radiohörspiel)? Die Konstante einer Unterbrechung der Erzählung zum Zweck einer erneuten Rezeption bleibt erhalten, aber wie gruppieren sich die medienspezifischen Eigenheiten um die Konstante Cliffhanger beziehungsweise bleibt der Cliffhanger wirklich inmitten dieser medialen Eigenheiten noch eine Konstante? Der Cliffhanger kann durch diese Fragen zum Schlüssel für ein weiterführendes Verständnis werden, wie technische Medien sich in ihrer Art zu erzählen voneinander unterscheiden. Damit die unterschiedlichen medialen Verknüpfungen des Cliffhangers herausgearbeitet werden können, ist es wichtig, auch die verschiedenen Konnotationen vom Begriff ‚Medium‘ beziehungsweise ‚Medien‘ voneinander abzuheben. Im Folgenden halte ich mich an die begriffliche Differenzierung der Konnotationen von Roland Posner. Vor allem zwischen den drei Kategorien systemisches (Schrift, Bild etc.), technisches (Zeitung, Film, Buch etc.) und soziales (Fernsehanstalt, Verlag etc.) Medium muss bei der Analyse des Cliffhangers unterschieden werden.3 Eine Eingrenzung, welche technische Medien zu untersuchen sind, birgt der Cliffhanger in sich selbst: Eine Handlungsunterbrechung, die maßgeblicher Bestandteil der Definition des Cliffhangers ist, kann nur in erzählenden, so genannten narrativen Medien4 stattfinden. Marie-Laure Ryans (häufig zitierte) Unterscheidung in 2

Harry Pross teilte die Medien in primäre, sekundäre und tertiäre ein. Primäre Medien sind non-verbale Ausdrucksweisen. Sekundäre sind Medien, für die in der Produktion ein Gerät gebraucht wird, nicht aber in der Rezeption (bspw. Texte). Bei tertiären Medien wird sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption ein Gerät gebraucht. Pross: Medienforschung, 1972, S. 145. Der Semiotiker Roland Posner führte eine noch differenziertere Einteilung ein, indem er den Begriff ‚Medien‘ in sieben verschiedene Konnotations-Unterkategorien einteilt. Für die vorliegende Studie ist v. a. der „technologische Medienbegriff“ wesentlich, da mit ihm technische Apparaturen und deren Produkte (technische Medien) zusammengefasst werden (bspw. Printmedien und Bildschirmmedien sowie ihre Produkte Zeitung und Filme etc.). Posner: „Zur Systematik und Beschreibung verbaler und non-verbaler Kommunikation.“. In: Bosshardt (Hg.): Perspektiven auf Sprache, 1986, S. 294–295.

3

Vgl. Posner: „Zur Systematik und Beschreibung verbaler und non-verbaler Kommunika-

4

In der englischsprachigen Wissenschaft werden die narrativen Medien teilweise auch als

tion.“. In: Bosshardt (Hg.): Perspektiven auf Sprache, 1986, S. 294–295. „storytelling media“ bezeichnet. Vgl. Herman: Basic Elements of Narrative, 2011, S. XII.

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dem Sammelband Narrative across Media von zwei „Modalitäten“5 ist zur Erklärung des Begriffs ‚narrative Medien‘ hilfreich: „I propose to make a distinction between ‚being a narrative‘ and ‚possessing narrativity.‘ The property of ‚being‘ a narrative can be predicated on any semiotic object produced with the intent of evoking a narrative script in the mind of the audience. ‚Having narrativity,‘ on the other hand, means being able to evoke such a script. In addition to life itself, pictures, music, or dance can have narrativity without being narratives in a literal sense.“6

Ryans Unterscheidung zufolge fallen einzelne Bilder, Gemälde, Statuen etc. aus der Analyse heraus;7 diese Medien besitzen (höchstens) Narrativität, in ihnen findet aber keine Narration statt, dementsprechend kann die Narration auch nicht unterbrochen werden.8 Die Unterbrechung, ein wichtiger Bestandteil der Definition des Cliffhangers, kann nur bei einer Ereignisfolge eingesetzt werden.9 1.2 ‚The medium is not the message, the medium is its own context‘ Eine Kontextualisierung des technischen Mediums in Hinsicht auf seine Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen ist essentiell, weil diese Instanzen bereits in der grundsätzlichen Definition von ‚Medium‘ eine wesentliche Bedeutung haben:

5

Ryan: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): Narrative across Media, 2004, S. 9.

6

Ebd.

7

Zu einer ähnlichen Erkenntnis wie Ryan kommt Werner Wolf, wenn er dem Einzelbild in seinem wegweisenden Aufsatz das niedrigste „narrative Potenzial“ zugesteht: „Das Problem der Narrativität in Literatur, Bildender Kunst und Musik“. In: Nünning (Hg.): Erzähltheorie, 2002, S. 95–96.

8

Losgelöst von der Medien-Thematik bietet sich Ryans Unterscheidung auch als sehr weit gefasste Erklärung des Cliffhangers an, wenn sie hinzufügt: „The fullest form of narrativity occurs when the text is both intended as narrative and possesses sufficient narrativity to be constructed as such, though the story encoded in the text and the story decoded by the reader can never be extracted from the brain and laid side by side for comparison.“ Ryan: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): Narrative across Media, 2004, S. 9. Übertragen auf den Cliffhanger bedeutet dies, dass er einen hohen Grad an Narrativität besitzt, weil er sowohl narrativ ist als auch zur Narration ‚anstiftet‘: Er nutzt die Stärken beider Modalitäten.

9

„Von narrativen Medien soll im Folgenden nur dann gesprochen werden, wenn Ereignisfolgen, als wesentlicher inhaltlicher Narrativitätsfaktor, eine medienspezifische Umsetzung finden.“ Mahne: Transmediale Erzähltheorie, 2007, S. 24.

96 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „Jede Kommunikation ist auf Kommunikationsmittel angewiesen. Sie werden gewöhnlich Medien genannt und lassen sich nur im Systemzusammenhang definieren. Geht man von dem üblichen Wortgebrauch aus, so ist ein Medium ein System von Kommunikationsmitteln, das wiederholte Kommunikation eines bestimmten Typs ermöglicht [...]. [E]in Medium [ist] ein System von Mitteln für die Produktion, Distribution und Rezeption von Zeichen, das den in ihm erzeugten Zeichenprozessen bestimmte gleichbleibende Beschränkungen auferlegt.“10

Ein Medium ist ein Kommunikationsmittel. Ein Kommunikationsmittel muss produziert, distribuiert und rezipiert werden, sonst kann keine Kommunikation stattfinden. Dieser Kontext ist für serielle Narration noch wichtiger, weil sie aufgrund ihrer Teilung immer vom Produktions-, Distributions- und Rezeptionsrhythmus bestimmt wird. Die Bedeutung des Rhythmus wiederum äußert sich letztendlich in Abhängigkeit von oder Treue zu dem technischen Medium: „[T]he serial helps to generate a kind of product loyalty.“11 Der Cliffhanger muss als Erzähltechnik deshalb immer im Kontext des jeweiligen Mediums gesehen werden, weil er maßgeblich an der ‚Produktloyalität‘ beteiligt ist. Die Loyalität bezieht sich nicht nur auf die Narration, sondern mittels der Rezeption auch auf das technische und soziale Medium, also die Medien, durch die eine Rezeption der Fortsetzungsnarration erst stattfinden kann. Cliffhanger und serielle Narration unterstützen eine dreifache Treuefunktion. Ein Beispiel verdeutlicht das Ausmaß der in der Studie angestrebten Kontextualisierung: Schaue ich jeden Tag in Deutschland über Pay-TV die auf „TNT-Serie“ laufende Sendung Emergency Room, bin ich durch meine Rezeption nicht nur der Serie treu, sondern auch den sozialen Medien „TNT-Serie“ als Sender, Sky (oder Unitymedia) als Pay-TV-Anbieter sowie dem Fernsehgerät als technischem Medium. Wenn ich die Serie weiter verfolgen möchte, werde ich weder den Kanal ändern noch Sky abbestellen, noch das Fernsehgerät (oder ein ähnliches Empfangsgerät wie PC mit TVKarte etc.) in den Keller bringen. „Gleichbleibende Beschränkungen“ mögen einem technischen und auch systemischen Medium auferlegt sein.12 Erzählungen in narrativen Medien versuchen aber die Darstellungsbegrenzungen und Eigenheiten des jeweiligen Mediums zu umgehen, zu erweitern oder gar zu durchbrechen. Sicherlich hat, wie im Anfangszitat von Chatman erwähnt, jedes narrative Medium seine Möglichkeiten der Erzählweise.13„Media 10 Posner: „Zur Systematik und Beschreibung verbaler und non-verbaler Kommunikation.“. In: Bosshardt (Hg.): Perspektiven auf Sprache, 1986, S. 293–294. 11 Hagedorn: „Technology and Economic Exploitation.“ In: Wide Angle, 10(4), 1988, S. 4– 12, S. 5. 12 Posner: „Zur Systematik und Beschreibung verbaler und non-verbaler Kommunikation.“. In: Bosshardt (Hg.): Perspektiven auf Sprache, 1986, S. 293–294. 13 Walter Ong geht noch einen Schritt weiter mit seiner Erklärung, warum er in seinem Standardwerk Orality and Literacy versucht, den Begriff ‚Medium‘ für systemische Medien

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are not in fact mere ‚hollow pipes‘ [d.i. ein Bezug auf Walter Ong] that neutrally transmit stories. Rather, they function as empowering, but also restrictive factors in the production and reception of narratives.“14 Diese Faktoren der Produktion und Rezeption, die ebenfalls eine Veränderung der Nachricht verursachen, gilt es für die Rezeption von serieller Narration und Cliffhanger zu untersuchen. Der Kontext ist essentieller Bestandteil des Mediums und der „Message“.15 Die Aussagen über die Eigenheiten des Mediums und die Veränderungen der von ihm transportierten Nachricht lassen sich nicht als spezifische Schwächen und Stärken eines bestimmten Mediums auslegen. Die Darstellungsmöglichkeiten eines jeden Mediums sind eher als grundlegender Rahmen zu sehen – sie sind durch die technische Weiterentwicklung veränderbar und von der Rezeption beziehungsweise der Individualität des jeweiligen Rezipienten abhängig. „[O]ne should be aware of the fact that media is not destiny.“16 „[M]edia should not be regarded as collections of properties that rigidly constrain the form of narrative, but rather as sets of virtualities which may or may not be actualised, and are actualised differently by every instance of the medium. It follows that narrative can play a variety of games with its supporting medium: it can go with the medium and fully exploit its properties; it can ignore the idiosyncrasies of the medium and use it purely as a transmission channel; or it can actively fight some of the properties of the medium for expressive purposes.“17

Es gibt Grenzen und bestimmte Möglichkeiten der Darstellungsweise von technischen und systemischen Medien – dies sind aber keine unveränderbaren Größen; es gilt sie zu kennen, aber gleichzeitig dessen gewahr zu sein, dass Erzählungen gegen die Grenzen ihres Transportmediums ‚aufbegehren‘ können. nicht zu verwenden. Ongs Bedenken gegenüber einem bestimmten Gebrauch des Begriffs ‚Medium‘ begründet er damit, menschliche Kommunikation sei keine Einbahnstraße: „Human communication is never one-way.“ Ong: Orality and Literacy, 1988, S. 176. Ein systemisches Medium sei kein neutrales ‚Kommunikationsrohr‘, sondern verändere eine Nachricht. 14 Wolf: „Narratology and Media(lity)“. In: Olson (Hg.): Current Trends in Narratology, 2011, S. 173. 15 Sybille Krämer hält als ‚gute Aktualisierung‘ von Marshall McLuhans berühmter Aussage „The medium is the message“ (aus Understanding Media, 1964) fest: „Das Medium ist zwar nicht die Botschaft, doch die Botschaft ist die Spur des Mediums.“ Krämer: „Sprache – Stimme – Schrift“. In: Wirth (Hg.): Performanz, 2002, S. 332. 16 Wolf: „Narratology and Media(lity)“. In: Olson (Hg.): Current Trends in Narratology, 2011, S. 174. 17 Ryan: „Media and Narrative“. In: Herman u. a. (Hg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, 2008, S. 290.

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1.3 Inter- und Transmedialität In narratologischen Aufsätzen zur Inter- und Transmedialität wird betont, dass Erzählen Mediengrenzen überschreitet.18 Der Narratologe Werner Wolf hält fest: „Erzählen ist intermedial.“19 Im selben Atemzug wird aber meist betont, dass die Wissenschaft noch keine Methode hat, dem Erzählen bei diesen Grenzüberschreitungen zu folgen: Bisherige Erzähltheorien und ihre Begrifflichkeiten sind vorwiegend nur innerhalb ihrer disziplinären Grenzen gültig.20 Die Aufsätze über den Cliffhanger wiederum proklamieren, dass er eine Technik ist, die in vielen Erzählmedien vorkommt; diese Aussage wird zum Teil von der Gesamtheit der Aufsätze bestätigt, da drei der vier den Cliffhanger in einem bestimmten, aber anderen Medium untersuchen als die übrigen. Wie aber kann man sich dieser medienübergreifend gebrauchten Erzähltechnik als solcher nähern, ohne sich in den monodisziplinären Termini und Methoden zu verstricken, die einen zusammenhängenden und begrifflich klaren Vergleich der verschiedenen Cliffhanger verhindern oder zumindest sehr stark erschweren? Für eine Betrachtung über Mediengrenzen hinweg muss auch eine Analysemethode gewählt werden, die mediengrenzen-übergreifend eingesetzt werden kann. Irina Rajewsky unterscheidet in ihrem Standardwerk über Intermedialität zwischen Intra-, Inter- und Transmedialität. Intramedial sind die Phänomene, die innerhalb von Mediengrenzen stattfinden; bei der Intermedialität befinden sich die zu analysierenden Phänomene zwischen den Medien und bei der Transmedialität gehen sie über (viele) Mediengrenzen hinweg: „Gemeint sind Phänomene, die man als medienunspezifische ‚Wanderphänomene‘ bezeichnen könnte, wie z.B. das Auftreten desselben Stoffes oder die Umsetzung einer bestimmten Ästhe-

18 „One of the most important observations to come out of narratology is that narrative itself is a deep structure quite independent of its medium.“ Chatman: „What Novels Can Do That Films Canʼt (and Vice Versa)“. In: Mitchell (Hg.): On Narrative, 1981, S. 117. 19 Wolf: „Das Problem der Narrativität in Literatur, Bildender Kunst und Musik“. In: Nünning (Hg.): Erzähltheorie, 2002, S. 23. Siehe zum Beispiel: „Als Zwischenfazit lässt sich somit festhalten, dass das Narrative nicht auf bestimmte (z.B. literarische) Textgenres beschränkt ist, sondern in einer Vielzahl von Gattungen, Texttypen und Medien in Erscheinung tritt. […] Angesichts dieser Allgegenwart von stories in der heutigen Medienkulturgesellschaft spricht vieles für die These, daß das Erzählen von […] Geschichten in der Tat ein anthropologisches Grundbedürfnis des Menschen zu sein scheint.“ Nünning u. a.: „Produktive Grenzüberschreitungen“. In: Dies. (Hg.): Erzähltheorie, 2002, S. 9. 20 Siehe: Wolf: „Narratology and Media(lity)“. In: Olson (Hg.): Current Trends in Narratology, 2011, S. 147. Außerdem: Nünning u. a.: „Produktive Grenzüberschreitungen“. In: Dies. (Hg.): Erzähltheorie, 2002, S. 1–22.

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tik bzw. eines bestimmten Diskurstyps in verschiedenen Medien, ohne daß hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist oder für die Bedeutungskonstitution des jeweiligen Medienprodukts relevant würde. […] Für diese dritte Kategorie erscheint der Terminus des ‚Transmedialen‘ angemessen, umfaßt sie doch gerade medienunspezifische Phänomene – Phänomene also, die sich jenseits von Mediengrenzen bzw. ‚über Mediengrenzen hinweg‘ manifestieren.“21

Zusammenfassend bezeichnet Rajewsky Transmedialität22 als Begriff für „[m]edienunspezifische Phänomene, die in verschiedensten Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne daß hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist.“23 Rajewskys Aussagen lassen sich wortwörtlich auf den Cliffhanger übertragen: Es ist anzunehmen, dass er eine Erzähltechnik (also auch ein „Phänomen“) ist, die in den verschiedensten Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln angewandt wird; auch beim Cliffhanger ist kein „Ursprungsmedium“ erkennbar.24 Eine Analyse des Cliffhangers als transmediale Erzähltechnik bedeutet somit: Die Ausformung des Cliffhangers wird im Hinblick auf die dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln analysiert. Gleichzeitig geht es – so die Hypothese – um ein Erkennen des Cliffhangers als medienunspezifisches Phänomen, dessen Ausformungen miteinander verglichen werden können und das womöglich nur durch verschiedene Erzählmedien hindurch geht – in diesem Sinne also transmedial ist –, ohne seine grundlegenden Charakteristiken zu verlieren. Dabei gilt es zu überprüfen, wie weit die ‚Medienunspezifik‘ des Cliffhangers geht. Wolfs Aussage, Erzählen sei intermedial, kann korrigiert werden zu: Erzählen ist transmedial. Tatsächlich wird von Tobias Kurwinkel in Bezug auf Rajewskys Definition von Transmedialität Wolfs Aussage reformuliert:

21 Rajewsky: Intermedialität, 2002, S. 13–14. 22 Dabei ist es wichtig, zunächst eine Unterscheidung zwischen transmedialer Erzähltheorie und transmedialer Erzählweise anzumerken. „Transmedia Storytelling“ beschreibt eine lose zusammenhängende Geschichte, deren Teile in unterschiedlichen narrativen Medien erzählt werden. „A transmedia story unfolds across multiple media platforms, with each new text making a distinctive and valuable contribution to the whole. In the ideal form of transmedia storytelling, each medium does what it does best – so that a story might be introduced in a film, expanded through television, novels, and comics; its world might be explored through game play or experienced as an amusement park attraction.“ Jenkins: Convergence Culture, 2008, S. 97–98. 23 Rajewsky: Intermedialität, 2002, S. 14. 24 Dass der Cliffhanger kein „Ursprungsmedium“ erkennen lässt, wird zum Beispiel in den Kapiteln II. 1.1 „Wortherkunft“ und 1.2 „Bisherige Forschung“ ersichtlich (S. 31).

100 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „Zu diesen ‚medienunspezifischen Phänomenen‘ gehört als wichtigste Kategorie die Erzählung. Hierbei handelt es sich um eine Abfolge von Zeichen (Text), die eine Abfolge von Ereignissen (Geschichte) repräsentiert. Beide Ebenen der Erzählung, Zeichenfolge (Text, frz. discours, engl. discourse) und Ereignisfolge (Geschichte, frz. histoire, engl. story), sind eng aufeinander bezogen und in die Dimension der Zeit, der fundamentalen Form unseres Erlebens, eingebunden. […] Medien nehmen Einfluss auf die Zeichenfolge, den discours und damit auch auf die Ereignisfolge, die histoire: Sie übernehmen nicht die Funktion neutraler Transportbehältnisse für austauschbare Inhalte […]. Medien übertragen Zeichensysteme innerhalb eines Kommunikationsprozesses, d. h. sie fungieren als Träger von Bedeutungs- und Sinnzusammenhängen. Sie dienen als Transportmittel für Botschaften, die mittels symbolischer oder ikonischer Zeichen zwischen Kommunikationspartnern ausgetauscht werden.“25

Kurwinkel fasst dabei wichtige Grundlagen für eine transmediale Analyse und die Eigenheiten von narrativen Medien zusammen und weist einen Weg zu einer transmedialen Analysemethode des Cliffhangers auf: Da Erzählen ein transmediales Phänomen ist, muss sich dem Erzählen als Kommunikationsakt angenähert werden. Auch wenn es noch keine etablierte transmediale Erzähltheorie gibt, sind Grundlagen und Schritte in diese Richtung erkennbar:26 Fest steht, dass die transmediale Erzähltheorie die Erzählung als medienübergreifendes Phänomen betrachtet; es gilt zwischen einer Vergleichbarkeit der Erzählungen miteinander und der Erkennung medienspezifischer Kontexte, Möglichkeiten und Unterschiede zu differenzieren. „Transmedialität fokussiert auf die gleichzeitige Anwesenheit der beteiligten Medien und steht somit im Grunde der intermedialen Kopplung nahe. Während dort der Akzent jedoch auf dem Ergebnis als vollzogener Verbindung beider Partner liegt, betont der Begriff der Transmedialität den Transfer.“27

25 Tobias Kurwinkel zum Lemma „Transmedialität“ auf der Webseite des Forschungsprojekts „Intertextualität – Intermedialität – Transmedialität“, das er zusammen mit Volker Dörr im Wintersemester 2011/2012 an der HHU gegründet hat. http://intermedialitaet.phil. hhu.de/?page_id=433#footer [vom 27.04.2013]. 26 Eine transmediale Erzähltheorie oder zumindest eine nicht so stark medial beschränkte Erzähltheorie ist noch immer ein Desiderat. Erste Schritte dahin haben vor allem Werner Wolf und Marie-Laure Ryan unternommen, wobei Werner Wolf eher in Richtung nichtnarrativer Medien geforscht hat (z.B. Musik, Gemälde, Statuen). Nicole Mahnes Werk Transmediale Erzähltheorie (2007) wirkt zunächst wie die im Titel versprochene transmediale Erzähltheorie, bietet aber dann vor allem aufs Wesentliche reduzierte Einführungen in die Erzählanalyse einzelner narrativer Medien. 27 Meyer u. a.: „Vorwort“. In: Dies. (Hg.): Transmedialität, 2006, S. 10.

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Abgesehen von dem Transmedialität innewohnenden Transfer verdeutlicht das letztere Zitat, dass eine Grenzziehung zur Intermedialität häufig künstlich ist: Ein Transfer kommt selten zustande, ohne dass auch ein gegenseitiger Bezug, eine Interaktion oder Interrelation stattfinden.28 Zumal in der vorliegenden Studie sowohl intermediale als auch transmediale Geschichtspunkte von Bedeutung sind: Was passiert mit dem Cliffhanger zwischen Mediengrenzen (Intermedialität) und was zeichnet den Cliffhanger über Mediengrenzen hinweg aus (Transmedialität)? In der intermedialen Analyse treten besonders die Eigenheiten der Medien, also auch die Besonderheiten im Gebrauch des Cliffhanger zutage; bei den intermedialen Gesichtspunkten geht es mehr um das „Dazwischen“ der Medien.29 Die intermedialen Geschichtspunkte dieser Arbeit unterscheiden sich jedoch stark von den meisten intermedialen Untersuchungen, bei denen das Hauptaugenmerk auf der Adaption von Erzählstoffen in unterschiedlichen technischen Medien liegt.30 Literaturverfilmungen als eines der prominentesten intermedialen Themengebiete beschäftigt sich damit, wie ein und derselbe ursprünglich literarische oder dramatische Stoff in das technische Medium Film übersetzt wurde: Es geht also zunächst um das ‚Was‘, nämlich um denselben Stoff, und dann darum, ‚wie dieser medial übersetzt wurde‘.31 Bei den intermedialen Gesichtspunkten der vorliegenden Studie hingegen geht es allein um eine Erzähltechnik, also vornehmlich um das ‚Wie‘ des Erzählens. Diese Fokussierung bietet andere Möglichkeiten, weil durch die eingegrenzte Mikroperspektive über den Cliffhanger hinausweisende Aussagen für die Makrostruktur von serieller Narration möglich sind – die inter- und transmediale Betrachtung des Cliffhangers könnte auch Thesen über Narration und die Beziehung von Erzählmedien zueinander zulassen. Da Narration ein medienunspezifisches Phänomen ist, gilt es, sich der minimalen Definition des Erzählens anzunähern, um damit

28 Rajewsky schreibt über Intermedialität, dass es sich um einen termine ombrello(ne) (Schirmbegriff) handelt „für die Gesamtheit aller Mediengrenzen überschreitenden Phänomene.“ Rajewsky: Intermedialität, 2002, S. 12. Diese Beschreibung ist eine Gemeinsamkeit mit der Transmedialität, nur dass die Transmedialität diese Überschreitung von Mediengrenzen auf einer größeren Skala schildert, also nicht nur zwischen zwei Medien sondern über viele Mediengrenzen hinweg. 29 „Die Wirksamkeit und der Reiz des Intermedialen beruhen sicher zu keinem geringen Teil auf den Spannungen und Überlagerungen zwischen den verschiedenen Medientypen, den Konstellationen des ‚Dazwischen‘“. Simonis: Intermediales Spiel im Film, 2010, S. 9. 30 Den intermedialen und intertextuellen Übersetzungen von Stoffen und Motiven wird bspw. in den Standardwerken von Elisabeth Frenzel (Stoffe der Weltliteratur und Motive der Weltliteratur) systematisch nachgegangen. 31 Siehe zur Literaturverfilmung v.a.: Albersmeier u. a. (Hg.): Literaturverfilmungen, 1989; Bohnenkamp u. a. (Hg.): Literaturverfilmungen, 2005.

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eine Erzählmethode zu erarbeiten, mit welcher der Cliffhanger medienübergreifend analysiert werden kann. 1.4 Ein Versuch einer transmedialen Erzählmethode „Sʼils appellent nécessairement la question de la réception, le genre et la sérialité nous engagent surtout sur le terrain de la rhétorique dans la mesure où ils constituent le point d’ancrage entre lʼauteur et le public, le lieu commun grâce auquel se construisent les ‚évidences aristotéliciennes‘.“ AUBRY: DU ROMAN-FEUILLETON A LA SERIE TELEVISUELLE, 2006, S. 2.

Was ist Erzählen? Werner Wolf beschreibt es wie folgt: „In aller Regel ist Erzählen immer auch Mitteilung, Kommunikation“.32 Barbara Herrnstein Smith spezifiziert diese Definition. „[W]e might conceive of narrative discourse most minimally and most generally as verbal acts consisting of someone telling someone else that something happened.“33 Wolf definiert Erzählen als Kommunikation, Kurwinkel spricht ebenfalls von einem Kommunikationsprozess und Herrnstein Smith konkretisiert diese Aussage, indem sie vom Erzählvorgang als verbalem Kommunikationsakt spricht.34 Übertragen auf die bisherigen Darlegung der Eigenheiten von Medien be-

32 Wolf: „Das Problem der Narrativität in Literatur, Bildender Kunst und Musik“. In: Nünning (Hg.): Erzähltheorie, 2002, S. 33. 33 Herrnstein Smith: „Narrative Versions, Narrative Theories“. In: Mitchell (Hg.): On Narrative, 1981, S. 228. Herrnstein Smith spricht von einem verbalen Akt – ein wortwörtlicher ‚verbaler Akt‘ würde aber den Film und andere technische Medien ausgrenzen, weil sie nicht nur oder gar nicht mit dem ‚verbum‘, also dem Wort erzählen. Vermutlich meint Herrnstein Smith ‚verbum‘ in der Bedeutung von ‚Äußerung‘ – der verbale Akt wäre dann ein Äußerungsakt. Damit kein Medium durch einen zu engen Begriff ausgeschlossen wird, spreche ich im Folgenden von ‚Kommunikationsakt‘. 34 Vergleichbar auch: „[N]arrative is not just story but also action, the telling of a story by someone to someone on some occasion for some purpose.“ Phelan: Narrative as Rhetoric, 1996, S. 8. Eine weitere Definition von Narration ist hilfreich, weil sie ebenfalls klar macht, welche Texttypen nicht in dieser Arbeit besprochen werden bzw. in welchen der Cliffhanger eher nicht vorkommt: „It is customary to distinguish Narrative from three other texttypes: Argument, Description, and Exposition.“ Chatman: Coming to Terms, 1990, S. 6. Dagegen könnte man argumentieren, dass aber gerade solche Texttypen häufig von Narra-

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deutet das: Jedes narrative Medium kommuniziert mittels der eigenen Zeichensysteme oder des eigenen Zeichensystems eine Erzählung an einen Rezipienten. Der Film beispielsweise ist ein narratives Medium, das mithilfe eines Zusammenwirkens verschiedener Zeichensysteme (Schrift, Sprache, Bilder etc.) Erzählungen an einen Empfänger kommuniziert. Da Erzählen als Kommunikationsakt definiert ist, kann man weitergehend die jeweiligen Zeichensysteme (oder auch Kommunikationskanäle),35 in denen der Kommunikationsakt geschieht, als die spezifische Sprache eines Mediums zusammenfassen. Bei einer derartigen Übertragung wird die Wortsprache als Modell gesehen. Die Sprache eines narrativen Mediums prägt seine Gestalt. Die Übertragung, auch die Ausdrucksformen anderer als der textbasierten Medien als ‚Sprache‘ zu bezeichnen wurde bereits in der Filmwissenschaft praktiziert – die Grundlage ist immer ein sehr weiter und allgemeiner Begriff von Sprache.36 tionen und Rhetorik Gebrauch machen, um ihre Argumentation, ihre Überzeugung zu unterstützen. Als Eingrenzung des Themas sind die Begriffe trotz schwieriger Grenzziehung hilfreich: In dieser Studie findet nur eine vereinfachte Darlegung der Verbindungen von Erzählen, Sprechen und Kommunikation statt. Man könnte noch auf die Sprech-Akt-Theorie eingehen, Semantik und Semiologie zu Rate ziehen und einen erweiterten Textbegriff (z.B. in der Filmsemiologie und Filmsemantik) betrachten, über Kodes und Zeichen nachdenken – diese umfassende Arbeit kann hier aber nicht geleistet werden, da sie sich zu weit vom Cliffhanger entfernt. Für eine Analyse des Cliffhangers ist es essentiell, die grundlegende Definition des Erzählens zu suchen, um anhand dieser Definition zu überlegen, mit welcher Methode man die in der Definition genannten Bestandteile analysieren kann. Es geht vornehmlich um das Erzählen als Teil eines weiten Kommunikationsbegriffs und nicht primär um Kommunikation und Zeichensysteme. 35 „But not all storytelling media are created equal. Some afford multiple communicative channels that can be exploited by given narrative to evoke a storyworld, whereas others afford only a single channel when it comes to designing blueprints for storyworlds.“ Herman: Basic Elements of Narrative, 2011, S. XII. 36 Nicht nur in der Filmwissenschaft, sondern auch in den Medienwissenschaften wurde die sehr weite Definition von Sprache für eine Beschreibung von Medien benutzt: „Languages as human artifacts, collective products of human skill and need, can easily be regarded as ‚mass media,‘ but many find it difficult to consider the newer media deriving from these languages as new ‚languages‘.“ McLuhan: „Myth and Mass Media“. In: Daedalus, 88 (2), 1959, S. 339. Außerdem: „All languages are mass media. The new mass media – film, radio, TV – are new languages, their grammars as yet unknown.“ Carpenter: „The New Languages“. In: Gumpert (Hg.): Inter/media, 1986, S. 353. Carpenter und McLuhan gehen aber in ihrem sehr weiten und unscharfen Medienbegriff und was Inhalt von Medien ist (vgl. Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, 2010, S. 23–24) über meine Übertragung hinaus, indem sie Massenmedien und nicht die Zeichensysteme von Medien als Sprachen bezeichnen.

104 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „Sehen wir die Wortsprache als das einzige linguistische Phänomen, dann ist jede Diskussion über den Sprachgebrauch des Films sinnlos. Erkennen wir neben der Wortsprache noch andere ‚Sprachen‘ an und gehen wir von einem sehr allgemeinen Begriff ‚Sprache‘ aus, dann kann man wohl auch einen ‚Sprache‘ des Films denken.“37

Wie bei jeder Übersetzung in eine andere Sprache (eines Mediums) gehen bei diesem Vorgang Feinheiten und Mehrdeutigkeiten verloren. Friedrich Schleiermacher betonte bereits in seiner Abhandlung „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens“ (1813), wie sehr Sprache und Denken zusammenhängen, aber Sprache auch immer schon eine Übersetzung der Gedanken ist, bei der bereits verfremdet wird und manches verloren geht.38 Schleiermacher stellt über die Schwierigkeit von Übersetzungen fest, was auch im Blick auf die Sprachen von narrativen Medien richtig bleibt: „Nun aber verhält es sich mit allen Sprachen, die nicht so nahe verwandt sind, daß sie fast nur als verschiedene Mundarten können angesehen werden, gerade umgekehrt, und je weiter sie der Abstammung und der Zeit nach von einander entfernt sind, um desto mehr so, daß keinem einzigen Wort in einer Sprache eins in einer andern genau entspricht, keine Beugungsweise der einen genau dieselbe Mannigfaltigkeit von Verhältnißfällen zusammenfaßt, wie irgend eine in einer andern.“39

Wenn Erzählen ein Kommunikationsakt in der Sprache eines Mediums ist, kann dieser Kommunikationsakt auch dementsprechend nach den Kriterien für sprachliche Aussagen und Kommunikation analysiert werden: Wie wird etwas geäußert und kommuniziert? Die Rhetorik stellt dafür das älteste Analysehandwerk und „System“ 37 Peters: „Die Struktur der Filmsprache“. In: Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, 1990, S. 371. „Zusammenfassend können wir feststellen, daß die Sprachmöglichkeiten des Films enthalten sind sowohl in der Form der einzelnen Bilder wie in der Form der Bildkombination. Zu ‚Form‘ rechnen wir nachdrücklich die ‚objektive‘ Komposition und Gruppierung von Bildern und die ‚subjektive‘ Kameraposition und immer wechselnde Beziehung des Zuschauers zum Bildinhalt. Diese doppelte Einteilung ergibt die Koordinaten für das semantische System der Filmsprache.“ Ebd., S. 384. Siehe zu klassischen Filmtheorietexten über die „Filmsprache“ auch: Metz: Langage et cinéma, 1977; Bazin: „LʼÉvolution du Langage Cinématographique“. In: Quʼest-ce que le cinéma?, 1993, S. 63–80. Als gutes, wenn inzwischen leicht veraltetes Übersichtswerk, bietet sich an: Möller-Nass: Filmsprache, 1986. 38 Schleiermacher: „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“. In: Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens, 1963, S. 36. 39 Ebd., S. 42. Eine Analogie zur Übersetzungstheorie wird meistens in intermedialen Analysen von Literaturverfilmungen vorgenommen. Siehe: Bohnenkamp: „Analogie zur Übersetzungsforschung“. In: Dies. u. a. (Hg.): Literaturverfilmungen, 2005, S. 22–27.

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dar.40 Wie auch beim Erzählen bietet bereits die grundlegende Definition der Rhetorik eine derartige Anschlussfähigkeit an: „Rhetorik, f [gr. rhésis = das Reden, Sprechen], Theorie und Praxis erfolgsorientierten kommunikativen Handelns.“41 Narrative Medien kommunizieren in ihrer jeweils eigenen Sprache in einem Kommunikationsakt eine Erzählung; dementsprechend können die Erzählungen, gleich welcher narrativer Medien, da sie kommunikative Akte sind, mit der Analysemethode für kommunikatives Handeln und Sprachaussagen, der Rhetorik, analysiert werden. Die narrativen Medien haben zwar alle ihre eigene Sprache, die Rhetorik als Analysemethode aber gilt für jede Sprache, weil es ihr primär um die universelle sprachliche Aussage und nicht um die spezifische Sprache geht. Wie passend die Rhetorik als transmediales Analysewerkzeug ist, zeigt bereits eine längere Definition und Umschreibung der Rhetorik in Heinrich Pletts Standardwerk Einführung in die rhetorische Textanalyse: „Diese Theorie [d.i. die Rhetorik] ist nicht um ihrer selbst willen da, sondern sie orientiert sich an der Praxis der Kommunikation. Sie formuliert eine Technik oder Methode der Textproduktion, die Sprache unter der Perspektive einer spezifischen Wirksamkeit betrachtet. Als solche wendet sie sich zunächst an den Redner, dann aber auch den Schreiber und Schriftsteller, schließlich an jeden Hersteller von wirkungsorientierten Zeichenkonfigurationen. So erlangt sie nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine allgemeine mediale Relevanz.“42

Die hier genannten Untersuchungsobjekte der Rhetorik – Kommunikation (die ebenso Bestandteil der minimalen Definition des Erzählens ist), Wirksamkeit und mediale Übertragbarkeit – weisen die Rhetorik als transmedial nützliches Analysewerkzeug aus. Dafür muss, wie es auch bei Plett geschieht, die Rhetorik als Produktions- in eine Analysemethode jeglicher Text-Art43 übersetzt werden. Mit der Übersetzung von einer Produktions- in eine Analysemethode ist zugleich eine Verbindung zwischen zwei Gesichtspunkten dieser Arbeit hergestellt: dem Cliffhanger einerseits als textimmanenter Erzähltechnik und andererseits im Kontext von Produktion und Rezeption. Die Cliffhanger und ihre sprachlichen Aussagen werden sowohl von der Produktionsseite bewusst gesetzt als auch vom Rezipienten entsprechend bewusst als solche wahrgenommen. Zwei Theorielinien einer weit gefassten Rhetorik sind für die folgende Analyse maßgeblich: zum einen die von Wayne C. Booth. Er konzentrierte sich vor allem in 40 „Rhetorik lehrte nicht nur, Texte zu machen; dank ihres ausgebauten ‚Systems‘, vor allem im Bereich der Stilistik, ermöglichte sie es auch, Dichtung zu interpretieren.“ Walter Jens, zitiert nach: Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, 2001, S. V. 41 Burdorf u. a.: Metzler-Lexikon Literatur, 2007, S. 651. 42 Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, 2001, S. 1. 43 Zum Textbegriff siehe S. 53, Fußnote 81.

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seinem Werk The Rhetoric of Fiction von 1961 auf die Rhetorik als Technik und Kommunikationsweise fiktionaler Literatur.44 Er nutzte die Rhetorik als Analysemethode der als Kommunikation mit dem Rezipienten in einem Text immanenten Erzähltechniken:45 „In treating technique as rhetoric, I may seem to have reduced the free and inexplicable processes of the creative imagination to the crafty calculations of commercial entertainers. The whole question of the difference between artists who consciously calculate and artists who simply express themselves with no thought of affecting a reader is an important one, but it must be kept separate from the question of whether an authorʼs work, regardless of its source, communicates itself. The success of an authorʼs rhetoric does not depend on whether he thought about his readers as he wrote; if ‚mere calculation‘ cannot insure success, it is equally true that even the most unconscious and Dionysian of writers succeeds only if he makes us join in the dance.“46

Eine wichtige generelle Funktion der Rhetorik kann aus Booths Sätzen abgelesen werden: Rhetorik war in der ursprünglichen Bedeutung der Antike die Kunst, mit Sprache zu überzeugen. „Die Rhetorik gilt ursprünglich als Kunst des Überredens und Überzeugens. Dieses Faktum macht sie zu einer wirkungsbezogenen Disziplin. […] Nach der traditionellen Schulrhetorik ist das Effektziel der rhetorischen Kunst das persuadere, ein Terminus, den die deutsche Sprache 44 „In writing about the rhetoric of fiction, I am not primarily interested in didactic fiction, fiction used for propaganda or instruction. My subject is the technique of non-didactic fiction, viewed as the art of communicating with readers“. Booth: The Rhetoric of Fiction, 2010, S. I. 45 Booths Theorie wurde inzwischen von einigen Wissenschaftlern stark kritisiert. Jedoch scheint sich ein Großteil der Kritik vor allem auf seinen Begriff des ‚unreliable narratorsʽ zu konzentrieren: Roberts (Hg.): Classical Closure, 1997. Dennoch steht auch Booths Herangehensweise an die Rhetorik bereits bei Chatman in der Kritik oder zumindest auf einem Prüfstand (siehe vor allem das Kapitel „The ‚Rhetoric‘ ‚of‘ ‚Fiction‘“ in: Chatman: Coming to Terms, 1990, S. 184–204). Auch der zur Rhetorik forschende James Phelan greift Booths Begriff von Rhetorik an (siehe: „Why Wayne Booth Canʼt Get with the Program; or, The Nintentional Fallacy“. In: Phelan: Narrative as Rhetoric, 1996, S. 191–198). Phelans Arbeitsweise mit einem sehr weiten und unscharfen Rhetorikbegriff scheint mir jedoch schwieriger als diejenige Booths. Auch mit Phelans verwirrender Definition von „serial narration“ ist schwer zu arbeiten: „I call serial narration, the implied author’s use of more than one character narrator to tell the tale.“ Phelan: Living to Tell About it, 2005, S. 197. Im Folgenden ist v.a. die zitierte Grundeinstellung Booths zur Rhetorik von Bedeutung. 46 Booth: The Rhetoric of Fiction, 2010, S. II.

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auf zweifache Weise wiedergibt: als ‚überzeugen‘ und ‚überreden‘. Die erste Übersetzungsalternative bezeichnet ein rationales, die zweite ein emotionales Moment der Umstimmung.“47

Übertragen auf die Narration bedeutet dies, dass jede Erzählung den Rezipienten überzeugen will – sei es durch Qualität oder Spannung, sei es dadurch, wie überzeugend die in der Diegese geschaffene Welt dem Rezipienten erscheint. Übersetzt auf eine transmediale Analyse des Cliffhangers muss die Forschungsfrage also lauten: Wie ist das Ende einer Folge gestaltet, um mit dem Rezipienten zu kommunizieren beziehungsweise ihn von der Spannung des Moments zu überzeugen? Wie wird die Aussicht auf eine ebenso fesselnde Fortsetzung und Auflösung gestaltet? Oder um Booths Begriffswahl zu übernehmen: Wie ermuntert das Ende einer Folge den Rezipienten zum erneuten Tanz mit dem Text? Die zweite Theorielinie erweitert den Arbeitsbereich der Rhetorik: Die Übertragung der Rhetorik auf nicht der gesprochenen Sprache oder der Schriftsprache angehörende Erzählungen wurde vor allem bereits in der Filmwissenschaft vollzogen,48 in Deutschland am ausführlichsten von Klaus Kanzog. Er fasst in seinen Sätzen zur Nutzbarmachung der Rhetorik für die Filmwissenschaft gleichzeitig die Grundlagen für eine transmediale Nutzbarkeit der Rhetorik zusammen: „Der in Bildern sich vollziehende kommunikative Akt wird als visueller ‹Sprechakt› und das Bild damit als Rede verstanden; in den darauf aufbauenden Diskursen erfolgt eine visuelle Bezugnahme (=referentieller Akt) auf das in der Außenrealität Vorgefundene.“49 David Blakesley fasst Filmrhetorik zusammen als: „Film rhetoric – the visual and verbal 47 Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, 2001, S. 2. 48 Siehe als zwei der ersten wichtigen englischsprachigen Werke zur Verbindung von Rhetorik und Film: Chatman: Coming to Terms, 1990, S. 14; Bordwell: Making Meaning, 1989. Eine Übersicht der grundlegenden Werke bietet: Blakesley: „Introduction: The Rhetoric of Film and Film Studies“. In: Ders. (Hg.): The Terministic Screen, 2007, S. 1–16. Besonders Bordwell rahmt die Rhetorik gleichzeitig in seine neo-formalistische Filmtheorie der cues und des aktiven Rezipienten und stellt damit eine Verbindung einzelner Elemente der vorliegenden Arbeit bereit. Siehe auch die Kapitel „The Viewerʼs Acitivity“ (S. 29–47) und „Narration as Rhetoric“ (S. 235–240) in: Bordwell: Narration in the Fiction Film, 1985. 49 Kanzog u. a.: Einführung in die Filmphilologie, 1997, S. 68. Gegen eine derartige Übertragung wurde angeführt, der Filme erzähle nicht, sondern zeige, und es gebe keinen Rhetor. (Siehe zum fehlenden Rhetor: Kanzog: Grundkurs Filmrhetorik, 2001, S. 7. Zur zeigenden Kamera: Ebd., S. 15.) Beide Einwände haben ihre Berechtigung, doch macht der Film gerade sichtbar, dass man auch zeigend erzählen kann, bzw. dass nur die Kamera zeigt, dass aber der Film als Ganzes erzählt oder eine Erzählung zeigt. Tatsächlich hat der Film keinen alleinigen Rhetor, man könnte höchstens vom Film selbst als Rhetor sprechen. Bei der Übertragung der Rhetorik auf eine transmediale Nutzbarkeit liegt das Hauptaugenmerk nicht auf dem Produzenten, sondern auf dem medialen Text als Rhetor.

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signs and strategies that shape film experience“.50 So wie eine Rhetorik des Films die verschiedenen Zeichensysteme des Films als eine zusammenhängende Sprache analysiert, wird in der folgenden Studie diese Methode auf alle narrativen Medien und ihre Aussagen erweitert.51 Christian Metz, der Begründer der Film-Semiotik, bezeichnete die Ausdrucksform des Films ebenfalls als Sprache und den Film als filmischen Text. Auch einer Filmrhetorik war er zugewandt, sprach jedoch davon, dass eine Rhetorik des Films gleichzeitig eine Grammatik des Films sei: „Denn diese Rhetorik ist von einem anderen Blickwinkel aus zugleich eine Grammatik. […] Warum bilden nun die kodifizierten und signifikanten Anordnungen eine Grammatik? Weil diese Anordnungen nicht nur die filmische Konnotation organisieren, sondern und vor allem, weil sie die Denotation organisieren.“52 Diese spezifizierte Verwendung von Rhetorik als Grammatik wird auch in der vorliegenden Studie gebraucht. Als ergänzendes Analysewerkzeug dient die Sprechakttheorie; sie beschreibt sowohl die linguistische Bedeutung als auch die „Handlungsdimension von Äußerungen“.53 Für einen Gebrauch der Sprechakttheorie als transmediales narratologisches Analysewerkzeug54 wird die bereits geschilderte Aussage als Grundlage genommen, dass

50 Blakesley: „Introduction: The Rhetoric of Film and Film Studies“. In: Ders. (Hg.): The Terministic Screen, 2007, S. 3. 51 Eine derartige Vorgehensweise wird ansatzweise vom rhetorical turn vertreten. „The task for rhetoric goes beyond interpretive understanding, or hermeneutics. In guiding the creation of discourses, and not just the interpretation of existing texts, the work of rhetoric is to invent language strategies that bring about change. […] As a way of talking, picturing, making signifying relations, and inducing inferences, a rhetoric constitutes a model for organizing and inventing discourses.“ Lyne: „Bio-Rhetorics“. In: Simons (Hg.): The Rhetorical Turn, 1990, S. 37–38. Allerdings wird im rhetorical turn die Rhetorik noch weiter gefasst als meine ausschließlich auf die Narratologie bezogene Übertragung. Außerdem ist der rhetorical turn unter den zahlreichen kulturwissenschaftlichen turns eher ein kleiner, wenig verfolgter (eher eine Unterkategorie des linguistic turn). 52 Metz: „Probleme der Denotation im Spielfilm“. In: Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, 1990, S. 331. 53 Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 2008, S. 670–673. 54 Einen schon im Titel genannten „Entwurf zu einer performativitätstheoretischen Narratologie“ bietet Alexandra Strohmaier: „Es geht nicht um regelgeleitete Transmission bzw. Kalkulation auktorialer Intention durch autonome Sender- und Empfängerinstanzen, diese werden im Vollzug des Sprechereignisses vielmehr erst hervorgebracht. Sprache fungiert nicht als Vehikel intentional verbürgten Sinns, sondern bringt diesen im Akt des Sprechens hervor. Die Orientierung am ‚ursprünglichen Performativ‘ eröffnet eine Perspektive auf Narration, in der diese als ein sich vor den Augen der Rezipienten vollziehendes, konkretes

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Erzählen ein Kommunikationsakt ist.55 Vor allem die von John Langshaw Austin eingeführte und von John Searle wesentlich ausgearbeitete Typologie der Sprechakte ist in der folgenden Studie hilfreich,56 weil anhand dieser Typologie die letzten Kommunikationsakte in einem Mikrotext vor der Unterbrechung beschrieben werden können und aufgrund dieser Beschreibung vermutlich eine Typologie der verschiedenen Cliffhanger möglich ist: 1. Repräsentative (oder assertive) Sprechakte beziehungsweise Verben: Der Sprecher legt sich auf die Wahrheit der ausgedrückten Proposition fest. Der Sprechakt drückt einen psychischen Zustand des Glaubens aus. 2. Direktive Sprechakte: Der Sprecher versucht, den Hörer zu einer bestimmten Handlung zu bringen. Der Sprechakt drückt den psychischen Zustand des Wollen und Wünschens aus. 3. Kommissive Sprechakte: Der Sprecher verpflichtet sich zu einer bestimmten Folgehandlung. Der Sprechakt drückt einen psychischen Zustand der Absicht aus. 4. Expressive Sprechakte: Der Sprecher drückt einen variablen psychischen Zustand aus, der auf die jeweils erfasste Situation gerichtet ist. 5. Deklarative Sprechakte: In Verbindung mit gesellschaftlichen Institutionen werden unmittelbar (durch den Vollzug der Deklaration) soziale Verhältnisse geändert.57

‚Oberflächengeschehen‘ in Erscheinung tritt.“ Strohmaier: „Entwurf zu einer performativitätstheoretischen Narratologie am Beispiel der Rahmenzyklen Gothes“. In: Dies. (Hg.): Kultur, Wissen, Narration, 2013, S. 214. Strohmaier nimmt ausdrücklich die auktoriale Intention aus der Sprechakttheorie heraus und kann sie dadurch für die Narratologie fruchtbar machen: „Es geht um das Sprechen und Erzählen als Tun, das – wie beim ‚ursprünglichen Performativ‘ – selbstreferentiell aus- und aufgeführt wird und dessen Wirkung sich im Vollzug, gleichsam vor den Augen der Leser, entfaltet.“ Ebd., S. 215. Strohmaier beschränkt sich in ihren Ausführungen allein auf Sprechakte in der Literatur. Für einen medienunabhängigen Gebrauch der Sprechakttheorie müssen auch die Aussagen von LaureRyan und Barbara Herrnstein Smith herangezogen werden (auch wenn Strohmaier ebenfalls erwähnt, dass Kommunikation „tendenziell medienunabhängig“ ist. Ebd., S. 199). 55 Laure-Ryan zitiert einige Gründe für eine transmediale Verwendung der Sprechakttheorie, nennt aber auch die Defizite, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Siehe: Ryan: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): Narrative across Media, 2004, S. 6. 56 Vgl. Searle: „A Classification of Illocutionary Acts“. In: Language in Society, 1975 (5), S. 1–23. 57 Ähnlich wie bei der Rhetorik, bei der der Mangel eines Rhetors besprochen wurde, fehlt bei der Sprechakttheorie für einige technische Medien ein Sprecher. Genauso wie bei der

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Trotz der guten ‚Nutzbarkeit‘ rhetorischer und sprechakt-theoretischer Begriffe für die vorliegende Studie stehen sie und ihr Potenzial als transmediales Analysewerkzeug nicht im Fokus. Es geht im Folgenden nicht darum, den Cliffhanger und seine Erscheinungsformen immer strikt in eine Rhetorik oder Sprechakttheorie einzuordnen. Die Rhetorik und die Sprechakttheorie, das ihnen zugrunde liegende System samt den Begrifflichkeiten soll die Wirkungsweise und Unterschiedlichkeit der einzelnen Cliffhanger erläutern helfen. Die Rhetorik und die Sprechakttheorie werden dementsprechend als Hilfsmittel zur Erklärung des Cliffhangers gebraucht und nicht umgekehrt der Cliffhanger als Bestätigung einer transmedialen Nutzbarkeit der Rhetorik und Sprechakttheorie, die damit als primäres Forschungsziel in den Vordergrund träten. Ich spreche im Folgenden allerdings statt von Sprechakten und rhetorischen Begriffen allgemein von Kommunikationsakten. Erstens, um eine zu starke Vereinfachung der Sprechakte zu vermeiden. Zweitens, um nicht ständig zwischen Rhetorik und Sprechakt-Theorie wechseln zu müssen und damit diese Studie unnötig zu verkomplizieren. Drittens, um Searles Begriffe transmedial verwenden zu können. Ich benutze somit Wolfs und Herrnstein-Smiths Herleitung, dass das Erzählen narrativer Medien ein Kommunikationsakt ist und versuche diesen Kommunikationsakt mittels der Begrifflichkeiten aus Rhetorik und Sprechakt-Theorie zu beschreiben. 1.5 Narratologie „Gegenstand der narratologischen Begriffsbildung war von Beginn an die Technik des Erzählens“58 – und der Cliffhanger ist eine Erzähltechnik. Außer der Rhetorik bildet die Narratologie eine wichtige Analysemethode für die vorliegende Studie, die bereits in den meisten bisher genannten Theoriekapiteln eine methodische Grundlage lieferte, deren narratologische Herkunft nicht ausdrücklich angeführt wurde.59 Der Cliffhanger ist eine Erzähltechnik in narrativen Medien, darum ist die Narratologie als die Wissenschaft vom Erzählen die Methode, um dem Cliffhanger zu analysieren. Sowohl die in Discours du récit von Gerard Genettes und die von Eberhard Lämmert in Bauformen des Erzählens eingeführten Begriffe werden in der vorliegenden Studie

Filmrhetorik wird von der Existenz eines impliziten Erzählers (also ‚Sprechers‘) ausgegangen (v. a. von Metz und Chatman vertreten) bzw. wird der Film selbst als Sprecher angesehen. 58 Grünzweig u. a.: „Einführung: Narratologie und interdisziplinäre Forschung“. In: Dies. (Hg.): Grenzüberschreitungen: Narratologie Im Kontext, 1999, S. 1. 59 Zum Bsp. die in anderen Kontexten wie der der Medien und des Erzählens statt der Narratologie behandelten Werke von Mare Laure-Ryan, Werner Wolf und Ansgar Nünning.

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verwendet.60 Die Basis der narratologischen Analyse stellt die Unterscheidung zwischen dem von Tzvetan Todorov eingeführtem Begriffspaar histoire und discours dar.61 Auch wenn der Inhalt des Erzählten (histoire) und seine Präsentation (discours) in ständiger Wechselwirkung stehen, ist eine Unterscheidung essentiell, auf welcher Ebene der Cliffhanger wie funktioniert. Anhand dieser grundsätzlichen Ebenen-Unterscheidung ist eine Kategorisierung der unterschiedlichen Cliffhanger-Formen und Cliffhanger-Ausdrucksmittel möglich. Auf der histoire-Ebene spielt vor allem der Inhalt, die Verflechtung und zeitliche Verknüpfungen eine Rolle, während auf der discours-Ebene Gestaltung und die Mittel des Cliffhangers auch mithilfe der Rhetorik und der Sprechakttheorie analysiert werden können.

2. W ERKZEUGKASTEN 2.1 Kontext: Gründe für einen Werkzeugkasten Die vielleicht größte Herausforderung dieser Arbeit ist eine begriffstechnische. Diese Herausforderung setzt sich aus drei Problembereichen zusammen. 1. Zwar ist serielle Fortsetzungsnarration keine neue Erscheinungsform, die Analyse der seriellen Fortsetzungsnarration steht aber noch am Anfang, darum sind für die Gesetzmäßigkeiten und Zeitstrukturen kaum Begriffe vorhanden. 2. Die transmediale Analyse des Cliffhangers ist medienkomparatistisch komplex. Einerseits müssen für die Narration in dem jeweiligen technischen Medium die passenden Begrifflichkeiten benutzt werden; andererseits muss, wenn die Ergebnisse mit der Narration in anderen technischen Medien verglichen werden, auch eine nicht auf das jeweilige technische Medium beschränkte Terminologie herangezogen werden. „Ein transmedialer Ansatz des Narrativen verlangt nach einer medienunabhängigen Begriffsbestimmung, d.h. Darstellungsmöglichkeiten eines Einzelmediums dürfen nicht als definitionsrelevant gesetzt werden.“62 Die Rhetorik und die Narratologie als transmediale Analysewerkzeuge werden mit den Begriffen der Einzelwissenschaften verbunden, die medienspezifische Sachverhalte am besten beschreiben. Bei der Analyse ist es wichtig, nicht einer „media60 Dass Gerard Genettes Erzähltheorie auch transmedial genutzt werden kann, zeigt unter anderem, dass Markus Kuhn sie in die Filmwissenschaft übertragen hat: Kuhn: Filmnarratologie, 2011. Die von Genette gebrauchten Begriffe ‚Erzählzeit‘ und ‚erzählte Zeit‘ werden auch in der Forschung zur Fernsehserie benutzt. (Siehe: Meteling, (Hg.): „Previously on…“, 2009.) 61 Vgl. Martínez: „Erzählen“. In: Ders. (Hg.): Handbuch Erzählliteratur, 2011, S. 1. 62 Mahne: Transmediale Erzähltheorie, 2007, S. 17.

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blindness“ zu verfallen – so bezeichnen Marie-Laure Ryan und Liv Hausken eine von ihnen häufig angetroffene Verfahrensweise, bei der meist aus der Literaturwissenschaft stammende Begrifflichkeiten einfach auf das verglichene technische Medium oder die in diesem Medium erzählte Geschichte übertragen werden. „[M]edia blindness [is] the indiscriminating transfer of concepts designed for the study of the narratives of a particular medium (usually those of literary fiction) to narratives of another medium.“63 3. Aus den genannten Gründen ergibt sich, dass die verwendeten Begriffe und Theorien sowohl auf ihre mediale als auch auf ihre für die ganzheitliche Narration vorgeprägte Definition überprüft werden müssen. In den Werkzeugkasten nehme ich vorgeprägte, bereits in einer Einzelwissenschaft eingeführte Begriffe auf, die transmedial gebraucht werden können, und vervollständige die restlichen Fächer des Kastens mit eigenen Begriffen, da einige Gesetzmäßigkeiten der seriellen Narration und des Cliffhangers noch nicht begriffstechnisch erfasst worden sind. 2.2

Vorausweisende Erzähltechniken

2.2.1 Unbrauchbares Werkzeug: Die Katapher „Katapher [griech. kata-phérein ›hinabtragen‹. – Auch: Kataphora]. Von K. BÜHLER [1934:122] in Analogie zu Anapher geprägter Terminus, der ein Sprachelement bezeichnet, das auf eine folgende Information innerhalb eines Äußerungskontexts vorausweist. […] vgl. er in Als er abdankte, war Ludwig I. ein verbitterter Mann.“ BUSSMANN U. A.: LEXIKON DER SPRACHWISSENSCHAFT, 2008, S. 326.

Besonders die ‚Katapher‘ wird in Verbindung mit dem ‚Cliffhanger‘ sowohl bei Christine Mielke als auch bei Martin Jurga genannt. Mielke setzt die Begriffe ‚Katapher‘ und ‚Cliffhanger‘ sogar miteinander gleich. „Die Katapher wird in diesem ausschließlich mit todesbedrohlicher Bildsemantik gefüllten Modus zum heute wohlbekannten ‚Cliffhanger‘.“64 Jurga verweist auf Wulffs Aufsatz Textsemiotik der Spannung, in dem Wulff den Begriff der Katapher auf den Film überträgt. Zwar gebraucht Jurga nicht wie Mielke die Begriffe synonym, weist der Katapher aber ebenfalls zu viel Bedeutung zu im Hinblick auf den Cliffhanger. Denn der von Karl Bühler 1934

63 Ryan: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): Narrative across Media, 2004, S. 34. 64 Mielke: Zyklisch-serielle Narration, 2006, S. 478.

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in seinem Buch Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache eingeführte Begriff ist so nicht richtig von Mielke und Jurga erfasst.65 Gegen eine Begriffsübertragung sprechen vor allem zwei Argumente. Erstens lässt sich aufgrund der eigentlichen Wortbedeutung der Begriff ‚Katapher‘ nicht mit dem des ‚Cliffhangers‘ gleichsetzen. „Das ‚Vorgreifen‘ auf noch nicht Gesagtes ist psychologisch durchaus verständlich, seitdem wir wissen, wie regelmäßig dem erst noch zu erfüllenden ein mehr oder minder ‚leeres‘ Satzschema in unserem Denken vorauseilt. [...] Sonst müßte man ein zweites Wort aus dem Griechischen suchen und dies wäre Kataphora. Die griechischen Sprachgelehrten sagten wie wir ‚oben‘ und ‚unten im Texte‘ [...]; sie hatten ein gutes Recht dazu im Hinblick auf ihre Textrollen.“66

Der Begriff ‚Katapher‘ setzt sich in der Wortbedeutung zusammen aus dem Altgriechischen κατά = hinunter, „nach unten“ und φορεῖν (phorein) = tragen.67 Es geht also um ein Vorausblicken, das von der Wortbedeutung eindeutig mit dem sprachgebundenen Text auf einem Trägermedium verknüpft ist, so dass man den Text vor sich hat, also überhaupt („κατά“) nach unten blicken kann – besonders gut vorstellbar bei den von Bühler erwähnten Schriftrollen. „Psychologisch betrachtet setzt jeder anaphorische Gebrauch [...] voraus, daß Sender und Empfänger den Redefluß als ein Ganzes vor sich haben, auf dessen Teile man zurück- und vorgreifen kann. Sender und Empfänger müssen also dies Ganze soweit präsent haben, daß ein Wandern möglich ist, vergleichbar dem Wandern des Blickes an einem optisch präsenten Gegenstand.“68

65 Wulff, der den Begriff der ‚Katapher‘ in die Filmwissenschaft einführte und von dem Jurga ihn übernimmt, erwähnt den Cliffhanger nicht. Wulff: „Textsemiotik der Spannung“. In: KODIKAS/CODE Ars Semiotica, 1993 (16), S. 332. (Siehe auch die englische und erweiterte Version von Wulffs Aufsatz über die Katapher im Film: Wulff: „Suspense and the Influence of Cataphora on Viewersʼ Expectations“. In: Vorderer u. a. (Hg.): Suspense, 1996, S. 1–18.) 66 Bühler u. a.: Sprachtheorie, 1982, S. 121f. 67 Vgl. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion: Das grosse Fremdwörterbuch, 2007, S. 703, S. 702 und S. 1043. 68 Bühler u. a.: Sprachtheorie, 1982, S. 121f. Auch wenn Bühler hier nur vom „anaphorischen Gebrauch“ spricht, ist dies mit dem kataphorischen Gebrauch gleichzusetzen, insofern, als Bühler die ‚Katapher‘ als Gegenstück zur ‚Anapher‘ einführt und auch in dem Zitat das „Vorgreifen“ der Katapher erwähnt.

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Beim Cliffhanger aber ist ein Wandern in der ursprünglichen seriellen Erscheinungsform unmöglich. Daher ist die ‚Katapher‘ ein Begriff, der auf ganzheitliche Geschichten beschränkt ist. Das zweite Hauptargument für eine klare Abgrenzung der Katapher vom Cliffhanger ist die linguistische Funktionsart der Katapher. Bei der ‚Katapher‘ folgt fast unmittelbar eine Auflösung – zumindest in der Linguistik und den dazugehörigen Beispielen wie dem bereits zitierten von Bußmann: „Als er abdankte, war Ludwig I. ein verbitterter Mann.“ Die Funktionsart ist insofern einleuchtend, da sonst die vorausweisenden Sprachelemente nicht mehr zugeordnet werden könnten. Würde nach dem ersten Teilsatz „Als er abdankte“ erst einmal eine längere Textpassage folgen, wäre viel später nicht mehr ersichtlich, wer „er“ denn war, es sei denn, das Vorausweisende wird die ganze Textpassage über aufrechterhalten. Und selbst in diesem Fall würde das letzte vorausweisende Element direkt vom auflösenden abgelöst. Meist wird mit der Katapher durchaus Spannung erzeugt,69 da das vorausweisende Element noch nicht präzisiert ist. Im oben genannten Beispiel fragt sich der Rezipient: Wer dankte ab? Eine Unterbrechung ist aber nicht vorhanden. Zwar wird inzwischen ein Derivat der reinen kohäsiv textuellen Kataphorik, die strukturelle Kataphorik, in der Literaturwissenschaft gebraucht,70 sodass der Begriff, obwohl er zunächst rein sprachwissenschaftlich geprägt war, inzwischen ebenso auf Literatur übertragen wurde und als rhetorische Figur gebraucht werden kann. Doch auch im rhetorischen/literarischen Fall liegt die Betonung auf Kohäsion. Die Beschaffenheit der Katapher äußert sich in der Beschreibung ihrer Signale: „Ein allgemeines kataphorisches Signal ist der Doppelpunkt (:).“71 Im übertragenen Sinn gesprochen, wäre das Charakteristische am Cliffhanger, dass es nach dem Doppelpunkt erst einmal eine Pause, eine Unterbrechung gäbe. Dies ist textlich mit dem Doppelpunkt in einem sprachlich-richtigen Gebrauch nicht möglich: Nach dem Doppelpunkt muss sofort etwas folgen, darauf weist er hin. In gewisser Weise ist der Cliffhanger mit einem Doppelpunkt vergleichbar. Denn auch er macht deutlich, dass etwas folgt: die Fortführung der Geschichte und damit Auflösung. Aber zum einen handelt es sich beim Cliffhanger – wenn man bei Satzzeichen bleibt – eher um Doppelpunkt und Ausrufeoder Fragezeichen in einem, zum zweiten findet nach diesem ‚Cliffhanger-Zeichen‘ zunächst eine Unterbrechung statt.

69 Vgl. Glück (Hg.): Metzler Lexikon Sprache, 2010, S. 256. 70 „Katapher. [(griech. Herabtragen, Niederfallen) cataphora, cataphore]. Das Vorgreifen auf noch nicht Gesagtes, der Vorverweis oder das Vorkonstruieren, die präparatorische Verwendung eines Ausdrucks; […] Zu unterscheiden ist eine rein strukturelle Kataphorik (z.B. he who hesitates, zwar..., obwohl...usw.) von der kohäsiven textuellen K. (Halliday/Hasan).“ Lewandowski: Linguistisches Wörterbuch, 1994, S. 521. 71 Ebd.

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2.2.2 Werkzeug 1: Vorausdeutung und Prolepse Passender und auch hilfreicher zum Verständnis des Cliffhangers ist die ‚Vorausdeutung‘, die inzwischen von dem Begriff der ‚Prolepse‘ verdrängt wurde. Die Prolepse ist die von Gerard Genette geprägte Analogie zu Analepse und gleicht einer Vorausblende.72 Die Vorausdeutung wird heutzutage häufig mit der Prolepse gleichgesetzt.73 Bereits bei einer semantischen Aufgliederung der Begriffe erkennt man jedoch die Wesensunterschiede: Prolepsis bedeutet, aus dem Griechischen übersetzt, ‚Vorwegnahme‘, während in der ‚Vorausdeutung‘ nur von ‚Deutung‘ die Rede ist. Vergleicht man die zwei Begriffe anhand ihrer Einführungen in die Literaturwissenschaft durch Gerard Genette (Prolepse) und Eberhard Lämmert (Vorausdeutung), sind ebenfalls Unterschiede vorhanden. Lämmert schreibt tatsächlich – wie die Begrifflichkeit erahnen lässt – von „Andeutung.“74 Er unterteilt die ‚Vorausdeutung‘ in drei große Gruppen, von denen die erste für bestimmte Cliffhanger sehr zutreffend ist: „Vorausdeutungen nehmen nicht immer das Ende einer Erzählpartie vorweg. Ebensooft geben sie nur eine Strecke weit die Richtung des Handlungsverlaufs an und fallen nach ihrer Auflösung in Vergessenheit. Auf diese Weise aber gewinnen sie nicht selten eine phasenbildende Kraft, und die Abfolge einzelner Vorausdeutungen und ihrer Auflösungen trägt oft wesentlich zur Gliederung des Gesamtvorgangs bei.“75

Nun sind nicht alle Cliffhanger vorausdeutend: Der an der Klippe hängende Held hat wenig vorausdeutendes Potenzial. Doch die von Lämmert so treffend bezeichnete „phasenbildende Kraft“ und die Technik, darauf vorauszudeuten, was in der nächsten Folge oder den nächsten Folgen passieren könnte – beides sind wichtige Facetten bestimmter Cliffhanger, weshalb im Folgenden stark auf etwas Bevorstehendes deutende Cliffhanger als vorausdeutende Cliffhanger bezeichnet werden. Lämmert spricht den meisten Vorausdeutungen eine spannungssteigernde Funktion und Wirkung zu und unterteilt sie in zwei große Kategorien, die zukunftsgewissen und die zukunftsungewissen.76 Jedoch fehlt bei Lämmerts Beschreibung der Vorausdeutung das unterbrechende Element. Dies ist der entscheidende Unterschied zum 72 Siehe zur Prolepse vor allem: Genette: Die Erzählung, 2010, S. 45–50. 73 „Die Vorausdeutung wird im Anschluss an Genette heute meist als Prolepse reformuliert.“ Burdorf u. a. (Hg.): Metzler-Lexikon Literatur, 2007, S. 816. 74 Lämmert: Bauformen des Erzählens, 1955, S. 141. 75 Ebd. Die zweite Kategorie zwei der Vorausdeutungen hingegen ist unpassend für den Cliffhanger und berührt eher Charakteristiken der Katapher und der Prolepse: „Gewisse Vorausdeutungen ‚spannen‘ nicht, sondern erläutern einfach an Ort und Stelle ein Ereignis von späterer Warte aus oder vermelden den Ausgang in einer Art Seitenausblick, um ihn dann ein für allemal zu erledigen.“ Ebd. 76 Vgl. ebd., S. 150.

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Cliffhanger. Die Vorausdeutung ist meistens in den direkten Erzählfluss integriert. In manchen Fällen könnte man vor allem die ergänzenden zukunftsgewissen Vorausdeutungen als kleine Erzählunterbrechungen betrachten, da in diesem Fall kurz unterbrochen wird, um einen Einschub – den der Vorausdeutung – zu liefern. Doch die Unterbrechung ist meist marginal und findet nicht unbedingt an einem spannenden Moment statt, sodass wiederum andere Kriterien des Cliffhangers nicht erfüllt werden.77 Die Vorausdeutung scheint eine generell wichtige Erzähltechnik der seriellen Narration zu sein. Die im Zitat genannte „phasenbildende Kraft“ ist für die serielle Narration im besonderen Maße wirkungsvoll, weil die Vorausdeutung, die mit einer Unterbrechung kombiniert wird, auch die Kraft hat, über nicht-narrative Phasen wie die Erzählpause zwischen zwei Episoden, das Interesse an der Erzählung aufrecht zu erhalten und damit die „Rückkopplung in den Alltag“ zu verstärken. Im nächsten Abschnitt werden Überlegungen zu den verschiedenen Phasen und Zeitstrukturen der seriellen Narration unternommen; aufgrund dieser Überlegungen kann eine Begriffsfindung versucht werden.

3.

Z EITLICHE S TRUKTUREN ( E IGENES W ERKZEUG )

3.1

Werkzeug Nr. 2: Nicht-diegetische zeitliche Begriffe der seriellen Narration

3.1.1 Serielle Publikation: Die zwei Grundtypen Ein ganzheitliches Einzelwerk besteht aus einem Stück und hat ein spezifisches Publikationsdatum, wenn es auf einem Trägermedium veröffentlicht wird. Damit der Rezipient das Werk kauft, muss er eine Publikationsinformation erhalten, die Interesse schürt und dadurch einen Kaufimpuls entstehen lässt. Sobald der Rezipient über das Erscheinen des Werks informiert ist, kann er ab dem Publikationsdatum das Einzelwerk kaufen. Dann ist es ihm möglich, selbst über den Zeitpunkt, das Tempo und den Rhythmus der Rezeption zu bestimmen: Er ist über das gesamte Werk Herr der Rezeptionsgeschwindigkeit und des Rezeptionsrhythmus. Wie bereits im Kapitel II. 2.2 „Was aber ist serielle Narration?“ erläutert, wird in der seriellen Narration die Erzählzeit immer rückgebunden an die ‚reale Lebenszeit‘

77 Lämmerts Begriff der ‚Vorausdeutung‘ ist nur für ganzheitliche Narration geprägt. Ein einziges Werk der seriellen Narration, Schillers Der Geisterseher, erwähnt Lämmert, aber auch hier scheint er sich auf die ganzheitliche Publikationsform zu beziehen, da er von Kapiteln spricht (Bauformen des Erzählens, S. 170).

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zwischen den Rezeptionsphasen:78 Serielle Narration in ihrer ursprünglichen Veröffentlichung gibt dem Rezipienten einen Rezeptionsrhythmus des Makrotextes vor. Bei der seriellen Narration hat jede Folge ein Publikationsdatum – jede Folge braucht eine Publikationsinformation. Die Publikation serieller Narration kann in zwei Typen unterteilt werden: Die Veröffentlichung serieller Narration unabhängig von Trägermedien (bspw. als Ausstrahlung, Performance, Aufführung, Vortrag) – im Folgenden ‚trägerlos‘ genannt – oder auf Trägermedien (Buch, DVD, Heft, Zeitung, Comic). Eine trägerlose serielle Narration in Form einer Performance, eines oralen Erzählvortrags, einer audiophonen oder audiovisuellen Ausstrahlung bestimmt komplett über die Rezeptionszeit. Ein Rezipient kann weder über die Geschwindigkeit noch den Rhythmus der Rezeption verfügen. Vereinfacht bedeutet das, dass die Reproduktionszeit der seriellen Narration gleich der Rezeptionszeit ist. Es gibt keinen Publikationszeitpunkt, sondern eine Publikationszeitspanne, die gleich der Rezeptionszeitspanne ist (Übersicht 5). Die Abhängigkeit von der Publikationszeit wird erst teilweise oder ganz aufgehoben, wenn die serielle Narration auf einem Trägermedium festgehalten wird und dadurch vom Rezipienten in Besitz genommen werden kann. Übersicht 5: Nicht-diegetische Zeitebenen bei trägerloser serieller Narration Zeitstrahl

Mikro Y

Mikro X

Publikations- und Rezeptionsebene

Erzählunterbrechung

Publikations- und Erzählfortsetzung

Rezeptionspause

Die Publikationszeit ist eine Zeitspanne und kein Zeitpunkt. Publikations- und Rezeptionszeit sind gleich.79 78 Siehe auch: „Serielle Formate rhythmisieren den Alltag des Zuschauers und versprechen Orientierung. Indem Erlebnisse und biographische Entwicklungen über einen langen Zeitraum hinweg verfolgt werden, verschränken sich auch die Lebenszeiten von Rezipienten und Serienfiguren.“ Meteling u. a. (Hg.): „Previously on…“, 2009, S. 7. 79 Mediale Unterschiede sind bei dieser Übersicht deutlich. Bei einer Ausstrahlung oder einer mündlichen Darbietung ist der Rezipient bei Rezeptionsrhythmus, Dauer und Länge völlig

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Bei serieller Narration auf Trägermedien ist es dem Rezipienten unmöglich, solange nicht alle Mikrotexte auf Trägermedien des seriellen Makrotextes veröffentlicht sind, das vollständige Werk zu rezipieren; er kann nur für den veröffentlichten Mikrotext über Rezeptionsgeschwindigkeit und Rezeptionsrhythmus bestimmen, nicht aber über den Makrotext als Ganzes. Aus der Perspektive des Makrotextes ist der Rezipient abhängig von den Publikations-Zeitpunkten, zu denen die weiteren Mikrotexte veröffentlicht werden. Das vollständige Werk wird immer wieder rückgebunden an die nicht-diegetische Zeit in Form der Publikations-Zeitpunkte. Die Rezeptionszeit kann jedoch selbst bestimmt werden: Was Länge und Zeitpunkt der Rezeption eines veröffentlichten Mikrotextes angeht, ist der Rezipient unabhängig (Übersicht 6). Übersicht 6: Nicht-diegetische Zeitebenen serieller Narration auf Trägermedien Zeitstrahl

Mikro W Publikation

Mikro X

Publikationspause | Publikationspause | Publikationspause

Mikro W

Rezeption

Mikro Z

Mikro Y

M. X 1

Erzählunterbrechung | Erzählpause | Erzählfortsetzung (EU)

(EP)

M. X 2

Mikro Y

EU | EP | EF

(EF)

Beispiel für eine serielle Publikation auf Trägermedien und deren Rezeption.80

von der Darbietung abhängig, wenn er nicht das Werk bei der Darbietung selbst festhält, aufnimmt, mitschreibt etc. Bei der Veröffentlichung in Schriftform ist das Werk bereits auf einem Trägermedium und kann deshalb rezipiert werden, wann es dem Leser beliebt. Er kann im Grunde genommen den Cliffhanger auch erst kurz vor oder sogar erst nach der Veröffentlichung der nächsten Ausgabe lesen und damit die eigene Rezeptions-Fortsetzungsspanne verkürzen oder aufheben. Dasselbe gilt auch für audiovisuelle Serien. 80 Die Publikation ist keine Spanne, sondern ein Zeitpunkt. Die Rezeption der Folgen findet irgendwann statt, hier als Beispiel: Der Rezipient kauft sich direkt zum Veröffentlichungstermin die Folge W und rezipiert sie in einem Stück. Folge X hingegen rezipiert er später

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3.1.2 Das Grundmodell serieller Narration: Publikation, Text, Rezeption Drei wichtige sich gegenseitig bedingende Ebenen müssen unterschieden werden: Publikation, Text und Rezeption von serieller Narration. Ein Modell von serieller Narration je nach Perspektive der jeweiligen Ebene sieht aufgrund der beschriebenen Makrotext-Teilung wie folgt aus: Übersicht 7: Grundmodell serieller Narration 1. Publikationsebene: Auf Trägermedien

Mikro X

Mikro Y

Publikationspause

Ohne Trägermedien

Mikro X

Mikro Y

Publikationspause

2. Textebene

Mikro X

Mikro Y

Erzählunterbrechung

3. Rezeptionsebene

Erzählfortsetzung

Mikro X

Mikro Y

Erzählunterbrechung

Erzählfortsetzung Erzählpause

Mehrere Mikrotexte, zwischen deren Publikation und Rezeption eine Zeitspanne vergeht und die zusammen einen Makrotext ergeben.

als die Veröffentlichung und teilt seine Rezeption in zwei Teile, während bereits Folge Y veröffentlicht wird etc. Trotzdem bleibt die zeitliche Form der Folge, die Erzählzeit erhalten und es findet eine Erzählunterbrechung, Erzählfortsetzung und eine Erzählpause statt. Auf der Rezeptionsebene kann gewählt werden, wie lange innerhalb der publizierten Folgen, die Erzählpause ausfällt. Publikations- und Rezeptionszeit sind verschieden.

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1. Es gibt einen zusammenhängenden Text (Makrotext), der in Einzelteile (Mikrotexte) unterteilt ist, die jeweils im zeitlichen Abstand voneinander publiziert werden, also unterschiedliche Veröffentlichungstermine haben. Das heißt, zwischen den Veröffentlichungen liegt immer eine Zeitspanne, die im Folgenden als Publikationspause bezeichnet wird. 2. Der Makrotext wird von seiner Publikationsform beeinflusst. Möglicherweise wird umgekehrt die Publikationsform auch vom geteilten Text bestimmt – auf jeden Fall aber bedingen sich Text- und Publikationsebene. Die Mikrotexte weisen aufgrund der Publikationseinteilung statt eines Endes eine Erzählunterbrechung und statt eines Anfangs eine Erzählfortsetzung auf; es sei denn, es handelt sich um den allerersten oder allerletzten Mikrotext, die dann der Anfang beziehungsweise der Abschluss des Makrotextes als solches sind. Die auf der Publikations- und Rezeptionsebene vorhandene Pause ist auf der Text-Ebene nicht vorhanden. 3. Die Rezeptionsebene beschreibt, wie der Rezipient die Kombination der beiden Ebenen ‚Publikation‘ und ‚Text‘ erfährt. Durch die Aufteilung des Makrotextes in Mikrotexte sind Erzählunterbrechungen und -fortsetzungen vorhanden. Zwischen diesen Punkten ergibt sich jeweils eine Zeitspanne, die von der Publikationspause stammt und vom Rezipienten als Erzählpause wahrgenommen wird. Wenn der Rezipient die serielle Narration bei ihrer Erstveröffentlichung rezipiert, fällt die Erzählpause mit der Publikationspause zusammen. Aber selbst wenn der Rezipient die Mikrotexte der seriellen Narration nach der ursprünglichen Veröffentlichung rezipiert, findet unweigerlich eine Erzählpause zwischen der Rezeption der einzelnen Mikrotexte statt, da es immer Texteinheiten sind, die auf getrennten Trägermedien veröffentlicht wurden: Selbst wenn der Rezipient alle Mikrotexte und damit den Makrotext als Ganzes besitzt, muss seine Aufmerksamkeit zumindest kurz vom einen Trägermedium zum nächsten wechseln. Bei diesem Wechsel findet unweigerlich eine Erzählpause statt. Außerdem bleiben ‚Überbleibsel‘ wie Vorspann, Zusammenfassung, Titel etc. erhalten – der serielle Makrotext besteht aus Mikrotexteinheiten, solange er nicht überarbeitet und die Brüche geglättet worden sind; Erzählunterbrechungen bleiben damit integrativer Bestandteil des seriellen Makrotextes. Nur die Dauer der Erzählpause ist unterschiedlich. Wenn der Rezipient Mikrotexte später als Buch oder als DVD zusammengefasst kauft, können der Rezeptionsrhythmus mitbestimmt und die Erzählpause verkürzt werden. Das macht einen erheblichen Reiz ganzheitlicher Veröffentlichungen aus: die Spannungselemente, die Cliffhanger sind noch vorhanden – aber man kann sie selbst auflösen. Wenn der Rezipient eine serielle Erzählung bei ihrer Erstveröffentlichung rezipiert, bedeutet eine Publikationspause eine Erzähl- und damit auch Rezeptionspause. Darin zeigt sich die Macht der seriellen Narration und die Macht des Cliffhangers. Es mag noch so spannend sein, der Rezipient kann nicht umblättern, vorspulen oder die nächste Folge schauen – er

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ist vollkommen der Autorität des Autors ausgeliefert. Dieser bestimmt den Zeitpunkt des Angebots einer Rezeptionsfortsetzung. Der Rezipient hat dann natürlich die Macht, dieses Angebot abzulehnen, womit er jedoch immer nur eine unvollständige Erzählung rezipiert haben wird. 81 3.1.3 Zusammenfassung Ein serieller Text hat immer eine Erzählunterbrechung und eine Erzählfortsetzung. Zwischen diesen Bestandteilen besteht immer eine Erzählpause. Der unveränderte serielle Makrotext trägt immer Spuren der seriellen Publikation; er besteht noch immer aus Mikrotexten, zwischen deren Rezeption sich eine Erzählpause ergibt: sei es durch das Anklicken der nächsten Folge, Wechseln der DVD oder das Heraussuchen der nächsten Print-Ausgabe. Die Länge einer Folge, die Erzählzeit ist unveränderlich – die Form bleibt also erhalten. Bei dem auf Trägermedien festgehaltenen seriellen Makrotext können lediglich Rezeptionszeitpunkt, Dauer und Rhythmus bestimmt werden. Der Publikationspause ist der Rezipient ausgeliefert. Die Länge der Erzählpause kann hingegen zwischen den auf Trägermedien publizierten Mikrotexten selbst bestimmt werden. Der Cliffhanger ist ein wichtiger, aber optionaler Bestandteil serieller Fortsetzungsnarration. Serielle Fortsetzungsnarration kann auf Cliffhanger verzichten, aber Cliffhanger weisen auf eine essentielle Beschaffenheit serieller Fortsetzungsnarration hin, da sie auf inhaltlicher und struktureller Ebene auf die Fortsetzung der Narration aufmerksam machen. Erzählunterbrechung, Erzählpause und Erzählfortsetzung sind wichtige Begriffe, weil sie Voraussetzungen und damit Bestandteile des Cliffhangers sind. Darüber hinaus hat der Cliffhanger auch eine Funktion als Hinweis darauf, dass die Erzählung fortgesetzt wird: Auf jede Veröffentlichung eines neuen Teils muss hingewiesen werden. Wenn man es werbetechnisch ausdrücken möchte, so muss für jede Rezeption eines neuen Mikrotextes ein Bedürfnis geweckt werden, und der Cliffhanger übernimmt diese Funktion, indem er nach Lewin und Zeigarniks

81 Diese Einteilung in Produktion, Text und Rezeption gilt natürlich ebenso für ganzheitliche Narration, wie sie beispielsweise Paul Ricoeur beschrieben hat. Sein Modell von der Welt des Handelns zur Welt der Erzählung besteht aus drei Mimesis-Ebenen. Mimesis 1 (Produktion, Inspiration, Konzeption), Mimesis 2 (Text) und Mimesis 3 (Rezeption). Vor allem Ricoeurs Standpunkt, dass im Text alle drei Ebenen vorhanden sind, ein stetes Wechselspiel zwischen den dreien stattfindet und sie sich gegenseitig beeinflussen, ist auch für das folgende Modell zutreffend. Trotz einer Anschlussfähigkeit von Ricoeurs Theorie würde eine stärkere Bezugnahme zu viel Zeit in Anspruch nehmen und zu sehr von der seriellen Narration und dem Cliffhanger wegführen. Siehe v. a.: Ricœur: Zeit und Erzählung, 1991, S. 87–136.

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Begrifflichkeit das „Quasibedürfnis“ einer „Sättigung“ schafft.82 Häufig werden sogar Informationsgebung und Kaufimpuls mittels Interessenschürung im Cliffhanger verbunden. Der Rezipient wird darüber informiert, dass die Erzählung weitergeht: mit dem Cliffhanger geht häufig wie im Beispiel aus The Last of Us der Schriftzug einher: „To be continued“.83 Gleichzeitig wird mithilfe des Cliffhangers ein Interesse dafür geweckt, wie es weitergeht. 3.2

Werkzeug 3: Diegetische zeitliche Begriffe der Unterbrechung und Fortsetzung

3.2.1 Einleitung: Anknüpfung an Jurgas Kategorisierung Martin Jurga kategorisiert die Cliffhanger aufgrund diegetischer zeitlicher Faktoren. Bemerkenswerterweise wird der Cliffhanger in der Kategorisierung ganz auf seine Auflösung konzentriert: Nicht der Moment, der als Cliffhanger bezeichnet wird, also der Moment, in dem der Held an der Klippe hängt, wird zu einer Kategorisierung benutzt, sondern der Moment, in dem diese Situation aufgelöst wird. Für Jurga gibt es Cliffhanger, deren Fortsetzung entweder an derselben erzählten Zeit-Stelle stattfindet, kurz nach dem Cliffhanger, lange nach dem Cliffhanger oder nie beziehungsweise sehr viel später.84 „a) Der Cliffhanger wird in der nächsten Folge genau an der gleichen Stelle wieder aufgenommen. […] Zwischen den Folgen ist keine erzählte Zeit verstrichen. b) Die erste Szene der anschließenden Folge greift das Thema des Cliffhangers wieder auf. Inzwischen ist aber erzählte Zeit verstrichen. [...] c) Der Cliffhanger wird erst im Verlauf der nächsten Folge oder sogar erst in späteren Folgen stückweise aufgelöst. […]

82 Siehe Kapitel: II. 1.2.3 „Exkurs: Die Forschungen Bluna Zeigarniks“, S. 40ff. 83 Siehe: Kapitel: I. 1. „Einleitung“, S. 15. 84 Erzählte Zeit ist die „Zeit der Geschichte“, also die Zeit, die in der Geschichte (Diegese) von Bedeutung ist, während der die Geschichte spielt. Die Erzählzeit beschreibt die „Zeit der Erzählung“, also die Zeit, die das Erzählen bzw. die Rezeption der Geschichte beansprucht. Siehe: Genette: Die Erzählung, 2010, S. 17. Bei einem Blick in Genettes Einführung der Begriffe „Erzählzeit“ und „erzählte Zeit“ ist interessant, dass Genette sie bereits von Christian Metz (also aus der Filmwissenschaft) und Günther Müller (Literaturwissenschaft) übernimmt. Die Begriffe sind also von Anfang an transmedial gebraucht. Erzählzeit wird innerhalb der seriellen Fortsetzungsnarration im Folgenden als ein immer nur unterbrochenes Kontinuum betrachtet.

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d) Der Cliffhanger wird überhaupt nicht gelöst und erst viele Jahre später wieder aufgenommen.“85

Während Jurga bei den Kategorien a) und b) die erzählte Zeit als maßgeblich beschreibt, ist es bei Kategorie c) und d) die Erzählzeit, wobei die Formulierungen „stückchenweise“ und „viele Jahre später“ auf beides zutreffen könnten und generell sehr ungenau sind. Jurgas Ansatz ist nachvollziehbar: Der Cliffhanger ist eine Erzähltechnik, die aus zwei diegetischen Momenten besteht; darum lässt sie sich anhand der Relation dieser zwei Bestandteile zueinander kategorisieren. Diese Feststellung wird von den bisherigen Erkenntnissen der vorliegenden Studie über serielle Narration und den Cliffhanger unterstützt: In Abgrenzung zum ‚offenen Ende‘ und dem ‚Fragment‘ muss der Cliffhanger immer eine Auflösung haben. Darüber hinaus wurden im vorherigen Kapitel die grundsätzlichen Bestandteile serieller Narration beschrieben: Unterbrechung und Fortsetzung sowie die Spanne zwischen diesen Momenten. Was im letzten Kapitel für die außer-diegetischen zeitlichen Kategorien definiert wurde, bedarf auch einer Herausarbeitung der diegetischen zeitlichen Faktoren. Im Grunde definiert Jurga anhand des Cliffhangers allgemein die Fortsetzung von Erzählsträngen: Seine zeitlichen Kategorien beschreiben nicht, wie die Unterbrechung inszeniert wird und inwiefern der Unterbrechungsmoment spannend ist ‒ die zwei wichtigsten Kategorien der bisherigen Definitionen des Cliffhangers ‒ sondern zunächst nur, wann der jeweilige Erzählstrang fortgesetzt wird. Es gilt also zunächst, Kategorien für die Fortsetzung von Erzählsträngen zu finden, die dann im nächsten Schritt bei einer Beschreibung von Cliffhangern hilfreich sind. Zu diesem Zwecke wird im Folgenden die Theorie Jurgas aufgenommen, aber in wesentlichen Punkten verfeinert. 3.2.2 Unterbrechungs-, Aufhebungsmoment und Spannbreite Bei Jurgas Kategorien wirkt es, als beinhalte eine Fortführung des Cliffhangermoments immer auch eine Spannungsauflösung – eine zeitliche Fortführung und eine Spannungsauflösung müssen aber nicht zusammenfallen. Wie die Kapitel über die

85 Jurga: „Der Cliffhanger“. In: Willems u. a. (Hg.): Inszenierungsgesellschaft, 1998, S. 484. Erstens unterscheidet Jurga nicht klar zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, obwohl er zwischendurch von erzählter Zeit spricht. Zweitens sind Teile von Jurgas Einteilung interpretatorischer Natur: Eine „stückweise Auflösung“ etc. meint dann nicht den Erzählstrang, sondern eine Spannungsauflösung. Drittens wirkt es bei Jurga, als seien diese vier Kategorien ein Entweder-Oder. Dabei könnten beide oben genannten Möglichkeiten der erzählten Zeit mit beiden Möglichkeiten der Erzählzeit kombiniert werden.

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Begriffe ‚Auflösung‘ und ‚Spannung‘ bereits gezeigt haben, handelt es sich bei beiden um nicht eindeutig bestimmbare Größen. Aus diesem Grund wäre es genauer, zwischen zwei Bezugsgrößen zum Cliffhangermoment zu differenzieren. Zum einen muss, nachdem die Begriffe ‚Erzählunterbrechung‘ und die ‚Erzählfortsetzung‘ in der Nicht-Diegese die textlichen Unterbrechungs- und Fortsetzungsmomente beschrieben, dies auch für die Diegese unternommen werden: Die Unterbrechung eines Erzählstrangs wird im Folgenden als Unterbrechungsmoment bezeichnet; der Aufhebungsmoment beschreibt die diegetische Fortführung. Bei diesen beiden Begriffen geht es nicht (primär) um Spannung und den Cliffhanger, sondern um eine zeitliche Beschreibung der Fortführung des unterbrochenen Erzählstrangs. Zum anderen muss es einen Begriff geben für die ungefähre Spanne, für die der Cliffhanger von Relevanz ist, über die er also bis zu einer ungefähren Auflösung ‚spannt‘; dafür erscheint mir Lämmerts Begriff der Spannbreite geeignet.86 Eine Auflösung ist meist zeitlich nicht genau feststellbar. Es existiert deshalb auch kein ‚Spannpunkt‘, sondern nur eine ungefähre ‚Spannbreite‘. Einen eindeutigen Aufhebungsmoment gibt es hingegen bei serieller Fortsetzungsnarration immer: beim Cliffhanger ist dies die Anknüpfung an den Moment in der erzählten Zeit, in welcher der Held in Gefahr war (Cliffhangermoment). Der Aufhebungsmoment ist der Augenblick, in dem der Handlungsstrang (des Cliffhangers) weitergeführt wird. Aus diesem Grund gibt es nicht wie bei der Auflösung nur eine Spanne, sondern auch einen Moment, den Aufhebungsmoment. Natürlich muss rezeptionsästhetisch hinzugefügt werden, dass für die Wirkung des Cliffhangers der Aufhebungsmoment bereits eine teilweise Spannungslösung bedeutet: Es geht weiter! Noch mag nicht alles geklärt sein, der Held ist nicht in Sicherheit, aber die Erzählung schreitet voran; die Ungewissheit, die Spannung hervorruft, wird durch allmähliche Gewissheit aufgelöst. Für eine genauere Kategorisierung der Fortführung von Erzählsträngen anhand des Aufhebungsmoments muss klar beschrieben werden, welche der beiden Zeitbegriffe – ‚erzählte Zeit‘ und ‚Erzählzeit‘ – gemeint ist. Bei beiden Größen gibt es zwei generelle Möglichkeiten für den Aufhebungsmoment: eine direkte Fortsetzung oder eine spätere. Entweder wird der Cliffhanger sofort am Anfang der neuen Folge aufgehoben oder erst irgendwann später in der Erzählzeit. Dazwischen findet eine Erzählpause statt, die also nicht zur Erzählzeit dazugehört, sondern zum vorherigen Kapitel der nicht-diegetischen zeitlichen Begriffe. 86 Lämmert: Bauformen des Erzählens, 1955, S. 171. Jurga fügt bei seiner Kategorisierung den hilfreichen Begriff Skopus im Sinne einer Reichweite ein. Mit Skopus wird in der Sprachwissenschaft der Wirkungsbereich von Wörtern beschrieben. Siehe: Schwarz u. a.: Semantik, 2004, S. 150. Von seiner griechischen Bedeutung her kann mit Skopus auch die Sichtweite gemeint sein, was ebenso passend ist. Griechisch: σκοπός. Ich gebrauche dennoch Lämmerts Begriff, da es mir bei der ‚Spannweite‘ darum geht, wie weit ein Cliffhanger spannt – der Begriff der ‚Spannung‘ ist in ‚Spannweite‘ enthalten.

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3.2.3 Die neuen Kategorisierungen 1. Die Fortsetzung des Erzählstrangs knüpft direkt an das zuletzt Dargestellte an. Die erzählte Zeit und die Erzählzeit werden nur unterbrochen. Im Folgenden wird dieser Typ als Interruptionspunkt bezeichnet. Es handelt sich um einen Punkt, weil von den diegetischen zeitlichen Faktoren her keinerlei Spanne zwischen Unterbrechungs- und Aufhebungsmoment entsteht. 2. Der Rezipient erfährt innerhalb der Erzählzeit eine direkte Fortsetzung, es ist aber erzählte Zeit vergangen. Diese Art der zeitlichen Anknüpfung wird als elliptischer Interruptionspunkt bezeichnet, da erzählte Zeit ausgelassen wurde, die Fortsetzung aber unmittelbar, am selben Punkt der Erzählzeit stattfindet. 3. Die Fortsetzung des Erzählstrangs ist innerhalb der Erzählzeit später gelegen. Der Rezipient erfährt also keinen Interruptionspunkt mehr, sondern innerhalb der Diegese liegt vom Unterbrechungsmoment bis zum Aufhebungsmoment eine Zeitspanne vor. Ein oder mehrere Erzählstränge werden dazwischen geschoben, bevor der Handlungsstrang fortgesetzt wird. Die Aufhebungsmoment setzt jedoch am selben Punkt der erzählten Zeit ein, an dem er unterbrochen wurde. Die einzige Möglichkeit, dies zu bewerkstelligen, ist durch Parallelisierung der Erzählstränge. Ich bezeichne diesen Typus daher als parallelisierte Interruptionsspanne. 4. Auch hier ist erneut die Fortsetzung des unterbrochenen Erzählstrangs später innerhalb der Erzählzeit gelegen, weshalb der Rezipient innerhalb der Diegese vom Unterbrechungsmoment bis zum Aufhebungsmoment erneut eine Zeitspanne erfährt. Bei der Fortsetzung ist jedoch erzählte Zeit vergangen ‒ in der Darstellung wurde sie damit ausgelassen. Bis der Unterbrechungsmoment fortgesetzt wird, sind somit Erzählzeit und erzählte Zeit vergangen. Dieser Typ wird als die verzögerte Interruptionsspanne bezeichnet. Übersicht 8: Diegetische Fortsetzungskategorien Erzählzeit Direkter zeitlicher Anschluss

Erzählte Zeit

Späterer zeitlicher Anschluss

x

Direkter zeitlicher Anschluss

Späterer zeitlicher Anschluss

x

x x x

Diegetische Fortsetzungskategorien

1. Interruptionspunkt x

2. Elliptischer Interruptionspunkt 3. Parallelisierte Interruptionsspanne

x

4. Verzögerte Interruptionsspanne

x

Die vier zeitlichen Kategorien der Fortsetzung von Erzählsträngen.

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Diese Kategorien beschreiben generell die Fortsetzung von Erzählsträngen nach einer Unterbrechung. Tatsächlich sind die vier Bezeichnungen speziell für die jeweilige Charakteristik des Cliffhangers mehr als nur formale Beschreibung: Beim Interruptionspunkt ist der Cliffhanger nur durch eine kurze spannungssteigernde Unterbrechung gezeichnet, während beim elliptischen Interruptionspunkt die Aussparung von Bedeutung ist – der Rezipient kann das Übersprungene in seiner Vorstellung zumindest grob selbst ausfüllen. Bei der parallelisierten und verzögerten Interruptionsspanne soll der Rezipient vor allem hingehalten werden beziehungsweise es werden weitere spannungssteigernde Handlungsstränge eingeschoben. So potenziert sich unter Umständen die Wirkung des Cliffhangers. Übersicht 9: Cliffhangerbestandteile bei einer verzögerten Interruptionsspanne Zeitstrahl

Mikro X

Produktionsästhetische

Mikro Y

Erzählunterbrechung | Erzählpause | Erzählfortsetzung

Ebene

Diegetische

Cliffhangermoment

Ebene

Aufhebungsmoment verzögerte Interruptionsspanne

Cliffhanger

Beispiel eines Cliffhangers mit verzögerter Interruptionsspanne.87

Für die Spannbreite kann nur ungefähr unterschieden werden zwischen einer kurzen, mittleren oder längeren Spannbreite. So wie sich Spannung nicht messen lässt, kann 87 Der Cliffhanger von Mikrotext X findet in einem Handlungsstrang A statt. Mikrotext Y beginnt jedoch mit Handlungsstrang B. Erst relativ am Ende des Mikrotextes wird am Aufhebungsmoment der Handlungsstrang A fortgesetzt. Eine klare Auflösung ist aber noch nicht erreicht, noch immer kämpft der Held mit dem Bösewicht, die Spannbreite ist also mindestens mittlerer Natur.

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nur eine ungefähre Distanz angegeben werden, über die der Cliffhanger von Relevanz ist, also spannt. Trotzdem sind die drei Begriffe notwendig: Bei einem Cliffhanger mit langer Spannbreite wird auf eine beständige Rezeption gesetzt – der Rezipient soll die lange im Voraus durch einen Cliffhanger angedeutete oder sogar initiierte Entwicklung nachvollziehen und verfolgen; Cliffhanger mit kurzer Spannbreite hingegen liefern vor allem kurzfristig einen Impuls für die Rezeption der nächsten Folge. Mithilfe der eingeführten Begriffe lassen sich sowohl die vier beschriebenen diegetischen Fortsetzungskategorien klar definieren als auch der Cliffhanger im Verhältnis zur nicht-diegetischen Zeitebene von seriellen Erzählungen beschreiben.

4. S TATT EINES F AZITS : ARBEITSDEFINITION DES C LIFFHANGERS Ein Cliffhanger muss Teil einer seriellen Fortsetzungsnarration sein. Es muss eine Erzählunterbrechung, eine Erzählpause und eine Erzählfortsetzung geben. Deshalb ist die nicht-diegetische Ebene ein ebenso wichtiger Bestandteil des Cliffhangers. Auf der diegetischen Ebene spielen Zeitmomente und Zeitspannen eine Rolle. Der Cliffhanger als Erzähltechnik besteht aus zwei Momenten: Cliffhangermoment und Aufhebungsmoment. Der Cliffhangermoment muss gleichzeitig eine Erzählunterbrechung sein; eine Erzählunterbrechung muss aber noch lange keinen Cliffhangermoment darstellen.88 Ein Cliffhangermoment muss irgendwann aufgehoben werden – nicht im Sinne einer auch der jeweiligen Interpretation unterliegenden inhaltlichen Spannungsauflösung, sondern im Sinne einer Erzählfortsetzung des jeweils unterbrochenen Handlungsstrangs. Vergeht Erzählzeit, in welcher der Erzählstrang des Cliffhangermoments nicht thematisiert wird, ist bis zum jeweiligen Aufhebungsmoment eine Interruptionsspanne vorhanden. Eine Arbeitsdefinition, die sich aus sämtlichen in den Theoriekapiteln besprochenen Punkten ergibt, lautet dementsprechend: Der Cliffhanger ist eine intendierte Erzählunterbrechung einer seriellen Fortsetzungsnarration an einem Moment, der den Rezipienten auf eine Fortsetzung gespannt macht. Der Cliffhanger besteht immer aus zwei diegetischen zeitlichen Komponenten: dem eigentlichen Cliffhangermoment und dem Aufhebungsmoment; hinzu kommt als nicht-diegetischer Bestandteil die Erzählpause.

88 Weil eine Erzählunterbrechung nicht unbedingt einen Cliffhanger bedeutet, wurde in Übersicht 5 Ebene B nur mit gestrichelten Linien mit Ebene A verbunden.

IV. 1001 Nacht – Der Ursprung des Cliffhangers? „Wie entsteht überhaupt Erzählen? Man könnte es sich, etwa für die Märchen-Serien, so vorstellen: Die Stammesgesellschaft sitzt um ein Lagerfeuer herum, verzehrt, was sie gerade gefangen hat, es wird etwas erzählt, und da wird man unterbrochen durch eine Gefahr, eine notwendige Arbeit. Man bricht auf und der Schluß wird erst beim nächsten Lagerfeuer erzählt. Wenn Sie frühe epische Werke nehmen (Odyssee, Ilias), das sind rhapsodische Gesänge, die natürlich nicht an einem Stück vorgetragen, und auch nicht gelesen, sondern mündlich vorgetragen wurden. Was Sie heute als Buch, als eine zusammenhängende, ungeteilte Darstellung vor sich haben, ist ursprünglich eine Serie gewesen, in Episoden erzählt, immer wieder variiert, immer wieder neu reproduziert. Ähnlich finden Sie eine solche Struktur fortsetzenden Erzählens auch in der Rahmenhandlung der 1001 Nacht. In ihr wird eine Erzählsituation, die es offenbar als eine orale Tradition gegeben hat, literarisiert und selbst thematisiert. So gesehen erscheint die Serie nicht nur unter verwertungsrelevanten Gesichtspunkten, die, wenn wir an die Massenmedien denken, immer eine dominierende Rolle spielen.“ HICKETHIER: „DISKUSSION: ETWAS AUFREGUNG UND ETWAS

ABREGUNG“. IN: GIESENFELD (HG.):

ENDLOSE GESCHICHTEN, 1994, S. 37.

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1. K ONTEXT 1.1 Einleitung: Warum 1001 Nacht? Knut Hickethier beschreibt, warum die serielle Narration und damit die Erzählunterbrechung existieren, seitdem erzählt wird. Für diese Behauptung gibt es mehrere produktionsästhetische und diegetische Hinweise.1 Diese Hinweise werden im Folgenden nur kurz, wie bei Hickethier ohne Beachtung eines medialen, kulturellen und historischen Kontextes genannt – eine Darlegung dieser Kontexte würde eine vermutlich sogar lebenslange Recherche und Suche und dazu noch auf alten und verwischten Spuren bedeuten, die nicht der Fokus dieser Studie sind. Es geht hier allein darum, allgemeine Anzeichen dafür zu sammeln, dass serielle Narration nicht erst seit der Moderne existiert, 1001 Nacht aber die beste Möglichkeit darstellt, eine frühe Erzählung, die höchstwahrscheinlich serieller Form war, zu analysieren. Erstens ist, wie bereits erwähnt, die ursprüngliche Wortbedeutung von ‚Rhapsodie‘ ein Kennzeichen für eine frühe Teilung und Zusammenfügung von Narration. Bereits die eigentliche Wortebedeutung von ‚Rhapsodie‘ als etwas „Zusammengenähtes“ macht auf eine mögliche frühe Serialität aufmerksam.2 Als zweiter Punkt ist zu bedenken, dass damalige Berufserzähler gute Gründe für eine Serialisierung ihrer Geschichten hatten: Ähnlich wie den Gestaltern des heutigen Fernsehprogramms oder den Herausgebern von Fortsetzungsromanen muss ihnen daran gelegen gewesen sein, ihr Publikum längere Zeit an sich zu binden. Wenn das mündliche Erzählen den Lebensunterhalt sichert, deckt die fesselnde serielle Erzählung längere Zeitspannen der eigenen materiellen Versorgung ab als die ganzheitliche. Einige alte Handschriften wie die von 1001 Nacht lassen vermuten, dass der Vortragende sogar im Textbild auf mögliche Unterteilungen aufmerksam gemacht wird.3

1

Hickethiers Aussage stammt aus einer Diskussion und wurde nachträglich aufgeschrieben. Das ist insofern von Relevanz, als dass sich in einem von Anfang an schriftlich konzipierten Text kein Wissenschaftler eine solch transhistorische und transkulturelle Aussage erlauben würde.

2

„Rhapsode, m [aus rháptein = zusammennähen, ódé = Gesang; die Bez. deutet auf die Fähigkeit hin, Gesänge improvisierend aneinander zu reihen] […].“ Burdorf u. a. (Hrsg.): Metzler-Lexikon Literatur, 2007, S. 651.

3

Siehe dazu Kapitel: IV. 4.1 „1001 Nacht als Stellvertreter oraler Literatur“, S. 162ff.

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Drittens sind Experimente aussagekräftig, bei denen höfische Romane vorgelesen wurden:4 Das Vorlesen der Texte dauerte viel zu lange, um (an in den Beispielen weniger als zehn Abenden) die Erzählung abzuschließen. Längere überlieferte Erzählungen, die aus einer oralen Erzähltradition stammen, müssen beim damaligen Vortrag unterteilt gewesen sein – egal ob sie nun antiker oder mittelalterlicher Erzähltradition entstammen. Mehrere Erzähleinheiten nimmt der Vortrag in Anspruch – der Erzählfluss muss unterbrochen worden, also serieller Natur gewesen sein. Vermutlich wurde so genannte orale Literatur eben nicht nur oral vorgetragen, sondern häufig auch theatral ausgeschmückt.5 Eine Aufführung aber nimmt gewöhnlich noch mehr Zeit in Anspruch als ein schlichter Vortrag – dementsprechend werden die Erzählabschnitte noch kleiner gewesen sein, eine Aufführung des ganzen Werks muss damit noch häufiger geteilt, noch serieller gewesen sein. Auf der diegetischen Ebene lassen sich bei einigen Texten ebenfalls Hinweise einer frühen Serialität erkennen. Zum einen lassen zahlreiche Texte „Bruchstellen“ erkennen: Dort wird der Erzählfluss gestoppt, es entsteht eine diegetische Unterbrechung.6 Zweitens handeln einige Texte von einer seriellen oralen Erzählsituation, sodass anzunehmen ist, dass die Texte die damalige serielle Erzählsituation in der Diegese widerspiegeln7 – wie es am deutlichsten bei 1001 Nacht geschieht. Es gibt also Hinweise für Serialität und Erzählunterbrechungen in verschiedenen Zeiten und Kulturen, bevor und während Texte skriptural aufgezeichnet wurden. 1001 Nacht ist jedoch das Werk, in dem die ‚Ansammlung‘ derartiger Hinweise am größten ist. Ein möglicher Anfangspunkt für die Erforschung serieller Literatur wäre auch Homers Odyssee. Diese Analyse würde aber eher zu Spuren früher Serialität führen als zum Cliffhanger. Auerbach beschreibt direkt zu Beginn des ersten Kapitels von

4

Siehe zum Beispiel: Mohr: „Fiktive und reale Darbietungszeit“. In: Harkort u. a. (Hg.): Volksüberlieferung, 1968, S. 517–529; Linke, Hansjürgen: Epische Strukturen in der Dichtung Hartmanns von Aue, 1968; Däumer: „Der Held an der Klippe“. In: Kapp u. a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 2010, S. 36–37.

5

„Beim Vortrag höfischer Romane geht es um eine Oralität, die auf Basis einer schriftlichen Vorlage performativ den Text zum Ereignis macht. Deshalb handelt es sich nicht mehr um einen Akt ritueller ‚Re-Präsentation‘, bei dem der Vortragende nicht zum Medium jenseitiger Entitäten, sondern zum Stellvertreter von Text, Dichter und Figuren wird.“ Däumer: Stimme im Raum und Bühne im Kopf, 2013, S. 26.

6

Siehe: Linke: Epische Strukturen in der Dichtung Hartmanns von Aue, 1968; Däumer: „Der Held an der Klippe“. In: Kapp u. a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 2010, S. 50; Däumer: Stimme im Raum und Bühne im Kopf, 2013, S. 450–494.

7

Ein Text, der ebenfalls wie 1001 Nacht aus einer oralen Erzähltradition stammt und eine Erzählsituation des unterbrochenen oralen Vortrags in der Diegese wiedergibt, ist zum Beispiel Das Papageienbuch, das im 12. Jh. niedergeschrieben wurde.

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Mimesis die Stelle in der Odyssee, an welcher der Held anhand einer Narbe wiedererkannt wird, und sodann eine längere Analepse dazu folgt, wie es in Odysseus’ Jugend zu der Narbe kam: „Der für einen modernen Leser naheliegende Gedanke, es sei hier auf Erhöhung der Spannung abgesehen, ist, wo nicht ganz falsch, so doch jedenfalls nicht entscheidend zur Erklärung des homerischen Verfahrens. Denn das Element der Spannung ist in den homerischen Gedichten nur sehr schwach; sie sind, in ihrem ganzen Stil, nicht darauf angelegt, den Leser oder Hörer in Atem zu halten. Dazu würde ja vor allem gehören, daß er durch das Mittel, welches ihn ‚spannen‘ soll, nicht ‚entspannt‘ wird – und gerade dies geschieht sehr oft […]. Zu einem Einschub, der retardierend die Spannung erhöht, gehört, daß er nicht die Gegenwart ganz ausfüllt, daß er nicht die Krise, auf deren Lösung mit Spannung gewartet werden soll, dem Bewußtsein entfremdet und so auch die ‚gespannte‘ Stimmung zerstört; die Krise und die Spannung müssen erhalten, müssen im Hintergrund bewußt bleiben.“8

Auerbach fährt fort, Schiller und Goethe setzten in ihrer Korrespondenz Homers Verfahren als Gegensatz zur Spannung.9 Die für eine Analyse des Cliffhangers essentiellen Bruch- und Spannungsstellen sind im vorliegenden ganzheitlichen Text der Odyssee kaum noch sichtbar. 1001 Nacht ist als Forschungsobjekt für die vorliegende Studie auch deshalb geeignet, weil das von Auerbach genannte Kriterium der Aufrechterhaltung von Krise und Spannung inhaltlich gegeben ist: Die Erzählerin Schahrasad befindet sich in ständiger Bedrohung durch den Tod. Vor allem aber wird vermutlich die produktionsästhetische, orale Erzählsituation auf die inhaltliche 8

Auerbach: Mimesis, 1982, S. 6.

9

Auerbach nennt die Briefe aus Goethes und Schillers Korrespondenz vom 19., 21. und 22. April 1797. Siehe v.a.: „Die bloße, aus dem Innersten herausgeholte Wahrheit ist der Zweck des epischen Dichters: er schildert uns bloß das ruhige Dasein und Wirken der Dinge nach ihren Naturen, sein Zweck liegt schon in jedem Punkt seiner Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig zu einem Ziele, sondern verweilen uns mit Liebe bei jedem Schritte.“ (Goethe an Schiller 21. April 1797) Schiller u. a.: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe: 1794-1805, 1856, S. 34. „Ich suchte das Gesetz der Retardation unter ein höheres unterzuordnen, und da scheint es unter dem zu stehen, welches gebietet: daß man von einem guten Gedicht den Ausgang wissen könne, ja wissen müsse, und daß eigentlich das Wie bloß das Interesse machen dürfe. Dadurch erhält die Neugierde gar keinen Anteil an einem solchen Werke, und sein Zweck kann, wie Sie sagen, in jedem Punkte seiner Bewegung liegen.“ (Schiller an Goethe 22. April 1797). Ebd., S. 34–35. Sicherlich steht an dieser Stelle der Odyssee mehr der analeptische Einschub im Vordergrund. Jedoch macht sie – sowie Auerbachs, Schillers und Goethes Überlegungen dazu – bereits deutlich, dass zumindest im ganzheitlichen Text keine deutlichen Spannungs- und Bruchstellen mehr vorhanden sind.

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Ebene gespiegelt und die Erzählunterbrechung zeigt sich anhand der inhaltlichen und strukturellen Anlage des Werks – wie Hickethier bereits erwähnt. Der Stoff der Geschichten aus 1001 Nacht entsteht vor dem 5. Jahrhundert,10 vor allem die Rahmenhandlung inklusive des Aufschubs durch Erzählen und der Unterbrechungen11 – die zu analysierenden Erzählunterbrechungen in der Diegese sind somit verbürgt als von Beginn an dem Werk zugehörig.12 Die Struktur der Erzählunterbrechungen kann als fester Bestandteil der ältesten Versionen des Werks untersucht werden.

10 Vgl. Sallis: Sheherazade through the Looking Glass, 1999, S. 2. 11 Vgl. Grotzfeld: Die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, 1984, S. 5. Emmanuel Cosquin hat 1909 dem Prolog eine längere Untersuchung gewidmet, die weitestgehend ihre Gültigkeit behalten hat. In seiner Untersuchung splittet er [sic] den Prolog in drei Teile. Obwohl die drei Prologteile mit eigenen Geschichten und Quellenbezügen aufwarten, ist allen Prologteilen eine Konstante gemein: „In einigen [Geschichten der jeweiligen Prologteile] ist die Story auf das Grundthema reduziert: Aufschub von irgend etwas durch Erzählen. Die indische Herkunft der drei Prologteile wie auch des Strukturprinzips ‚Rahmen + Geschichten‘ ist nicht in Zweifel zu ziehen.“ Ebd., S. 52. Wenn der Prolog sowie der Rahmen + die Geschichten ursprünglich vorhanden waren, gab es ebenfalls die diegetischen Erzählunterbrechungen von Beginn an, da der „Aufschub von irgend etwas durch Erzählen“ und das Hin- und Herspringen zwischen „Rahmen + Geschichten“ am einfachsten und somit höchstwahrscheinlich von Anfang an durch diegetische Erzählunterbrechungen herbeigeführt wurde. Auch wenn der Rahmen + die Geschichten, also die grobe Struktur des Werks sehr früh schon verbürgt ist, liefert der älteste erhaltene Beleg für den Titel 1001 Nacht keinen Beweis für Erzählunterbrechungen. Allein Titelseite („Ein Buch mit [den] Geschichten der Tausend Nächte“, mindestens bis 879 zurückreichend) und ein Textblatt sind erhalten. Sie geben wenig Auskunft darüber, ob die Erzählunterbrechungen im weiteren Verlauf des Buches ebenso wichtig und prominent eingesetzt wurden wie in späteren Versionen. Auf der erhaltenen Textseite bittet die Erzählerin nicht um Fortsetzung oder Abschluss der am vorausgegangen Morgen abgebrochenen Geschichte wie es in späteren Versionen der Fall ist, sondern sie fragt um Erlaubnis, eine neue, bereits versprochene Geschichte vortragen zu dürfen. Vgl.: ebd., S. 13. 12 Eine Variante des einen Prologteils aus 1001 Nacht ist die Geschichte um den in seiner Ehe betrogenen Herrscher, der sich von diesem Betrug erholt. Diese Geschichte wurde bereits als Teil des buddhistischen Schriftenkanons Tripitaka 251 n. Chr. aus dem Indischen ins Chinesische übersetzt. „Wichtig ist hierbei, daß diese Variante nicht nur mit dem ersten Prologteil von 1001 Nacht im Grundmotiv übereinstimmt, sondern in noch weit mehr Details mit in Arabisch überlieferten wiederum anderen Varianten der Geschichte, die somit nicht als Nachahmungen oder Umgestaltungen des ersten Prologteils gelten können, sondern auf eigenen Wegen in die arabische Welt gelangt sein müssen.“ Ebd., S. 51.

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Jedoch ist 1001 Nacht nur bedingt als serielle Narration analysierbar: Die Erzählunterbrechungen, wie sie im vorherigen Kapitel als Unterbrechungen der Rezeption definiert wurden, finden bei 1001 Nacht nicht (mehr) statt – uns liegt nicht das serielle Werk vor, sondern das ganzheitliche. Die Erzählunterbrechungen sind ausschließlich diegetischer Natur, es sind also ‚nur‘ Unterbrechungsmomente: Die fiktive Erzählerin Schahrasad unterbricht ihre Binnenerzählungen. Allein der Sultan Schahriyar als ihr Rezipient erlebt jeweils eine Erzählunterbrechung, eine Erzählpause und eine Erzählfortsetzung; der reale Rezipient erhält nur den Bericht über diese drei zeitlichen Bestandteile serieller Narration, während seine Lektüre in frei gewähltem Tempo und Rhythmus fortschreiten kann. Die Erzählunterbrechungen in 1001 Nacht sind also dargestellte Erzählunterbrechungen, die Teil einer wiedergegebenen Erzählsituation sind. Diese ‚innerdiegetische Serialität‘ ist verbürgt als von Anfang an dem Werk zugehörig ‒ es muss einem aber bewusst sein, dass es nur eine ‚innerdiegetische Serialität‘ ist, die höchstwahrscheinlich Spuren einer Werkteilung in sich trägt. Seit dem 18. Jahrhundert ist 1001 Nacht topoi-prägend für ein romantisches Orientbild.13 Ein ursprüngliches und einziges Werk 1001 Nacht gibt es aber nicht: Immer noch ist wenig bekannt, dass es viele verschiedene Überlieferungen dieser Geschichtensammlung gibt, die von der Herkunft her sowie kulturell, sprachlich und inhaltlich stark divergieren. Die Vielzahl an Versionen erschwert die Analyse der Unterbrechungsmomente: Nachdem geklärt wurde, ob die Unterbrechungsmoment wirklich als diegetische Cliffhanger14 zu bezeichnen sind, muss überprüft werden, ob sie auch in der ältesten Version vorhanden sind oder sich eher in der langen Überlieferungsund Übersetzungsgeschichte in das Werk ‚eingeschlichen‘ haben. Inwiefern die Unterbrechungsmomente in allen Versionen von 1001 Nacht vorkommen beziehungsweise hervorgehoben werden, würde eine eigenständige Forschungsarbeit erfordern. Zumindest drei bedeutende 1001 Nacht-Texte sollen stellvertretend verglichen werden: Zum einen die älteste erhaltene Handschrift von 1001

13 Anfangs wurden die Beschreibungen und Geschichten in den Übersetzungen von 1001 Nacht sogar als authentische Wiedergabe orientalischer Lebensweise angesehen: „During the eighteenth century, the stories in the Nights were thought to reflect the society and culture of the Arab and Muslim peoples.“ Mahdi: The Thousand and One Nights (Band1), 1994, S. 1. Vgl. Fröhlich: 1001, 2011, S. 35. 14 Die diegetischen Cliffhanger in 1001 Nacht überhaupt als ‚Cliffhanger‘ zu bezeichnen, ist an sich nicht ganz korrekt, da sie ja, wie bereits beschrieben, innerhalb des Werks sind, der Rezipient sie also selbst auflösen kann. Im Folgenden wird trotzdem von ‚diegetischen Cliffhangern‘ gesprochen, weil analysiert wird, wie die Cliffhanger auf den Rezipienten Schahriyar wirken und in der Annahme, dass die Unterbrechungsmomente früher einmal tatsächliche Erzählunterbrechungen waren.

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Nacht, die um 1450 geschrieben wurde.15 Grundlegende und wichtigste Frage ist, ob die diegetischen Cliffhanger schon Teil der ältesten erhaltenen Handschrift sind. Diese unvollständige Handschrift, die in der 282. Nacht endet,16 ist als die „GallandHandschrift“ bekannt, weil sie im Besitz des französischen Orientalisten Antoine Galland war. Er überträgt sie 1704 ins höfische Französisch – so werden die Geschichten von 1001 Nacht in Europa bekannt.17 Gallands Werk ist tatsächlich als „Übertragung“ zu bezeichnen: Er passt die Sprache dem damaligen Französisch an, zensiert, lässt die zahlreichen Gedichte der Vorlage weg und füllt vor allem die fehlenden Nächte mit anderen Geschichten und Geschichtensammlungen auf.18 Gallands Übertragung darf bei einem Übersetzungsvergleich nicht fehlen, denn sie ist die Grundlage zahlreicher weiterer Übersetzungen und Anfangspunkt des westlichen Ruhms von 1001 Nacht. Die folgenden englischsprachigen Übertragungen von Edward William Lane (1839–41) und Richard Burton (1882–84) oder die in Deutschland lange Zeit maßgeblichen von Felix Paul-Greve (1907) und Enno Littmann (1921–28) haben ähnliche Schwächen wie die von Galland: Es sind unterschiedliche Kombinationen von Handschriften, Übersetzungen und Geschichten-Sammlungen, ebenfalls der jeweiligen Sprachmode angepasst und europäisiert.19 Auf alle diese Übersetzungen kann hier nicht eingegangen werden ‒ der Übersetzungsvergleich konzentriert sich auf einen Vergleich zwischen der ältesten erhaltenen Handschrift in arabischer Sprache, der französischen Übersetzung von Galland (ab 1704), und der deutschen von Claudia Ott (2005). Diese drei werden ausgewählt. Erstens um zu schauen, ob die diegetischen Cliffhanger bereits in der ältesten Handschrift vorhanden sind; zweitens, ob Galland sie ebenfalls als diegetische Cliffhanger übersetzt hat oder inwiefern er sie verändert; und drittens, wie Claudia Ott mit den Cliffhanger verfährt, deren Übersetzung behauptet, „nach der ältesten arabischen Handschrift“ zu sein, „erstmals ins Deutsche übertragen“.20 15 Vgl. Grotzfeld: Die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, 1984, S. 26–27. 16 Hinzugefügt werden muss, dass unter anderem Zotenberg und Grotzfeld der Meinung sind, dass die 281. und 282. Nacht später hinzugefügt wurden, da sie in einer anderen Handschrift geschrieben sind. Vgl. ebd., S. 26. 17 Vgl. Sallis: „Alf laylah wa laylah“. In: Cooperson (Hg.): Arabic Literary Culture, 2005, S. 56. 18 Berühmte Geschichten wie Ali Baba und die vierzig Räuber, Der Kaufmann von Bagdad, das Zauberpferd und Prinz Ahmed stammen nicht aus der Galland-Handschrift, sondern aus anderen Geschichtssammlungen. Vgl. Walther: Tausendundeine Nacht, S. 8. 19 Die meisten 1001 Nacht-Übersetzer übernahmen zumindest Teile aus der Galland-Handschrift oder aus Gallands Übertragung. Felix Paul Greve zum Beispiel übersetzte Burtons englische Übersetzung ins Deutsche und fügte einige Geschichten aus Gallands Übertragung hinzu. Vgl. Osigus (Hg.): Dreihundert Jahre 1001 Nacht in Europa, 2005, S. 26. 20 Titelblatt von Otts Übersetzung: Tausendundeine Nacht, 2004.

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1.2 Der Inhalt der Rahmenhandlung von 1001 Nacht Der Sultan Schahriyar ist vom gesamten weiblichen Geschlecht bitter und tief enttäuscht, weil seine Ehefrau ihn betrogen hat. Nach ihrer Ermordung beschließt er, sich jede Nacht eine neue Jungfrau zu nehmen und sie bei Morgengrauen umbringen zu lassen – auf diese Weise schließt er aus, dass ihn je wieder eine Frau hintergehen kann. Schahrasad, die Tochter des Wesirs, ist hoch gebildet, klug und belesen. Mit dem Ziel, das durch die Morde an den jungen Mädchen vom Aussterben bedrohte Reich zu retten, lässt sie sich vom Sultan zur Frau nehmen, um ihn mit Geschichten so in ihren Bann zu ziehen, dass er sie nicht töten lässt. Schahrasads Plan gelingt – vor allem, weil sie eine souveräne Erzählerin ist, die ihr Metier beherrscht, Auflösungen verzögert und eine komplexe Erzählstruktur benutzt, in die sie den diegetischen Rezipienten Schahriyar einwebt.21 Die zyklische Schachtelrahmenerzählung von 1001 Nacht ermöglicht ihr diese Erzählweise:22 Sie erzählt Geschichten, in die weitere und wieder weitere Geschichten eingebettet sind. Binnenerzählungen zweiter und dritter Ordnung sind essentieller Teil ihrer Strategie. Vor allem aber beendet Schahrasad eine Erzählung niemals am Ende der Nacht, sondern das Morgengrauen kommt ihr zuvor. Der Sultan, neugierig, wie das Ende der Geschichte sein möge, lässt Schahrasad leben, weil er mit dem Tod dieser Frau auch den Abschluss der Geschichten ‚töten‘ würde, also nie erführe, wie die vielen ineinander verschachtelten Geschichten enden. Stets werden die Nächte von formelhaft wiederholten Sätzen ein- und ausgeleitet. Erzählsituation und Erzählanlass der Binnenerzählungen werden dem Zuhörer beziehungsweise Leser dadurch immer wieder bewusst gemacht. Bereits diese inhaltliche Komponente zeichnet 1001 Nacht als frühen und ausgezeichneten Vertreter der Erzählunterbrechung und des Cliffhangers aus, da die erwähnte Phasenverschiebung – eher eine Klimax als einen Abschluss an das Ende einer Nacht zu legen – wichtigster, weil lebenserhaltender Teil von Schahrasads Erzählstrategie ist. Vier diegetische Er-

21 Dass Schahrasads Plan gelingt und ihre Erzählkunst den Sultan fesselt, haben alle Fassungen von 1001 Nacht gemein. Auch wenn die älteste erhaltene Version der Geschichten kein Ende besitzt, ist in allen Versionen ersichtlich, dass Schahrasads Strategie funktioniert. 22 1001 Nacht ist mit drei Strukturmerkmalen ausgestattet. Zum einen finden wir einen Rahmenzyklus vor: Die Geschichte von König Schahriyar und Schahrasad dient als Hintergrund für jede der Erzählungen. Vgl. Mielke: Zyklisch-serielle Narration, 2006, S. 9. Zum anderen reiht sich eine Binnenerzählung an die nächste. Somit trägt 1001 Nacht das Merkmal der zyklischen Rahmenerzählung. Vgl. Jäggi: Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert, 1994, S. 90. Drittens sind in die sich aneinanderreihenden Binnenerzählungen weitere Geschichten eingebettet. Vgl. ebd., S. 86.

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zählunterbrechungen samt ihrer Aufhebungsmomente und Auflösungen in der nächsten Nacht sollen im Folgenden exemplarisch die Bandbreite der Gestaltungsarten von Nacht-Enden aufzeigen.

2.

D IE U NTERBRECHUNGSMOMENTE

2.1

Deskription

2.1.1 Die 16. Nacht23 Schahrasad erzählt eine Geschichte von einem Fischer und einem Ifrit. Der Fischer will den Ifrit dafür bestrafen, dass dieser die Möglichkeit hat nutzen wollen, den Fischer zu töten, und erzählt ihm die Geschichte „König Yunan und der Arzt Duban“: Der König Yunan bezichtigt den Arzt Duban der Spionage und will ihm deshalb den Kopf abschlagen lassen. Der Arzt ist jedoch unschuldig, Opfer einer Intrige, da er um seine Nähe zum König beneidet wird. Trotz seiner Beteuerungen, er sei zu Unrecht angeklagt, der König möge ihn verschonen, will dieser nicht das Todesurteil zurücknehmen. Nur noch eine kurze Gnadenfrist gewährt er dem Arzt Duban zum Tilgen der Schulden und Einlösen der Verpflichtungen. Bei seiner Rückkehr an den Hof überreicht Duban dem König ein Buch und erklärt, wenn der König den abgeschlagenen Kopf des Arztes auf die Seiten des Buches lege, dieser Kopf des Königs Gedanken aussprechen werde. Neugierig geworden durch das angekündigte Wunder lässt der König den Arzt sofort enthaupten:

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„Das Blut hörte auf zu sprudeln, und der Arzt Duban schlug die Augen auf und redete zum König. ‚O König‘, sagte er, ‚jetzt öffne das Buch!‘ Der König wollte es öffnen, fand aber, dass die Blätter aneinanderhafteten. Also steckte er seinen Finger in den Mund, befeuchtete ihn mit seinem Speichel und

23 Bereits in der ersten Nacht verwendet Schahrasad einen Cliffhanger. „‚Gibt es denn gar keinen Ausweg?‘ – ‚Nein, es gibt keinen Ausweg‘, sagte der Dschinni. Und er zog sein Schwert, um zuzuschlagen.“ Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 33. (In der Transkription der Galland-Handschrift S. 35.) Inhaltlich ist dieser Cliffhanger unbedingt erforderlich, weil der Rezipient Schahriyar erst in den Text eingewoben werden muss und von seinem Vorhaben abgebracht, Schahrasad umzubringen. Ich habe aber andere Nächte für meine Analyse gewählt, weil sie bestimmte, im Folgenden erklärte Cliffhanger-Typen am besten demonstrieren und die Aufhebungsmomente dieser gewählten Cliffhanger am charakteristischen sind.

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blätterte die erste Seite auf. Genauso verfuhr er mit den restlichen Blättern, die sich alle

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nur mühsam aufschlagen ließen. Schließlich

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hatte er sieben Blätter geöffnet. Er schaute hinein, konnte aber keine Schrift finden. ‚Verehrter Doktor‘, sagte er, ‚ich kann nichts Geschriebenes finden.‘ – ‚Blättere weiter‘, antwortete dieser. Doch soviel er auch blätterte, er fand nichts. Der König blätterte so lange, bis ihn das Gift völlig durchdrungen hatte, denn das Buch war vergiftet. Er begann zu schwanken und zu wanken.

3

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Da erreichte das Morgengrauen Schahrasad, und sie hörte auf zu erzählen. ‚Ach, Schwester‘, seufzte ihre Schwester Dinarasad, ‚wie köstlich und wie spannend ist deine Geschichte!‘ – ‚Was ist das schon‘, erwiderte Schahrasad, ‚gegen das, was ich euch morgen nacht erzählen werde, wenn ich dann noch lebe und er mich bis dahin verschont…‘“25

2.1.2 Die 17. und 18. Nacht Die Fortsetzung der Geschichte beginnt unmittelbar nach den einleitenden Sätzen: Mit einem Gedicht prangert der Arzt die Herrschaftswillkür an, dann endet die Nacht mit den folgenden Sätzen:

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9 ‫ ا‬8‫ ا‬37 ‫ ا‬.8‫ ا ا‬3 ,

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„Kaum hatte der Kopf des Arztes zu Ende

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gesprochen, fiel der König leblos zu Boden. Gleich darauf starb auch der Kopf. Du sollst darum wissen, Ifrit – Da erreichte das Morgengrauen Schahrasad, und sie hörte auf zu erzählen.“27

24 Ebd., S. 104. 25 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 71–72. 26 Kitāb alf laila wa-laila (Band2), transkribiert von Mahdī, 1984, S. 105. 27 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 73.

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In der darauffolgenden 18. Nacht wird der Satz an den Ifrit nicht mittendrin, sondern am Anfang wieder aufgenommen und leicht verändert fortgesetzt:

3 % ' &‫ا ا‬ ‫! ا ا‬ ‫ا ه اﷲ‬ ‫ا‬ ‫ا ا‬ ‫ ا‬3‫ا‬ % ‫اﷲ‬ )‫ا < ﺀا‬ ‫ا‬3 > ‫ا‬ ‫ ا‬3 %‫ا‬ ‫ھه‬ ‫ا‬ )‫ ا‬3 ‫ا‬ 28 ‫ ھاا‬% ‫ا‬ ‫ا‬

„Es ist mir zu Ohren gekommen, o König, daß der Fischer zu dem Ifrit sagte: ‚Hätte der König den Arzt leben lassen, dann wäre auch er am Leben geblieben, und Gott hätte ihn verschont. Aber er hat davon nichts wissen wollen und darauf bestanden, ihn zu töten. Darum hat ihn Gott, der Erhabene, getötet. Genauso steht es mit dir, Ifrit. Hättest du mich anfangs verschont, dann würde auch ich dich nun verschonen. Aber du hast nichts davon wissen wollen und darauf bestanden, mich zu töten. Darum töte ich dich, indem ich dich in diese Flasche sperre und auf den Grund dieses Meeres hinunterwerfe!‘“29

2.1.3 Die 25. und 26. Nacht Als drittes Beispiel wähle ich das Ende der 25. Nacht: Die Kusine und Ehefrau hat ihren Vetter und Mann verhext zu einem Wesen, halb Stein halb Mensch, und foltert ihn täglich, weil dieser ihren Liebhaber zum Krüppel geschlagen hat. Ihr verhexter Mann hat diese ganze Geschichte einem vorbeiziehenden König erzählt, der ihn nun retten und rächen will. Dazu hat er den zum Krüppel geschlagenen Liebhaber umgebracht und sich an seiner statt hingelegt, wo er nun gerade die täglich sich wiederholende Folterszene beobachtet, wie die Kusine ihren verhexten Mann und Vetter quält:

‫ﻧ‬C‫ ﻣ ا ﻣ‬3‫ ب اواه ﻧ‬A ‫? ' ا‬ C ‫اﻧ‬ ‫ﻧ‬CE C ‫ﻧ‬CDC7 ‫ ﻣ‬3‫ﻧ‬ 3 3 . ‫ﻧ‬C‫ ﺀ ا ﻣ‬F? ‫ﺀ ا‬92 ‫ا‬ 30 3 ‫ا‬ ‫ر ﻣ‬ -%

„‚Auweh!‘ stöhnte der Jüngling. ‚Hab Erbarmen, liebe Kusine! Laß ab von mir! Es reicht schon, was ich bis jetzt an Unglück und Plagen ertragen mußte. Hab doch Erbarmen!‘ – ‚Du hättest Erbarmen haben und mir meinen Geliebten lassen sollen!‘ widersprach sie.“31

28 Kitāb alf laila wa-laila (Band2), transkribiert von Mahdī, 1984, S. 106. 29 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 73. 30 Kitāb alf laila wa-laila (Band2), transkribiert von Mahdī, 1984, S. 122. 31 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 93.

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Als Leser wissen wir nicht, wie diese brenzlige Situation ausgehen wird: Das „Du hättest Erbarmen haben sollen“ ( ‫ ر ﻣ‬3 3 ) liest sich wie eine unheilvolle, die Spannung steigernde Drohung, da offen bleibt, ob der König die Grausamkeiten wirklich beenden kann oder aber die Hexe ihn entdeckt, beide foltert oder ihren Mann noch stärkeren Qualen aussetzt. In der folgenden Nacht beginnt die Erzählung mit den Worten:

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„Es ist mir zu Ohren gekommen, o König, daß die Zauberin, nachdem sie ihren

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Vetter mit der Peitsche geschlagen und gezüchtigt hatte, so lange, bis ihr Rachedurst für dieses Mal gestillt war und ihm das Blut von den Seiten und Schultern floß, ihm den groben, härenen Sack überzog und darüber die feinen Gewänder.“33

Seit dem Unterbrechungsmoment ist also etwas erzählte Zeit verstrichen, was auch mit dem Zeitwort „nachdem“ ( ) signalisiert wird. Die Zeit wird nur kurz zusammengefasst, es handelt sich also um einen elliptischen Interruptionspunkt mittlerer Spannbreite: Erst im Laufe der Nacht wird die Situation teilweise aufgelöst. 2.1.4 Die 32. und 33. Nacht Als viertes Beispiel wähle ich die 32. Nacht und konzentriere mich bei der Analyse allein auf den letzten Satz:

34

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„‚Und ihr‘, ergriff der Träger das Wort, ‚habt ihr nicht irgend etwas Besonderes zu bieten, das ihr uns vorführen könnt?‘“35

Direkt zu Beginn der nächsten Nacht beantwortet die Erzählerin die Frage, indem sie davon berichtet, dass die Befragten sogleich zu ihren Musikinstrumenten greifen, um so dem Fragenden etwas Außergewöhnliches zu bieten.

32 Kitāb alf laila wa-laila (Band2), transkribiert von Mahdī, 1984, S. 123. 33 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 93. 34 Kitāb alf laila wa-laila (Band2), transkribiert von Mahdī, 1984, S. 105. 35 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 113.

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2.2

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Übersetzungsvergleich

„Nach unseren heutigen Analysekriterien arbeitet Sheherazade mit der Technik des cliff-hangers“,36 stellt Günter Giesenfeld fest, um direkt in der Fußnote einschränkend hinzuzufügen: „So stark auf cliff-hanger ausgerichtet war zugegebenerweise die Geschichte aus den tausend und einen Nächten in ihrer Originalform nicht. Ich beziehe mich auf die Übersetzung von Galland, die erste europäische Fassung überhaupt in französischer Sprache, in er [sic] dieses cliffhanger-Prinzip gegenüber dem Original stark ausgebaut wurde. [...] In meiner Argumentation erscheint der Text also nicht als Zeugnis eines orientalischen Kulturkreises, sondern in der Form, in der er im europäischen Kulturraum seine Hauptwirkung ausgeübt hat.“37

Die Frage lautet, ob Giesenfelds Einschränkung zutrifft. Leider beschreibt Giesenfeld nicht, auf welche Stellen er sich in der „Originalform“38 und der Übersetzung Gallands bezieht. Ein kurzer Vergleich zwischen der ältesten erhaltenen Handschrift von 1001 Nacht, also der Galland-Handschrift in der Transkription von Muhsin Mahdi und zwei wichtigen Übersetzungen – von Galland und Ott – soll zumindest für die bereits ausgewählten vier Unterbrechungsmomente klarstellen, ob und, wenn ja, welche Unterschiede es zwischen den Versionen im Gebrauch der Unterbrechung gibt. 2.2.1 Die 16. Nacht Mushin Mahdi hat 1984 die noch immer maßgebliche Transkription der GallandHandschrift angefertigt, die hier zitiert wird. In der Galland-Handschrift ist – wie zur damaligen Zeit üblich – keinerlei Zeichensetzung im Arabischen vorhanden.39 Mahdi hat keine Vokalisierung, sehr wohl aber eine uneinheitliche Zeichensetzung eingefügt, die das Lesen durch die Strukturierung der Sätze erleichtert. Jedoch hat Mahdi 36 Giesenfeld: „Serialität als Erzählstrategie in der Literatur“. In: Ders. (Hg.): Endlose Geschichten, 1994, S. 6. 37 Ebd., S. 6–7. 38 Überhaupt ist hier zu fragen, was Giesenfeld mit „Originalform“ meint bzw., ob es so etwas von 1001 Nacht überhaupt gibt – meines Erachtens nicht, da ja selbst die Galland-Handschrift unvollständig und nicht ‚original‘ ist. Siehe: Grotzfeld: Die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, 1984, S. 24–37. 39 Ich zitiere den arabischen Text der Transkription von Muhsin Mahdis aus dem Jahr 1984. Die Original-Galland-Handschrift ist seit 2011 online verfügbar. Auf dem digitalen Buchportal der Bibliothèque nationale de France (BnF) – genannt „gallica“ – findet sich die komplette Handschrift. Die analysierten Stellen wurden kurz im Original mit der Transkription Mahdis verglichen. Außer der von Mahdi teilweise hinzugefügten Zeichensetzung konnte ich bei den hier zitierten Stellen keine Unterschiede feststellen.

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nur da Zeichensetzung benutzt, wo es unbedingt notwendig ist. Nie beendet er zum Beispiel den letzten Satz einer Nacht mit einem Punkt. Aber auch ohne Zeichensetzung ist der Hinweis auf die Unterbrechung des Erzählflusses klar feststellbar.

‫ح و ج و ل‬$ $ ‫ ھ‬% 40 Ott übersetzt diesen Satz mit: „Er begann zu schwanken und zu wanken.“41 Noch näher an der Vorlage wäre: ‚Und da(bei) rührte/bewegte er sich und wogte und neigte sich‘. In der Handschrift sind die zwei Wörter „beginnen, etwas zu tun“ ('% ‫) ا‬ nicht vorhanden, die Ott in der deutschen Übersetzung einfügt ‒ vermutlich, um auf diese Weise die Jinas/Tajnis42 der Handschrift als Fortführung des Satzes mit „zu schwanken und zu wanken“ wiedergeben zu können. Mit dem zugefügten „beginnen“ erhält die Unterbrechung etwas mehr Gewicht als in der Handschrift, weil direkt nach dem „beginnen“ die Erzählung vorerst von Schahrasad beendet wird. Dennoch ist auch in der Handschrift erkennbar, dass der Anfang der Bewegung des Königs durch die abrupte Unterbrechung des Erzählflusses aufgehalten wird. Zumal in beiden Versionen der Unterbrechungsmoment an einem äußerst spannenden Punkt gesetzt ist: Der König ist von Gift durchdrungen. Aber als Leser weiß man noch nicht, ob es ihm den Tod bringen wird. Ganz anders handhabt Galland die Unterbrechungen in seiner Übersetzung. Er beendet die Nächte zwar häufig mit Fortführungszeichen – wie zum Beispiel in der 18. Nacht –, ansonsten aber sträubt er sich gegen unfertige Sätze und zu deutliche Unterbrechungen. Gallands Übersetzung der 16. Nacht wirkt wesentlich abschließender als in der Vorlage: „Le roi continua dʼen tourner, en portant toujours le doigt à sa bouche, jusquʼà ce que le poison dont chaque feuillet était imbu, venant à faire son effet, ce prince se sentit tout-à-coup agité dʼun transport extraordinaire; sa vue se troubla, et il se laissa tomber au pied de son trône avec de grandes convulsions.“43

Galland lässt die Erzählung dieser Nacht erst an dieser Stelle enden und vermindert die Spannung, indem er den König nicht nur „schwanken und wanken“, sondern ihn zu Füßen seines Throns zu Boden stürzen lässt, durchzuckt von starken Konvulsionen 40 Kitāb alf laila wa-laila (Band2), transkribiert von Mahdī, 1984, S. 104, Z.78f. 41 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 71–72. 42 Im Arabischen wird mit ‚Jinas/Tajnis‘ die Verwendung von fast ähnlich klingenden Worten mit unterschiedlichen Bedeutungen bezeichnet (in der Rhetorik als Paranomasie bezeichnet). Siehe: Meisami: Structure and Meaning in Medieval Arabic and Persian Poetry, 2003, S. 306. Außerdem: Mitchel: „Persian Rhetorik in the Safavid Context“. In: Spooner u. a. (Hg.): Literacy in the Persianate World, 2012, S. 196–230. 43 Galland: Les mille et une nuits, 1846, S. 56.

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– ein eigenwilliges Weiterführen des Satzes. Galland beraubt seinen Leser der Möglichkeit, den in der arabischen Vorlage angefangenen Satz „Er begann zu schwanken und zu wanken“ im Geiste weiterzuführen, und er gibt stattdessen das Resultat direkt preis. Der König lässt sich am Fuße seines Throns zu Boden fallen: Ein eindeutiges Bild dafür, dass der Arzt den König ‚besiegt‘ hat. An dieser Stelle kann man nicht feststellen, Galland habe das „cliff-hanger-Prinzip“ ausgebaut, wie Giesenfeld behauptet – im Gegenteil: Der Effekt wurde durch die Weiterführung des Satzes geschmälert. Im Grunde genommen könnte man Gallands Unterbrechungsmoment auch als Abschluss der gesamten Binnenerzählung lesen: Der König sinkt, von Gift durchdrungen, am Fuße seines Throns zu Boden. Gallands Übersetzung des NachtEndes könnte man dann folgendermaßen ‚fortspinnen‘: Schahriyar, narrativ befriedigt, gleichzeitig jedoch enttäuscht von diesem Abschluss der Erzählung – die Hauptperson, ein Herrscher wie er selbst, stirbt – lässt daraufhin Schahrasad köpfen und nimmt sich in der folgenden Nacht die nächste Jungfrau. 2.2.2 Die 17. Nacht

‫ت‬C E% ‫ا‬

_‫ا‬

44

Otts „Du sollst darum wissen, Ifrit -“ könnte man noch verkürzen: ‚Drum wisse, Ifrit‘. Wie bereits erklärt, sind alle Interpunktionen Hinzufügungen, somit auch der Gedankenstrich. Aber ansonsten lässt Ott den Satz genauso elliptisch wie in der Vorlage, die ebenfalls mit ‫ت‬C‫ر‬E% ‫‚( ا‬der Ifrit‘) endet. Auch ohne eine Zeichensetzung beim letzten Satz wird anhand der Handschrift deutlich, dass dieser letzte Satz der 17. Nacht nicht zu Ende geführt ist: Das Objekt fehlt. Was der Ifrit wissen soll, bleibt offen. Galland verfährt diesmal anders, indem er dem Ende beziehungsweise dem Satz nichts hinzufügt, nichts vervollständigt, sondern kürzt: „La tête eut à peine achevé ces paroles, que le roi tomba mort, et qu’elle perdit elle-même aussi le peu de vie qui lui restait. Sire, poursuivit Scheherazade, telle fut la fin du roi grec et du médecin Douban.“45 Galland lässt den Teilsatz weg, der von der Binnenerzählung zweiter Ordnung zu der sie umrahmenden Binnenerzählung zurückführt. Dies hat zur Folge, dass bei Galland das Ende dieser Geschichte mit dem Ende der Nacht zusammenfällt. Gallands Übertragung widerspricht damit ‒ wie in der vorherigen Nacht ebenfalls aufgezeigt ‒ dem Plan Schahrasads, da sie als Erzählerin Schahriyar so keinen eindeutigen Anreiz zu weiterem Zuhören bietet. Zwar lockt Schahrasad den König in Gallands Version ein wenig mit einer in der nächsten Nacht folgenden Erklärung der Geschichte, aber von Unterbrechung oder gar von einem Cliffhanger kann in Gallands Übersetzung nicht die Rede sein. 44 Kitāb alf laila wa-laila (Band2), transkribiert von Mahdī, 1984, S. 105, Z.10. 45 Galland: Les mille et une nuits, 1846, S. 37.

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2.2.3 Die 25. Nacht

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3 ‫ا‬

‫ ر ﻣ‬3

3

46

Wörtlich übersetzt hieße es: ‚Sie sagte: du hättest Erbarmen mit mir haben und für mich meinen Geliebten lassen sollen‘. Aber auch dieses Mal ist Otts Übersetzung „‚Du hättest Erbarmen haben und mir meinen Geliebten lassen sollen!‘ widersprach sie“47 sehr nah an der Vorlage. Ott verdeutlicht, wer spricht, beziehungsweise interpretiert das 3 (‚sie sprach‘) zu einem „widersprach sie“, was bei dem arabischen Wort ' (‚sprechen‘) mit seiner breiten Semantik nicht unüblich ist (nur gelegentlich wird ' mittels eines zweiten Verbs präzisiert). Galland unterstützt hier den Eindruck einer Fortführung und bleibt nah an der Vorlage, wenn er übersetzt: „Tu nʼas pas eu compasssion de mon amant, lui disaitelle, tu nʼen dois point attendre de moi...“.48 Galland fügt aber Fortführungsstriche statt eines Ausrufezeichens hinzu und verdeutlicht damit den Eindruck der Unterbrechung beziehungsweise späteren Fortführung. Galland zieht das „lui disait-elle“ in die Mitte des Satzes und kann somit mit den Fortführungsstrichen enden – der Satz wirkt wie eine Drohung, auf die womöglich noch etwas Grausameres in der Fortsetzung der Geschichte folgen könnte. Ott hingegen beschließt ihren Satz mit „widersprach sie“ und setzt einen Punkt – ein recht final und unaufgeregt wirkendes Ende der Nacht, wenn man nicht den inhaltlichen Kontext der Folter und der Drohung miteinbezieht. Galland hebt mit den Fortführungszeichen mehr die Vorausdeutung hervor, Ott mehr das Exklamatorische. 2.2.4 Die 32. Nacht

‫ھ‬

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‫ ا‬4‫ا‬

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‫'ا‬

Wie bereits aufgezeigt, war die damalige arabische Schrift noch nicht mit Zeichensetzung versehen. Dass es sich aber um eine offen gelassene Frage handelt, kann eindeutig aus der Formulierung und dem Kontext erkannt werden. Die Verneinung des Nominalsatzes mit dem Verneinungspartikel sowie die generelle Sprechsituation, lassen ebenfalls auf eine Frage schließen. Alternativ zu Otts „‚[H]abt ihr nicht irgend etwas Besonderes zu bieten, das ihr uns vorführen könnt?‘“49 könnte man übersetzen: ‚Habt ihr nicht mit euch etwas Besonderes?‘ Galland hingegen lässt die Frage vollkommen wegfallen. „Quand les Calenders se furent assis à table, les dames

46 Kitāb alf laila wa-laila (Band2), transkribiert von Mahdī, 1984, S. 122, Z.31. 47 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 93. 48 Galland: Les mille et une nuits, 1846, S. 76. 49 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 113.

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leur servirent à manger; et lʼenjouée Safie, particulièrement, prit soin de leur verser à boire...“50 2.2.5 Fazit des Übersetzungsvergleichs Abschließend lässt sich über den Vergleich der Galland-Handschrift, sowie den Übersetzungen von Galland und Ott sagen, dass zwischen der Handschrift und Otts Übersetzung nur minimale Veränderungen in den für diese Arbeit wichtigen und ausgewählten Sätzen festzustellen sind. Die Zeichensetzung ist der wichtigste Unterschied zwischen der Handschrift und Otts sehr texttreuer Übersetzung, da die Zeichensetzung die Wirkung der Unterbrechung und Spannungssteigerung unterstützt: Ott fügt – um den Unterbrechungseffekt zu verstärken und zugunsten einer einheitlichen deutschen Zeichensetzung – Gedankenstriche und Fortführungspunkte ein. Auch das Frage- oder Ausrufezeichen, das in der Übersetzung häufig den letzten Satz einer Nacht beschließt, betont die Aussage des arabischen Satzes, der aber ohne diese eindeutigen Kennzeichnungen ist. Damit nutzt Ott die Möglichkeiten des Zeichensystems Schrift, vor allem der erst spät aufkommenden Interpunktion. Sie entfernt den Text noch ein Stück weiter von der oralen Erzähltradition, als es schon mit einer Verschriftlichung stattfindet. Ganz ähnlich verfährt Galland: Auch er setzt an vielen Nacht-Enden Fortführungszeichen und macht mittels der Interpunktion die Fortführung kenntlich. Galland will immer – im Gegensatz zu Ott, die zwischen Ausrufe-, Frage- und Fortführungszeichen sowie Gedankenstrichen variiert – darauf aufmerksam machen, dass die Geschichte fortgesetzt wird, aber nicht der Satz. Bei Ott und der Galland-Handschrift hat man eher den Eindruck, dass Satz und Geschichte fortgesetzt werden. Galland führt nur die Geschichte fort, die eigentliche Unterbrechung schmälert er, wenn er unvollendete Sätze beendet oder Halbsätze ausspart – und nicht selten geht damit auch ein Teil der Spannung verloren.51 Zwar hatte Galland die diegetischen Cliffhanger in seiner Übersetzung in ihrer Wirkung abgemildert. Er selbst hatte aber die älteste erhaltene Handschrift gelesen. Er 50 Galland: Les mille et une nuits, 1846, S. 91. 51 Natürlich muss man bedenken, dass Galland, Lane, Burton ‒ fast alle Übersetzer von 1001 Nacht vornehmlich eine Lese-Ausgabe herstellen wollten, also eine Übersetzung, die gut rezipierbar ist, und keine wissenschaftlich genaue. Die hier getroffenen Aussagen sollen keinesfalls wertend über die Übersetzungen urteilen ‒ ganz im Gegenteil: Angesichts der damaligen Hilfsmittel und Möglichkeiten sind die Übersetzungen Kraftakte und Kunststücke: „[D]och in Wirklichkeit hat er [d.i. Galland] die Erzählungen auch in vielen Punkten modifiziert […] – nebenbei gesagt: nicht immer zum Schaden der Geschichten, deren innere Stimmigkeit während der langen Überlieferungszeit manchmal gelitten hatte.“ Grotzfeld: „Dreihundert Jahre 1001 Nacht in Europa“. In: Osigus (Hg.): Dreihundert Jahre 1001 Nacht in Europa, 2005, S. 19–32.

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kannte die diegetischen Cliffhanger der arabischen Version in ihrer ganzen Macht ‒ letztendlich könnte man behaupten: Er fiel der Erzähltechnik Cliffhanger selbst zum ‚Opfer‘. Vermutlich hat das unvollständige Manuskript mit nur 282 Nächten, aber dem Titel, der das uneingelöste Versprechen von 1001 Nacht nennt, Galland selbst kurzzeitig zu Schahriyar werden lassen. Schahrasads stete Hinweise darauf, wie spannend es weitergeht, haben letztendlich dazu geführt, dass Galland wie Schahriyar die Auflösung und den Abschluss des Makrotextes erfahren wollte. Selbst wenn die Handschrift nur ein Fragment ist, so hat Galland das Ende dieses Fragments als Cliffhanger empfunden, den er auflösen wollte ‒ auch aus monetären Gründen, da die bisherigen ‚Übertragungen‘ überaus erfolgreich waren. „Like the scribes and publishers of the Arabic versions of the work, Galland fell under the spell of the title: A Thousand and One Nights. He embraced the myth of an Arabic original containing that many Nights and whiled away years hoping to receive a complete copy from the Orient. When a copy of the whole work failed to materialize, he contrived a French version of his own [...]. He had fabricated part of it, including a thousand and first night. [...] He was the first Western writer to wish for the number of Nights indicated by the title and, after a fruitless search, to create the missing portion himself.“52

Ein wesentlicher Bestandteil dieser Verführung mag auch für Galland in den Cliffhangern gelegen haben. Die 282. Nacht endete für ihn mit einem offenen Ende, das er bestrebt war aufzulösen. Der letzte Satz lautet: „Das [d.i. die Fortsetzung] wird noch viel aufregender sein…“53 Galland persönlich wollte letztendlich so sehr wissen, wie das Werk zu Ende geht, ob Schahrasads Erzähltechnik Erfolg hat, was aus ihr und dem Sultan wird, dass er schließlich, nachdem er kein vollständiges Manuskript und somit keinen Abschluss hatte finden könnten, sich selbst eines zusammensuchte und damit eine neue Version von 1001 Nacht schuf; die späteren Bände von Gallands Übersetzung sind im Grunde genommen Fan-Fiction avant la lettre:54 Eine westlich-östliche, neue Kompilation – und ein ungeheuer großer Beweis für den Zau-

52 Mahdi: The Thousand and One Nights (Band1), 1994, S. 11. 53 Ebd., S. 637. 54 Galland verfasste wohl kaum selbst die Geschichten, mit denen er das Werk ‚vollendete‘, sondern bediente sich bei anderen Geschichtensammlungen. „Galland lernt 1709 den maronitischen Christen Hanna Diab in Paris kennen, der ihm einige arabische Geschichten erzählt, deren Resümees Galland in sein Tagebuch aufnimmt. Diese Zusammenfassung bereitet er, wiederum recht frei, zu Geschichten für die Bände 9-12 seiner 1001 NachtErzählungen auf.“ Fröhlich: 1001, 2011, S. 13. Für einige Geschichten Gallands wie die „Von den beiden Schwestern, die ihre Schwester beneideten“ hat man bis heute keinen arabischen Ursprungstext gefunden. Vgl. Walther: Tausendundeine Nacht, 1987, S. 8.

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ber und die ‚transkulturelle‘ Macht des Cliffhangers. Sogar der französische Übersetzer von 1001 Nacht war so sehr im Bann von Schahrasads Erzählkunst, dass er die Geschichte für sie zu Ende führte und alle Cliffhanger auflöste. Er wollte nicht in der Rolle des Schahriyar verharren und wurde deshalb selbst zu einer Schahrasad. 2.3 Analyse Der Übersetzungsvergleich hat bereits bewiesen, dass die Unterbrechungsmomente sehr wohl bereits in der ältesten erhaltenen Version, der Galland-Handschrift, unterbrechend und spannungssteigernd wirken. Die vier Unterbrechungsmomente wurden wegen ihrer ganz unterschiedlichen Schwerpunkte ausgewählt. Beim ersten Beispiel haben wir es mit einem Erzählabbruch an einer inhaltlich spannenden Stelle zu tun. Die Spannungssteigerung steuert auf den Moment der Unterbrechung hin. Die Frage lautet in diesem Fall: Wird der König sterben? Die zwei letzten Sätze beinhalten den Spannungshöhepunkt: Der vorletzte Satz ist die Enthüllung, dass die Buchseiten vergiftet sind und der König beim Umblättern mit dem Gift in Berührung gekommen ist. Daraufhin folgt der letzte Satz, in dem die daraus resultierende Gefahr sich bereits zu realisieren beginnt. Was der Arzt mit diesem Plan bezweckt und ob es einen Ausweg für den König gibt, bleibt offen. Zumal der Satz „er begann zu schwanken und zu wanken“ ‫ح و ج و ل‬$ $ ‫ ھ‬% besonders durch seine Kürze auch im Arabischen unterbrochen wirkt. Das Symptom einer Veränderung – der Prozess des Schwankens und Wankens – ist bekannt, aber das Ziel dieser Bewegung bleibt offen. Was geschieht nach dem Beginn des Schwankens und Wankens? Dieser Unterbrechungsmoment funktioniert primär auf der inhaltlichen Ebene: eine Enthüllung mit einem anschließenden unterbrochenen Handlungsvorgang. Die Erzählung wird unmittelbar im selben zeitlichen Moment fortsetzt, der Cliffhanger beinahe direkt aufgelöst ‒ es handelt sich somit um einen Interruptionspunkt und eine kurze Spannweite. Im zweiten Beispiel ist die Unterbrechung abrupter, da der Satz deutlich ‚abgeschnitten‘ wird (Ott setzt in ihrer Übersetzung sogar einen Gedankenstrich, um die Unterbrechung zu betonen). Zwar ist in diesem Fall die inhaltliche Spannungssteigerung nicht so stark wie im ersten Fall – wir wissen inzwischen, dass König und Arzt sterben – aber die Rückführung der Binnenerzählung zur Rahmenhandlung wird nur mit dem letzten unterbrochenen Satz begonnen: „Du sollst darum wissen, Ifrit –“55 3 % ‫ ا ا ا‬. Was hat die Binnenerzählung zweiter Ordnung für eine Bedeutung für die umrahmende Binnenerzählung erster Ordnung, warum also hat der Fischer dem Ifrit diese Geschichte überhaupt erzählt? Lässt sich diese Geschichte eher dahin deuten, dass er den Ifrit nun verschonen, oder eher dahin, dass er ihn doch töten

55 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 73.

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wird? In diesem Fall ist die syntaktische Unterbrechung dominierend, auch wenn inhaltlich zumindest insofern ein Wendepunkt vorhanden ist, als nun offenbart werden wird, was diese Binnenerzählung zweiter Ordnung für die sie umrahmende Binnenerzählung vom Fischer und dem Ifrit bedeutet. Diese diegetische Erzählunterbrechung funktioniert primär auf der sprachlichen Ebene.56 Erneut haben wir es mit direkter Fortführung und Auflösung zu tun: Interruptionspunkt und kurze Spannweite. Im dritten Beispiel wird zwar die Erzählung unterbrochen, aber ohne dass der letzte Satz unvollständig wirkt (in der Übersetzung werden dementsprechend keine Zeichen wie Gedankenstrich oder Fortführungspunkte57 genutzt), noch dass ein spannender, exponierter Moment oder der Augenblick eines möglichen Wendepunkts gewählt ist. Der letzte Satz „‚Du hättest Erbarmen haben und mir meinen Geliebten lassen sollen!‘ widersprach sie.“58 -% 3 ‫ا‬ ‫ ر ﻣ‬3 3 wirkt für sich allein genommen nicht besonders ‚aufregend‘. Erst im Kontext der Binnenzählung und der Situation der Unterbrechung kann von einem spannenden Moment gesprochen werden, da wir uns mitten in einer Folterszene befinden, in die sich eine dritte, bisher unentdeckte Figur eingeschlichen hat. Der drohende Ausruf (in der Übersetzung verstärkt durch das entsprechende Ausrufezeichen) deutet darauf hin, dass die Hexe ihren Mann quälen, vielleicht sogar töten wird. Die Spannung erwächst in diesem Fall aus der Kenntnis, die wir als Leser haben: Wird der König entdeckt beziehungsweise kann er den verhexten Mann retten, bevor die Kusine ihre angedeutete Drohung wahr macht? Rezipient und Figuren haben einen unterschiedlichen

56 Genauso gibt es auch Kombinationen aus sprachlichen und inhaltlichen Cliffhangern: „Wie sie nun gerade mitten im Gespräch waren, erschien plötzlich –“. Ebd., S. 36. 57 Korrekterweise müsste es ‚Auslassungspunkte mit Fortsetzungsfunktion‘ heißen. Die Interpunktionszeichen heißen Auslassungspunkte, die bestimmte Funktion, die die Punkte hier einnehmen, lautet jedoch Fortsetzungsfunktion. Generell sind die Auslassungspunkte von Ott sehr geschickt gewählt, da die generelle Funktion der Auslassungspunkte sehr gut die Funktionsweise des Cliffhangers beschreibt. „Gemeinsam ist diesen Verwendungen [d.s. Auslassungsfunktion, Fortsetzungsfunktion, Verbindungsfunktion und Andeutungsfunktion der Auslassungspunkte], dass sie den Leser instruieren, an der mit den Auslassungspunkten gekennzeichneten Stelle sein Wissen zu aktivieren, um nicht ausgedrückte Informationen zu ergänzen [...]. Die Auslassungspunkte stehen überall dort, wo der Leser Wissen hinzufügen muss, das an der Auslassungsposition nicht ausgedrückt wird. Der Leser nimmt einen aktionalen Rollenwechsel vor und wird vom Re- zum Enkodierer.“ Bredel, Ursula: Interpunktion, 2011, S. 47. Bredel unterstützt damit in gewisser Weise Jurgas These vom Cliffhanger als Instruierung des Lesers zum Mitautoren. Vgl. Kapitel II. 2.7 „Der ‚aktivierte‘ Rezipient oder: serielle Fortsetzungsnarration als Droge“, S. 84. 58 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 93.

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Kenntnisstand, was als dramatische oder tragische Ironie bezeichnet wird.59 Dieser Unterbrechungsmoment funktioniert primär auf der kontextuellen Ebene. Auch die diegetische Fortsetzung macht deutlich, dass die kontextuelle Ebene in diesem Fall wichtiger ist als bei den anderen Beispielen, da bei der Aufhebung etwas erzählte Zeit vergangen ist (elliptischer Interruptionspunkt) und auch die mittlere Spannbreite vorherrscht. Im vierten Beispiel verläuft die Unterbrechung ganz im Gegensatz zum dritten ab. Unbeantwortet bleibt die Frage im Raum stehen, regt schon deshalb zur Antizipation an und steigert die Spannung, ohne dass der Kontext von essentieller Wichtigkeit ist. Die Frage wird direkt in der Erzählfortsetzung beantwortet, die Spannbreite ist erneut kurz. Gemeinsam haben die Unterbrechungsmomente, dass es sich immer um einsträngige Erzählungen handelt – dementsprechend gibt es keine Interruptionsspannen. Auch der elliptische Interruptionspunkt ist selten und die zeitliche Aussparung nur sehr kurz. Im Gegensatz zur komplexen Verschachtelung von Erzählungen sind die Unterbrechungs- und Aufhebungsmomente der Binnenerzählungen in 1001 Nacht zeitlich schlicht: Die Binnenerzählungen sind als einsträngiges Zeitkontinuum gestaltet, das hauptsächlich von Interruptionspunkten geteilt wird. Die diegetischen Cliffhanger haben gemeinsam, dass die evozierte Spannung ebenso rasch wieder aufgelöst wird: Die meisten Cliffhanger haben nur eine kurze Spannweite. 2.4 Resümee: Eine erste Cliffhanger-Kategorisierung Wenn wir 1001 Nacht als frühestes Werk analysieren, in dem sich (diegetische) Cliffhanger befinden, und diese Cliffhanger mit anderen Werken vergleichen wollen, bietet es sich an, eine erste und vorläufige Kategorisierung vorzunehmen, die sich aus der Analyse ergibt. Im ersten Beispiel liegt eine Gefahrensituation vor. 60

‫ح و ج و ل‬$ $ ‫ ھ‬%

„Er begann zu schwanken und zu wanken.“61

59 Vgl. Pfister: Das Drama, 2001, S. 88. „Unter ‚tragischer Ironie‘ versteht man […] den Gegensatz zwischen dem Unwissen des Helden um sein Verhängnis und dem überlegenen Wissen der anderen Beteiligten und Zuschauer.“ Burdorf u. a. (Hrsg.): Metzler-Lexikon Literatur, 2007, S. 360. Man muss allerdings hinzufügen, dass es nur eine ‚verhaltene Form‘ der tragischen Ironie ist: Da die Hexe nicht als Heldin auftritt, ist der Rezipient nicht so sehr am Gelingen ihres Plans interessiert. 60 Kitāb alf laila wa-laila (Band2), transkribiert von Mahdī, 1984, S. 104, Z.78f. 61 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 71–72.

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Der unterbrochene Höhepunkt ist eine gefährliche Situation, die vermutlich beide Protagonisten nicht überleben werden. Zuallererst einmal ist dieser Cliffhanger also ein gefahrensituativer Cliffhanger. Diese Gefahr kommt vor allem aufgrund einer direkt vorausgehenden Enthüllung zustande: Die Seiten des Buches, die der König beleckt hat, sind vergiftet; anders als bisher angenommen, wird nicht nur der Arzt sterben, sondern höchstwahrscheinlich auch der König. In diesem Fall wird die Unterbrechung unmittelbar nach der Enthüllung gesetzt, dass die Seiten vergiftet sind. Die Rhetorik hilft an dieser Stelle nicht weiter, da es sich um das ‚Was‘ handelt, das im Vordergrund steht und nicht das ‚Wie‘. Ein Sachverhalt wird enthüllt beziehungsweise aufgedeckt. Dieser Typ ließe sich am passendsten als enthüllender Cliffhanger bezeichnen. Beide Attribute, Gefahrensituation und Enthüllung sind gegeben, die beiden Typen sind hier also in Kombination vorhanden. Die Enthüllung steht mehr im Vordergrund, weil sie länger vorbereitet wird und für die Geschichte den entscheidenden Wendepunkt darstellt. Trotz einer Gewichtung muss bereits bei der ersten Kategorie festgestellt werden, dass diese Kategorien keine festen Grenzen haben, sondern sich überschneiden: Der Cliffhanger ist nicht gefahrensituativ oder enthüllend, sondern in diesem Fall beides. Im zweiten Beispiel wird der Erzählfluss mitten im Satz unterbrochen:

3 %‫ا‬ 3 3 ‫ا‬

‫ا‬

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„Du sollst darum wissen, Ifrit –

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Da erreichte das Morgengrauen Schahrasad, und sie hörte auf zu erzählen.“62

Anders als beim ersten Beispiel besteht der Cliffhanger hier vornehmlich aus einer Unterbrechung des Satzes, die Spannung wird dadurch verursacht, dass der Rezipient die Fortführung des Satzes erfahren will. Dieses Mal geht es also nicht wie bei Beispiel eins um die histoire-Ebene, sondern um das „Wie“ auf der discours-Ebene, bei dem die Rhetorik hilfreich sein kann. Der rhetorische Begriff der Aposiopese beschreibt diese Technik der Satzunterbrechung: „Aposiopese (Aposiópesis, praecisio, interruptio): abrupter, intentionaler Abbruch der Gedankenfolge, der im Text entweder durch syntaktische Unterbrechung oder eine Übergangsformel signalisiert wird. Im allgemeinen ist der sprachlich nicht realisierte Schluss der Gedankenkette aus dem Vorangehenden ableitbar; zum Teil kann der Vortrag (actio) eine Ersatzfunktion übernehmen (‚Ich werde dir’s –!‘ Drohend schüttelte er die Fäuste.) Die Funktionen der Aposiopese sind verschiedenartig. […] Mehrfach verwendet, vermag sie die Spannung zu steigern.“63

62 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 73. 63 Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, 2001, S. 76.

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Heinrich Pletts Spezifizierung der Aposiopese, dass häufig die Vollendung des Satzes durch den Rezipienten möglich ist, ist beim Cliffhanger nicht unbedingt gegeben. Aber auch wenn der Rezipient den Satz nicht weiterführen kann, so soll er doch wie bei der Aposiopese möglichst ebenfalls mutmaßen und antizipieren, wie der unterbrochene Satz zu vollenden wäre. „Du sollst darum wissen, Ifrit –“64 legt nahe, dass der Fischer dem Ifrit nun die ‚Moral‘ seiner Geschichte erzählen wird. Es ist also, wenn auch keine Weiterführung des Satzes, so zumindest eine ungefähre Weiterführung des Inhalts möglich. Der dritte Cliffhanger funktioniert vor allem mittels einer Drohung:

-%

3 ‫ا‬

‫ر ﻣ‬3 3

„‚Du hättest Erbarmen haben und mir meinen Geliebten lassen sollen!‘ widersprach sie.“65

Besonders die Kombination der zwei Ebenen, discours und histoire, verursacht Spannung. Auf der histoire-Ebene, haben wir es erneut mit einem gefahrensituativen Moment zu tun ‒ und zwar für den König wie für den Cousin. Auf der discours-Ebene wird vor allem durch das Konditional II des arabischen Satzes deutlich, dass dies eine vergangene und damit unmögliche Bedingung ist: Der Ehemann hätte Erbarmen haben sollen – hatte er aber nicht, und darum wird etwas folgen, was für ihn höchstwahrscheinlich Gefahr und Schmerz bedeutet. Die Gefahrensituation auf der histoireEbene wird auf der discours-Ebene durch eine Aussage betont. Wenn man die Sprechakt-Theorie auf Literatur überträgt,66 könnte man diesen Satz als repräsentativen Sprechakt beschreiben. „The point of purpose of the members of the representative class is to commit the speaker (in varying degrees) to somethingʼs being the case, to the truth of the expressed proposition.“67 Damit ist der Charakteristik des letzten Satzes aber nur teilweise erfasst, denn er weist zusätzlich eine starke Betonung auf ‒ sowohl durch seine Position am Ende dieses Erzählabschnitts, als auch durch den Bau des arabischen Satzes, der in der deutschen Übersetzung mit dem Ausrufezeichen zusätzlich unterstrichen wird. Doch selbst ohne Zeichensetzung ist der arabische Satz betont, weil er durch den Kontext wie eine Drohung wirkt. Der rhetorische Begriff der Exclamatio würde von der wortwörtlichen Übersetzung diese Komponente des Satzes gut beschreiben ‒ er wird aber in der Rhetorik anders gebraucht, nämlich 64 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 73. 65 Ebd., S. 93. 66 Siehe Kapitel: III 1.4 „Ein Versuch einer transmedialen Erzählmethode“, S. 102. 67 „The point of purpose of the members of the representative class is to commit the speaker (in varying degrees) to somethingʼs being the case, to the truth of the expressed proposition.“ Searle: „A Taxonomy of Illocutionary Acts“. In: Gunderson (Hg.): Language, Mind and Knowledge, 1975, S. 354.

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hauptsächlich für unvollständige und lautmalerische Sätze wie „Ach!“.68 Ein repräsentativer Sprechakt, der zur jeweiligen Gegenwart in der erzählten Zeit (daher auch ‚repräsentativ‘) ein subjektive oder objektive Wahrheit ausgedrückt, plus die Betonung einer Exclamatio ‒ um die zwei Charakteristiken zu vereinen benutze ich im Folgenden den Begriff exklamatorischer Kommunikationsakt. Es geht bei dieser Neueinführung nicht um eine grammatikalische Beschreibung des jeweiligen Satzes

68 Die früheste Nennung des Begriffs Exclamatio bei Quintilian (Insitutio, IX ii 27) sagt aus, dass ein Ausruf (Exclamatio) nur dann zu den Figurae zu zählen ist, wenn er kunstvoll gestaltet ist. „Manche nennen [den Ausruf] eine exclamatio und zählen ihn zu den Figuren. Wenn aber der Ausruf echt ist, zählt er nicht zu den Redeformen, die uns hier beschäftigen. Ist er aber nachgebildet und kunstvoll gestaltet, kann er ohne Zweifel zu den Figuren gezählt werden.“ (Quintilian zitiert nach: Bartel: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, 1997, S. 150.) Eine Exclamatio in der Verwendung als Bestandteil des exklamatorischen Kommunikationsaktes übernimmt also wichtige Charakteristiken aus der Rhetorik, weil sie Quintilians Anforderung erfüllt, kunstvoll gestaltet zu sein: Ein Ausruf hat immer eine bewusstere Qualität im Gegensatz zu einem Aussagesatz, es wird etwas ausgerufen anstatt nur gesagt, das Ausrufezeichen betont dieses Ausdrückliche auch skriptural. Dadurch, dass der Ausruf am Ende eines Mikrotextes steht, wird die Bewusstheit der Aussage mit der exponierten Position eines Endes kombiniert und dadurch potenziert. Die exklamatorische Hervorhebung gepaart mit einem darauffolgenden Ende lässt den Rezipienten diesen Satz als besonders wichtig und bewusst ans Ende einer Folge gesetzt sehen: Ein Ausruf prägt sich nicht nur besonders ein, sondern ihm wird auch besondere Bedeutung zugemessen, gerade wenn er als letzter Satz des Mikrotextes dasteht. Dass der Begriff auch transmedial benutzbar ist, zeigt sich unter anderem daran, dass die primäre Beschreibungsqualität des Begriffs Exclamatio, dass es sich also um einen (kunstvollen) Ausruf handelt („Lat. exclamatio Ausruf“. Harjung: Lexikon der Sprachkunst, 2000, S. 197), auch schon in die Musikwissenschaft übernommen wurde. „Exclamatio (symbolisierter) Ausruf, Aufwärtssprung“. Hülsen: Frühe Formen musikalisch-rhetorischer Figuren, 2012, S. 20. Es geht bei der Übertragung der Exclamatio also wie bei der Übertragung in die Musikwissenschaft darum, dass ein Ausruf stattfindet, der damit einen Satz hervorhebt. (Weniger passend ist das Kriterium, das in einigen Büchern über Figurenlehre steht, Exclamatio drücke ein Gefühl aus und sei meist simuliert: „LʼExclamation a lieu lorsquʼon abandonne tout-à-coup le discours ordinaire pour se livrer aux élans impétueux dʼun sentiment vif et subit de lʼâme.“ Fontanier: Les figures du discours, 2009, S. 370. Es handelt sich hauptsächlich um Gefühlsausbrüche, also einen „Ausdruck des Affekts, der durch Interjektionen (z.B. ‚o, ah, ach, wehe‘), emphatische Aussprache (pronuntiatio) und pathetisches Vokabular kenntlich ist.“ Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, 2001, S. 83. Die stark auf Affekte bezogene Konnotation der Exclamatio ist für die Beschreibung dieser Art von Cliffhanger nur selten richtig.)

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‒ wie es zum Teil beim Begriff der ‚Exclamatio‘ der Fall ist ‒ sondern um eine Benennung des Aussage-Charakters. Die Kombination aus Gefahrensituation und exklamatorischen Kommunikationsakt ist zwar in der Gegenwart angesiedelt, deutet aber von allen vier Beispielen am ehesten eine Tat in der Zukunft an. Das wird auch vom weiteren Handlungsverlauf bestätigt, da dieser Cliffhanger eine mittlere Spannbreite besitzt und nicht, wie in den anderen Fällen, nur kurz ‚spannt‘. Dieser Cliffhanger ist das einzige der Beispiele, das für eine längere Dauer erzählter Zeit und Erzählzeit relevant ist. Alle anderen analysierten Cliffhanger werden zu Beginn der nächsten Nacht bereits aufgelöst. Im vierten Beispiel ist der letzte Satz der Binnenerzählung eine Frage.

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„‚Und ihr‘, ergriff der Träger das Wort, ‚habt ihr nicht irgend etwas Besonderes zu bieten, das ihr uns vorführen könnt?‘“69

Um die Antwort auf die Frage zu erhalten, muss der Sultan Schahrasad am Leben lassen – und der Rezipient muss den Inhalt der nächsten Nacht erfahren. Auf der histoire-Ebene ist der Cliffhanger nicht außerordentlich spannend. Sicherlich könnte der Fragende womöglich die Bettelmönche rauswerfen, wenn sie nichts Besonderes zu bieten haben. Aber wie relativ unwichtig diese Information ist, wird auch in der nächsten Nacht deutlich, als die Frage direkt beiläufig ‚abgehakt‘ wird, ohne dass eine der Figuren konkret antwortet. Allein also die auf der discours-Ebene stehen gelassene Frage weckt eine Erwartung, wie die Antwort aussehen mag; allein sie lässt den Erzählabschnitt dieser Nacht unvollendet und unabgeschlossen und damit auch spannend wirken. Bei diesem Unterbrechungsmoment wird die Spannung allein mittels einer Frage, einer Interrogatio,70 verursacht; dementsprechend wird diese Form des Cliffhangers im Folgenden interrogativer Kommunikationsakt genannt. 69 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 113. 70 Bei dem Begriff der Interrogatio geht es um die primäre Beschreibungsqualität, dass eine Frage betont wird. Harjung hebt verschiedene Aspekte des Begriffs in seinem Lexikon der Sprachkunst (2000, S. 238–239) hervor, darunter auch die Betonung eines Sachverhalts mittels einer Frage. Dadurch, dass die Frage am Ende einer Folge steht, wird sie exponiert. Dass der Begriff auch auf andere ‚Sprachen‘ übertragbar ist, also transmedial nutzbar, zeigt unter anderem, dass er auch in der Musikwissenschaft eingeführt wurde: „Interrogatio. Durch Melodieführung oder harmonische Wendung ausgedrückte Frage“. Hülsen: Frühe Formen musikalisch-rhetorischer Figuren, 2012, S. 20. Auch neuere Definitionen als moderne Redefigur zeigen, dass der Begriff der Interrogatio für das beschriebene Mittel, mit dem ein Cliffhanger ausgedrückt wird, passend ist. Nicole Reicalens-Pourchot weist der Interrogatio zum Beispiel zwei der mit dem interrogativen Kommunikationsakt ähnlichen Funktionen zu: Zum einen eine als Hervorhebung eines Satzes: „L’interrogation: mise en

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In Übersicht 10 ist die bisherige Cliffhanger-Typisierung graphisch dargestellt. Die Cliffhanger-Typen erläutern sich von selbst: Beim gefahrensituativen Cliffhanger entsteht die Spannung aus der akuten Gefahr, beim enthüllenden aus einer unmittelbaren Enthüllung, die eventuell einen Wendepunkt der Erzählung bedeutet. Die Cliffhanger-Typen können allem Anschein nach unterschiedlich mit den drei bisher entdeckten Erzählmitteln kombiniert werden. Die Aposiopese beschreibt, dass die Erzählung nicht nur als Ganzes unterbrochen wird, sondern zusätzlich dadurch Spannung entsteht, dass der letzte Kommunikationsakt unterbrochen wird. Antizipation entwickelt sich aus der Frage, wie und ob der Satz zu Ende geführt werden wird. Der exklamatorische Kommunikationsakt beschreibt, dass die Spannung sich aus einer betonten Aussage entwickelt ‒ aus einem Ausruf, einer Feststellung, Warnung, Drohung, Enthüllung oder dergleichen. Der interrogative Kommunikationsakt verdeutlicht hingegen, dass Antizipation und Spannung dadurch entstehen, dass eine gestellte Frage unbeantwortet bleibt. Übersicht 10: Erste Kategorisierung der Cliffhanger-Typen und Erzählmittel

discours-Ebene (Mittel): histoire-Ebene (Typ): - gefahrensituativer - enthüllender

- Aposiopese (unvollendeter Kommunikationsakt) - exklamatorischer Kommunikationsakt - interrogrativer Kommunikationsakt

Cliffhanger

Typen und Erzählmittel bilden zusammen die jeweilige Ausformung des Cliffhangers.

relief dʼune phrase en la faisant passer du type déclaratif au type interrogatif pour prendre comme confident ou témoin ou prendre à partie.“ Ricalens-Pourchot: Dictionnaire des figures de style, 2011, S. 171. Zum anderen als Ausdruck einer Teilnahme, die man wie beim Cliffhanger als Antizipation weiterdeuten könnte: „L’interrogation: poser des questions pour solliciter lʼaccord, la participation, confondre, semer le doute, émouvoir....“. Ebd., S. 141. (In der Rhetorik findet sich jedoch auch eine Verwendung des Begriffs Interrogatio, die für die meisten interrogativen Cliffhanger nicht passend ist. So wird Interrogatio teilweise definiert als „‚rhetorische Frage‘: eine Frage, die keine Antwort erfordert, da sie diese schon implizit enthält; […] Die Interrogatio drückt häufig heftige rednerische Affekte (Empörung, Bitterkeit) aus.“ Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, 2001, S. 80. Vgl. Fontanier: Les figures du discours, 2009, S. 368.)

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3. D IE F UNKTION DER U NTERBRECHUNGSMOMENTE IN 1001 N ACHT 3.1 Die inhaltliche Funktion Unabhängig von der analysierten Funktionsweise haben die einzelnen diegetischen Cliffhanger auch generelle Bedeutung für die Rahmengeschichte. Darüber hinaus kann die allgemeine Funktion der Unterbrechungsmomente in 1001 Nacht als Spiegel für das Rezeptions- und Produktionsverhalten von serieller Narration interpretiert werden. So wie der Sultan als Zuhörer gespannt ist, die Erzählerin Schahrasad nicht töten lässt, ihr treu bleibt, sollen wir der Geschichte und dem namenlosen Autor von 1001 Nacht treu bleiben. Das Treueverhältnis wird umgedreht: Möchte der Sultan, dass ihm keine Frau mehr untreu wird, bewirkt Schahrasad im Gegenzug mithilfe ihres souveränen Narrationsstils eine Zuhörer- und Liebestreue des Sultan: Er wird weder einen anderen Erzähler suchen noch eine andere Frau für die nächste Nacht. Die Verbindung von Treue zur Erzählinstanz mit Treue zur Ehefrau legt damit auch eine Interpretation nahe, die im Bereich des Sexuellen liegt: Die diegetische Erzählunterbrechung, die von Volker Klotz auch als narratio interrupta bezeichnet wird,71 wirkt in diesem Kontext wie ein coitus interruptus. Denn die endgültige Erzählbefriedigung, die Beschließung der Geschichte erhält der Sultan nicht – er wird stets auf die nächste Nacht vertröstet. „Shahrazad also uses a ruse, narration, to achieve her ends. Her storytelling structures tales so that the listener is left in suspense at the break of dawn. Hers could be argued to be the ultimate in female trickery, representing a continual game of attraction (the storytelling) followed by denial of satisfaction (the end of the story, which must await yet another night).“72

Allen S. Weiss geht soweit, dass er die unterschiedliche Länge der Geschichten von Schahrasad damit erklärt, dass der Rest der Nacht vermutlich sexuellen Freuden gewidmet wurde.

71 „Jede der Geschichten dosiert sie [d.i. Schahrasad] so, dass jeweils ein erregender Rest offen bleibt, der im Hörer das unbändige Verlangen nach Fortsetzung anstachelt. Insofern kann Schehrezâd als folgenreiche Erfinderin jener narratio interrupta gelten, die noch viele Jahrhunderte später als prickelnder Abbruch die Fortsetzungsromane in den Tageszeitungen kennzeichnet. Schluss jetzt! Ohne Schluss! Morgen geht es weiter.“ Klotz: Erzählen, 2006, S. 195. 72 Malti-Douglas: „Homosociality, Heterosexualtiy, and Shahrazād“. In: Marzolph u. a. (Hg.): The Arabian Nights Encyclopedia, Volume 1, 2004, S. 39.

156 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „It might be added that the narrative structure establishes implicit ellipses: the tales are varied in length, some long enough to take up an entire night, others very short, implying that other activities, notably erotic ones, would have filled the rest of the night in question.“73

In der Tat lassen die sehr unterschiedlichen Längen der Geschichten, die innerhalb einer Nacht erzählt werden, Spekulationen zu, wie es zu dieser Divergenz kommt.74 Was auch immer zu diesen unterschiedlichen Längen führen mag: Die Nicht-Befriedigung am Ende einer Geschichte kann mit sexueller Verzögerung und einem Versprechen verglichen werden. Schon während der ersten Nacht wird mehrfach ein unmittelbares Aufeinanderfolgen von Geschlechts- und Erzählakt beschrieben. „‚Liebe Schwester‘, sagte sie zu ihr, ‚merke dir gut, was ich dir jetzt auftrage. Sobald ich beim Sultan bin, werde ich nach dir schicken. Wenn du dazukommst und siehst, dass der König seine Lust befriedigt hat, dann sage zu mir: Ach Schwester, wenn du nicht schläfst, so erzähle mir eine Geschichte!‘ [...] Da ließ der König nach ihrer Schwester schicken, und Dinarasad kam, legte sich unter das Bett und schlief ein. Als die Nacht schon fortgeschritten war, erwachte Dinarasad, wartete geduldig, bis der König seine Lust an ihrer Schwester gestillt hatte und alle wach lagen. Dann räusperte sich Dinarasad: ‚Ach, Schwester‘, sagte sie mit einem Seufzer, ‚wenn du nicht schläfst, so erzähle uns doch eine deiner schönen Geschichten.‘“75

An beiden Stellen – erst die Instruktion durch Schahrasad, dann die tatsächliche Erzählaufforderung – wird zunächst die sexuelle Befriedigung erwähnt beziehungsweise vollzogen; unmittelbar darauf folgt der Erzählanlass. Schahrasad kann und darf sich der sexuellen und narrativen Begierde ihres Gebieters nicht widersetzen, sonst wird sie sterben – sie ist aber klug genug, ihm die Befriedigung, die sie ihm in den Geschlechtsakten gewähren muss, bei den Geschichten zu versagen. Beide Male geht es um Befriedigung – das Ende einer Geschichte zu erfahren als ultimative Erzählbefriedigung, die auch der außerdiegetische Leser/Zuhörer von Schahrasad erhalten möchte.

73 Weiss: „The Rhetoric of Interruption“. In: Stam u. a. (Hg.): A Companion to Literature and Film, 2008, S. 167. 74 So erstreckt sich die sechzehnte Nacht in Otts Übersetzung zum Beispiel über fast fünf Seiten (S.67–72), während die darauf folgende siebzehnte Nacht gerade einmal eine Seite lang ist (S.72–73). 75 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 28. Ab hier wird nicht mehr das arabische Original zitiert, sondern lediglich Otts Übersetzung. Bei der Analyse und Kategorisierung der Cliffhanger kam es auf den genauen Wortlaut des Originals an. Hier hingegen geht es nur noch um die in 1001 Nacht beschriebene Funktion der Unterbrechungen. Für eine derartige Analyse ist Otts Übersetzung ausreichend.

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Das diegetische Produktions- und Rezeptionsverhalten von Schahrasad und Schahriyar kann als Modell eines Rezeptionsverhaltens serieller Narration interpretiert werden – vor allem die formelhaft wiederkehrenden Sätze am Ende der Nacht sind diesbezüglich aussagekräftig. Schahrasad hebt als idealtypische Produzentin serieller Narration dreierlei hervor, unterstützt von Dinarasad: „‚Ach, Schwester‘, seufzte ihre Schwester Dinarasad, ‚wie köstlich und wie spannend ist deine Geschichte!‘“ Dinarasad, die Schwester von Schahrasad, stöhnt ähnlich dem Rezipienten serieller Narration über die Unterbrechung. Gleichzeitig betont sie die Spannung. So wird erstens dem Rezipienten Schahriyar noch bewusster, wie fesselnd die Erzählung ist und wie bedauerlich die Unterbrechung ist. Schahrasad, das ‚Stichwort‘ ihrer Schwester aufgreifend, hebt hervor: „‚Was ist das schon‘, erwiderte Schahrasad, ‚gegen das, was ich euch morgen nacht [sic] erzählen werde‘“. Zweitens wird betont, dass die Fortsetzung der Geschichte noch fesselnder ist – der Rezipient wird zu einer Fortsetzung gelockt mit dem Versprechen auf Spannungssteigerung. Drittens wird dem Rezipienten bewusst gemacht, dass er die Spannungssteigerung und die Auflösung der Geschichte nur erfährt, wenn er die Rezeption nicht ‚tötet‘ – was im Fall von 1001 Nacht wörtlich zu nehmen ist: „,[W]enn ich dann noch lebe und er mich bis dahin verschont…‘“.76 Aber auch auf den Berufserzähler, dessen Lebensunterhalt durch Erzählen gesichert wird, ist diese Aussage übertragbar: Wenn der Rezipient weiterhin die serielle Narration verfolgt, den Erzähler also weitererzählen lässt, weiterbezahlt, sichert er sein Überleben. Als Pendant Schahrasads als idealtypischer Produzentin serieller Narration wird Schahriyar gezeichnet, bei dem ihre seriellen Erzählstrategien und -techniken funktionieren. In der analysierten 17. Nacht hebt Schahriyar beispielsweise hervor, dass er auch wirklich das Ende der zuletzt unterbrochenen Geschichte hören will: „‚Es soll aber das Ende der Geschichte vom Arzt, dem König, dem Fischer und dem Ifrit sein!‘ fügte der König hinzu.“77 Der König demonstriert das Verlangen des Rezipienten nach Auflösung und Abschluss, nach Erzähl-Befriedigung. Einige Male beim Herannahen des Morgengrauens verrät er seinen Vorsatz, unbedingt noch das Ende der Geschichte abzuwarten und dann seiner gewalttätigen ‚Befriedigung‘ nachzugehen: „‚Die Fortsetzung ist noch viel spannender!‘ sagte sie. Der König aber sprach: ‚Ich 76 Auch hier weisen in der Übersetzung die Fortführungszeichen auf die Weiterführung der Geschichte hin. Dieser häufig wiederholte Satz ist im Grunde genommen auch als stets wiederkehrende Narrationsunterbrechung anzusehen, denn ob der Sultan seine Erzählerin nun wirklich am Leben lässt, wird im Grunde ausgelassen (auch hier ein elliptischer Interruptionspunkt: die Tage von 1001 Nacht werden immer vollständig übersprungen). Nur selten wird erwähnt, dass der Sultan Schahrasads Leben in dieser Nacht verschont und mit ihrer Hinrichtung bis zum Ende der Geschichte warten will. Vgl. zum Beispiel: Ebd., S. 48. 77 Ebd., S. 72.

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will sie, bei Gott, nicht eher töten, als bis ich gehört habe, wie es mit dem Alten und dem Dschinni weitergeht. Dann töte ich sie, so wie ich es mit den anderen Frauen getan habe.‘“78 Der List Schahrasads wird der Plan Schahriyars entgegensetzt, noch bis zum Ende der aktuellen Erzählung zu warten, dann aber die Gefährtin seiner Nächte umzubringen. Schahrasad durchschaut jedoch Schahriyars Plan und berechnet ihn in ihrer List mit ein: Sie weiß, dass Schahriyar nur bis zum Ende der Geschichte wartet und lässt darum den Makrotext, die Sammlung der Geschichten nie enden, sondern reiht Geschichte an Geschichte, die immer durch einen erneuten Erzählanlass verbunden sind. Das Ende der Binnenerzählungen lässt sie nie mit dem Ende der Nächte zusammenfallen. Dieses Einbeziehen von Schahriyars Plan signalisiert auch Schahrasads intellektuelle Überlegenheit. Übertragen hieße das: Der Produzent serieller Narration ist immer ein wenig schlauer als sein Rezipient; der Produzent serieller Narration weiß, so wie Schahrasad um die Bedürfnisse von Schahriyar, um die Bedürfnisse ‒ beziehungsweise nach Lewin und Zeigarniks Begrifflichkeit „Quasibedürfnisse“ ‒ des Rezipienten; er versteht es, ihn zu locken, ihm den erneuten Erzähleinstieg mittels Wiederholung zu vereinfachen, ihn mit Cliffhanger zu ködern und mit Binnen-Auflösungen kurzfristig zu befriedigen. Der moderne Rezipient ist zwar – anders als Schahriyar – über die meisten seriellen Erzähltechniken informiert und durchschaut zum Teil den Plan des Produzenten, aber er lässt sich trotzdem auf das ‚narrative Spiel‘ mit verschiedenen Rezeptionsimpulsen wie Cliffhangern ein. 3.2 Die strukturelle Funktion Mit dem Inhalt verbunden ist die strukturelle Funktion der Unterbrechungsmomente: 1001 Nacht ist in Nächte unterteilt. Sie rhythmisieren den Text; ohne sie wäre das Werk eine unzusammenhängend erscheinende Sammlung von Geschichten. Die Nächte mitsamt dem Rahmen geben den Binnenerzählungen den Anlass, Hintergrund und den Takt. Es mag zunächst abwegig erscheinen, dass ausgerechnet die Unterbrechungen in diesem Fall einen Zusammenhang stiften, aber erst sie ermöglichen die verschiedensten Verknüpfungen. „[T]his fragmentation is only one aspect of what may be called the ‚art of interruption‘; that is, the usage of interruption as an artistic device, as a means to structure a work of art, to multiply its dimensions and meanings, and to imbue it with rhythm and movement. Interruptions are also associated with boundaries, transitions, perspectives, empty spaces, intervals, separations,

78 Ebd., S. 48. Diese Sätze werden an einigen Nacht-Enden vom Sultan gesagt, wobei der Wortlaut fast identisch ist und nur die Figuren der jeweiligen unvollendeten Geschichte eingesetzt werden. Bspw: S. 43, S. 93, S. 110 etc.

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connections, gaps, breaches, differences, jumps, divergences, opposites and contradictions. In all these senses, interruptions add something to a literary work.“79

Die Unterbrechungen und die damit verbundene Einteilung in Nächte sind als Strukturprinzip wichtig, weil sie, außer eine Ordnung der Masse an Geschichten und einen Hintergrund und Erzählanlass für diese Geschichten zu liefern, ebenso den zeitlichen Rahmen verdeutlichen. Die Zeit und ihr Verrinnen werden zum Strukturprinzip erhoben. Dies ist auch inhaltlich wichtig, weil Schahriyar letztlich als seelisch Kranker dargestellt wird, dessen Heilung Zeit braucht. Schahriyars unstillbare Mordlust, mit der er beinahe sein gesamtes Reich zerstört – da mit der Zeit der Nachwuchs ausbleibt –, kann nur als Effekt eines schweren Traumas gelesen werden, das ihn zum Serienmörder an jungen Frauen macht.80 In den bereits zitierten wiederkehrenden Sätzen des Sultans wird deutlich, dass er Schahrasad nur bis zum Ende der jeweiligen Geschichte am Leben lassen will. Gelegentlich wird angefügt, „So stand es um ihn“81 ‒ ein deutlicher Hinweis auf seinen kranken Gemüts- und Geisteszustand. Jede Heilung benötigt Zeit und diese Zeit muss erzählerisch erfahrbar gemacht werden.82 Nur auf 79 Leeuwen: „The Art of Interruption: The Thousand and one Nights and Jan Potócki“. In: Middle Eastern Literatures, Volume 7 (2004), S. 183–184. 80 Vgl. Mehio, Hoda: „Schahriyar est-il un tueur en série?“. In: Chraʾibi (Hg.): Les Mille et Une Nuits en partage, 2004, S. 70–79. 81 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 93. 82 „The images, suggestions and experiences accumulated over the three or so years resemble the processes of psychological and emotional healing; what we call therapy today.” Sallis: Sheherazade through the Looking Glass, 1999, S. 95. Hinzu kommt der Aspekt, dass gerade, wenn man das Ende der Breslauer Ausgabe in diese Überlegung miteinbezieht – also jenes Ende, bei dem König Schahriyar sich selbst und sein Fehlverhalten in einer der Geschichten wiedererkennt – das Erzählen der Geschichten Teil der Therapie ist. Durch die Geschichten erhält der König die Möglichkeit, über zahlreiche gleichnishafte Situationen nachzudenken. Auch Hans Dieckmann beschreibt diesen therapeutischen Vorgang: „Etwas in dem König selbst, in seinem eigenen Unbewußten, muss also mit den erzählten Märchen korrespondieren, sie aufnehmen, mit eigenem Erleben vergleichen und sie verarbeiten. In der indischen Hindumedizin ist die Art der Psychotherapie sogar gebräuchlich und wird bewußt angewendet.“ Dieckmann: Der Zauber aus 1001 Nacht, 2000, S. 20. Dass das Erzählen von Geschichten heilsame bzw. gleichnishafte Funktion haben soll, zeigt sich auch in Alfred Döblins Roman Hamlet oder die lange Nacht nimmt eine Ende und Salman Rushdies Midnight’s Children. Beide nehmen explizit auf 1001 Nacht Bezug („Wir erzählen hier nicht Märchen à la Tausendundeine Nacht.“ Döblin: Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende, 1977, S. 213). In beiden wird sowohl die heilsame Kraft von Binnenerzählungen auf die diegetischen Zuhörer beschworen als auch die Erzähltechnik thematisiert. (Siehe für Midnight’s Children: Fröhlich: 1001, S. 63‒77.)

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diese Weise erscheint je nach Version der spätere Sinneswandel beziehungswiese die Selbsterkenntnis Schahriyars plausibel.83 Die Zeitstruktur zeigt aber auch Schahrasads Erfolg. Schahrasad erkämpft sich ihren eigenen ‚Programmplatz‘ im Leben von Schahriyar.84 Erst durch die Einteilung in Nächte und damit die Möglichkeit zum Verspüren der vergehenden Zeit kann der Leser/Zuhörer feststellen, dass Schahrasads Strategie erfolgreich ist. Wäre diese Zeitstruktur nicht vorhanden, bliebe unklar, ob alle Geschichten innerhalb einer einzigen Nacht erzählt werden und ob der Herrscher beim Morgengrauen seine Gefährtin der Nacht doch töten lässt. Der Spannungsmoment, der den Leser/Zuhörer durch die Binnenerzählungen trägt – ob Schahrasad bei Tagesanbruch vom Sultan umgebracht wird – fiele weg. „Der unmenschlichen und mechanischen Frist, die ihr gegeben wird, setzt sie eine eigene Zeitstruktur entgegen, die so stark ist, daß sie das fürstliche Gebot überwindet, ausschaltet. Ihr erster Sieg ist, daß er überhaupt diese zweite Zeitebene anerkennt und ein Bedürfnis entwickelt, immer wieder in die erzählte Welt einzutreten und in ihr zu verweilen.“85

Das Verstreichen der Zeit muss auch dem Lese-/Zuhörer spürbar werden – hier durch die Sprünge von Nacht zu Tag, durch Überschriften, durch eine stete Unterbrechung der Binnenerzählung, Rückführung der Geschichte zum Rahmen, damit zur Verdeutlichung, dass wieder Zeit, wieder eine Nacht vorüber ist und Schahrasad immer noch

83 In allen vollständigen Versionen von 1001 Nacht endet die Rahmenhandlung „glücklich“: In einer Variante hat Schahrasad ihrem Geliebten ein Kind geboren und verrät ihm ihre List. Er reagiert darauf mit Bewunderung und schenkt ihr das Leben – dies war der Schluss, von dem Ibn an-Nadīm im 10 Jh. berichtet. Es ist der am frühesten überlieferte. In Zotenbergs Ägyptischer Rezension (ZÄR) hat sie ihm drei Kinder geboren, führt sie ihm vor und bittet ihn, um Gnade für sie in der Hoffnung, Schahriyar möge ihr angesichts seiner drei Kinder alles verzeihen, was er auch tut. In Habichts Breslauer Druck (von 1711, der hier auf der Abschrift eines Schlussfragments von Ibn Nağğār von 1123 beruht,) erkennt Schahriyar selbst anhand einer ihrer Geschichten seinen Irrtum und bittet sie um Vergebung. Vgl. Grotzfeld: Die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, 1984, S. 59–63. 84 Vgl. ebd., S. 6. ‚Schahriyar‘ ist ein sprechender Name und bedeutet „König der Zeit“. Er ist Herrscher über die Rezeptionszeit und damit auch über die Lebenszeit von Schahrasad. (Vgl. Littmann: „Anhang“. In: Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten, 1976, S. 678.) 85 Giesenfeld: „Serialität als Erzählstrategie in der Literatur“. In: Ders. (Hg.): Endlose Geschichten, 1994, S. 6.

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lebt, der Plan der fortwährenden Narration weiterhin gelingt.86 Erzählen und Rezipieren von serieller Narration sind verbunden mit Ritualität,87 welche die „Rückkopplung zwischen Diegese und Alltag“ zu einem großen Teil erst ermöglicht und diese Wirkung verstärkt.88 Die Unterbrechung, die klare Trennung durch die Nächte bietet dem Zuhörer trotz der Menge und Phantastik der Geschichten eine feste, wiederkehrende Struktur, die ihn an den Zweck und den Zusammenhang erinnert, in dem die Geschichten stehen – sonst könnte man leicht den Überblick verlieren und vor allem den Kontext, in dem diese Geschichten erzählt werden, vergessen.

86 Abgesehen von der verstreichenden Zeit, die eine Heilung ermöglicht, diese nachvollziehbar erscheinen lässt und das Funktionieren von Schahrasads Erzählprinzip unterstreicht, kann die Nacht auch als einzig geeigneter Hintergrund für die Binnenerzählungen gesehen werden. Der stete Tages- und Nachtwechsel in 1001 Nacht ist eine symbolhafte strukturelle Spiegelung des dualistischen Inhalts: Die Geschichten handeln von Gut und Böse, Licht und Schatten, Fantasie und Realität. Die Dunkelheit der Nacht ermöglicht diese Welt der Geschichten, der Dschinnis und fliegenden Teppiche. „It [d.i. die Nacht] is the time for a flight from reality, for fantasy, for the prevalence of the imagination, for visits to metaphorical worlds, for dreaming.“ Leeuwen: „The Art of Interruption: The Thousand and one Nights and Jan Potócki“. In: Middle Eastern Literatures, Volume 7 (2004), S. 188. Das mit Tagesanbruch abrupte Enden der Geschichten kommt einem plötzlichen Erwachen nahe, da Schahrasad immer genau im Moment des Morgengrauens aufhört zu erzählen. Die Binnenerzählungen Schahrasads wirken in diesem Kontext wie Träume, aus denen man mit Tageseinbruch ebenso plötzlich herausgerissen wird. Nicht zuletzt ermöglicht die Nacht auch die bereits erläuterte Konnotation zwischen Eros, Sexualität und Erzählung, zwischen diegetischer Unterbrechung und coitus interruptus. 87 „Die Serialität in diesem Beispiel [d.i. 1001 Nacht] bezieht sich nicht nur auf den festgelegten Termin für das Erzählen, sondern dieser ist auch ein fester ‚Programmplatz‘ in einem rituellen Ablauf von Tagen und Nächten, der nicht durch unerwartete Ereignisse unterbrochen wird, und in dem nur beiläufig erwähnte religiöse und staatsmännische Verpflichtungen ihren selbstverständlichen Platz ebenso haben wie die morgendliche Entscheidung des Sultans, Sheherazade nicht umbringen zu lassen und ihr in der Nacht abermals zuzuhören.“ Giesenfeld: „Serialität als Erzählstrategie in der Literatur“. In: Ders. (Hg.): Endlose Geschichten, 1994, S. 6. 88 „Serien [haben] eine im Vergleich zu anderen Erzählformen ungewöhnlich intensive Rückkopplung zwischen Diegese und Alltag. Schon aufgrund ihres Fortsetzungsinteresses und ihrer kommerziellen Programmabhängigkeit sind populäre Serien meist sehr eng in die Lebenswelt und (bei regelmäßiger Präsentationstaktung) den Wochen- oder Tagesrhythmus ihrer Adressaten eingebunden“. Kelleter: „Populäre Serialität“. In: Ders. (Hg.): Populäre Serialität: Narration - Evolution - Distinktion, 2012, S. 24.

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4. F AZIT

UND

AUSBLICK

4.1 1001 Nacht als Stellvertreter oraler Literatur – eine Spurensuche Kann der Cliffhanger als eine Erzähltechnik angesehen werden, die ideal für mündliches Erzählen ist, da sich mittels des Zeigarnik-Effekts das Erzählte sowohl beim oralen Erzähler als auch beim Zuhörer besser einprägt als ohne Cliffhanger? Ist 1001 Nacht ein Hinweis dafür, dass Cliffhanger in der oralen Erzähltradition genutzt wurden?89 Um diesen Fragen nachgehen zu können, muss geklärt werden, inwiefern 1001 Nacht als der oralen Erzähltradition entstammend anzusehen ist. Die Sprache der Galland-Handschrift ist wichtiges Indiz dafür, dass die Geschichten aus einer oralen Erzähltradition kommen.90 Die Galland-Handschrift ist in einem sprachlichen Stil geschrieben, der in der deutschen Wissenschaftssprache als Mittelarabisch bezeichnet wird ‒ gemeint ist damit eine Kombination aus klassischer Hochsprache, Umgangssprache und regionalen Dialekten.91 Heinz Grotzfeld hat das Mittelarabisch von 1001 Nacht ausgiebig analysiert und kommt zu dem Urteil: „Die Beispiele dokumentieren deutlich, dass der sprachliche Ausdruck stets von der Spannung zwischen dem Pol Erzählsprache (= mehr oder weniger Dialekt) und dem Pol Schreibsprache bestimmt ist.“92 Eine zum Teil dem Mündlichen entstammende Sprache ist also noch immer im skripturalen Text von 1001 Nacht vorhanden. Weiteres Merkmal der oralen Erzähltradition sind die zahlreich im Text auftauchenden Hinweise auf einen nicht-diegetischen Erzähler: „Der Erzähler spricht:“,93

89 Wobei eine große Schwierigkeit des vorliegenden Kapitels ist, dass Analysen arabischer Literatur mit dem Fokus auf die Aspekte Mündlichkeit und Schriftlichkeit (noch) sehr selten sind. (Vgl. Ott: Metamorphosen des Epos, 2003, S. 1.) 90 „Sie [d.s. die sprachlichen Beobachtungen] erlauben Rückschlüsse auf die Art und Weise der Niederschrift wie auch der schriftlichen Weitertradierung.“ Grotzfeld: „Schriftsprache, Mittelarabisch und Dialekt in 1001 Nacht“. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam, 1992 (15), S. 172. 91 Vgl. Irwin: The Arabian Nights, 2004, S. 10. 92 Grotzfeld: „Schriftsprache, Mittelarabisch und Dialekt in 1001 Nacht“. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam, 1992 (15), S. 179. Siehe auch: El-Shamy: „The Oral Connections of the Arabian Nights“. In: Marzolph u. a. (Hg.): The Arabian Nights Encyclopedia, Volume 1, 2004, S. 9–13; Molan: „The Arabian Nights: The Oral Connection“. In: Edebiyat: The Journal of Middle Eastern Literatures, 1988 (2), S. 191–204. 93 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 20.

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heißt es häufig.94 Zumal in der Handschrift das Wort „sajc“ benutzt wird – in gereimter Prosa meist mit „öffentlichem Rezitieren“ zu übersetzen.95 Die sich immer wieder einschaltende Instanz des Erzählers macht zweierlei deutlich: Zum einen unterstützt sie die literarische Position von 1001 Nacht zwischen klassischer hocharabischer und trivialer Literatur. Denn innerhalb hocharabischer Literatur wird der Rezipient durch derartige Einfügungen mit Namensnennung daran erinnert, wessen Buch er liest.96 Dieser ‚Autor‘ ist jedoch bei 1001 Nacht anonym – es gibt keinen alleinigen Autor der Erzählungen, was wiederum ein Zeichen für anonym überlieferte Texte ist, die mündlich vorgetragen wurden, da hier der Zuhörer mithilfe eines fiktiven Erzählers in eine Erzählsituation hineinversetzt wird.97 Als zweiten Punkt verdeutlichen diese Sätze, da sie häufig visuell vom Fließtext abgehoben sind – sei es durch Illumination oder Kapitalisierung –, der Vortragende solle hier selbst tätig werden, vermutlich improvisierend und ausschmückend, da die Stellen so formelhaft wiederholt werden.98 Eventuell wird auf diese Weise darauf

94 Vgl. Bazzi: „Les Expressions de lʼoralité dans un conte des Mille et une nuits“. In: Middle Eastern Literatures, 2002 (5.1), S. 7. 95 Vgl. ebd. 96 Siehe: Macdonald: „The Earlier History of the Arabian Nights“. In: JRAS, 3. Juli 1924, S. 368. Schahrasad erinnert auch Schahriyar und ihre Schwester immer wieder daran, dass nur sie die Geschichte zu Ende führen kann. Auf ähnliche Weise weist die sich einschaltende Erzählinstanz den Rezipienten darauf hin, von wem er dieses Buch beziehungsweise diesen Vortrag hat, wer der Ausleiher, ‚Autor‘ bzw. Schreiber war. Sowohl diegetischer als auch außerdiegetischer Erzähler bzw. Besitzer machen ihren narrativen ‚Besitzanspruch‘ deutlich. 97 Vgl. Ott: „Der fiktive Erzähler“. In: Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 655–656. 98 „I myself have found that such phrases tend to appear at transition points. That copyists who inserted such phrases sometimes penned them in disproportionately large letter, or in an ink which varied from that of the surrounding text, suggests that they may have served as visual guides and markers alerting reciters to an imminent change in narrative voice“. Pinault: „Alf layla wa-layla“. In: Scott Meisami u. a. (Hg.): Encyclopedia of Arabic Literature (A-J), 1998, S. 72. Tatsächlich sind die Sätze am Ende der Nacht sehr formelhaft und sich wiederholend. Sowohl im Original 3

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alf laila wa-laila (Band2), transkribiert von Mahdī, 1984, S. 104, Z. 80) als auch in der Übersetzung von Ott („Und da erreichte das Morgengrauen Schahrasad und sie hörte auf zu erzählen.“ S. 35). Dies ist jedoch Ausdruck der oralen Erzähltradition, der das Werk entstammt. Die Erzähler nahmen die sich wiederholenden Sätze teilweise nur als Inspiration für die eigene Ausformung und für den Hörer als Hinweis, dass wieder eine Nacht vergangen ist und Schahriyar Schahrasad noch immer nicht umgebracht hat. Peter Heath

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aufmerksam gemacht, die folgende Passage möglichst in einer anderen Stimmlage darzubieten, weil ein anderer, ein innerdiegetischer Erzähler eine in die Geschichtensammlung eingefügte Binnenerzählung berichtet.99 „Thus we can hypothesize that anomalous qāla [in etwa: er spricht] served as a visual guide and marker alerting any reciter who glanced at the page of an imminent change in narrative voice.“100 Auch die Bedeutungswandlung des Wortes ‚ḥikāya‘ zum heutigen ‚ḥakawātī‘ lässt Rückschlüsse auf die Erzähltradition zu, in der 1001 Nacht steht. Im heutigen Sprachgebrauch wird das Wort ‚ḥikāya‘ für ‚Geschichte‘ verwendet. In zahlreichen Quellen bis zum 10. Jahrhundert hingegen wird der Begriff als „Nachahmung einer Handlung“ definiert. „[A]uch in den ältesten Handschriften von 1001 Nacht finden wir ḥikāya für eine zum Zweck der Unterhaltung erzählte Geschichte gebraucht.“101 Das Wort ḥikāya, das früher die ‚Darstellung einer Erzählung‘ beschrieb und häufig in 1001 Nacht vorkommt, hat sich in seiner Bedeutung zur Bezeichnung von ‚eine Geschichte‘ gewandelt und ist von der Wurzel her verwandt mit dem Begriff für den arabischen Berufserzählers ḥakawātī: „[N]ach dem 11. Jahrhundert [war] der Bedeutungswandel des Begriffs ḥikāya von ‚darstellerischer Imitation‘ zu ‚erzählter Geschichte‘ vollzogen [...]. Der sich nun herausbildende Be-

trifft in The Thirsty Sword gute Unterscheidungen zwischen den Wiederholungen von Sätzen in früher arabischer Literatur. Er vergleicht 1001 Nacht mit Sīrat ´Antar ‒ ältestes, vollständiges Manuskript von 1444, ein Werk, dessen Entdeckung im Westen stark mit 1001 Nacht verbunden ist, daher häufig mit diesem verglichen wurde und wird. Heath stellt fest, dass 1001 Nacht sogar im Vergleich mit Sīrat ´Antar nur gelegentlich wiederholende Sätze aufweist, während Sīrat ´Antar hauptsächlich aus solchen besteht, die Heath in „formula“ und „traditional phrases“ unterscheidet. Vgl. Heath: The Thirsty Sword, 1996, S. 280. 99

Siehe: Auf Paris 3651, Tafel 40b und Paris 3663, Tafel 85a der Galland-Handschrift wurden größere Buchstaben zur Kenntlichmachung des Sprecherwechsels benutzt ‒ ebenso in der Leidener Edition von Alf laylah, 2. Band, Tafeln 55f, 71f. In Paris 3668, Tafel 53b und folgende stehen Sätze wie „qāla al-rāwi“ [der Geschichtenerzähler sagte] in roter Tinte statt schwarzer und verdeutlichen somit farblich den Sprecherwechsel.

100 Pinault: Story-telling Techniques in the Arabian Nights, 1992, S. 14. Siehe: „The phrase faqālat lahu al-ajūz (and then the old woman said to him) in 657 is particularly interesting: it is highlighted in red, prewarning of a change in character and pitch of voice. These extratextual prompts have more in common with stage directions in a play than with a genuine folkloric tradition.“ Sallis: Sheherazade through the Looking Glass, 1999, S. 38. 101 Pannewick: Das Wagnis Tradition, 2000, S. 257.

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rufsstand wandernder Erzähler, die Elemente der Imitatoren mit der Rezitation niedergeschriebener Geschichten verbanden, wurde in Ägypten und Syrien mit einem Wort bezeichnet, das von derselben Wurzel abgeleitet ist wie ḥikāya: ḥakawātī.“102

Vermutlich ‒ so lässt die Wortwahl in der Galland-Handschrift erkennen ‒, wurden die Geschichten aus 1001 Nacht nicht nur oral erzählt, sondern auch dargestellt, zum Teil von ḥakawātīs.103 Sprachlich lassen die Wortwahl und häufige Wiederholung von Performance-Anleitungen beziehungsweise Kenntlichmachungen, wer dies erzählt oder erzählen soll, Rückschlüsse darauf zu, dass diese für eine Rückführung zum mündlichen Erzählen, also als Gedächtnisstützen und Inspiration gedacht waren. „Wir müssen nämlich annehmen, dass der Vortrag [von 1001 Nacht] nie in einem reinen Vorlesen bestand, sondern in einer recht freien phantasievollen Ausgestaltung, mit mancherlei Zutaten und Zugaben, und dass die Geschichten in einer Sprache erzählt wurden, die dem Dialekt oder der Umgangssprache des ḥakawati oder seiner Zuhörerschaft recht nahe stand.“104

Die Erzählunterbrechung erleichtert in diesem Kontext das Einprägen und Erinnern der Geschichte für Erzähler und Zuhörer und ist direkt mit dem oralen Ursprung der Geschichten verbunden: Das Erzählen aus dem Gedächtnis beziehungsweise Zuhören wird angesichts von Erzähltechniken, die die Geschichten einzuprägen helfen, erleichtert. Auch inhaltlich zeigt sich die Herkunft aus der oralen Erzähltradition: Die Erzählsituation des Rezitierens wird immer wieder aufgegriffen und ist gewichtiger Bestandteil der Rahmenhandlung. Die Unterbrechungsmomente sind Teil dieser inhaltlichen Komponente, die Verweise auf die orale Erzähltradition zulässt. Außerdem kann davon ausgegangen werden, dass die ersten Schreiber vermutlich auch die ursprüngliche, orale Erzählsituation der Geschichten einfangen wollten: Die Inspiration für die in 1001 Nacht vorgefundene diegetische Erzählsituation kommt sicher nicht von ungefähr. „Thus the Alf laylah, as revealed through the very diverse texts in which it is recorded, cannot be described only as a collection of transcribed oral folktales: for it survives as the crafted 102 Ebd., S. 258–259. 103 Auch MacDonald kommt in seinem wegweisenden Aufsatz über die Quellen, in denen 1001 Nacht erwähnt wird oder Spuren von 1001 Nacht ersichtlich sind, zu dem Urteil, dass vermutlich auch ḥakawātīs diese Geschichten vorgetragen, vorgelesen und aufgeführt haben. Macdonald: „The Earlier History of the Arabian Nights“. In: JRAS , 3. Juli 1924, S. 370. 104 Grotzfeld: „Schriftsprache, Mittelarabisch und Dialekt in 1001 Nacht“. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam, 1992 (15), S. 174.

166 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION composition of authors who used various forms of written literary Arabic to capture an oral narrative tradition. In evaluating the stories of the Nights it will be wise to acknowledge the interaction implicit therein of the textʼs oral performance background and the transforming process of written composition.“105

Galland hat diese Hinweise, in seiner Übersetzung der Handschrift weggelassen – sie schienen ihm für das Zeichensystem der Schrift als befremdlich, genau wie die abrupten Unterbrechungen. Claudia Ott hingegen beließ die Hinweise auf den Erzähler in ihrer Übersetzung mit dem Hinweis, diese Geschichten seien immer auch für den Vortrag gedacht gewesen: „In einfacher Sprache zügig erzählt und mit klangvollen Gedichten geschmückt, eignet sich das Werk zum Vorlesen geradezu ideal. Immer wieder meldet sich im Text ein ‚Erzähler‘ oder ‚Überlieferer‘ zu Wort, der sich als Autorität über die Geschichten erhebt und das Buch in die Atmosphäre des mündlichen Vortrags hinein nimmt. Reiseberichte und andere europäische Quellen des 17-19. Jahrhunderts geben an, Tausendundeine Nacht gehöre zum Repertoire arabischer Berufserzähler, die in allabendlichen Sitzungen ihr Publikum mit vorgelesenen Geschichten unterhielten. Welchen Stellenwert Tausendundeine Nacht in diesen Repertoires tatsächlich hatte, kann jedoch nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Hierzu sind die Quellen viel zu spärlich. Die Tradition der arabischen Berufserzähler ist erst untersucht worden, als sie bereits im Aussterben begriffen war und Tausendundeine Nacht nirgendwo mehr in der traditionellen Form vorgetragen wurde.“106

Noch heute gibt es die arabische Geschichtenerzähler-Tradition.107 Vor allem im privaten Raum werden noch Geschichten auf herkömmliche Weise tradiert; hier sind

105 Pinault: Story-telling Techniques in the Arabian Nights, 1992, S. 15. 106 Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 669. Siehe: „Die mündliche Erzähltradition lebte aber ungebrochen weiter [...]. Erst Rundfunk und Fernsehen drohen diesen bis in uralte Zeiten zurückreichenden Born der Volksphantasie zum Versiegen zu bringen, denn jeder Brunnen, aus dem nicht mehr geschöpft wird, versiegt.“ Grotzfeld: „Schriftsprache, Mittelarabisch und Dialekt in 1001 Nacht“. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam, 1992 (15), S. 184. 107 „The oral cousins of the Alf laylah wa laylah are the stories told in camps, coffeehouses, and womenʼs quarters and performed in various parts of the Arab world from the Middle Ages up to the early twenty-first century. Professional reciters had to know their material well enough to expand and contract a story for a given audience or event. Poetry and interpolated tales were inserted into a huge repertoire as required.“ Sallis: „Alf laylah wa laylah“. In: Cooperson (Hg.): Arabic Literary Culture, 2005, S. 62.

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noch Reste einer ḥakawātī-Tradition vorhanden.108 Aber diese Tradition wurde erst sehr spät erforscht, sodass es heutzutage nur Belege und Berichte über die späteren Ausformungen dieser Tradition gibt.109 Deshalb gibt es zwar zahlreiche Hinweise dafür, dass einige der Geschichten aus 1001 Nacht ursprünglich vorgetragen und aufgeführt wurden, aber die Aussagen über die frühe orale Erzählkunst bleiben zu einem großen Teil spekulativ, weil wir nur die schriftlichen Weiterentwicklungen haben. Sie zeigen nur die ‚Überreste‘, weil das Erzählte bereits ‚skriptural transportiert‘ wird und nicht mehr oral, sich also in einem anderen Zustand befindet. Die damalige nichtdiegetische Erzählunterbrechung ist im Text nur noch eine diegetische – eine, die nicht stattfindet, sondern über die berichtet wird und die somit nur noch ein Unterbrechungsmoment ist. Die schriftlichen Hinweise auf orales Erzählen können lediglich aussagekräftige Indizien für diese Tradition liefern, da in ihnen höchstwahrscheinlich noch Techniken dieser Erzählpraxis verwendet werden; vermutlich haben sich die ersten schriftlichen Erzählzeugnisse nicht komplett von der oralen Tradition gelöst. Vor allem die formelhaft wiederholten Sätze in 1001 Nacht erscheinen wie Performance-Anleitungen, die auf eine orale Tradition hindeuten. Gerade die ersten Aufzeichnungen von Geschichten sollten wahrscheinlich Gedächtnisstützen für die Erzähler sei;110 darum sind in ihnen orale Techniken in die Schriftlichkeit übertragen worden. Unbeantwortet bleibt, wie viele der Rezitationstechniken ins Schriftliche übernommen und ob nicht viele gelöscht wurden, weil die Schreiber sich der anderen Darbietung – statt Oralität die Schrift – bewusst waren und die dem systemischen

108 „Das anonyme Erzählgut, aus dem die verschiedenen Rezensionen von 1001 Nacht Ausschnitte bieten, die zu unterschiedlichen Zeiten in die Sammlung inkorporiert wurden, ist stets an die folgenden Generationen weitergegeben worden. Die Erzählungen lebten und entfalteten sich im Vortrag vor dem Publikum, die Ausschmückung mit Handlungsdetails, die Einfügung neuerer Handlungsmomente, aber auch die Kontamination mit anderen Geschichten und schließlich die Verwilderung sind gut begreifbar, oft sogar allein erklärbar aus der Tatsache der mündlichen Überlieferung.“ Grotzfeld: „Schriftsprache, Mittelarabisch und Dialekt in 1001 Nacht“. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam, 1992 (15), S. 173. 109 Für erste Belege siehe: Niebuhr: Beschreibung von Arabien, 1772, S. 106–107; Description de l'Égypte, 1802, S. 161–162; Lane: Manners and Customs of the Modern Egyptians, 1838, S. 391. Eine gute Zusammenfassung der älteren Belege und Beschreibungen des ḥakawātīs bietet: Herzog: Geschichte und Imaginaire, 2006, S. 14–19. „Heute sind für viele […] einige wenige Handschriften die praktisch einzigen Überreste einer florierenden Erzähltradition [des ḥakawātīs], die sich über viele Jahrhunderte hinweg erstreckt hat.“ Ebd., S. 19. 110 Vgl. Müller: „Formulas and Formulaic Pictures“. In: Yamanaka u. a. (Hg.): The Arabian Nights and Orientalism, 2006, S. 47f.

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Medium nicht entsprechenden Erzählweisen wegließen, so wie es später Galland und Lane taten.111 4.2 Die Bedeutung des Cliffhangers in der oralen Erzählpraxis Wenn 1001 Nacht tatsächlich einer oralen Erzähltradition entstammt, die Geschichten früher von Berufserzählern vorgetragen und aufgeführt wurden, dann muss die orale Erzählpraxis der Geschichten aus 1001 Nacht serieller Natur gewesen sein: Nicht nur der eine serielle Erzählsituation widerspiegelnde Inhalt und die Struktur lassen Serialität vermuten. Auch die Aufführung der kompletten Länge des Makrotextes ist ausschließlich in einer seriellen Praxis möglich.112 Wenn man davon ausgeht, dass „sich die Modalitäten der Produktion, Vermittlung und Rezeption in die 111 Die Bedeutung der strukturellen Funktion der Erzählunterbrechungen macht ‚ungewollt‘ auch Edward William Lanes Übersetzung (1839–41) deutlich: In der Übersetzung sind die Unterbrechungen der Geschichte und Rückführungen zur Rahmenhandlung nicht vorhanden, weil Lane sie für zu formelhaft und repetitiv empfand (Lane u. a.: The Thousand and One Nights, 1839/41, S. XVIII). Die gewählte Stelle der 16. Nacht liest sich bei Lane wie folgt: „[A]nd in a little while, the poison penetrated into his system; for the book was poisened; and the King fell back, and cried out, The poison hath penetrated into me! - and upon this, the head of the sage Dooban repeated these verses:- [...] And when the head of the sage Dooban had uttered these words, the King immediately fell down dead. Continuation of the Story of the Fisherman. [Überschrift] Now, OʼEfreet, continued the fisherman, know that if King Yoonan had spared the sage Dooban, God had spared him.“ Ebd., S. 96f. Lane fügt die Informationen, die in der Galland-Handschrift auf zwei Nächte verteilt sind, in einem Kapitel zusammen: Der König wird vergiftet und taumelt; der König und der Arzt Duban sterben. Die Rückführung der Binnenerzählung zweiter Ordnung zur Binnenerzählung des Fischers verdeutlicht er mithilfe eines neuen Kapitels samt Überschrift. Die diegetischen Erzählunterbrechungen sind nicht vorhanden – die Spannungssteigerungen gehen auf diese Weise verloren. Nur in der ersten Nacht übersetzt Lane die diegetische Erzählunterbrechung: „(On the second and each succeeding night, Shahrazad continued so to interest King Shahriyar by her stories as to induce him to defer putting her to death, in expectation that her fund of amusing tales would soon be exhausted; and as this is expressed in the original work in nearly the same words at the close of every night, such repetitions will in the present translation be omitted.)“ Ebd., S. 49. Zwar lässt er danach tatsächlich diese formelhaften Sätze weg, aber bereits die Notwendigkeit seiner langen Erklärung macht allzu deutlich, wie wichtig die Bestandteile Unterbrechungsmoment und Rahmenhandlung für 1001 Nacht sind. 112 Ohne dies vergleichen zu wollen, sind Experimente aussagekräftig, bei denen mittelalterliche Texte vorgelesen wurden. (Siehe bspw.: Mohr: „Fiktive und reale Darbietungszeit“. In: Harkort u. a. (Hg.): Volksüberlieferung, 1968, S. 517–529; Linke: Epische Strukturen

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Texte einschreiben“,113 dann hat der Text von 1001 Nacht diese Parameter einer oralen-seriellen Erzählpraxis aufgenommen.114 Der Cliffhanger nimmt in diesem Kontext einen bedeutenden Platz ein. Er liefert die Möglichkeit der Anbindung einer Zuhörerschaft ‒ auch über eine größere Zeitspanne hinweg. Der damalige Berufserzähler hätte mit dem Cliffhanger mit seinem Publikum gewissermaßen ein Abonnement abgeschlossen: Wenn ihr wissen wollt, wie die Geschichte weitergeht, wie die Erzählunterbrechung aufgelöst wird, müsst ihr mich auch das nächste Mal als Erzähler zu euch holen. Dies wird ‒ wenn man den ersten Schilderungen solcher Berufserzähler folgt ‒ höchstwahrscheinlich besonders wichtig gewesen sein, weil sie in der Zeit ihrer Erzähltätigkeit in eine Gruppe integriert waren, Achtung genossen, Wärme, Essen und Trinken erhielten oder eine andere Art der Wertschätzung oder Bezahlung – alles gute Gründe, die Gemeinschaft der Hörer für mehrere Zeiteinheiten persönlich an sich zu binden. Gleichzeitig stellt dies eine Erzählsituation dar, die in 1001 Nacht inhaltlich gespiegelt wird: Auch Schahrasad versucht ihren Zuhörer an sich zu fesseln und erzählt wortwörtlich ‚ums Überleben‘. Aus der Zeit von 1001 Nacht, aus dem 8. Jahrhundert, gibt es keine Belege über ḥakawātīs. Erst später, im 17. und 18. Jahrhundert, wird über diese Erzähltradition berichtet, so steht im Qāmūs aṣ-ṣinā‛āt aš-šāmīya (1890 kompiliert) unter dem Eintrag ḥakawātī: „ḥakawātī. Name dessen, der Geschichten memoriert und sie auswendig oder aus einem Buch vorträgt. [...] Dem Erzähler ist in jedem Kaffeehaus eine bestimmte Zeit reserviert, zu der er seine Geschichten zum Besten gibt, zumeist nach dem maġrib- oder dem ‛išāʼ-Gebet. Da kommen die Leute im Kaffeehaus zusammen und lauschen freudig seinen Worten. Bevor er mit der Erzählung beginnt, erzählt er ihnen eine dahlīz genannte Vorrede voller lustiger Dinge und Ermahnungen, eine wundersame Sache. Nach dem Ende dieser Vorrede erzählt er ihnen das zu in der Dichtung Hartmanns von Aue, 1968; Däumer: „Der Held an der Klippe“. In: Kapp u. a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 2010, S. 36–37.) 113 Selig: „Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Bereich der trobadoresken Lieddichtung“. In: Röcke u. a. (Hg.): Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Weltbildwandel, 1996, S. 9–37. 114 Ein Beleg für die Serialität der oralen Vorträge der ḥakawātīs ist bspw.: „Such performances [d.s. die oralen Erzählungen eines ḥakawātī] were especially popular during Ramadan, when the owner of a coffee house would make an arrangement with a particular singer to come and celebrate Ramadan evenings at his coffee house. The singer would then divide the narrative into thirty episodes, one for each evening of the month, so that he could complete the narrative in the course of the month.“ Abouel-Lail, Khaled: „The Sīrat Banī Hilāl“. In: Dorpmüller u. a. (Hg.): Fictionalizing the Past, 2012, S. 73–94. Aber auch diese Aussage bezieht sich auf Belege über das Erzählverhalten der ḥakawātīs im 18. Jahrhundert.

170 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION Ende, was er am vorhergehenden Abend begonnen hatte zu erzählen, denn der ḥakawātī beendet seine Erzählung an einer Stelle der Geschichte, an der es die Gemüter drängt, ihr Ende [zu hören].“115

Natürlich ist es kaum möglich, von derartigen Aussagen aus dem 18. Jahrhundert Rückschlüsse über die Tradition des ḥakawātī im 15. Jahrhundert zu machen ‒ aber zur Zeit spricht zumindest kein Argument dagegen, dass Cliffhanger auch im 15. Jahrhundert von ḥakawātīs benutzt wurden. Zumal in den wenigen Berichten über diese Tradition immer wieder hervorgehoben wird, dass es eine große und gleichbleibende Tradition war,116 sich also wahrscheinlich wenig am Gebrauch bestimmter Erzähltechniken geändert hat. Auch wenn die Spuren der Oralität nur bedingt Rückschlüsse erlauben, so kann mit Gewissheit gesagt werden: Der mündliche vorgetragene Cliffhanger hat einen existentiellen Charakter, von dem der spätere, auf einem Trägermedium festgehaltene, im Grunde genommen nur eine Kopie ist: Das Verstummen, das Schweigen, das ‚Ersterben‘ der Stimme eines Erzählers, der sich direkt vor einem befindet, hat eine Unmittelbarkeit und eine Dramatik, die nur schwer vergleichbar ist mit den aufgezeichneten und (auch zeitlich) vorhersehbaren Cliffhanger einer Buch-Folge, eines Radiohörspiels oder einer TV-Serie.117 Der aus Damaskus stammende, inzwischen in Deutsch schreibende Schriftsteller Rafik Schami erinnert sich in Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte an seine Kindheit. Sein Großvater erlebte noch, dass die Geschichtenerzähler im Kaffeehaus gang und gäbe waren und berichtet von ihren ‚gemeinen Erzähltechniken‘. Er vermittelt damit einen guten Eindruck von der Wirkung eines mündlich vorgetragenen Cliffhangers: „Jeden Abend ging ich ins nahe gelegene Kaffeehaus. Dort erzählte der Hakawati eine Abenteuergeschichte, die mich faszinierte und die Mühe des Tages vergessen ließ. Eines Nachts unterbrach der Erzähler die Geschichte dort, wo der Held am Balkon seiner Geliebten im dritten

115 Al-Qasimy (Hg.): Dictionnaire des metiers Damascains, Band 1, 1960, S. 112‒113. Zitiert nach der Übersetzung der Passage aus dem Arabischen von: Herzog: Geschichte und Imaginaire, 2006, S. 14–15. Der Eintrag verdeutlicht auch den Erfolg dieses Berufszweigs und die damalige Bezahlung des ḥakawātī: „Im Großen und Ganzen ist dies ein sehr gut gehendes Handwerk […]. Schließlich beschränkt sich der ḥakawātī nicht nur auf die Kaffeehäuser, sondern begibt sich gegen eine besondere Entlohnung auch zu den Leuten nach Hause, um ihnen einen fröhlichen Abend zu gestalten.“ Ebd., S. 15 (bzw. im arabischen Original S.114). 116 Vgl. Description de lʼÉgypte, 1802, S. 161–162. 117 „The storytellerʼs presence embodies a concentration of physical, emotional, mental and unconscious faculties, through which an audience is transported away from the physical plane.“ Sobol: The Storytellersʼ Journey, 1999, S. 35.

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Stock hing. Gemeinerweise hatte der Hakawati zum Abschied sogar noch hervorgehoben: ‚Übrigens, ich habe vergessen zu sagen, dass es in jener Nacht stürmisch und regnerisch war.‘ Ich konnte nicht schlafen. Klettert der Arme hinauf oder rutscht er am nassen Geländer ab und stürzt in den Tod? […] Es blieb mir am Ende nichts anderes übrig, als das Haus des Hakawati aufzusuchen, bei ihm anzuklopfen und untertänig zu gestehen, ich könne nicht schlafen. Er solle den Helden hinaufklettern oder herunterfallen, aber nicht in der Schwebe lassen. Der Hakawati […] verlangte eiskalt einen Extralohn für die Beruhigung. Ich zahlte, und der Hakawati sagte leise: ‚Keine Sorge, er klettert nach oben und öffnet die Tür des Schlafgemachs seiner Angebeteten. In dem Augenblick kommt die Mutter, um nach ihrer Tochter zu schauen, aber unser Held hat sich versteckt. Nun geh, und morgen erzähle ich im Café, wie die Geschichte weitergeht.‘“118

Der ḥakawātī setzt einen Cliffhanger, betont diesen noch durch seine Hinzufügung, dass es regnete, und lässt sich für die Auflösung bezahlen, an deren Ende er direkt den nächsten Cliffhanger setzt.119 Auffällig ist zumindest, dass, obwohl nur so wenig Quellen über den ḥakawātī vorhanden sind, in diesen Quellen erstaunlich häufig darüber berichtet wird, dass er Cliffhanger gebraucht. Der orale Ursprung der Erzählungen war den Verfassern der Handschriften und den späteren europäischen Übersetzern bewusst. Die europäischen Übersetzer gingen nur sehr unterschiedlich mit dieser Tradition um: Entweder sie empfanden die Spuren dieser anderen Medialität als ungeeignet für das Schriftmedium und ließen sie weg – 118 Schami: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte, 2011, S. 34. Natürlich ist dies möglicherweise eine fiktive Begebenheit, aber zumindest werden sich wohl ‚Dichtung und Wahrheit‘ vermischt haben. Nacer Khemier lernte bei seinen UNESCOMissionen 1971 in Tunis noch ḥakawātīs (oder wie sie in Tunis hießen: fedawis) kennen. Er spürt ihrem Verschwinden nach: „Ces conteurs du café citadins et raffinés, qui en lʼhonneur de la parole revêtaient un costume riche et précieux.[…] Ce conteur-là, non seulement recueillait des représentations venues d’ailleurs, mais les chargeait, les mixait, les mettait à son goût: cʼétait un véritable alchimiste. Il a fini par être remplacé, après la Seconde guerre mondiale, par le poste de radio.“ Khemier: „Journal dʼun conteur“. In: Bouffard u. a. (Hg.): Les mille et une nuits, 2012, S. 323. 119 Claudia Ott dokumentierte 1997 den oralen Erzählvorgang des ḥakawātī Si Mlloud (damals 75 Jahre alt und vermutlich einer der letzten Marokkos) und stellt fest: „Si Mlouds Vortrag endet abrupt. Kaum vernimmt er den ersten Gebetsruf zum Abendgebet bzw. vernehmen ihn einige Männer aus dem Publikum und stehen daraufhin auf, bricht Si Mloud seine Lesung ab, selbst mitten im Satz, ja mitten im Wort.“ Ott: Metamorphosen des Epos, 2003, S. 209. Eine weitere Feldstudie zum zeitgenössischen Erzählverhalten von arabischen Amateur- und Berufserzählern (in diesem Fall in Ägypten) ist: AbouelLail: „The Sīrat Banī Hilāl“. In: Dorpmüller u. a. (Hg.): Fictionalizing the Past, 2012, S. 73–94.

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wie Galland und Lane es taten. Oder sie betrachteten diese Elemente als wichtigen Bestandteil des Inhalts und der Struktur der Geschichten – wie Burton und Ott – und gestalteten die diegetischen Erzählunterbrechungen mit Zeichensetzung wie Gedankenstrichen und Formulierungen, die eine Fortführung implizieren, zu gut lesbaren Texten eines oralen Erzählursprungs. Eine Spannungssteigerung und Einprägung mithilfe der Erzählunterbrechungen funktioniert auch in den schriftlichen Texten ‒ das haben Galland und Lane unterschätzt. Das Bedürfnis des Zuhörers ist dasselbe wie das des Lesers: Wie geht es weiter? Schahrasads Erzähltechnik und die Erzählunterbrechungen wie überhaupt Sätze, die so ähnlich lauten wie „Und da erreichte das Morgengrauen Schahrasad und sie hörte auf zu erzählen“, haben sich in das kulturell-literarische Gedächtnis eingeprägt ‒ und das vor allem dank der vielen schriftlichen Texte.120 4.3 Fazit und Ausblick: Die ersten Cliffhanger? In 1001 Nacht sind zum einen die Spuren der ursprünglich oralen Erzählsituation im schriftlichen Text vorhanden; zum anderen spiegelt die Rahmenhandlung auch die ursprüngliche Erzählsituation wider. Das Einprägen und Erinnern der Geschichte ist in der Oralität fest mit Performance und Ritualität verknüpft. Durch die Einbettung des Erzählvorgangs in Darbietung und Ritual lässt sich der plot der Geschichte für Erzähler und Rezipient besser behalten. Der ‚frühe orale Cliffhanger‘ ist somit in dem Kontext einer für den mündlichen Erzähler essentiellen Einprägung seines Materials zu sehen: Die stete Wiederholung der letzten Sätze von Schahrasads Nächten „Und da erreichte das Morgengrauen Schahrasad“ und die immer wiederkehrenden Unterbrechungsmomente sind Ausdruck des Erzählrituals, zu dem das Einprägen und Erinnern der Geschichte mit Hilfe des Cliffhangers gehören.121 In die diegetischen Cliffhanger von 1001 Nacht ist die orale Erzähltradition eingeschrieben.122 120 Dies lässt sich vor allem damit belegen, dass so viele, auch popkulturelle Werke auf 1001 Nacht Bezug nehmen, ohne diesen Bezug dem Rezipienten zu erläutern – die Kenntnis von 1001 Nacht wird vorausgesetzt. Vgl. Fröhlich: 1001, 2011, S. 155–158. 121 „It is also possible that a frame tale, particularly a ‚tight‘ one, could have served as a mnemonic device. If the storyteller usually told the same story in the same place, the frame tale might have helped him to remember elements of the interpolated tale. In terms of structural complexity, one might even argue that the cumulative tale, a popular folk genre, is every bit as demanding of the memory of teller and audience as is the frame tale.” Irwin: „What’s in a Frame?“ In: Oral Tradition, 10/1 (1995), S. 37. 122 Der diegetische Cliffhanger ist nicht nur in 1001 Nacht vorhanden und spiegelt nicht nur dort die orale Erzähltradition wider, sondern auch beispielsweise in der Geschichtensammlung 101 Nacht. Claudia Ott hat 2012 eine Handschrift der Geschichtensammlung 101 Nacht ins Deutsche übersetzt. Die Handschrift gehört zu der Agha Khan-Sammlung

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Die Unterbrechungsmomente in 1001 Nacht haben zahlreiche Charakteristiken des Cliffhangers. Es handelt sich um eine kalkulierte Unterbrechung der Narration. Der Plan Schahrasads ist der einer fortwährenden Narration, die nur mittels Spannungserzeugung und Erzählunterbrechung gelingen kann. Unterbrechung, Spannung, Einprägung – alle diese Charakteristiken des Cliffhangers kennzeichnen auch zahlreiche Unterbrechungsmomente von 1001 Nacht. Kann man die Unterbrechungsmomente in 1001 Nacht also als die ersten Cliffhanger bezeichnen, die uns bekannt sind? Dies lässt sich nur mit mehreren Einschränkungen sagen, denn sonst würde der kultur-historische und mediale Zusammenhang dieser Unterbrechungsmomente vernachlässigt. Zum einen ist das wichtigste Argument gegen eine vorbehaltlose Bezeichnung als Cliffhanger nach wie vor, dass die Erzählunterbrechungen in 1001 Nacht uns ausschließlich in der diegetischen Version vorliegen und wir nicht wissen, ob sie tatsächlich auch als orale Erzählunterbrechungen gedacht beziehungsweise als solche gebraucht wurden oder von Beginn an nur Unterbrechungsmomente einer Intradiegese waren.123 Zum zweiten ist der Unterbrechungsmoment in 1001 Nacht von einem Ereignis bestimmt: Das Morgengrauen ist stets der Zeitpunkt des Abbruchs.

des Aga Khan Museums in Toronto; sie ist jünger (um das Jahr 1234) als die GallandHandschrift. „Hundertundeine Nacht ist weder eine Vorstufe noch eine Kurzfassung von Tausendundeine Nacht. Beide Sammlungen sind eigenständige Werke und wurden unabhängig voneinander überliefert.“ 101 Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2012, S. 249. Die Struktur und der Rahmen (sowie das Auftreten von Schahrasad als Erzählerin und Danisad [sic] als ihre Schwester) stimmen aber mit 1001 Nacht überein. Die Gedichte und Binnenerzählungen unterscheiden sich hingegen stark: Ott erwähnt, dass nur zwei Gedichte aus 101 Nacht auch in 1001 Nacht vorkommen. Die formelhaften Einleitungs- und Ausleitungssätze der 1001 Nächte sind gegeben, aber wesentlich kürzer. Die diegetischen Erzählunterbrechungen sind (zumindest in Otts Übersetzung) geglättet: Aposiopesen sind nicht mehr vorhanden, sondern die Unterbrechungen finden immer am Ende eines Satzes statt. Auch Ott weist ausdrücklich darauf hin: „Obwohl es sich um einen Erzähl- und Vortragstext handelt und obwohl auch in Hundertundeine Nacht das Echo des mündlichen Erzählens im Text noch zu vernehmen ist, enthält unsere Handschrift insgesamt weniger Elemente von Mündlichkeit, als dies etwa bei der ‚Galland-Handschrift‘ von Tausendundeine Nacht der Fall ist.“ Ebd., S. 273. In beiden Werken, 101 Nacht und 1001 Nacht, kommen Unterbrechungsmomente vor. Aber beide Werke wurden getrennt voneinander überliefert. Das erlaubt Rückschlüsse auf einen großen damaligen Bekanntheitsgrad dieser Erzähltechnik. 123 „The Nights is a book which acted as a collector of stories, literary and oral, which by inclusion became literary in an inconclusive kind of way. The assertion of the Nights in one or the other is incorrect since it is uncomfortably both, and neither.” Sallis: Sheherazade through the Looking Glass, 1999, S. 39.

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Es handelt sich also innerhalb der Diegese um eine von äußeren Bedingungen abhängige und damit nicht vollends kalkulierbare Komponente: Der genaue Zeitpunkt der (diegetischen) Erzählunterbrechung ist vom innerdiegetischen Erzähler zwar intendiert, aber nicht perfekt planbar, und dies läuft zusätzlich zu der nur diegetischen Überlieferung der Erzählunterbrechung einer vorbehaltlosen Etikettierung als „Cliffhanger“ ein wenig entgegen.124 Die Einschränkung einer zum Teil von außen bestimmten diegetischen Erzählunterbrechung macht darüber hinaus ein generelle Charakteristik des oralen Cliffhangers bewusst: Die Erzählunterbrechung eines oralen Erzählers ist nicht so gut planbar wie die einer seriellen Erzählung auf einem Trägermedium. Auch dort ist er nicht ästhetisch-autonom, sondern meist abhängig von der Sendelänge, der Seitenzahl oder anderen ökonomischen Zwängen ‒ aber er ist perfekt planbar: Die Länge steht im Vorhinein fest. Auf einem Trägermedium kann der beste Zeitpunkt der Unterbrechung genau bestimmt, umgeschrieben, verändert, korrigiert werden – bis er perfekt sitzt. Alle äußeren Bedingungen wie Morgengrauen oder, um Hickethiers Anfangszitat noch einmal zu bemühen, äußere Gefahren, das Schwinden des Tageslichtes oder dergleichen sind im Text nicht vorhanden. Über die Erzählunterbrechung eines seriellen Textes hat der Autor die komplette Autorität, während der orale Erzähler auch von den äußeren Begebenheiten abhängig ist. Von diesem Gedanken ausgehend, kann man spekulieren, dass die intendierte Erzählunterbrechung von einer ‚situativen‘ Erzählunterbrechung abstammen könnte. Was Hickethier als eine mögliche ‚ursprüngliche Erzählsituation‘ beschreibt, könnte Inspiration für die intendierte Erzählunterbrechung gewesen sein: Wenn sich dem Kreis um den Erzähler eine Gefahr näherte, musste die Erzählung sofort unterbrochen werden – für einen bewusst gewählten spannungsreichen Moment blieb kein zeitlicher Spielraum. Bei einer notwendigen täglichen Arbeit jedoch, von der Hickethier ebenfalls spricht, könnte der Erzähler erkannt haben, dass eine bewusste Unterbrechung an einer spannenden Stelle für ihn selbst wie für den Zuhörer die Rückkehr 124 Claudia Ott stellt bei der Beobachtung des ḥakawātī Si Mlloud 1997 fest: „Si Mlouds Erzählsitzungen beginnen und enden mitten in den durch die Einteilung der von ihm verwendeten Druckausgabe vorgegebenen Teilen. Ihr Orientierungspunkt für die Einteilung ist ein rein äußerlicher: die Zeit, die vom Beginn einer Erzählsitzung bis zum Gebetsruf zum Abendgebet verstreicht, bestimmt die Textmenge einer Erzählsitzung. Beim Erklingen des Gebetsrufs wird der Vortrag mitten im Satz, ja mitten im Wort abgebrochen, ohne jede Rücksicht auf den Spannungsverlauf der Handlung. Somit richtet sich die Einteilung der täglichen Erzähltextmenge nicht nach der narrativen Struktur der Erzählung.“ Ott: Metamorphosen des Epos, 2003, S. 213. Siehe auch Fußnote 119. Auch wenn diese Beobachtung aus dem Jahre 1997 stammt und womöglich jeder ḥakawātī anders verfahren ist, sind äußerliche Unterbrechungen wie das Abendgebet (oder bei 1001 Nacht das Morgengrauen) nicht perfekt planbar.

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zum ‚roten Faden‘ erleichtern würde – ein Cliffhanger ist die beste Möglichkeit, dies zu gewährleisten.125 Denkbar wäre, dass der Erzähler durch eine ungewollte, also situative Unterbrechung auf diese Idee für eine intendierte Erzählunterbrechung gekommen ist. Somit hingen situative und intendierte Erzählunterbrechung zusammen, da die situative zur Inspiration für die intendierte geriet. Dieser Zusammenhang lässt sich auch in 1001 Nacht erahnen. Einige der Erzählunterbrechungen wirken wie Cliffhanger, also intendierte Erzählunterbrechungen; bei anderen hingegen meint man im Schriftlichen noch die orale Erzähltradition und die unerwartete Unterbrechung durch äußere Gegebenheiten zu erspüren, da an scheinbar wahllosen Stellen innerhalb der Binnenerzählungen unterbrochen wird und weder Spannung noch sonst irgendeine Art von Intention erkennbar ist.126 Auch die Aposiopesen wirken eher, als entstammen sie einer oralen Erzähltradition als einer skripturalen, in der eine Unterbrechung mitten im Satz unnötig und selten ist. So wirken die Unterbrechungsmomente in 1001 Nacht wie Mischformen aus situativen Erzählunterbrechungen, die der oralen Erzähltradition des Werkes verpflichtet sind, und intendierten, die mehr den skripturalen, neuen Erzähltradition des Werks gemäß sind. Im Blick auf Hickethier führen die Unterbrechungsmomente in 1001 Nacht beide Formen in sich: Die intendierte – die bei Hickethiers Beispiel eine notwendige Arbeit ist und bei 1001 Nacht auf die „notwendige Arbeit“ des Erzählens und Überlebens übertragen werden kann – und die situative – die bei Hickethier eine Gefahr ist, die sich nähert und bei 1001 Nacht durch das Morgengrauen ersetzt ist. Die 125 Eine Unterstützung der These, dass die situative Erzählunterbrechung Inspiration für die intendierte gewesen sein könnte, liefert auch das Werk von David Lynwood Smith über Unterbrechungen von Redesituationen im Lukas-Evangelium und antiken griechischen Texten. Zunächst verblüfft die ungeheure Masse an Fundstellen, die Smith zusammengetragen hat: „[I]nterrupted speech has played a significant role in Greek literature from the time of Homer onward.“ Smith: The Rhetoric of Interruption, 2012, S. 244. Die Unterbrechung war also schon damals häufig gebrauchte Erzähltechnik. Smith unterscheidet zwischen „intentional interruption of a speaker by the audience and interruption by external events.“ (Ebd.) Die „intentional interruptions“ sind meist Ausdruck eines Konfliktes, während die externen die Dramatik der Szene betonen. Bereits in diesen Stellen antiker Literatur wird also eine situative Erzählunterbrechung in der Diegese gespiegelt, um die Dramatik und damit auch Spannung zu betonen. Vielleicht könnte man sogar von Binnencliffs sprechen – diese Analyse würde aber eines Gräzisten bedürfen. Smith selbst konzentriert sich auf die intentionalen diegetischen Unterbrechungen. 126 Siehe bspw. folgende Enden von Nächten: „Er trug prächtige Kleider und sah aus, als käme er geradewegs aus dem Hammam.“ Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott, 2004, S. 309. „So speiste ich mit ihm.“ Ebd., S. 310. „Und sogleich ließ sie alles vorbereiten, damit ich zehn Tage lang als Gast bei ihnen übernachten konnte.“ Ebd., S. 334.

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Mischform kommt auch dadurch zustande, dass das Werk einem medialen Wandel unterzogen wurde, der inhaltlich gespiegelt wiederzufinden ist. Auch wenn es Cliffhanger sind, die im skripturalen Text vorhanden sind, sind sie inhaltlich situative Erzählunterbrechungen einer oralen Erzählsituation, da ein Naturereignis Schahrasads mündliche Erzählung unterbricht, nicht sie sich selbst oder eine exakte Uhr, beziehungsweise eine genaue Zeiteinheit wie beispielsweise im Fernsehen. Vor allem aber sind die im Theorieteil genannten Voraussetzungen nur bedingt gegeben: In dem uns zur Verfügung stehenden heutigen Text ist nur eine diegetische Erzählunterbrechung und Erzählfortsetzung vorhanden – der Text als solcher wird nicht unterbrochen und fortgesetzt, er besteht nicht aus Mikrotexten, sondern aus einem großen, zusammengefügten Makrotext. Die diegetischen Erzählunterbrechungen alle als frühere reale Erzählunterbrechungen zu verstehen, funktioniert nur eingeschränkt, wenn man die sehr kurze Erzählzeit einiger Nächte bedenkt.127 Eher ist davon auszugehen, dass alle Unterbrechungsmomente die Möglichkeit für Cliffhanger boten und es dem jeweiligen Erzähler oblag, welche im Erzähltext angelegte Unterbrechung er nun für einen Cliffhanger tatsächlich nutzte. Selbst wenn man den Begriff ‚Cliffhanger‘ nur mit Einschränkung bei 1001 Nacht gebrauchen sollte, liefert das Werk einen sehr guten Anfangspunkt für die Verbreitung der Erzähltechnik des Cliffhangers. 1001 Nacht ist keine serielle Narration (mehr), aber es ist eine Geschichte über serielle Narration, die Cliffhanger in 1001 Nacht sind Meta-Cliffhanger – die Erzählung berichtet letztendlich davon, wie man als Autor am besten eine serielle Narration gestaltet: der Rezipient (Schahriyar) muss in Spannung und ohne Auflösung am Ende einer Folge zurückgelassen werden, sonst ‚tötet‘ er die Erzählung. Die Popularität der Geschichten aus 1001 Nacht führt vom Orient nach Europa seit vielen Jahrhunderten bis in die Gegenwart – auf diesem Weg sind dementsprechend viele Menschen von dem Werk darüber ‚informiert‘ worden, wie serielle Narration und Cliffhanger funktionieren. 1001 Nacht hat durch die Kategorisierung als Märchenbuch für Kinder viele spätere Autoren schon in ihrer Jugend geprägt und inspiriert.128 Nicht in allen Übersetzungen kam der Unterbrechungsmoment in diesem

127 Siehe bspw. die 17. Nacht, die gerade einmal eine Seite in der Handschrift (und auch in Otts Übersetzung) füllt. Ebd., S. 72–73. 128 Vgl. Fröhlich: 1001, 2011, S. 51. Siehe bspw. die Einleitung von Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahre 1906: „Wir hatten dies Buch in Händen, da wir Knaben waren; und da wir zwanzig waren und meinten, weit zu sein von der Kindheit, nahmen wir es wieder in die Hand, und wieder hielt es uns ‒ wie sehr hielt es uns wieder! […] Nun sind wir Männer, und dieses Buch kommt uns zum dritten Mal entgegen, und nun sollen wirʼs erst wirklich

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‚cliffhanger-artigen‘ Maße vor. Und doch haben alle Übersetzer, selbst bei weniger intensivem Einsatz der Unterbrechungen, diese immer kommentiert, weil sie prominenter Bestandteil des Werks sind.129 „Und da erreichte das Morgengrauen Schahrasad“ ist ein Satz, der im Text die Erzählunterbrechung und die Fortsetzung signalisiert, und so häufig und prominent vorkommt, dass er auch losgelöst vom Text die Elemente Unterbrechung, Serialität, Fortsetzung und Spannung symbolisiert. Er ist tief ins kulturelle Gedächtnis eingeprägt und damit Ausdruck der narrativen Kraft und enormen Bekanntheit des Funktionsprinzips von Cliffhangern.

besitzen.“ Hofmannsthal: „Einleitung zu dem Buche genannt die Erzählungen der Tausendundein Nächte von Hugo von Hoffmannsthal“. In: Heumann u. a. (Hg.): Hugo von Hofmannsthal, 2009, S. 121. 129 Durch das Weglassen der Unterbrechung hat beispielsweise Lane sie im Grunde betont. Siehe Fußnote 111.

V. Viktorianische Fortsetzungsromane „Dickens and his publishers discovered the potential of serial publication virtually by accident. In so doing, they changed the world of Victorian publishing, and the Victorian novel, permanently. And, at the same time, their discovery yielded profits hitherto thought impossible for any publishers or author“. PATTEN: „PICKWICK PAPERS AND THE DEVELOPMENT OF SERIAL FICTION“. IN: THE RICE UNIVERSITY

STUDIES, 71 (1), 1975, S. 51.

1. K ONTEXT : V ORGESCHICHTE

UND

V ORLÄUFER

1.1 Begründung der Eingrenzung und Auswahl Ich konzentriere mich in diesem Kapitel auf den englischen Fortsetzungsroman vorwiegend im 19. Jahrhundert, da mein Fokus auf den größeren Wellen von seriellen Veröffentlichungen liegt. Das viktorianische England bietet sich als Zeitraum und Ort an: Unzählige serielle Werke wurden damals von inzwischen kanonisierten Autoren geschrieben. Jedoch muss darauf hingewiesen werden, dass es abseits des hier beschrittenen größeren Weges der seriellen Narration, der sich vorwiegend aus berühmten Werken zusammensetzt, noch einen zweiten gibt. Dieser wird hauptsächlich von trivialen, heutzutage unbekannten Werken meist ruhmloser Autoren gebildet.1 Serielle Narration hat auch ‚ein Leben auf der Straße‘, im Schatten des heutigen Bewusstseins geführt. Diese noch unbekannteren seriellen Werke wurden häufig von Hausierern und

1

Einigen dieser Spuren wird im folgenden Kapitel nachgegangen wie den Formaten der shilling numbers ‒ bevor sie Dickens berühmt macht ‒ und der Paternoster-row Numbers.

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reisenden Händlern vertrieben. Die deutschen Kolportageromane2 und die englischen chapbooks3 und frühen shilling numbers, die französischen canards4 sowie die unzähligen US-amerikanischen dime-novels5 und pulp-Geschichten6 gehören dazu. Es gab vereinzelt auch serielle Narration, die auf Flugblättern in Italien,7 Frankreich, England8 und Deutschland gedruckt wurde.9 Eine Betrachtung dieses fast vergessenen Wegs ist jedoch in mehrfacher Hinsicht in der vorliegenden Studie unmöglich.

2

Eine guten Literatur- und Forschungsüberblick zum Kolportageroman bietet: Kosch u. a.: Der Kolportageroman, 1993, S. 3–4. Zu den distributorischen Bedingungen und Überlegungen zum Begriff des Kolportageromans siehe: Scheidt: Der Kolportagebuchhandel (1869-1905), 1994.

3

Pionierwerke sind: Neuburg: Popular Literature, 1977; Schöwerling: Chapbooks, 1980. Siehe auch: Newcomb: „Chapbooks“. In: Raymond (Hg.): The Oxford History of Popular Print Culture, 2011, S. 471–490. Für eine Betrachtung moderner chapbooks: Woodcock: „In Praise of the Chapbook“. In: Smallwood u. a. (Hg.): Women on Poetry, 2012, S. 16– 22. Bei den chapbooks scheint eine serielle Publikation eher die Ausnahme gewesen zu sein, zumal sie selbst dann auf wenige Fortsetzungs-Bände beschränkt blieb. „Ist ein [chapbook-]Titel besonders erfolgreich bzw. strukturell erweiterungsfähig, so wird mit großer Sicherheit der Hinweis auf eine Fortsetzung in Part II und Part III gegeben. Bisweilen erfolgen diese Ankündigungen allerdings auch nur auf Verdacht; stellt sich dann ein Mißerfolg ein, oder ist der Drucker inzwischen in finanziellen Schwierigkeiten, so erscheint die angekündigte Folge nie.“ Schöwerling: Chapbooks, 1980, S. 44.

4

Siehe: Seguin: „A la manière des ‚canards‘“. In: Études de Presse N.S., 1960 (VII), S. 69–

5

Siehe: Johannsen: The House of Beadle and Adams and its Dime and Nickel Novels, 1950.

86. Seriell publizierte Fortsetzungsgeschichten in den dime novels sind eher die Ausnahme. Vgl. Cox: „Dime Novels“. In: Bold (Hg.): The Oxford History of Popular Print Culture, 2011, S. 63–80. 6

Siehe dazu Kapitel: VII. 3.2 „Pulp-Veröffentlichung und Kinoserie“, S. 330. Außerdem: Bold (Hg.): The Oxford History of Popular Print Culture, 2011, S. 628–629.

7

Siehe: Schenda: „Die Sammlung italienischer Flugblätter im Museo Pitrè, Palermo“. In: Zeitschrift für Volkskunde, 1962 (58), S. 210–237.

8

Eine Zusammenstellung ganzheitlicher englischer Flugblätter bietet: Hindley (Hg.): Curiosities of Street Literature, 1871. Eine kurze Betrachtung der preiswerteren englischen Bücher und Heftchen, von denen aber nur wenige serieller Form sind, bietet: Eliot: „From Few and Expensive to Many and Cheap“. In: Patten (Hg.): Dickens and Victorian Print Cultures, 2012, S. 7–9.

9

Vgl. Schenda: Volk ohne Buch, 1988, S. 275.

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Erstens sind von jedem einzelnen dieser Formate nur wenige Texte erhalten.10 Zweitens müsste nach einer Sichtung des erhaltenen Materials geklärt werden, welche davon überhaupt serieller Natur sind, denn zahlreiche Flugblätter, Kolportage– geschichten usw. wurden ganzheitlich veröffentlicht, bestehen aus vollständigen Liedern, Bildergeschichten oder einzelnen Zeichnungen. Andere wurden zwar seriell veröffentlicht, haben aber (wie überhaupt wohl die meisten der deutschen Kolportageheftchen)11 theologische oder geschichtliche Themen ‒ bei ihnen ist wohl kaum von einer Spannungsdramaturgie mit Cliffhangern auszugehen. Wiederum andere wurden zunächst ganzheitlich konzipiert, geschrieben und veröffentlicht und erst später seriell publiziert und sind dementsprechend für eine Analyse des Cliffhangers als intendierte Erzählunterbrechung ungeeignet.12 Drittens stellen fast alle diese ‚unbekannten seriellen‘ Etappen Forschungsdesiderate dar.13 So lässt sich zusammenfassend zum Beispiel über den deutschen Kolportageroman sagen: „[E]s [dürfte] kaum ein anderes Kapitel fiktionaler Literatur geben (die notorisch ignorierten Romanheftserien und Zeitungsromane eingeschlossen), das auch nur annähernd in so radikaler Weise aus dem kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft gelöscht wurde. Dies gilt […] für den

10 So beschreibt bspw. Rudolf Schenda, warum zu den Bilderbögen ausgiebige Analysen möglich sind, zu den Flugblättern aber kaum: „Da die Flugblätter weniger verehrt und weniger behutsam konserviert wurden als die an Wände und Möbel gehefteten Bilderbögen, haben sie nur zum minimalen Teil, und eher zufällig als ordentlich, die Zeiten überdauert.“ Ebd. Mit den Kolportageromanen ist es wenig anders: „Der Schafrichter von Berlin, der größte Schundroman des Fin de Siècle, blieb nur in einem einzigen, zur Hälfte verstümmelten Exemplar in einer öffentlichen Bibliothek erhalten. Sein miserables Papier wird in fünfzig Jahren völlig zerfallen sein.“ Ebd., S. 314. 11 Vgl. Ebd., S. 276. 12 Zum Beispiel ist ein Leitfaden für den Kolportageroman erhalten, der auch eine Auflistung enthält von „Werken, welche sich für Kolportagevertrieb eignen“. Dieses Verzeichnis besteht zu einem Großteil aus theologischen und historischen Werken sowie ganzheitlichen wie bspw. „Heine’s Werke“. Vgl. Streissler: Der Kolportagehandel, 1887, S. 46–71. 13 So schreibt 1970 Rudolf Schenda: „Das alles läßt auf eine Funktionsbreite schließen, die größer ist, als die Publizistik eingestehen mag. Das begrenzte Blickfeld wird jedoch durch den niedrigen Forschungsstand bedingt.“ Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch, 1988, S. 274. Dieses Forschungsdesiderat hängt auch mit der geringen Anzahl an erhaltenen Werken zusammen (siehe Fußnote 10), weshalb „die wenigen wissenschaftlichen Arbeiten […] ohne Textkenntnisse des Kolportageromans auskommen. Es wird sozusagen um den Kolportageroman ‚herumgeschrieben‘“. Kosch u. a.: Der Kolportageroman, 1993, S. 2. Dieses „Herumschreiben“ ist aber gerade bei einer Analyse des Cliffhangers unmöglich.

182 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION Text selbst. Kolportageromane sind in deutschen Bibliotheken und Archiven weder als Artefakte noch als Begriff existent.“14

Auch wenn dieser Weg inzwischen ‚zugewachsen‘ ist und hier als Seitenweg dargestellt wird, waren diese Formate zur jeweiligen Zeit sehr populär15 und, wie häufig angemerkt wird, für die Bildung der unteren und mittleren Gesellschaftsschichten in der jeweiligen Zeit sehr bedeutend.16 Da diese Werke jedoch schlechter erhalten sind, weniger dazu geforscht wurde und sie aufgrund einer fehlenden Kanonisierung nicht ihre Zeit überdauert haben, müsste man sich zunächst auf ein einzelnes dieser ‚seriellen Schattenformate‘ in einem bestimmten Land beschränken. Es wäre also keine diachrone Erforschung der Erzähltechnik ‚Cliffhanger‘ möglich, sondern zunächst Grundlagenforschung über die generelle Beschaffenheit der bisher unerforschten nationalen seriellen Werke zu einer bestimmten Zeit. 1.2 Veröffentlichungspraktiken im England des 18. Jahrhunderts „Serial Fiction was not a Victorian invention.“17 Auch vor dem viktorianischen Zeitalter (1837–1901) gab es serielle Veröffentlichungen.18 Roy McKeen Wiles hat den Fortsetzungsroman bis 1670 zurückverfolgt – diese ersten wenigen Beispiele sind aber noch Ausnahmen.19 Im 18. Jahrhundert nimmt die Anzahl der seriellen Veröffentlichungen zwar stark zu. Fast alle dieser Publikationen sind jedoch lediglich Neuauflagen von älteren, ursprünglich ganzheitlich veröffentlichten Werken. Die Gründe

14 Ebd., S. 1–2. 15 „Zwanzig Millionen Deutsche bezogen angeblich ihre geistige Nahrung beim Kolporteur.“ Schenda: Volk ohne Buch, 1988, S. 310. 16 Siehe bspw. Siegert: „Volksaufklärung und Kolportage“. In: Ders. u. a. (Hg.): Volksaufklärung, 2001, S. CV–CXIV. Zur Bedeutung von Literatur für die Bildung im viktorianischen England siehe: Rose: „Education, Literacy and the Victorian Reader“. In: Patten (Hg.): Dickens and Victorian Print Cultures, 2012, S. 31–47. Speziell zu Dickensʼ Werken: Winter: The Pleasures of Memory, 2011. 17 Law: Serializing Fiction in the Victorian Press, 2010, S. 3. 18 Joad Raymond bietet zwei hilfreiche Tabellen zum Verhältnis der ganzheitlichen zu den seriellen Publikationen von 1475 bis 1665. Eine nennenswerte Zahl serieller Veröffentlichungen kommt nach diesen Tabellen erstmals 1620 auf. Raymond: „The Development of the Book Trade in Britain“. In: Dies. (Hg.): The Oxford History of Popular Print Culture, 2011, S. 61–63. 19 Siehe: Wiles: Serial Publication in England before 1750, 2010.

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für die ersten Publikations-Teilungen sind ausschließlich ökonomischer Natur. Bücher sind in England bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sehr kostspielig20 und dementsprechend selten.21 Früh jedoch erkennen die Verleger die Vorteile der Subskribierung und des sogenannten „piecemeal publishing“.22 Piecemeal Publishing beschreibt die aufgeteilte Publikation von Werken.23 Circa ab 1740 sind es besonders umfangreiche Bände, die beinahe ausschließlich in einer Teilveröffentlichung und Subskribierung rentabel sind: „Bishop Kennet [ein englischer Verleger des 17. Jahrhunderts] gave away his ‚Register and Chronicle,’ [veröffentlicht 1718–1720] saying, ‚The volume, too large, brings me no profit.‘ The remedy was to be found in publishing in subscription.“24 Die Subskribierung ermöglicht die Publikation seitenstarker Bücher, die, ganzheitlich veröffentlicht, unerschwinglich wären. Die serielle Veröffentlichung bietet auch eine Reihe weiterer Vorteile für den Verleger: Der Abverkauf der ersten Teile lässt Prognosen zu für die Absatzmenge der weiteren Bände. Außerdem wird es aufgrund der Kombination von Subskribierung und Buchteilung möglich, mit dem Verkauf des gegenwärtigen Teils den Druck des nächsten zu finanzieren – der Verleger muss also eine bei weitem nicht so große Summe vorstrecken wie bei der ganzheitlichen Drucklegung eines Buches. Die Subskribierung eröffnet zusätzlich direktere Distributionswege zum Kunden, da die Bücher beispielsweise unmittelbar auf dem Postweg zum Kunden gelangen können und keine Umwege über die damals noch selteneren, niedergelassenen Buchhändler genommen werden müssen. „The principal motivations underlying the rise of serial publication were speed and economy. Serial issue itself, and the more dispersed channels for the distribution of serials (canvassers, general stores, the postal service), offered the reader an immediacy of access to written information that traditional booksellers could not match. At the same time, publishers were able to

20 „Prices were high, exorbitantly so. In the 1790s, the cost of novels, which had been falling throughout the century, steadied at around 3 shilling a volume. With the universal price and tax rises brought about by the Napoleonic wars it rose sharply again until by the 1820s it had attained the half-guinea per volume mark, where it stuck.“ Sutherland: Victorian Novelists and Publishers, 1976, S. 11. 21 Vgl. Wiles: Serial Publication in England before 1750, 2010, S. 2. 22 „Piecemeal publishing was established by 1740.“ Patten: Charles Dickens and His Publishers, 1978, S. 46. 23 Die Begriffswahl ‚piecemeal‘ ist entlarvend, weil das Wort vorwiegend abwertend benutzt wird im Sinne von ‚stückchenweise‘ und ‚bruchstückhaft‘ und damit anzeigt, dass diese Art von Veröffentlichung keinen hohen Stellenwert besitzt. 24 Knight: The Old Printer and the Modern Press, 1854, S. 206.

184 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION spread the cost of production, and readers the purchase price, painlessly over the period of issue, while either side could withdraw from a publication that proved unpopular.“25

Das verbesserte und vergrößerte Schulsystem des 17. Jahrhunderts zieht langsam eine neue Leserschaft heran: Die Grundlage für einen größeren Käuferkreis von Literatur ist mit der zunehmenden Alphabetisierung gegeben.26 Auch der finanzielle Aufschwung der Mittelschicht im Zuge der industriellen Revolution ab Mitte des 18. Jahrhunderts führt dazu, dass mehr Menschen sich Bücher leisten können.27 Die englischen Zeitungen Tatler und Spectator erreichen immer höhere Auflagen. Die Leselust wächst. Ein Weg, den nicht so wohlhabenden neuen Lesern Bücher zu verkaufen, wurde im Aufteilen von Narration erkannt: „In addition to all these influences there was one remarkable innovation which must certainly have accelerated the book trade more than any other single force affecting the reading habits of our ancestors between 1700 and 1750. This was a new method of persuading people to buy books – big, expensive books […]. The plan, admirably simple and amazingly successful, can be expressed in these terms: if the customer cannot or will not buy a book because he has not enough money, then sell it to him in portions, so many pages each month or each week, at a cash price so low that he cannot possibly resist. The plan worked. As was observed in the GrubStreet Journal number 148 on October 26, 1732, ‚This Method of Weekly Publication allures Multitudes of peruse Books, into which they would otherwise never have looked.‘“28

Obwohl all diese seriell veröffentlichten Bücher ältere, zunächst ganzheitlich veröffentlichte Werke sind, lassen sich höchstwahrscheinlich in ihnen seltene, von den Autoren ‚unfreiwillig‘ geschriebene Cliffhanger finden: „A part might end in mid chapter, mid paragraph, even mid sentence, the catchword for the next part dangling below the final line.“29 Mit dem genannten „catchword“ am Ende der Teilveröffent-

25 Brake u. a.: Dictionary of Nineteenth-Century Journalism in Great Britain and Ireland, 2009, S. 567. 26 Vgl. Law: Serializing Fiction in the Victorian Press, 2010, S. 8. 27 Vgl. Wiles: Serial Publication in England before 1750, 2010, S. 2. Der deutliche finanzielle Aufschwung findet aber erst Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts statt, als auch der viktorianische Fortsetzungsroman seine Blüte hat. (Siehe: Law: Serializing Fiction in the Victorian Press, 2010, S. 7.) 28 Wiles: Serial Publication in England before 1750, 2010, S. 2. 29 Patten: Charles Dickens and His Publishers, 1978, S. 46. Auch wenn der Autor die Erzählunterbrechung nicht intendierte, mag der eine oder andere vorausschauende Verleger Romanstellen für die Unterbrechung gewählt haben, die für den Rezipienten wie Cliffhanger

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lichung ist bereits eine Nähe zum Cliffhanger vorhanden, da eine für die serielle Narration essentielle Einprägung im Gedächtnis des Lesers angestrebt wird. Dennoch treffen nur einige der Kriterien für eine Bezeichnung als Cliffhanger zu: Zwar findet eine Unterbrechung statt, diese ist jedoch nicht vom Autor intendiert und findet höchstens durch Zufall an einer spannenden Stelle statt. Möglicherweise gibt es vereinzelt auch vom Rezipienten als Cliffhanger empfundene Erzählunterbrechungen innerhalb serieller Literatur in Zeitungen und Zeitschriften der damaligen Zeit. 1712 wird ein Gesetz verabschiedet, das die Werbung in zwei- und vierseitigen Zeitungen stark besteuert, woraufhin einige Zeitungen sechsseitig veröffentlichen und damit die zusätzlichen Steuern umgehen – die hinzugefügten Seiten werden unter anderem mit Auszügen bereits ganzheitlich veröffentlichter Literatur gefüllt.30 Da die ‚Folgen‘ jedoch nur den jeweils freien Platz füllen sollen, nicht als serielle Werke geschrieben sind, sondern erst später unterteilt werden, bestimmt das Format beziehungsweise die jeweilige Nachrichtensituation die Stelle der Erzählunterbrechung.31 Im Grunde genommen sind diese Unterbrechungen situativ: Das Format beziehungsweise die Situation – ob wichtige Nachrichten vorliegen und wie lang diese sind – bestimmt den Moment der Erzählunterbrechung. Unter der ‚Lückenbüßer-Folge‘, deren Länge von den übrigen Texten der Zeitung bestimmt wird, steht aber bereits der für serielle Narration so signifikante Satz: „To be continued.“32 Vom lediglich seriell veröffentlichten zum seriell konzipierten Fortsetzungsroman sind die Paternoster-row Numbers ein wichtiger Zwischenschritt. Charles Knight beschreibt in seinem Buch The Old Printer and the Modern Press, wie die Konzeption der ersten für die serielle Publikation von Anfang geplanten Werke erfolgte. wirken. Innerhalb dieser Doktorarbeit kann auf solche Erzählunterbrechungen nicht weiter eingegangen werden, da sie einer sehr intensiven Recherche bedürften, die hier nicht geleistet werden kann. Selbst Patten gibt bei seiner Beschreibung derartig unterteilter Romane keinen Titel an oder zitiert aus einem dieser Werke. Es ist davon auszugehen, dass die Erzählunterbrechungen eher ‚unfreiwillig‘ geschahen, also ‚situativ‘ insofern waren, als die Unterbrechung bestimmt war von den jeweiligen technischen und ökonomischen Gegebenheiten. 30 Vgl. Law: Serializing Fiction in the Victorian Press, 2010, S. 5. 31 „While the newspaper itself was discrete bibliographically, the stories were not. They were considered filler, and stopped at any point necessary to fill the issue, even in mid sentence.“ Patten: Charles Dickens and His Publishers, 1978, S. 50. 32 Siehe dazu auch das Beispiel in Wiles: Serial Publication in England before 1750, 2010, S. 50. Auch auf solche ‚situativen‘ Erzählunterbrechungen kann in dieser Doktorarbeit nicht eingegangen werden, vor allem weil nur sehr wenige Exemplare dieser Zeitungen erhalten sind. (Siehe: Law: Serializing Fiction in the Victorian Press, 2010, S. 6.)

186 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „In 1732 two booksellers, Mr. Wilford and Mr. Edlin, ‚when the success of some certain things published weekly set every little booksellerʼs wits to work,‘ proposed to this poor curate of Finchley ‚to write something which might be published weekly, but what it was they know not.‘ At the Castle Tavern, in Paternoster Row, the trio deliberated upon the ‚something‘ that was to have a run.“33

Die Straße „Paternoster-Row“ war bis zum Zweiten Weltkrieg, in dem sie bei einem deutschen Bombardement zerstört wurde, ein Zentrum des Londoner Buchmarktes.34 Auf ihr werden in der damaligen Zeit die Bücher von Straßenhändlern verkauft, in der kleinen Reihe (daher „row“) von Buchläden vertrieben und zum Teil gedruckt.35 Anders als die viktorianischen Fortsetzungsromane sind die Paternoster-row Numbers jedoch gefüllt mit narrativen Aufbereitungen von biblischen oder geschichtlichen Themen. Aufgrund dieser Fokussierung lässt sich in den Werken kein typisch serieller Spannungsaufbau finden: „Paternoster-row – now [d.i. 1839] the greatest book mart in the world – did not begin to assume any consequence till the booksellers deserted Little Britain, in the reign of Queen Anne. [...] The issuing of works in weekly numbers was more particularly confined to Cooke, Hogg, and Harrison. These all stood prominent as publishers of what have been called ‚Paternosterrow Numbers;‘ namely, Family Bibles, with Notes; editions of Foxʼs Book of Martyrs, and the Works of Flavius Josephus; New and complete Histories of England; Histories of London, Life of Christ, and various other denominations of works […]; and, however it may be customary to kick the ladder down when we find we no longer want it, these sort of publications must be confessed to have greatly contributed to lay the foundation of that literary taste and thirst for knowledge, which now pervades all classes.“36

Auch wenn Timberleys Aussage übertrieben wirkt und kaum überprüft werden kann, haben die Paternoster-row Numbers so wie generell die frühen seriellen Publikatio-

33 Knight: The Old Printer and the Modern Press, 1854, S. 213. 34 Vgl. Glinert: The London Compendium, 2004, S. 45. 35 Vgl. Wheatley: London Past and Present, 2011, S. 37–39. 36 Timperley: A Dictionary of Printers and Printing, 1839, S. 838. Siehe auch: „The numbertrade was a necessary offshot of that periodical literature which sprang up into importance at the beginning of the eighteenth century, and which, in all its ramifications, has had a more powerful influence than that of all other literature upon the intelligence of the great body of the people.“ Knight: The Old Printer and the Modern Press, 1854, S. 217.

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nen, die aufgrund des geringen Preises vor allem von Teilen der unteren Gesellschaftsschicht gekauft wurden,37 sicherlich einen gewissen Anteil an der Alphabetisierung und Bildung der damaligen englischen Bevölkerung.38 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Gegensatz zum viktorianischen Fortsetzungsroman frühe serielle Veröffentlichungen in England folgende Charakteristika haben: 1. Es handelt sich meistens um Neuauflagen oder Übersetzungen ursprünglich ganzheitlich veröffentlichter Bücher. 2. Die Bücher werden in uneinheitliche Nummern aufgeteilt und sind somit „indifferent to the art of serialization“.39 3. Die wenigen Makrotexte, die von vornherein seriell konzipiert und erstveröffentlicht werden, sind allgemein recht kurz, vor allem kürzer als die viktorianischen Fortsetzungsromane. 4. Meistens handelt es sich um Sachthemen, die narrativ dargeboten wurden, was Graham Law in diesem Kontext als „genre of narrative (history)“ bezeichnet.40 Die beschriebenen Vorreiter mitsamt ihren Innovationen ebnen den Weg für den Fortsetzungsroman. Die serielle Veröffentlichungspraktik des 18. Jahrhunderts stellt die Weichen für den enormen Erfolg der seriellen Literatur im 19. Jahrhundert: Bereits damals werden die Vorteile von Subskribierung, Buchteilung und daraus resultierender niedrigerer Preisgestaltung erkannt, die sich beispielsweise auch die ersten Verleger von Dickens, Chapman und Hall zu Nutze machen. Der Cliffhanger als intendierte Unterbrechung einer von Anfang an als serielles Werk geplanten Veröffentlichung kommt verstärkt hingegen erst im 19. Jahrhundert zum Einsatz. Eine Hypothese liegt jedoch auf der Hand: Das Zustandekommen des Cliffhangers als intendierte Unterbrechung einer schriftlich fixierten Erzählung 37 Abgesehen von der Preispolitik, den Subskribierungen, der Teilveröffentlichung, der Werbung und den neuen Vertriebsmethoden (bspw. der Post) haben natürlich auch technische Errungenschaften wie die 1803 erstmals hergestellte Fourdrinier-Papiermaschine erheblichen Anteil an der preiswerteren Produktion und gesteigerten Auflagenzahl von Büchern. Papier wird billiger, Drucken schneller und einfacher. Siehe auch: Patten: Charles Dickens and His Publishers, 1978, S. 55ff. Für eine kurze Zusammenfassung der technischen Errungenschaften im Druckereiwesen des 19. Jahrhunderts siehe: Eliot: „The Buisness of Victorian Publishing“. In: David (Hg.): The Cambridge Companion to the Victorian Novel, 2012, S. 37–60, hier: S. 58. 38 Siehe dazu: Bayman: „Printing, Learning and the Unlearned“. In: Raymond (Hg.): The Oxford History of Popular Print Culture, 2011, S. 88–100. 39 Law: Serializing Fiction in the Victorian Press, 2010, S. 7. 40 Ebd.

188 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION

könnte ähnliche Ursachen haben wie in der oralen Erzähltradition: die situative Unterbrechung als wichtige Inspiration und essentieller Impetus für den ‚beabsichtigten‘ Cliffhanger. Die von Knut Hickethier erwähnte äußere Gefahr, die womöglich die frühe Stammesgesellschaft beim Erzählvorgang unterbrach ‒ nennen wir sie Hickethiers Säbelzahntiger ‒ ist in ähnlicher Weise auch hier gegeben. Hickethiers Säbelzahntiger ist im England des 16. und 17. Jahrhundert die Ökonomie.41 Sie allein schafft die Bedingungen für die Situation, welche die Stelle der Unterbrechung bestimmt. 1.3 Die Vorläufer des englischsprachigen Fortsetzungsromans Wiles hat den englischsprachigen Fortsetzungsroman42 zurück bis zu Henry Cares Poor Robin’s Memoirs. With his Life, Travels, and Adventures (Dezember 1677) und Ned Wards The London Spy (November 1698) nachgewiesen. Auch wenn beide Romane dem Erzählprinzip einer Episodenserie folgen, finden sich bereits bei Poor Robin’s Memoirs vorausdeutende und rekapitulierende Erzählpassagen, die Ansätze eines fortgesetzten Erzählens darstellen. Die in satirischer Art geschriebenen Folgen sind immer in sich geschlossen, aber der Erzähler weist häufig darauf hin, was in der nächsten Episode dem Protagonisten S. Mendacio widerfahren könnte. „The Ladies were up to the Ears in love with him, and he could not be so Savagely cruel as not to regard their Flames. We must for the present leave him in the Pangs of a thousand confused thoughts how to satisfie all parties. The success of his Amours ʼtis not to be doubted but the Sequel of this History may furnish us with. FINIS“43

Das „Finis“ der meisten Folgen ist ein Anzeichen für den episodischen Charakter der Erzählung. Zunächst wirkt das Ende der zitierten fünften Folge unterbrechend, da der Held verwirrt zurückgelassen wird – zugleich beteuert der Erzähler aber, der Protagonist werde mit seinen Liebschaften Erfolg haben. Der Erzähler nimmt also sein ungewöhnlich offen gestaltetes Folgen-Ende ein Stück weit zurück, als habe er Zwei-

41 Siehe Zitat auf S. 129. Hickethier: „Diskussion: Etwas Aufregung und etwas Abregung“. In: Giesenfeld (Hg.): Endlose Geschichten, 1994, S. 37. 42 Wiles spricht auch von „Number Books“. Vgl. Wiles: Serial Publication in England before 1750, 2010, S. 75. 43 Care: Poor Robin’s Memoirs, 1677 - 1678, S. 2 (No. 5 vom 21.01.1678). Alle Zitate stammen aus der Original-Ausgabe der University of Wisconsin.

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fel an dem Gebrauch der Erzähltechnik, Spannung durch Vorausdeutung zu erzeugen. Das Folgen-Ende hat Charakteristiken eines teasers,44 da der Erzähler ebenfalls sehr kurz und knapp mit einer Vorausschau auf den Inhalt der nächsten Folge den Rezipienten ‚neckt‘. Nachdem der Autor beim zitierten Ende Charakteristiken des teasers avant la lettre gebraucht hat, persifliert er derartige Techniken bereits wenig später – sie scheinen also schon so weit der Leserschaft vertraut, dass sie ironisch gebrochen werden können. In Folge neun setzt der Erzähler eine Spannung erzeugende Vorausdeutung – sogleich fügt er aber hinzu, er vergäße womöglich bis zur nächsten Folge, diese spannende Begebenheit zu erzählen: „He had, ʼtis like, oblig’d Posterity with many other choice Observations on that Province, but that he was unexpectedly call’d from thence by a very deplorable Accident, which our subsequent Volume (if we happen not to forget it) shall acquaint you with.“45 Ebenso häufig finden sich in diesem ‚Episoden-Roman‘ kurze Zusammenfassungen einiger weniger bisheriger Handlungsabschnitte. Auch wenn die Folgen in sich abgeschlossen sind, erkennt Care bereits, dass häufig zumindest eine sehr kurze Rekapitulation vonnöten ist, um dem Leser den Einstieg und Anschluss zu ermöglichen: „The unreasonable Motion of Marriage made to S. Mendacio, mentioned last week, put him into so ill an humour, that he instantly resolved upon his before-designed Travels.“46 Charakteristiken fortgesetzten Erzählens sind also bereits in Poor Robin’s Memoirs vorhanden; Cliffhanger hingegen nicht. The London Spy erscheint monatlich in achtzehn Teilen ab November 1698.47 Der Satiriker Edward Ward beschreibt in der Ich-Erzähler-Form das Kneipen- und Nachtleben Londons: „A rural visitor, escaped from ‚a tedious confinement to a country hut‘, arrives to see the sights of London; he has the good fortune to meet an old schoolfellow, now a Londoner, who agrees to be his guide. In other words, although many or even most of Ward’s readers were already acquainted with the city, at least their own part of it, he found it useful to imagine a kind of

44 Teaser, von engl. tease = reizen, necken. „Teaser. Im Fernsehen oder im Kino ein kurzer Werbefilm, der Appetit auf ein kommendes Programm machen soll.“ Monaco: Film und neue Medien, 2000, S. 161. 45 Care: Poor Robin’s Memoirs., 1677 - 1678, S. 2 (No. 9 vom 11.02.1678). 46 Ebd., S. 1 (No. 8 vom 04.02.1678). Siehe auch: „We left our Hero last bout in good Company, under the Conduct of will wit a wisp.“ Ebd., S. 1 (No. 5 vom 14.01.1678). Siehe auch die fast identische Formulierung in der Serie Between the Lions: „We find Cliff Hanger where we left him last“. 47 Vgl. http://www.oxforddnb.com/view/article/28682 [vom 12.01.2013.]

190 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION hypothetical estrangement, to borrow the perspective of seeing the urban scene for the first time, in order to sharpen attention and extend awareness to new people and places.“48

Werden bei Poor Robin’s Memoirs bereits im Untertitel With his Life, Travels, and Adventures die Möglichkeiten für episodisches Erzählen angedeutet, gibt auch im Fall von The London Spy der Inhalt des Romans bereits die episodische Struktur vor: Das Aufsuchen verschiedener Londoner ‚Sehenswürdigkeiten‘ ermöglicht die strukturelle Aneinanderreihung in sich abgeschlossener Einzel-Folgen. Der Roman, anekdotisch mit lebhaften Charakterzeichnungen, zahlreichen umgangssprachlichen Formulierungen, mehreren kleinen Binnenerzählungen (eine Analogie zu 1001 Nacht), ist ergänzt durch Gedichte und Liedtexte, die meist von Binnen-Erzählern beigetragen werden. Trotz aller Episodenhaftigkeit gebraucht Ward bereits einige Stilmittel des Fortsetzungsromans. Vorausdeutungen (Open- und Endteaser) und Rekapitulationen finden sich bereits an den Schnittstellen der Folgen. „Having spent the time at the Tavern till about Ten a Glock with Mirth and Satisfaction, we were now desirous of prying into the dark Intrigues of the Town, to experience what Pastime the Night-Accidents, the Whims and Frolicks of Staggering Bravadoes and Stroling Strumpets might afford us. And [sic] Account of which we shall give you in our next.“49

Bereits in diesen letzten Sätzen der ersten Folge lockt Ward die Leser mit einem Vorausblick auf die nächste, in der es angeblich noch mehr „Whims and Frolicks“ geben wird. Immer wieder bietet Ward mithilfe eines teasers am Ende einen kleinen Anreiz für die Lektüre der nächsten Folge.50 Mit Cliffhangern haben diese teaser jedoch nicht viel gemein, da eher darauf hingewiesen wird, dass die Erzählung fortgesetzt wird – Kontinuitätshinweise wäre ein ebenso passender Begriff wie teaser, denn es 48 Briggs: „Satiric Strategy in Ned Wardʼs London Writings“. In: Eighteenth-Century Life, 34 (2), 2011, S. 80. 49 Ward: The London-Spy Compleat, 1703, S. 24 (Teil 1). Zitiert nach der ganzheitlichen Ausgabe von 1703. Der Titel The London-Spy Compleat, In Eighteen-Parts ebenso wie die Gestaltung der einzelnen Teile legt nahe, dass an dem Werk für die ganzheitliche Publikation nichts verändert wurde. Auch die Masse an Werken, die der Autor zu jener Zeit veröffentlich hat, lässt dies vermuten. (Vgl. Briggs: „Satiric Strategy in Ned Wardʼs London Writings“. In: Eighteenth-Century Life, 33 (2), 2011, S. 76–78.) Zweifelsfrei ließ sich dies aber nicht beweisen, da nicht zu ermitteln war, ob ‒ und wenn ja, wo ‒ noch die serielle Erstveröffentlichung vorhanden ist. 50 Siehe bspw.: „It now being about Three a Clock, we concluded to go into Pauls, an Account of which I shall give in my next.“ Ward: The London-Spy Compleat, 1703, S. 99 (Teil 4). Siehe auch: Ebd., S. 124 (Teil 5).

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wird nicht mit dem Inhalt der Fortsetzung gelockt, sondern nur die Information gegeben, dass der Makrotext weitergeht. Kontinuitätshinweis ist eine in der Diegese gegebene Information, die deutlich macht, dass die Erzählung fortgesetzt wird. Das paratextuelle „to be continued“ wird in der Diegese ergänzt oder sogar komplett davon ersetzt. Am Anfang einer Folge gibt der Erzähler in Stichworten an, was in der vorliegenden Ausgabe passieren wird – ein weiteres proleptisches Element, eine Art Opening-Teaser. Und in einigen Folgen fasst er kurz zusammen, ‚was bisher geschah‘, gibt also einen recap.51 Ward ist sich der Mittel des Fortsetzungsromans durchaus bewusst und kann so das Interesse seines Publikums an der Geschichte wachhalten. Der große Erfolg seines Romans bestätigt das: The London Spy erweist sich als so beliebt, dass zu Wards Lebzeiten fünf Neuauflagen gedruckt werden und zahlreiche Teile des Romans in andere Veröffentlichungen und Sammelwerke Wards einfließen.52 Cliffhanger sind jedoch genauso wenig zu finden wie in Poor Robin’s Memoirs. Die an einen spezifischen Ort in London gebundene Anekdote wird zum Ende der Folge abgeschlossen. Die ersten Fortsetzungsromane sind also eher ‚Episodenromane‘. Trotz des Erfolges von The London Spy verschwindet die für die serielle Publikation konzipierte Literatur eine Zeitlang: „If Wardʼs work is the first number fiction, it did not spawn many successors; before 1750, virtually nothing of importance in prose fiction was published in numbers.“53 Selbst ab 1750 werden kaum Werke für eine serielle Publikation geschrieben – vornehmlich weil es der preiswerteren Preisgestaltung zuwider laufen würde, einen Autor für die Herstellung eines neuen Werk zu vergüten anstatt nur für eine ‚Neuauflage‘ in serieller Form bezahlen zu müssen. Billiger und darum auch gängiger ist es nach wie vor, ältere Werke für eine serielle Veröffentlichung aufzuteilen. „[I]n contrast to the typical Victorian serial novel, continuous stories in the eighteenth century tended to be reprinted, abridged, or translated works, or, if original, by undistinguished authors.“54 51 Siehe bspw.: ebd., S. 48 (Teil 3). Genauso wie der Begriff teaser stammt recap aus der Fernsehwissenschaft: „[M]ost contemporary serials air a one-to-two-minute recap before each episode to summarize key events ‚previously on‘ the series.“ Mittell: „Previously On: Prime Time Serials and the Mechanics of Memory“. In: Grišakova u. a. (Hg.): Intermediality and Storytelling, 2010, S. 89. Dass in den Fernsehwissenschaften einige Techniken Begriffe erhalten haben, die größtenteils auch auf andere serielle Erzählformen anwendbar sind, zeigt erneut die enge Verbindung und Verknüpfung von Serie, Serialität und Fernsehen. 52 http://www.oxforddnb.com/view/article/28682 [vom 12.01.2014]. 53 Patten: Charles Dickens and His Publishers, 1978, S. 52. 54 Law: „Periodicals and Syndication“. In: Baker u. a. (Hg.): A Companion to the Victorian Novel, 2002, S. 15. „[B]y undistinguished authors“ lässt natürlich vermuten, dass es eine Dunkelziffer an seriellen Werken dieser Zeit gibt, die schwer zugänglich, kaum erhalten

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2.

S HILLING NUMBERS : C HARLES D ICKENS ʼ SERIELLE V ERÖFFENTLICHUNGEN

2.1

The Pickwick Papers und der Weg zur Fortsetzung

2.1.1 Kontext: Shilling Numbers Obwohl vor Dickens bereits Fortsetzungsromane erschienen sind und neue Veröffentlichungspraktiken mit dem piecemeal publishing und der Subskribierung bereits praktiziert wurden, wird das vollständige Potential des seriellen Publizierens erst mit den shilling55 numbers ausgeschöpft – und selbst in diesem Format müssen erst die Möglichkeiten des Fortsetzungsromans entdeckt werden.56 Die englischen, seriell veröffentlichten Romane des 18. Jahrhunderts erscheinen meist in wenigen Teilen – drei bis maximal sieben, Ende des Jahrhunderts eher drei bis vier – und außerdem zum Preis von einem halben Guinea. Selbst die geteilten Bücher können sich nur

und von unbekannten Autoren und damit vermutlich auch von niederer Qualität sind. Da es bisher zu diesen Werken keine Sekundärliteratur gibt, kann dieser Spur hier aber nicht nachgegangen werden. Als Ausnahme zur Aussage, dass kaum Werke für die seriellen Publikationen des 18. Jahrhunderts geschrieben wurden, gilt Sir Lancelot Greaves von Tobias Smollett, das von Januar 1760 bis Dezember 1761 in der monatlich erscheinenden Zeitschrift The British Magazine erschien (vgl. S. 16 und Law: Serializing Fiction in the Victorian Press, 2010, S. 7). In diesem Werk wird fortgesetzt erzählt und es wird etwas deutlicher als noch in Poor Robin’s Memoirs und The London Spy am Ende des Kapitels auf den weiteren Verlauf der Erzählung hingewiesen. Häufig wird der Leser direkt vom Erzähler angesprochen, im nächsten Kapitel sei mehr über einen bereits erwähnten Sachverhalt zu erfahren: „But as a personage of great importance in this entertaining history was forced to remain some time at the door before he could gain admittance, so must the reader wait with patience for the next chapter, in which he will see the cause of this disturbance explained much to his comfort and edification.“ (Ende von Kapitel 1) Ob ‒ und wenn ja, wo ‒ das Original der seriellen Veröffentlichung einzusehen wäre, konnte nicht ermittelt werden. Ich beziehe mich auf die im Internet verfügbare Version von gutenberg.org: http://www.gutenberg.org/files/6758/6758-h/6758-h.htm#link2H_INTR [vom 20.08.2013] 55 „[S]hilling – An English silver coin worth twelve pence. Twenty shillings equaled a pound.“ Pool: What Jane Austen Ate and Charles Dickens Knew, 2012, S. 372. 56 Vgl. Patten: „Pickwick Papers and the Development of Serial Fiction“. In: The Rice University Studies, 71 (1), 1975, S. 51.

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relativ wohlhabende Menschen leisten, es sei denn, sie sind Mitglied eines Lesezirkels, die den jeweiligen Text subskribiert hat.57 Fortsetzungsromane, die in zahlreichen, bei Dickens meist 20 Teilen erscheinen und direkt für diese Veröffentlichungsart geschrieben sind, gibt es in England bis zu den shilling numbers nur vereinzelt.58 „Dickensʼs serial differed from its predecessors in one simple and all important feature. Whereas Colburn59 took a novel published originally in volumes and broke it down into 1s. [d.s. one shilling] parts Chapman and Hall had Pickwick designed from the first as a 1s. parts with a view to subsequent consolidation in volumes. The reader had the fiction, as the phrase went, ‚warm from the brain‘ and usually before any critical judgement could be imposed on it, giving the work a singular freshness.“60

Vornehmlich durch ihre Veröffentlichungen wird der Begriff shilling number geprägt – die Romanfolge ist so preiswert, das sie für einen Shilling erhältlich ist. Auf diese Weise machen sich Hall und Chapman die Veröffentlichungspraktiken der Paternoster-row Numbers und anderer Vorgänger zunutze, senken zudem den Preis nochmals.61 Dickens Erfolgsgeschichte ist maßgeblich dem Umstand zu verdanken, dass 57 Vgl. Butt u. a.: Dickens at Work, 2009, S. 13. „[T]he custom of borrowing and sharing reading matter, rather than purchasing it for private use, was greatly encouraged by the inflated prices for literature in the first quarter of the nineteenth century. The custom can be seen also in the practice of communal subscriptions to newspapers, and their rental by the hour in coffee and public houses during the same period.“ Law: Serializing Fiction in the Victorian Press, 2010, S. 11. 58 Wobei auch die shilling numbers keine Erfindung von Dickens oder seinen Verlegern Chapman und Hall sind. Dickens schreibt in seiner Einleitung zur Ausgabe der Pickwick Papers 1867: „[S]hilling numbers – then only known to me, or, I believe, to anybody else, by a dim recollection of certain interminable novels in that form, which used to be carried about the country by pedlars“. Dickens: „Preface to the Charles Dickens Edition (1867)“. In: The Pickwick Papers, 2008, S. 722. Siehe auch: Butt u. a.: Dickens at Work, 2009, S. 63. 59 Gemeint ist Henry Colburn, ein bedeutender britischer Verleger (1784/5–1855), der am 25. Januar 1817 die Literary Gazette ‒ eine wöchentliche Zeitschrift unter anderem mit Folgen bereits veröffentlichter Romane ‒ für einen Schilling herausbrachte. Siehe: Melnyk: Half Fashion and Half Passion, 2002. 60 Sutherland: Victorian Novelists and Publishers, 1976, S. 21. 61 „Admittedly Chapman and Hall [...] borrowed some of the techniques of the slum publishers but they refined them for an essentially middle-class readership.“ Ebd., S. 22. Dabei ist zu bemerken, dass die einzelne Folge billiger ist, der addierte Preis aller Folgen zusammen jedoch ebenso den Preis von einen Guinea ergibt. (Vgl. Erickso: The Economy of Literary Form, 1999, S. 159–160.)

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er seine ersten Werke (scheinbar) sehr kostengünstig anbietet und so einer viel größeren Leserschaft zugänglich macht.62 Die shilling numbers von Dickens sind monatlich erscheinende einzelne Hefte eines seiner Romane ‒ wobei es zumindest bei Pickwick Papers noch zu gewollten Verzögerungen kommt: Dickens lässt zwischen der Veröffentlichung einzelner Folgen etwas Zeit verstreichen, um die erzählte Jahreszeit mit der des Rezipienten bei der Veröffentlichung der Folgen zu synchronisieren. „There is from the first a general correspondence between the seasonal activity in the numbers and their month of publication (e.g. cricket in June, shooting in October, skating in February). But Dickens gradually realized that there were advantages – not only in convenience but in appeal to the reader – in correlating Pickwickian time and publication time, season by season. […] By the December number he has his readers, as well as Mr. Pickwick, looking forward to Christmas […].“63

Dickensʼ shilling numbers bestehen aus 24 und 32 Seiten und haben zwei bis vier Abbildungen.64 Cover und Rückseite sind auf grünlichem, preiswertem Papier. Die letzte Ausgabe beinhaltet häufig eine Doppel-Folge, die dementsprechend zwei Shilling kostet.65 Sketches by Boz – der unter dem Pseudonym „Boz“ veröffentlichte Erstling66 – ist noch eine in zwei Veröffentlichungs-Serien publizierte Sammlung von Geschich-

62 „His first novel, Pickwick Papers, shows him attempting to reach a larger number of readers by cutting the price to suit their pockets.“ Butt u. a.: Dickens at Work, 2009, S. 13. Man könnte sich natürlich fragen, ob Dickens wirklich bereits bei seinem ersten Roman schon auf die Preisgestaltung einwirken kann oder nicht eher die Verleger Chapman und Hall dafür verantwortlich sind. 63 Kinsley: „Introduction“. In: Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. XIV. 64 Vgl. Winter: The Pleasures of Memory, 2011, S. 88. Die Abbildungen nehmen einen wichtigen Teil der Veröffentlichungen ein; die Illustratoren George Cruikshank und Hablot Knight Browne (Pseudonym ‚Phiz‘) sind zur damaligen Zeit berühmt. (Siehe: Andrews: „Illustrations“. In: Paroissien (Hg.): A Companion to Charles Dickens, 2011, S. 97–125. Für eine Analyse der Zeichnungen von Phiz und ihr Bezug zum Text von Dickens in der Erstveröffentlichung der Pickwick Papers siehe: Miller: Illustration, 1992, S. 96–111.) 65 Vgl. Patten: „Pickwick Papers and the Development of Serial Fiction“. In: The Rice University Studies, 34 (2), 1975, S. 51. 66 Von den Pickwick Papers erfolgt nur noch die shilling number-Veröffentlichung unter dem Pseudonym ‚Boz‘. Die Ausgabe von 1837 läuft bereits unter dem Namen Charles Dickens. Vgl. Winter: The Pleasures of Memory, 2011, S. 362.

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ten und „Sketches“, die noch weniger Zusammenhang aufweisen als die besprochenen ‚Episodenromane‘ The London Spy und Poor Robin’s Memoirs.67 Das Angebot, ein Buch in Folgen für Chapman and Hall zu schreiben, erhält Dickens mit den The Posthumous Papers of the Pickwick Club (im Folgenden unter dem späteren Titel The Pickwick Papers abgekürzt). Aus 19 Teilen, die vom 31. März 1836 bis zum 30. Oktober erscheinen,68 besteht der Roman; meistens sind drei Kapitel in einer Folge enthalten.69 2.1.2 Aufbau und Inhalt Die Rahmenhandlung umfasst die Abenteuer des Pickwick-Clubs, einer Gesellschaft von Hobby-Wissenschaftlern und Ehrenmännern um den Gründer Samuel Pickwick. Der Verein reist durch England, um zu forschen und die Ergebnisse anschließend der Fachwelt zu präsentieren. Episodenhaft beginnt der Roman; eine klare inhaltliche Verknüpfung der einzelnen Anekdoten und Abenteuer lässt sich anfangs nicht ausmachen.70 In die Rahmenhandlung eingebettet sind in sich abgeschlossene Binnenerzählungen. Die Metadiegese wird jedoch niemals unterbrochen, sondern die Binnenerzählungen werden immer vor oder mit dem Ende des Kapitels abgeschlossen.71

67 Siehe: Shin: „Rapid and Dextrous“. In: British and American Fiction to 1900, 16 (2), 2009, S. 99–123. 68 Hier und im Folgenden beziehe ich mich bei allen hier besprochenen Romanen von Dickens auf die jeweilige Ausgabe der Oxford World’s Classics, in der als einziger Edition die ursprünglichen Unterteilungen markiert sind. Ich habe aber die Unterteilungen zumindest im Fall der Pickwick Papers auch mit den Original shilling numbers verglichen, die von der University of Victoria digitalisiert wurden: http://library.uvic.ca/dig/pickwick.html [vom 23.07.2013]. 69 Folgen 19 und 20 erscheinen in einer Doppelfolge. Vgl. Patten: Charles Dickens and His Publishers, 1978, S. 448–452. 70 „While I would agree with a characterization of Pickwick Papers as ‚plotless‘, as well as with similar characterizations of Cranford, the episodic nature of these texts is the key to their productiveness, for this wandering, non-teleological structure emphasizes the idea of reading as process, rather than text as product. In both Pickwick Papers and Cranford, the heart of storytelling is not in the ending, but instead in the path that is taken.“ McCord Chavez: „The Gothic Heart of Victorian Serial Fiction“. In: Studies in English Literature 1500–1900, 50 (4), 2010, S. 800. 71 „All of these tales [d.s. die Binnenerzählungen] are sensational, autonomous with regard to the main narrative, and set off from the main text visually by means of separate headings.“ Ebd., S. 803. Der episodische Aufbau des Romans kommt auch in den letzten Sätzen von Pickwick zum Vorschein: „‚I have done but little good, I trust I have done less harm,

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Auch die einzelnen Reise-Episoden werden häufig bereits beim Schluss des Kapitels zu Ende geführt und nicht erst am Folgen-Ende.72 Zu Beginn erscheint der Roman daher eher wie eine Sammlung von Geschichten und Anekdoten, den Sketches by Boz ähnlich.73 „Some have argued that Pickwick Papers is ‚not really a novel at all‘ – doubtless influenced by Dickens’s own account of it as a ‚monthly something‘, ‚a mere series of adventures‘ in which ‚no artfully interwoven or ingeniously complicated plot can with reason be expected‘.“74 Die Einschätzung, die Folgen seien abgeschlossen, unterstützt Dickens selbst in seinem Vorwort zur ersten Buchausgabe von 1837: „In short, it was necessary – or it appeared so to the author – that every number should be, to a certain extent, complete in itself, and yet that the whole twenty numbers, when collected, should form one tolerably harmonious whole, each leading to the other by a gentle and not unnatural progress of adventure.“75

Wie Dickens erwähnt, gibt es aber ebenso eine Fortsetzungskomponente in den Picknick Papers. Der Roman lässt sich in drei Teile gliedern: Besonders der mittlere Abschnitt sowie der Anfang des letzten Drittels weisen fortgesetzte Handlungsstränge auf.76 Teil eins ist noch vollkommen episodisch. Gelegentlich wird in einem einzelnen Kapitel, häufiger aber in einer einzelnen Folge, die meist aus drei Kapiteln besteht, eine Reise des Pickwick-Klubs ‚abgehandelt‘. Am Ende des Kapitels oder der Folge ist die Geschichte abgeschlossen, meist gehen sogar alle Figuren zu Bett, kehren heim oder widmen sich einer Abendunterhaltung und geben auf diese Weise dem

and that none of my adventures will be other than a source of amusing and pleasant recollections to me in the decline of my life. God bless you all.‘“ Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. 715. 72 Dabei fällt auf, dass die Kapitelenden, die nicht mit einem Folgen-Ende zusammenfallen, eine größere Abgeschlossenheit aufweisen als die, welche Kapitel- und Folgenende in einem sind. 73 Engel: „The Maturing of a Comic Artist“. In: Victorians Institute Journal, 1980–1981 (9), S. 39–47. 74 Kinsley: „Introduction“. In: Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. XIII. Butt und Tillotson behaupten sogar, dass Dickens vermutlich einige bereits geschriebene Kurzgeschichten benutzte, um die Pickwick Papers mit Binnenerzählungen aufzufüllen. Vgl. Butt u. a.: Dickens at Work, 2009, S. 73. 75 Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. XXXIV. 76 Vgl. McCord Chavez: „The Gothic Heart of Victorian Serial Fiction“. In: Studies in English Literature 1500–1900, 50 (2010), S. 803.

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Leser sogar eine in der Diegese gespiegelte ‚Ent-spannung‘.77 Zwei Handlungsstränge bieten die Möglichkeit zu fortgesetztem Erzählen. Zum einen die immer wieder aufgegriffene Geschichte um den Betrüger Jingle, den die Pickwicker bereits im zweiten Kapitel kennenlernen. Zum anderen der längste und den dichtesten Zusammenhalt stiftende Handlungsstrang um Pickwick und seine Wirtschafterin Mrs. Bardell. Er birgt zugleich den Spannungshöhepunkt des Romans und ist Anlass der wenigen Cliffhanger des Romans. In Folge fünf kommt es zu einem folgenreichen Missverständnis:78 Auf sehr umständliche Weise fragt Pickwick seine Wirtschafterin, ob sie etwas dagegen hätte, wenn er einen Diener einstellte und dieser ebenfalls bei ihnen einzöge. Da Pickwick bei seinen höflichen, aber auch sehr schwer verständlichen Formulierungen nicht klar macht, von wem er spricht, missversteht die Wirtschafterin Frau Bardell ‒ sicherlich auch, weil sie einen Heiratsantrag herbeiersehnt ‒ seine Ausführungen als solchen und fällt vor Begeisterung wenig später in Ohnmacht. Als Pickwick verreist, ohne Bardells Reaktion verstanden und vor allem ohne das Missverständnis aufgeklärt zu haben, erhält er schließlich in Folge sieben einen Brief der Anwälte Dodson und Fogg, mit der Aufforderung, aufgrund seines gebrochenen Eheversprechens eine Entschädigungssumme zu zahlen. Im Folgenden wird die Geschichte um Frau Bardell und Pickwicks angeblichen Heiratsantrag immer wieder in die Episoden eingeflochten, bis sie im Gerichtsprozess, der Verurteilung Pickwicks, seinem Gefängnisaufenthalt und seiner Freilassung ihren Höhepunkt findet und damit einen zusammenhängenden Themenkomplex des Makrotextes darstellt. 2.1.3 Serielle Erzähltechniken Die Struktur des Werks und vor allem der Spannungsaufbau lassen sich anhand der Enden der Folgen und der seriellen Erzähltechniken nachzeichnen. Während die Folgen häufiger in eine Vorausdeutung münden und sogar wenige Cliffhanger vorkommen, enden viele Kapitel, wie beispielsweise das zweite, mit einem Abschluss: „Cordial farewells were exchanged, and the party separated. Doctor Slammer and his friends repaired to the barracks, and Mr. Winkle, accompanied by his friend, Mr. 77 Das Ende des dritten Kapitels lautet bspw.: „With this exception, their good humour was completely restored; and the evening concluded with the conviviality with which it had begun.“ Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. 41. Siehe: „Many of the chapters are structured by the passage of a day, from bright beginning to cold, dark night“. Patten: „Serialized Retrospection in The Pickwick Papers“. In: Jordan u. a. (Hg.): Literature in the Marketplace, 1995, S. 126. 78 Dickens macht auch in seiner einführenden Vorausdeutung der Überschrift deutlich, dass dieses Kapitel für den weiteren Verlauf der Geschichte von großer Bedeutung ist: „Descriptive of a very important proceeding on the part of Mr. Pickwick; no less an epoch in his life, than in this history“. Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. 137.

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Snodgrass, returned to their inn.“79 Obwohl es sich anfangs eher um eine Aneinanderreihung von losen Geschichten, Anekdoten und Begegnungen handelt, endet die erste Folge an einem spannenden Augenblick inklusive eines retardierenden Moments. „‚Go on, Jemmy,‘ said the Spanish traveller, ‚like black-eyed Susan – all in the Downs – no croaking – speak out – look lively.‘ ‚Will you make another glass before you begin, Sir?‘ said Mr. Pickwick. The dismal man took the hint, and having mixed a glass of brandy and water, and slowly swallowed half of it, opened the roll of paper and proceeded, partly to read and partly to relate, the following incident, which we find recorded on the Transactions of the club, as The Stroller’s Tale.“80 [Ende von Folge 1]

Von einem Cliffhanger zu sprechen ist hier insofern berechtigt, als der spannende Moment dadurch gegeben ist, dass die diegetische Runde von Zuhörern – und als Spiegelung mit ihnen auch der reale Leser – auf die Geschichte wartet, deren Beginn durch das Zubereiten eines Drinks noch hinausgezögert wird. Jedoch wird die Charakterisierung als Cliffhanger dadurch in Frage gestellt, dass nun eine Binnenerzählung anfängt: Der Unterbrechungsmoment bezieht sich nur auf den verzögerten Beginn der Metadiegese. Es ist ohnehin ein Erzählbruch vorhanden, während die diegetische Zuhörerschaft wie der reale Leser in Wartestellung verharren. Außergewöhnlich ist dieses Ende auch deshalb, weil es kurz nach dem Beginn des dritten Kapitels stattfindet und nicht, wie die meisten Enden von Folgen, mit einem Kapitel-Ende zusammenfällt – der Erzählfluss ist untypisch für einen Cliffhanger, weil er so früh stattfindet, am Anfang eines Kapitels, das noch gar nicht recht in Gang gekommen ist. Für den Leser ist also vollkommen klar, dass die Erzählung weiter geht: Jetzt folgt die versprochene Binnenerzählung, das Kapitel hat gerade erst begonnen. Es wird aber nichts Unerwartetes passieren, im Gegenteil: Eine Binnenerzählung beginnt, das steht bereits fest. Insgesamt hat dieses Ende eher den Charakter eines Hinweises für den Leser, dass die Erzählung fortgesetzt wird ‒ erneut kann man von einem Kontinuitätshinweis sprechen.81 Kein Paratext macht auf derselben Seite sowie auf den letzten beiden Seiten voller Werbung darauf aufmerksam, dass es sich nur um eine Folge handelt;82 79 Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. 30. 80 Ebd., S. 32. Im Folgenden wird in eckigen Klammern hinter dem Zitat kenntlich gemacht, wenn es sich um das Ende einer Folge handelt, damit der Leser sofort erkennt, welche Zitate für eine Analyse als Cliffhanger relevant sind und um welche Folge es sich jeweils handelt. 81 Siehe für die Einführung des Begriffs ‚Kontinuitätshinweis‘ Seite 190. 82 Auf der Titelseite steht in der linken oberen Ecke die Nummer, ansonsten ist jedoch auch dort kein Hinweis darauf zu finden, dass es sich um einen Fortsetzungsroman handelt.

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nirgendwo ist auf der Seite zu lesen: „to be continued“. Dieser Kontinuitätshinweis ist also wichtig; schließlich handelt es sich um das erste Folgen-Ende des Romans in der ersten Ausgabe des neuen Formats der shilling numbers. Dickens verschiebt somit den paratextuellen Hinweis in die Diegese: Er gestaltet ein Ende, das keinerlei Zweifel daran aufkommen lässt, dass diese Erzählung fortgesetzt wird. Nur die ersten drei Folgen-Enden haben solch einen Kontinuitätshinweis ‒ danach wird anscheinend davon ausgegangen, dass der Rezipient die serielle Veröffentlichungsform des Romans verstanden hat. Von Anfang an setzt Dickens auf Vorausdeutungen, die sowohl immer in den Kapitelüberschriften zu finden sind als auch in den Enden der Folgen. Beide Vorausdeutungs-Typen variieren von Mal zu Mal deutlich in der Spannungsintensität und in der Stärke der Vorausdeutung. „On the fourth [evening], the host was in high spirits, for he had satisfied himself that there was no ground for the charge against Mr. Tupman. So was Mr. Tupman, for Mr. Jingle had told him that his affair would soon be brought to a crisis. […] So were Mr. Jingle and Miss Wardle, for reasons of sufficient importance in this eventful history, to be narrated in another chapter.“83 [Ende von Folge 3]

Die behandelten Sätze lassen sich maximal als Vorformen von Cliffhangern bezeichnen, die trotz aller Abgeschlossenheit der Folgen eine gewisse Grundspannung für den weiteren Verlauf der Erzählung aufrecht erhalten und Übergänge schaffen sollen. Spannungsgeladenere Vorausdeutungen treten gehäuft erst nach dem Eintreffen des Briefes der Anwälte Dodson und Fogg auf. In diesem Brief wird Pickwick aufgefordert, Geld zu zahlen, weil er das angebliche Ehe-Versprechen an seine Haushälterin nicht gehalten hat. Ab dieser Folge beherrscht die fortlaufende Geschichte den Großteil des Makrotextes – damit einhergehend nehmen auch die seriellen Erzähltechniken zu. Das Ende von Folge 8 hat beispielsweise bereits mehrere Spannungselemente. Es steht in Zusammenhang mit einer sich durch den Roman ziehenden Handlung über den Lügner und Kleinbetrüger Alfred Jingle und seinen Diener Job Trotter. Pickwicks Diener Sam Weller trifft auf Jingles Diener Job Trotter und will diese Gelegenheit nutzen, um über ihn an seinen Herrn Alfred Jingle zu gelangen. Dieser hat Pickwick betrogen. Nachdem er erfolgreich Trotter eine Falle gestellt hat, eilt er zu Pickwick, um ihm davon zu erzählen. Pickwick kann seine Neugier, ähnlich dem Leser, kaum zähmen, will wissen, wie der Plan lautet und wo die beiden Betrüger zu finden sind:

83 Ebd., S. 98f.

200 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „‚Where are they, Sam; where are they?‘ ‚Hush, hush!‘ replied Mr. Weller; and as he assisted Mr. Pickwick to dress, he detailed the plan of action on which he proposed to enter. ‚But when is this to be done, Sam?‘ inquired Mr. Pickwick. ‚All in good time, Sir,‘ replied Sam. Whether it was done in good time, or not, will be seen hereafter.“84 [Ende von Folge 8]

Der Cliffhanger besteht aus verschiedenen Faktoren: Erstens erfährt der Leser den Plan nicht, nur Pickwick; zweitens bleibt Pickwicks Frage unbeantwortet (interrogativer Kommunikationsakt), wann der Zeitpunkt für die Verwirklichung des Plans ist. Drittens entsteht Spannung aus der Fragestellung, ob der Plan gelingen wird. Der Leser weiß, dass etwas passieren wird: Zu einem bestimmten Zeitpunkt schnappt die Falle zu. Aber ob der Plan glückt, weiß er nicht. Hinzu kommt, dass Dickens noch als retardierendes Element ein komplettes Kapitel zwischen Cliffhanger und Aufhebung schiebt (verzögerte Interruptionsspanne). Gleichfalls wird erneut mit dem letzten Satz „Whether it was done in good time, or not, will be seen hereafter“ auf die Auflösung und Fortsetzung hingewiesen. Beim nächsten Folgen-Ende (Folge 9) wird zum ersten Mal die Tragweite von Pickwicks als Heiratsantrag missverstandenen Sätzen deutlich: Weller war bei Mrs. Bardell, um Pickwicks Habseligkeiten abzuholen und hat sich bei dieser Gelegenheit sehr diskret und einfühlsam über die Hintergründe des Gerichtsprozesses sowie Mrs. Bardells Stimmungslage informiert. Von der ausweglosen Situation berichtet er daraufhin seinem Herrn, Pickwick, dessen Anwalt die Gefahr bestätigt. „[A]nd Mr. Pickwick was fain to prepare for his Christmas visit to Dingley Dell, with the pleasant anticipation that some two or three months afterwards, an action brought against him for damages sustained by reason of a breach of promise of marriage, would be publicly tried in the Court of Common Pleas; the plaintiff having all the advantages derivable not only from the force of circumstances, but from the sharp practice of Dodson and Fogg to boot.“85 [Ende von Folge 9]

Der Held wird am Ende der Folge in einer Situation zurückgelassen, in der er eine düstere Zukunftsaussicht vor sich hat: Er wird nach Dingley Dell wegfahren mit der Gewissheit, dass er bald die Vorladung für seinen Gerichtsprozess erhält, bei dem die Klägerin sowohl die „force of circumstance“ als auch gerissene, unnachgiebige und vor allem aufwiegelnde Anwälte auf ihrer Seite haben wird. Hier ist eine Bezeichnung ‚vorausdeutender Cliffhanger‘ passend. Es handelt sich nicht um einen Cliffhanger, bei dem der Held in unmittelbarer Gefahr ist ‒ eine Enthüllung liegt ebenfalls zeitlich zurück ‒, sondern es wird darauf vorausgedeutet, dass vermutlich eine Situation entsteht, in der er in Gefahr gerät. Die Hauptbestandteile 84 Ebd., S. 288. 85 Ebd., S. 325.

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des Cliffhangers sind vorhanden: Unterbrechung plus Spannung. Nur wird in diesem Fall die Spannung durch eine Vorausdeutung hervorgerufen. Sie ist auch in der ironischen als „pleasant anticipation“ beschriebenen Voraussicht des Helden gespiegelt: Er selbst sieht ebenso wie der Leser die nahende, aber vermutlich unabwendbare Gefahr. Die nächsten zwei Folgen lassen sich als retardierend sehen, da sie hauptsächlich von Pickwicks Weihnachtsbesuch in Dingley Dell handeln (verzögerte Interruptionsspanne). Die im Zitat genannten drei Monate der erzählten Zeit werden mit zwei Folgen Erzählzeit und in sich geschlossenen Binnenerzählungen überbrückt. 2.1.4 Gefahrensituative Cliffhanger Zum Höhepunkt des Makrotextes kommt es, als der beschriebene vorausdeutende Cliffhanger ‚eintritt‘: Pickwick verliert den Gerichtsprozess und wird verurteilt.86 Am Ende der 14. Folge geht Pickwick unschuldig ins Schuldnergefängnis; es bleibt offen, wie Pickwick frei kommen beziehungsweise wann er wieder entlassen wird – zunächst einmal weist nichts auf eine Entspannung hin. Die letzten Sätze lauten: „They passed through the inner gate, and descended a short flight of steps. The key was turned after them, and Mr. Pickwick found himself, for the first time in his life, within the walls of a Debtor’s Prison.“87 [Ende von Folge 14] Hier befindet sich der Held in einer unmittelbar brenzligen Situation; für den Rezipienten bleibt die Frage, wie er sich aus ihr retten kann – ein gefahrensituativer Cliffhanger (histoire-Ebene). Dieser wird mit einem exklamatorischen Kommunikationsakt (discours-Ebene) kombiniert: die Feststellung, dass sich hinter ihm die Tür schließt und er zum ersten Mal in seinem Leben im Gefängnis sitzt. Diese Stelle bildet nicht nur den dramaturgischen und dramatischen Höhepunkt des Werks ‒ sie ist auch zentral für die Entwicklung von Pickwick. Die bis dahin als eine Art Don Quixote gezeichnete Figur,88 die sich mit

86 Wie Rosana Bonadei bemerkt, findet mit dem Gerichtsprozess auch eine starke Kontrastierung des Handlungsorts zum ersten, episodisch aufgebauten Teil statt, der beinahe ausschließlich auf dem Land spielt. Der zweite Teil, der generell düsterer ist und mehr fortgesetzte Handlungsstränge aufweist, handelt ausschließlich in der Stadt, womit der im Zuge der englischen Industrialisierung sich damals verändernde Lebensmittelpunkt widergespiegelt wird. Vgl. Bonadei: „Dickens and The Pickwick Papers“. In: Nünning u. a. (Hg.): Turning points, 2012, S. 368. 87 Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. 513. Vermutlich wurde Dickens zu dieser Szene durch die Erfahrungen seines Vaters inspiriert: „Dickens was facing through print, some of the trauma he had experienced when his father, John Dickens, was imprisoned in the Marshalsea for debt.“ Meckier: „Twists in Oliver Twist“. In: Dickens Quaterly, 29 (2), 2012, S. 121. 88 Vgl. Goetsch: „Charles Dickensʼs The Pickwick Papers and Don Quixote“. In: FernándezMorera u. a. (Hg.): Cervantes in the English-Speaking World, 2005, S. 143–157.

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ihrem Club hauptsächlich ‚profanen‘ sportlichen und pseudo-wissenschaftlichen Tätigkeiten hingibt,89 eignet sich im Gefängnis eine größere Besonnenheit an. „But it is in the Fleet Prison that he learns most. […] In the jail, however, he becomes ever more silent and subdued. What he sees and hears refines his sympathies and enlarges his self-knowledge.“90 Dickens selbst bemerkt die Stärke dieser Unterbrechung: „Just after the new serial [d.i. Oliver Twist] had begun to appear comes the Trial; it had been running for three months when Mr. Pickwick enters Fleet prison. ‚The next Pickwick‘, he wrote to Forster, ‚will bang all the others‘; he was right; the sales rose to forty thousand.“91 Dickens sieht die Wirkung des Cliffhangers nicht nur voraus, auch die Verkaufszahlen geben ihm Recht. Wie sehr Dickensʼ Arbeitsweise mit der seriellen Publikationsform zusammenhängt und diese aufeinander wirken, lässt sich anhand der Publikationsgeschichte dieses Cliffhangers erkennen. Dickens vollendet die Niederschrift der Folgen meist nur kurz vor ihrer Veröffentlichung. Der Tod seiner Schwägerin Mary Hogarth am 7. Mai nimmt ihn so mit, dass es 1837 keine Juni-Ausgabe der Pickwick Papers gibt. Die Leser werden unerwartet lange im Schwebezustand gelassen.92 Die Erzählpause gerät dementsprechend länger als bei den anderen Folgen. Die Spannung wird über drei Folgen aufrechterhalten. Sie bilden damit den Höhepunkt des Romans – der Cliffhanger hat also eine mittlere Spannbreite. Das Ende der kommenden Folge deutet die mögliche Inhaftierung Sam Wellers mit einem exklamatorischen Kommunikationsakt voraus.

89 Die sportlichen Aktivitäten des Pickwick Clubs sind Ausdruck eines bereits in der Kontextualisierung genannten wirtschaftlich-sozialen Aufstiegs der nicht adeligen und nicht landbesitzenden Schichten: „Thanks to wealth created by the industrial revolution, the urban middle classes were acquiring power at the expense of the gentry. […] Middle-class experimentation with country sports had become an emblem of this shift of power. Stringent game laws had for centuries effectively barred almost anyone but landowners from enjoying the pleasures of the chase. […] The Sporting Magazine, launched in 1792“. Parker: „The Pickwick Papers“. In: Paroissien (Hg.): A Companion to Charles Dickens, 2011, S. 299. Der Auftrag der Herausgeber an Dickens ist, vor allem über die Abenteuer eines Sportclubs zu schreiben ‒ Dickens hingegen versucht mehr englische Szenen und Leute dazustellen. (Vgl. ebd., S. 297). 90 Ebd., S. 302. 91 Butt u. a.: Dickens at Work, 2009, S. 74. 92 Eine Erkenntnis, die sich aus dem Vergleich von Dickens at Work, S. 15 und den Veröffentlichungstabellen in Patten: Charles Dickens and His Publishers, 1978, S. 448–452 ergibt. Der Tod seiner Schwägerin ist die wichtigste Inspiration für den Tod der Figur Nelly in The Old Curiosity Shop. Vgl. Brennan: „Introduction“. In: Dickens: The Old Curiosity Shop, 2008, S. XXIII.

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„‚If it’s forty year to come, I shall be a pris’ner, and I’m very glad on it; and if it had been Newgate, it vould ha’ been just the same. Now the murder’s out, and, damme, there’s an end on it.‘ With these words, which he repeated with great emphasis and violence, Sam Weller dashed his hat upon the ground, in a most unusual state of excitement; and then, folding his arms, looked firmly and fixedly in his master’s face.“93 [Ende von Folge 15]

Sam macht gegenüber seinem Herrn die Aussage, dass er gerne bereit sei, ins Gefängnis zu gehen. Somit besteht die Gefahr, dass nicht nur Pickwick, sondern auch Pickwicks Diener Sam im Gefängnis landet und sich nicht mehr für die Freiheit seines Herren einsetzen kann. In diesem Fall wird sogar die unmittelbare Situation ‒ das Gespräch zwischen Pickwick und Sam ‒ unterbrochen und erst in der nächsten Folge fortgesetzt; es findet also ein für dieses Werk seltener Interruptionspunkt statt. Abgesehen von dem ‚drohenden Unheil‘ besteht die Spannung auch in der Rätselhaftigkeit von Sams Verhalten: Der Leser (und mit ihm Pickwick selbst) versteht noch nicht ganz die Hintergründe von Sams Inhaftierung und seiner trotzigen Reaktion, die erst in der kommenden Folge erklärt werden. Die Spannung wird noch bis zu einem weiteren Folgen-Ende aufrecht erhalten: Als auch Mrs. Bardell, die ehemalige Wirtschafterin Pickwicks, in dasselbe Gefängnis wie die beiden kommt, erkennt Sam den Segen dieser nur scheinbar unglücklichen Situation und schickt den nicht inhaftierten Job Trotter als Boten los, damit dieser den Anwalt holt: „‚Here Job, Job,‘ shouted Sam, dashing into the passage, ‚run to Mr. Perker’s, Job; I want him directly. I see some good in this. Here’s a game. Hooray! Vereʼs the gov’nor?‘ But there was no reply to these inquiries, for Job had started furiously off, the instant his commission, and Mrs. Bardell had fainted in real downright earnest.“94 [Ende von Folge 16]

Das Missverständnis zwischen Herrn Pickwick und Frau Bardell kann erst geklärt werden, als sie von ihren zwei zwielichtigen Anwälte Dodson und Fogg angezeigt wird, weil sie die Prozesskosten bisher nicht bezahlt hat und glücklicherweise in dasselbe Gefängnis eingesperrt wird wie Pickwick und sein Diener. Sam erkennt darin die perfekte Möglichkeit für eine Klärung des Problems. Die Geschichte wird in der nächsten Folge unmittelbar am Interruptionspunkt fortgesetzt, fast in der fortgeführten Bewegung des losrennenden Trotters ‒ so spannend ist die Situation. Der erste lange Satz der nächsten Folge spiegelt den langen Atem des schnellen Boten wider: „Job Trotter, abating nothing of his speed, ran up Holborn, sometimes in the middle of the road, sometimes on the pavement, and sometimes in the gutter, as the chances of getting along varied 93 Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. 551 (Kapitel 43). 94 Ebd., S. 587.

204 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION with the press of men, women, children, and coaches, in each division of the thoroughfare, and, regardless of all obstacles, stopped not for an instant until he reached the gate of Grayʼs Inn.“95

Wenig später ist das Missverständnis geklärt: Alle drei werden aus dem Gefängnis entlassen. Die letzten Folgen bieten wieder Abgeschlossenheit, und die Helden befinden sich nie mehr in einer gefährlichen Situation, die vom Kapitel- oder FolgenEnde unterbrochen wird. 2.1.5 Resümee Der Einbezug der Aufhebungsmomente kennzeichnet auch in diesem Fallbeispiel die Cliffhanger. Alle gefahrensituativen Cliffhangermomente des Werks werden am Interruptionspunkt fortgesetzt. Als Pickwick ins Gefängnis kommt, als Sam dann ebenfalls eingesperrt werden soll, als Sam schließlich Job Trotter losschickt, damit dieser die Rettung für Miss Bardell, Pickwick und ihn herbeiholt – alle drei Momente werden unmittelbar in der erzählten Zeit und der Erzählzeit fortgesetzt. Die abgeschlossenen Episoden haben meistens einen elliptischen Interruptionspunkt. Die Figuren gehen schlafen, spielen, verbringen einen schönen Abend – es vergeht bis zum nächsten Abenteuer erzählte Zeit, die unwichtig und nicht spannend ist und darum übersprungen wird. Die vorausdeutenden Cliffhanger haben meist eine mittlere bis große Spannbreite und führen eine verzögerte Interruptionsspanne mit sich. Bis die Vorausdeutung wahr wird, ‚schwelt‘ sie untergründig und erzeugt damit eine unter der Episodenhandlung stehende fortlaufende Grundspannung: Es steht noch Unheil bevor. Die unterschiedlichen diegetischen Fortsetzungskategorien sind Ausdruck dafür, dass im Handlungsverlauf, besonders ab Folge 10, Dickens aus dem, wie er schrieb, „monthly something“ immer mehr eine fortlaufende Geschichte, ein „tolerably harmonious whole“ formt.96 Tatsächlich finden sich im späteren Handlungsverlauf häufiger Enden von Folgen, die den Leser in gespannter Erwartung zurücklassen. Diese Entwicklung ist auch anhand der Cliffhanger zu beobachten. Zu Beginn des Romans ist keine wirkliche Unterbrechung der Erzählung zu finden: die meisten Kapitel sind in sich geschlossen, die ersten Folgen-Enden weisen lediglich Kontinuitätshinweise auf. Erst die Geschichte um Frau Bardell und der Gerichtsprozess mit anschließender Inhaftierung liefern dem Handlungsverlauf ab Folge 10 ein Gerüst.97 Es ermöglicht

95 Ebd., S. 588. 96 Kinsley: „Introduction“. In: Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. XIII. 97 Vgl. Axton: „Unity and Coherence in The Pickwick Papers“. In: Studies in English Literature 1500–1900, 5 (4), 1965, S. 664.

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einen roten Faden und damit auch Cliffhanger.98 Erstaunlich ist also, dass, obwohl in den Pickwick Papers weitgehend eine „logisch-kausal verknüpfte Handlung fehlt“,99 Dickens es dennoch schafft, viele vorausdeutende Spannungsmomente in Folgen-Enden einzubauen, von denen man erzähltechnisch denken könnte, sie seien ausschließlich einer Fortsetzungsserie vorbehalten. Bereits in den Pickwick Papers vermischen sich die Erzählprinzipien der Episoden- und der Fortsetzungsserie. Dickensʼ Formulierung vom „monthly something“ zum „tolerably harmonious whole“100 macht ersichtlich, dass er zumindest nachträglich, in seinem Vorwort zur Ausgabe von 1867, sich der Kunst der Serie und der Serialität bewusst ist: Jede Folge sollte in sich geschlossen sein und dennoch ein „progress of adventure“101 erkennen lassen. Hickethiers doppelte Formstruktur der Serie, die beiden Erzählprinzipien der Fortsetzungs- und der Episodenserie, sind vorhanden und wechseln sich in der Intensität innerhalb des Makrotextes ab. Dickens schürt mithilfe dreier Erzähltechniken Neugier: Zum einen sind das einführende Vorausdeutungen in den Überschriften, zum zweiten Vorausdeutungen am Ende der Folge und zum dritten Cliffhanger an den spannendsten Stellen. Die Cliffhanger kennzeichnen die Spannungshöhepunkte des Makrotextes. Auch Dickens hatte anfangs Vorbehalte gegenüber serieller Narration. Freunde rieten ihm davon ab, das Angebot für The Pickwick Papers von Chapman und Hall anzunehmen, weil er damit nie ein angesehener Schriftsteller werden könne. „My friends told me it was a low, cheap form of publication, by which I should ruin all my rising hopes; and how right my friends turned out to be, everybody now knows.“102 Er selbst sah sowohl die zahlreichen Bebilderungen als auch die Folgenaufteilung als Hindernis für die Produktion ‚ernsthafter Literatur‘. Der schlechte Ruf

98

Abgesehen von dem roten Faden ab der Mitte des Werks argumentiert William Axton überzeugend, dass die Binnenerzählungen zahlreiche verbindende Elemente haben, da es immer um die zwei unterschiedlichen subjektiven Perspektiven von Pickwick und Weller geht. Wenn also auch die ersten Kapitel und Folgen in sich geschlossen sind, ergänzen sie einander häufig: „The interpolated tales explore the fundamental issues raised in both parts of the main narrative, the necessary subjectivity of all experience, and the injustice that arises out of limited vision. […] If there is any larger action governing the novel, it is to be found in the gradually converging points of view of Sam Weller and Samuel Pickwick“. Ebd., S. 676.

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Kluge: „Die nachgelassenen Aufzeichnungen des Pickwick-Klubs“. In: Jens (Hg.): Kindlers neues Literatur-Lexikon, 2001, S.257.

100 Siehe: Kinsley: „Introduction“. In: Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. XIII. 101 Dickens über The Pickwick Papers, siehe Fußnote 75: ebd., S. XXXIV. 102 Dickens in der Forster Collection (1847). Zitiert nach: Butt u. a.: Dickens at Work, 2009, S. 63. Bei den Freunden handelt es sich vermutlich um Harrison Ainsworth und Edward

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der seriellen Narration ist bereits damals etabliert ‒ auch wenn Dickens ihr kurzzeitig zu einem etwas höheren Ansehen verhilft.103 „Pickwick in fact transformed the reputation of serialized fiction, made it a vehicle for carefully crafted novels, and enlarged its audience. Many of a reader unable to afford a guinea and a half for a three-volume novel could find a shilling for a monthly part. Readers still poorer – plus people unable to read – clubbed together, bought parts, and circulated them, or listened to them being read aloud.“104

Dickensʼ hintergründige und wortreiche Prosa in Verbindung mit lustig-ironischen und spannenden Elementen wie gelegentlichen Cliffhanger sowie zahlreichen Vorausdeutungen fasziniert unterschiedliche Leserschichten. Dieser immense Erfolg lässt Dickens die finanziellen und gestalterischen Möglichkeiten des seriellen Veröffentlichens erkennen.105 Die Macht, die er mit dem Erfolg hat, die diese Veröffentlichungsform als bezahlbare und populäre Literatur besitzt, drückt er aus, als er im Vorwort der Ausgabe von 1867 feststellt: „I have found it curious and interesting, looking over the sheets of this reprint, to mark what social improvements have taken place about us, almost imperceptibly, ever since they were originally written. [...] [T]he laws relating to imprisonment for debt are altered; and the Fleet Prison is pulled down!“106

Es scheint als hätten die Pickwick Papers mit dazu beigetragen, dass die im Roman angeprangerten Verhältnisse tatsächlich verändert wurden. Bulwer-Lytton. Vgl. Parker: „The Pickwick Papers“. In: Paroissien (Hg.): A Companion to Charles Dickens, 2011, S. 297. 103 Siehe auch: Hughes u. a.: The Victorian Serial, 1991, S. 13. 104 Parker: „The Pickwick Papers“. In: Paroissien (Hg.): A Companion to Charles Dickens, 2011, S. 300. 105 „He [d.i. Dickens] released all fifteen of his novels in serialized form – six in weekly or monthly magazine serials and nine in monthly numbers.“ Steinlight: „Anti-Bleak House“. In: Narrative, 14 (2), 2006, S. 133. 106 Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. 722f. Siehe zu den sozialen Fragen, die im Roman aufkommen: „The book, in spite of or thanks to […] its comic rhetoric, touches serious questions about the territorial and social turning points that confront England at the verge of the Industrial Revolution. In a way, the official act of constitution of the Pickwick Club is a clear statement about the function assigned to these characters, and in general more about the ‚intention‘ of the text: that is, to verify the new boundaries of England and to inspect the condition of the English people.“ Bonadei: „Dickens and The Pickwick Papers“. In: Nünning u. a. (Hg.): Turning points, op. 2012, S. 366.

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2.2 Oliver Twist und der Binnencliff Mit Oliver Twist (Februar 1837 – April 1839) hatte Charles Dickens einen zweiten, direkt an den von The Pickwick Papers anschließenden Erfolg.107 Oliver Twist, ausgehungerte Waise unbekannter Eltern, wächst zunächst im Armenhaus einer Kleinstadt auf. Von Anfang an ist die zukunftsungewisse Vorausdeutung häufig vorzufinden – vor allem Olivers Peiniger sagen ihm immer wieder, er werde eines Tages sicherlich am Galgen enden, sein Lebensweg sei also vor allem aufgrund seiner Armut und seines Daseins als Waise bereits entschieden.108 So endet bereits die erste Folge mit einem Kontinuitätshinweis und einer Vorausdeutung – noch immer wird nicht durch „to be continued“ auf eine Fortsetzung hingewiesen, deshalb übernimmt die Diegese diese Aufgabe: „‚I never was more convinced of anything in my life, than I am, that that boy [d.i. Oliver] will come to be hung.‘ As I purpose to show in the sequel whether the white-waistcoated gentleman was right or not, I should perhaps mar the interest of this narrative (supposing it to possess any at all), if I ventured to hint, just yet, whether the life of Oliver Twist will be a long or a short piece of biography.“109 [Ende von Folge 1]

Wie auch bei The Pickwick Papers ist Dickens besonders in den ersten Folgen darum bemüht, dem Leser deutlich anzuzeigen, dass die Erzählung fortgesetzt wird, es sich mit diesem Ende also nicht um ein offenes handelt, sondern um eine Erzählunterbrechung. Ausgebeutet und misshandelt, flieht Oliver nach London und schließt sich der Kinderbande von Taschendieben um den erwachsenen jüdischen Hehler Fagin110 an. 107 Oliver Twist erschien zunächst nicht als shilling number (1846), sondern in der monatlich publizierten Zeitschrift Bentleyʼs Miscellany in 24 Teilen. Auf diese Erstveröffentlichung und ihre Einteilung wird hier Bezug genommen, die in der kommentierten Ausgabe der Oxford World’s Classic nachzuvollziehen ist. Vgl. Gill: „Note on the Text“. In: Dickens: Oliver Twist, 2008, S. XXVI–XXIX. 108 Bspw. Dickens: Oliver Twist, 2008, S. 35. 109 Ebd., S. 15. In der Oxford World’s Classic-Ausgabe ist der letzte Satz leicht verändert zu der Version des Satzes der späteren ganzheitlichen Veröffentlichungen: „[W]ether the life of Oliver Twist had this violent termination or no.“ (Vgl.: S. 478 und die OriginalVeröffentlichung, ersichtlich im Scan der Harvard University: http://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=hvd.32044092636471;view=1up;seq=7 [vom 10.12.2013].) 110 Die Darstellung des Fagin wird mit unzähligen antisemitischen Stereotypen versehen. In der Forschungsliteratur wurde dieser Fakt bereits ausgiebig thematisiert und diskutiert. (Siehe bspw.: Meyer: „Antisemitism and Social Critique in Dickensʼs Oliver Twist“. In: Victorian Literature and Culture, 33 (1), 2005, S. 239–252; Weltman: „‚Can a Fellow Be

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Bei einem Einbruch in eine Villa auf dem Lande wird Oliver angeschossen; zunächst scheint es, als würde er an der Schusswunde sterben. „Scared by the sudden breaking of the dead stillness of the place, and by a loud cry which followed it, Oliver let his lantern fall, and knew not whether to advance or fly. The cry was repeated – a light appeared – a vision of two terrified half-dressed men at the top of the stairs swam before his eyes – a flash – a loud voice – a smoke – a crash somewhere, but where he knew not, – and he staggered back. Sikes […] dragged the boy up. „Clasp your arm tighter,“ said Sikes, as he drew him through the window. „Give me a shawl here. Theyʼve hit him. Quick! Damnation, how the boy bleeds!“ Then, came the loud ringing of a bell: mingled with the noise of fire-arms, and the shouts of men, and the sensation of being carried over uneven ground at a rapid pace. And then, the noises grew confused in the distance; and a cold deadly feeling crept over the boyʼs heart; and he saw or heard no more.“111 [Ende von Folge 10]

Abbildung 1: Bildliche Hervorhebung

George Cruikshank: The Burglary. In: Dickens: Oliver Twist, Folge 10, Januar 1838.

a Villain All His Life?‘“. In: Nineteenth-Century Contexts, 33 (4), 2011, S. 371–388). Auch die Darstellung in den zahlreichen Film-Adaptionen ist behandelt worden. (Siehe bspw.: Juliet: „Fagin, the Holocaust and Mass Culture“. In: Dickens Quaterly, 22 (4), 2005, S. 205–223; Paganoni: „From Book to Film: The Semiotics of Jewishness in Oliver Twist“. In: Glavin (Hg.): A Library of Essays on Charles Dickens, 2012, S. 257–270). 111 Dickens: Oliver Twist, 2008, S. 174.

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Das Ende von Folge 10 lässt den Leser mit dem Glauben zurück, dass Oliver Twist, der Held des Romans, gestorben sei; besonders der letzte Satz, der exklamatorische Kommunikationsakt, in dem von einem „cold deadly feeling“ die Rede ist und der mit „no more“ endet, suggeriert, dass Oliver tot ist oder zumindest dabei ist zu sterben. Die Wirkung dieses Folge-Endes auf den Rezipienten der seriellen Veröffentlichung, der nicht umblättern kann, um zu erfahren, wie es weitergeht, muss schockierend gewesen sein: Ist wirklich der Protagonist, ein Kind, das nur Unrecht und Leid erfahren hat, tot – wurde es erschossen? Dickens retardiert den Moment der Auflösung und lässt den Leser zwei komplette Folgen (fünf Kapitel) im Ungewissen darüber, ob Oliver tot ist (verzögerte Interruptionsspanne). Die mittlere Spannbreite des Cliffhangers wird sogar noch verstärkt: Am Ende des nächsten Kapitels offenbart auf ihrem Sterbebett Olivers Amme der Witwe Corney, Leiterin von Olivers erster Arbeitsanstalt, dass Olivers sterbende Mutter viel Geld besaß, das sie an sich nahm. Kurz bevor sie den Aufbewahrungsort des Geldes offenbaren will, stirbt auch sie. „‚The boy’s name?‘ demanded the matron. ‚They called him Oliver,‘ replied the woman, feebly. ‚The gold I stole was – ‘ ‚Yes, yes, – what?‘ cried the other. She was bending eagerly over the woman to hear her reply; but drew back, instinctively, as she once again rose, slowly and stiffly, into sitting posture; then, clutching the coverlet with both hands, muttered some indistinct sounds in her throat, and fell lifeless on the bed. ‚Stone dead!‘ said one of the old women, hurrying in, as soon as the door was opened. ‚And nothing to tell, after all,‘ rejoined the matron, walking carelessly away. The two crones, to all appearance, too busily occupied in the preparations for their dreadful duties to make any reply, were left alone: hovering about the body.“112

Dieser spannende Unterbrechungsmoment befindet sich nicht am Ende einer Folge, sondern nur am Ende eines Kapitels. Aufgrund der seriellen Veröffentlichung kann der Rezipient dennoch nicht selbst den Unterbrechungsmoment aufheben – er wird erst in der nächsten Folge fortgesetzt. Auch bei dieser Form der Erzähltechnik Cliffhanger findet eine Unterbrechung an einer spannenden Stelle statt und der Rezipient muss bis zur Veröffentlichung der nächsten Folge warten. Das heißt, dass die Wirkungsmechanismen dieses Endes dem des Cliffhangers gleichen, nur die Position differiert. Der Begriff ‚Binnencliff‘ beschreibt diese andere Platzierung am besten. Der Binnencliff besteht in diesem Fall aus den Enthüllungen, Oliver sei wohlhabend und das Geld liege an einem unbekannten Ort.113 Die Unterbrechung findet hier innerhalb

112 Ebd., S. 190. 113 Ich definiere den Binnencliff als eine Form des Cliffhangers, die sich aber nicht am Ende einer Folge befindet, sondern ‚binnen‘ eines Mikrotextes. Er kann bei der seriellen Veröffentlichung eines Werks nicht selbst vom Rezipienten fortgesetzt werden. Das heißt die

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des Redeflusses (Aposiopese) der Hebamme statt; ihr Tod unterbricht die Offenlegung des Geheimnisses, wo Olivers Erbe zu finden ist. Auch wenn die enthüllenden Inhalte überwiegen, enthält der Binnencliff auch einen interrogativen Kommunikationsakt – denn abgesehen von den Enthüllungen, bleibt die Frage, wo das Gold ist, unbeantwortet. Dieser Binnencliff unterstützt den vorherigen Cliffhanger: Sollte Oliver nicht mehr am Leben sein, lässt der Binnencliff seinen Tod noch tragischer erscheinen, weil der Junge eigentlich mit den Voraussetzungen für ein sorgenfreies und wohlhabendes Leben geboren wurde – sein ganzes Leben hätte ganz anders, viel leichter verlaufen können. Ist Oliver jedoch nicht tot, könnte er aus dem Elend und der Armut entfliehen, wenn er das versteckte Gold fände und damit zu dem Vermögen käme, das ihm zusteht. Die zweite Wirkungs-Potenzierung des Cliffhangers geschieht durch die immer wieder in der Diegese von Figuren gestellte Frage, ob Oliver denn nun tot sei oder nicht. Da Dickens die Aufhebung und Auflösung über fünf Kapitel und zwei Folgen hinauszögert, ist eine gelegentliche Vergegenwärtigung des möglichen Todes Olivers sinnvoll, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Besonders das Ende der nächsten Folge ruft aus dem Bericht von Toby Crackit ‒ einem von Fagins Partnern ‒ noch einmal den Unfall Olivers in Erinnerung und erneuert damit die Frage nach Olivers Überleben: „‚Bill had him [d.i. Oliver] on his back, and scudded like the wind. We stopped to take him between us; his head hung down; and he was cold. They were close upon our heels; every man for himself, and each from the gallows! We parted company, and left the youngster lying in the ditch. Alive or dead, that’s all I know about him.‘ The Jew stopped to hear no more; but uttering a loud yell, and twinning his hands in his hair, rushed from the room, and from the house.“114 [Ende von Folge 11]

Durch eine multiperspektivische Darstellung verstärkt Dickens den Cliffhanger-Effekt des Unfalls: Bekam der Leser die Schüsse aus einer sehr nahen Perspektive und damit als Teil des Geschehens schockierend direkt mit, so wird das unmittelbar auf den Unfall Folgende nun aus einer anderen Perspektive, der von Toby Crackit, rückblickend berichtet; die Frage nach Olivers Überleben wird ergänzt durch die nach dem Verbleib von Olivers lebendigem oder totem Körper. Vor allem Tobys Aussage „Alive or dead, that’s all I know about him“ wird dabei stellvertretend für den Rezipienten vom intradiegetischen Zuhörer Fagin als Schock wahrgenommen. Dieser Cliffhanger wird direkt am Interruptionspunkt fortgesetzt: Fagins Bewegung wird Aufhebung kann erst innerhalb eines der nächsten Mikrotexte erfolgen. Der Binnencliff hat abgesehen von seiner Position alle Merkmale eines Cliffhangers. 114 Ebd., S. 195–196.

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plötzlich unterbrochen und in der nächsten Folge wieder aufgenommen. Wohin geht Fagin? Was hat er vor? Der Cliffhanger von Olivers Unfall und die Spannungs-Verstärkung durch die Aussage Tobys, er habe Oliver im Graben liegen lassen – beides wird in den letzten Sätzen der nächsten Folge aufgegriffen. Anscheinend ist Dickens bewusst, dass er seine Leser lange auf die Folter gespannt, den Aufhebungsmoment genug herausgezögert hat; ein Anzeichen dafür ist, dass ‒ wie bei den Kontinuitätshinweisen ‒ der Erzähler selbst zum Rezipienten spricht und ihm eine Auflösung in der nächsten Folge verspricht: „And now that we have accompanied him so far on his road home […] let us set on foot a new inquiries after young Oliver Twist; and ascertain whether he be still lying in the ditch where Toby Crackit left him.“115 [Ende von Folge 12] Die Vorausdeutung, dass nun offenbart wird, ob Oliver überlebt hat, greift gleichzeitig den Cliffhanger von Folge 10 auf und beendet damit die Retardierung und verzögerte Interruptionsspanne über zwei Folgen. Die auch in Oliver Twist vorhandenen einführenden Vorausdeutungen innerhalb der Überschrift lösen bereits den Cliffhanger auf: „Chapter XXVIII looks after Oliver, and proceeds with his adventures“.116 In seinem viel zitieren Vorwort zu dritten Buchausgabe von 1841 rechtfertigt sich Dickens vor allem gegenüber seinem Rivalen Thackeray, verteidigt den Realismus und angeblichen Wahrheitsgehalt des Romans und die von Thackeray als beschönigend und glorifizierend bezeichnete Darstellung von Dieben, Bettlern und Prostituierten.117 Dickens macht darüber hinaus deutlich, welche Intention er mit der Darstellung von Oliver hatte: „I wished to shew, in little Oliver, the principle of Good surviving through every adverse circumstance, and triumphing at last“.118 Bis zu jenem Zeitpunkt wird im Roman gezeigt, wie Oliver zahlreiche Qualen erleiden muss. Dieses Anliegen, das Überleben des Guten trotz aller Widrigkeiten darzustellen, gipfelt im Cliffhanger, bei dem Oliver angeschossen wird. Der Cliffhanger stellt damit für die Struktur des Romans einen entscheidenden Moment dar, einen ‚Twist‘,119 zu dem sich Olivers Unglück bis zu diesem Moment gesteigert hat.120 Mit diesem Unfall 115 Ebd., S. 215. 116 Ebd., S. 216. 117 Siehe dazu: Gill: „The Preface to Oliver Twist and the Newgate Novel Controversy“. In: Dickens: Oliver Twist, 2008, S. 446–450. 118 Dickens: „The Authorʼs Preface to the Third Edition“. In: Oliver Twist, 2008, S. LIII. 119 Vgl. Meckier: „Twists in Oliver Twist“. In: Dickens Quaterly, 29 (2), 2012, S. 116. „To an extent, the novel splits apart at it midpoint, the end of chapter 22, when the wounded Oliver faints after the robbery, to be reborn into a new life.“ Cheadle: „Oliver Twist“. In: Paroissien (Hg.): A Companion to Charles Dickens, 2011, S. 312. 120 „Throughout the early chapters the urgent question is whether Oliver can survive, physically and spiritually, when he is repeatedly starved, beaten, and isolated“. Lankford:

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wendet sich sein Schicksal, indem sich Mrs. Maylie, Rose und ihr Freund Dr. Losberne um den angeschossenen Oliver kümmern und er unter anderem durch diese Nähe zu seiner leiblichen Tante Rose auch seiner Familienherkunft näher kommt.121 Der Cliffhanger betont damit einen der entscheidenden Wendepunkte im Roman. 2.3 Bleak House: Der vorausdeutende Cliffhanger mit langer Spannbreite Bleak House (März 1852 – September 1853 als shilling number) gehört zu einer anderen Schaffensphase von Dickens als The Pickwick Papers und Oliver Twist, in denen Dickens noch die Möglichkeiten der neuen Veröffentlichungsform erkunden musste. Das zeigt sich auch anhand der zahlreich auftretenden seriellen Erzähltechniken. Cliffhanger und besonders vorausdeutende Cliffhanger mit einer langen Spannbreite benötigen eine gewisse Vorausschau in der Produktionsplanung. Dickens Planung lässt sich ansatzweise mithilfe seiner Arbeitsnotizen nachvollziehen.122 Die Notizen fallen erstaunlich spärlich aus – umso auffälliger ist jedoch, dass zumindest bei Bleak House (aber auch bei einigen anderen seiner Werke, zu denen die Notizen erhalten sind) vor allem die Folgen-Enden (und einige Kapitel-Enden) von Dickens im Voraus notiert sind. Dickens legt also besonderen Wert darauf, wie die Enden von Folgen gestaltet sind. Da die Notizen aus nur sehr wenigen, kurzen Eintragungen bestehen, von denen wiederum nur einige vollständige Sätze sind, stechen die längeren Formulierungen zu den Folgen-Enden umso mehr hervor; häufig ist es der komplette letzte Satz der Folge. Dickens scheint sich außerdem in seiner Begrifflichkeit über die rezeptionsästhetische Bedeutung der Enden im Klaren zu

„‚The Parsih Boyʼs Progress‘“. In: Modern Language Association, 98 (1), 1978, S. 21. (Siehe zur Gewalt in Oliver Twist auch: Cheadle: „Oliver Twist“. In: Paroissien (Hg.): A Companion to Charles Dickens, 2011, S. 312.) 121 Die Kapitel, die von Olivers Genesung auf dem Lande handeln, sind ähnlich positiv, wie die die ländlichen Kapitel in The Pickwick Papers. In beiden Büchern teilt der Cliffhanger die dunklen Stadt- von den heiteren und positiven Land-Kapiteln. (Siehe zu den LandKapiteln in Oliver Twist auch: Lankford: „‚The Parsih Boyʼs Progress‘“. In: Modern Language Association, 98 (1), 1978, S. 24). In Oliver Twist wechselt die Handlung später wieder in die Stadt, aber sie kehrt zum Happy-End in das positiv gezeichnete Leben auf dem Lande zurück. Vgl. ebd., S. 31. (Siehe auch: Cheadle: „Oliver Twist“. In: Paroissien (Hg.): A Companion to Charles Dickens, 2011, S. 311.) 122 Stone (Hg.): Dickensʼ Working Notes for his Novels, 1987. Harry Stone liefert eine ausgezeichnete Forschungsgrundlage, da er alle Arbeitsnotizen von Dickens sowohl als Foto als auch transkribiert in seinem Buch vereint.

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sein. Häufig notiert er, was das „picture“, teilweise auch „closing picture“ – so bezeichnet er selbst diese Elemente – der Folge sein soll. Zum Ende von Folge 6 (Kapitel 19) lesen sich die Notizen folgendermaßen: „Closing picture on the bridge – so high – so far off – “123

In Bleak House lauten die letzten Sätze der Folge 6 so: „Jo moves on, through the long vacation, down to Blackfriars Bridge, where he finds a baking stony corner, wherein to settle to his repast. And there he sits, munching and gnawing, and looking up at the great Cross on the summit of St Paulʼs Cathedral, glittering above a red and violet-tinted cloud of smoke. From the boyʼs face one might suppose that sacred emblem to be, in his eyes, the crowning confusion of the great, confused city; so golden, so high up, so far out of his reach. There he sits, the sun going down, the river running fast, the crowd flowing by him in two streams – everything moving on to some purpose and to one end – until he is stirred up, and told to ‚move on‘ too.“124 [Ende von Folge 6]

Dickens hatte also bereits die Kernelemente des „closing picture“ in seinen Arbeitsnotizen beschrieben: Jo auf der Brücke, im Hintergrund das große Kreuz der Kathedrale, dahinter die Großstadt groß weit entfernt. Dieses ‚schließende Bild‘ ist voller Atmosphäre und Vorausdeutung und wirkt zunächst nicht wie ein Cliffhanger; tatsächlich stellt es aber einen wichtigen Wendepunkt im Roman dar, einen wesentlichen Impetus für die Erzählung und deren Abschluss. Der im Zitat beschriebene Fluss könnte als metaphorischer ‚Strom der Erzählung‘ gedeutet werden, der sich ebenfalls auf ein Ende zubewegt. Unmittelbar zuvor in der Erzählung hat Jo ahnungslos Mr. Snagby wissen lassen, er habe Lady Dedlock zum Grab ihres einstigen Liebhabers geführt. Lady Dedlock ist mit Sir Leicester verheiratet – niemand weiß von ihrer vorehelichen Affäre, aus der Esther Summerson als Tochter hervorging. Dass nun Mr. Snagby die Information über Lady Dedlocks Besuch am Grab ihres ehemaligen Liebhabers von Jo erhalten hat, wird zahlreiche Konsequenzen nach sich ziehen: Der Anwalt Tulkinghorn wird durch Mr. Snagby davon erfahren; als er versucht, dieses Wissen als Druckmittel einzusetzen, wird er ermordet. Daraufhin flüchtet Lady Dedlock. Ihre Leiche findet man am Grab ihres Liebhabers. All diese Entwicklungen bahnen sich bereits am zitierten Folgen-Ende an, lassen Fragen entstehen – zumindest ist abzusehen, dass Jos unwissentlicher Verrat Konsequenzen haben wird. Aber auch Jos Zukunft wird vo-

123 Ebd., S. 217. 124 Dickens: Bleak House, 2008, S. 290f.

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rausgedeutet: „Move on.“ Wohin bewegt sich Jo? Die Bedeutungsschwere der inhaltlichen Wende klingt durch die verratene Information am Ende der Folge an. Einige der Vorausdeutungen werden bereits in der nächsten Folge ‒ aber erst in deren letztem Kapitel 22 ‒ aufgelöst, als Tulkinghorn von Snagby über Jos Botendienste in Kenntnis gesetzt wird. Alle versuchen daraufhin, Jo als Zeugen aufzufinden. Er ist tatsächlich weitergezogen.125 Andere Vorausdeutungselemente sind noch darüber hinaus von Bedeutung und unaufgelöst. Die Spannbreite ist also sehr lang, die Tragweite des vorausdeutenden Cliffhanger ist für den weiteren Handlungsverlauf sehr groß. Erweitert wird die vielschichtige Bedeutung dieses „closing picture“ zusätzlich durch die Kapitelüberschrift „Moving on“.126 Dickens lässt in Bleak House die langen Kapitelvorausdeutungen fallen und ersetzt sie durch kürzere Kapitelüberschriften. Mit „Moving on“ ist eine Vorausdeutung auf die strukturelle Beschaffenheit des Kapitels gegeben, denn es bewegt die story tatsächlich nach vorn, in eine unerwartete neue ‚dramatische‘ Richtung. Die Konnotation wird im „Abschlussbild“ auf verschiedene Weise aufgegriffen. Besonders mit dem Satz „everything moving on to some purpose and to one end“127 ist die Bedeutsamkeit der Kapitelgeschehnisse gekennzeichnet. Kapitelüberschrift und vorausdeutender Cliffhanger bilden einen Rahmen; die Kapitelüberschrift betont die Bedeutung und phasenbildende Kraft der letzten Sätze.128 Für eine Einordnung als gefahrensituativer oder enthüllender Cliffhanger ist das Ende der Folge zu verhalten: Es handelt sich nicht um einen schockierenden Moment wie den Schuss auf Oliver Twist, keine Frage oder Enthüllung wird klar formuliert, 125 Für eine Analyse der Rolle der Mobilität (mit einem besonderen Fokus auf die Figur des Jo) in Bleak House siehe: „This example of the mobile poor disrupting the journey of one travelling for leisure once again highlights the social differentiations of mobility. The condition of necessary mobility is sympathetically depicted through the street boy Jo who has ‚always been a moving and a moving on, ever since [he] was born‘ (p. 308). Glimpses of other mobile urban children are seen, such as Charley who runs off to ‚melt into the city’s strife and sound, like a dewdrop in an ocean‘ (p. 254), an instance which encapsulates her insignificance in the vast city.“ Mathieson: „‚A Moving and a Moving On‘“. In: English, 2012 (61), S. 398. 126 Die Kapitelüberschrift steht auch als Sinnbild für Jos Existenz als zum Weiterziehen gezwungener Straßenkehrer. Vgl. ebd. 127 Dickens: Bleak House, 2008, S. 290f. 128 „When the serial construction of Bleak House is considered, one notices a pattern in how urban space is described. Often, each serial opening and closing features one of two perspectives on urban space: cartographic and what I am calling extra-cartographic – beyond or outside of the map.“ Griffith: „Such a Labyrinth of Streets“. In: English, 234 (61), 2012, S. 249.

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der Held befindet sich nicht in Gefahr, die Unterbrechung steht nicht im Vordergrund. Trotzdem birgt das eben Vorgefallene einen deutlichen Wendepunkt in sich – und vom Mittel- und Endteil des Makrotextes aus gesehen, bewahrheitet sich dies. Bereits am Ende der Folge wird angedeutet, dass die Geschichte auf einen Abschluss zusteuert wie der Fluss des „closing picture“. Dieses Ende und die generelle Richtung, in welche die Geschichte sich bewegt, werden aber hier noch nicht explizit genannt – die Spannung entspringt aus den Andeutungen in Kombination mit der Kapitelüberschrift und der Unterbrechung. Noch versteht der Leser nicht, welches Ende, welcher im Zitat genannte „purpose“ vorhanden ist, aber es wird schon darauf hingedeutet, das es einen „purpose“ gibt. Einige von Dickens’ „closing pictures“ lassen den Rezipienten in gespannter Erwartung zurück und der Ahnung, dass für den Protagonisten ungünstige inhaltliche Entwicklungen begonnen haben. Das „closing“ bezieht sich somit nicht darauf, die Erwartungshaltung des Rezipienten „abzuschließen“, sondern das Kapitel mit einem Bild zu beenden, das sich der Erinnerung des Rezipienten einprägt. Man kann die Bestandteile dieses Cliffhangers als ein Anklingen entscheidender Themen des Romans deuten. Zum einen lässt sich die Lenkung der Aufmerksamkeit auf das große Kreuz hoch oben auf der Kathedrale interpretieren als Hinweis, dass die bedeutungsschweren Geschehnisse des letzten Kapitels Teil von Gottes Plan sind: Ein „purpose“ steht hinter diesen Entwicklungen, den der einfache Straßenkehrer als Stellvertreter des Menschen an sich nicht erkennen kann. Dies ließe sich auf den Leser übertragen: Auch er versteht noch nicht, was der Erzähler, der Schöpfer der Geschichte mit diesen Andeutungen und Verwicklungen bezweckt ‒ die deiktische Leserführung mit zusätzlicher Hervorhebung durch die Unterbrechung lassen ihn nur erahnen, dass in der Zukunft sich alles zusammenfügt. Gleichzeitig kann der ebenso hervorgehobene Fluss und der „Menschenstrom“ als eine Lenkung des Lebens durch das Schicksal gedeutet werden: Inwiefern vermag der Mensch sein Leben und die zahlreichen Konsequenzen seiner Taten selbst zu kontrollieren? Oder bestimmt letztendlich der Fluss als Metapher für den ‚(Fluss-)Lauf der Dinge‘ das Leben? Zum anderen verbildlichen die Bestandteile des Cliffhangers eine Verbindung ‒ wie auch in der Symbolik des Flusses und des Menschenstromes ‒ zwischen Menschen und Orten. Diese Verbindung ist eins der großen Themen von Bleak House. Die bereits genannten Komplikationen, zu denen der vorausdeutende Cliffhanger führt, zeigt, dass alle Figuren dieses Romans, seien sie noch so unterschiedlicher Schicht, Bildung und verschiedenen Alters, miteinander verbunden sind und alle Ereignisse miteinander verknüpft. Kurz vor dem Ende der davor gelegenen Folge fünf stellt der Erzähler explizit die Fragen: „What connexion can there be, between the place in Lincolnshire, the house in town, the Mercury in powder, and the whereabout of Jo the outlaw with the broom [...]? What connexion can

216 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION there have been between many people in the innumerable histories of this world, who, from opposite sides of great gulfs, have, nevertheless, been very curiously brought together.“129

Der vorausdeutende Cliffhanger macht bewusst, dass alle Elemente in Dickens’ Diegese wie durch einen Fluss verbunden sind: „Such ‚connexions‘ pervade Bleak House, repeatedly raising Dickens’s implicit question: what is my relationship to my fellow human beings?“130 Enthüllende Cliffhanger sind ebenso in Bleak House zu finden; der deutlichste ist die plötzliche Erblindung der Hauptheldin Esther Summerson. Kapitel 31 endet wie folgt: „‚And now come and sit beside me for a little while, and touch me with your hand. For I cannot see you, Charley; I am blind.‘“131 In den Arbeitsnotizen findet sich dieser Moment fast wortwörtlich wieder: „‚For I cannot see you Charley – I am blind‘.“132 Allerdings handelt es sich hierbei ‚nur‘ um einen Binnencliff, da der Unterbrechungsmoment nicht am Ende der Folge steht. Es schließt sich noch Kapitel 32 an, bevor die Folge 10 endet. Hierbei verstärkt das folgende Kapitel den Cliffhangereffekt weiter, da es die Aufhebung und Auflösung hinauszögert. Erst in der anschließenden Folge 11 (Kapitel 35) finden sie statt, als Esther wieder in der ersten Person berichtet. Dabei erzählt sie nach der verzögerten Interruptionsspanne von ihrer Erblindung und äußert schon bald: „I was in this state when I first shrunk from the light as it twinkled on me once more, and knew with a boundless joy for which no words are rapturous enough, that I should see again.“133 Ein wesentlicher Unterschied zu den anderen analysierten Werken von Dickens ist, dass in Bleak House zwei sehr unterschiedliche Erzählperspektiven verwendet werden.134 Zum einen der auktoriale Erzähler, der vorausdeutende Cliffhanger setzen kann, weil er das Erzählgeschehen überblickt. Das Ende von Folge 9 lautet beispielsweise: „A ghostly shade, frilled and night-capped, follows the law-stationer to the room he came from and glides higher up. And henceforth he begins, go where he will, to be attended by another shadow than his own, hardly less constant than his own, hardly less quiet than his own. And

129 Dickens: Bleak House, 2008, S. 235. 130 Tracy: „Bleak House“. In: Paroissien (Hg.): A Companion to Charles Dickens, 2011, S. 380–389. 131 Dickens: Bleak House, 2008, S. 464f. 132 Stone (Hg.): Dickensʼ Working Notes for his Novels, 1987, S. 225 (zu Kapitel XXXI). 133 Dickens: Bleak House, 2008, S. 514. 134 Siehe zu einer Analyse der Erzählperspektiven in Bleak House: Baltakmens: „Narrative Authority in Bleak House“. In: Sydney Studies in English, 2001 (27), S. 1–22.

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into whatsoever atmosphere of secrecy his own shadow may pass, let all concerned in the secrecy beware! For the watchful Mrs. Snagsby is there too ‒ bone of his bone, flesh of his flesh, shadow of his shadow.“135 [Ende von Folge 9]

Mrs. Snagsby spioniert hinter ihrem Mann her. Was das für Konsequenzen mit sich bringen wird, werden erst die nächsten Folgen zeigen, aber zumindest werden bereits Mrs. Snagbys Hysterie und Paranoia eingeführt und die Wortwahl mit „ghostly shade“, „bone“, „flesh“ und „shadow“ erinnert an die Schauergeschichten der gothic novel und lässt den Leser in Spannung zurück.136 Ebenfalls könnte hier von einem vorausdeutenden Cliffhanger gesprochen werden, denn das Hauptmerkmal dieses Cliffhangers besteht in der Andeutung der Möglichkeit, Mrs. Snagby könne wahnsinnig oder das Verhältnis des Ehepaars von Argwohn zerstört werden. Der Erzähler kann als einziger das geisterhafte Spionieren der zwei Figuren zeitgleich beobachten und dabei bereits vage Hinweise auf ihre Zukunft geben. Während der Erzähler hier primär ortsungebunden ist, zeigt er beim ersten hier analysierten vorausdeutenden Cliffhanger von Folge 6 vor allem eine zeitungebundene Voraussicht: Er kann bereits auf die zahlreichen Entwicklungen des Romans hindeuten, obwohl er im Präsens berichtet. Als auktorialer Erzähler überblickt er das Erzählgeschehen so weit, dass er vorausdeutende Cliffhangern setzen kann, die eine sehr lange Spannbreite haben. Diese Erzählperspektive steht im starken Kontrast zu dem Binnencliff, der den Abschnitt der Ich-Erzählerin Esther Summerson vorläufig beendet. Ihre Erzählung ist in der Vergangenheits-Form geschrieben, die darin enthaltenen Dialoge sind jedoch in direkter Rede wiedergegeben. Bei dem enthüllenden Binnencliff ihrer Erblindung ist diese Kombination besonders wirksam: Zwar kann sie als Ich-Erzählerin nur etwas Vergangenes berichten;137 indem Esther die Dialoge aber in direkter Rede, also im Präsens wiedergibt, trifft der enthüllende Binnencliff den Rezipienten nah und unmittelbar ‒ nah durch die Ich-Erzähler-Form, unmittelbar durch die im Präsens geschriebene direkte Rede: „I am blind.“138 Um eine andere Begrifflichkeit zu benutzen, die diesen Unterschied ebenso verdeutlicht: Der vorausdeutende Cliffhanger ist von einer „narratorialen Perspektive“ beschrieben ‒ einem Erzähler, der selbst nicht Figur der Handlung ist ‒, während die Erblindung Esthers von ihr selbst, also aus einer

135 Dickens: Bleak House, 2008, S. 348. 136 In den Arbeitsnotizen ist dieses Ende ebenfalls klar beschrieben: „Let all concerned in any secrecy, Beware!“ Stone (Hg.): Dickensʼ Working Notes for his Novels, 1987, S. 221. 137 Es sei denn es handelt sich um einen Ich-Erzähler, der keine menschliche Form hat, sondern als Geist berichtet. 138 Vgl. Tracy: „Bleak House“. In: Paroissien (Hg.): A Companion to Charles Dickens, 2011, S. 383.

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„figuralen Perspektive“ dargestellt ist. Dadurch wirkt er unmittelbar, nah ‒ und schockiert.139 Die Cliffhanger sind hier also auch Ausdruck der erzählperspektivischen Nähe zur Handlung.140 Dickens’ Arbeitsnotizen erhellen, welch starke Gewichtung der Autor bei der Konzeption auf das Ende der Folge legte. Die von ihm notierten „closing pictures“ bestehen fast immer aus Sätzen, die Teil der Vorausdeutung und Spannungsevozierung sind. In den Arbeitsnotizen treten immer wieder drei Hauptmerkmale hervor: Retardierung, Vorausdeutung und Spannung. Erstaunlich ist dabei, wie ähnlich Dickens die Erzähltechniken umschreibt. „Shadowing forth of Lady Dedlock at the churchyard. Point hand of Allegory – Consecrated ground ‚Is it Blessed?‘“141 „Shadowing forth“ umschreibt den vorausdeutenden Cliffhanger, während mit „Is it Blessed?“ sogar der interrogative Kommunikationsakt formuliert scheint. Die beschriebene Vorausdeutung wird erst in der vorletzten Folge (Kapitel 18) aufgelöst. Ein enthüllender Cliffhanger ist gleichzeitig der ‚Auflöser‘ der Vorausdeutung: „I passed on to the gate, and stooped down. I lifted the heavy head, put the long dark hair aside, and turned the face. And it was my mother, cold and dead.“142 Auch die Retardierung und vor allem der Begriff der Spannbreite werden immer wieder ähnlich benannt, schreibt Dickens doch zu Kapitel 39 „Carry on. Carry on to next. [Herv.i.O.].“143 139 Diese Einteilung in „figurale“ oder „narratoriale“ Erzählperspektive entstammt der Theorie des Narratologen Wolf Schmid: „Der Erzähler hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, ein Geschehen darzustellen: Er kann aus seiner eigenen, der narratorialen Perspektive erzählen oder einen figuralen Standpunkt übernehmen, d. h. aus der Perspektive einer oder mehrerer der erzählten Figuren erzählen.“ Schmid: Elemente der Narratologie, 2008, S. 137. 140 Dass der narratoriale Erzähler nicht nur eine andere zeitliche Perspektive auf die Handlung, sondern vor allem auch eine räumliche Nähe zur Handlung hat, wird in dem Aufsatz von Jane Griffith deutlich: „Esther is relegated to a perspective in which she merely sees urban space cartographically, understanding space as stable (whether she can see it or not). Only the omniscient narrator is permitted an ability to understand urban space as far from stable, but instead as constructed and shaped by perspective and sight. When the grand openings and closings of the omniscient narrator are compared with Esther’s maplike openings and closings, the omniscient narrator overwhelmingly demands space’s construction, while Esther only ever offers her perspective of space.“ Griffith: „Such a Labyrinth of Streets“. In: English, 2012 (234), S. 250. 141 Stone (Hg.): Dickensʼ Working Notes for his Novels, 1987, S. 215. 142 Dickens: Bleak House, 2008, S. 847. 143 Stone (Hg.): Dickensʼ Working Notes for his Novels, 1987, S. 231 (zu Kapitel XXXIX). Dies ist am deutlichsten bei den Notizen zu The Old Curiosity Shop, in denen er immer in den Kapiteln und Folgen kurz vor Nellys Tod schreibt: „Keep the child in view“. Dickens: The Old Curiosity Shop, 2008, S. 571. Oder in den Notizen zu David Copperfield:

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Oder noch deutlicher in den letzten Kapiteln des Buches: „Carry on suspense [Herv.i.O.]“.144 2.4 Dickens’ Gebrauch serieller Erzähltechniken Dickens Gesamtwerk bildet eine wichtige Etappe in der Entwicklung und Bekanntwerdung der Erzähltechnik Cliffhanger avant la lettre. Sein Werk ist für den Cliffhanger nicht etwa deshalb so bedeutend, weil in den einzelnen Büchern so viele Cliffhanger auftauchen, sondern deshalb, weil sie in seinem gesamten Werk vorkommen und Dickens durch die enorme Popularität seiner Erzählungen einem großen Publikum gezeigt hat, wie mächtig diese Erzähltechnik und zu welcher inhaltlichen, strukturellen und qualitativen Bandbreite serielle Narration fähig ist.145 Fest steht, dass „No. Consider for next No“. Stone (Hg.): Dickensʼ Working Notes for his Novels, 1987, S. XXV. 144 Ebd., S. 241 (Kapitel LVIII). 145 Zumindest umrissen werden muss außerdem das Ende einer Folge von The Old Curiosity Shop (April 1840-Februar 1841), das fast wie ein Cliffhanger anmutet und vielleicht von einigen als solcher empfunden wurde. „‚Did Nelly die?‘ was as ubiquitous a question in 1841 as ‚who shot J.R.?‘ nearly 150 years later.“ Schlicke: Oxford Reader's Companion to Dickens, 1999, S. 530. Auch gibt es die Legende von US-Amerikanern, die britische Reisende gefragt haben sollen, ob Nelly wirklich tot sei. („There is, however, no verifiable evidence for the story that Americans accosted British travellers arriving in New York or Boston with the question: ‚Is Little Nell dead yet?‘ Before the publication of each number of Master Humphrey’s Clock in London, page proofs were sent to Lea and Blanchard of Philadelphia to facilitate its early publication there.“ Brennan: „Introduction“. In: Dickens: The Old Curiosity Shop, 2008, S. XXII.) Bei Nellys Tod kann jedoch nicht von einem Cliffhanger gesprochen werden. Dickens kündigt ihren Tod sehr ausführlich mit einer Reihe von Vorausdeutungen an. Bereits in Kapitel 52 sinniert Nelly über ihre Vergangenheit ‒ und ist sich der Präsenz von Verfall und Tod bewusst, ohne sich davor zu fürchten. (Vgl.: Dickens: The Old Curiosity Shop, 2008, S. 391 u. 410f.) Die Vorausdeutungen werden vom Publikum verstanden, wie Briefe von Charles Dickens über die Rezeption der entsprechenden Folge bestätigen. (Vgl. Brennan: „Introduction“. In: Dickens: The Old Curiosity Shop, 2008, S. XXIII.) Doch trotz aller Todessymbolik und vorheriger Vorausdeutungen endet Kapitel 55 scheinbar freudig: „‚The birds sing again in spring,‘ thought the child, as she leant at her casement window, and gazed at the declining sun. ‚Spring! a beautiful and happy time.‘“ Dickens: The Old Curiosity Shop, 2008, S. 416. Die Leser verlassen Nelly also in durchaus froher Stimmung, nicht ahnend, dass sie den nächsten Frühling nicht erleben wird. In den zahlreichen folgenden Kapiteln konzentriert sich die Handlung wieder auf das Geschehen in London. Der Tod Nellys in Kapitel 71 wird innerhalb eines Kapitels behandelt, für einen Cliffhanger ist kein Platz.

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Dickens, wie die Arbeitsnotizen zeigen, besondere Sorgfalt auf die Gestaltung der Folgen- und Kapitel-Enden legte. Wie seine Enden, also auch wie seine Cliffhanger bei der Leserschaft ankamen, verfolgte er stets sehr aufmerksam. „Since Dickens never finished a novel before it began to appear serially – indeed, he was sometimes only a few chapters ahead of the printer – the interval between creation and publication was extremely short. Dickens had a real sense of his audience accompanying him as he wrote his weekly or monthly numbers; he was able to gauge the response of the public to a book as it proceeded – partly through the evidence of sales, to which he was very attentive, and partly through the comments and letters he received about the book in progress.“146

Vor allem aber weisen Dickensʼ Werke bereits eine erstaunliche Vielfalt an seriellen Erzähltechniken auf. Der Anfang der The Pickwick Papers steht noch ganz im Zeichen der Episodenserie – fast jede Folge ist in sich geschlossen. Dann jedoch entwickelt sich der Roman an den beiden spannendsten Stellen zu einer Fortsetzungsserie mit Cliffhangern: Der Held und anschließend sogar sein Gehilfe landen im Gefängnis. Gelegentlich werden zwei verschiedene Handlungsstränge verfolgt; wenn der eine Handlungsstrang offen gelassen wird und zunächst in sich geschlossene Episoden eingeschoben werden, kommt es wie im Fall des nahenden Gerichtsprozesses zu verzögerten Interruptionsspannen. Die gefahrensituativen Cliffhanger haben alle Interruptionspunkte; die in sich geschlossenen Episoden weisen meisten elliptische Interruptionspunkte auf, in denen unwichtige erzählte Zeit übersprungen wird. In Oliver Twist werden bereits mehrere fortlaufende Handlungsstränge verfolgt. Ein schlichter Kontinuitätshinweise ist lediglich am Anfang der ersten Folge zu finden ‒ die am Kapitelanfang stehenden zukunftsungewissen Phasenvorausdeutungen sind hingegen durchgängig erhalten geblieben. Der Cliffhanger ist hier zum Teil schockierender als noch in The Pickwick Papers – und auch ausgefeilter: Dickens verstärkt die Spannung dadurch, dass er auf zwei weiteren Handlungssträngen einen

Nellys Tod kommt unerwartet schnell und ist grausam, ein Schock für die Leser: Die Hauptperson, noch ein Kind, stirbt tatsächlich, anders als in Oliver Twist. Auch die Betrachtung der Gesamtstruktur des Werks, bei der Nellys Tod fast am Abschluss des Werks steht, passt nicht zur üblichen Verwendung der Cliffhanger bei Dickens, wie beispielsweise in The Pickwick Papers, in denen der Höhe- und Mittelpunkt des Werks mit Cliffhangern einhergeht. Man kann nicht annehmen, Dickens wolle so kurz vor Ende des Romans noch versuchen, eine große Leserschaft zu mobilisieren. 146 Wall (Hg.): Charles Dickens: a Critical Anthology, 1970, S. 28. Außerdem beobachtete Dickens sein Publikum auch immer sehr genau bei seinen öffentlichen Lesungen. Siehe auch: Andrews: Charles Dickens and his Performing Selves, 2007.

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Binnencliff und einen Cliffhanger gestaltet, die mit dem Haupt-Cliffhanger korrespondieren. Die Enthüllung, dass Oliver Twist aus reichem Haus stammt, stellt gemeinsam mit der Frage, wo das Geld versteckt ist, den unterstützenden Binnencliff dar. Der zweite Cliffhanger besteht aus der Suche Fagins nach Oliver. Selbst wenn der Junge lebt: Kann er den Fängen Fagins entkommen und ein neues Leben beginnen? Vor allem aber wird die eigentliche Cliffhangerfrage, ob Oliver überlebt hat, immer aufs Neue durch Fagins Suche nach dem Jungen wachgerufen. Offenbar ist sich Dickens der seriellen Erzähltechniken bewusster geworden. Er setzt einen Cliffhanger, der den Leser schockt, und verstärkt ihn zusätzlich durch einen unterstützenden Binnencliff, einen weiteren Cliffhanger und Retardierungen. Er nutzt die Folgen und Kapitel, um weitere Handlungsstränge zu verfolgen, und setzt verschiedene Perspektiven ein, um spannende Momente aus einer anderen Perspektive erneut, aber mit einem anderen zeitlichen Fokus zu zeigen. In Bleak House ist die Handlungsführung noch virtuoser und ausgefeilter als bei Oliver Twist – das zeigt sich auch anhand der seriellen Erzähltechniken. Die Kapitelund Folgen-Enden stecken voller Zurückverweise und Vorausdeutungen und erzeugen so Spannung. Die Enthüllung, dass die Heldin Esther erblindet, wird als Binnencliff gesetzt. Im Grunde genommen wird die Wirkung des Binnencliffs durch seine Position noch verstärkt, da die verzögerte Interruptionsspanne zunächst über einen anderen Handlungsstrang verläuft, dann über die Erzählpause und dann vom Rezipienten weitere Handlungsstränge verfolgt werden müssen, bevor endlich der Aufhebungs- und dann auch der deutliche Auflösungsmoment stattfinden. Die unterschiedliche Gestaltung der Cliffhanger als enthüllend oder vorausdeutend, ist in diesem Fall auch Ausdruck der unterschiedlichen Erzählperspektiven: Der narratoriale Erzähler kann das Erzählgeschehen zeitlich und räumlich überblicken und deutet voraus, die figurale Erzählerin ist zeitlich und perspektivisch nah am Geschehen und enthüllt. Sicherlich sind Dickens die Prinzipien der Erzähltechnik ‚Cliffhanger‘ bekannt, schließlich ist er ein großer Liebhaber von 1001 Nacht.147 Aber er kennt natürlich noch nicht den Begriff und hat ihn nicht als definierte Erzähltechnik kennengelernt, sondern nur als vages Erzählprinzip serieller Fortsetzungsnarration. Dickens richtet sich nach den Möglichkeiten des seriellen Erzählens und gleicht sie mit den Bedürfnissen und Erwartungen seines Publikums ab, die er aufgrund seines Verfolgens zahlreicher Leserbriefe und der Verkaufszahlen seiner Folgen gut erspürt: „[W]ith Pickwick, Dickens embarked upon his lifelong love-affair with his reading public; which,

147 „They [d.i. eine ganze Reihe von Büchern, die Dickens aufzählt] kept alive my fancy, and my hope of something beyond place and time – they, and the Arabian Nights“. Dickens: „Autobiographical Fragment 1847“. In: Wall (Hg.): Charles Dickens: a Critical Anthology, 1970, S. 37. Siehe auch: Fröhlich: 1001, S. 52f.

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when all is said, is by far the most interesting love-affair of his life.“148 Seinen frühen Stil, passend zu einer skurrilen und komödiantischen Episodenserie wie The Pickwick Papers, entwickelte er entschlossen zu einem reiferen, der alle Vorteile der Fortsetzungsserie nutzt und mit vorausdeutenden Cliffhangern über lange Spannbreiten die Leserschaft kraftvoll bannt. Die von einfachen und direkten Kontinuitätshinweisen beendeten Folgen sind im späteren Werk nicht mehr zu finden. Stattdessen sind vielschichtige Vorausdeutungen vorhanden, und die klassischen Cliffhanger werden vornehmlich von subtil vorausdeutenden Cliffhangern und retardierenden Binnencliffs abgelöst. Besonders wegweisend und innovativ erscheinen vor allem die vorausdeutenden Cliffhanger. Dickens kombiniert die Vorausdeutungen mit Cliffhangern, die er vorher getrennt benutzte, zu einer Erzähltechnik, die er mangels passender Begrifflichkeit in den Arbeitsnotizen häufig „closing pictures“ oder nur „pictures“ nennt. „At its most condensed, this showing forth is accomplished through what Dickens called a ‚picture‘. The word ‚picture‘ as Dickens uses it in the number plans [...] varies in its meanings and implications. [...] But the word as used in the working notes [...] invariably has a special intensity and significance for him. It isolates a pictorial summation which carries a weight of implication that goes far beyond the object or scene depicted. The label heralds a condensed visual metaphor for an important meaning in the novel. […] Dickens seems to use the word ‚picture‘ increasingly, and with more focused technical and symbolic implications, in his middle and later number plans.“149

Harry Stone fasst die Attribute des Dickens’schen Gebrauchs von „picture“ so zusammen, dass sie ebenfalls die Bedeutung des vorausdeutenden Cliffhangers umschreiben: die bildliche Komponente, das Vorausweisende und die vielschichtige Bedeutung des „abschließenden Bildes“, verbunden mit einer Unterbrechung, die Spannung erzeugt und den Rezipienten die Bedeutung des zuletzt Beschriebenen erfahren lässt. Stone kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Dickens erst in seinen mittleren und späteren Werken den Begriff „pictures“ gebrauchte. Das unterstützt die These, dass Dickens erst hier eine Synthese seiner früheren Erzähltechniken schafft, während er vorher eher gefahrensituative oder enthüllende Cliffhanger oder abschließende Enden setzt. Dickens verbindet die Qualitäten des Cliffhangers mit der Vorausdeutung in seiner „closing picture“-Erzähltechnik: Im Leser soll ein vorausdeutendes, atmosphärisch starkes Bild voller Andeutungen zurückbleiben, das darauf hinweist, dass eine Gefahr, eine Enthüllung oder ein Wendepunkt sich im weiteren Handlungsverlauf abzeichnen. Der Leser kann jedoch wegen des Erzählabbruchs die 148 Butt u. a.: Dickens at Work, 2009, S. 75. 149 Stone: „Introduction“. In: Ders. (Hg.): Dickensʼ Working Notes for his Novels, 1987, S. XXVI.

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Vorausdeutungen nicht durch weiterlesen schnell aufgelöst bekommen, zumal es sich nicht um eindeutige Hinweise handelt, sondern eher um vage Fingerzeige auf zukünftige Handlungsentwicklungen. Von der Vorausdeutung nimmt Dickens die vorausweisende und andeutende Funktion, kombiniert sie aber mit dem Erzählabbruch des Cliffhangers und ruft so eine besonders große Spannung beim Leser hervor: Das eben Beschriebene wird zu etwas führen; aber um zu erfahren, wohin, muss der Leser abwarten und nicht nur die unmittelbar nächste Folge kaufen, sondern sogar eine Reihe von Fortsetzungen. Der vorausdeutende Cliffhanger ist im Grunde – zumindest für den mitdenkenden und aufmerksamen Leser – noch effektiver als der enthüllende oder gefahrensituative, weil er nicht nur einen Kaufimpuls für die unmittelbar nächste Folge aussendet, sondern auf die gesamte weitere Handlungsführung neugierig macht. Das im Leser zurückbleibende Bild prägt sich durch den Zeigarnik-Effekt besonders intensiv ins Gedächtnis ein. Gut beschreibt das Wort „closing picture“ einige Charakteristiken des Cliffhangers: Ein Bild, das zurückbleibt, wenn die Erzählung im Augenblick der größten Spannung unterbrochen wird.

3. D ER TRIPLE - DECKER : G EORGE E LIOT 3.1 Kontext: Triple-deckers und circulating libraries „Although Dickens himself continued to make money from the monthly serial up to the time of his death in 1870, it declined as a form in the late fifties and sixties. The probable reason was that it had been overtaken by the increasing efficiency and cheapness of reproduction which made feasible even better bargains for the consumer. [...] [T]he heavy production costs of monthly numbers (even a modest serial could cost 5.000) account for their being used only by a relatively short period. Nonetheless the monthly serial in shilling numbers probably did more than anything else to open up a mass market for fiction.“ SUTHERLAND: VICTORIAN NOVELISTS AND PUBLISHERS, 1976, S. 23F.

Einen konstanteren Erfolg als die shilling numbers ermöglichen Veröffentlichungen eines Werk in drei Bänden (genannt three-decker oder triple-decker). Während des

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gesamten 19. Jahrhunderts sind sie eine konstante Verkaufsgröße.150 Der triple-decker ist eine Publikationsform, die vornehmlich in Kombination mit den circulating libraries151 funktioniert: Die Bücher werden nicht gekauft, sondern für den Verleih und die Lektüre in Lesezirkeln hergestellt – dementsprechend teuer sind sie. Das hohe Preis-Niveau führt dazu, dass die Kunden die Bücher nicht kaufen, sondern eine Mitgliedschaft benötigen. Aufgrund der niedrigen Auflage, die ausschließlich auf die Verleih-Bibliotheken zugeschnitten ist, veranschlagen die Verlage wiederum die höheren Preise, um ausreichend an den Büchern zu verdienen.152 Die Aufteilung auf drei Bände erlaubt nicht nur den bereits genannten Vorteil, durch den Verkauf des ersten Bandes ungefähre Absatzzahlen für die weiteren Bände und damit auch deren Druckkosten zu erhalten,153 sondern die drei-geteilten Werke funktionieren auch besser im Leihsystem: Während die einen Leser noch mit Band 1 beschäftigt sind, kann Band 2 bereits an die schnelleren Leser ausgeliehen werden.154 Die Länge ist mit 275 bis 325 Seiten fest vorgegeben.155 Die erfolgreichen Bücher durchleben zu jener Zeit häufig eine komplizierte Veröffentlichungshistorie, erscheinen zunächst häufig in

150 Vgl. ebd., S. 12f. 151 Kommerzielle circulating libraries entstehen in England vornehmlich ab den 1740er Jahren und bieten Bücher zum Verleih (auch im Versand) oder zur Lektüre in den Bibliotheksräumen an. Eine kurze Geschichte der circulating libraries bietet: Raven: „From Promotion to Proscription“. In: Ders. u. a. (Hg.): The Practice and Representation of Reading in England, 2007, S. 175–201. 152 „Der hohe Preis des Romans dient als Garantie für die ciculating libraries, daß weiterhin geliehen, nicht gekauft wird. […] [D]ie Verleger halten sich nach Mudieʼs [siehe Fußnote 154] Erfolg willig an dessen Politik, weil auch sie dadurch begünstigt werden.“ Kuehn: Marie Corelli und der spätviktorianische Bestseller, 2001, S. 24. 153 „It is very likely that a publisher of a three-decker novel could get more than its production costs back before many of the bills had to be paid.“ Eliot: „The Buisness of Victorian Publishing“. In: David (Hg.): The Cambridge Companion to the Victorian Novel, 2012, S. 50. 154 Edward Mudie ist der größte Einzelunternehmer des circulating library-Systems, dessen Name häufig mit der Kombination von sich gegenseitig unterstützender three-deckerVeröffentlichung und circulating library verbunden wird. 1842 beginnt Mudie damit, in seinem Schreibwarenladen Bücher zum Verleih anzubieten und ist mit damit bald so erfolgreich, dass er mehrere Filialen in England eröffnet. Mudies System hatte allem aus zwei Gründen großen Erfolg: 1. Mudie kaufte immer eine hohe Anzahl von Büchern einer Auflage direkt vom Verlag. 2. Der am häufigsten genutzte Tarif ‒ eine Flatrate avant la lettre ‒ erlaubt es, für einen Guinea pro Jahr unbegrenzt viele Bücher zu leihen – jedoch immer nur eins. Siehe bspw.: ebd. 155 Vgl. Kuehn: Marie Corelli und der spätviktorianische Bestseller, 2001, S. 25.

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Zeitschriften, dann als triple-decker und anschließend als ganzheitliche Buchveröffentlichung in unterschiedlichen Ausgaben.156 3.2 The Mill on the Floss Der erste Teil von George Eliots The Mill on the Floss (1860) endet mit mehreren schlechten Neuigkeiten für den Protagonisten Tom: Er erfährt von seiner jüngeren Schwester Maggie, dass der Vater vom Pferd gefallen und seitdem sehr verwirrt ist. Zusätzlich hat sein Vater einen wichtigen Gerichtsprozess verloren und muss, um die vom Gericht festgelegte Summe zahlen zu können, all seinen Besitz verkaufen. Sofort wollen sich Tom und Maggie auf den Weg zum Vater machen. Tom verabschiedet sich daraufhin von seinem Lehrer Mr. Stelling: „Mr Stelling put his hand on Tomʼs shoulder and said, „God bless you, my boy: let me know how you get on.“ Then he pressed Maggieʼs hand; but here were no audible good-byes. Tom had so often thought how joyful he should be the day he left school ‚for good!‘ And how his school years seemed like a holiday that had come to an end. The two slight youthful figures soon grew indistinct on the distant road – were soon lost behind the projecting hedgerow. They had gone forth together into their lives of sorrow, and they would never more see the sunshine undimmed by remembered cares. They had entered the thorny wilderness, and the golden gates of their childhood had for ever closed behind them.“157

Die Enthüllung besteht hier darin, dass unversehens Maggie in der Tür steht und Tom zusammen mit dem Leser all die schlechten Neuigkeiten erfährt. Direkt im Anschluss daran findet sich die zitierte Stelle. Die Enthüllung ist also nicht als Teil des Cliffhangers zu betrachten, sondern vor allem die daran anschließenden vorausdeutenden Sätze, dass nun für die Geschwister die Kindheit vorbei ist. Sie stehen als exklamatorischer Kommunikationsakt am Ende des Kapitels und lassen die Frage offen, wie die Familie diese Schwierigkeiten wird meistern können. Wie werden die zwei Hauptfiguren, die noch Kinder sind, nun mit diesen erwachsenen Problemen zurechtkommen? Das zweite Buch endet ebenfalls dramatisch: Der Vater stirbt, die zerstrittenen Geschwister versöhnen sich wieder.

156 „For more successful novels, whether initially published as a part work, serialized in a periodical, or issued as a three-decker, a first edition was only the beginning of what might be a long and complicated publishing history.“ Eliot: „The Buisness of Victorian Publishing“. In: David (Hg.): The Cambridge Companion to the Victorian Novel, 2012, S. 50. 157 Eliot: The Mill on the Floss, 1980, S. 167f.

226 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „‚At last there was total stillness, and poor Tulliverʼs dimly-lighted soul had for ever ceased to be vexed with he painful riddle of this world. [...] Tom and Maggie went down-stairs together into the room where their fatherʼs place was empty. Their eyes turned to the same spot, and Maggie spoke: ‚Tom, forgive me – let us always love each other;‘ and they clung and wept together.“158

Selbst wenn dies ein auch versöhnliches Ende ist, so stellt der Tod von Maggies und Toms Vater, Mr. Tulliver, ein großes Unglück dar, weil die zwei Kinder nun vollends auf sich gestellt sein werden.159 Außerdem wird die Versöhnung nur mit einem exklamatorischen Kommunikationsakt erzählt, so kurz, dass der Vorgang unterbrochen und unvollständig wirkt. Vor allem bedeuten beide Ereignisse Wendepunkte und wichtige Stationen in der Erzählung. Beide Cliffhanger haben eine lange Spannbreite, werden aber direkt am Interruptionspunkt fortgesetzt. Die lange Spannbreite der somit vor allem vorausdeutend fungierenden Cliffhanger ist geschickte Spannungserzeugung, weil die Cliffhanger somit auf den ganzen weiteren Verlauf der Geschichte, also den nächsten Band neugierig machen. Außerdem verstärken die zwei Cliffhanger der Buchteile die von der Geschichte thematisierte Abhängigkeit der Geschwister voneinander. Der Abschluss des Romans vollendet dieses bereits in den Cliffhangern angelegte Thema. Bei einer großen Flut ist Tom in Gefahr zu ertrinken und Maggie versucht, ihn zu retten. Als ihr dies nicht gelingt, halten sich die Geschwister in den Armen und ertrinken gemeinsam. Tatsächlich könnte man den Aufbau des Romans so sehen, dass der melodramatische Abschluss bereits in den ersten beiden Enden der Romanteile vorbereitet wird – wie Kate Flint erläutert: „With this build-up, it is a an [sic] inevitability that the novel as a whole will conclude with Tom and Maggie joined in a way that will dramatize their instinctual need for one another. This need has been determined not just psychologically, but by the work’s material structure.“160

158 Ebd., S. 315f. 159 Siehe zur Bedeutung der Kindheit in The Mill on the Floss: Lesnik-Oberstein: „Holiday House: Grist to The Mill on the Floss, or Childhood as Text“. In: The Yearbook of English Studies, 2002 (32), S. 77–94. 160 Flint: „The Victorian Novel and its Readers“. In: David (Hg.): The Cambridge Companion to the Victorian Novel, 2012, S. 23. Siehe auch: „As a secular rewriting of the biblical flood, the text suggests that rather than an event signifying God’s hand in the ordering (or punishment) of the world, there is no external meaning in nature. Maggie is not destined to suffer and die. She and Tom die because of a contingent event: a piece of machinery destroys the boat they were trying to navigate in perilous floodwaters. In that accidental sense, the deaths are revealed as a moment in a process, a physical culmination but not a moral one. Their deaths are never finally able to rest on one meaning.“ Allen:

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Hier wird nur kurz auf das Format der triple-decker eingegangen werden, weil sie aufgrund der Dreiteilung nur ein sehr begrenztes Maß an Serialität aufweisen und damit für diese Studie nicht im Fokus stehen. Zumindest können aber bei den späteren Werken, bei denen das Format bereits so etabliert ist, dass sie speziell für die Erstveröffentlichung als triple-decker konzipiert sind, Cliffhanger festgestellt werden. Im Fall von The Mill on the Floss sind die Cliffhanger so eingebaut, dass die großen dramatischen Wendepunkte des Makrotextes von ihnen unterstrichen werden. Veröffentlichungsformat, Erzähltechnik, Inhalt und dramatischer Aufbau sind homogen miteinander verknüpft.

4.

R OMANE IN Z EITSCHRIFTEN : W ILKIE C OLLINS UND T HOMAS H ARDY

4.1

The Woman in White: Wilkie Collins hält seine Leser in Atem

4.1.1 Kontext: Dickens, Collins und All the Year Round Wilkie Collins ist ein enger Freund von Charles Dickens. In Dickens wöchentlich erscheinendem Magazin All the Year Round werden Collinsʼ wegweisende Fortsetzungsromane The Woman in White und The Moonstone veröffentlicht. The Woman in White ist ein wichtiger Vertreter der gothic novel161 und einer der ersten Romane der viktorianischen sensation fiction,162 The Moonstone wird häufig als erste detective novel bezeichnet.163

„Habit in George Eliot’s The Mill on the Floss“. In: Studies in English Literature 1500– 1900, 50 (4), 2010, S. 847. 161 Siehe für einen Vergleich zwischen Bram Stoker’s Dracula und A Woman in White zum Beispiel: Bollen u. a.: „An Intertext that Counts?“. In: English Studies, 90 (4), 2009, S. 403–420. 162 „The Woman in White is generally regarded as the first sensation novel, an enormously influential branch of Victorian fiction which fused the apprehensive thrills of Gothic literature with the psychological realism of the domestic novel.“ Sweet: „Introduction“. In: Wilkie: The Woman in White, 2003, S. XIII. Die Zeit der großen sensation novels liegt zwischen 1860–1880. Außer Collins genannten Romanen sind auch Mary Elizabeth Braddons Lady Audley’s Secret und Henry Wodds East Lynne ‚Gründungstexte‘ dieses Genres. „The sensation novel, like the detective novel, is the quintessential novel-witha-secret.“ Pykett: The Sensation Novel, 1994, S. 4. 163 Am berühmtesten ist in dieser Hinsicht die Aussage von T.S. Eliot, der The Moonstone gar als „the first and greatest of modern English detective novels“ bezeichnete. Zitiert nach: Rzepka: Detective Fiction, 2005.

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Collins erste serielle Erzählung The Dead Secret erscheint von Januar bis Juni 1857 in Dickens’ Zeitschrift Household Words (1850–1859), ist aber nicht erfolgreich.164 Ein Grund dafür könnte sein, dass der Roman keine Spannung erzeugt, die den Leser über mehrere Folgen bannt und so zum Erwerb des nächsten Mikrotextes animiert: „Collinsʼs main mistake was the revelation of the mystery in the first installment, clearly an unsuitable strategy for sustaining the readerʼs interest in the novel over a number of months.“165 Fast ein Jahr später erscheint die Kurzgeschichte The Poisoned Meal (18. September–2. Oktober 1858) in den Household Words – auch sie ist in einzelne Folgen, insgesamt sind es fünf, unterteilt. Der Spannungsaufbau entspricht viel mehr der seriellen Erscheinungsform als noch The Dead Secret, wie im Folgenden gezeigt wird. Die Hausbedienstete Marie wird von ihrer Herrschaft des versuchten Mordes beschuldigt. Angeblich hat sie Arsen in einen Pudding getan. Die vorletzte Episode endet wie folgt: „On the 26th of May, the priests spoke their last words of comfort to her [d.i. Maries] soul. She was taken back again, to await the execution of her sentence in the prison of Caen. The day was at last fixed for her death by burning, and the morning came when the Torture-Chamber was opened to receive her.“166 [Ende von Folge 4]

Der gefahrensituative Cliffhanger wird mit dem Mittel eines exklamatorischen Kommunikationsakt gesteigert. Die Gefahr, in der die Heldin schwebt, ist unmittelbar – das Unheil und die Ungerechtigkeit, die der Protagonistin widerfahren sollen, scheinen nicht mehr abwendbar. Doch direkt zu Beginn der nächsten Folge weist der Erzähler auf einen möglichen Ausweg aus der hoffnungslosen Situation hin: „The saddest part of Marie’s sad story now remains to be told. One resource was left her, by employing which it was possible, at the last moment, to avert for a few months the

164 Vgl. Wynne: The Sensation Novel and the Victorian Family Magazine, 2001, S. 40. 165 Ebd. 166 Collins: „The Poisened Meal“. In: My Miscellanies, 1863, S. 155. Bereits die erste Folge endet in einem vorausdeutenden Cliffhanger ‒ die Gefahr wird bereits ankündigt: „She left the kitchen to obey her mistress; and taking the old pair of pockets off the chair, tied them on as quickly as possible. From that fatal moment the friendless maid-off-all-work was a ruined girl.“ Ebd., S. 123. Besonders das Abrupte des Cliffhangers, der sich deutlich von den vorherigen sachlich beschreibenden Sätzen unterscheidet, zeigt klar die Schreibmethoden, die zu einer Veröffentlichung im seriellen Format gehören. Die vorherigen ‚unscheinbaren‘ und zurückhaltenden Beschreibungen verstärken noch die Cliffhanger-Wirkung und deuten an, dass Marie trotz des alltäglichen Vorgangs unwissentlich an dieser Stelle einen großen Fehler begeht.

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frightful prospect of the torture and the stake.“167 Am Ende kann Marie dem grausamen Schicksal entrinnen, heiratet und lebt glücklich und zufrieden. Dickens’ Einleitung zu A Woman in White In der Zeitschrift All the Year Round folgt in derselben Ausgabe direkt nach jedem finalen Ende eines Fortsetzungsromans der Beginn eines neuen. Ähnlich wie die Erzählerin Schahrasad, die niemals den Abschluss einer Geschichte an das Ende einer Nacht legt, fällt ein finales Ende nie mit dem Ende einer Ausgabe zusammen. A Woman in White beginnt beispielsweise in der Mitte der 31. Nummer von All the Year Round. Wenige Zeilen zuvor befindet sich der Abschluss von Dickens’ A Tale of Two Cities, dem ersten in dieser Zeitschrift veröffentlichten Fortsetzungsroman.168 Dickens selbst richtet im Anschluss daran ein paar Zeilen an den Leser, mit denen er A Woman in White ankündigt.169 Dickens verdeutlicht, dass es sich bei A Woman in White erneut um einen Fortsetzungsroman handelt, der in gleicher Weise wie A Tale of Two Cities dargeboten wird. Er verliert kein Wort über den Inhalt. Es geht ihm ausschließlich um die Form der Veröffentlichung, damit der Rezipient nicht von der Aneinanderreihung und Teilung der Geschichten irritiert ist. 4.1.2 Deskription und Analyse Die Geschichte ist aus der Sicht verschiedener Ich-Erzähler erzählt, wobei jeder größere Romanteile erhält.170 In der ersten Folge von A Woman in White taucht hinter dem ersten Erzähler, Walter Hartright, plötzlich eine vollkommen in weiße Kleider gehüllte, verstörte und ängstliche Frau auf, die sich nach dem Weg nach London erkundigt. Hartright begleitet sie nach London und besorgt ihr dort ein Kutschentaxi. Genaueres über sie erfahren hat er nicht. Die erste Folge endet damit, dass zehn Minuten später Hartright an verschiedene Personen gerät, die nach der ominösen „Frau in Weiß“ suchen und dabei sogar einen Polizisten um Hilfe bitten. Nun erfährt Hartright erste Einzelheiten über die geheimnisvolle Frau.

167 Ebd., S. 155. 168 Vgl. Davis: „A Tale of Two Cities“. In: Paroissien (Hg.): A Companion to Charles Dickens, 2011, S. 412. 169 Vgl. Dickens (Hg.): All the Year Round, 1859, S. 95. 170 „Erzähltheoretisch gesehen wählt Wilkie Collins die Form eines fiktiven Gerichtsprotokolls, um so der Leserschaft durch die Aneinanderreihung verschiedener Ich-Erzählungen unterschiedliche Perspektiven auf das Geschehen zu gewährleisten. Erst die Zusammenfügung der einzelnen monoperspektivischen Erzählstränge führt zu einem umfassenden Verständnis. Die Multiperspektivität entsteht so durch die Aneinanderreihung der verschiedenen intradiegetischen Ich-Erzählungen.“ Flasdieck: Die Rezeption der gothic novel in ausgewählten Werken der viktorianischen Literatur, 2005, S. 51.

230 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „‚If you, or any of your men meet with the woman, stop her, and send her in careful keeping to that address. I’ll pay all expenses, and a fair reward into the bargain.‘ The policeman looked at the card that was handed down to him. ‚Why are we to stop her, sir? What has she done?‘ ‚Done! She has escaped from my Asylum. Donʼt forget: a woman in white. Drive on.‘“171 [Ende von Folge 1]

Noch liegt die Identität der Frau in Weiß vollkommen im Unklaren. Aber die letzten Sätze lassen ahnen, dass diese Frau nichts verbrochen hat, die Inhaftierung in der Irrenanstalt unrechtmäßig ist und vermutlich das eigentliche Verbrechen darstellt. Die Flucht allein wird von den Suchenden als Verbrechen ausgelegt. Darüber hinaus wird mit dem vorletzten Satz „a women in white“ der Titel des Werks aufgegriffen und die Gestalt der entflohenen Frau als wichtig hervorgehoben. Der Aufhebungsmoment stellt die Absicht des Cliffhangers heraus. Die zweite Folge beginnt direkt mit den Sätzen: „‚She has escaped from my Asylum!‘ I cannot say with truth that the terrible inference which those words suggested flashed upon me like a new revelation.“172 Das Ausrufezeichen und das Wort „revelation“ betonen bereits die zwei Merkmale des Cliffhangers: Enthüllung mittels eines exklamatorischen Kommunikationsaktes. Die Frau ist aus einer Irrenanstalt entflohen – auch wenn der Protagonist wie auch der Leser diese Enthüllung bereits ahnten. Glättungen für die ganzheitliche Veröffentlichung Enthüllende Cliffhanger sind der häufigste Cliffhanger-Typ in The Woman in White. Beispielweise erzählt am Ende von Folge 17 eine weitere Ich-Erzähler-Figur, Marian Halcombe, wie sie der verstörten Laura Fairlie begegnet sei. Als sie fragt, warum Laura so angsterfüllt ist, erfährt sie, dass Laura gerade eben die Frau in Weiß sah, von der inzwischen bekannt ist, dass sie Anne Catherick heißt. „‚What has happened?‘ I asked. ‚What has frightened you?‘ She looked round at the half-open door – put her lips close to my ear – and answered in a whisper: ‚Marian! – the figure at the lake – the footsteps last night – I’ve just seen her! I’ve just spoken to her!‘ ‚Who, for Heaven’s sake?‘ ‚Anne Catherick.‘“173 [Ende von Folge 17]

171 Collins: The Woman in White, 2003, S. 31. Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf die Ausgabe der Penguin Classics-Reihe, herausgegeben von Matthew Sweet 2003. In ihr sind ausführlich alle Veränderungen und Aufteilungen der Drucke zu Collinsʼ Lebzeiten notiert. 172 Ebd. 173 Ebd., S. 275. In der Ausgabe von Penguin Classics (2003) ist nicht klar ersichtlich, an welcher Stelle die tatsächliche Unterteilung stattfand. Es wird nur angegeben, dass es eine Unterteilung nach „Anne Catherick“ gab. Doch die Erzählerin wiederholt voller Er-

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Daraufhin sagt Marian am Anfang der nächsten Folge: „I was not fit to bear the revelation which burst upon me, when that name passed her lips.“174 Erneut wird also von den Figuren der enthüllende Cliffhanger auch als „revelation“ bezeichnet. Hier hat Collins wie bei zahlreichen seiner Cliffhanger keine Kapitelunterteilung vorgenommen – anders als Dickens. In der ganzheitlichen Veröffentlichung folgt deshalb direkt auf den ehemaligen Cliffhanger die Reaktion der Erzählerin. Gelegentlich werden die enthüllenden Cliffhanger mit interrogativen Kommunikationsakten verbunden, wie beispielsweise am Ende von Folge 10 (28.01.1860).175 Collins hat an diesem Cliffhanger ebenfalls keine Kapiteleinteilung vorgenommen. In der späteren ganzheitlichen Buchveröffentlichung des Romans sind keine Spuren der früheren seriellen Unterteilung vorhanden.176 Einige der Cliffhanger und ihre Aufhebungen wirken in der ganzheitlichen Veröffentlichung obsolet. In der Buchausgabe erscheint vor allem der ehemalige Aufhebungsmoment überflüssig: „To resume. The night passed as usual“.177 Der Leser des Buches könnte sich fragen, warum eigens darauf aufmerksam gemacht wird, dass der Erzähler fortfährt, während in der seriellen Publikation dieser Satz als Einleitung natürlicher wirkt. Einige der ehemaligen Cliffhanger und Vorausdeutungen hat Collins hingegen für die Buchveröffentlichung gekürzt und damit den Buchtext flüssiger, zusammenhängender gestaltet.178 Die Folge 33 vom 07.07.1860 endet damit, wie Eliza Michelson bemerkt, dass sie von drei Spionen verfolgt wird, seitdem sie sich über die Heirat von Mrs. Catherick im Register der Kirche informiert hat. „Their reappearance reminded me that Sir Percival had anticipated my visit to Old Welmingham church, as the next result of my interview with Mrs. Catherick – otherwise, he would never have placed his spies there to wait for me. Smoothly and fairly as appearances looked in the vestry, there was something wrong beneath them – there was something in the register-book, for aught I knew, that I had not discovered yet. ‚I shall come,‘ I thought to myself, as I turned staunen den Namen auf dieser Seite mehrfach. Ein Blick in das Original ermöglicht jedoch die eindeutige Platzierung der Erzählunterbrechung an der angegeben Stelle, an welcher die Enthüllung wesentlich stärker ist als an den anderen möglichen Stellen. Vgl. Dickens (Hg.): All the Year Round, 1859, S. 480. 174 Collins: The Woman in White, 2003, S. 275. 175 Vgl. ebd., S. 179. 176 Vgl. ebd., S. 361. 177 Ebd. 178 Vgl.: „Collins made small but significant adjustments to the text, removing some of the rhetorical material required of a weekly serial and bridging some installments to make longer chapters.“ Sweet: „A Note on the Text“. In: Collins: The Woman in White, 2003, S. XXXVIII.

232 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION for a farewell look at the tower of the old church. ‚I shall trouble the cheerful clerk a second time to conquer the perverse look, and to open the vestry door.‘“179 [Ende von Folge 33]

Hier muss ein vierter Kommunikationsakt zur Beschreibung der Gestaltungsmöglichkeiten von Cliffhangern hinzugenommen werden. Michelson drückt in ihrem Satz eindeutig aus, dass sie vorhat etwas zu tun, es ist eine zukunftsgerichtete Aussage, eine Intention. John Langshaw Austin bezeichnete solche Sprechakte als kommissiv.180 „The whole point of a commissive is to commit the speaker to a certain course of action.“181 Die Spannung erwächst hier aus einem kommissiven Kommunikationsakt: Michelson hat vor, noch einmal zur Kirche zurückkehren, um die Geheimnisse des Kirchenregisters zu lüften. Ob und wie das in der nächsten Folge geschehen wird, erzeugt beim Rezipienten Spannung und Antizipation. Bei der Buchveröffentlichung hingegen endet das Kapitel stattdessen mit: „Smoothly and fairly as appearances looked in the vestry, there was something wrong beneath them – there was something in the register-book, for aught I knew, that I had not discovered yet.“182 Sicherlich: Diese Szene ist auch in der ganzheitlichen Version spannend. Die Heldin wird beschattet; das lässt vermuten, es gebe etwas Unerwünschtes im Register der Kirche zu entdecken. Collins aber kürzt die letzten kommissiven Sätze für die ganzheitliche Veröffentlichung, die noch zusätzlich spannen, weil sie bereits ankündigen, dass es eine Fortsetzung dieser brenzligen Situation geben, dass also die Ich-Erzählerin nicht klein beigeben, sondern sich erneut in Gefahr begeben wird. Vielleicht war ihm diese Spannungssteigerung für die ganzheitliche Veröffentlichung zu deutlich, während sie bei der seriellen Form natürlich und passend erscheint. 4.1.3 Resümee In Collins’ Fortsetzungsroman The Woman in White finden sich vorwiegend enthüllende Cliffhanger, die mit interrogativen oder kommissiven Kommunikationsakten kombiniert werden. Im Vergleich mit den analysierten Romanen Dickens’, werden

179 Collins: The Woman in White, 2003, S. 653. 180 Obwohl John Searle ansonsten alle Kategorien von Austin überarbeitet und neu bezeichnet, lässt er die kommissive Kategorie ‚unangetastet‘, da er der Meinung ist, dass sie den Sachverhalt perfekt beschreibt. „Austinʼs definition of commissives seems to me unexceptionable“. Searle: „A Taxonomy of Illocutionary Acts“. In: Gunderson (Hg.): Language, Mind and Knowledge, 1975, S. 356. Ich stimme Austin und Searle zu und sehe auch keine Überschneidungen mit rhetorischen Begriffen, weshalb ich diesen Begriff übernehme und ihn lediglich für eine transmediale Nutzbarkeit in kommissiven Kommunikationsakt umbenenne. 181 Wilson (Hg.): A Companion to Thomas Hardy, 2009, S. 156. 182 Collins: The Woman in White, 2003, S. 503f.

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die Cliffhanger in The Woman in White wesentlich häufiger eingesetzt.183 Im Gegensatz zu Dickensʼ allmählicher Erarbeitung der Gestaltungsmöglichkeiten über mehrere Romane hinweg setzt Collins Cliffhanger bereits bei den meisten seiner seriellen Erzählungen ein und fährt damit direkt zu Beginn seines Romans The Woman in White fort. Diese Tatsachen könnten damit zusammenhängen, dass Collins von seinem Freund Dickens gelernt hat. Sicherlich ist die Anzahl und Beschaffenheit der Cliffhanger aber auch dem Genre und der Thematik geschuldet: „In The Woman in White […] few pages turn without somebody being stalked, betrayed, abducted, imprisoned, drugged, assaulted, burned alive, drowned, or stabbed.“184 Auch wenn Collins erst mit diesem Roman das Genre der sensation novel prägt, war sein Anliegen von Vornherein, einen äußerst spannenden, auf wahren Begebenheiten beruhenden Roman mit Anleihen bei der gothic novel zu schreiben.185 Die primär handlungsbezogene Spannungserzeugung ist anhand dieser Aspekte offensichtlich.186 Während Dickens wichtige Stellen seiner Romane mit Cliffhangern betont, wirkt der Einsatz der Cliffhanger bei Collins’ The Woman in White wie ein passender und darum exzessiv genutzter Bestandteil der seriell veröffentlichen sensation novel.187 Dickens 183 Bei einer Betrachtung aller 39 Erzählunterbrechungen (40 Folgen), lässt sich mindestens die Hälfte als Cliffhanger bezeichnen. 184 Sanders: „A Shock to the System, a System to the Shocks“. In: Brock (Hg.): From Wollstonecraft to Stoker, 2009, S. 62. 185 Zum realen Hintergrund von The Woman in White siehe: Sutherland: „Wilkie Collins and the Origins of the Sensation Novel“. In: Smith u. a. (Hg.): Wilkie Collins to the Forefront, 1995, S. 75–90. 186 Der Cliffhanger der 29. Folge ist besonders exklamatorisch und vorausdeutend, weil er sowohl auf den Abschluss des Romans als auch einen möglichen Tod einer der Figuren hindeutet: „‚The End is appointed; the End is drawing us on – and Anne Catherick, dead in her grave, points the way to it still!‘“ Collins: The Woman in White, 2003, S. 451. Valerie Pedlar nimmt diesen Cliffhanger als Einstieg für ihren Aufsatz über die Interpretation von The Woman in White als Stellvertreter der sensation fiction. Dieser Cliffhanger wird als typisch für die sensation fiction an den Anfang der Argumentation gestellt. Vgl. Pedlar: „The Woman in White“. In: Walder (Hg.): The Nineteenth-Century Novel, 2013, S. 68. 187 Dabei stellt Melynda Huskey in ihrem interessanten Vergleich zwischen A Woman in White und der TV-Serie Twin Peaks fest, dass es in der sensation novel nicht so sehr um die Auflösung, sondern mehr um das ‚Locken mit der Auflösung‘ geht, was dem Einsatz von Cliffhangern entspricht: „For readers, it is the act of discovering, of revealing, that drives The Woman in White, not the revelation itself. Information is less interesting to us than the thrill of finding out something we shouldn’t know. The thrill is what separates the sensation novel from the detective novel, in which knowledge has a social and moral value itself; we care to know in the sensation novel mainly because knowing will be the

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benutzt vor allem gefahrensituative Cliffhanger, wenn die Erzählperspektive nah bei den Figuren ist, wenn Pickwick eingesperrt wird und Oliver angeschossen. Ansonsten aber kann der vorwiegend auktoriale Erzähler auch vorausdeuten. Bei Collins hingegen sind wir ständig in der Nähe seiner drei Ich-Erzähler und erleben mit ihnen die Spannung, die Verdächtigungen, Enthüllungen und Gefahren.188 Anders als bei Dickens unterscheidet sich die ganzheitliche Veröffentlichung des Romans gerade bei den Cliffhangern stark von der seriellen. Die Cliffhanger werden in der Buchveröffentlichung nicht immer zu Minicliffs189 – so könnte man Cliffhanger in ganzheitlicher Narration benennen –, sondern sie werden durch Kürzungen zum Teil sehr stark in ihrer Wirkung geschmälert. Das liegt unter anderem auch daran, dass Collins im Gegensatz zu Dickens meist einsträngig erzählt und die diegetischen Fortsetzungskategorien fast alle Interruptionspunkte und die Spannweiten fast alle kurz sind. Interruptionspunkte mit kurzen Spannweiten können in der ganzheitlichen Veröffentlichung überflüssig wirken, wie das auf einen interrogativen Kommunikationsakt unmittelbare folgende „To resume. The night passed as usual.“190 demonstriert. The Woman in White ist sowohl für Collins als auch für Dickensʼ Zeitschrift All the Year Round ein großer Erfolg191 ‒ der Roman ist so erfolgreich, dass unmittelbar eine Reihe von Bühnenadaptionen folgen.192 Dickens unterstützt als Verleger den Spannungs- und Sensations-Charakter der Fortsetzungsgeschichte mit der Setzung weiterer Beiträge zu ähnlichen Themen: „The most commonly occurring themes during The Women in Whiteʼs run were crime, health and safety, and it is no coincidence that articles and stories dealing with such issues were clustered around those instalments of the novel which foregrounded revelations of crime and worrying instances of debilitated health.“193

climax of the suspenseful process of uncovering, not because anything can be accomplished once we know.“ Huskey: „Twin Peaks: Rewriting the Sensation Novel“. In: Film Quarterly, 21 (4), 1993, S. 250. 188 Vgl. Levine: „An Anatomy of Suspense“. In: Dies. u. a. (Hg.): Narrative Middles, 2011, S. 212. 189 Als Minicliff bezeichne ich im Folgenden Cliffhanger in ganzheitlicher Narration. 190 Collins: The Woman in White, 2003, S. 361. 191 Vgl. Hüttner: Wilkie Collinsʼs The Woman in White, 1996, S. 144. 192 Siehe: Pedlar: „Opening Up the Secret Theatre of Home“. In: Wilkie Collins Society Journal, 2012 (11), S. 15–33; Salah: „This Picture Has Always Haunted Me“. In: English Summary, 3 (2), 2010, S. 32–55. 193 Wynne: The Sensation Novel and the Victorian Family Magazine, 2001, S. 39. Wynne geht noch intensiver auf die enge Verzahnung zwischen Nachrichten und Narration in

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Der Erfolg wird auch in den damaligen Zeitungskritiken hauptsächlich auf Collinsʼ gekonnte Spannungserzeugung zurückgeführt.194 Die Zeitungskritiken lassen erkennen, dass damals The Woman in White einen narrativen Sog erzeugte, der unter anderem auf die zahlreichen und unterschiedlich gestalteten Cliffhanger zurückzuführen ist. 4.2

A Pair of Blue Eyes – der Ursprung der Bezeichnung?

4.2.1 Kontext: Hardys Chance Es gibt verschiedene Theorien, woher die Bezeichnung ‚Cliffhanger‘ kommt. Eine besagt, ‚Cliffhanger‘ stamme aus Zeitungskritiken zu Thomas Hardys A Pair of Blue Eyes.195 Das Werk spielt für Thomas Hardys Entwicklung als Autor eine große Rolle ‒ wird in der wissenschaftlichen Rezeption aber als eins seiner schwächeren angesehen.196 Hardys erste Romane werden zunächst nicht veröffentlicht (The Poor Man and the Lady) oder nur anonym und größtenteils mit finanziellem Zuschuss von Hardy selbst (Desperate Remedies und Under the Greenwood Tree).197 Hardy hat in diesen Büchern bereits insofern mit Serialität Bekanntschaft gemacht, als Desperate

den Ausgaben von All the Year Round ein und stellt sogar fest, dass Collins einen zweiteiligen Artikel über den französischen Polizisten Vidocq neben dem thematisch passenden Höhepunkt des Romans veröffentlichte. Vgl. ebd., S. 41. 194 Vgl. Hüttner: Wilkie Collinsʼs The Woman in White, 1996, S. 148–150. Hüttner zitiert eine Reihe von Zeitungskritiken zu The Woman in White – in allen wird vornehmlich die Spannungserzeugung hervorgehoben. Zur Spannungserzeugung und einigen Zitaten weiterer Zeitungskritiken, die ebenfalls die Spannung hervorheben, siehe: Levine: „An Anatomy of Suspense“. In: Dies. u. a. (Hg.): Narrative Middles, 2011, S. 199. 195 James Gibson behauptet gar, der Cliffhanger in A Pair of Blue Eyes „may be the first cliff-hanger in our literature“. Gibson: Thomas Hardy, 1996, S. 60. Außerdem: Hughes u. a.: The Victorian Serial, 1991, S. 12; Halperin: „Leslie Stephen, Thomas Hardy, and A Pair of Blue Eyes“. In: The Modern Language Review, Vol. 75, 1980, S. 742. 196 Siehe bspw. Thomas: „Hardyʼs ‚Romances and Fantasies‘“. In: Wilson (Hg.): A Companion to Thomas Hardy, 2009, S. 281. Charles Pettit geht in seinem Aufsatz über A Pair of Blue Eyes unter anderem den Gründen nach, warum der Roman zu der damaligen Zeit ein großer Erfolg war, aber heutzutage eher eine kleine Rolle in der Betrachtung von Hardys Werk spielt. Pettit zufolge könnte ein Grund dafür sein, dass der Roman gut in die viktorianische Zeit gepasst hat. Vielleicht, so möchte ich hinzufügen, war ebenfalls ein Grund die serielle Erstveröffentlichung, die mit einem immensen Cliffhanger für Aufsehen gesorgt hat. Siehe: Pettit: „Merely a Good Hand at a Serial?“ In: Mallett (Hg.): The Achievement of Thomas Hardy, 2000, S. S. 5. 197 Vgl. Millgate: Thomas Hardy, 1982, S. 150.

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Remedies in drei und Under the Greenwood Tree in zwei Bänden erscheint.198 Vom Tinsley Magazine erhält Hardy die Chance, erstmals einen monatlich erscheinenden Fortsetzungsroman und dazu noch unter eigenem Namen zu veröffentlichen.199 A Pair of Blue Eyes erscheint von September 1872 bis Juli 1873 in elf Folgen und im Mai 1873 als triple-decker.200 „Because serial writing was the prime source of income for Victorian novelists, Tinsleysʼ invitation gave Hardy, just turned thirty-two, the confidence to devote himself to literature full-time.“201 4.2.2 Deskription Elfride Swancourt lebt mit ihrem verwitweten Vater im fiktiven Wessex,202 an der Südküste Englands. Sie ist 19 Jahre alt, wirkt aber von den gesellschaftlichen Umgangsformen her wie eine 15-Jährige.203 Der Vater, ein 42jähriger Vikar, entstammt einer verarmten englischen Adelsfamilie. Elfride ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu dem aus einfachen Verhältnissen stammenden Stephen und seinem Mentor Henry Knight. Der Cliffhanger setzt ein am Ende der 6. Folge. Stephen will heimlich Elfride besuchen, arbeitet aber eigentlich im Ausland, um viel Geld zu verdienen und dadurch Elfrides Vater als Heiratskandidat für seine Tochter zu gefallen. Elfride will hinauf zu den Felsen an der Küste gehen, um das Dampfschiff, in dem Stephen sitzt, bereits einige Stunden vor seiner Ankunft zu beobachten, und begegnet auf dem Weg Henry Knight. Die zwei beginnen einen Spaziergang an der Steilküste entlang, trotz Stephens nahender Ankunft mit dem Schiff. Knight als älterer und gebildeter Mann will der jüngeren Elfride sein Wissen demonstrieren und die Luftströmungen an den Klippen zeigen, beugt sich dabei zu weit über den Abhang, gerät ins Rutschen, schafft es aber noch rechtzeitig, sich festzuhalten. Aufgrund des feuchten Untergrunds kann er sich allerdings nicht vom Boden abdrücken und alleine den Hang hochziehen. Elfride versucht ihm zu helfen, rutscht dabei jedoch selbst ab und landet neben ihm. Nur indem sie sich auf ihn stützt, gelangt sie wieder nach oben – allerdings um den Preis, dass Knight noch tiefer den Abhang hinunterrutscht. So befindet sich Knight nun in einer Situation, in der er Elfride zwar gerettet hat, sich selbst aber nur noch an dem letzten Gebüsch vor dem Abgrund festklammern kann.

198 Vgl. ebd., S. 152. 199 „A Pair of Blue Eyes was also Hardyʼs first attempt at a novel written specifically to be published first as a serial in a popular magazine.“ Dolin: „Introduction“. In: Collins: A Pair of Blue Eyes, 2009, S. XIII. 200 Vgl. http://www.oxforddnb.com/view/article/33708 [vom1201.2014]. 201 Ebd. 202 Siehe Fußnote 221 zur Bedeutung von Wessex für die Romane von Thomas Hardy. 203 Vgl. Hardy: A Pair of Blue Eyes, 2009, S. 24.

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„[S]he turned away wildly to run for assistance. ‚Elfride, how long will it take you to run to Endelstow and back?‘ ‚Three-quarters of an hour.‘ ‚That wonʼt do; my hands will not hold out ten minutes. And is there nobody nearer?‘ ‚No; unless a chance passer may happen to be.‘ ‚He would have nothing with him that could save me. Is there a pole or stick of any kind on the common?‘ She gazed around. The common was bare of everything but heather and grass. A minute – perhaps more time – was passed in mute thought by both. On a sudden the blank and helpless agony left her face. She vanished over the bank from his sight. Knight felt himself in the presence of a personalized loneliness.204 [Ende von Folge 6]

Die Cliffhanger-Auflösung ist nicht weniger spannungsgeladen und detailliert. Hardy lässt seinen Helden Knight und mit ihm den Rezipienten einige Seiten lang im Ungewissen – jedoch nicht ohne eine Vorausdeutung auf eine mögliche Rettung zu geben. „He still clutched the face of the escarpment – not with the frenzied hold of despair, but with a dogged determination to make the most of his every jot of endurance, and so give the longest possible scope to Elfrideʼs intentions, whatever they might be. [...] Knight pondered on the meaning of Elfrideʼs hasty disappearance, but could not avoid an instinctive conclusion that there existed but a doubtful hope for him. As far as he could judge, his sole chance of deliverance lay in the possibility of a rope or pole being brought; and this possibility was remote indeed.“205

Währenddessen bemerkt Knight, dass in dem Felsen an dem er hängt, ein Fossil in den Stein eingeprägt ist. In Angesicht des Fossils wird die Frage, ob diese Situation auch Henrys Tod bedeuten wird, explizit gestellt: „By one of those familiar conjunctions of things wherewith the inanimate world baits the mind of man when he pauses in moments of suspense, opposite Knightʼs eyes was an imbedded fossil, standing forth in low relief from the rock. [...] Separated by millions of years in their lives, Knight and this underlying seemed to have met in their place of death.“206

„[W]hen he pauses in moments of suspense“ beschreibt die Funktion des Cliffhangers. Immer wieder werden die Fragen nach möglicher Rettung oder nahendem Tod formuliert. „Was he to die? [...] He had hoped for deliverance, but what could a girl do? He dared not move an inch. Was death really stretching out his hand? The previous sensation, that it was improbable he would die, was fainter now. However, Knight

204 Ebd., S. 197f. 205 Ebd., S. 199. 206 Ebd., S. 200f.

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was still clung to the cliff.“207 Die Spannung wird zusätzlich dadurch gesteigert, dass es anfängt zu regnen und die wiederholte Nachfrage, wie lange er noch aushalten könne: „Each drop was virtually a shaft, and it pierced him to his skin.“208 Auch wird die Gefahr und Dramatik der Situation deutlich gemacht, als Knight in den Abgrund schaut. Seine visuelle Beschreibung wird wiedergegeben: das schwarze, stürmische Meer und die Tiefe, die auf ihn anscheinend wartet. Abbildung 2: Bildliche Hervorhebung

John Abbot Pasquier: Elfrides Attempt to Help Knight. In: Tinsley Magazine, Vol. XI, Seite 208, Februar 1873.

Als Knights Kräfte deutlich nachlassen und er kurz davor ist, seinen Tod zu akzeptieren, erscheint Elfride über ihm: „At that moment of taking no more thought for this life, something disturbed the outline of the bank above him. A spot appeared. It was the head of Elfride.“209 Die Rettung wird ebenfalls detailliert beschrieben, hinausgezögert, mit Risiken und Komplikationen versehen. Das mysteriöse Verschwinden Elfrides wird dadurch aufgelöst, dass sie ihr Unterkleid aus weißem Leinen zerrissen hat, um daraus ein Seil für Knights Rettung zu knoten. Knights Kräfte müssen noch reichen, damit Elfride genug Zeit hat, die Stoffstreifen zu verknoten – Knight hat glücklicherweise durch Elfrides Rückkehr neue Kraft und Hoffnung geschöpft, um

207 Ebd., S. 201f. 208 Ebd., S. 201. 209 Ebd., S. 203.

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diese zusätzliche Zeitspanne an der Klippe auszuharren. Er bittet sie sogar, noch etwas von der knappen Zeit darauf zu verwenden, die Festigkeit der Knoten zu prüfen, wobei sich herausstellt, dass tatsächlich ein Knoten nicht gehalten hätte. Nach kurzer Prüfung bindet sie sich schließlich das Seil um ihre Hüfte – eine Ausführung, die Knight ihr nicht zu unterbreiten wagt,210 weil die Gefahr besteht, dass sie vielleicht seinem Gewicht nicht gewachsen ist und sie auf diese Weise beide in den Abgrund stürzen. Das Unterfangen gelingt aber. Erst am Ende des Kapitels sind die beiden auf dem Felsen in Sicherheit. 4.2.3 Kategorisierung und Analyse „The scene on the Cliff without a Name in Chapters 21 and 22 is high drama, breaking with terrific force into the low-key comedy of manners. And it is very effective purely as dramatic action“.211 Die Vorbereitung des Cliffhangers fällt sehr ausgiebig aus. In einzelnen Etappen wird die Situation immer bedrohlicher und damit die Spannung immer größer. Zunächst nimmt man als Rezipient an, dass Knight sich bald wieder aus der kaum gefährlichen Lage befreien kann. Nach und nach – durch Elfrides und das dadurch bedingte weitere Abrutschen Knights – steigert sich die gefährliche Situation zu einer lebensbedrohlichen, die im Augenblick der größten Ausweglosigkeit unterbrochen wird. Die Gefahr hat sich dermaßen hochgeschaukelt, dass keine Hilfe mehr möglich erscheint. Die „personalized loneliness“, in der Knight zurückgelassen wird, dieser letzte exklamatorische Kommunikationsakt vor der Unterbrechung, spiegelt sich auch auf den Leser, der mit diesem Cliffhanger vom Text allein gelassen wird. Der Cliffhanger ist nicht nur außergewöhnlich ist seiner langen Vorbereitung. Auch die Ausweglosigkeit setzt sich aus verschiedenen, vom Text ausgiebig beschriebenen Faktoren zusammen, welche die Wirkung des Cliffhangers verstärken: Erstens gibt es für Knight nur noch diese eine Möglichkeiten sich festzuhalten – ohne Hilfe kann er nicht mehr hochklettern. Zweitens ist das nächste Haus zu weit entfernt, um Hilfe zu holen. Drittens gäbe es, selbst wenn jemand rechtzeitig käme, keine Hilfsmittel, um Knight hochzuziehen – in der näheren Umgebung finden sich keinerlei Stöcke oder andere hilfreiche Gegenstände. Gleichsam ist Elfrides plötzliches und wortloses Verschwinden geheimnisvoll und deutet womöglich an, dass es vielleicht eine vom Text bisher ungenannte Rettungsmöglichkeit für Knight gibt. Wie bei allen bisher analysierten gefahrensituativen Cliffhangern ist auch dieser von kurzer Spannweite und wird direkt am Interruptionspunkt fortgesetzt. Die Auflösung wird ähnlich dramatisch und ausführlich angelegt wie der Cliffhangermoment. Auch hier ist bemerkenswert, mit welchen zusätzlichen Gefahren die Situation 210 Vgl. ebd. 211 Pettit: „Merely a Good Hand at a Serial?“. In: Mallett (Hg.): The Achievement of Thomas Hardy, 2000, S. 11.

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ausgeschmückt wird. Zunächst ist es der Regen, der es Knight immer schwerer macht, auszuharren; dann lassen seine Kräfte nach und er steht kurz davor aufzugeben. Sogar das von Elfride geknotete Seil birgt zahlreiche Gefahren: Die Knoten könnten nicht halten, was sie sich beim Test sogar bewahrheitet. Anschließend besteht die Gefahr noch darin, Elfride könnte dadurch, dass sie das Seil um ihre Hüfte bindet, mit hinuntergezogen werden. Abgesehen von der Dramatik und dem Aufbau des Cliffhangers ist er auch auf der allegorischen Ebene außergewöhnlich. Der Held mit dem sprechenden Namen Knight schaut im Moment der Todesgefahr („pauses in moments of suspense“)212 auf ein Fossil, ein totes Lebewesen. „Separated by millions of years in their lives, Knight and this underling seemed to have met in their place of death.“213 Dies kann als Verbildlichung für den gefahrensituativen Cliffhanger schlechthin gedeutet werden, bei dem jedes Mal der ‚edle Ritter‘, der Held in das Angesicht des Todes schaut, der in diesem Fall von einem toten Lebewesen personifiziert ist. Es wird nicht nur ausführlich beschrieben, wie Knight hinabblickt in den Tod, der auf ihn im Abgrund wartet, sondern er schaut auch horizontal auf den Tod ‒ er kann der Auseinandersetzung mit dem Sterben (bildlich) nicht entkommen.214 Die Inszenierung des Cliffhanger hat ein starkes selbstreflexives Moment, in dem die Bedeutung des gefahrensituativen Cliffhanger ‒ Konfrontation mit dem Tod ‒ im Cliffhangermoment selbst behandelt wird. „At first, when death appeared improbable because it had never visited him before, Knight could think of no future, nor of anything connected to his past.“215 Dies wird dadurch ermöglicht, dass der Cliffhanger nicht sofort wieder aufgelöst wird, die Zeit des Hängens aber auch nicht übersprungen wird, sondern das Hängen selbst, die Zeit des Wartens und Bangens dargestellt und erfahrbar gemacht wird. Die Zeit im Angesicht des ‚versteinerten Todes‘ ‒ das langsame Verstreichen und die stets wiederholte Hinauszögerung des Endes ‒ wird künstlerisch gesteigert und inhaltlich reflektiert. Die Gedanken und vor allem die Ängste während des ‚Klippenhängens‘ nehmen genauso viel Erzählraum rein wie der dramatische Aufbau, die Vorbereitung und langsame Auflösung des Cliffhangers. Das Fossil beschreibt auch bildlich den Moment eines Cliffhanger: Das Festhalten eines Moments, der unterbrochen und damit eingefroren wird. Auf diese Weise kann der Moment im Gedächtnis behalten, also wie das Fossil konserviert werden. 212 Hardy: A Pair of Blue Eyes, 2009, S. 200. 213 Ebd., S. 200f. 214 „The trilobite eye attracts critics’ attention primarily because it depicts a thematic tension essential to Hardyʼs work: the balance among the individual; the old, earthy world of Wessex; and an indifferent, or at least vast and inscrutable, universe.“ Cronin: „As a Diamond Kills an Opal“. In: Victorians Institute Journal, 1998 (26), S. 140–141. 215 Hardy: A Pair of Blue Eyes, 2009, S. 199.

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Auch für die Entwicklung und Darstellung der zwei Figuren Elfride und Herny Knight ist der Cliffhanger äußerst bedeutungsvoll. Für Knight stellt dieser Cliffhanger eine Auseinandersetzung mit der Natur dar.216 „Henry Knight is obviously a sophisticated member of the all-male social ‚club‘ of mid-Victorian amateur scientists“.217 Sein Glauben an die Beherrschung der Natur durch den menschlichen Geist, vor allem die daraus erwachsene Überheblichkeit, der jüngeren Elfride leichtfertig die Luftströmungen an der Klippe demonstrieren zu wollen, führt zu der lebensgefährlichen Situation. Er meint mit seinem Intellekt, die Natur richtig einzuschätzen, sodass keinerlei Gefahr aufkommt. Als er von der Luftbewegung überrumpelt wird, befindet er sich plötzlich in einer Situation, in der er einer Frau vollkommen ausgeliefert ist. „The world was to some extent turned upside down for him.“218 Der Mann, von dem im Cliffhangermoment gesagt wird, er sei ein guter Geologe,219 schaut einem geologisch konservierten Leichnahm in der Form eines Fossils ins Auge. „He [d.i. Knight] could only look sternly at Nature’s treacherous attempt to put an end to him, and strive to thwart her.“220 Die Natur wird als Antagonist dargestellt, die ihm nach dem Leben trachtet.221 216 Vgl. Kramer: „An Agnostic Cliffhanger“. In: The Thomas Hardy Journal, 2006 (22), S. 206. 217 Gossin: Thomas Hardyʼs Novel Universe, 2007, S. 126. 218 Hardy: A Pair of Blue Eyes, 2009, S. 202. 219 Siehe: „Knight was a fair geologist“. Ebd., S. 200. 220 Ebd., S. 199. 221 1971, zwei Jahre vor der Veröffentlichung von A Pair of Blue Eyes erscheint Darwins The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex. Häufig wird in den Interpretationen Darwins Theorie als Folie für die Interpretation des Cliffhangers genommen. Siehe: Clough: „Hardyʼs Trilobite“. In: The Thomas Hardy Journal, 4 (2), 1988, S. 29–31; Ward: „A Pair of Blue Eyes and the Descent of Man“. In: The Thomas Hardy Year Book, 1975 (5), S. 47–55. Diese Interpretationen gehen mir zum Teil zu weit, da es meines Erachtens nicht so sehr um ein „Survival of the fittest“ geht (so fängt bspw. Beer Gillian seine Analyse von Hardy’s Romanen auf der Folie von Darwins Theorie mit der Aussage an: „Fear is, in the Victorian anthropological sense, a ‚survival‘.“ Beer: Darwinʼs Plots, 2009, S. 220). Hardy betonte selbst, dass es ihm nicht um eine Darstellung einer bestimmten Wissenschaftsphilosophie ging (vgl. Gossin: Thomas Hardyʼs Novel Universe, 2007, S. 124). Wesentlich passender erscheint eine Interpretation im Licht von Hardys WessexRomanen. Under the Greenwood Tree, The Return of the Native, The Woodlanders und A Pair of Blue Eyes spielen in der von Hardy erfundenen englischen Grafschaft Wessex (benannt nach dem angelsächsischen Königreich Wessex). In all diesen Romanen geht es um eine intensive Darstellung der und eine Auseinandersetzung mit der Landschaft des südwestlichen Englands. Kay-Robinson (Hg.): Hardyʼs Wessex Reappraised, 1972. (Für die Wessex-Orte, von denen A Pair of Blue Eyes handelt, siehe vor allem Seite 243f.).

242 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „When he [d.i Henry Knight] ‚spitted‘ on a rock, the rarefied serenity of his London chambers will seem like a distant dream. Knightʼs marine aquarium, in which nature is trapped and prettified for the wandering eye, sharply contrasts with the untamed sea that lashes the foot of the cliff, waiting to consume him if he should slip and fall.“222

Für die Figur der Elfride stellt der Cliffhanger eine plötzliche Reifung dar. Henry Knight ist im „erotic triangle“223 aus Elfride, Stephen Smith und ihm selbst bisher die Spitze ‒ er steht über den anderen zwei, weil er der Älteste, Reichste und gesellschaftlich Angesehensten von ihnen ist. Aber nun muss Knight ganz einer jüngeren, weniger gebildeten Frau vertrauen: „Knight finds himself in a position where he must trust in that which, to him, is unknown: this woman.“224 Das ausgerechnet er von dem ‚Mädchen‘ gerettet wird, verschiebt die Positionen: Elfride stellt sich über die Männer. Sie erkennt in diesem Moment die Ernsthaftigkeit der Lage und ist geistesgegenwärtig genug, die Prioritäten richtig zu setzen. Ihr kommt der Einfall, ihr Unterkleid als Seil zu benutzen. Sie nimmt in dieser Situation von deplatzierter Schamhaftigkeit Abstand und tut ‒ ganz dem Verhalten eines Helden entsprechend ‒ was getan werden muss. Weiterhin erkennt sie, dass das Seil um ihren Körper zu binden die einzige Möglichkeit ist, Knight hochzuziehen. Knight hingegen verharrt in standesgemäßem Denken: Er kommt nicht auf die Idee der Seilproduktion aus dem Unterrock und wagt nicht, ihr den Vorschlag zu machen, dass sie dieses Seil um ihren Körper bindet. Dass sie das Unterkleid benutzt, kann sexuell insofern gedeutet werden, dass der Pragmatismus, den Elfride an den Tag legt, auch zeigt, dass ihr Geist und ihr Körper mit einem Mal erwachsen sind. Auch die Überschrift des Auflösungs-Kapitels macht deutlich, dass sie die Heldin und jetzt eine Frau ist: „A Womanʼs Way.“225 Der Held ist im Angesicht des personifizierten Todes erstarrt, während die Heldin über sich selbst hinauswächst. Aber die zwei Figuren haben durch dieses kathartische Erlebnis auch festgestellt, wie sehr ihnen aneinander liegt: „Elfrideʼs dramatic rescue of Knight trough the removal of her underclothes reveals not just ‚womanʼs wit‘ but a depth of passion, and despite the conventions of Victorian family fiction, the two fly into each otherʼs arms when the rescue is completed, even though Elfride is wearing ‚absolutely nothing‘ but ‚her diaphanous exterior robe‘ or ‚costume‘.“226 Siehe auch: Cronin: „‚As a Diamond Kills an Opal‘“. In: Victorians Institute Journal, 1998 (26), S. 125. 222 Radford: Thomas Hardy and the Survivals of Time, 2003, S. 49. 223 Vgl. Mallett: „Hardy and Masculinity: A Pair of Blue Eyes and Jude the Obscure“. In: Morgan (Hg.): The Ashgate Research Companion to Thomas Hardy, 2013, S. 390. 224 Kramer: „An Agnostic Cliffhanger“. In: The Thomas Hardy Journal, 2006 (22), S. 203. 225 Hardy: A Pair of Blue Eyes, 2009, S. 199. 226 Pettit: „Merely a Good Hand at a Serial?“. In: Mallett (Hg.): The Achievement of Thomas Hardy, 2000, S. 11.

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4.2.5 Schlussfolgerungen In keiner der Quellen ist ersichtlich, dass der Begriff ‚Cliffhanger‘ wirklich von Hardys Publikum, Kritikern oder Hardy selbst benutzt wurde, um die Stelle in A Pair of Blue Eyes zu beschreiben.227 Fest steht aber, dass dieser Moment ein gefahrensituativer Cliffhanger par excellence ist. In diesem paradigmatischen Cliffhanger wird zusätzlich selbstreflexiv der Gefahrenmoment und die damit verbundene Erzähltechnik behandelt. Der Held befindet sich in einer Situation, in der der Tod aufgrund zahlreicher beschriebener Faktoren unabwendbar erscheint. Sowohl die lebensbedrohliche Situation als auch die Rettung werden mit zahlreichen Details und zusätzlichen Gefahrenquellen ausgeschmückt. Die Spannung ergibt sich zu einem großen Teil aus den die Situation verkomplizierenden und dadurch brenzlig gestaltenden Beschreibungen und den Risiken der Rettung. Im Fall von A Pair of Blue Eyes kommt hinzu, dass die unmittelbare Gefahr und die immer auswegloser erscheinende Situation völlig unerwartet kommen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Roman sehr handlungsarm: „And crucially, in the gentle world of this romantic comedy of manners, with a background accurately but rather detachedly described from the real, nothing happens. That is, there is virtually no action outside the scope of ordinary everyday events.“228 Die Romanstelle ist in einem nüchternen, realistischen Ton gehalten. Gerade der massive Bruch mit der bisherigen spannungsarmen Handlung, sowie die sachliche und dadurch realistisch erscheinende Beschreibung der Situation potenzieren den Schock, dessen Wirkung innerhalb einer seriellen Veröffentlichung noch viel größer gewesen sein muss: Die Erzählpause betrug einen Monat – so lange wurde der Rezipient in der Hoffnungslosigkeit Knights zurückgelassen. Auch wenn nicht bewiesen ist, dass der Begriff ‚Cliffhanger‘ bereits damals aufkommt, ist ersichtlich, dass besonders diese Stelle einen ungeheuer großen Eindruck auf das Publikum machte. Thomas Hardy fühlt sich veranlasst, im Vorwort der 1895 erscheinenden Buchausgabe einige Bemerkungen über die inzwischen berühmte Klippe zu machen.229 Die Funktion des Cliffhangers wird sogar in späteren Ausgaben (auch wenn es sich nicht um ein serielles Format handelt) weiterhin verstärkt, indem

227 Dass damals schon die Stelle für Aufsehen sorgte, beweist unter anderem, dass diese Passage in einer Kompilation ausgewählt wurde: „When a collection of literary extracts was compiled in 1882-83 under the title Gleanings from Popular Authors, Grave and Gay, the two Hardy pieces included were ‚The Christmas Choir‘ (from Under the Greenwood Tree) and ‚Love will Find out the Way‘, the scene from A Pair of Blue Eyes in which Elfride rescues Knight from the Cliff without a Name.“ Ebd., S. 4–5. 228 Ebd., S. 10. 229 Vgl. Hardy: A Pair of Blue Eyes, 2009S. 3. Vermutlich ist die Klippe ohne Namen Beeny Cliff. Siehe: ebd., S. 357 (Explanatory Notes).

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Hardy bei der Beschreibung der Klippe die Längenangaben verändert und damit die ‚Dimensionen der Gefahr‘ vergrößert.230 Die Romanstelle führt nach wie vor zu Spekulationen in der Wissenschaft, was Hardy zu dieser Stelle inspiriert haben mag.231 Doch ist weder die Inspirationsquelle von großem Zugewinn für diese Arbeit, noch ob bereits hier der Begriff ‚Cliffhanger‘ fiel oder aufkam. Wichtiger sind drei Aspekte, die bisher in der Forschung zu der Romanstelle nicht von essentieller Bedeutung waren. 1. Hardy ist bis zu diesem Punkt kein erfolgreicher Autor, sondern ein unglücklicher Architekt, der gerne vom Schreiben leben können will. A Pair of Blue Eyes und vor allem auch das Format des Fortsetzungsromans würde ihm ermöglichen ‒ wenn die Publikation von Erfolg gekrönt wäre ‒ endlich dieses Ziel zu erreichen.232 Die seriellen Formate eröffnen den meisten Autoren eine Möglichkeit zu konstantem Einkommen. So wie Dickens anfänglich Vorbehalte gegenüber dem Fortsetzungsroman hat, so äußert sich auch Hardy ähnlich in einem Brief: „Perhaps I may have higher aims some day, and be a great stickler for the proper artistic balance of the completed work, but for the present circumstances lead me to wish merely to be considered a good hand at a serial.“233 Hinter Hardys Sätzen könnte nicht nur der Wunsch nach Glück, sondern auch seine Erkenntnis stehen, dass das Schreib-Handwerk („a good hand“) beim Fortsetzungsroman wichtig ist, um davon leben zu können.234 Das zum Schreib-Handwerk eines Fortsetzungsromans ein Cliffhanger gehört, ist ihm womöglich bewusst und sichert ihm wirtschaftlichen Erfolg und damit die Existenz als Autor. In diesem Kontext hat die

230 Vgl. ebd., S. 369 (Explanatory Notes). 231 Vgl. Halperin: „Leslie Stephen, Thomas Hardy, and A Pair of Blue Eyes“. In: The Modern Language Review, Vol. 75, 1980, S. 738; Jacobus: „Hardyʼs Magian Retrospect“. In: Kramer u. a. (Hg.): Critical Essays on Thomas Hardy, 1990, S. 41. 232 Millgate: Thomas Hardy, 1982, S. 150. 233 Millgate u. a.: The Life and Work of Thomas Hardy, 1985, S. 102. 234 Vielleicht könnte man sogar so weit gehen wie Charles Pettit, der behauptet, dass dieser Cliffhanger gar so etwas wie ein entscheidender Erkenntnispunkt für Hardy als Schriftsteller ist: „On one level Hardy is demonstrating his mastery of one of the basic conventions of serial-writing, for his ending of the February episode […] is an archetypal cliffhanger. No doubt it succeeded in encouraging people to buy the next number of Tinsleyʼs Magazine, to see what happened. […] But this is not an isolated piece of fine writing; it is rather as if something in this scene finally sparked Hardy’s creativity into life, so that the whole of the rest of the novel is far more effective that the first section.“ Pettit: „Merely a Good Hand at a Serial?“. In: Mallett (Hg.): The Achievement of Thomas Hardy, 2000, S. 10.

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Setzung eines Cliffhangers eine besondere Bedeutung: Der Cliffhanger kann Leser an den seriellen Makrotext binden. Die erfolgreiche serielle Veröffentlichung kann wiederum einen regelmäßigen und gesicherten Lebensunterhalt bedeuten, was Hardys Traum von der beruflichen Existenz als Schriftsteller in Reichweite rückt. „Successful serialization was a very effective way of generating income for a writer and sustaining that income over a long period.“235 2. Die vom Cliffhanger unterbrochene diegetische Situation lässt sich allegorisch als Selbstreflexion der Erzähltechnik lesen: Das Einfrieren des Moments im Angesicht des Todes ist gespiegelt in der Betrachtung des Fossils. Der Held kämpft gegen die Natur, gegen den vom Fossil verkörperten Tod, gegen die Gefahren und Widerstände, die ihm in den Weg gestellt werden. 3. Auch die Auflösung des Cliffhangers ist erstaunlich: Der gebildete und erfahrene Held ist wie das Fossil letztendlich ‚versteinert‘ im Angesicht des Todes. Eine Frau zieht den Helden aus dem Abgrund, indem sie aus ihrer Unterwäsche ein Seil knotet. Dieser Umstand erinnert motivisch an die Rettung Schahriyars durch Schahrasad. Die Intelligenz und Weisheit, aber vor allem die Selbstlosigkeit der Heldin ermöglichen die Rettung. Schahrasad opfert sich für das Königreich. Elfride entblößt sich wortwörtlich und bindet das Seil um ihren eigenen, dadurch in Gefahr geratenden Körper, damit die Bergung gelingen kann. Die 19-Jährige, die wie eine 15-Jährige wirkt, wächst durch die Gefahrensituation über sich selbst hinaus und rettet den als „Knight“ benannten Helden.

5. F AZIT

UND

AUSBLICK

5.1 Der Einsatz von Cliffhangern im viktorianischen Fortsetzungsroman Der Cliffhanger ist fester Bestandteil der seriellen Erzähltechniken des viktorianischen Fortsetzungsromans.236 Diese Tatsache ist bisher nie nachgewiesen worden. Er

235 Eliot: „The Buisness of Victorian Publishing“. In: David (Hg.): The Cambridge Companion to the Victorian Novel, 2012, S. 45. 236 Dass sich auch in weniger bekannten Fortsetzungsromanen Cliffhanger finden lassen, beweist zum Beispiel George Eliots Romola (Juli 1862 bis August 1863). Die Wendepunkte der Erzählung sind immer am Ende einer Folge zu finden. „Though not all turning points in Romola’s plot came at the conclusions of monthly numbers, a great many did.“ Hughes u. a.: The Victorian Serial, 1991, S. 86. Am wichtigsten Wendepunkt, als Romola schließlich ihrem Ehemann Tito und Florenz den Rücken kehrt, bleibt unklar, ob sie sich wirklich Venedig zuwendet oder umkehrt. Vgl. Eliot, George: Romola, 1863, S. 35.

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taucht jedoch nicht am Ende jeder Folge auf und selten in einem für den Protagonisten so explizit lebensgefährlichen Augenblick wie bei A Pair of Blue Eyes. Das bloß gelegentliche Aufkommen ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen. Zum einen ist der Fortsetzungsroman eine noch relativ neue Veröffentlichungsform. Besonders deutlich wird dies bei den Vorläufern Poor Robin’s Memoirs, The London Spy und selbst noch in den The Pickwick Papers, in denen hauptsächlich episodisch erzählt wird und nur einige Techniken des Fortsetzungsromans anklingen. Wie anhand der Analyse von Pickwick Papers, Oliver Twist und Bleak House ersichtlich, muss selbst Dickens, der vor allem mit den shilling numbers dem Fortsetzungsroman zu großem Erfolg verhilft, erst die Möglichkeiten und Techniken des fortgesetzten seriellen Erzählens entdecken. Zum zweiten ist der Cliffhanger – davon ist zumindest auszugehen – noch keine Erzähltechnik, die mit einem Begriff benannt und dadurch umrissen ist. Die Cliffhanger avant la lettre werden nicht bewusst als unter der Bezeichnung ‚Cliffhanger‘ eingesetzte Erzähltechnik gebraucht – das beweist auch Dickensʼ Wort „picture“ –, sondern sie ergeben sich aus den Bedingungen und Charakteristiken der seriellen Fortsetzungsnarration jener Zeit.237 Zum dritten sind nicht alle viktorianischen Fortsetzungsromane auf vordergründige, handlungsbezogene suspense aus – in ihnen werden dementsprechend selten gefahrensituative und stattdessen häufiger vorausdeutende Cliffhanger eingesetzt. Dickens beispielsweise verfeinert im Laufe seines seriellen Gesamtwerks die gefahrensituativen Cliffhanger seiner ersten shilling numbers in seinen späteren Werken zu vorausdeutenden Cliffhangern mit einer langen Spannbreite; er regt damit die Leser besonders an Folgen-Enden zu ‚diegetischem Weitblick‘ und zu lang anhaltender Neugierde an. Die vorausdeutenden Cliffhanger verursachen tension durch etwas Unaufgelöstes, Latentes, das bereits in den Enden einiger Folgen angedeutet wird. In Collinsʼ Werk, das zur sensation fiction passt und auch Elemente einer DetectiveNovel hat, finden sich im Gegensatz zu Dickens zahlreiche enthüllende Cliffhanger. Das vermehrte Aufkommen enthüllender Cliffhanger ist auch als Bestandteil und Notwendigkeit der genrespezifischen Bedingungen der sensation fiction zu sehen. Insgesamt ist wie bei A Pair of Blue Eyes ersichtlich, dass in den viktorianischen Fortsetzungsromanen selten ‚eine Inflation an Cliffhangern‘ wie in der Seifenoper oder den Kinoserien gebraucht wird, sondern die Spannungsmomente auf wichtige und dramatische Momente konzentriert werden. Durch die Setzung weniger Cliffhanger, dafür aber an bedeutenden Wendepunkten für die Geschichte als Ganzes, 237 Die Viktorianischen Fortsetzungsromane werden sehr häufig in England als Mini-Serie verfilmt. Häufig wird dabei auf die bereits im Text angelegten Cliffhanger gesetzt. Vgl. zum Beispiel für die Verfilmung von The Woman in White: Case: „The Woman in White“. In: Time Out, 1426 (1997), S. 30–31.

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werden diese Stellen mithilfe der Erzähltechnik zusätzlich hervorgehoben. Der Cliffhanger ist hier Mittel zur Pointierung im Werk angelegter Handlungshöhepunkte – und keine fortwährende suspense um ihrer selbst willen. Ob nun der Begriff ‚Cliffhanger‘ zum ersten Mal in Rezensionen zu A Pair of Blue Eyes aufkommt oder nicht ‒ der gefahrensituative Cliffhanger in diesem Werk ist außergewöhnlich. Zum einen ist die dramatische Vorbereitung und Auflösung des Cliffhangers besonders, weil sie in mehreren Stationen stattfindet, was die Spannung erheblich erhöht. Zum zweiten ist aber auch die allegorische Ebene des Cliffhangers bedeutend, weil hier ‒ nach 1001 Nacht vielleicht zum ersten Mal ‒ selbstreflexiv die Erzähltechnik intradiegetisch behandelt wird. 5.2 Wegweisungen Dass der Cliffhanger im viktorianischen Fortsetzungsroman eine Entwicklung durchlebt, kommt dadurch zustande, dass die Serialisierung von Literatur zu jener Zeit eine Blüte erlebt.238 „[S]erialization was not new to the Victorian era. But that serialization became pervasive in the Victorian era, making the erudite Thomas Arnold consider it a new phenomenon in the 1830s, suggests that something in the culture of the time made it especially receptive to the serial. Of course, rising literacy rates, urbanization, and growing prosperity played an essential role in making the serial a characteristic nineteenth-century form. But beyond the fact that serialization made literature more affordable to a mass audience, the serial was attuned to the assumptions of its readers.“239 238 Diese Blüte der Serialität blieb nicht auf Prosa allein beschränkt.„Serialization became so prominent, in fact, that a substantial body of poetry also appeared serially.“ Hughes u. a.: The Victorian Serial, 1991, S. 3. Linda K. Hughes und Michael Lund stellen bei Robert Brownings Gedicht The Ring and the Book, das in vier Teilen ab November 1868 erschien, fest: „Finally, the pause in publication shored up the importance of the second and third monologues.“ Ebd., S. 97. Wenn auch kein Cliffhanger, so konnte auch bei Gedichten die Publikationspause wichtige Gedichtpassagen hervorheben, indem auch ‚zeitlicher Raum‘ gegeben war, die bisher veröffentlichten Passagen wirken zu lassen und zu interpretieren. 239 Ebd., S. 4. Linda Hughes und Michael Lund spüren in ihrem Buch The Victorian Serial den Ursachen für diese Blüte nach. Sie sehen die Gründe für die außergewöhnliche Popularität der seriellen Narration im allgemeinen Lebensrhythmus der viktorianischen Zeit: „In fact Victorians’ complete ideology of home, in and out of literature, suggested a larger, gradually occurring and nonreversible sequence that embraced not only engagement and marriage but also the begetting and raising of children, the emergence into later maturity and grandparenthood, and then death that itself led to ongoing spiritual life in

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Diese Blüte weist bereits einige wichtige, mit dem Cliffhanger eng verbundene Komponenten späterer serieller Fortsetzungsnarration auf: den Dialog zwischen Leserund Autorschaft, das Zusammenspiel von Bild und Text, die Werbung in serieller Narration und die ‚Weiterverwertung‘ der plots erfolgreicher serieller Publikationen. 5.2.1 Der Dialog zwischen Leser- und Autorschaft Bereits in der viktorianischen Zeit stellt sich eine Kommunikation zwischen Rezipienten- und Produktionsseite von Fortsetzungsnarration ein.240 Leserbriefe an die Autoren, eine häufig wie bei Dickens nur wenig der Publikation vorauseilende Produktion, sowie eine Kommentierung der letzten Folge durch die Zeitungen – all diese Faktoren führen zu einem steten Dialog.241 Dickens, Collins und Co. können sich in den zahlreichen Briefen ihrer Leserschaft und den Zeitungsartikeln über die Wünsche der Leserschaft informieren, wie sie die Spannungsauflösungen antizipiert, was sie besonders schockiert und in Atem hält.242 Zumindest Dickens kann, weil er mit der Niederschrift nur etwa zehn Tage der Veröffentlichung voraus ist, unmittelbar auf

which, many Victorians fervently hoped, personal relationships persisted. This larger domestic sequence chimed with the aesthetics of serialization, which presented stories unfolding in strict sequence and stages with pauses and breaks along the way until a distant (but rarely final) closure was achieved.“ Ebd., S. 17f. Diese Übertragung der viktorianischen ‚Ideologie eines Zuhauses‘ – falls es überhaupt wirklich eine solche, allgemeingültige und heute noch nachvollziehbare Ideologie gab – auf die Serialität in der Literatur zu übertragen, ist teilweise nachvollziehbar, wirkt aber auch gewagt. 240 Susan Belasco Smith und Kenneth Price fassen diese Beziehung für die US-amerikanische serielle Literatur passend zusammen: „The periodical – far more than the book – was a social text, involving complex relationships among writers, readers, editors, publishers, printers and distributors.“ Price u. a.: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): Periodical Literature in Nineteenth-Century America, 1995, S. 3–15. 241 Dickens intensivierte den Kontakt zu seinem Publikum durch seine zahlreichen öffentlichen Lesungen. Vgl. Andrews: Charles Dickens and his Performing Selves, 2007, S. 9. Collins und er spielten außerdem zusammen in Theaterproduktionen ihrer Werke und hatten auch auf diese Weise engen Kontakt zum ihrem Publikum. Vgl. Hotten u. a.: Charles Dickens, 1870, S. 51. 242 „Personal appeals to authors that they provide happy resolutions to plots or the return of favorite characters from disaster or even death underscore the importance of the serialʼs creation of intimacy between reader and story.“ Hughes u. a.: The Victorian Serial, 1991, S. 11.

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die Lesermeinungen reagieren.243 Das Verfolgen der Handlung und Mitfiebern mit den Akteuren der jeweiligen Erzählung wird von den Zeitungen und Zeitschriften unterstützt, welche die jeweiligen Folgen kommentieren.244 „[O]riginal serial fiction encouraged multiple reviews, which in turn stimulated more buyers. How could a reviewer do more than comment in a general way on the progress of the story, and excerpt a few choice passages, until the novel was completed? And so, month after month, journals commented briefly on Dickens’s story, and month by month more people were drawn to buy the flimsy paper parts. It became topical matter, almost like news; people asked themselves, „What were the Pickwickians doing last month?“ and hastened to their booksellers to find out.“245

Nicht nur der Kauf der nächsten Ausgabe, sondern auch die Involvierung, Einprägung und Antizipierung werden durch die Zeitungskommentare unterstützt. In den Besprechungen wird das Geschehen der letzten Folge noch einmal zusammengefasst und dadurch das Interesse der Leser wachgehalten und verstärkt. Das in den TVStudies als recap benannte Zusammenfassen des bisherigen Geschehens wird nicht vom Erzähltext, sondern von den Zeitungsbesprechungen übernommen. Die Zeitungen beteiligen sich sogar an den Mutmaßungen, wie der Abschluss der Erzählung verlaufen könnte.246 Die öffentlich geführte Diskussion über den Abschluss von Fortsetzungsromanen trägt zum Erfolg der Werke bei und intensiviert die Wirkung der Cliffhanger. Darüber

243 „He [d.i. Charles Dickens] rarely completed a monthly number much more than ten days before it was to be printed and considered being four weeks ahead of the printer his customary advance in the weekly serial.“ Coolidge: Charles Dickens as Serial Novelist, 1967, S. 49f. 244 „In the second half of the century, inexpensive Sunday newspapers like the Guardian [...] and others regularly reviewed monthly installments of fiction and poetry.“ Hughes u. a.: The Victorian Serial, 1991, S. 12. 245 Patten: Charles Dickens and His Publishers, 1978, S. 67. 246 Im Bellʼs Weekly Messenger vom 9. Juni 1855 wird beispielsweise über den möglichen Ausgang von Thackerays Fortsetzungsroman The Newcomes spekuliert: „We much fear the close will only add to the disappointment, which the last three or four numbers have engendered.“ Zitiert nach: Hughes u. a.: The Victorian Serial, 1991, S. 55f. Als der Abschluss des Romans dann veröffentlicht wird, verkündet die Zeitung: „The Newcomes is at last concluded, and just as it ought to be. Mr. Thackeray has evidently taken the greatest pain with the ending, and by so doing he has brought it to a happy termination, though many of his deeply-interested readers doubted whether he would do so.“ Bellʼs Weekly Messenger am 4. August 1855. Zitiert nach: ebd., S. 56.

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hinaus finden sich in zahlreichen seriellen Werken in der Diegese Bezüge zu jeweiligen Jahreszeit der Publikation und zu verhältnismäßig aktuellem Zeitgeschehen. 247 „Dickens incorporated seasonal references in his monthly parts. […] They [d.s. die Leser] might speculate during the month on what the Pickwickians were doing (as indeed letters of the time demonstrate), and on magazine day at the end of that month they could buy the postdated installment and discover whether their speculations were correct. Dickens’s audience certainly sensed, throughout his career, that the installments were being manufactured concurrently; people wrote letters advising the author to change his future course, and sometimes he did. When there was an interruption of routine, speculation raged just as much, if not more, than when regular periodicity was observed.“248

Es kann keine derartige Synchronizität geboten werden, wie sie heutzutage bei Fernsehserien möglich ist.249 Der Zuschauer ist ‒ soweit er auf die Folge noch nicht online oder auf einem Trägermedium zugreifen kann ‒ anders als der Leser völlig dem Publikationszeitpunkt und nicht nur einer Publikationszeitspanne ausgeliefert.250 Aber der Vorteil serieller Publikation wird bereits hier erkannt: Nur die serielle Veröffentlichung kann eine fortwährende Verknüpfung zwischen diegetischer und ‚alltäglicher‘ Lebenszeit herstellen. Erst die Erzählpause zwischen den einzelnen Folgen ermöglicht die von der Leserschaft und dem Feuilleton geführte Spekulation über den Fort- und Ausgang der Erzählung. „The time between installments in serial literature gave people the opportunity to review events with each other, to speculate about plot and characters, and to deepen ties to their imagined world.“251

247 „Pickwickʼs readers looked back beyond the previous month. There were references to older books and events.“ Patten: „Serialized Retrospection in The Pickwick Papers“. In: Jordan u. a. (Hg.): Literature in the Marketplace, 1995, S. 129. 248 Ebd., S. 128. 249 „Dickensʼs readers rarely got such up-to-the-minute synchronicity; even the Christmas books and later Christmas stories printed in Household Words and All the Year Round came out at best a week prior to the holiday.“ Ebd., S. 129. Von der britischen Serie Downton Abbey wird beispielsweise seit 2011 jedes Jahr ein Christmas Special ausgestrahlt. Das am 25.12.2011 gesendete erste dieser Art handelt vom 24. und 25.12.1919. Die Zuschauer konnten also Weihnachten mit ihren seriellen Figuren feiern. (Siehe: http://www.imdb.com/title/tt2013429/ [vom 12.12.2013]). 250 Siehe dazu: Übersicht 7, „Grundmodell serieller Narration“, S. 119. 251 Hughes u. a.: The Victorian Serial, 1991, S. 10.

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5.2.2 Bild und Schrift Ein weiteres wegweisendes Element der viktorianischen Fortsetzungsromane ist die Kombination aus Bild und Schrift. Besonders bei den Pickwick Papers ist das Zusammenwirken von Bild und Text sehr stark. Ursprünglich ist sogar geplant, den Text des unbekannten Charles Dickens den Illustrationen des bereits bekannteren Robert Seymour unterzuordnen.252 Dickens selbst bezeichnet sich als großen Bewunderer des sozialkritischen Malers und Grafikers William Hogarth ‒ sein literarischer Stil ist mit geprägt von Hogarths Bildern.253 Zu jener Zeit sind die strip narratives und comic plates sehr populär, und Dickens’ Text ist daher eher als ‚Beiwerk‘ gedacht.254 Den Verlegern ist bewusst, dass gerade Bilder die unteren Bevölkerungsschichten leichter erreichen und außerdem als Werbung für die shilling numbers eingesetzt werden können: „Illustrations often more than recouped their cost by inducing readers to buy.“255 Selbst noch als Dickens Berühmtheit erlangt hat, werden alle seine Werke illustriert. Die Bilder ergänzen den Text und haben eine einprägende und hervorhebende Funktion: Besonders der Cliffhanger-Moment – wie bei Oliver Twist und A Pair of Blue Eyes ersichtlich – wird häufig abgebildet.256 Der Cliffhangermoment wird also nicht nur durch die Unterbrechung der schriftlichen Erzählung, sondern auch aufgrund der Betonung des Moments durch eine Verbildlichung im Gedächtnis verankert. Die Illustrationen ‚öffnen‘ den Text: „Just as each individual text in its separate monthly part, single volume, or periodical installment was surrounded by other stories, it was also frequently accompanied by a visual context, illustration. This too meant that for Victorian audiences the novel or poem was not always a self-contained verbal entity but a reading process embedded in a specific material framework that shaped response. Each monthly part of a Dickens or Thackeray novel began with an illustrated cover and two full-page illustrations inspired by the thirty-two pages of text, and many novels in periodicals as late as the 1890s contained drawings to heighten involvement.“257

252 Vgl. Cohen: Charles Dickens and His Original Illustrators, 1980, S. 39–40. 253 „Dickens saw himself as the literary successor to the great artist [d.i. William Hogarth] in his own candid, unromanticized portrayal of ‚the very dregs of life‘ in Oliver Twist.“ Andrews: „Illustrations“. In: Paroissien (Hg.): A Companion to Charles Dickens, 2011, S. 97. 254 Vgl. Patten: Charles Dickens and His Publishers, 1978, S. 53. 255 Ebd., S. 54. 256 Siehe für den Abdruck und eine Interpretation aller Abbildungen von A Pair of Blue Eyes: Allingham: „James Abbott Pasquierʼs Eleven Plates for Hardyʼs A Pair of Blue Eyes in Tinsleyʼs Magazine“. In: Thomas Hardy Yearbook, 2012 (40), S. 14–48. 257 Hughes u. a.: The Victorian Serial, 1991, S. 9.

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Die Illustrationen sind wie die Fortsetzungen nur Teile der Geschichte. Sie bebildern einen kleinen Ausschnitt, einen kurzen Moment. Der Rezipient stößt, wenn er die shilling numbers vor sich hat, zunächst auf alle Abbildungen, die vor dem Text der Folge abgedruckt sind. Er findet dort also einzelne Abbildungen der über die Folge verstreuten Ereignisse, die er noch nicht kennt. Die Bilder funktionieren somit wie ein teaser: Wie es zu diesen abgebildeten Geschehnissen kommt, wie die Bilder zusammenhängen, ist dem Rezipienten zu diesem Zeitpunkt noch unklar ‒ er wird aber bereits mit Abbildungen dramatischer Ereignisse zum Lesen animiert. Da die Illustrationen meistens auf den ersten Seiten, also getrennt und vor dem Text stehen, ist das Verhältnis von Text und Bild kompliziert; es ermuntert den Rezipienten zu einer Antizipierung und späterem Rückblättern, lässt ihn aktiv werden. Das serielle Werk – also ein aus Teilen zusammengesetzter Makrotext – ist auch noch innerhalb der Folgen ein ‚Stückwerk‘: eine Zusammensetzung verschiedener Teile, die mit unterschiedlichen Zeichensystemen operieren. 5.2.3 Werbung und Weiterverwertung Werbung nimmt einen großen Teil vor allem der shilling numbers ein, findet sich aber auch in den seriellen Zeitschriften. Die Anzeigen werben sowohl für die anderen Werke desselben Verlegers258 als auch für literaturfremde Produkte: Medikamente, Nahrungsmittel, Geschäfte und ähnliches. Die Serialität ist dabei für die Firmen ein wichtiger Zugewinn: Indem sie die Anzeigenwerbung für einen ganzen Fortsetzungsroman kaufen, sind sie in jeder Folge vertreten, werden somit vom Rezipienten indirekt mit der geschätzten Lektüre verbunden und prägen sich kontinuierlich ein.259 Die Cliffhanger sind in diesem Kontext auch eine Erzähltechnik, die unweigerlich eine Bindung an die Werbung und die beworbene Marke mit hervorruft. Die Anhänge mit Werbung, supplements genannt, bringen den Verlegern zusätzliches Geld ein, was einen niedrigen Verkaufspreis ermöglicht, wodurch wiederum weitere, ärmere Kundenkreise erschlossen werden können. Wie wichtig Werbung ist, zeigt allein die Menge an Seiten: Jede shilling number von Charles Dickensʼ Dombey and Son (1846‒48) besteht beispielsweise aus 32 Seiten Erzähltext plus einem supplement von mindestens 16 Seiten Werbung.260 Die Werbung wurde nicht auf die Seiten des Erzähltextes gedruckt, es finden sich also keine Unterbrechungen innerhalb 258 Siehe bspw. für eine Analyse der seriellen Veröffentlichung von Bleak House: Steinlight: „‚Anti-Bleak House‘“. In: Narrative (2006), S. 134. 259 „Periodicity made serials good mediums for advertising.“ Schlicke: Oxford Readerʼs Companion to Dickens, 1999, S. 529. 260 Vgl. Eliot: „The Buisness of Victorian Publishing“. In: David (Hg.): The Cambridge Companion to the Victorian Novel, 2012, S. 45. Siehe bspw. für The Pickwick Papers: Williams: „Advertising and Fiction in The Pickwick Papers“. In: Victorian Literature and Culture, 2010 (38), S. 319.

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des Textes und damit auch keine Binnencliffs – anders als in späteren Zeitschriftenromanen ist noch eine klare Trennung zwischen Erzähltext und Werbung erkennbar.261 Doch auch wenn die grafische Trennung deutlich ist, so erstaunt die gegenseitige Bezugnahme von Werbung und Narration, die Andy Williams in seinem Aufsatz über die Werbung in The Pickwick Papers herausgearbeitet hat.262 Werbung und Diegese sind thematisch verknüpft und unterstützen einander in ihrer ‚Glaubhaftigkeit‘: Narration, in der beispielsweise ein fantastisches Produkt vorkommt, wirkt realistischer mit einer paratextuellen Anzeige, die für einen ähnlich funktionierendes Produkt wirbt. Emily Steinlight findet verschiedene ähnlich funktionierende Anzeigen in den shilling numbers von Bleak House.263 So wirbt beispielsweise eine BekleidungsFirma immer auf der Rückseite des Umschlags von Bleak House und stellt in der Anzeige Bezüge zu den in der Diegese und der während der Publikation herrschenden Jahreszeit her: Die erzählte Zeit und Jahreszeit der Rezeption werden sowohl von der Diegese als auch der Werbung miteinander verknüpft. Die Beispiele verdeutlichen, dass Firmen von einer Anzeigenschaltung in seriellen Werken einen dreifachen Nutzen haben: 1. Die Firma (wie im erwähnten Beispiel von Bleak House die Bekleidungsfirma) erzielt beim Rezipienten durch die stets an gleicher Stelle zu findende Werbung eine starke Gewöhnung und Einprägung. Der Rezipient assoziiert oder identifiziert sogar unter Umständen die beworbenen Produkte mit der Erzählung und der literarischen ‚Qualität‘ von Dickensʼ Erzählungen.264 2. Diegese und Werbung unterstützen einander in ihrem Anspruch auf ‚Wahrhaftigkeit‘. 3. Die „Rückkopplung zwischen Diegese und Alltag“ wird verstärkt, weil nicht nur die serielle Veröffentlichungsform immer wieder an den Alltag rückgebunden wird, sondern sich auch Dinge im Alltag finden, die ebenfalls als Werbung Teil 261 Siehe im deutschsprachigen Raum zum Beispiel zahlreiche Bücher des rororo-Verlags, in denen in der Mitte des Buches eine Seite Werbung zu finden ist, die vom Leser zunächst nicht als Werbung zu erkennen ist, sondern erst durch eine kurze Lektüre des Anzeigetextes als solche identifiziert wird. (Siehe bspw. Rondeau: In Flammen, 1989, S. 41. Siehe auch: Kapitel VII. 2.1 „Literatur als Inspiration: What happened to Mary?“, S. 301.) 262 Siehe: Williams: „Advertising and Fiction in The Pickwick Papers“. In: Victorian Literature and Culture, 2010 (38), S. S. 326. 263 Vgl. Steinlight: „‚Anti-Bleak House‘“. In: Narrative, 2006 (14.2), S. 139. 264 Dickens selbst wurde zu einer Marke, sein Name sprach für Unterhaltung und Anspruch ‒ wie passend war es da, Marken mit der literarischen ‚Marke‘ Dickens in Verbindung zu bringen: „The aim was to associate the company’s name with the eminent ‚brandname‘ of Dickens and his best-selling authorial products.“ Ebd., S. 145.

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der seriellen Veröffentlichung sind und dort sogar mit der jeweiligen Jahreszeit der Publikation korrespondieren. Zusätzlich zu Bildern und Anzeigen finden sich ebenso einige Werbe-Gedichte265 in den seriellen Veröffentlichungen ‒ beispielsweise im Supplement der Pickwick Papers. Auf diese narrative Form der Werbung wird indirekt in der Diegese von The Pickwick Papers Bezug genommen.266 Es ist auch anzunehmen, dass Dickens selbst 1832 Werbe-Gedichte verfasste.267 Trotz grafischer Separierung sind die Grenzen zwischen Werbung und Narration in einigen literarischen Fortsetzungs-Serien des viktorianischen Englands bereits verwischt – eine ähnliche enge Verbindung zwischen Werbung und Narration wird später in der Seifenoper von Relevanz sein. Die Werbung innerhalb der Folgen ist nur für die Verleger gewinnbringend. Die Autoren entdecken andere profitable, ebenfalls wegweisende Weiterverwertungsmöglichkeiten der stories und Figuren, die bisweilen an heutiges merchandising erinnern. „Dickens, Charlotte Bronte, and others had their novels dramatized. Wilkie Collins’s 1860 novel prompted sales of ‚Woman in White‘ shawls and ‚The Woman in White‘ waltz.“268 Die transatlantischen Verkäufe zwischen den USA und England zeigen bereits Anzeichen globalisierter Verkaufsstrategien und sich gegenseitig beeinflussender Verkaufsmärkte: „George du Maurier’s Trilby (1894) was greeted somewhat indifferently when it first appeared in Britain, but was a runaway success in the United States. [...] Returning to London as a stage dramatization, its popularity exploded. Lapel pins were sold in the shape of Trilbyʼs beautiful foot; there were Trilby sausages and Tribly ice-cream molds as well as the Trilby hats. The example of du Maurier’s work, moreover, shows how fiction created communities of readers which spanned continents.“269

Die Vielfalt an Veröffentlichungsformaten erlaubt eine vielfache Verwertung einer Geschichte: Der viktorianische Fortsetzungsroman wird bei besonders populären Erzählungen als shilling number, dann als Zeitschriften-Roman, anschließend als triple265 „The advertising poem was very common in the early nineteenth century.“ Williams: „Advertising and Fiction in The Pickwick Papers“. In: Victorian Literature and Culture, 2010 (38), S. 321. 266 Vgl. ebd., S. 319–321. 267 Vgl. Drew: Dickens the Journalist, 2003, S. 17–20; Williams: „Advertising and Fiction in The Pickwick Papers“. In: Victorian Literature and Culture, 2010 (38), S. S. 331. 268 Flint: „The Victorian Novel and its Readers“. In: David (Hg.): The Cambridge Companion to the Victorian Novel, 2012, S. 31f. 269 Ebd., S. 32.

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decker veröffentlicht, bevor er als ganzheitlicher Roman erscheint, der wenig später nochmals als billigerer Reprint angeboten wird. Dickens kann erst mit der seriellen Veröffentlichung Geld verdienen, dann noch einmal mit der direkt daran anschließenden ganzheitlichen Buchveröffentlichung. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts ist die Veröffentlichungshistorie erfolgreicher Romane mit den sogenannten yellowbacks (Vorläufern des Paperbacks) sowie preiswerten Reprints häufig noch länger.270 „Not every novel went through every stage, and unsuccessful novels often got no further than the three-deckers, but for a popular novel this system meant that it could exploit price elasticity to the full and, over its life, explore a range of markets.“271 Bei diesen ‚Weiterveröffentlichungen‘ werden häufig die Cliffhanger zu Binnen- oder Minicliffs oder sie werden in ihrer vorausdeutenden Tragweite geschmälert, wie es bei Collinsʼ The Woman in White der Fall ist. 5.3 Ausblick „[W]e do not always take into account how much the sheer length of time affected Victorians’ understanding of major works. Even readers in the last third of the century did not expect to complete their favourite novels in less than the year and a half of Trollope’s Phineas Finn [...], the year of Hardy’s The Woodlanders [...], the eleven months of Kiplingʼs Kim [...], or the four years of Hardy’s The Dynasts. The most commonly noted effect of the serial’s publication schedule is suspense and anticipation (inspired by the cliff-hanger), but the suspense is only part of what happened. [...] And a work’s extended duration meant that serials could become entwined with readers’ own sense of lived experience and passing time. The response to and involvement in such extended works, then, was different from what readers experience completing entire works in a few days or weeks.“ HUGHES U. A.: THE VICTORIAN SERIAL, 1991, S. 8. 270 Auch wenn vorher bereits Reprints erfolgreicher Werke üblich sind, verringert sich der Abstand zwischen Erstausgabe und Reprint ab den 1870er Jahren, weil die Verleger häufig aus ökonomischen Gründen Erstausgabe und Reprint gleichzeitig beim Drucker bestellen. Vgl. Eliot: „The Buisness of Victorian Publishing“. In: Deirdre (Hg.): The Cambridge Companion to the Victorian Novel, 2012, S. 55. 271 Ebd., S. 53.

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Auch wenn heute die Rezeption einer Geschichte über eine so lange Zeit bei literarischen Werken selten ist,272 so zeigt sich in der Rezeption von Serien-Staffeln über mehrere Jahre eine ähnliche Spanne. Wenn Seifenopern wie Marienhof (1992‒2011), Fernsehserien wie The Sopranos (1999‒2007) oder das extreme Beispiel, die amerikanische daily soap Guiding Light (1937‒2009), über viele Jahre hinweg ausgestrahlt werden, ist der Fernsehzuschauer ebenfalls für eine lange Zeit mit der Rezeption beschäftigt. Auch Roman-Reihen wie Harry Potter (1997–2007) verfügen trotz des episodischen Charakters der einzelnen Romane auch über eine fortgesetzte Narration, die erst nach zehn Jahren mit dem letzten Band abgeschlossen wird. „Dickens especially, and other serial novelists to a lesser degree, belonged to their readers. That belonging was enhanced by the gap between instalments and the long time it took for the novel to run its course; the characters and events were talked about, predictions were made, old parts were reread for clues, and in countless other ways the events in the novel became part of people’s lives.“273

Ähnlich wie die Leserschaft der Fortsetzungsromane können auch heute die Rezipienten bei seriellen Fortsetzungswerken in den Erzählpausen spekulieren und antizipieren ‒ und mit dem Internet ist dafür eine leicht zugängliche Plattform vorhanden: Fan-Austausch zu serieller Fortsetzungsnarration wurde vereinfacht, die Anlage dazu ist jedoch bereits beim viktorianischen Fortsetzungsroman gegeben. Auch wenn zahlreiche Unterschiede in der seriellen Veröffentlichung vorhanden sind, so bleibt eine Grundcharakteristik serieller Fortsetzungsnarration, dass durch den Publikationsrhythmus sich die Rezipienten nur über den bisherigen Inhalt austauschen und gemeinsam die Handlungs-Fortführung antizipieren können. Dieser durch die Publikation vorgegebene Rezeptions-Rhythmus beinhaltet, dass der Rezipient wie bei Dickensʼ Pickwick Papers die Folgen, die in einer bestimmten Jahreszeit spielen, auch zu dieser Jahreszeit veröffentlicht bekommt. Dadurch, dass erzählte und reale Zeit korrespondieren, wird eine besonders starke „Rückkopplung zwischen Diegese und Alltag“ hervorgerufen.

272 Es gibt auch heutzutage literarische Werke, deren Rezeption ein lange, teilweise sogar viel längere Zeit dauert, man denke nur an die Perry Rhodan-Reihe. Siehe: Stache: Perry Rhodan. Überlegungen zum Wandel einer Heftromanserie, 1986. Auch wenn an sich in der Perry Rhodan-Serie eine fortgesetzte Geschichte erzählt wird, ist sie in sogenannte Zyklen (meist 50 Bände) untergliedert, die in sich relativ geschlossen sind. Aber auch von dieser Abgeschlossenheit abgesehen, finden sich immer wieder Bände, die eher episodisch aufgebaut sind. Siehe bspw. Band 2648, der mit dem Satz endet: „Alles war gut.“ Montillon: Die Seele der Flotte, 2012, S.63. 273 Schlicke: Oxford Readerʼs Companion to Dickens, 1999, S. 530.

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Dickens und seine Nachfolger schaffen es mithilfe ihrer Verleger, gesellschaftliche Klassen zu überwinden. Die Veröffentlichungspraktiken der Verlage für ärmere Käufer-Schichten wie beispielsweise den Paternoster-row Numbers, gepaart mit literarischem Anspruch, und gleichfalls spannungserzeugenden seriellen Erzähltechniken – dieses Zusammenwirken lässt sie eine breitere Leserschaft erreichen. „The self-publishing Dickens brought out most of his fictions in monthly numbers, famously creating an urgent demand for each new number. This appeal crossed classes. G. H. Lewes noted for Pickwick Papers that ‚even the common people, both in town and country, are equally intense in their admiration. Frequently, have we seen the butcher-boy, with his tray on his shoulder, reading with the greatest avidity the last ‚Pickwick‘; the footman [...], the maidservant, the chimney sweep, all classes, in fact, read ‚Boz‘.“274

Der Cliffhanger als Spannung erzeugende Erzähltechnik hat einen wesentlichen Bestandteil an dem klassenübergreifenden Reiz des Fortsetzungsromans. Das Bedürfnis zu erfahren, wie die Erzählung weitergeht, ist universell. Die Cliffhanger können dabei in komplexen gesellschaftskritischen (Dickens)‚ sensationsreichen (Collins) oder romantischen (Hardy) Werken vorkommen. Die Form und die Mittel des Cliffhangers sind vom Thema und Stil des Romans relativ abhängig, der Cliffhanger als solches ist es nicht. Trotz aller Vielfalt des Fortsetzungsromans, trotz heute kanonisierter Autoren wie Dickens und Hardy, trotz der stilistischen, thematischen und technischen Unterschiede der einzelnen Romane gilt nach wie vor: Die Entwicklung des Fortsetzungsromans, die Nutzbarmachung von preiswerten Veröffentlichungspraktiken der niederen ‚Straßenliteratur‘ und damit auch die Verwendung von Erzähltechniken wie dem Cliffhanger haben dazu geführt, dass serielle Narration nie die Aura der billigen Unterhaltung für niedere Bevölkerungsschichten verloren hat. Die Werke der Autoren sind vor allem deshalb Teil des Literaturkanons geworden, weil sie von der seriellen Distributionsform losgelöst wurden und heutzutage ganzheitlich erscheinen. „While in the last forty years much Victorian literature has been restored to respectability, the installment form itself remains suspect.“275 5.4 Aktualisierung der Cliffhangerkategorien Auf der Seite der Cliffhangertypen hat sich der ‚vorausdeutende Cliffhanger‘ als wirksame neue Begrifflichkeit erwiesen. Mit ihr wird eine Kombination aus Cliffhanger und Vorausdeutung beschrieben. Die Erzählunterbrechung findet nicht kurz 274 Flint: „The Victorian Novel and its Readers“. In: David (Hg.): The Cambridge Companion to the Victorian Novel, 2012, S. 22. 275 Hughes u. a.: The Victorian Serial, 1991, S. 13.

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nach einer Enthüllung oder in einem gefahrensituativen Moment statt, sondern es wird darauf vorausgedeutet, dass eine gefährliche Situation entstehen könnte oder sich ein Wendepunkt in der Erzählung anbahnt. Auf der Seite der Erzählmittel wurde die Kategorie ‚kommissiver Kommunikationsakt‘ hinzugefügt, die sich von Austins und Searles Begriff des kommissiven Sprechaktes ableitet. Der exklamatorische Kommunikationsakt, der das rhetorische Mittel der Exclamatio mit dem repräsentativen Sprechakt zusammenfasst, beschreibt eine ganz der Gegenwart verhaftete Aussage, wie beispielsweise der letzte Satz des Cliffhangers aus The Pickwick Papers: „The key was turned after them, and Mr. Pickwick found himself, for the first time in his life, within the walls of a Debtor’s Prison.“276 Auch wenn die Erzählung in der Vergangenheitsform geschrieben ist, so ist dieser Vorgang innerhalb der gewählten Erzählzeit ein unmittelbar stattfindender Vorgang. Im repräsentativen Sprechakt, der Bestandteil der Definition des exklamatorischen Kommunikationsaktes ist, steckt dieser Anspruch auf Gegenwart, auf Präsenz. Der kommissive Kommunikationsakt „I shall trouble the cheerful clerk a second time to conquer the perverse look, and to open the vestry door.“277 hingegen weist auf eine zukünftige Tat hin; es wird eine Intention ausgedrückt und keine subjektive oder objektive Wahrheit. Aus den Beispielen ergibt sich somit folgende Kategorisierung der Cliffhanger und ihrer Erzählmittel: Übersicht 11: Zweite Kategorisierung der Cliffhangertypen und Erzählmittel

discours-Ebene (Mittel): histoire-Ebene (Typ): - gefahrensituativer - enthüllender -vorausdeutender

- Aposiopese (unvollendeter Kommunikationsakt) - exklamatorischer Kommunikationsakt - interrogrativer Kommunikationsakt - kommissiver Kommunikationsakt

Cliffhanger

Typen und Erzählmittel bilden zusammen die jeweilige Ausformung des Cliffhangers.

Dieses Kapitel hat gezeigt, dass eine Unterscheidung zwischen Cliffhanger und anderen mit ihm verwandten Formen nötig ist. Bereits im Kapitel über die bisherigen Forschungsaufsätze zum Cliffhanger wurde erwähnt, dass die Begriffe ‚Binnencliff‘ und ‚Minicliff‘ bereits teilweise aufgetreten sind, aber einer einheitlichen Definition 276 Dickens: The Pickwick Papers, 2008, S. 513. 277 Collins: The Woman in White, 2003, S. 653.

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ermangeln. Ich definiere den Binnencliff als eine Art des Cliffhangers, der sich nicht am Ende einer Folge befindet, sondern innerhalb eines Mikrotextes. Er kann bei der seriellen Veröffentlichung eines Werks nicht selbst vom Rezipienten aufgelöst werden kann, das heißt die Auflösung kann erst innerhalb einer der nächsten Mikrotexte erfolgen. Der Binnencliff hat abgesehen von seiner Position alle Merkmale eines Cliffhangers. Der Minicliff ist hingegen wirklich nur ‚klein‘. Er bewirkt nur eine kurze Spannungssteigerung und stellt eine Unterbrechung dar, die der Rezipient selbst auflösen kann. Er befindet sich am Ende einer Erzähleinheit, eines Kapitels, eines Erzählstrangs, einer wie auch immer gearteten Absetzung. Er kann sowohl in seriellen Veröffentlichungen als auch in ganzheitlichen auftauchen. In seriellen Veröffentlichungen muss der Minicliff aber innerhalb derselben Folge wieder aufgelöst werden (sonst handelt es sich um einen Binnencliff), er kann also nicht am Ende eines Mikrotextes stehen. Für eine Bezeichnung als Minicliff am Ende eines Erzählstrangs bedeutet dies, dass dieser Erzählstrang innerhalb derselben Folge noch fortgesetzt werden muss.

VI. Französische Feuilletonromane „Fast alle seine [d.i. Dumas] Werke sind so erschienen, als Zeitungsromane, mit dem berühmten ‚Fortsetzung folgt‘ am Fuß der Seite, und die Leserschaft konnte kaum das nächste Kapitel erwarten […]. Das Erfolgsrezept des klassischen Fortsetzungsromans ist simpel: Der Held, die Heldin, sind mit Tugenden oder Eigenschaften ausgestattet, die den Leser dazu verleiten, sich mit ihnen zu identifizieren. Ähnliches passiert heute mit den Fernsehserien. Aber stellen Sie sich vor, was für einen Effekt diese Romane damals gehabt haben mußten, als es weder Radio noch Fernsehen gab, zumal auf ein Bürgertum, das nach Abwechslung und Unterhaltung lechzte und keinen großen Wert auf formale Qualität oder guten Geschmack legte... Genau das hat der geniale Dumas ausgenutzt und wie ein kluger Alchemist in seinem Labor ein Produkt zusammengebraut: ein paar Tropfen hiervon, ein bißchen davon und sein Talent. Das Ergebnis: ein Droge, die Süchtige schuf. […] Und noch immer schafft.“ PÉREZ-REVERTE: DER CLUB DUMAS, 2005, S. 15–16.

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1. K ONTEXT 1.1 1836–1848: Ökonomischer Entstehungsimpuls Der Erfolg des französischen Feuilletonromans1 hängt unter anderem ebenso wie der Aufstieg des viktorianischen Fortsetzungsromans mit einer niedrigen Preisgestaltung zusammen – hinzu kommen politische2 und technische3 Entwicklungen, die ein generelles Erstarken der Tagespresse begünstigen. Die Zeitungen La Presse und Le Siècle erscheinen gleichzeitig erstmals am 1. Juli 1836. Beide setzen als Verkaufsstrategie auf eine Halbierung der bisher üblichen Preise für ein Jahresabonnement: statt 80 nur 40 Francs.4 Der Siegeszug des Feuilletonromans hängt eng mit diesem verringerten Preis zusammen, mit dem Kundenkreise erschlossen werden können, die bisher aufgrund der Kosten von einem Zeitungsabonnement absehen mussten – zumal hinsichtlich der zunehmenden Alphabetisierung in den letzten Jahrzehnten einem größeren Bevölkerungsteil die Grundvoraussetzung für die Rezeption von Literatur zur Verfügung steht.5 Mit dem reduzierten Abonnementpreis erreichen die neuen Zeitungen eine größere Leserschaft.6 Das kommt wiederum dem Werbe- und Anzeigenteil der beiden Zeitungen zu Gute: Aufgrund der größeren Anzahl von Abonnementen zahlt sich eine Werbeanzeige oder Annonce bei La Presse und Le Siècle mehr aus

1

Zum Begriff ‚Feuilleton‘ empfiehlt sich die Lektüre von: Priotto: Fortsetzung folgt, 2007, S. 7–15. Am gängigsten ist die These, dass der Begriff 1738 in Frankreich aufkam und im damaligen Französisch die Bedeutung von „Blättchen“ oder „Beiblättchen“ hatte.

2

„1828 wurde ein neues, liberales Pressegesetz erlassen, das für einen Aufschwung des Zeitschriftenwesens sorgte, in der Julimonarchie (1830–1848) fiel auch die Zensur.“ Bachleitner: Fiktive Nachrichten, 2012, S. 22.

3

Vgl. Hagedorn: „Technology and Economic Exploitation“. In: Wide Angle, 10 (4), 1988, S. 6. Außerdem: „Jusquʼen 1800, les méthodes de fabrication du papier et les techniques dʼimpression nʼavaient guère changé depuis plus de trois siècles. […] A noter quel le matériel utilisé pour la fabrication du papier, les guenilles, devenait de plus en plus rare et coûteux. […] Ce nʼest quʼaprès les années 1850 que le bois et lʼalfa finirent par remplacer graduellement les haillons, qui continuèrent cependant à être utilisés pour le papier de haute qualité.“ Aubry: Du roman-feuilleton à la série télévisuelle, 2006, S. 7–8.

4

Neuschäfer u. a. (Hg.): Der französische Feuilletonroman, 1986, S. 29.

5

„Lʼalphabétisation, si elle a connu des progrès remarquables au XVIIIe siècle, va devenir un raz-de-marée au siècle suivant en sʼalliant aux progrès de la technologie.“ Aubry: Du roman-feuilleton à la série télévisuelle, 2006, S. 9.

6

Siehe: Neuschäfer u. a. (Hg.): Der französische Feuilletonroman, 1986, S. 32.

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als bei den herkömmlichen Zeitungen; man erreicht mehr Menschen.7 Die zusätzlichen Werbeeinnahmen der Zeitungen gleichen wiederum den Verlust durch die geringeren Abonnementpreise aus. Mit einer breiter aufgestellten Leserschaft gehen Überlegungen der Produzenten einher, wie ihre Zeitung die gewonnenen unterschiedlichen Gesellschaftsschichten noch stärker ansprechen und an sich binden kann. Die Feuilletonromane sollen den bisherigen politischen Schwerpunkt der Tageszeitung leicht verlagern, indem die Lektüre mit mehr Unterhaltung aufgelockert wird. „Der FR [d.i. der Feuilletonroman] verdankt seine Existenz einzig und allein kommerziellen Überlegungen und kann nur aus dem Bedingungsrahmen seines geschäftlichen Auftrags, Kunden zum Abonnieren bzw. zum Aufrechterhaltung ihres Zeitungsbezugs zu animieren, verstanden werden. […] Nachdem die Tageszeitungen zunächst solche Romane veröffentlichten, die bereits fertig vorlagen und nur noch in einheitliche Tagesportionen zerstückelt zu werden brauchten, erkennen die Verantwortlichen rasch die verkaufsfördernde Wirkung von Texten, die eigens für den Fortsetzungsabdruck fabriziert werden und die Leser durch die gezielte Dosierung von Spannung und Spannungsauflösung bis zum Romanende in Atem halten.“8

Das Besondere und Neue des Feuilletonromans sind dabei nicht die einzelnen Bestandteile: Bereits in auf Literatur spezialisierten Blättern wie La Revue de Paris und La Revue des Deux Mondes wurden seit 1829 (aber meist als Ganzes) unter anderem Romane von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Eugène Sue etc. veröffentlicht.9 Das Feuilleton ist ebenfalls keine Neuheit: „Ce qui était nouveau, cʼétait lʼentrée du roman dans une presse quotidienne dʼorientation, jusque-là, essentiellement politique et de tirage relativement restreint. Il existait bien, dès 1800, dans les journaux quotidiens, un espace baptisé ‚feuilleton‘, mais il nʼétait pas dédié au roman.“10 Die Kombination aus Romanveröffentlichung in Zeitschriften und täglicher Publikation in der politischen Tagespresse zeichnet den Feuilletonroman aus – eine Verknüpfung, die sich als so erfolgreich herausstellt, dass Romane eigens für das tägliche Feuilleton geschrieben werden. Diese Romane können – im Gegensatz zu den zunächst ganzheitlich veröffentlichten Romanen, die erst später für die serielle Veröffentlichung 7

„Mais ce nʼest quʼen 1836 quʼÉmile de Girardin, lançant un nouveau journal, La Presse, et voulant en faire une entreprise de presse, et plus seulement (ni même prioritairement) un instrument politique, eut lʼidée, à lʼexemple de ce qui se faisait déjà en Angleterre, de réduire de moitié le prix dʼabonnement en sʼappuyant sur les revenus de lʼ «annonce» (la publicité).“ Dumasy (Hg.): La querelle du roman-feuilleton, 1999, S. 6. Siehe auch: Neuschäfer u. a. (Hg.): Der französische Feuilletonroman, 1986, S. 29.

8

Ebd., S. 30.

9

Vgl. Queffélec: Le roman-feuilleton français au XIXe siècle, 1989, S. 11.

10 Ebd.

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geteilt werden – von vornherein von den Autoren auf die serielle Publikationsform maßgeschneidert werden. Zwar zeigt sich anhand der Themen der Feuilletonromane, dass sie die neue Leserschaft des Mittelstands und des Kleinbürgertums ansprechen sollen:11 Les Mystères de Paris und Les Misérables handeln beispielsweise hauptsächlich von der unteren französischen Gesellschaftsschicht. Auch die drei Musketiere helfen vorwiegend den Ärmeren; d’Artagnan selbst kommt mit nicht viel mehr als einem hässlichen Gaul und einem Degen nach Paris.12 Doch selbst mit der Preisreduzierung sind die Tageszeitungen noch immer sehr teuer, und das Pressewesen ist weit entfernt von einer ‚Berichterstattung für die Massen‘ – die meisten Abonnenten gehörten noch immer einer finanziell sehr gut gestellten Gesellschaftsschicht an. Klaus-Peter Walter setzt den reduzierten Abonnementpreis in Relation zum damaligen Durchschnittseinkommen eines Handwerkers; demnach hätte er 3% seines Jahreseinkommens für Zeitungen ausgeben müssen.13 Gemessen an dem damaligen Jahreseinkommen ist ein Zeitungsabonnement selbst bei einer Halbierung auf 40 Francs immer noch so teuer, dass 1845 die größte französische Tageszeitung Le Siècle gerade einmal eine Auflage von 35.000 Exemplaren erreicht. Aber diese Zahlen repräsentieren nicht die komplette Leserschaft, denn die finanziell schlechter gestellte Bevölkerung kann die Zeitungen in den cabinets de lecture gegen einen Eintrittspreis rezipieren. Es ist davon auszugehen, dass die Zeitungen häufig auch verliehen werden. Außerdem liegen sie in den meisten Cafés aus und werden dort sogar laut vorgelesen: „Le tirage de ce quotidien au demeurant fort ennuyeux est grimpé en flèche et un exemplaire vendu circule entre plusieurs personnes, ou bien est consulté dans les cafés et les cabinets de lecture, voire est lu à haute voix aux analphabètes.“14 Es ist also anzunehmen, dass die Auflage nur einen Bruchteil der Rezipienten widerspiegelt. Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten gibt es zwei wesentliche Unterschiede zwischen dem viktorianischen Fortsetzungs- und dem französischen Feuilletonroman, die sich bereits in der richtigen Begrifflichkeit offenbaren: Der französische Feuilletonroman wird in Tageszeitungen, genauer in den Feuilletons der Tageszeitungen veröffentlicht, während der viktorianische Fortsetzungsroman vorwiegend in eigenen

11 Vgl. Neuschäfer: Populärromane im 19. Jahrhundert, 1976, S. 8. 12 Siehe: Heidenreich: Textstrategien des französischen Sozialromans im 19. Jahrhundert am Beispiel von Eugène Sues „Les mystères de Paris“ und Victor Hugos „Les misérables“, 1987, S. 21. 13 „Dʼautre part, les journaux coûtaient encore très cher: au début de la Monarchie de Juillet, lʼabonnement annuel pour les grands quotidiens de la capitale était de 80 F (un employé de bureau gagne alors de 1.000 à 2.000 F par an, le salaire moyen dʼun ouvrier est à peine de 3 F par jour).“ Queffélec: Le roman-feuilleton français au XIXe siècle, 1989, S. 11. 14 Zimmermann: Alexandre Dumas le Grand, 2002, S. 444.

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Heftchen und Literaturzeitschriften etc. meist in einem wöchentlichen oder monatlichen Rhythmus erscheint.15 „[L]e ‚roman-feuilleton‘ [est un] roman publié par tranches dans le ‚feuilleton‘ des quotidiens – cʼest-à-dire dans un espace réservé au bas du journal, le ‚rez-de-chaussée.‘“16 Das täglich erscheinende Feuilleton wird mit einem langen Strich (häufig auch Doppelstrich) von den Politiknachrichten getrennt und als rez-de-chaussée bezeichnet. In dieser Bezeichnung ist eine Wertung und Trennung vom darüber liegenden Abschnitt enthalten: ‚rez-de-chaussée‘ ist der Begriff für das Erdgeschoss, wortwörtlich das ‚Straßenniveau‘. Dieses ‚Straßenlevel‘ wird also begrifflich von dem darüber liegenden ‚Stockwerk‘, der étage noble, bel étage oder étage supérieur getrennt.17 Wie erfolgreich der Feuilletonroman ist, zeigt sich bereits 1844: Acht Jahre nach den ersten derartigen Publikationen veröffentlichen bis auf zwei Tageszeitungen alle 20 mehr oder weniger regelmäßig Feuilletonromane. Dennoch bleibt er in den meisten Zeitungen eher ein Mittel zum Zweck beziehungsweise eine Modeerscheinung, der man sich zwar ergibt, die aber im rez-de-chaussée, auf Straßenniveau bleibt. „Roman-feuilleton devint bien vite synonyme de mauvaise littérature, de roman pour les femmes, les enfants, les vieillards, le peuple (sens restreint), la concierge, lʼépicier, les domestiques, les oisifs, avant quʼon ne sʼavisât de juger (vers la fin du siècle) quʼil ne sʼagissait probablement pas de littérature du tout, opinion qui a encore ses tenants.“18

Die zwiespältige Verhältnisse zahlreicher Zeitungen zum Feuilletonroman offenbart sich bei genaueren Analysen der Ausgaben: Beispielsweise wird in der France vom

15 Vgl. Neuschäfer u. a. (Hg.): Der französische Feuilletonroman, 1986, S. 2. Außerdem: „Die Definition als Subgattung mit bestimmten Merkmalen oder als populärer Roman greift zu kurz, besser ist es, den Feuilletonroman über den Publikationsort und -modus als Roman, der im Medium der politischen Tageszeitung in Fortsetzungen veröffentlicht wird, zu definieren.“ Bachleitner: Fiktive Nachrichten, 2012, S. 10. 16 Queffélec: Le roman-feuilleton français au XIXe siècle, 1989, S. 9. 17 „[D]em ‚echten‘ FR [bleibt] auch nach dem Wegfall des Trennbalkens und trotz seiner eminenten Bedeutung für das Marketing der Zeitungen der Geruch des ‚unter dem Strich‘ Stehenden, gleichsam einer Unterleibsregion zu eigen“. Neuschäfer u. a. (Hg.): Der französische Feuilletonroman, 1986, S. 2. „Unterleibsregion“ scheint ein wenig übertrieben und etwas gewagt hergeleitet: Der Begriff suggeriert nicht den ‚Geruch einer Unterleibsregion‘, sondern wohl eher den damals wohl penetranteren Geruch der Straße (ohne Kanalisation). Außerdem: „[W]obei symptomatisch und symbolträchtig ist, dass sie [d.s. die Feuilletonromane] in das untere Drittel der Seite abgedrängt wurden“. Bachleitner: Fiktive Nachrichten, 2012, S. 7. 18 Queffélec: Le roman-feuilleton français au XIXe siècle, 1989, S. 5.

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17.12.1844 über die ‚Schundromane‘, die die Leser süchtig machen, hergezogen; wenige Seiten weiter aber befindet sich Werbung für den eigenen Feuilletonroman.19 Die Zeitungen wollen eine größere Leserschaft ansprechen; diesem Ziel dienen Attraktivität und Zugkraft der Feuilletonromane. Zugleich muss Qualität gewahrt werden, denn die meisten Abonnenten sind aus der gehobenen Gesellschaft, die Wert auf Politik und Seriosität legt und eher ‚inoffiziell‘ die Feuilletonromane liest. Diese doppelte Strategie zeigt sich auch anhand des Publikationsrhythmus. Obwohl die Feuilletonromane fester Bestandteil der Tageszeitungen sind, werden sie in sehr unregelmäßigen Abständen veröffentlicht – meist beinhalten nur drei bis vier Feuilletons in der Woche eine Roman-Folge. Den Rest der Woche werden die Feuilletons mit als hochwertiger angesehenen Kulturbeiträgen gefüllt20 oder in Zeiten politischen Tumults ganz ausgelassen und von den tagespolitischen Debatten erobert. Gelegentlich werden sogar zwischen einzelnen Folgen eines Feuilletonromans noch andere kürzere Erzähltexte veröffentlicht.21 Trotz oder vielleicht gerade wegen des negativen Images ist der Feuilletonroman besonders für die Tageszeitungen Le Siècle, La Presse und Le Constitutionnel ein wichtiges Zugpferd, das die Verleger sich einiges kosten lassen.22 Aber bei fast allen 19 Vgl. Neuschäfer u. a. (Hg.): Der französische Feuilletonroman, 1986, S. 31. Eine Zusammenstellung einiger Zeitungsartikel von 1836–1848, in denen über den Feuilletonroman berichtet und diskutiert wird, bietet: Dumasy (Hg.): La querelle du roman-feuilleton, 1999. 20 „Le roman nʼenvahit que progressivement la sphère du feuilleton: jusquʼen 1840, il nʼy est pas prédominant, et jusquʼen 1850, le feuilleton, en sus dʼhéberger le roman, continue à assurer ses fonctions de critique littéraire, artistique, scientifique et théâtrale“. Ebd., S. 6. 21 „Ein Extrembeispiel für den zerhackten Publikationsrhythmus des FR liefert Le Comte de Monte-Cristo. Vom 26.11.1844 bis zum 20.6.1845 wird er sieben Monate lang unterbrochen, ohne daß irgendwelche Zwischenmeldungen, Vertröstungen oder Vorinformationen zum Termin der Wiederaufnahme die Leserschaft bei der Stange zu halten versuchen. Innerhalb des Pausenintervalls schaltet die Trägerzeitung Le Journal des Débats mit Souliés Drames inconnus wieder einen FR mit nicht weniger als 73 Fortsetzungen ein.“ Neuschäfer u. a. (Hg.): Der französische Feuilletonroman, 1986, S. 35. 22 Wie wichtig der Feuilletonroman für die Zeitungen ist, zeigen auch die Honorare der Autoren: „Das Journal des Débats bezahlte Eugène Sue für die Mystères de Paris (1842/43) und Dumas für den Comte de Monte-Cristo (1845/46) je 30.000 Francs. Nach dem Erfolg der Mystères de Paris war der Marktwert Sues weiter gestiegen. Louis Véron, dem Herausgeber des Constitutionnel, war der Folgeroman Le Juif errant 100.000 Francs im Voraus wert. Selbst diese hohe Summe schien aus der Sicht der Zeitung eine sinnvolle Investition, die den Absatz und in der Folge das Anzeigenaufkommen erhöhte. Die Investition lohnte sich tatsächlich. Der Anfang 1844 völlig abgewirtschaftete und auf 3.000 Abonnenten abgesunkene Constitutionnel wies Ende des Jahres, nach Abdruck der Hälfte des Romans, wieder mehr als 22.000 Leser auf.“ Bachleitner: Fiktive Nachrichten, 2012, S. 23.

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Zeitungen wird mit der Zeit die Anziehungskraft des Feuilletonromans (und damit zum Teil des Cliffhangers) genutzt, um die Abonnement-Verlängerung zu begünstigen: „Vor allem stellt die Publikationsweise in diesen Zeitungen unter Beweis, daß der FR eine wichtige Funktion zur Gewährleistung des réabonnement, der Verlängerung des Zeitungsbezugs nach Ablauf des Abonnements, vor allem zum Ende des Kalenderjahres, erfüllt. Gerade rechtzeitig Mitte oder Ende Dezember starten sie die Veröffentlichung eines neuen Romans, der das Lesepublikum so stark in seinen Bann schlagen soll, daß er [sic] ohne Zögern 40 frs für die Verlängerung des Abonnements ausgibt, um nicht die Fortsetzung der spannenden Romanlektüre zu versäumen.“23

Auch wenn der Publikationsrhythmus der Feuilletonromane in einigen diesem Format eher ablehnend gegenüberstehenden Tageszeitungen sehr unregelmäßig ist, nutzen sie ebenfalls den Feuilletonroman als Anreiz für eine gezielte Verlängerung des Abonnements. Das Journal des Débats ist eines der royalistischen Blätter, das den Platz vorwiegend der Parlamentsberichterstattung widmet und nur in 30% seiner Ausgaben erzählerische Inhalte hat (im Gegensatz zu Le Siècle mit 68%, La Presse mit 62% und Le Constitutionnel mit 53%).24 Aber gerade das Journal des Débats kostet die Popularität des in ihm veröffentlichten Romans Le Comte de Monte-Cristo von Alexandre Dumas aus: „Am 29.11.1845 wird die Veröffentlichung des Grafen von Monte-Cristo, die kurz vor ihrer Beendigung steht, scheinbar ohne ersichtlichen Grund gestoppt. In Wirklichkeit ist die Strategie der Zeitung nicht zu übersehen: Da die restlichen 8 Feuilletons bei normalem Publikationsrhythmus bis Mitte Dezember in jeden Fall verabreicht worden wären, legt die Trägerzeitung kurzerhand eine künstliche Pause ein, um den Text noch ins nächste Jahr hinüberzuretten. Tatsächlich nimmt das Journal des débats am 25.12.1845 die Publikation wieder auf und schließt sie am 15.1.1846 ab. Der gespannte Romanleser muß die vier Fortsetzungen, die Ende Dezember noch ausstehen, mit dem Preis für die Abonnementverlängerung bezahlen.“25

Die Erzählunterbrechung hat also das klare Ziel, eine Abonnement-Verlängerung der ganzen Zeitung zu begünstigen.26 Erzählunterbrechungen stellen aber keinen direkten 23 Neuschäfer u. a. (Hg.): Der französische Feuilletonroman, 1986, S. 37. 24 Vgl. ebd., S. 35. 25 Ebd., S. 37. 26 Die Folge endet mit einem enthüllenden Cliffhanger mittels kommissivem Kommunikationsakt: Staatsanwalt Villefort wurde vor Gericht zuletzt als Übeltäter enttarnt, verzichtet auf eine Verteidigung und bekennt sich schuldig. Als Debray den Staatsregenten fragt, welches Urteil Villefort zu erwarten hat und ihm dabei einen Louisd’or in die Hand drückt,

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Kaufimpuls für die unmittelbar nächste Ausgabe dar: Bis 1864 werden die Tageszeitungen nicht zum Einzelverkauf angeboten, sondern sind nur im Abonnement erhältlich.27 Für die Rezipienten, die den Feuilletonroman über das Abonnement von jemand anderem genießen, wie den genannten ‚Kaffeehauslesern‘, den Zuhörern von Zeitungsvorlesern, den Entleihern und Bibliotheksbenutzern mag dies anders sein; für sie könnten Erzählunterbrechungen womöglich einen Anreiz darstellen, wieder den Weg zu dem jeweiligen Ort der Zeitungsausgabe bei jemand anderem zurückzulegen. Die Zeitungen profitieren von dieser Rezipientengruppe jedoch nur indirekt, weshalb sie kaum im Fokus der Verleger und Autoren gewesen sein werden. 1.2 1848–1863: Der schlechte Ruf des Feuilletonromans Nach Aussage einiger Kritiker des Feuilletonromans, wie dem ultrakonservativen Journalisten Alfred Nettement, trägt das Format des Feuilletonromans Mitschuld an der Revolution von 1848. „Les mystères de Paris und Le Juif Errant, die die gesellschaftsbedrohende Unterwelt von Paris verherrlicht und die kleinen Leute durch aberwitzige Reformvorschläge zum Protest gegen ihre Lebensbedingungen aufgehetzt hätten, seien eindeutig für die Volkserhebung von 1848 verantwortlich.“28 So überzogen diese Schuldzuweisung heutzutage erscheinen mag, damals müssen die Zeitungen reagieren, indem sie weniger politisch und ideologisch engagierte und insgesamt eine geringere Anzahl von Feuilletonromanen abdrucken. Zumal die Feuilletonromane womöglich tatsächlich sehr moderne Ansichten an das arme und einfache Volk bringen ‒ wie sich in der Analyse von Les Trois Mousquetaires noch zeigen wird. Zu einer Eindämmung der Publikation trägt auch das am 15.07.1850 erlassene Gesetz loi Riancey (auch timbre Riancey genannt) bei. Der royalistische Abgeordnete und Journalist Riancey, dem der Feuilletonroman nach eigener Aussage verhasst ist,29

sagt dieser: „Il y aura des circonstances atténuantes! répondit celui-ci [d.i. der Staatsregent]. (La suite à demain.)“ Dumas: „Le Comte de Monte-Cristo“. In: Journal des Débats, 29.11.1845, S. 2. Ich konzentriere mich bei der genaueren Analyse auf den FeuilletonRoman Les Trois Mousquetaires, da dieser vor Le Comte de Monte-Cristo erschien. 27 Vgl. Türschmann: „Spannung in Zeitungsliteratur“. In: Irsigler u. a. (Hg.): Zwischen Text und Leser, 2008, S. 228. Das Abonnement unterschied sich von Zeitung zu Zeitung: Le Siècle (1844) war für sechs oder zwölf Monate beziehbar, Journal des Débats (1844) für drei, sechs oder zwölf Monate. (Diese Informationen stammen aus der Recherche in den Originalveröffentlichungen.) 28 Neuschäfer u. a. (Hg.): Der französische Feuilletonroman, 1986, S. 44. 29 Vgl. Neuschäfer u. a. (Hg.): Der französische Feuilletonroman, 1986, S. 45.

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setzt durch, dass Zeitungen, in denen ein Auszug eines Feuilletonromans veröffentlicht wird, mit einer Steuer von fünf, ab 1852 sogar sechs Centimes belegt werden.30 Noch 1860 schickt der Innenminister Billault ein Rundschreiben an seine Präfekten, in dem er sie dazu anhält, den Feuilletonroman wachsam zu beobachten. „Le roman-feuilleton qui, dans les colonnes inférieures dʼun journal, blesse les sentiments honnêtes, fait autant et peut-être plus de mal que les excitations politiques qui, dans les colonnes supérieures, tenteraient dʼagiter les esprits. […] Envahissant presque toutes les publications périodiques, profitant de cette périodicité même pour tenir chaque jour en suspens et pour aiguillonner sans relâche lʼardente curiosité du public, cʼest à profusion quʼelle ne cesse de répandre les inépuisables fantaisies de lʼimagination la plus déréglée.“31

Besonders die Technik, die Leser „ununterbrochen“ in Spannung zu halten, die Neugier anzuregen, prangert Billault an. Was Billault kritisiert, sind der narrative Sog serieller Fortsetzungsnarration und die Cliffhanger avant la lettre, die ihm zum Politikum werden. Zusätzlich wird der Feuilletonroman als Ausdruck einer Industrialisierung der Literatur gesehen ‒ der berühmte Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve prägt den Begriff ‚litérature industrielle‘.32 Besonders Dumas verfasst eine derartige Masse an Literatur, dass einige Wissenschaftler sich fragen, wie viele der Werke, die unter seinem Namen veröffentlicht wurden, er selbst geschrieben hat. Besonders der ehemalige Geschichtslehrer Auguste Maquet hat wesentlichen Anteil an Dumas Massenproduktion. Maquet bemüht sich immer wieder, auch als Autor genannt zu werden, aber das Publikum will Dumas.33 Bereits 1845 schreibt Eugène de Mirecourt die Schmähschrift Fabrique de Romans. Maison Alexandre Dumas et Compagnie (Paris,

30 Vgl. Olivier-Martin, Yves: Histoire du roman populaire en France de 1840 à 1980, 1980, S. 81. 31 Moniteur Universel vom 6.7.1869, zitiert nach: Neuschäfer u. a. (Hg.): Der französische Feuilletonroman, 1986, S. 45–46. 32 Vgl. Aubry: Du roman-feuilleton à la série télévisuelle, 2006, S. 19. 33 Bereits 1858 wird auch in Deutschland über die Gerichtsprozesse berichtet, in denen Maquet sein Recht einklagen will, ebenfalls als Autor der Werke Dumasʼ genannt zu werden: „Gegenwärtig ist die Frage der Mitverfasserschaft und ihrer Rechte der Gegenstand eines höchst interessanten Prozesses, der vor dem Ziviltribunal der Seine verhandelt wird. Herr Maquet, der bekannte Romanschriftsteller, tritt als Kläger auf gegen den Alexander den Großen der französischen Romanfabrikation, gegen Hrn. Alex. Dumas den Aelteren [sic].“ „Wie man Romane fabriziert“. In: Der Sammler. Ein Blatt zur Unterhaltung und Belehrung. (Beilage zur Augsburger Tageszeitung.) 27. Jahrgang, 2 Januar 1858, S. 2‒4. Siehe zu den Gerichtsprozessen auch: Frémy: Quid dʼAlexandre Dumas, 2002.

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1845) und weist auf Dumas ‚Roman-Fabrik‘ hin. „Dumas hatte eine Schreiberwerkstatt eingerichtet, in der literarische nègres, gleichsam als schreibende Fabrikarbeiter, gegen ein miserables Entgelt erzählerische Versatzstücke herstellen mußten, die dann in den nur grob festgelegten Rahmen der Gesamthandlung eingepaßt wurden.“34 Der Ruf einer ‚litérature industrielle‘ kam also nicht von ungefähr.

2. ALEXANDRE D UMAS : L ES T ROIS M OUSQUETAIRES 2.1 Einleitung Bei einem Vergleich der Erstveröffentlichung in der Tageszeitung Le Siècle (14. März bis 14. Juli 1844)35 mit der späteren ganzheitlichen Veröffentlichung erstaunt zunächst, wie wenig Alexandre Dumas für die ganzheitliche Veröffentlichung an der Einteilung geändert hat.36 Ungefähr 80 Prozent der Kapiteleinteilungen entsprechen genau den Erzählunterbrechungen der Feuilletonabschnitte. Die Kapiteleinteilung mit Titeln wird für die ganzheitliche Publikation ebenfalls nicht verändert – gelegentlich werden in der seriellen Veröffentlichung die Kapitel vor ihrem Ende unterbrochen, sodass die nächste Folge mit der römischen Ziffer des Kapitels und dann „–Suite“ beginnt – auf diese Weise wird auf eine Fortführung des Kapitels hingewiesen.37 Innerhalb der Le Siècle nehmen die Folgen erstaunlich viel Platz ein, auch wenn die Fortführung in unregelmäßigen Abständen unterbrochen wird ‒ was die Spannung vermutlich nur steigert, da die Länge der Erzählpause somit unterschiedlich ist.38 Nie wird dem Leser ein recap geboten. Lediglich eine Fußnote am Beginn jeder 34 Neuschäfer: Populärromane im 19. Jahrhundert, 1976, S. 14. 35 In einigen Sekundärwerken über Les Trois Mousquetaires ist zu lesen, der Feuilletonroman sei vom 14. März bis zum 11. Juli veröffentlicht worden. (Siehe zum Beispiel: Frémy: Quid dʼAlexandre Dumas, 2002, S. 250.) Ein Blick in die Originalveröffentlichung in Le Siècle widerlegt diesen Irrtum. 36 Ich vergleiche hier die originalen Les Trois Mousquetaires-Veröffentlichungen in Le Siècle, wie sie in La Bibliothèque nationale de France (BnF) einzusehen sind, und die erste Buchveröffentlichung (J.-B. Fellen et L.-P. Dufour, Paris 1846). 37 Lediglich die Nummerierung der Kapitel der Feuilletonveröffentlichung unterscheidet sich stark von der ganzheitlichen. Die Kapitel der Feuilletonveröffentlichung sind in sechs große Teile unterteilt, die jeweils aus einer unterschiedlich großen Anzahl von Kapiteln bestehen. Bei der Buchveröffentlichung werden hingegen die großen sechs Teile durch fortlaufende Kapitelnummerierung ersetzt: 67 Kapitel plus Pro- und Epilog. 38 Die Folgen erstrecken sich meistens über drei, gelegentlich auch nur über zwei Seiten der Tageszeitung Le Siècle. Innerhalb der Seiten füllen sie nur das untere Drittel, das Feuilleton, abgesetzt mit einem Doppelstrich von den tagespolitischen Meldungen und Debatten.

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Folge beinhaltet die Daten der Zeitungsausgaben, an denen die bisherigen Folgen des Romans erschienen sind.39 Am Ende steht häufig die kursiv gedruckte Formulierung: „La suite à demain“, seltener: „La suite prochainement.“40 Dementsprechend gibt es, wenn die Romanveröffentlichung ausgesetzt wird, einen Hinweis: „La suite à aprèsdemain.“41 Unter der letzten Folge steht schließlich: „FIN DES TROIS MOUSQUETAIRES.“42 Für Dumasʼ Werk Les Trois Mousquetaires ist ein steter Wechsel zwischen Episodischem und Fortgesetztem charakteristisch.43 Die elfte Folge vom 27.3.1844 schließt die Handlung beispielsweise so ab: Nachdem vor kurzem die drei Musketiere bei einem Kampf gegen die Gardisten des Kardinals eine Niederlage einstecken mussten, machen sie diese Schmach gemeinsam mit dʼArtagnan bei einem Kampf wieder wett. Der König ist von dʼArtagnans Taten so beeindruckt, dass er ihn ehrt. Anschließend wird zeitraffend berichtet, dass dʼArtagnan als Kadett in die Gardekompanie des Chevalier des Essarts aufgenommen wird, damit später auch er Musketier werden kann. „Alors ce fut le tour dʼAthos, de Porthos et dʼAramis de monter la garde avec dʼArtagnan quand il était de garde. La compagnie de M. le chevalier des Essarts prit ainsi quatre hommes au lieu dʼun le jour où elle prit dʼArtagnan. (La suite à demain.)“44 Beinahe alle bisherigen Handlungsstränge des Romans werden hier abgeschlossen: Die Schurken des Kardinals sind besiegt, der König ehrt dʼArtagnan, die drei Musketiere und dʼArtagnan sind Freunde und er ist auf sehr gutem Jede Seite von Le Siècle ist in drei große Spalten unterteilt. Die drei Spalten des mit dem Doppelstrich abgesetzten Feuilletons gehören ganz der Romanveröffentlichung; manchmal werden aber noch in der letzten Spalte oder deren Hälfte beispielsweise Ankündigungen von Theateraufführungen aufgenommen. Circa alle drei Tage wird der Feuilletonroman unterbrochen von einer Ausgabe ohne Roman-Fortsetzung. Stattdessen trägt das Feuilleton die Überschrift „Revue de Paris“ oder „Revue des Théatres“ und ist ausschließlich Kulturkritiken gewidmet. Die ersten 10 Unterbrechungen der täglichen Romanfortsetzungen sind bspw. am: 28.3, 1./4./11./12./15./18./25./26./02.05.1844. In den zwischenzeitlichen Ausgaben finden sich Kulturkritiken. 39 Meist wird mit den folgenden Worten auf die bisherigen Ausgaben des Romans hingewiesen: „Voir pour la première partie de ce roman, les feuilletons du 14 mars au 5 avril ; pour la deuxième [...].“ 40 Bspw. Folge 34 vom 28.04.1844, Nummer 2921. 41 Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 16. In: Le Siècle, Nr. 2897, 03.04.1844, S. 3. 42 Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 82. In: Le Siècle, Nr. 2995, 14.07.1844, S. 2. 43 Auch beim Feuilletonroman erhöht die von Hickethier als „doppelte Formstruktur“ bezeichnete Charakteristik der Serie den Reiz der Erzählung. Siehe: Hickethier: Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens, 1991, S. 10. Siehe Kapitel: II. 2.2 „Was aber ist serielle Narration?“, S. 57. 44 Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep 11. In: Le Siècle, Nr. 2890, 27.3.1844, S. 3.

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Wege, seinen Traum, ein Musketier zu werden, verwirklicht zu sehen. Folgen-Enden wie diese sind so ‚end-spannend‛ und fassen zudem einige Abschnitte der darauf folgenden erzählten Zeit der Helden so zusammen, dass sie wie ein Happy End wirken beziehungsweise ein vorläufiges Happy End sind. An diesen Stellen hat das Werk eher den Charakter einer Episodenserie, mit dem Unterschied, dass diese Episoden sich immer über mehrere Folgen hinziehen, also nicht pro Folge eine Episode erzählt wird. Wiederum andere Kapitel werden zwar in der Mitte unterbrochen, aber der Moment ist weder spannend noch werden Vorausdeutungen gemacht.45 Zwischen diesen abschließenden Enden und einigen unscheinbaren Unterbrechungen sind ebenso zahlreich jene Enden, die an einem spannungsgeladenen Moment innehalten, das Kapitel in der Mitte unterbrechend. 2.2 Erzählunterbrechungen In einer der berühmten Stellen aus Les Trois Mousquetaires, die auch in zahlreichen Verfilmungen eine Rolle spielt,46 kommt dʼArtagnan nach Paris und vereinbart innerhalb der ersten Stunden drei Duelle mit Musketieren – mit den drei Freunden Athos, Porthos und Aramis. Das erste Duell soll zwischen ihm und Athos an einem entlegenen Ort stattfinden, denn Duelle sind verboten. Als dʼArtagnan am vereinbarten Treffpunkt erscheint und Athos seine Adjutanten Porthos und Aramis mitbringt, begegnen sich die vier mit großer Höflichkeit, die bereits ihre spätere Freundschaft erahnen lässt. Just als das Duell zwischen Athos und dʼArtagnan beginnen soll, kommt ein Trupp der Leibwache Richelieus vorbei. „– Quand vous voudrez, monsieur, dit Athos en se mettant en-garde. – Jʼattendais vos ordres, dit dʼArtagnan en croisant le fer. Mais les deux rapières avaient à peine résonné en se touchant, quʼune escouade des gardes de Son Eminence, commandée par M. de Jussac, se montra à lʼangle du couvent. – Les gardes du cardinal ! sʼécrièrent à la fois Porthos et Aramis. Lʼépée au fourreau, messieurs, lʼépée au fourreau! Mais il était trop tard. Les deux combattans [sic] avaient été vus dans une pose qui ne permettait pas de douter de leurs intentions. (La suite à demain.)“47

45 Siehe zum Beispiel für weder abschließende noch spannende Enden: „–Adopté! Reprirent en cœur les trois mousquetaires. Et chacun allongeant la main vers le sac, prit soixantequinze pistoles et fit ses préparatifs pour partir à lʼheure convenue.“ Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 24. In: Le Siècle, Nr. 2909, 16.04.1844, S. 3. 46 Siehe zum Beispiel: The Three Musketeers (Sp/USA 1973), The Three Musketeers (Österreich/UK/USA 1993), The Three Musketeers (F/D/USA 2011). 47 Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 7. In: Le Siècle Nr. 2885, 22.3.1844, S. 2.

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Die drei exklamatorischen Kommunikationsakte betonen die Gefahrensituation:48 Des Kardinals Garde zeigt sich, die Duellanten sollen die Degen zurückstecken, aber dazu ist es zu spät. Zwei der drei Kommunikationsakte werden zusätzlich mit Ausrufezeichen hervorgehoben. Für den mit den Hauptfiguren unvertrauten Leser gibt es zahlreiche Möglichkeiten, wie sich die Szene entwickeln könnte – noch ist nicht sicher, dass dʼArtagnan und die drei Musketiere Freunde werden. Erst der Verlauf der nächsten Folge stellt den Beginn der Freundschaft dar: Gemeinsam, zu viert, schlagen sie die Soldaten Richelieus in die Flucht und machen mit dʼArtagnans Hilfe die Schmach rückgängig, die sie ein paar Tage zuvor erlitten haben in der Niederlage gegen die Truppen des Kardinals. Abgesehen von gefahrensituativen Cliffhangern mit kurzer Spannweite gibt es auch Cliffhanger, die von weiteren Spannungsmomenten in ihrer Wirkung unterstützt werden. Die Königin hat dem glühend in sie verliebten Herzog von Buckingham zwölf Diamantnadeln geschenkt, als ein Andenken an sie, aber vornehmlich, um ihn auf diese Weise los zu werden. Nur waren die Nadeln ursprünglich eine Gabe an sie von ihrem Gemahl, dem König. In einem Brief an seine Komplizin Milady de Winter deutet sich an, wie der Kardinal die Königin beim König verleumden will: „‚Milady, trouvez-vous au premier bal où se trouvera le duc de Buckingham. Il aura à son pourpoint douze ferrets de diamants; approchez-vous de lui et coupez en deux. Aussitôt que ces ferrets seront en votre possession, prévenez-moi.‘ (La suite à après-demain.)“49 Am Ende der nächsten Folge lässt der Kardinal den König unter vier Augen wissen, der Herzog von Buckingham sei in Paris gewesen – auf diese Weise sät Richelieu weitere Zweifel beim König über die Treue der Königin: „Au reste, M. de Tréville avait raison de se défier du cardinal, et de penser que tout n’était pas fini, car à peine le capitaine des mousquetaires peut-il fermé la porte derrière lui que Son Eminence dit au roi : – Maintenant que nous ne sommes plus que nous deux, nous allons causer sérieusement, s’il plaît à Votre Majesté. – Sire, M. de Buckingham était à Paris depuis cinq jours, et n’en est parti que ce matin. (La suite à demain)“50

Der Aufhebungsmoment macht intradiegetisch die Wirkung von Richelieus Enthüllung für den König deutlich. Die allerersten Sätze der nächsten Folge lauten: „Il est impossible de se faire une idée de l’impression que ces quelques mots produisirent 48 Siehe für weitere Cliffhanger, die mit exklamatorischen Kommunikationsakten vermittelt werden: „[E]t attention, car à partir de ce moment nous voilà aux prises avec le cardinal. (La suite à demain.)“ Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 10. In: Le Siècle, Nr. 2893, 30.03.1844, S. 2. 49 Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 19. In: Le Siècle, Nr. 2901, 07.04.1844, S. 3; Ep. 21. In: Le Siècle, Nr. 2903, 10.04.1844, S. 3. 50 Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 20. In: Le Siècle Nr. 2902, 08./09.1844, S. 2.

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sur Louis XIII : il rougit et pâlit successivement, et le cardinal vit tout d’abord qu’il venait de reconquérir d’un seul coup tout le terrain qu’il avait perdu.“51 Am Ende der Folge vervollständigt sich dem Leser die Enthüllung von Richelieus Plan, dessen Umsetzung zugleich begonnen hat: „A propos, sire, n’oubliez pas de dire à Sa Majesté, la veille de cette fête, que vous désirez voir comment lui vont ses ferrets de diamants. (La suite prochainement.)“52 Ausschließlich über die Enden der drei Folgen wird deutlich, wie Richelieu die Königin beim König in Verruf zu bringen gedenkt. Am Ende von Folge 19 wird Milady de Winter instruiert, dem Herzog von Buckingham zwei Diamantnadeln zu entwenden. Am Ende von Folge 20 berichtet Richelieu dem König, Buckingham sei heimlich mehrere Stunden in Paris gewesen und entfacht damit des Königs Eifersucht. Am Ende der 21. Folge schlägt Richelieu dem König vor, seine Frau Anna von Österreich solle unbedingt die vom König geschenkten Diamantnadeln zum Ball tragen. Die Königin wird die Nadeln nicht tragen, sie aber auch nicht vom Herzog von Buckingham zurückfordern können, da Milady de Winter sie bereits gestohlen hat. Mit den vom Kardinal gestreuten Zweifeln an der Treue der Königin wird der ohnehin extrem eifersüchtige König von Untreue und Verrat der Königin ausgehen und sie womöglich verbannen. Von nun an wird der König völlig unter dem Einfluss des Kardinals stehen, der ihm scheinbar die Augen geöffnet hat, die Falschheit seiner Gemahlin zu erkennen – Frankreich wäre verloren, gäbe es nicht dʼArtagnan und die drei Musketiere… Äußerst geschickt wird die Kulmination dieser möglichen Katastrophe ausschließlich über die Enden evoziert; diese bieten stets die neue, essentielle Information und den Spannungshöhepunkt jeder Folge, nicht der Text zwischen den enthüllenden Cliffhangern. Außerdem potenzieren sich die Cliffhanger. Die Enthüllung des nächsten Cliffhangers macht die im vorhergehenden Cliffhanger angedeutete Gefahr umso größer. Jeder der Cliffhanger deutet neues Unheil an, aber erst das Zusammenwirken der drei lässt die sich anbahnende Katastrophe erkennen: Dass Milady de Winter die Diamantnadeln stehlen soll, bedeutet an sich schon Unheil, dass Anna von Österreich aber genau diese Nadeln bald tragen soll und der König den Verdacht hat, sie sei ihm untreu, steigert das Gefahrenpotential zusätzlich. Enthüllende Cliffhanger mit exklamatorischen Kommunikationsakten finden sich am häufigsten in Les Trois Mousquetaires. Interrogative Kommunikationsakte sind eher selten, aber auch sie werden benutzt: „Ils se dirent adieu, et dix minutes après, dʼArtagnan, après avoir recommandé son ami à Bazin et à l’hotesse [sic], trottait dans la direction d’Amiens. Comment allait-il retrouver Athos, et même le retrouverait-il?

51 Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 21. In: Le Siècle Nr. 2903, 10.04.1844, S. 1. 52 Ebd., S. 3.

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(La suite à demain.)“53 Ausdrücklich wird hier die Frage genannt, die sich der Rezipient am Ende der Lektüre stellen soll. Außer eindeutigen Cliffhangern zeigt sich die Bedeutung und bewusste Gestaltung der Erzählunterbrechungen auch anhand einiger anderer Folgen-Enden. Häufiger wechselt der Erzähler noch kurz vor der Erzählunterbrechung den Schauplatz oder macht zumindest darauf aufmerksam, in der nächsten Folge werde die Handlung an dem zurzeit spannenderen Ort weitergeführt. Als dʼArtagnan dem Herzog von Buckingham und Frau Bonacieux auf einer Brücke zum Louvre begegnet, folgt die Aufmerksamkeit zunächst noch kurz dʼArtagnan, Porthos und Aramis, die sich in einer Kneipe treffen. Das eher unbedeutende Trinkgelage der Männer veranlasst den Erzähler dazu, auf die in der nächsten Folge spannendere Entwicklung und Frage hinzuweisen: Welche Pläne haben Frau Bonacieux, die Zofe der Königin und der Herzog von Buckingham im Louvre? „Et maintenant, emporté que nous sommes par notre récit, laissons nos trois amis rentrer chacun chez soi, et suivons, dans les détours du Louvre, le duc de Buckingham et son guide. (La suite à aprés-demain.)“54 Dieser Hinweis auf den kommenden Wechsel zum spannenderen Schauplatz ist besonders in dieser Ausgabe wichtig, da am folgenden Tag keine Fortsetzung erscheint, die Erzählpause also länger ist als gewöhnlich. 2.3 Resümee und Schlussfolgerungen Zu Dumas’ Instrumentarium an Spannungssteigerungen gehören neben gefahrensituativen auch zahlreiche enthüllende Cliffhanger, die meistens repräsentativ, seltener auch interrogativ vermittelt werden. Fast alle Cliffhanger haben einen Interruptionspunkt.55 Zwar wird gelegentlich zwischen den Kapiteln etwas erzählte Zeit übersprungen, doch ist ein elliptischer Interruptionspunkt eher bei abgeschlossenen Kapiteln und Folgen wie beispielsweise der zitierten Folge 11 der Fall, in der abschließend zu erfahren ist, dass die drei Musketiere dʼArtagnan bei seiner Wache häufig Gesellschaft leisten. Wie wichtig Dumas Spannungsevozierung ist, zeigen auch die Sprechakte der Figuren: Häufig betonen sie selbst in den Dialogen, wie spannend dieser Verlauf, wie eilig eine Angelegenheit und wie knapp bemessen die Zeit dafür ist. So sagt dʼArtagnan: „Tout cela est fort étrange, et je serais bien curieux de savoir comment tout cela 53 Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 35. In: Le Siècle, Nr. 2922, 29.04.1844, S. 3. 54 Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 16. In: Le Siècle, Nr. 2897, 03.04.1844, S. 3. 55 Aposiopesen als Cliffhanger sind in Les Trois Mousquetaires nicht zu finden ‒ am ehesten noch bei der Folge, die mit einem Doppelpunkt endet. „L’hôte voulut le servir lui-même; ce que voyant, d’Artagnan fit apporter deux verres et entama la conversation suivante: (La suite à demain.)“ Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 31. In: Le Siècle, Nr. 2916, 23.04.1844, S. 2.

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finira. – Mal, monsieur, mal, répondit une voix que le jeune homme reconnut pour celle de Planchet“.56 Ebenso betont der auktoriale Erzähler Zeitbedrängnis, Spannung oder deutet Unheil an: „[E]t il [d.i. d’Artagnan] pensait avec raison qu’il n’y avait pas un instant à perdre.“57 Mehrsträngigkeit findet sich in den Les Trois Mousquetaires nur in einem sehr geringen Maße. Der Erzähler folgt vor allem dʼArtagnan und wenn er zu anderen Figuren wechselt, ist in der Zwischenzeit bei den Hauptpersonen anscheinend nichts passiert (parallelisierte Interruptionsspanne): Eine Mehrsträngigkeit geht in Dumasʼ Werk also immer zulasten einer Synchronie der Ereignisse. Die Spannweite ist meist mittlerer Natur. Vorausdeutende Cliffhanger sind selten vorhanden, und wenn, dann fallen die Andeutungen recht deutlich aus: „Quelques instants après, dʼArtagnan sortit à son tour, enveloppé lui aussi d’un grand manteau, que retroussait cavalièrement le fourreau d’une longue épée. Mme Bonacieux le suivit des yeux avec ce long regard d’amour dont la femme accompagne l’homme qu’elle se sent aimer ; mais lorsqu’il eut disparu à l’angle de la rue, elle tomba à genoux et joignant les mains, – Oh, mon Dieu ! s’écria-t-elle, protégez la reine, protégez-moi ! (La suite à après-demain.)“58

Die Andeutungen werden hier ausdrücklich mit mehreren exklamatorischen Kommunikationsakten, mit Ausrufen an Gott selbst verbunden, sodass die nahende Gefahr überdeutlich und kaum abwendbar erscheint. Nur vier Jahre nach Erscheinen von Les Trois Mousquetaires findet die Februarrevolution von 1848 statt, die die Herrschaft des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe von Orléans beendet und den Beginn der zweiten französischen Republik bedeutet. Der inhaltliche Kontext der analysierten Cliffhanger lässt die damaligen Vorwürfe zahlreicher Politiker nicht unbegründet erscheinen, der Feuilletonroman sei subversiv und stachele besonders die untere Bevölkerungsschicht zu Rebellion und Widerspruch an. Wenn auch Dumasʼ Roman in der Vergangenheit spielt, so wird der französische Staatsapparat als äußerst ineffektiv und als allein von Intrigen und privaten Interessen beherrscht dargestellt. Der König agiert zum Teil als Marionette eines bösartigen Kardinals, dessen niederträchtige Soldaten von den Musketieren und dʼArtagnan bekämpft werden müssen. Den eifersüchtigen und leicht manipulierbaren König interessiert vor allem die Treue seiner Frau und das Machtspiel mit dem Kardinal, in dem

56 Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 16. In: Le Siècle, Nr. 2897, 03.04.1844, S. 2. 57 Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 24. In: Le Siècle, Nr. 2909, 16.04.1844, S. 1. Siehe zum auktorialen Erzähler bei Dumas: Couleau, Christèle: „Quand le roman parle à son lecteur.“ In: Dumasy u. a. (Hg.): Stendhal, Balzac, Dumas, 2006, S. 219–234. 58 Dumas: „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 23. In: Le Siècle, Nr. 2907, 04.04.1844, S. 3.

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seine Musketiere sich stets erneut gegen Richelieus Garde beweisen müssen. Die Untergebenen beider Herrscher werden wie Bauern eines Schachspiels aufeinandergehetzt ‒ die Interessen der Bürger kommen in den Sätzen und Handlungen des Königs und des Kardinals nicht vor. Die Musketiere und vor allem dʼArtagnan treten zwar als dem König treu ergeben auf, aber sie rebellieren stets gegen Obrigkeiten, seien es ihr eigener Kommandant Treville, die Garden des Kardinals, Rochefort oder der Kardinal selbst. Letztendlich verheimlichen sie sogar vor ihrem König wesentliche Geschehnisse, als sie stillschweigend versuchen, den Ruf der Königin zu bewahren, indem sie deren Diamantnadeln wieder beschaffen. Bereits in der Szene, in der die drei Musketiere eingeführt werden, ist Treville mit ihnen unzufrieden ‒ unter anderem, weil sie seine Befehle nicht befolgt haben.59 Durchweg als Rebellen erscheinen die drei Musketiere, die sich für die ‚kleinen Leute‘ stark machen. D’Artagnan selbst stammt aus armen Verhältnissen, er ist rebellisch und jung, stolz und von seinem Ehrbegriff so sehr beherrscht, dass er es mit jedem aufnimmt ‒ selbst mit Rochefort oder den Musketieren.60 Trotz dʼArtagnans einfacher Herkunft, beschreibt der Roman, wie er der Erfüllung seines Traums, vom Armen zum Musketier (in den Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts würde man sagen: vom Tellerwäscher zum Millionär), immer näher kommt. Die Werte, die der Roman vermittelt, sind im Grunde: Rebellion gegen Eliten, die ihre Macht missbrauchen; Widerstand gegen eine volksferne Obrigkeit: Eintreten dafür, dass der Einzelne nicht mehr nach seiner Herkunft und seinen Finanzen beurteilt wird, sondern alles erreichen kann ‒ bis hin zur Bewahrung ganz Frankreichs vor einem Krieg.61 Die Cliffhanger betonen die Stellen im Werk, in denen diese essentiellen Themen erkennbar werden.

59 Vgl. Dumas : „Les Trois Mousquetaires“, Ep. 6. In: Le Siècle, Nr. 2884, 21.3.1844, S. 2. 60 Für eine Diskussion darüber, inwiefern die drei Musketiere und dʼArtagnan als Helden zu verstehen und zu betrachten sind, siehe: Petit-Rasselle: „Le Problème du héros dans Les Trois Mousquetaires“. In: French Review: Journal of the American Association of Teachers of French, 84 (5), 2011, S. 978–990. 61 Sicherlich ist der Roman mit zahlreichen Klischees durchsetzt, wie vor allem in folgendem Aufsatz festgestellt wird: Mettinger: „La productivité dʼun style à clichés, ou les voies insolites de la grandeur“. In: Chelebourg (Hg.): Alexandre Dumas „raconteur“, 2005, S. 123–142. Trotzdem bin ich der Meinung, dass diese Klischees immer wieder auch unterwandert und ironisiert werden und im Hinblick auf die politische Aussage wichtig sind, weil sie die subversiven Botschaften des Romans unterstreichen.

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3. F AZIT

UND

AUSBLICK

Auch andere berühmte Autoren schreiben zu jener Zeit Feuilletonromane, doch nicht alle setzen Cliffhanger ein: Honoré de Balzac gehört zu den ersten französischen Autoren, die für das Feuilleton Romane schreiben. Den Cliffhanger aber benutzen Alexandre Dumas und Eugène Sue wesentlich häufiger. Balzac lässt seine Folgen fast ausschließlich auf einer abschließenden Note enden. Die Folgen seiner Romane wirken oft wie in sich geschlossene Kapitel – selbst wenn die Kapitel unterbrochen sind, enden sie nie an einem spannenden Moment.62 Balzacs Desinteresse an Spannungsevozierung erkennen auch die Verleger: Die Tageszeitung La Presse, in der Les Paysans erscheint, setzt Balzacs Roman ab ohne einen Hinweise für die Leser und Leserinnen – kurz vor dem Stichtag für die Erneuerung der Abonnements.63 Die Verleger wissen von zahlreichen Leserbriefen, dass Balzacs Roman nicht gut ankommt. „Emile de Girardin [d.i. der Herausgeber der La Presse] fait même envoyer directement à Balzac les lettres réprobatrices des abonnés qui menacent dʼinterrompre leur abonnement, sʼils ne lʼont pas déjà fait.“64 Hier zeigt sich bereits, wie wichtig die Kommunikation zwischen Rezeptions- und Produktionsseite für die serielle Narration ist. Balzac reagiert nicht auf die Leserbriefe – im Gegensatz zu Dumas und Sue, die immer so wenig im Voraus schreiben, dass sie auf die Anregungen ihrer Leser eingehen können.65 Balzacs Produktion ist viel weiter fortgeschritten, er hat meistens bereits den Großteil des Romans geplant und geschrieben. Die Herausgeber jedoch reagieren schnell auf die Meinung der Leserschaft:

62 So schließt beispielsweise die Folge vom 05.12.1844 von Balzacs Roman Les Paysans wie folgt: „Les curieux demanderont pourquoi? De toutes raisons qu’on peut donner de cet état de choses, la principale, c’est que les paysans, par la nature de leurs fonctions sociales, vivent d’une vie purement matérielle et mécanique ; enfin la misère est leur raison d’état, comme le disait l’abbé Brossette. (La suite à demain.)“ Honoré de Balzac: „Les Paysans“. In: La Presse, Nr. 3146, 05.12.1844, S. 3. Obwohl das Kapitel an dieser Stelle nicht zu Ende ist, stellt der Erzähler eine Frage, die er aber anschließend selbst allgemein und abschließend beantwortet. Der Erzähler lässt weder die Frage als interrogativen Kommunikationsakt stehen, noch ist seine Aussage ein kommissiver Kommunikationsakt, der auf Zukünftiges spannt ‒ es handelt sich um eine generelle Feststellung über die Natur der Bauern. 63 Unter der letzten Folge von Les Paysans ist nur lapidar zu lesen: „Fin de la première partie.“ Honoré de Balzac: „Les Paysans“. In: La Presse, Nr. 3162, 21.12.1844, S. 3. 64 Aubry: Du roman-feuilleton à la série télévisuelle, 2006, S. 9–10. 65 Vgl. ebd., S. 10.

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„Mais ces romans [d.s. die von Balzac] nʼont guère de succès. Les audaces de Balzac choquent, ses interminables descriptions ennuient, il nʼa pas lʼart de tenir le lecteur en haleine. Lʼabonné proteste. Les tirages languissent. Bientôt, Sue, Dumas, Soulié, mieux aimés du public, vont prendre les pas sur Balzac. Suprême humiliation: La Presse interrompt la publication des Paysans avant le renouvellement dʼabonnement annuel, en décembre 1844, pour accueillir La reine Margot de Dumas.“66

Am 25.12.1844 beginnt die Veröffentlichung von Alexandre Dumas’ La reine Margot in La Presse. La Presse findet Balzacs Roman als Impuls zur Erneuerung des Abonnements nicht spannend genug, zu wenig verkaufsfördernd – die Leserbriefe bestätigen dies. Der gerade mit den Les Trois Mousquetaires überaus erfolgreiche Dumas scheint eine wesentlich bessere Wahl zu sein. Auch Roger Hagedorn zieht einen Vergleich zwischen Balzac und dem ähnlich wie Dumas mehr an Spannungserzeugung interessierten Eugène Sue: „Balzac was less popular among readers than Eugène Sue. […] Sueʼs phenomenal popularity was due in large part to his exploitation of what became a critical aspect of serial publication: the narrative potential of commercially imposed textual breaks. Unlike Balzacʼs narration, which tended to end each installment of his novels at a point of dénouement, Sueʼs narrative strategy successfully exploited the inherent formal limitation of serial publication. His narrative purposely does not achieve closure; rather, he ended each installment at a point of unresolved narrative tension, precisely in order to leave his readers in suspense.“67

Zwar waren die Ausgaben nicht täglich als Einzelstück, sondern nur als Abonnement erhältlich; es musste also kein direkter Kauf-, wohl aber ein ‚Leseimpuls‛ für die unmittelbar nächste Ausgabe gesendet werden. Im Gegensatz zu Balzac gebrauchen Sue und Dumas Cliffhanger ‒ beide sind zur damaligen Zeit wesentlich erfolgreicher als er.68 Alexandre Dumas ist als Autor sogar im viktorianischen England äußerst 66 Dumasy: La querelle du roman-feuilleton, 1999, S. 23. 67 Hagedorn: „Technology and Economic Exploitation“. In: Wide Angle, 10 (4), 1988, S. 7. 68 Zwei Beispiele für Cliffhanger in Sues berühmtesten Werk Les Mystères de Paris sind: Direkt im ersten Kapitel der ersten Folge wird an einer spannenden Stelle unterbrochen: „Le bandit et la Goualeuse entrèrent les premiers dans le tapis-franc; l’inconnu les suivait, lorsque le charbonnier s’approcha et lui dit tout bas, en anglais et d’un ton de respectueuse remontrance: – Monsieur...prenez bien garde!...L’inconnu haussa les épaules et rejoignit ses compagnons. Le charbonnier ne s’éloigna pas de la porte du cabaret, prêtant l’oreille avec attention il regardait de temps à autre au travers d’un petit jour pratiqué dans l’épaisse couche de blanc d’Espagne dont les vitres de ces repaires sont toujours enduites intérieurement. La suite à après-demain.)“ Sue, Eugène: „Les Mystères de Paris“. In: Journal des Débats, 19.06.1842, S.2. „Un incident tragique vint rappeler à ces trois personnages dans

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beliebt, weshalb die von ihm gesetzten Cliffhanger auch eine Wirkung und Inspiration auf den viktorianischen Fortsetzungsroman gehabt haben können.69 Dass man die Erzählunterbrechungen bei Dumas und Sue als Cliffhanger bezeichnen kann, wird in der Forschungsliteratur durchaus bezweifelt.70 Der Bezug der Tageszeitungen ausschließlich über Abonnements gibt den Zweiflern insofern Recht, weil ein Kaufimpuls je nach Tageszeitung nur alle drei, sechs oder zwölf Monate für eine Abonnementverlängerung gesendet werden muss. Erstaunlicherweise werden aber in einem Großteil der Feuilletonromane der ab 1863 aufkommenden presse à un sou ‒ der Tagespresse, die ohne Abonnement zum Einzelpreis von einem sou zu kaufen ist ‒ keine Cliffhanger gesetzt.71 Für die meisten Feuilletonromane bis 1863

quel lieu ils se trouvaient. La suite à demain.)“ Sue: „Les Mystères de Paris“. In: Journal des Débats, 23.06.1842, S. 2. Siehe auch: „Er [d.i. Sue] schrieb atemlos hastig für den Tag, er schrieb seine Romane als Feuilletons, die Spannungen hervorrufen sollten, er mußte an Höhepunkten abbrechen, mußte Fäden schleifen lassen, dann wieder irgendwo anknüpfen, mußte Intrigen bringen und doch wieder mit allen Mitteln Klarheit für die einfachsten Köpfe erzwingen.“ Klemperer: „Eugen Sue“. In: Ders. (Hg.): Die Geheimnisse von Paris, 1926, S. VIII. 69 Vgl. Atkinson: „Alexander the Great“. In: Papers of the Bibliographical Society of America, 106 (4), 2012, S. 417–447. 70 „Die Lösung einer Gefahrensituation kann nach dem Muster ‚La suite au prochain numéro‘ in Aussicht gestellt werden. Die Erzählung wird nicht nur nicht an einem anderen Schauplatz fortgesetzt, sondern ganz unterbrochen. Dadurch erzielt die Gefahrensituation eine besonders starke, prospektive, kohärenzstiftende Wirkung, da bis zur Wiederaufnahme der Erzählung keine anderen Erzählstränge angeboten werden. In diesem Sinn ist der ‚Cliffhanger‘ für die audiovisuellen Medien definiert, während ein entsprechender Begriff für die Feuilletonliteratur nicht vorliegt. Daher soll hier im Allgemeinen von der ‚Zäsur‘ die Rede sein.“ Türschmann: „Spannung und serielles Erzählen“. In: Ackermann (Hg.): Gespannte Erwartungen, 2007, S. 204. Allerdings verwendet Türschmann den Begriff „Cliffhanger“ dann 2008 auch für Zeitungsliteratur: „Dagegen können in den Fortsetzungsgeschichten Spannungsbögen vorhanden sein, die sich über mehrere Folgen, wenn nicht sogar über die gesamte Episodenkette erstrecken. Diese Form ist bekannt für die besondere Verknüpfung ihrer Folgen durch sogenannte ‚Leerstellen‘. Es handelt sich dabei um den cliffhanger“. Türschmann: „Spannung in Zeitungsliteratur“. In: Irsigler (Hg.): Zwischen Text und Leser, 2008, S. 227. 71 Nach dem kurzzeitigen Abflauen der Publikation serieller Romane aufgrund der Gesetzeslage und einer negativen, politisch begründeten Stimmung gegenüber dieser Veröffentlichungsform werden ab 1865 wieder häufiger Feuilletonromane in Zeitungen abgedruckt. Von diesen ist Rocambole von Ponson du Terrail am erfolgreichsten. (Vgl. Biermann: Literarisch-politische Avantgarde in Frankreich, 1980, S. 150.) Ab dem 1. Februar 1863,

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scheint es umso wichtiger, bis zum Datum der Abonnementverlängerung Spannung und einen narrativen Sog so weit aufgebaut zu haben, dass man bereit ist, sein Abonnement zu verlängern. Zumal Cliffhanger vielleicht dazu beitragen, den einen oder anderen Leser oder Zuhörer, der nur gelegentlich in den cabinets de lecture, den Bibliotheken oder Cafés eine Folge rezipiert, dazu zu bewegen, nun doch ein Abonnement abzuschließen und sich dadurch keine Folge, keine einzige Auflösung mehr entgehen zu lassen. Außerdem wird der Cliffhanger nicht über die im Hintergrund stehende Ökonomie definiert, sondern zunächst über ästhetische Kriterien ‒ die alle in den analysierten Beispielen gegeben sind. Mit dem beschriebenen dramaturgischen Aufbau der Folge 19‒21 von Les Trois Mousquetaires ist auch die Schwebeform vorhanden: Die Klimax dieser Folgen findet immer am Ende des Mikrotextes statt. Für die Anwendbarkeit der Bezeichnung ‚Cliffhanger‛ spricht auch, dass selbst in den damaligen Texten über den Feuilletonroman immer wieder betont wird, dass die Unterbrechung an einer spannenden Stelle das herausstechende Merkmal des Feuilletonromans sei. Der Journalist und Politiker Louis Reybaud verfasst bereits 1842 eine Persiflage, einen ironischen Leitfaden, wie ein erfolgreicher Feuilletonroman gestaltet sein sollte; der Cliffhanger wird darin auf verschiedenste Art charakterisiert: „Il faut que chaque numéro tombe bien, quʼil tienne au suivant par une espèce de cordon ombilical, quʼil inspire, quʼil donne le désir, lʼimpatience de lire de suite. Vous parliez dʼart, tout dem Datum des erstmaligen Erscheinens der Tageszeitung Le Petit Journal, werden zahlreiche Zeitungen zum Einzelpreis angeboten. Die so genannte presse à un sou entsteht. (Vgl. Bachleitner, Norbert: Fiktive Nachrichten, 2012, S. 99–102.) Aufgrund des täglich notwendigen Kaufimpulses für die unmittelbar nächste Ausgabe wäre denkbar, dass die in den Feuilletons der presse à un sou veröffentlichten Romane per se verstärkt und häufiger auf Cliffhanger setzten. (Vgl. ebd. S. 100.) Diese Hypothese hat sich in meiner Recherche nicht bestätigt. Zunächst werden keine Feuilletonromane im Le Petit Journal veröffentlicht, sondern bereits erschienene Kurzgeschichten. So beginnt die Zeitung mit der französischen Übersetzung einer Kurzgeschichte von Charles Dickens Une Assurance sur la Vie (1.2.1863–5.2.1863), dann folgen jeweils Kurzgeschichten, die ganzheitlich oder in zwei Zeitungsausgaben veröffentlicht werden (bspw. Le Billet de Mille Francs von Charles Barbara vom 6.2–7.2.1863, L’Épreuve von Marc Perrin am 8.2.1953 und Le Malheur d’avoir une dot von Paul Merruau am 9.2.1963.) In diesen und einigen weiteren Kurzgeschichten lassen sich, wie in den Feuilletonromanen, nur gelegentlich Cliffhanger finden. Das liegt vor allem daran, dass, wie bei der Dickens-Übersetzung, ein Großteil dieser Ausgaben mit bereits veröffentlichten Erzählungen gefüllt wird und die neu veröffentlichten Kurzgeschichten zu kurz sind, um große, mit Cliffhangern unterstützte Handlungsbögen zu spannen.

282 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION à lʼheure; lʼart, le voilà. Cʼest lʼart de se faire désirer, de se faire attendre. Vous avez, je suppose, un M. Arthur à qui votre public là de façon quʼaucun de ses faits et gestes ne porte à faux, ne soit perdu pour lʼeffet. A chaque fin de feuilleton, une situation critique, un mot mystérieux, et Arthur, toujours Arthur au bout!“72

Mit „une situation critique“ und „un mot mystérieux“ werden sogar die zwei Cliffhangertypen, der des gefahrensituativen und der des vorausdeutenden, umschrieben. Die Kunst, ein Verlangen nach Mehr und sogar Ungeduld hervorzurufen, werden in der Persiflage als die zentralen Erzähltechniken des Feuilletonromans benannt.73 72 Reybaud, Louis: „Jérôme Paturot à la recherche d’une position sociale“, 1879, S. 60. Zitiert nach: Heidenreich: Textstrategien des französischen Sozialromans im 19. Jahrhundert am Beispiel von Eugène Sues „Les mystères de Paris“ und Victor Hugos „Les misérables“, 1987, S. 54. 73 Auch die Arsène Lupin-Serie kommt ohne Cliffhanger aus. Sie erscheint wesentlich später und nicht in Feuilletons, sondern hauptsächlich in der Zeitschrift Je sais tout (ab Juli 1905). (Siehe: Lits: Le genre policier dans tous ses états, 2011.) In dem Artikel von Nils Minkmar über eine Rede des Politikers Peer Steinbrück, in der dieser behauptet, die damalige Bundesregierung liefere „scheibchenweise Fortsetzungskapitel“ zur europäischen Schuldenkrise, erinnert Minkmar an Fortsetzungs- und Feuilletonromane: „Im Falle des „Meisterdiebs Arsène Lupin“ [sic], eines Fortsetzungshelden von europäischem Ruhm, kamen die Autoren irgendwann an ihre Grenzen: Als sie ihn am Ende eines Kapitels in besonders rettungsresistenter Drangsal verließen, kam es in der folgenden Woche zu der Bankrottformel: ‚Niemand wird je erfahren, wie es unserem Helden gelang, aus solcher Gefahr zu entkommen.‘ Die europäische Schuldenkrise wird auf demselben Niveau erzählt: Wir lesen von Wendepunkten, Zuspitzungen und Auflösungen, die bereits Tage später vergessen sind.“ Minkmar: „Fortsetzung folgt…“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.09.2011. So interessant auch der Vergleich zur Informationspolitik der Bundesregierung auch sein mag ‒ eine derartige Folge von Arsène Lupin ließ sich nicht finden. (Auf die Frage per Mail, um welche Folge es sich denn handele, hat Herr Minkmar leider bis heute nicht geantwortet.) Im Gegenteil, die Folgen von Arsène Lupin wirken eher wie die einer Episodenserie, in denen Lupin es mit verschiedenen Gegnern aufnimmt und das episodische Abenteuer darin besteht, die Herausforderung eines Diebstahls einer bestimmten Sache zu meistern. Die späteren Geschichten sind wesentlich offener als noch die erste. Immerhin wird in den späteren Folgen das bisherige Geschehen so wichtig, dass ein kurzes recap am Anfang der Folge angeboten wird. Gelegentlich finden sich kommissive Kommunikationsakte am Ende einer Folge. (Vgl. La Vie extraordinaire d’Arsène Lupin. In: Je sais tout, Januar 1906, S. 116.) Auch Aposiopesen sind vorhanden. (Vgl. La Vie extraordinaire d’Arsène Lupin. In: Je sais tout, Nr. 5, 1906, S. 205.) Mal wird ein weiteres Zusammentreffen zwischen Sherlock Holmes und Lupin angedeutet. (Vgl. La Vie extraordinaire d’Arsène Lupin. In: Je sais tout Nummer 11, 1906, S. 423.) Mit Preisausschrieben wird gelegentlich

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Es ist möglich, dass die Abwechslung von Episodischem und Fortgesetztem auch als Auswirkung der Distributionsbedingungen und der gesellschaftlich gemischten Leserschaft zu sehen ist: Das Episodische ermöglicht einen späteren Einstieg in die Narration sowie eine geringe Erzählbreite für den gelegentlichen Leser, während der große Rahmen genug Fortgesetztes bereitstellt, um einen Anreiz für den Abonnenten und den ausdauernden Leser zu bieten. Die Beispiele haben gezeigt, wie wichtig eine generelle Spannungsstabilität schon damals ist, damit der Leser über die täglichen Unterbrechungen hinweg nicht das Interesse am Roman und damit womöglich an der Zeitung verliert. Ein Kaufimpuls für die jeweils nächste Ausgabe musste nicht gesendet werden – was sich auch anhand der Erzählunterbrechungen zeigt. Dieser Umstand führt nicht dazu, keine Cliffhanger zu setzen, sondern eine erzähl-ökonomische Cliffhanger-Setzung zu kultivieren. Cliffhanger werden nicht am Schluss jeder Folge inszeniert, sondern an dramaturgisch wichtigen Stellen, wie die zwei analysierten Beispiele gezeigt haben: Die drei Musketiere und d’Artagnan lassen von ihrem Duell ab, verbünden sich gegen die Gardisten und werden darüber zu Freunden; entlang mehrerer Enden wird Richelieus Intrigenspiel enthüllt. Dies sind Momente, die, exponiert durch eine Erzählunterbrechung, dramatisches Gewicht und damit narrativen Sog erzeugen. Unwichtigere Stellen werden hingegen selten krampfhaft auf einen Cliffhanger hin dramatisiert, und Abenteuer können auch episodisch am Ende einer Folge abgeschlossen werden – so schnell wird der Leser nicht sein Interesse verlieren, schließlich hat er ein Abonnement. Dumas muss das Erzählprinzip des Cliffhangers nicht verausgaben und es am Ende jeder Folge benutzen, sondern kann es aufgrund des Abonnements für die passenden Stellen aufsparen. Eine Befreiung von dem engen ökonomischen Korsett eines täglichen Erwerbs der Folgen, der das Raster einer sehr häufigen Cliffhangersetzung vorgibt, befreit auch den dramaturgischen Aufbau: weg von einer bloßen Aneinanderreihung spannungsintensiver Momente, hin zu gezielt und damit wirkungsvoll verwendeten spannungsintensiven Unterbrechungen. Der Cliffhanger ist damit im französischen Feuilletonroman nicht vollkommen einer Ökonomie ausgeliefert. Er ist nicht nur ein bloß wirtschaftlich zu sehender Rezeptionsimpuls, sondern vielmehr eine autonome Erzähltechnik, die zentrale dramaturgische Stellen betont und die darin erzählten Themen hervorhebt. Deutlich geworden ist auch: Feuilletonromane und ihre Autoren genießen schon zur damaligen Zeit keinen guten Ruf.74 Die Konnotationen von Serialität mit Industrialisierung, mit Trivial-Kunst, mit Suchterzeugung sind schon früh erkennbar. Dabei die Antizipation der Rezipienten gefördert. Dass die Serie aber häufiger Cliffhanger hat und auch noch in so extremer Form, wie von Minkmar behauptet, konnte nicht festgestellt werden. 74 Noch 1926 schreibt der deutsche Literaturwissenschaftler Victor Klemperer im Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe von Die Geheimnisse von Paris: „Über Eugen Sue ein gutes Wort zu sagen und gar ernsthaft Gefallen an ihm zu finden, gilt bei Leuten, die sich auf

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zeigt die anhaltende Popularität von Dumasʼ Werken Les Trois Mousquetaires und Le Comte de Monte-Cristo, dass diese Werke eine wesentlich längere Haltbarkeit aufweisen, als der Verdacht, hier gehe es nur um schnell konsumierbare Produkte mit kurzem Verfallsdatum, suggeriert. Dies liegt sicherlich an der erfolgreichen Mischung, die bereits vorgegeben wird von den Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen des Feuilletonromans: einerseits episodische Abenteuer und das Eintreten für Arme und Entrechtete, das sicherlich den eher gelegentlichen, weil schlechter gestellten Lesern gefallen hat; andererseits eine Sprache, die sehr ‚frisch‛ und lebhaft geblieben ist, mit intelligenten und spritzigen Dialogen, die Dumasʼ Herkunft aus dem Theater erkennen lassen und die, zusammen mit der steten Treue zum König, sicherlich auch bei der gut situierten, gehobenen Leserschaft Anklang gefunden haben. Hatten die Cliffhanger aus 1001 Nacht eine sexuelle Metaebene, so könnte man den Cliffhangern aus Les Trois Mousquetaires eine politische, subversive Bedeutung zumessen. Die Rebellion gegen die herrschenden Strukturen, gegen die Willkür der Obrigkeit, und das wörtliche Verfechten der eigenen Träume ‒ die individuelle pursuit of happiness sozusagen ‒ stehen als sehr moderne Werte im Hintergrund der Erzählung. Diese Werte werden vor allem mithilfe der Cliffhanger hervorgehoben. ‚Der Widerstand gegen die Staatsgewalt‘ wird erst mit dem Cliffhanger initiiert, bei dem sich die drei Musketiere mit dʼArtagnan gegen die Garde des Kardinals verbünden. Intrigen, Scharlatanerie und Unfähigkeit des Staates werden anhand der Cliffhanger um das Komplott des Kardinals deutlich. Mit der Erzähltechnik des Cliffhangers ‒ so ließe sich deuten ‒ werden diese Stellen nicht nur exponiert, sondern die dahinter stehenden Werte auch besonders eingeprägt: Der Feuilletonroman erhält durch den Cliffhanger eine enorm suggestive und subversive Kraft.

ihre ästhetische Bildung etwas zugute tun, als eine blamable Sache. Ebensogut könnte man beim Essen das Messer in den Mund stecken. Nein, so etwas tut man nicht, wenn man ein gebildeter Mensch sein will.“ Klemperer: „Eugen Sue“. In: Sue: Die Geheimnisse von Paris, 1926, S. VII.

VII. Kinoserien „Le film à épisodes, qui adapte la technique populaire du feuilleton, retrouve en fait les vielles structures du conte. Je l’éprouvai personnellement en revoyant les Vampires de Feuillade […]. Ce soir-là, un seul des deux appareils de projection fonctionnait. […] Enfin la lumière, rendue à la salle toutes les dix minutes pour recharger l’appareil, multipliait les épisodes. Ainsi présenté, le chef-d’oeuvre de Feuillade révélait de manière éclatante le principe esthétique de son charme. Chaque interruption soulevait un ‚Ah!‘ de déception et la reprise un espoir de soulagement. Cette histoire, à laquelle le public ne comprenait rien, s’imposait à son attention et à son désir par la seule et pure exigence du récit. Elle n’était en aucune manière une action préexistante arbitrairement morcelée d’entractes, mais une création indûment interrompue, une source intarissable dont une main mystérieuse aurait retenu le flot. D’où le malaise insupportable provoqué par ‚la suite au prochain numéro‘ et l’attente anxieuse, non pas tant des événements suivants, que l’écoulement d’un récit, de la reprise d’une création suspendue. […] Auteur et spectateur étaient dans la même situation: celle du roi et de Schéhérazade; l’obscurité renouvelée de la salle de cinéma était celle-là même des Mille et une nuits. Le ‚à suivre‘ du vrai roman feuilleton, comme du vieux film à épisodes, n’est donc pas une servitude extérieure à l’histoire. Si Schéhérazade avait tout raconté d’un coup, le roi, aussi cruel que le public, l’eût fait exécuter à l’aube. L’un comme l’autre ont besoin

286 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION d’éprouver la puissance du charme par son interruption, de savourer la délicieuse attende du conte qui se substitue à la vie quotidienne, laquelle n’est plus que la solution de continuité du rêve.“1 BAZIN: „POUR UN CINEMA IMPUR“. IN: QUʼEST-CE QUE LE CINEMA?, 1993, S. 86–87.

1. K ONTEXT 1.1 Einleitung: „Die unterbrochene Schöpfung“ André Bazin beschreibt in seinem Aufsatz Pour un cinéma impur; défense de lʼadaptation von 1952 den Cliffhanger, ohne den Begriff ein einziges Mal zu gebrauchen. Das Zitat skizziert die diachrone Betrachtungsweise des Cliffhangers, die auch in der vorliegenden Arbeit gewählt wurde ‒ Bazin nennt sowohl 1001 Nacht wie auch die Fortsetzungsromane als Verwandte der Kinoserie.2 In ihnen allen kommt die Erzähltechnik des Cliffhangers vor. 1

Bazin: „Pour un Cinéma impur“. In: Quʼest-ce que le cinéma?, 1993, S. 86–87.

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Ich führe den Begriff der ‚Kinoserie‘ aus zweierlei Gründen neu ein: Erstens weil sowohl die englische als auch die deutsche Filmwissenschaft in Bezug auf diese ‚Filmform‘ eine Begriffspluralität aufweisen. ‚Serial‘ und ‚Chapter-play‘ werden häufig synonym benutzt und die Kinoserien mit abgeschlossener Folgenhandlung werden aus Mangel eines Begriffs umschrieben. Bspw. nennt Roy Kinnard alle Begriffe in einem Satz und verwischt damit die Abgrenzungen dazwischen: „Usually ignored in histories of science fiction movies, or casually dismissed, are the serials, the ‚continued next week‘ chapterplays shown in weekly episodes (running 15 or 20 minutes each), somewhat derisively known as ‚cliffhangers‘ in reference to the hair-rising situations that left viewers dangling in suspense until the next weekʼs installment.“ Kinnard: Science Fiction Serials, 2008, S. 1. Zusätzlich ist bei Episoden-Kinoserien im englischen wissenschaftlichen Sprachgebrauch von „series films“ die Rede (vgl. Stedman: The Serials, 1981, S. 6–7) oder aber von „movie series“ (vgl. Parish: The Great Movie Series, 1971). Zweitens erscheint mir der Begriff ‚Kinoserie‘ in Analogie zu ‚Fernsehserie‘ sinnvoll. Die Veröffentlichungsform Serie ist verbunden mit dem Ort, an dem sie rezipiert wird, dem Kino. In Bezug auf die bisherige Unterscheidung von ‚Fortsetzungsserie‘ und ‚Episodenserie‘, spreche ich im Folgenden von ‚Fortsetzungs-Kinoserie‘ und ‚Episoden-Kinoserie‘. Christian Junklewitz und Tanja Weber führen mit ‚Cineserie‘ und ‚Filmserie‘ ähnliche Begriffe ein. Die hier gewählte Begrifflichkeit ist für die vorliegende Arbeit zweckmäßiger, da Weber und Junklewitz alle filmischen Serien meinen, also von den hier besprochenen Kinoserien bis hin zu modernen wie der Lord of the Ring-Trilogie. Zumal auch einige TV-Serien Filmlänge haben wie beispielsweise Sherlock mit

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Bazin macht zahlreiche Aussagen, die zu Bestandteilen des folgenden Kapitels werden: Auch er stellt einen Zusammenhang her zwischen Technik, Form und Rezeption. Durch das Ausfallen des zweiten Filmprojektors, der nötig ist zu einem flüssigen Wechsel der Filmrollen, finden Unterbrechungen statt, welche die in der Kinoserie ohnehin vorhandenen konzeptionellen Unterbrechungen vervielfältigen und die Rezeptionserfahrung des Publikums prägen. Technik, Form und damit die Rezeptionserfahrung sind unmittelbar miteinander verbunden. Das Publikum, so meint Bazin, ist letztendlich gar nicht mehr primär an den kommenden Ereignissen interessiert, sondern am Aufhebungsmoment, dem Weiterfluss der Erzählung; Bazin umschreibt nicht nur den Cliffhanger, sondern auch die rezeptionsästhetische ‚Poesie der Unterbrechung‘. Im Folgenden liegt der Fokus der Betrachtung auf der US-amerikanischen Kinoserie, da der Begriff ‚Cliffhanger‘ aus dem Englischen kommt, eine US-amerikanische Kinoserien-Form ‚Cliffhanger‘ genannt wird und die US-amerikanische Kinoserie an sich am stilprägendsten war ‒ ein internationaler Vergleich über den Einsatz des Cliffhangers in der Kinoserie wäre für eine Herausarbeitung der Zusammenhänge zwischen Produktion, Distribution und Narration zu umfassend.3 Die französische Kinoserie wird berücksichtigt, da ‒ wie im Folgenden gezeigt wird ‒ vor allem die US-amerikanischen und französischen Produktionsfirmen von Kinoserien sich gegenseitig beeinflusst haben beziehungsweise für beide Seiten der nationale Markt des anderen Landes interessant war. Die Zeit der Fortsetzungs-Kinoserien erstreckt sich von den 1920er bis zu den 1950er Jahren. Jedes Jahrzehnt wird anhand von mindestens zwei für die Verwendung des Cliffhangers und die technischen Weiterentwicklungen aussagekräftigen Beispielen betrachtet. Die behandelten Kinoserien wurden aufgrund von vier Kriterien ausgewählt:

durchschnittlich 90 Minuten, gerade also der Begriff ‚Filmserie‘ schwer fassbar ist. Vgl. Weber u. a. : „Die Cineserie“. In: Blanchet (Hg.): Serielle Formen, 2010, S. 337–356. 3

Dieser Umstand ist aufgrund der im Vergleich zu anderen Ländern unzähligen US-amerikanischen Kinoserien ersichtlich, sowie dem Fakt, dass es wissenschaftliche Werke fast ausschließlich zu der US-amerikanischen Kinoserie gibt. Zur Distribution der US-amerikanischen Kinoserien in anderen Ländern sowie einigen wenigen nicht-amerikanischen Kinoserien empfehlt sich vor allem die Lektüre von: Canjels: „Adapting Film Serials“. In: Antonini (Hg.): Il film e i suoi multipli, 2003, S. 269–282; Canjels: „Monopolizing Episodic Adventures“. In: Kessler u. a. (Hg.): Networks of Entertainment, 2007, S. 180–190; Canjels: Distributing Silent Film Serials, 2011.

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1. Besonders von den ersten Kinoserien sind gar keine oder nur sehr wenige Filmrollen erhalten, was die Auswahl besonders in den 1920er Jahren sehr einschränkt. Aber auch in den späteren Jahrzehnten wird die Auswahl immer vom spärlich erhaltenen Material mitbestimmt. 2. In jedem behandelten Jahrzehnt gibt es ein oder zwei Genres, die besonders häufig für Kinoserien verwendet werden. Die Beispiele stammen immer aus dem in jenem Jahrzehnt in der Kinoserie populären Genre. 3. Die Kinoserie ist die in jener Zeitspanne größte seriell-fortgesetzte Erzählwelle. Die Auswahl bezieht jedoch auch serielle Werke in anderen technischen Medien mit ein, von denen für die Kinoserie Stoffe und Figuren übernommen wurden. Dies sind vor allem: die Frauenzeitschriften der 1910er bis 1920er Jahre, die pulpMagazine ab den 1920er Jahren, die Zeitungscomics (ca. ab den 1930er Jahren) und die Hörspiel-Serien (ebenfalls ab den 1930er Jahren).4 Die Übernahme von Stoffen oder Figuren aus einem technischen Medium deckt sich immer mit der Prominenz eines Genres zu der jeweiligen Zeit ‒ Kriterium zwei und drei lassen sich somit gut kombinieren. Die Kinoserien werden immer mit den seriell-veröffentlichten Vorlagen verglichen. Der Vergleich fördert nicht nur zutage, inwiefern der Cliffhanger in diesen Formaten verwendet wurde, sondern zeigt auch auf, inwiefern mediale Unterschiede beziehungsweise ‚Präferenzen‘ in der Verwendung des Cliffhangers vorhanden sind. 4. Zuletzt wurde die Auswahl mitbestimmt vom Erfolg der Serien oder der Popularität der Hauptfigur ‒ da diese Kinoserien somit am meisten rezipiert wurden und daher die größte Wirkungsbreite in der Verwendung des Cliffhangers hatten.5

4

Wie in der Einleitung genannt, richtet sich jedes Kapitel nur nach der größten seriell-fortgesetzten Erzählwelle, was in diesem Fall die US-amerikanische Kinoserie ist. Zu jener Zeit wurde zwar auch in anderen technischen Medien fortgesetzt erzählt, aber dort nicht ausschließlich. Wie die Analyse aufzeigen wird, finden sich in diesen Formaten ebenso zahlreich ganzheitliche und episodische Werke, zumal diese Formate immer mehr für ein kleineres, klarer definiertes Publikum, während einer kürzeren Zeitspanne und mit geringerer internationaler Auswertung publiziert wurden. Das vorliegende Kapitel wird diese Formate in Vergleichen in die diachrone Analyse des Cliffhangers miteinbeziehen.

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Wie auch in allen anderen Kapiteln richtet sich die Analyse immer nach den Erstveröffentlichungen.

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1.2

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Der Weg zur Kinoserie

1.2.1 Technik, Publikum und Form bis 19086 „Die Länge von Filmen betraf […] nicht nur banale Äußerlichkeiten der Filmform, sondern war auch strukturbildend für viele filmhistorische Phänomene. Sie hatte Auswirkungen auf die Filmindustrie, ihre Organisation und Produktionsweise, auf die kulturhistorische Bewertung des Mediums Film, auf die Erzähltechnik in Filmen, auf die Struktur des Kinoprogramms und seine Wirkungsästhetik und damit auch auf die Zuschauer. Denn jeder Wandel der Filmlänge änderte die Art der Film- und Kinorezeption, so daß jede Phase der Filmgeschichte, wie Tom Gunning sinngemäß sagte, ‚ihren Zuschauer auf eine neue Art konstruiert‘.“7 MÜLLER: „VARIATIONEN DES KINOPROGRAMMS“. IN: SEGEBERG U. A. (HRSG.): MEDIENGESCHICHTE DES FILMS, 2009, S. 44.

Der von Corinna Müller skizzierte Zusammenhang zwischen technischen und kulturellen Kontexten des frühen Films ist auch für die Entstehung der Kinoserie bedeutsam. Spielorte der frühen Filme sind in den USA hauptsächlich die Vaudeville-Theater.8 Stehen keine Vaudeville-Theater zur Verfügung oder sind sie zu teuer, werden von den reisenden Vorführern auch Kirchen, Scheunen und Opernhäuser für die Filmvorstellung genutzt. Eigens für die Filmdarbietung gebaute Kinosäle werden in

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Die gewählte zeitliche Einteilung orientiert sich grob an der von Tom Gunning und André Gaudreault in: „Introduction: American Cinema Emerges (1890–1909)“, in: Gaudreault (Hrsg.): American Cinema, 1890-1909, 2009, S. 1–22. Siehe auch: Pearson: „Das frühe Kino“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 14. Ich wähle die zeitliche Etappe bis 1908, da in diesem Jahr die MPPC (Motion Picture Patent Company) gegründet wird, die den Anfang des US-amerikanischen Verleihsystems bedeutet.

7

Corinna Müller zitiert Tom Gunnings: „The Cinema of Attractions: Early Film, its Specta-

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Auch in Deutschland wurde das frühe Kino auf Jahrmärkten und Varieté-Theatern gezeigt.

tor and the Avant-Garde“. In: Wide Angle, Herbst 1986 (3), S.63–70. Vgl. Müller: Frühe deutsche Kinematographie, 1994, S. 11.

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den Vereinigten Staaten erst ab 1905 errichtet.9 Das Publikum kann in den frühen Jahren in den Filmvorführungen nach eigenem Belieben kommen und gehen, denn jeder Kurzfilm ist in sich geschlossen. Gerade die hohe Publikums-Fluktuation ist für den Filmvorführer rentabel:10 Ist ein Film nicht so gelungen oder entspricht er nicht dem Geschmack der Zuschauer, so ist unmittelbar im Anschluss der nächste zu sehen. Eine Verlängerung des Programms, aber auch ein Überleitung zwischen den einzelnen Filmrollen,11 die gewechselt werden müssen, entsteht häufig durch Zwischenspiele in Form kleiner Kabarett-, Tanz-, Gesangs- oder Theatereinlagen.12 Vom Anfang des Kinos bis 1903 vervielfacht sich die Filmlänge: Von einer nicht einmal ein-minütigen, allein auf einen „Wirklichkeits-Effekt“ zugeschnittenen ‚Anekdote‘ wie LʼArrivée dʼun train en gare de La Ciotat (F 1896) zum bereits komplexer erzählenden zwölfminütigen Film The Great Train Robbery (USA 1903) vergehen nur sieben Jahre. Vornehmlich bleiben die Filme bis 1908/1909 aber kurze Nummernrevues.13 Das liegt zum einen an der sehr begrenzten Erzählzeit. Zum anderen ist anzunehmen, dass die Filmemacher sowie das Publikum noch absorbiert sind von der Neuheit der Technik, einem neuen Sehen, das der Film fordert. Sie sind womöglich zu sehr fasziniert von dieser neuen Kunst, als dass ihre Aufmerksamkeit 9

Vgl. Pearson: „Das frühe Kino“. In: Nowell-Smith u.a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 23.

10 Ebd., S. 25. 11 „Zudem diente die Moderation möglicherweise auch der Überbrückung der Pausen während des Wechselns der Filmrollen. Anfangs wurde nicht mit zwei alternierend eingesetzten Projektoren gearbeitet, um eine kontinuierliche Vorführung zur gewährleisten (was übrigens bis weit in die Tonfilmzeit hinein in kleinen Kinos recht verbreitet blieb; ‚Aktpausen‘ gab es in machen Kinos daher sogar noch beim Tonfilm“. Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm, 2003, S. 94. 12 „The first movie audiences in America were vaudeville audiences. The Edison/Armat Vitascope, Lumière Cinématographe, Biograph, and Vitagraph all made their debuts in New York vaudeville theaters in the 1896–1897 season as one twelve- to fifteen-minute ‚act‘ among eight or nine others on the vaudeville program.“ Allen: „The Movies in Vaudeville“. In: Balio (Hg.): The American Film Industry, 1985, S. 58. Das Kinoprogramm, das ja zunächst nur aus kurzen Filmen bestand, wurde so verlängert und die Pause zwischen den Rollenwechseln mit ‚Showeinlagen‘ überbrückt. Vgl. auch zum frühen deutschen Film und den Varieté-Einlagen: Elsaesser: Filmgeschichte und frühes Kino, 2002, S. 147–148. 13 „Die ersten Filme waren wenig mehr als zappelnde Schnappschüsse, kaum eine Minute lang, und meist bestanden sie nur aus einer einzigen Einstellung. 1905 waren sie fünf bis zehn Minuten lang und arbeiteten mit Szenenwechseln und unterschiedlichen Kamerapositionen, um eine Geschichte zu erzählen oder ein Thema zu illustrieren.“ Pearson: „Das frühe Kino“. In: Nowell-Smith u.a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 13.

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bereits narrativ aufwendigen Geschichten gewachsen wäre.14 Für eine Erzählunterbrechung ist auch in diesem Zusammenhang kein Platz, weil zum großen Teil ‒ in einem engen Verständnis von Erzählen ‒ gar nicht ‚komplex erzählt‘ wird. Einzige Möglichkeit für Erzählunterbrechungen könnte die Programmzusammenstellung der einzelnen Vorführer oder ‚Kinobesitzer‘ gewesen sein.15 Sie sind in der Lage zu entscheiden, in welcher Reihenfolge die Filme gezeigt werden, ob Kommentare, unterstützende Geräusche und Musik oder Performance-Einlagen dem Programm einen zusammenhängenden Rahmen geben und die einzelnen Elemente verbinden.16 „Das Eden Musée in New York stellte ein spezielles Programm über den Spanisch-Amerikanischen Krieg zusammen, in dem Lichtbilder mit zwanzig oder mehr Filmen von verschiedenen Produzenten kombiniert wurden. Cecil Hepworth [einer der Pioniere des britischen Films] machte, als er noch hauptsächlich Kinobesitzer war, den Vorschlag, Laterna Magica-Bilder und Filme gemischt zu projizieren, um so ‚die Bilder in kleinen Serien oder Episoden aneinanderzureihen‘ mit Kommentaren, die das Material verbinden. Als die Verbesserung der Apparate es gestattete, Filme von mehr als fünfzig Sekunden zu projizieren, begannen Kinobesitzer, zwölf und mehr Filme aneinanderzukleben und so Programme über spezielle Themen zusammenzustellen.“17

14 Vgl. Gunning: „Now You See It, Now You Donʼt“. In: Abel (Hg.): Silent Film, 1996, S. 80–84. 15 Vgl. Abel: „Early Film Programs“. In: Gaudreault u. a. (Hg.): A Companion to Early Cinema, 2012, S. 334–359. „Series gave screenings their modular quality, their ‚series of series‘ quality, and transformed each screening into a show whose projectionist, who decided the order of the series, was in part the author“. Le Forestier: „From Craft to Industry“. In: Gaudreault u. a. (Hg.): A Companion to Early Cinema, 2012, S. 193. 16 „Kinobesitzer konnten nicht nur die visuellen Aspekte ihrer Programme bestimmen, sondern sie fügten auch unterschiedlichsten Ton hinzu. Deshalb war der stumme Film nie wirklich stumm. [...] Reisende Vorführer hielten Vorträge, während sie Filme oder Laterna Magica-Bilder projizierten, und konnten durch das gesprochene Wort dem Bild eine ganz andere Bedeutung geben als die Produzenten intendierten. Viele Kinobesitzer fügten sogar noch Geräuscheffekte hinzu – Pferdehufe, Revolverschüsse etc. – oder Dialog, der von Schauspielern hinter der Leinwand gesprochen wurde.“ Pearson: „Das frühe Kino“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 24. 17 Ebd., S. 23–24. Auch über den nordamerikanischen Filmvorführer Lyman H. Howe ist bekannt, dass er ein Programm von über 30 Kurzfilmen über den Spanisch-Amerikanischen Krieg und eins mit über 50 Kurzfilmen (inklusive zwei Pausen) über den südafrikanischen Burenkrieg zusammengestellt hatte. (Vgl. Abel: „Early Film Programs“. In: Gaudreault u. a. (Hg.): A Companion to Early Cinema, 2012, S. 339.)

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Ein Vorläufer der filmischen Serie ist somit im frühen Kino bereits angelegt, wenn auch eher als Ausnahme und von collageartig-verbindenden Charakter. Diese seltenen, frühen „kleinen Serien“ sind eher Impressionen zu einem Thema als Anfänge einer seriellen Film-Narration. Zudem lässt sich von diesen Anfängen heutzutage nur sehr wenig nachvollziehen und überprüfen:18 Es gilt zu berücksichtigen, dass die jetzige Betrachtung eines frühen Stummfilms nur wenig mit dem damaligen Filmerlebnis gemein hat. „Einen Stummfilm in der Form zu erleben, wie er ursprünglich vom Publikum gesehen wurde, setzt voraus, das […] höchst seltene Glück zu haben, eine originale Nitrokopie zu sehen. Und selbst dann muß man bedenken, daß jede einzelne Kopie ihr eigenes Schicksal hat und – unabhängig von der gezeigten Kopie und den Umständen – jede Vorführung anders ist [und vor allem damals anders war]. Unterschiedliche Projektion, andere Musik, das (vermutliche) Fehlen einer begleitenden Bühnenschau und von Lichteffekten bedeuten, daß es sich bei modernen Aufführungen von Stummfilmen lediglich um grobe Annäherungen an das handelt, was eine Stummfilm-Vorstellung für das Publikum jener Zeit ausmachte.“19

Es ist möglich, dass einige Filmvorstellungen, wenn sie über Vaudeville und einen kommentierenden Vorführer verfügen, Minicliffs haben, damit das Publikum möglichst lange bleibt ‒ in diesem Fall baut aber vermutlich der Vorführer den Minicliff in seine Performance ein. So sind diese Minicliffs nicht Teil der kurzen Filme, denn die Filme wurden unabhängig von der Vorführungspraxis produziert und sind in sich geschlossen, sondern werden vom jeweiligen Vorführer eingebaut. Derartig zusammenhängende Programme sind eher die Ausnahme. Nicht alle Filme werden durch ‚Erklärer‘ oder ‚Conférenciers‘ erläutert, die eine fortgesetzte und damit vielleicht von Minicliffs unterbrochene Narration auditiv beisteuern.20 Die ersten frühen Filme 18 Besonders über die Programme und Darbietungs-Techniken der frühen Filmvorführer sind kaum Aufzeichnungen erhalten: Vgl. ebd., S. 337. 19 Usai: „Frühzeit“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 13. 20 „Die in etlichen Anekdoten beschriebenen ‚Erklärer‘, die das Filmgeschehen erläuterten und kommentierten, waren vorwiegend in der frühen Ära ortsfester Kinos während der Kurzfilmzeit im Einsatz. […] Zudem gab es einen Unterschied zwischen dem ‚Erklärer‘, der die ganze Vorstellung hindurch die laufenden Filme kommentierte, und der Praxis einer ‚Conférence‘ gehobener Betriebe, bei der wohl nur die einzelnen Kurzfilm-Programme angekündigt und Überleitungen zwischen ihnen geschaffen wurden, ohne sich beim laufenden Film ‚erklärend‘ in die Filmrezeption einzumischen.“ Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm, 2003, S. 94. Müller beschreibt diese Technik zwar hauptsächlich für den deutschen Film, es finden sich jedoch Hinweise darauf, dass ähnliche Techniken auch in den USA üblich waren: Vgl. Bowser u. a.: History of the American Cinema, 1990, S. 185.

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und die sie begleitenden Vaudeville-Nummern sind eher kleine, unverbundene Schaunummern,21 die sich nur schwerlich zu einer zusammenhängenden beziehungsweise fortgesetzten Narration zusammenfügen lassen. Die Kürze der Filme wird von den technischen Mitteln diktiert: Die meisten USamerikanischen Projektoren können nur eine kleine Filmrolle mit ca. 600 Fuß Film (183 Meter) abspielen.22 Viele der Kinobetreiber besitzen noch nicht die nötige Technik für die 1000-Fuß langen Filmrollen, da diese nicht in die älteren Projektoren passen. Gleichzeitig ändern sich die filmwirtschaftlichen Begleitumstände: Werden die Filme bis 1906 meist gekauft, so stellt man ab 1906 langsam auf feste Spielstätten um, die Nickelodeons, in die man für den festen Preis von 5 Cent ‒ daher der Namensbestandteil ‚nickel‘ ‒ Einlass erhält. Der Film wandert aus den Vaudeville-Theatern und provisorischen Vorführräumen in eigene Häuser.23 1.2.2 Technik, Publikum und Form bis 1920 Zwischen 1907–1909 beginnt in den Vereinigten Staaten (und den meisten Ländern Europas bis 1913) die Filmindustrie Gestalt anzunehmen.24 1908 wird unter der Führung der Produktionsfirmen Edison und Biograph die Motion Picture Patent Company (MPPC) gegründet. Sie regelt bis 1915 die Filmdistribution in den USA. Die MPPC ist eine monopolistische Vereinigung der größten US-amerikanischen Filmgesellschaften, welche die Distributionswege und -formen von Filmen bestimmt. Unter anderem verzögert die MPPC das Aufkommen der Feature-Filme, da sie mit dem Verleih von Kurzfilmen mehr verdient.25 „Der durchschnittliche Film erreichte die Standardlänge einer 300 Meter-Rolle und dauerte etwa fünfzehn Minuten.“26 Die üb-

21 Zumindest in der Zeit, die häufig als „frühes Kino“ bezeichnet wird (1894–1902/1903), besteht das Filmprogramm aus diesen kleinen, unverbundenen ‚Schaunummern‘. Siehe bspw. Pearson: „Das frühe Kino“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 20–23. 22 „A full 1,000-foot film could not be wound on a 103/8-inch reel and could not fit in the magazine of the projector. This meant cutting out part of the film“. Bowser u. a.: History of the American Cinema, 1990, S. 197. 23 Siehe: Pearson: „Das Kino des Übergangs“. In: Nowell-Smith u.a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 27–28. 24 Vgl. Gunning u. a.: „Introduction“. In: Gaudreault (Hg.): American Cinema, 1890-1909, 2009, S. 12–13; Pearson: „Das Kino des Übergangs“. In: Nowell-Smith u.a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 25. 25 Vgl. ebd., S. 27–28. Das MPPC wird 1915 vom Sherman Anti-Trust Act für illegal erklärt, hat aber bereits 1912 keine richtige Handhabe mehr. 26 Ebd., S. 25.

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liche Filmdauer ist in den USA zu jener Zeit also nach wie vor sehr kurz. Der Vorbehalt gegen Feature-Filme,27 also Filme, die aus mehreren Rollen bestehen, ist sowohl bei den Kinobesitzern als auch beim Publikum groß: Das Publikum kann nicht mehr beliebig kommen und gehen, denn ein Feature-Film bedarf fester Anfangs- und Endzeiten. Wenn der Film zudem nicht gefällt, ist nicht wie bisher schnell für Abwechslung gesorgt. Die Publikums-Fluktuation ist bei Feature-Filmen dementsprechend geringer, was für den Kinobesitzer Einbußen bedeutet: Der feste Preis in den Nickelodeons gilt sowohl für einen Feature-Film als auch für ein Kurzfilm-Programm. Hinzu kommt, dass die meisten Nickelodeons viel zu klein sind für ein größeres Publikum, das längere Zeit bleibt.28 „Nonetheless, conversion to the feature remained slow and uneven, in part because many spectators resented the submission required by the feature: no longer could they mix and match their films in a ‚moving picture debauch‘: the five reel feature demanded synchronicity with exhibition schedules and commitment of an evening to one film, one theatre. Well past 1910, exhibitors complained that they had trouble keeping audiences in their seats for multi-reel features. After all, the majority of theatres still only had one projector, and so there was always a pause between reels.“29

1909 beginnt Vitagraph damit, einige Multi-Reel-Filme zu produzieren, bei denen jedoch noch jede Rolle einzeln erscheint – meist versetzt mit einer Woche Abstand.30 Diese ersten Multi-Reel-Filme sind häufig nicht als zusammenhängende Erzählung konzipiert, wie anhand des aus zwei Filmrollen bestehenden Napoleon, the man of destiny (USA 1909) ersichtlich wird: „There was no imperative to run both reels together, because they were not treated as modern story films, with a continuous narrative. [...] Thus the two Napoleon reels were tableau films, illustrating separately the events in Napoleon’s life. [...] The tableau style, consisting of a series of carefully composed scenes often resembling famous paintings or book illustrations of well-

27 Vgl. Bowser u. a.: History of the American Cinema, 1990, S. 191. 28 Vgl. Pearson: „Das Kino des Übergangs“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 39. 29 Gardner: Projections, 2012, S. 32. 30 „However, as was to be the practice throughout most of 1909 and 1910, the multiple-reel films were released sequentially in single reels, a week apart. This may seem strange now, but it was the result of the existing distribution system (and was probably less strange to a public accustomed to issuance of novels in weekly parts in periodicals).“ Bowser u. a.: History of the American Cinema, 1990, S. 195.

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known events, was also typical of the passion plays, the earliest of the special features. It was not a matter of asking audiences to come back next week and see how the story turned out.“31

Der Cliffhanger wird als Erzähltechnik nicht gebraucht, da keine Fortsetzungsgeschichte erzählt wird, sondern lediglich einzelne Film-Tableaus gezeigt werden; noch handelt es sich lediglich um Ansätze zu einer fortgesetzten Erzählung. Die französische Pathé ist die erste Produktionsfirma, die narrativ-zusammenhängende Multi-Reel-Filme in den USA veröffentlicht und damit versucht, die im Vergleich mit einem Kurzfilm wesentlich höheren Produktionskosten eines FeatureFilms durch eine Veröffentlichung in mehreren Ländern einzuspielen.32 Aber auch die Vorführung der Pathé-Filme wird ‒ vor allem aufgrund der in den USA herrschenden MPPC ‒ auf mehrere Wochen verteilt, obwohl die Filme dafür nicht konzipiert sind. Für die Pathé-Filme bedeutet diese Aufführungspraxis, dass sie in den USA relativ wahllos geteilt vorgeführt werden:33 Die einzelnen Rollen sind nicht inhaltlich abgeschlossen oder machen durch Cliffhanger auf einen Fortsetzung neugierig, sondern sie sind häufig aufgrund der Zerstückelung für den Zuschauer unverständlich. Die technischen Bedingungen ändern sich ab 1910. Das Filmmaterial wird dünner. Brockliss stellt mit dem Motiograph einen Projektor her, der auch wesentlich längere Filmrollen einspannen und projizieren kann,34 und Edison produziert längere Filmrollen. Damit ein (fast) kontinuierlicher Film-Erzählfluss stattfinden kann, ist aber für den Wechsel der Filmrollen bei einem Multi-Reel-Film ein zweiter Projektor nötig. Erst auf diese Weise kann schnell, ohne größere Pausen, von einem Projektor zum anderen gewechselt werden. Die meisten Vorführhäuser leisten sich aber zunächst nur einen Projektor.35 31 Ebd., S. 196. Ähnliches berichtet Roberta Pearson über einen anderen Napoleon-Film von 1904. „L’Épopée napoléonienne (1903–04, ‚Das Heldengedicht von Napoleon‘, Pathé) zeigt Napoleons Leben in einer Serie von Tableaus, die auf wohlbekannte historische Ereignisse [...] und Anekdoten [...] zurückgeht. Der Film unternimmt jedoch keinerlei Versuch, eine kausale lineare Verbindung oder eine narrative Entwicklung innerhalb seiner fünfzehn Szenen zu erzeugen.“ Pearson: „Das frühe Kino“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 23. 32 Vgl. Bowser u. a.: History of the American Cinema, 1990, S. 197. 33 Vgl. Pearson: „Das Kino des Übergangs“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 27–28. 34 Vgl. „A Handbook of Kinematography (1913)“. In: Herbert (Hg.): A History of Early Film, 2000, S. 141–143. Der technische Sachverhalt wird hier nur vereinfacht wiedergegeben. Siehe zum Konkurrenzkampf der einzelnen Projektor-Hersteller: Balio (Hg.): The American Film Industry, 1985, S. 15. 35 Vgl. Bowser u. a.: History of the American Cinema, 1990, S. 199.

296 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „[F]ilmmakers also planned for the break in the construction of the film. To achieve a sense of completion in itself, each reel would reach a kind of conclusion at the end. Similar motives were at work even when all the reels were released together, because they might be shown with a break for the changes. It was thought desirable to end each reel in a kind of climax that would carry over the break. The next reel would then begin more slowly, to build up the interest once again [...]. The structure of the multireel film was formed in the early years, and the climax or completion of an episode at the end of a reel continued long after it was made necessary by these conditions, a clear example of how exhibition practice can have an effect on the formal structure of films.“36

Diese frühen Minicliffs werden schnell als Mittel erkannt, den Zuschauer in Erwartungshaltung zu versetzen, damit dieser nicht in ‚alte‘ Rezeptionsmuster verfällt und das Kino nach kurzer Zeit wieder verlässt. Ein damaliger Zeitungsredakteur vergleicht dieses Verfahren mit einer Fortsetzungserzählung: „The scenes are curtailed always at a point of keenest interest in just such a manner as are the different portions of a serial story – just when the suspense is the greatest and the imaginative system is keyed up to the highest point, the vision is cut off, leaving the onlooker at a tension of irresistible curiosity.“37

In einem der ersten Leitfäden für das Verfassen von Drehbüchern von 1914 wird dazu geraten, vor allem die einzelnen Filmrollen der „Long-Plays“ möglichst immer mit der Einführung eines neuen Konflikts enden zu lassen. Dieser erzählerische Kniff ist zwar kein Cliffhanger, aber das Prinzip, den Zuschauer mit einer Wendung kurz vor einer intendierten Erzählunterbrechung zum Weiterzuschauen zu animieren, ist bereits etabliert.38 Ebenso gibt es auch Feature-Filme, die mit jeder Filmrolle das Prinzip einer Episodenserie verfolgen. Beispielsweise bei dem am 6. Mai 1912 erscheinenden The Coming of Columbus handelt jede Filmrolle von einer Episode aus Columbus’ Leben.39 Eine intendierte Erzählunterbrechung innerhalb der Filmvorstellung kommt zu jener Zeit häufig vor: Die ununterbrochene Vorführung eines Multi-

36 Ebd., S. 200. 37 „Roving commissioner“. In: MPNews, 5, no.1, 6. Januar 1912, S.13. Zitiert nach: Staiger: „The Central Producer System“. In: Bordwell u. a. (Hg.): The Classical Hollywood Cinema, 1996, S. 133. 38 „In the Long Play each reel ends with the introduction of a new complication that necessitates an entirely new line of treatment. It is literally ‚continued in our next.‘“ Phillips: The Photodrama, 1914, S. 190. 39 Vgl. Staiger: „The Central Producer System“. In: Bordwell u. a. (Hg.): The Classical Hollywood Cinema, 1996, S. 133.

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Reel-Films ist so selten, dass in einen Artikel vom Februar 1913 auf die Besonderheit einer pausen-losen Filmdarstellung hingewiesen wird.40 Anfangs versucht sich besonders die französische Pathé in den USA mit FeatureFilmen durchzusetzen, da sich diese Form in Europa bereits sehr erfolgreich etabliert hat, Pathé aber durch den relativ kleinen französischen Markt und die hohen Produktionskosten von Feature-Filmen auf Expansion angewiesen ist. Umgekehrt wird von den US-amerikanischen Produktionsfirmen erkannt, dass Feature-Filme sich lohnten, exportierte man sie nach Europa, wo jene Form bereits Gang und Gäbe ist.41 Ab 1912 beginnt eine stetig steigende Produktion von Feature-Filmen in den USA. Insgesamt jedoch bleibt der Feature-Film bis 1915 eine Besonderheit. „Doch erst Griffiths eigenes episches Kostümdrama The Birth of a Nation (1914/15) überbot alle vorausgegangenen Spielfilme an Länge und Aufwand […]. Dieser Film war es, der den Langspielfilm von der Ausnahme zur Regel machte.“42 Der Preis für eine Eintrittskarte ist von einem Nickel, also fünf Cent, im Jahr 1908 zu zwei Dollar für eine Eintrittskarte von The Birth of a Nation 1915 gestiegen.43 Die Beträge existieren 1915 auch nebeneinander ‒ was den günstigen Kurzfilm des Nikelodeons und den teuren Langfilm des Kinosaals zu Filmformen werden lässt, die vorwiegend von zwei völlig unterschiedlichen sozialen Schichten besucht werden.44 1.3 Die Kinoserie: Technische, kulturelle und marktwirtschaftliche Brücke Die Kinoserie ist das Produkt verschiedener technischer, kultureller und ökonomischer Entwicklungen seit Beginn des US-amerikanischen Films. Die ersten Kinoserien passen auf eine Filmrolle und sind inhaltlich geschlossen – die Zuschauer können ausschließlich eine Folge sehen oder für eine weitere irgendwann zurückkommen.45 40 Vgl. ebd. 41 „The ‚phenomenal‘ European sales of features was a convincing reason to enter into regular feature production for those Patents Company members who depended on the European market for an important part of their business.“ Bowser u. a.: History of the American Cinema, 1990, S. 203. 42 Pearson: „Das Kino des Übergangs“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 40. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. Singer: „Die Serials“. In: Nowell-Smith u. a.(Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 99. 45 Vgl. Bowser u. a.: History of the American Cinema, 1990, S. 206. Außerdem: „At one and two reels per chapter, serialized narratives could be tailored to older patterns of exhibition and distribution, while offering patrons finished narratives ultimately much longer than any of the newer features. Serials guaranteed exhibitors the best of both worlds, then: they could

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Besonders die (Fortsetzungs-)Kinoserien, die relativ zeitgleich mit einer Erstarkung der US-amerikanischen Feature-Filmproduktion aufkommen, sind Brücken: Vom Feature-Film, dessen Rollen anfangs in mehreren aufeinanderfolgenden Wochen gezeigt werden, unterscheiden sie sich im Grunde nur dadurch, dass sie direkt für eine geteilte Distribution geschaffen sind. Somit markieren die Kinoserien auch den Übergang vom one-reeler zu two-reeler und Feature-Film – sie sind Ausdruck einer Expansion der filmischen Narration:46 Einerseits anfangs noch one-reeler, andererseits konzipiert, eine Erzählung anzubieten, welche die Grenzen der einzelnen Filmrolle übersteigt. Zum einen verdankt die Kinoserie ihr Aufkommen und ihren Erfolg einer Weiterführung der Nickelodeon-Kultur.47 Ein Teil des Publikums für die Kinoserie kommt aus der Unterschicht und erkennt in der neuen filmisch-seriellen Narration eine preiswerte und unterhaltsame Alternative zu den auf ‚Anspruch‘ Wert legenden Feature-Filmen. Die in den 1910er Jahren weniger besuchten Nickelodeons spielen mit dem Erstarken des Feature-Films häufiger Serien und bieten nach wie vor preiswertere Kinotickets an als die neuen Kinos. Die Nickelodeons bekommen mit der Kinoserie die Möglichkeit, ebenfalls eine längere Narration anzubieten, um so mit den neuen Kinos mitzuhalten, statt stets nur eine Aneinanderreihung in sich geschlossener Kurzfilme zu zeigen. Zum anderen aber sind die alten Nickelodeons nicht die einzigen Spielstätten für Kinoserien, und ihr Publikum setzt sich nicht nur aus den ärmeren Gesellschaftsschichten zusammen. Denn die Kinoserie bietet den neuen Lichtspielhäusern eine Möglichkeit, das Programm mit Serien vielfältiger zu gestalten, einzelne Vorführung zu verlängern und einen Anreiz für wiederholte Kinobesuche zu schaffen. Für die neuen Kinos ist es wichtig, dass der hohe Eintrittspreis gerechtfertigt erscheint. Die vor dem Feature laufende Serie verlängert den Kinobesuch und macht ihn abwechslungsreicher.48 Die Kinoserie kann sowohl in den Spielstätten vorgeführt werden, die experiment with more sustained, developed subjects akin to those offered in feature-length products without the additional cost or risk of tying up their screens with unpopular titles. Serials were ‚an ideal offering‘ suited to the needs of showmen and filmgoers alike […] since they provided a bridge between the audience’s desire for a substantial ‚evening’s entertainment‘ and the mechanical difficulties many theaters faced with longer subjects and multireel titles.“ Stamp: Movie-Struck Girls, 2000, S. 111. 46 Vgl. Thompson u. a.: Film History, 2010, S. 49. Griffith drehte bis 1913 nur Einakter (ca. 15 Minuten). „Der erste amerikanische Vierakter war Judith of Bethulia (USA 1913), der letzte Film, den Griffith für die Biograph drehte.“ Gregor u. a.: Geschichte des modernen Films, 1965, S. 33 (und 31). 47 Vgl. Singer: „Die Serials“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 99. 48 Vgl. ebd.

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technisch noch nicht in der Lage sind, Feature-Filme ohne Unterbrechung zu zeigen, als auch in den ‚modernen‘ Kinosälen.49 Die Episoden der längsten Kinoserie The Hazards of Helen (USA 1914‒1917)50 beispielsweise bestehen immer aus nur einer Filmrolle und können dementsprechend in jedem Vorführraum – egal ob Nickelodeon oder neuem Filmhaus – gezeigt werden. Darüber hinaus bindet die Kinoserie den Zuschauer an das immer noch neue Medium. Über sie kann sich beim Rezipienten eine Gewöhnung an den Film und den Kinobesuch herstellen, da die Kinoserie dem Zuschauer einen Anreiz bietet, demnächst wieder ins Kino zu gehen: bei einer Fortsetzungs-Kinoserie, weil man wissen will, wie es weiter geht; bei einer Episoden-Kinoserie, weil der Titel ‒ meist der Name des Helden, der als Kinoserien-Marke fungiert ‒ gefallen hat und somit für ‚Qualität‘ und bereits Vertrautes steht. Außerdem kann der Besuch eines nicht so publikumswirksamen Feature-Films mit einer vorher gezeigten populären Kinoserie attraktiver gemacht werden. Besonders während der 1920er Jahre sind die Kinoserien als Appetitanreger sowohl bei den Kinobesitzern als auch beim Publikum sehr beliebt.51 Das Publikum der Unter- und Mittelschicht ist insgesamt empfänglicher für Kinoserien, die meistens auf Action und Sensation ausgelegt sind. Das Image der ersten „Serial-Queens“ ist auch an Frauen der Mittelschicht gerichtet, während die späteren Kinoserien die Kinder und Jugendlichen am Wochenende als zahlungskräftige Klientel anziehen. Ungeachtet ihrer Gesellschaftsschicht ‒ Tarzan oder den Lone Ranger will kein Kind verpassen. Aus ökonomischer Perspektive hat das Format viele Vorteile. Den Produzenten ermöglicht die Fortsetzungs-Kinoserie, Filmwerbung genauer einzuplanen. Die hohe Programm-Fluktuation machte in den Jahren zuvor Werbung für Filme selten rentabel. „Noch 1919 spielte nur ungefähr ein Prozent der Kinos Filme eine Woche lang, etwa 12 Prozent für eine halbe Woche, und über 80 Prozent tauschten die Filme täglich aus. In dieser Situation

49 „By 1914, which might be called the year of the serials, some theaters were specializing in feature-length films, and the serial, like the single comedy reel and the newsreel, fit neatly into the program.“ Bowser u. a.: History of the American Cinema, 1990, S. 210. Siehe auch: Singer: „Die Serials“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 99. 50 Vgl. Stamp: Movie-Struck Girls, 2000, S. 111. 51 „Theatre men felt that if a feature was booked that had questionable drawing power, the day might be saved by the continuing interest of his patrons in a good, tight, action-filled serial. And quite often this was true.“ Cline: In the Nick of Time, 1984, S. 1.

300 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION waren Serials das ideale Vehikel für massive Reklame. Sie gestatteten den Studios lang angelegte Werbekampagnen, weil jedes Serial drei oder vier Monate in einem Kino lief.“52

Die gleichzeitige Veröffentlichung der Episoden einer Serie in Zeitschriften und im Kino bietet darüber hinaus auch Möglichkeiten des Cross-Marketing53 und CrossMedia-Marketing, auf die noch eingegangen wird. Auch wirtschaftsgeschichtlich ist die Kinoserie ein Wegbereiter zu groß angelegter Filmwerbung. Abschließend lässt sich hinsichtlich der Jahre bis 1912 festhalten, dass Serialität in ihrer rudimentärsten Form, also einer wie auch immer gearteten Teilung, von Anfang an in der US-amerikanischen Filmvorführpraxis vorhanden ist. Diese Form von Serialität ist jedoch geprägt von nicht intendierten Erzählunterbrechungen. Höchstens in der Aufführungspraxis gab es eventuell Minicliffs ‒ heutzutage sind sie nicht mehr nachvollziehbar, da sie nicht Teil des Films, sondern des Rahmen-Programms waren. Minicliffs sind außerdem Bestandteil von frühen Feature-Filmen, die mithilfe dieser Erzähltechnik auf die innerhalb eines Abends fortgesetzte Narration aufmerksam machen. Die Erzählpause ist minimal ‒ vom Wechsel der einen Filmrolle zur nächsten. Die Kürze der Filmrollen und dementsprechende Narrations-Teilung sind Gründe für die Entstehung der Kinoserie. Erst mit ihr ist eine wirkliche serielle Fortsetzungsnarration mit Cliffhangern im Kino gegeben: Erzählunterbrechung, deutliche Erzählpause und Erzählfortsetzung. Erst jetzt wird serielle Film-Narration produziert, die von Anfang an ausgelegt ist auf zeitlich getrennte Publikation und so den Cliffhanger (produktions-)ästhetisch formbar macht. Eine ganze Reihe von Kinoserien ist nicht erhalten, sodass vor allem aus den Anfangsjahren nur wenig Filmmaterial zur Verfügung steht. Zur Betrachtung des Cliffhangers hat die Analyse der Fortsetzungs-Kinoserie Priorität. In ihr wird der Cliffhanger als intendierte Erzählunterbrechung gesetzt. Diese Erzähltechnik wird so beherrschend, dass fast alle Fortsetzungs-Kinoserien in den 1930ern bis zu ihrem Ende 1956 jede Folge mit einem Cliffhanger beenden ‒ aufgrund der Prominenz dieser Erzähltechnik werden diese Kinoserien selbst als ‚Cliffhanger‘ bezeichnet; die Erzähltechnik wird zur Bezeichnung einer Erzählform.

52 Singer: „Die Serials“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 99. 53 Der Begriff ‚Cross-Marketing‘ beschreibt das Bewerben einer oder mehrerer Produkte von unterschiedlichen Firmen oder Marken (vgl. Poth u. a. (Hg.): Gabler Kompakt-Lexikon Marketing, 2008, S. 65). ‚Cross-Media-Marketing‘ bedeutet: „[Eine] synergetische Nutzung verschiedener Kommunikationsmedien, z.B. Printmedien und elektronische Medien, um Werbebotschaften vor allem zu unterschiedlichen Zielgruppen zu transportieren.“ Ebd.

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1912 erscheint als erste Kinoserie What happened to Mary;54 von den 12 Folgen sind nur wenige Fragmente erhalten.55 Die literarische Vorlage ist jedoch überliefert ‒ über sie lässt sich die Inspiration für den Beginn der Kinoserie als Erzählform nachvollziehen. Es aufgrund der Tradierungslage nur möglich, über den Text die Setzung der Cliffhanger zu erschließen.

2.

D IE 1910 ER J AHRE

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Literatur als Inspiration: What happened to Mary

2.1.1 Kontext und Deskription Im August 1912 erscheint in der Zeitschrift The Ladies’ World56 der erste Teil der Erzählung über die Protagonistin Mary. Jede Folge des Fortsetzungsromans ist in der Zeitschrift The Ladies’ World in zwei Teile geteilt: Der erste befindet sich relativ zu Anfang des Magazins (circa zwischen S. 1–15) der zweite davon getrennt am Ende (circa Seite S. 30–36). Diese Zweiteilung ermöglicht den Einsatz eines Minicliffs. In der zweiten Folge beispielsweise setzt sich die Protagonistin Mary auf dieselbe Bank wie die bankrotte Daisy Meade, aber vergisst beim Aufstehen ihr Portemonnaie, das sich Daisy sofort nimmt. Als Mary wenig später mit einem Polizisten zu jener Bank

54 Die genauen Daten zu What happened to Mary sind je nach Quelle unterschiedlich. Die Anzahl der Episoden divergiert zwischen 12 und 13. (Vgl. http://www.imdb.com/title/ tt0002574/ [vom 03.02.2012]; Cline: In the Nick of Time, 1984, S. 1). Auch das Veröffentlichungsdatum und das Ursprungsmedium unterscheiden sich je nach Quelle (vgl. Stedman: The Serials, 1981, S. 1–7.; Kinnard: Science Fiction Serials, 2008, S. 3). Anhand der mir zugänglichen Original-Zeitschriftenveröffentlichung kann festgestellt werden: Die erste Zeitschriften-Folge erscheint im August 1912. Da erst im Herausgebervorwort der zweiten Folge im September 1912 über die Produktion der Kinoserie berichtet wird und Bilder gezeigt werden, erscheint die Serie später als die erste Magazinfolge. Es gab insgesamt 12 Magazinfolgen. In der Augustausgabe von 1913 beginnt das Sequel Who will Mary mary?, das ebenfalls zeitgleich als Kinoserie erscheint. Da die Ladies’ World-Nummern nichts Gegenteiliges erahnen lassen oder mit den abgedruckten Filmfotos zeigen, ist fest davon auszugehen, dass die Kino-Serie ebenfalls 12 Folgen hatte. 55 Vgl. Stedman: The Serials, 1981, S. 1–7. 56 „ Ladies’ World was another of the low-priced, mass-market magazines aimed at women and their interests. It was begun by S. H. Moore & Co. in New York in 1886 as a ‚mailorder magazine‘ published on cheap newsprint. […] Sales reached a million copies a month when a series of mystery stories ‚What Happened to Mary‘ became a runaway success in film.“ http://www.magazineart.org/main.php/v/womens/ladiesworld [vom 03.04.2012].

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zurückkommt, um die Geldbörse zu suchen, behauptet Daisy, sie habe sie nicht gesehen. „Daisy rose. Her idea was to get the other two bending over, their eyes on the ground, so that she might tuck the precious purse away more securely. But in the tension of the moment she moved too sharply. The purse slipped from under her coat and landed on the ground in the midst of them with a hollow thud. The policeman eyed Daisy suspiciously. (Continued on Page 34)“57

Aufgrund der Aufteilung muss die Leserin einen Großteil des Magazins durchblättern, über andere Geschichten und viel Werbung hinweg, bevor sie die Weiterführung der Erzählung rezipieren kann ‒ ganz ähnlich wie bei einer Werbeunterbrechung im Fernsehen. Die Leserin jedoch kann die Dauer der Erzählpause bestimmen: Es liegt in der Macht der Rezipientin, sich von den anderen Informationen wie Geschichten und Werbeanzeigen ablenken zu lassen oder schnell zum weiteren Verlauf der MaryGeschichte zu blättern, um diese weiter zu verfolgen. Außerdem gibt es zahlreiche vorausdeutende Abschnittsüberschriften: Auf den insgesamt vier Seiten der Erzählung der ersten Folge befinden sich zehn. Die Abschnittsüberschriften haben phasenvorausdeutende Kraft, weil sie kurze Stücke der Handlung vorwegnehmen.58 Der Inhalt der ersten Episode ist folgender: Mary wird als einjähriges Baby im Geschäft von Billy Peart auf Moses Island in einem Korb samt 500 Dollar und einem Brief ausgesetzt. In dem beigelegten Brief wird Mister Peart versprochen, dass er für den Fall, dass er Mary bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr mit einem Mann aus dem Dorf verheiratet, ohne dass sie Nachforschungen zu ihren leiblichen Eltern unternimmt, zusätzlich zu den 500 noch 1000 Dollar erhält. In der Gegenwart der Geschichte ist Mary bereits 19 Jahre alt und weiß nichts von den Umständen ihrer Aussetzung. Peart behandelt sie schlecht und sie verspürt eine unbändige Sehnsucht danach, aus der kleinen Welt des Dorfes auszubrechen. Durch Zufall findet sie den Brief, nimmt sich von dem aufbewahrten Geld hundert Dollar und bricht von zu Hause in Richtung New York auf. Die Folge endet mit den Sätzen: „It came upon her heavily, the seriousness of her act. A girl of nineteen.....going to a life of which she knew nothing.....into a world of which she knew nothing. How long would the hundred dollars last? What should she do when it was gone? She drew a deep sigh. Then, resolutely, she turned her face toward the town and walked down the dock and up the street toward the 57 „What happened to Mary? (2)“. In: The Ladies' World, 09/1912, S. 13. 58 „What happened to Mary? (1)“. In: The Ladiesʼ World, 08/1912, S. 3. Beispiele für Abschnittsüberschriften, die bereits Teile der Handlung vorausdeuten: „What ‚The Blue Danube‘ Did to Mary“ ebd., S. 31.; „Mary is Kissed“ ebd.; „Mary Tries To Escape“ ebd., S. 32.

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railroad station. READ ‚WHAT HAPPENED TO MARY‘ IN THE SEPTEMBER NUMBER“59

Abbildung 3: Fragestellung & Rezeptionsimpuls

Cover der The Ladies’ World, August 1912.

59 Ebd. Auch Folge zwei endet vorausdeutend: „‚Somethingʼs bound to happen.‘ Read the Next Adventure of ‚Mary‘“. „What happened to Mary? (2)“. In: The Ladiesʼ World, 09/1912, S. 34. Dass dieses Ende auch vom Publikum der damaligen Zeit als eine Art Cliffhanger verstanden wurde, zeigt sich an der Moving Picture World vom 2. September 1912: „Moving Picture World noted that the second episode was ‚cut short at an intensely interesting point‘ that gave ‚a very strong invitation to the spectators to call at the theater [...] to see what will follow.‘“ Canjels: Distributing Silent Film Serials, 2011, S. 15. Trotzdem besteht Uneinigkeit, ob What happened to Mary überhaupt als serial zu bezeichnen ist: „Each installment of the What happened to Mary? series was independent and complete. It was not a serial.“ Ramsaye: A Million and one Nights, 1986, S. 655–656. Siehe auch: Stedman: The Serials, 1981, S. 6–7. Wenn man die beiden ersten Folgen liest und die narrativen Mittel analysiert, kann man meines Erachtens nur von einer Fortsetzungsgeschichte sprechen: Wenn der Fortgang der Geschichte nicht wichtig wäre, warum sollen sich dann die Leser, motiviert durch die Aussicht auf eine hohe Geldprämie (siehe Seite 304), darüber Gedanken machen, wie sie weiter geht?

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2.1.2 Kategorisierung und Analyse Thematisch ist die Folge geschlossen: Besonders der letzte Satz verdeutlicht, dass der Handlungsabschnitt ihrer Flucht aus ihrem Heimatdorf beendet ist. Andererseits deuten die Sätze unmittelbar davor an, dass die Hauptgeschichte, die Suche nach Herkunft und Bestimmung Marys, weitergeht. Die offen gelassenen Fragen werden ausformuliert. Außergewöhnlich deutlich sind die Anzeichen für eine RezipientenAktivierung, welche im Kontext der Folge von What happened to Mary stehen. Bereits das Titelbild der ersten Ausgabe verdeutlicht die Intention der Produzenten: „One hundred Dollars for you if you can tell ‚What happened to Mary‘“ [Abb. 3]. Das Titelblatt forciert die Antizipation und fordert mit dem Anreiz einer Geldprämie die Leser zur Antizipation auf. Mit dieser Ausschreibung wird die Illusion einer „Mitautorschaft“ hervorgerufen,60 von der Jurga und Iser sprechen. Aber die Autorität der Autorschaft bleibt beim Autor; die Leserschaft wird zu einer Art Wette herausgefordert, die Fortsetzung des Romans zu erraten. Diese Aufforderung wird nochmals ausführlich wiederholt in einem Kasten, der in den Erzähltext eingefügt ist. Die Anzeige verrät, was das Preisausschreiben bei der Leserschaft bewirken soll. „WHAT HAPPENED TO MARY? One look at Mr. Gibson’s portrait of Mary shows us that the young lady is no ordinary citizen. And the unconventional way her story ends in this number makes us keen to know what happened to Mary next. Some things could happen to a girl like Mary! As a matter of fact a most extraordinary thing did happen to her within twenty minutes of the time we last see her in this story. So we shall print another story about Mary next month – complete in itself as this one is – but telling us just what happened next. What do you think? You have red this story. You see the predicament she’s in. What might happen to you in her place? What will she do? This contest is open to everyone without restriction, and to the reader who gives what in our opinion is the best answer in not more than three hundred words, to the question ‚What happened to Mary?‘ we will pay One Hundred Dollars [sic]. […] Let your imagination have full play. Nothing is too extraordinary to happen to our Mary. [...] ONE HUNDRED DOLLARS FOR YOU IF YOU CAN TELL“ [Herv.i.O.].61

Zahlreiche Bestandteile der Ausschreibung belegen die angestrebte Aktivierung des Rezipienten. Der erste Absatz hebt die Verbindungsführung aus Bebilderung und Text hervor und fördert auf diese Weise die Antizipation und Imagination. Gleichzeitig macht der Absatz auf den „unconventional way her story ends in this number“ aufmerksam; ein 60 Siehe Kapitel: II. 1.2.2 „Wirkungsästhetik des Cliffhangers“, S. 38. 61 „What happened to Mary? (1)“. In: The Ladiesʼ World, 08/1912, S. 4.

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Ende, das uns neugierig darauf macht, zu erfahren „what happened to Mary next“ – eine Umschreibung des vorausdeutenden Cliffhangers. 1. Absatz zwei besteht nur aus dem durch die Alleinstellung grafisch hervorgehobenen und durch das Ausrufezeichen betonten Satz, dass Mary so einiges passieren könnte und fordert damit zur Antizipation auf. 2. Absatz drei antwortet hierauf, dass ihr tatsächlich einige außergewöhnliche Dinge widerfahren, nimmt also minimal die Antizipation vorweg, indem die Vorausdeutung durch eine konkrete Spannweite der erzählten Zeit („twenty minutes“) und die Bestätigung der außergewöhnlichen Vorfälle einen Rahmen erhalten. 3. In Absatz vier wird der Rezipient mehrfach direkt angesprochen. Die Fragen haben gemein mit einem Cliffhanger, der mittels eines interrogativen Kommunikationsaktes gesetzt ist, dass sie ausformuliert werden und unbeantwortet bleiben. Zusätzlich wird die Rezeptionsseite aufgefordert, sich mit Mary zu identifizieren: „What might happen to you in her place?“ 4. In Absatz fünf werden die Details der Ausschreibung genannt und nochmals betont, man solle der Imagination freien Lauf lassen, um daraufhin erneut den Geldbetrag zu nennen. Der Gewinn hat dieselbe Höhe wie Marys Guthaben. Auch auf diese Weise wird die Identifikation mit Mary unterstützt. 5. Das Preisausschreiben ist aussagekräftig für den Cliffhanger, weil es den wirtschaftlichen Impuls, der hinter der Setzung von Cliffhangern steht, explizit werden lässt. Der Cliffhanger aus What happened to Mary? ist in Kombination mit dem Preisausschreiben nicht mehr nur unbewusst ökonomisch, sondern die eigene Ökonomie wird ausgestellt ‒ und der Rezipient selbst mit dem Preisausschreiben zum monieären Gewinn animiert. In der ersten Folge wird bereits die Gewichtung des Bildes deutlich. Auf dem Cover und dem Kasten mit dem Ausschreibungstext wird der Illustrator Charles Dana Gibson genannt; der Autor oder die Autorin bleibt ungenannt.62 Die im US-amerikanischen Format B ledger (ca. DIN-A 3) erscheinende Zeitschrift bietet sich für großformatige Illustrationen an und unterstützt die Imagination ‒ ausdrücklich wird im ersten Absatz der Ausschreibung auf das Portrait Marys hingewiesen.63 Das Zusammenwirken von Text und Illustration zeigt viele Übereinstimmungen mit dem viktorianischen Fortsetzungsroman: Auch bei den shilling numbers nahmen 62 Auch Stedman weiß den Namen des Autors oder der Autorin nicht: Vgl. Stedman, Raymond William: The Serials, 1981, S. 4. Terry Ramsayse nennt in seinem erstmals 1926 veröffentlichen Buch Bannister Merwin als Autor von Mary. Vgl. Ramsaye: A Million and one Nights, 1986, S. 655. 63 Im Herausgeber-Vorwort macht Charles Dwyer nochmals auf das Bild aufmerksam Vgl. Dwyer: „‚Mary‘ and the Movies“. In: The Ladiesʼ World, 09/2012, S. 1.

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die Illustrationen einen prominenten Platz ein, auch hier wurden die am Anfang der Folge stehenden Illustrationen gebraucht, um die Imagination zu unterstützen. Hinzu kommt eine ähnliche Gewichtung: Noch bei The Pickwick Papers waren der Text und der Autor anfangs nebensächlich, die Bilder und der Illustrator standen im Vordergrund.64 Die Bebilderungen werden ab Folge zwei von What happened to Mary noch wichtiger. Der Herausgeber von The Ladies’ World, Charles Dywer, geht eine Kooperation ein mit dem Filmproduzenten Plimpton, dem Leiter der Kinetoscope Company (die Thomas Edison mitgegründet hatte).65 Plimpton lässt eine zeitgleich mit den Magazin-Folgen erscheinende Kinoserie produzieren. Dywer ist anscheinend auf diese Kooperation sehr stolz: Im Vorwort der September-Ausgabe, in der die zweite Folge abgedruckt ist, berichtet er ausschließlich über die Partnerschaft mit Plimpton. Ab der zweiten Folge werden die Magazinfolgen direkt mit den Fotos der Filmfolge bebildert, wie Dywer im letzten Satz des Geleitworts erläutert, das bereits mit Bildern der ersten Kino-Folge unterlegt ist: „In the adventure of ‚Mary‘ [...] the illustrations are directly from the play, and we are sure you will admit they too are good.“66 Über der zweiten Magazin-Folge ist zu lesen: „Illustrated by Moving Pictures“.67 Statt mit den Zeichnungen wird nun die Narration mit Filmbildern illustriert. Die Veröffentlichungssynchronität von Magazin- und Kino-Folge stellt sich für beide Parteien als überaus erfolgreich heraus: „Both written and film forms of What Happened to Mary soon achieved sensational popularity: The Ladies’ Worldʼs subscriptions soared by 100,000 to reach one million, and two million people reportedly saw Mary monthly in motion picture theaters.“68 Im Gegenzug zur Bebilderung der gedruckten Version mit Filmfotos steht am Ende jeder Folge der Kinoserie ein Endtitel, der auf die Veröffentlichung der Erzählung in der Zeitschrift Ladies’ World (sowie auf die Ausschreibung) aufmerksam macht.69 Beide Erscheinungsformen ergänzen einander: Das Magazin wird bebildert mit Filmfotos, die Kino-Folgen wiederum werden ‚betextet‘. Die Bilder der Kinoserie ersetzen die Zeichnungen, die bei Dickens und selbst noch bei der ersten Folge

64 Siehe Kapitel: V. 5.2.2 „Bild und Schrift“, S. 251. 65 Vgl. Cox: The Daytime Serials of Television, 2006, S. 7. 66 Dwyer: „‚Mary‘ and the Movies“. In: The Ladiesʼ World, 09/2012, S. 1. 67 „What happened to Mary? (2)“. In: The Ladiesʼ World, 09/1912, S. 12–13. 68 Enstad: „Dressed for Adventure“. In: Feminist Studies, 21, 1995, S. 67. Siehe auch: „The popularity of What happened to Mary inspired other female adventure series and, after only five episodes, boosted sales of the Ladies’ World by 100,000.“ Ashby: With Amusement for All, 2006, S. 173. 69 Vgl. Ganz-Blaettler: „From Multiple to Culmulative Narrative“. In: Antonini (Hg.): Il film e i suoi multipli, 2003, S. 318.

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von What happened to Mary? die Imagination unterstützen – die Filmbilder sind die moderne Weiterentwicklung der früheren Zeichnungen. What happened to Mary? hat trotz der größtenteils inhaltlichen Geschlossenheit auch zahlreiche Elemente einer Fortsetzungsserie mit vorausdeutenden Cliffhangern – die Ausschreibung verrät es: „[T]he unconventional way her story ends in this number makes us keen to know what happened to Mary next. […] So we shall print another story about Mary next month – complete in itself as this one is – but telling us just what happened next.“70 Ein gewisses Maß an Geschlossenheit jeder Folge wird angestrebt, gleichzeitig wird der Rezipient damit gelockt zu erfahren, „what happened to Mary next.“71 2.1.3 Schlussfolgerungen Der Fortsetzungsroman What happened to Mary beinhaltet bereits zahlreiche narrative Elemente, die auch Teil der Fortsetzungs-Kinoserie werden: Vorausdeutende Cliffhanger, recaps, eine Zusammenarbeit mit anderen sozialen und technischen Medien. Auch das Übersetzen von Geschichten aus einem technischen Medium in ein anderes ist wegweisend für die Kinoserie. Die Fortsetzungs-Erzählungen der Zeitschriften mit ihren zahlreichen Bebilderungen sind Inspiration und Vorläufer der Kinoserie. Die serielle Fortsetzungs-Erzählkunst der literarischen Vorlagen kommt der Kinoserie zugute. Bei der Analyse ist besonders hervorstechend, wie bewusst und ausführlich die Rezipienten aktiviert werden: Bilder und Preisausschreiben, die Geld für den besten Fortsetzungs-Vorschlag bieten, sollen die Leser zur Imagination, Identifikation und Weiterführung animieren. Die eingesetzten Erzähltechniken, die Vermischung von Episodischem und Fortsetzendem passen zur Distributionsform der Zeitschrift: Sie kann sowohl einmalig für 5 Cents im Zeitschriften- und Tabakladen gekauft als auch für 50 Cents pro Jahr abonniert werden.72 Die Erzählung unterstützt beide Rezipienten-Typen: Das Episodische stellt den einmaligen und gelegentlichen Leser zufrieden, das Fortgesetzte den Abonnenten. Dass Abonnenten die wichtigere Zielgruppe sind, lässt sich an dem Preisausschreiben gut erkennen, das zur Antizipation und damit zur Verfolgung des 70 „What happened to Mary? (1)“. In: The Ladiesʼ World, 08/1912, S. 4. 71 Ein weiteres Indiz für den Einsatz des vorausdeutenden Cliffhangers und für die Richtigkeit der Klassifizierung als Fortsetzungs-Kinoserie findet sich in der Fortführung der Geschichte. Das recap wird direkt in den Text eingebaut, der unmittelbar an den letzten Moment der ersten Folge anschließt. Der Interruptionspunkt liegt innerhalb des Vorgangs des ‚in die Stadt-Gehens‘. Das recap gibt die wichtigsten Details, an die der Rezipient sich erinnern muss oder die er für einen kompletten Neueinstieg in die Erzählung benötigt – dies sind allesamt Erzähltechniken einer Fortsetzungsserie. Siehe: „What happened to Mary? (2)“. In: The Ladiesʼ World, 09/1912, S. 12. 72 Die Preise sind den Original-Zeitschriften entnommen.

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Erzählfortgangs animiert. Die vorausdeutenden Cliffhanger unterstützen diese Bestrebungen auch narrativ, indem sie nicht nur einen Anreiz für die Rezeption der unmittelbar nächsten Folge, sondern für das Ausharren bis zum Abschluss der Erzählung schaffen. 2.2 Französische Inspiration? – Juve contre Fantômas Ein wichtiger Einfluss auf die US-amerikanischen Kinoserien stammt aus Frankreich. Eileen Bowser behauptet: „The import of Feuillade’s Fantomas late in 1913 gave impetus to the suspenseful ending that eventually defined serials.“73 Eine Analyse der französischen Fântomas-Reihe bietet sich daher an. Während in den USA die zehnte Folge von What happened to Mary? zeitgleich in den Buchhandlungen, Kiosken und Kinos zum Verkauf kommt, feiert in Frankreich ein literarischer Bösewicht seine Filmpremiere: Fântomas.74 Das Autorenduo Pierre Souvestre und Marcel Allain publiziert im Februar 1911 Fantômas, den ersten Teil der Kriminalroman-Serie. Bereits im Mai 1913 verfilmt Louis Feuillade den ersten Roman unter dem Titel Fantômas ‒ À lʼombre de la guillotine.75 Im September erscheint bereits der zweite Film Juve contre Fantômas, der auf dem gleichnamigen zweiten Band beruht. Die französischen Kino-Serien, die Louis Feuillade mit Fantômas ins Leben ruft und mit Les Vampires fortsetzt, werden auch ciné-roman genannt.76 Die Fântomas-Filme sind in sich geschlossen, wie die Bücher. Ab dem vierten Band Fantômas – L’Agent Secret steht auf dem Cover als Verkaufsargument: „Chaque volume forme un récit complet“. An sich besitzt die Fantômas-Kinoserie mehr Charakteristiken einer Episodenals einer Fortsetzungsserie. Jede Folge ist eine lose Aneinanderreihung der Verbrechen Fantômas’. Stets versuchen Inspektor Juve und sein Freund Fandor, Fantômas aufzuhalten und zu verhaften. Fantômas’ Verbrechen und das Schicksal seiner Opfer sind meistens nur in der jeweiligen Folge von Relevanz – in der nächsten Episode hat

73 Bowser u. a.: History of the American Cinema, 1990, S. 206. 74 Neben den USA war vor allem Frankreich führend in der Produktion von Kinoserien, die jedoch nicht so stark auf Cliffhanger setzten. Für die französischen Kinoserien siehe: Le Forestier: „From Craft to Industry“. In: Gaudreault u. a. (Hg.): A Companion to Early Cinema, 2012, S. 183–201. 75 Eine Einführung in Feuillades Werk bietet: Gauthier u. a.: Louis Feuillade, 2006. 76 Im Deutschen werden die ciné-romans auch Cinéromane genannt: „Es sind Filme, die das kinematografische Resümee einer literarischen Tradition ziehen und gleichzeitig das Material mit filmischen Mitteln neu organisieren. Schwarze Romantik, kolportagehaftes Melodram und die klassische Kriminalgeschichte liefern die Motive dieser Cinéromane.“ Brandlmeier: Fantômas, 2007, S. 11.

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Fantômas neue Pläne geschmiedet. Zu dieser „Wiederkehr des Immergleichen“77 gehört auch, dass am Ende jedes Buchs und Films Fantômas der sicher scheinenden Verhaftung erneut entgeht, indem er durch Raffinesse und seine Vorkehrungen den ‚Guten‘, Juve und Fandor, entkommt. Trotz dieser zyklischen finden sich besonders in den Kinofilmen auch fortsetzende Elemente. Bereits die erste Episode À Fantômas – lʼombre de la guillotine endet vorausdeutend und anders als der Roman – auch wenn dieser ebenfalls auf die Fortsetzung hindeutet. Im Roman wird ein Unschuldiger anstelle von Fantômas guillotiniert. Nachdem der Kopf auf den Boden gerollt ist, erkennt Inspektor Juve den Irrtum: „Juve, à mots entrecoupés, haletait: – [...] Fantômas sʼest échappé!...Fantômas est libre! il a fait guillotiner un innocent à sa place, Fantômas!... Je te dis que Fantômas est vivant!...“78 Souvestres und Allain schaffen also sowohl inhaltlich Geschlossenheit als auch typografisch Offenheit und Weiterführung durch die Fortsetzungspunkte. In der ersten Episode der Kinoserie hingegen wird der Unschuldige nicht hingerichtet. Auch wenn die Serie für jene Zeit überraschend deutlich Gewalt zeigt, scheint man an dieser Stelle doch vor der drastischen Darstellung zurückgeschreckt zu sein.79 In der Episode erkennt Juve noch rechtzeitig, dass es sich um den falschen Mann handelt. Als Juve wenig später allein in seinem Büro sitzt, vermischt sich Realität mit Traum: Fantômas betritt das Zimmer, doch als Juve ihn fassen will, verschwindet die 77 Eco: „Die Innovation im Seriellen“. In: Über Spiegel und andere Phänomene, 2001, S. 160. 78 Souvestre: Fantômas, 1977, S. 345. 79 Vermutlich haben die Macher den Inhalt an dieser Stelle verändert, da sonst Jurisdiktion und Exekutive als noch inkompetenter und lächerlicher dargestellt würden, als es ohnehin schon der Fall ist. Mit einem Mord an einem Unschuldigen hätte man vielleicht Probleme mit der Zensur bekommen, was den Filmen Feuillades (auch Les Vampires) tatsächlich einige Male beschieden war (vgl. Brandlmeier: Fantômas, 2007, S. 44–47). „Die Begeisterung des Publikums war ebenso gross [sic] wie der Zorn der Zensoren. […] Zahlreiche öffentliche Repräsentanten hatten es sich angewöhnt – gestützt auf ein Gesetz von 1884 – jede Darstellung einer Hinrichtung zu verbieten. Vorsichtig und gesetzestreu, wie man es sich bei Gaumont wünschte, sorgte Feuillade dafür, dass der Schauspieler Valgrand gerettet wurde: statt guillotiniert zu werden, wurde im letzten Augenblick von Juve erkannt, dass er mit einem Verbrecher verwechselt worden war.“ Lacassin: „Fantômas“. In: Jaeger (Hg.): Cinéma Muet, 1980, S. 29–30. Zumal Feuillade auch unter den Vorgaben des Produzenten Leo Gaumont arbeiten musste, die ich hier gekürzt zitiere nach Angaben von Henri Fescourt: „Niemals in einem Film ermordete oder blutige Körper zeigen, weil das die Zuschauer schockiert.“ Champreux: „Die Entstehung von Fantômas“. In: Jaeger (Hg.): Cinéma Muet, 1980, S. 18. Angeblich führten die dennoch implizite Gewalt und Kritik an der Obrigkeit zu Verhinderung einer Fortsetzung der Fantômas-Filmreihe. Vgl. Jaeger: „Zwischen Fantômas und Les Vampires“. In: Ders. (Hg.): Cinéma Muet, 1980, S. 21.

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Erscheinung.80 Beide Enden haben Charakteristiken der seriellen Fortsetzungs-Narration. Feuillades Film-Reihe ist geschlossen und zugleich offen: Einerseits ist jede Episode in sich verständlich, andererseits ist keine Folge vollkommen geschlossen, sondern endet immer in bewusster Vorausdeutung weiterer Verbrechen und der erneuten Jagd nach Fantômas.81 2.2.1 Deskription Die zweite Film-Folge Juve contre Fantômas (F 1913) stellt eine Besonderheit dar, die im Folgenden ausgeführt wird. Fantômas wähnt sich sicher in der Villa Lady Belthams, doch Juve und Fandor haben ihn belauscht und kennen seinen Zufluchtsort. Wie immer aber hat sich Fantômas vorbereitet und eine Bombe gelegt, falls er in Bedrängnis kommt [Abb. F1]. In Begleitung eines guten Dutzend Polizisten stürmen Juve und Fandor die Villa mit gezogener Pistole [Abb. F2].82 Fantômas kann sich gerade noch rechtzeitig vor der Polizei verstecken: Indem er eine leere Weinflasche ohne Boden als Schnorchel benutzt, kann er sich in einer großen Tonne mit Wasser verbergen [Abb. F3]. Als die Polizei durch eine Schlange [Abb. F6] abgelenkt wird, die Fantômas zusätzlich als Vorsichtsmaßnahme im Haus platziert hat, nutzt er die Situation, zündet die Bombe und sprengt das Gebäude. Triumphierend wirft er die Arme nach oben [Abb. F7–F8]. Unmittelbar im Anschluss erscheint ein Endtitel, der die Frage stellt, ob Juve und Fandor bei der Explosion getötet worden sind [Abb. F9].

80 Eine Sequenz, die die Begeisterung der Surrealisten für Fantômas gut erklärt, da hier im Film intradiegetische Realität und Traum miteinander verwoben werden. Vgl. vor allem das Kapitel „Fantômas et les artistes surréalistes“ (S. 227–291) in dem bisher umfangreichsten Werk über die Fantômas-Figur: Audureau: Fantômas, 2010. Außerdem: Walz: „Serial Killing“. In: The Velvet Light Trap, 1996 (37), S. 51–58. „Feuillade hat in Fantômas und in Les Vampires das Epos, das Mysteriöse, Wunderbare, Unheimliche in das alltägliche Leben eingeführt [...]. Die Surrealisten fühlten sich dadurch in ihrem künstlerischen Auftrag bestätigt.“ Villette: „Auf der Suche nach Feuillade“. In: Jaeger (Hg.): Cinéma Muet, 1980, S. 23. (Siehe auch: Vilain: „An Urban Myth“. In: Chernaik u. a. (Hg.): The Art of Detective Fiction, 2000, S. 170–187.) Großer Fan der Fantômas-Filme war vor allem der Dichter und Journalist Robert Desnos, ein bedeutender Vertreter des Surrealismus, der sich noch 1927 gerne an Fantômas erinnert: „Fantômas! Il y a si longtemps!...Cʼétait avant la guerre. Mais les péripéties de cette épopée moderne sont encore présentes à nos mémoires.“ Desnos: „Fantômas, Les Vampires, Les Mystères de New-York“. In: Cinéma, 1966, S. 154. 81 „The first film established most of the elements on which the series then worked variations, with not one title coming to narrative closure.“ Abel: „The Thrills of Grande Peur“. In: The Velvet Light Trap, 1996 (37), S. 7. 82 Diese Sequenz ist in der Darstellung von polizeilicher Aktion erstaunlich, da sie wie ein Vorläufer der im modernen Film so zahlreich zu findenden SWAT-Einsätze wirkt.

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Abbildungen F1‒9: Ein rein bildlicher exklamatorischer Kommunikationsakt

Abb. F1, TC 53:10

Abb. F2, TC 54:23

Abb. F3, TC 56:12

Abb. F4, TC 56:38

Abb. F5, TC 56:47

Abb. F6, TC 1:00:03

Abb. F7, TC 1:01:33

Abb. F8, TC 1:01:39

Abb. F9, TC 1:01:40

2.2.2 Kategorisierung und Analyse Die Steigerung bis zur Klimax, in welcher ein Zwischentitel die Handlung unterbricht, fördert die Vorstellungskraft: Als Juve und Fandor in der Nähe der Wassertonne vergeblich nach Fantômas suchen, hebt Juve seinen Arm [Abb. F4] und auf der Tafel ist zu lesen: „-Ecoutez…On dirait une respiration.“ [TC 56:38] Alle Polizisten stehen in vollkommener Körperspannung still und horchen auf das Atmen. Juve und Fandor schlussfolgern aber falsch, Fantômas befinde sich im hinter ihnen liegenden Lüftungsschacht ‒ deshalb seien seine Atemgeräusche zu hören. Im Lüftungsschacht befindet sich die Schlange, die Fantômas die Flucht aus der Wassertonne ermöglicht. Der Hinweis auf etwas diegetisch Hörbares, das jedoch im Stummfilm für den Zuschauer nicht wahrnehmbar ist, sondern allein durch den Zwischentitel und die Körperhaltung der Schauspieler ausgedrückt wird, steigert die Spannung und die Vorstellungskraft in dieser brenzligen Situation. Die letzte Einstellung und der Endtitel sind unterschiedliche Kommunikationsakte, sie vermitteln unterschiedliche Inhalte. In der letzten Einstellung finden sich

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zwei ausrufende Elemente, die zusammen den exklamatorischen Kommunikationsakt bilden: Erstens die Feststellung, dass Fantômas gesiegt hat und angesichts der Explosion triumphierend die Hände in die Höhe streckt. Sein ganzer Körper steht bildlich wie ein typografisches Ausrufezeichen dar ‒ eine Beschreibung als exklamatorischer Kommunikationsakt ist äußerst passend [Abb. F8]. Zweitens führt die beschriebene Steigerung der auditiven Vorstellungskraft der vorangehenden Sequenz dazu, dass der Rezipient die Explosion ‚hört‘, die vom Film nur gezeigt werden kann. Der anschließende Endtitel dagegen hinterfragt diesen exklamatorischen Kommunikationsakt: Sind die beiden ‚Guten‘ wirklich gestorben und hat damit das personifizierte Böse endgültig gewonnen? In diesem Fall besteht die Aktivierung zur Antizipation bei den Erzählmitteln aus dem Wechselspiel zwischen interrogativem und exklamatorischem Kommunikationsakt.83 Der Reiz der Fantômas-Figur liegt in der Faszination des Bösen. Fantômas ist der titelgebende ‚Held‘, der sich am Schluss aller Gefahren entledigt hat. Er trägt damit dasselbe Rollenmuster wie ein ‚guter‘ Held, der am Ende einer Episoden-Serie fürs Erste den Bösewicht besiegt hat. In diesem Kontext ist auch der Cliffhanger zu sehen: Bewusst spielt er mit der ambivalenten Einstellung der Zuschauer zu den Figuren der Serie. Fantômas Ideenreichtum und Klugheit faszinieren ‒ seine Wandlungsfähigkeit, seine Kaltblütigkeit und Unverfrorenheit.84 Zwar sind die rechtschaffenen ‚Guten‘, Juve und Fandor, längst nicht so schillernd und intelligent wie der gerissene Fantômas; ihr Tod wäre aber doch zu viel ‚Sieg des Bösen‘. Während die anderen Filme der Fantômas-Filmreihe keine explizite Anknüpfung an vorherige Handlungsstränge aufweisen, gibt es im folgenden Film Le mort qui tue (F 1913) eine zweigeteilte Auflösung des Cliffhangers. Zu Anfang der nächsten Folge stehen drei Titeltafeln. [1] „Préliminaires.“ [TC 00:30] [2] „Pour échapper aux policiers conduits par l’inspecteur Juve et son ami le journaliste Fandor, Fantômas, le Maître du Crime, a fait sauter la villa de Lady Beltham où il se cachait, ensevelissant ses poursuivants sous les décombres.“ [TC 00:32] [3] „Par miracle, Fandor n’avait été que légèrement blessé.“ [TC 00:40]85

83 Dieser Cliffhanger ist ebenso in der Vorlage vorhanden. Auch das Buch endet mit der offen gelassenen Frage, ob Juve und Fandor tot sind. Vgl. Souvestre: Juve contre Fantômas, 1977, S. 315. Der Cliffhanger wurde also nicht in der Kinoserie hinzugefügt. Siehe auch: Gunning: „A Tale of Two Prologues“. In: The Velvet Light Trap, 1996 (37), S. 34. 84 Hier kann nicht auf den modernen Mythos der Figur des Fantômas eingegangen werden, da die Figur in ihrer uneindeutigen Herkunft und Vieldeutbarkeit auf verschiedenste Gruppen anziehend wirkt. Siehe z.B. Brandlmeier: Fantômas, 2007. 85 Le mort qui tue, F 1913, TC 00:30‒00:40.

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Der Anfangstitel ist als frühe Ankündigung des nun folgenden recap zu sehen. In modernen TV-Serien wird meist im Voice-over ein Einführungssatz gesagt: „Previously on“ und dann wird die entsprechende Serie genannt. Statt des Voice-overs findet die Ankündigung des recaps hier per Schrifttafel statt. Der zweite Anfangstitel beinhaltet das eigentliche recap; der dritte ist der erste Auflösungsmoment, weil bereits preisgegeben wird, dass Fandor noch am Leben ist. Was jedoch mit Juve passiert ist, bleibt unklar: In der ersten Sequenz liegt Fandor im Krankenhaus und liest die Zeitung, in der steht, dass die Leiche von Juve noch immer nicht gefunden wurde ‒ die Handlung wird also erst nach einem elliptischen Interruptionspunkt wieder aufgenommen. In der darauffolgenden Sequenz wird der Second-Hand-Laden von Mère Touloche als Umschlagsplatz für Hehlereiware eingeführt, in der auch ein dumpf wirkender Gauner namens Cranajour arbeitet. Es gibt zwar während der Episode zahlreiche Hinweise, dass es sich bei Cranajour um Juve handelt, der sich verkleidet hat und damit selbst Fantômasʼ Tricks der Verkleidung benutzt. Doch wird die Identität von Cranajour erst in der vorletzten Sequenz des Films komplett aufgelöst [TC 1:26:30]. Der zweite Auflösungsmoment streckt sich somit über die gesamte Episode und hält damit den Zuschauer bis zum Ende hin in Spannung und Erwartung.86 2.2.3 Schlussfolgerungen Vermutlich wird die Fantômas-Serie durch ihren Import in die USA dort inspirierend gewirkt haben ‒ sie ist ein gutes Beispiel für die enge Verwobenheit der US-amerikanischen und französischen Filmindustrie zur damaligen Zeit (vor allem bei der französischen Firma Pathé). Doch zeigen die Fantômas-Folgen auch eine länderspezifisch andere Filmentwicklung und Rezeptionsgewöhnung: Die Folgen der französischen Kinoserie Fantômas oder Les Vampires dauern um die 60–80 Minuten und bestehen aus vier Filmrollen, sind also Multi-Reel- und damit Feature-Filme ‒ sie laufen damals schlecht an den US-amerikanischen Kinokassen.87 Die dortigen Kinoserien bestehen anfangs alle aus ein bis zwei, höchstens drei Rollen. Das französische Publikum hat eine andere Sehgewohnheit als das US-amerikanische. Auch wenn in 86 Die Les Vampires-Kinoserie von 1915, die ebenfalls von Feuillade inszeniert wurde, hat auch episodische und fortgesetzte Elemente. Die Vampires-Serie ist als Makrotext abgeschlossen. Sie handelt vom Kampf des Protagonisten Philippe Guerande und seinem Sidekick Mazamette gegen eine Bande, die sich Les Vampire nennt. Am Abschluss sind die zwei Protagonisten mit ihren Frauen glücklich vereint und ein Großteil der Vampire-Bande ist tot oder festgenommen, inklusive der Anführerin Irma Veb. Jedoch sind die einzelnen Folgen eher der Episoden-Serie zugehörig: Am Folgenende hat meist die Vampire-Bande einen Mord verübt, im Gegenzug haben die zwei Helden auch einen Teilerfolg gegen die Bande erreicht; meist sind sie voller Hoffnung, den Kampf gegen Les Vampires irgendwann zu gewinnen. 87 Vgl. Canjels: Distributing Silent Film Serials, 2011, S. 16.

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den folgenden Jahren zahlreiche Kinoserien beider Länder exportiert werden, so hat die Export-Version meist eine andere Schnittfassung, die den jeweils landesspezifischen Seh- und Distributionsgewohnheiten entspricht.88 Wenn also auch möglich erscheint, dass die Fantômas-Reihe einen Einfluss auf die US-amerikanische Kinoserie hat, so ist der Einfluss aufgrund der schlechten Einspielergebnisse eher gering. Aussagekräftiger als der nur ansatzweise überprüfbare Einfluss der französischen Fantômas-Reihe und des dort verwendeten Cliffhangers ist die Art, wie der gefahrensituative Cliffhanger hier eingesetzt wird: Die Erzählunterbrechung geht einher mit dem möglichen Tod zweier Figuren. Das Ende der Narration ist im Tod der zwei Helden gespiegelt. Die Erzählfortsetzung ermöglicht nicht nur eine Wiederbelebung des Erzählflusses, sondern auch der beiden Figuren. 2.3 Serial-Queen Melodramas – The Perils of Pauline und Co. Die ersten US-amerikanischen Kinoserien handeln von Heldinnen, die später auch als „Serial-Queens“ bezeichnet werden.89 Die Hauptdarstellerinnen sind so wichtig, dass sie häufig den Filmen ihren Namen leihen oder umgekehrt nach den Namen der Kinoserien ausgesucht werden.90 The Hazards of Helen (USA 1914–1917) handelt von den Abenteuern der Protagonistin Helen, gespielt von Helen Holmes, die ab Folge 49 von Helen Gibson ersetzt wird. Die Titelrolle in What happened to Mary (USA 1912) spielt Mary Fuller. The Adventures of Kathlyn (USA 1913) wird mit der Schauspielerin Kathlyn Williams besetzt.91 Vermutlich wirkt der Film in diesen frühen Jahren noch sehr realitätsnah auf das Publikum,92 was durch derartige Besetzungstricks unterstützt werden soll, damit die heldenhaften Frauen-Figuren noch mehr zu einer Identifikation einladen. 88 Vgl. ebd., S. 20. 89 „As they would a few decades later in soap opera, male stars often had to operate in feminine shadows. providing rescues when needed and reacting to situations created by the struggle between villain and leading lady.“ Stedman: The Serials, 1981, S. 38. 90 Die „serial-queen melodramas“ bieten sich für eine Gender-Studies-Analyse sehr gut an. Der einzige Wissenschaftler, der sich aber bisher daran gewagt hat, ist Ben Singer. Er erkennt, dass die Frauen zwar Heldinnen waren, unkonventionell und für das weibliche Publikum Vorbild und Traumbild sein konnten, rauchend, kämpfend, emanzipiert, voller Tatendrang – gleichzeitig wurden die Frauen auch gerne als Opfer, in prekären Situation, kurz vor der Folter gezeigt, was vor allem für ein männliches Publikum gedacht war. 91 Vgl. ebd., S. 9. 92 Zumindest legt die (nicht verbürgte) Geschichte, das Publikum einer der ersten Filmaufführungen von Lʼarrivé dʼun train a la Ciotat sei bei der gefilmten Ankunft des Zuges vor Schreck aufgesprungen, dies nahe. Vgl. Gregor, u. a.: Geschichte des modernen Films, 1965, S 25.

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„Then during the next two years came the serials of Pearl White and Helen Holmes, which added to the suspense by leaving the lovely heroine in mortal danger at the end of the episode, and the story not completed. Through the years to follow, one of the favourite devices used to accomplish that suspense was to close out the chapter with the star hanging suspended from a cliff, a ledge, a rooftop or an airplane, with the antagonists applying unmerciful pressure upon her to let go, thereby introducing for the serial a descriptive term that still holds its meaning today – the ‚cliff-hanger‘ – and is also used to describe a desperate, suspenseful situation in real life.“93

Bereits in diesen Jahren wird somit die ‚Cliffhanger‘-Serie geprägt. Welche der Serien aber die erste ist, kann heutzutage aufgrund der wenigen erhaltenen frühen Filme nicht mehr einwandfrei überprüft werden. In zahlreichen Sekundärwerken ist zu lesen, dass The Perils of Pauline die erste Cliffhanger-Serie gewesen sei, also die erste Kinoserie, deren Folgen immer mit einem Cliffhanger enden.94 The Perils of Pauline erscheint 1914 als 20-teilige Fortsetzungs-Kinoserie – erhalten ist aber nur die französische Schnitt-Version aus neun Teilen. Die Episoden dieser Variante enden immer mit der Rettung der Heldin. Zwar befindet sich Pauline tatsächlich in einer Sequenz an den Klippen der New Jersey Palisades,95 wo sie mit ihrem Heißluftballon abstürzt. Ihr Retter hängt an den Klippen, weil auf dem Weg zu ihr das Seil von ihren Feinden durchgeschnitten wird. Aber diese Sequenz findet in der 22. Minute der 36 Minuten langen Folge statt. Zieht man in Betracht, dass es in der US-amerikanischen Version ursprünglich 20 statt der erhaltenen neun Folgen gab, so könnte der ursprüngliche Unterbrechungsmoment an dieser Stelle stattgefunden haben. Doch ohne ein erhaltenes Drehbuch bleiben diese Überlegungen spekulativ.96 Dass The Perils of Pauline zumindest in einer bestimmten Schnittfassung die erste Cliffhanger-Serie war, wird deutlich durch den Bericht des damaligen Kameramanns Arthur C. Miller von 1967:

93 Cline: In the Nick of Time, 1984, S. 1. 94 Siehe auch: Neumann: „Cliffhanger“. In: Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, 2002, S. 100. 95 „Most of our locations were around Fort Lee, Coytesville, and among the rocky cliffs of the Palisades“. Miller: „The Perils of Pauline“. In: Balshofer u. a. (Hg.): One Reel a Week, 1967, S. 97. Siehe auch das Buch über das damalige Filmstudio in Fort Lee: Koszarski: Fort Lee, 2004. 96 Selbst in der Literarisierung des Stoffes aus dem Jahre 1914 enden die Kapitel nicht gefahrensituativ und unterbrechend, es sind also keine Minicliffs vorhanden. Vgl. Goddard: The Perils of Pauline, 2006.

316 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „The Perils of Pauline was duped and used in showing for many different purposes. […] The original intention of keeping the audience in suspense from week to week was forgotten. In one instance, the entire serial was recut to make each episode a complete story in itself, whereas the original idea had been to leave either the hero or heroine in a rather precarious predicament at the end of each episode, thereby guaranteeing the return of the audience, anxious to know how they were rescued from the clutches of the villain. This ‚cliffhanger‘ idea was used for the first ten episodes. It succeeded so well that another ten were added, so that twenty episodes in all of The Perils of Pauline were produced.“97

Miller ist ein wichtiger Zeuge, da er an der Produktion der Kinoserie beteiligt war. Es ist also anzunehmen, dass zumindest eine Schnittversion als Cliffhanger-Serie gedacht war.98 Eileen Bowser hat ebenfalls einen Beweis dafür, dass in The Perils of Pauline die ersten Cliffhanger auftauchen: „The suspense ending that came to characterize the silent serial is perfectly illustrated by the ending of the twelfth episode of The Perils of Pauline: someone has sent Pauline a basket of flowers in which a large snake has been hidden, and she buries her nose in the flowers. ‚There the film ends, which is something like breaking off a story in the middle of a sentence,‘ commented one bemused reviewer.“99

Sie stützt ihre These auf einen Artikel aus New York Dramatic Mirror vom 19. Dezember 1914. Sie selbst konnte also ebenfalls nicht die Cliffhanger-Schnittversion sehen. So wie die US-amerikanische Schnittversion von The Perils of Pauline verloren ist, blieb ein Großteil der Kinoserien der 1910er Jahre nicht erhalten. Von einigen sind immerhin einzelne Ausschnitte vorhanden, die aber keinerlei gültige Auskunft über die Folgen-Enden zulassen. Die wenigen erhaltenen Folgen lassen darauf schließen,

97 Miller: „The Perils of Pauline“. In: Balshofer u. a. (Hg.): One Reel a Week, 1967, S. 95– 96. 98 Miller beschreibt allerdings, dass der ‚Cliffhanger-Schnitt‘ erst vollständig in der Postproduktion stattfand und die Episoden als Ganzes produziert und gefilmt wurden, damit also durchaus der überlieferten Version ähnlich waren. Erst in der Postproduktion der einzelnen Folge schnitt der Autor George B. Seitz die Folge mit einem Cliffhanger-Ende: Vgl. ebd., S. 96. 99 Bowser u. a.: History of the American Cinema, 1990, S. 209. (Sekundärzitat aus dem New York Dramatic Mirror, 19. Dezember 1914, S.33.)

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dass besonders in den 1910er Jahren episodische Kinoserien populär sind:100 The Hazards of Helen (USA 1914–1917) ist die langläufigste Kino-Serie und hat dementsprechend die meisten Folgen,101 die ‒ so lässt sich zumindest anhand der wenigen erhaltenen Folgen annehmen ‒ alle in sich geschlossen sind. Einige wenige Folgen von Kinoserien der 1910er Jahre haben bereits Cliffhanger ‒ wie auch anhand der Magazinveröffentlichung von What happened to Mary für die filmische Adaption anzunehmen ist. Diese Serien enden gelegentlich mit einem Cliffhanger ‒ es sind also nur Vorformen der Cliffhanger-Serie. Zwei repräsentative und erfolgreiche Kino-Serien sind beispielsweise: The Exploits of Elaine (USA 1914) und The Iron Claw (USA 1916). Durch den Erfolg von The Perils of Pauline wird die Schauspielerin der Pauline, Pearl White, ein großer Star der Kinoserien und spielt in The Exploits of Elaine102 (USA 1914) die Hauptrolle. Von den ursprünglich 14 Folgen sind nur vier erhalten.103 Die Serie handelt von der Jagd nach einem grausamen und gerissenen Kriminellen, dessen rechte Hand deformiert ist und der daher „The Clutching Hand“ genannt wird. Am Ende der ersten Folge untersucht eine Gruppe einen Tatort und erhofft sich, anhand der gefundenen Fingerabdrücke die Identität von „The Clutching Hand“ feststellen zu können. Die sichergestellten Fingerabdrücke sind aber die des untersuchenden Kriminalisten Craig Kennedy:104 „The Clutching Hand“ hat anscheinend einen

100 Insgesamt gibt es nur wenige Episoden-Kinoserien, die allesamt aus den 1910er Jahren stammen: Vermutlich hatten lediglich Hazards of Helen (1914‒1917), The Ventures of Marguerite (USA 1915) und The Girl From Frisco (USA 1916) diese Struktur. Vgl. Ganz-Blaettler: „From Multiple to Culmulative Narrative“. In: Antonini (Hg.): Il film e i suoi multipli, 2003, S. 319. 101 „There were 119 episodes, one reel each. The episodes were released every Saturday, starting on 14 November 1914 through 17 February 1917.“ http://www.imdb.com/title/tt0004052/trivia [vom 06.05.2012]. 102 Genauso wie The Perils of Pauline wurde The Exploits of Elaine von der französischen Pathé-Produktionsgesellschaft produziert, aber in den USA gedreht. Der französische Titel von The Exploits of Elaine ist vielleicht daher besonders entlarvend: Les mystères de New York. Dieser Titel nimmt Bezug auf Eugène Sues Feuilletonroman Les mystères de Paris, der ebenfalls eine fortlaufende Geschichte und Cliffhanger beinhaltet. Siehe Kapitel: VI. 3. „Fazit und Ausblick“, Fußnote 68, S. 279. 103 Die vier Folgen stammen aus unterschiedlichen Versionen unterschiedlicher Länder: Folge eins und zwei sind nur in der französischen Version erhalten, das heißt, die Zwischentitel sind allesamt ins Französische übersetzt; Folge neun und zehn sind nur in der US-amerikanischen Version erhalten. 104 In der französischen Version wird „the Clutching Hand“ als „la main qui étreint“ übersetzt und Kennedy stattdessen Justin Clarel genannt.

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Handschuh hergestellt und angezogen, der Fingerabdrücke kopieren kann. Im direkten Anschluss an diese Enthüllung wird in der letzten Einstellung die Frage nach der Identität von „Clutching Hand“ verbildlicht [Abb. EE3–EE6]. Abbildungen EE1‒6: Ein rein bildlicher interrogativer Kommunikationsakt

Abb. EE1, TC 15:52

Abb. EE2, TC 15:55

Abb. EE3, TC 15:58

Abb. EE4, TC 15:59

Abb. EE5, TC 16:00

Abb. EE6, TC 16:01

In diesem Fall ließe sich von einem additiven Cliffhanger sprechen, wie ihn Junklewitz und Weber definiert haben:105 Mehrere Cliffhanger am Ende einer Folge verstärken einander in ihrer Wirkung. Die histoire-Ebene enthält einen enthüllenden Cliffhanger. Seine Wirkung wird durch den anschließenden interrogativen Kommunikationsakt auf der discours-Ebene gesteigert: Kurz vor der erhofften Verhaftung von „The Clutching Hand“ stellt sich heraus, dass er so gerissen ist, diese mögliche Enttarnung vorhergesehen zu haben; seine Identität bleibt ein Geheimnis ‒ das Fragezeichen, auf eine Einstellung der verkrampften Hand überblendet, macht dies überaus deutlich.106 105 Vgl. Weber u. a.: „To Be Continued…“. In: Meteling u. a. (Hg.): „Previously on…“, 2009, S. 121. 106 Die Fortsetzungs-Kinoserie hält sich sehr stark an die Vorlage, die 1910 in der Cosmopolitan als Fortsetzungsroman erscheint. Die erste Magazinfolge endete ebenfalls mit der Enthüllung, die in Abb. EE1 auf Französisch zu lesen ist: „‚My God!‘ he exclaimed excitedly, ‚this fellow is a master criminal! He has actually made stencils or something of the sort on which by some mechanical process he has actually forged the hitherto infallible finger prints!‘ I, too, bent over and studied the marks on the bust and those Kennedy had made on the blotter to show Elaine. THE FINGER PRINTS ON THE BUST WERE KENNEDYʼS OWN [Herv.i.O.].“ Reeve: The Exploits of Elaine, 2007, S. 13–14. Die

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Auf ähnliche Weise wird der maskierte Held namens „The Laughing Mask“ im ebenfalls von Pathé produzierten und mit Pearl White besetztem The Iron Claw (USA 1916) als Rätsel- und Handlungsmittelpunkt inszeniert ‒ auch wenn der Bösewicht für die Fortsetzungs-Kinoserie titelgebend ist. Vorausschauend wird im Vorspann die Besetzung der Rolle von „The Laughing Mask“ mit einem Fragzeichen versehen [Abb. IC1 unterste Zeile]. In der erhaltenen Episode sieben „The Hooded Helper“ liefern eine Reihe von Figuren Hinweise, dass sie „The Laughing Mask“ sein könnten. Die Folge endet aber damit, dass nur verschiedene und in die unterschiedlichen Richtungen weisende Anzeichen vorhanden sind, wer hinter der Maske des Helden stecken könnte. Auch in dieser Serie wird an die eigentliche Handlungsdarstellung mit einer kurzen End-Sequenz eine rein spannungssteigernde Betonung hinzugefügt: Die letzte Einstellung zeigt „The Laughing Mask“, wie er lachend dabei ist, seine Augenklappe wegzunehmen. Kurz bevor sie jedoch sein Gesicht freigibt, ist ein freezeframe und ein überblendeter Zwischentitel fragt: „Who is the Laughing Mask?“ [Abb. IC5]107 Abbildungen IC1‒6: Selbstreflexiver Einsatz des enthüllenden Cliffhangers

Abb. IC1, TC 00:15

Abb. IC2, TC 24:11

Abb. IC3, TC 24:17

Abb. IC4, TC 24:19

Abb. IC5, TC 24:20

Abb. IC6, TC 24:25

letzte Einstellung der Hand und der darauf überblendete Zwischentitel mit dem einzelnen Fragezeichen werden aber erst in der Fortsetzungs-Kinoserie hinzugefügt. 107 Dieser Zwischentitel ist merkwürdig, da er nicht das Layout und die Schrifttype der meisten anderen Zwischentitel von The Iron Claw besitzt. Aber selbst wenn direkt danach der Endtitel [Abb. IC6] folgt, bleibt die Frage nach der Identität unbeantwortet und die Wirkung der abgebrochenen Einstellung ist unverändert.

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In diesem Fall wird dem Zuschauer nicht nur mit einer extradiegetischen Schriftfiguration bewusst die Frage nach der Identität gestellt, sondern die Schrift unterbricht die eigentliche Enthüllung des Augenklappenentfernens. Nicht wie sonst die Enthüllung steht im Vordergrund, sondern die Unterbrechung der Enthüllung. Das ‚Necken‘ des Zuschauers, der in letzter Sekunde um die Enthüllung der Identität der Figur gebracht wird, ist damit auf die Spitze getrieben.108 Der enthüllende Erzähltyp wird bereits hier sehr selbstreflexiv eingesetzt und vom gefahrensituativen Erzähltyp die Ungewissheit übernommen: Nicht das Überleben der Figur ist unbekannt, sondern die Identität. 2.4

Resümee

2.4.1 Ökonomische und mediale Gesichtspunkte Das Entstehen der Kinoserie hat ökonomische und technische Hintergründe. Durch die Zusammenarbeit der sozialen Medien Zeitungsverlag und Filmproduktionsfirma erhoffen sich die beteiligten Parteien eine gegenseitige Zuführung von Rezipienten ‒ was sich als äußerst gewinnbringende Idee herausstellt. The Adventures of Kathlyn (USA 1913) beispielsweise ist die Fortsetzungs-Kinoserie, die nach What happened to Mary erscheint und deren Erfolg noch übertrifft:109

108 Stedman behauptet, dass die Frage nach der Identität von „The Laughing Mask“ am Ende jeder Folge gestellt wurde: „At the end of each episode the audience was presented with a question which grew more intriguing with each chapter: ‚Who is the Laughing Mask?‘“ Stedman: The Serials, 1981, S. 16–17. Nach meinen Forschungserkenntnissen zu The Iron Claw ist dies nicht zweifelsfrei beweisbar, da nur eine Folge erhalten ist. 109 Auch diese Kinoserie gilt bisher als verloren: http://www.silentera.com/PSFL/data/A/ AdventuresOfKathlyn1913.html [vom 10.04.2012]. Die Literarisierung enthält zahlreiche Minicliffs. Wenn sich der Buchautor Harold MacGrath recht genau an die filmische Vorlage gehalten hat ‒ wovon auszugehen ist, da er auch am Drehbuch beteiligt war ‒, gab es in der Fortsetzungs-Kinoserie zumindest ab und zu gefahrensituative Cliffhanger. Das Buch ist in 26 Kapitel geteilt, die Kinoserie bestand aus 13 Kapiteln mit je zwei Filmrollen – strukturell sind sich die beiden Werke sehr ähnlich. Kapitel acht der Literarisierung endet bspw. so: „Kathlyn struggled to reach her father again, but could not. Umballa folded his arms tightly about her and attempted to kiss her. This time her strength was superhuman. She freed her hands and beat him in the face, tore his garments, dragged off his turban. The struggle brought them within the radius of the colonelʼs reach. The prisoner caught his enemy by the throat, laughing insanely. ‚Now, you black dog, die!‘“ MacGrath: The Adventures of Kathlyn, 2007, S. 130.

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„The picture [d.i. The Adventures of Kathlyn] proved a large success in the theatres. New circulation came to the Chicago Tribune in thousands. The Tribune picked up fifty thousand readers on The Adventures of Kathlyn, and held permanently about thirty-five thousand of them. The significance of this figure must be measured by the terms of circulation in the pre-war days. It represented nearly ten per cent of the total circulation of the paper. It was tremendous.“110

Die serielle Fortsetzungs-Narration erweist sich auch in diesem Fall als narrative Form, die am besten geeignet ist, eine dreifache Treuereaktion hervorzurufen: zur Serie, zum jeweiligen sozialen und technischen Medium.111 Wie im Zitat festgestellt, profitieren die Verlage, weil zahlreiche Leser wegen des jeweiligen FortsetzungsRomans ein Abonnement abschließen, während die Produzenten beziehungsweise Kinobesitzer ihren Nutzen daraus ziehen, dass die Leser häufiger auch Filmzuschauer werden. Die Rezipienten des Fortsetzungsromans in den Frauenzeitschriften werden zum Medienwechsel animiert: Durch das alte, bekannte technische Medium Zeitung werden sie an den neuen Film herangeführt; durch die serielle Publikation der Kinoserien findet zugleich eine Gewöhnung an das neue technische Medium statt. Auch die Werbung zu den Kinoserien demonstriert diesen gewünschten Medienwechsel: Im Anderson Intelligencer vom 18. März 1914 wird auf einer Anzeigenseite der Anfang des Romans The Adventures of Kathlyn abgedruckt ‒ aber nur bis zum Cliffhanger: „Umballah coming up with the rear of the procession, takes a long distance shot and wounds Kathlyn.“ Der Ausschnitt aus der Erzählung ist gleichzeitig Ankündigung der gleichnamigen Kinoserie. Der Cliffhanger wird also als Werbeanzeige benutzt und animiert den Leser zum Medienwechsel. Gleichzeitig ist anhand der Anzeige ersichtlich, dass die Kinoserien in ein Programm eingebettet werden. „Besides this Feature we will present Two [sic] other good Pictures.“ Die Kinoserie ist auch in ihrer Vorführpraxis seriell, weil sie in Kombination mit anderen Filmen rezipiert wird. Bestand auch beim viktorianischen Fortsetzungs- und dem französischen Feuilletonroman eine enge Verbindung zwischen Werbung und Narration, so ist hier insofern eine Steigerung zu beobachten, als dass die geteilte Narration selbst Werbung ist. Die Kinoserien sind Mittel, um die Reichweite und Auflagen der Zeitungen zu vergrößern ‒ umgekehrt werden die Rezipienten der Zeitschriften zum Kinobesuch animiert. Weil der zeitgleiche Start einer Serie in Zeitung und Kino sich als so profi-

110 Ramsaye: A Million and one Nights, 1986, S. 660. 111 Vgl. Hagedorn: „Technology and Economic Exploitation“. In: Wide Angle, 10 (4), 1988, S. 5.

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tabel für die Zeitungen herausstellt, beginnen sie einen Wettlauf um die Veröffentlichung von Fortsetzungs-Kinoserien.112 Das bereits in What happened to Mary verwendete Prinzip, den Rezipienten mittels eines Preisausschreibens über einen möglichen Fortgang der Erzählung zu aktivieren, wird von zahlreichen ‚Serien-Kooperationen‘ ausgebaut. The Million Dollar Mystery (USA 1914) zeigt, wie hoch die ausgeschriebenen Preisgelder gehen, wie stark der Konkurrenzkampf zwischen den Zeitungen ist und wie sehr die Antizipation und die damit forcierte Treue des Rezipienten zu einer Serie gefördert werden [Abb. 4]. Die Chicago Tribune und die Tanhouser Film Produktionsfirma machen eine Ausschreibung in Höhe von 10.000 Dollar für den besten Vorschlag, wie die Fortsetzungs-Kinoserie The Million Dollar Mystery abzuschließen sei. Miss Ida Damon, eine Stenographin aus St. Louis, gewinnt den Wettbewerb.113 Obwohl der letzte Teil bereits abgedreht ist, fordern die Rivalen der Chicago Tribune und einige Ermittler des United States Post Office, dass der Vorschlag der Gewinnerin genau nach deren Plan umgesetzt wird ‒ was letztendlich auch so geschieht.114 In diesem speziellen Fall kann von einer tatsächlichen „Mitautorschaft“ gesprochen werden ‒ sie muss jedoch erst eingeklagt werden. 112 Um nur die wichtigsten Vertreter dieses Wettlaufs zu nennen: 1. Am 29. Dezember 1913 hat The Adventures of Kathlyn im Kino Premiere ‒ parallel mit der Veröffentlichung in der Chicago Tribune. 2. Am 31. Januar 1914 erscheint die erste Folge von Dolly of the Dailies in Kooperation mit einer Gruppe von Zeitungen, zusammengefasst unter dem Namen Sundry Newspapers. 3. Am 4. April 1914 läuft die erste Folge von Lucile Love in Kooperation mit der Chicago Herald. 4. Am 11. April 1914 wird The Perils of Pauline angekündigt, in Kooperation mit den Zeitungen des Medienmoguls William Randolph Hearst. Siehe: Bowser u. a.: History of the American Cinema, 1990, S. 209; Ramsaye: A Million and one Nights, 1986, S. 661. Außerdem über Hearsts Medien-Strategien: „The French company Pathe [...], and one of it competitors, Vitagraph, had displayed newsreels in American theaters since 1911, but with little monetary success. Hearst recognized an immediate opportunity for his intrusion into this medium, because he had a number of distinct advantages over these companies. Specifically, his newspapers and magazines provided tremendous advertising outlets; […] Consequently, on March 23, 1914, The Perils of Pauline, a serial of twenty episodes, premiered [...], featuring twenty-five-yearold actress Pearl White, […] whose venue was a ‚cliff-hanging pattern‘ of hazardous escapes from villainous cutthroats. Success was immediate, with overflow crowds in attendance. Hearst could not have been more pleased. He had not only conceived the story and written most of the dialogue, but had organized the filmʼs wide distribution.“ Procter: William Randolph Hearst, 2007, S. 39. 113 Bei The Diamond from the Sky (USA 1915) wird ebenfalls ein Wettbewerb in Höhe von 10.000 Dollar ausgeschrieben für den besten Vorschlag, wie die Serie abzuschließen sei. Vgl. Ramsaye: A Million and one Nights, 1986, S. 668–669. 114 Vgl. ebd.

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Abbildung 4: Monetär unterstützte Rezeptionsimpulse

The Anderson Daily Intelligencer, 12. Juli 1914, S. 16.

2.4.2 Transmediale und transnationale Gesichtspunkte Die „serial-queen melodramas“115 weisen zahlreiche intermediale Bezugspunkte auf. Nicht nur erscheint die Geschichte meist zeitgleich in Magazinen und Zeitungen, sondern es wird auch eine Modekollektion für die Kinoserie vermarktet, und die Zeitschriften-Folge wirbt mit Fotos der entworfenen Kleidung.116 Ebenso wie Magazingeschichten und Kinoserie sich beeinflussen, kommt Inspiration von den Bühnen. Später adaptieren die Theater wiederum einige Stoffe von Kinoserien.117 Crossmediales Marketing und transmediale Nutzung von Geschichten werden bereits bei der Kinoserie intensiv umgesetzt.118

115 Singer: Melodrama and Modernity, 2001, S. 221. 116 „Further evidence of the genreʼs address to women is the serial-queen melodramaʼs promotion of ‚fashion interest,‘ apparent both in the mise-en-scène of the serials and in extratextual merchandising tie-ins with fashion houses.“ Ebd., S. 224. 117 Vgl. ebd., S. 243–245. 118 Siehe dazu auch Fußnote 53.

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Die inhaltlichen ‚Mitläufer‘ – sogenannte tie-ins119 – sind vielleicht aber nicht nur aus transmedialen Vermarktungsgründen wichtig, sondern helfen womöglich auch narrativ, wie Ben Singer ausführt. „Perhaps tie-ins tell us something about the difficulties directors encountered during the ‚transitional period‘ of the early Teens. Cinema’s shift from ‚primitive‘ to classical narrative modes was by no means an instantaneous and unproblematic metamorphosis. As any one who has viewed a fair sampling of films made between roughly 1908 and 1916 will attest, films from this period often leave one somewhat confused about exactly what has happened in the story and why. There is no reason to think that the original spectator had significantly greater powers of narrative comprehension. In other words: novelized, written tie-ins – which were indeed cinema’s earliest mass-mediated multiples – efficiently and seamlessly filled in the gaps.“120

Tendenziell könnte man davon sprechen, dass die tie-ins auch Verständnislücken füllen und somit dem Publikum zu einer klareren Nachvollziehbarkeit der noch holprigen Filmnarration verhelfen. Aber dies ist eher ein praktischer Nebeneffekt, da die tie-ins – wenn das auch Singers Gedanken des ‚klareren Verständnisses‘ nicht widerspricht – eher dazu gedacht sind, die Narration zu erweitern. Es wird auf die Neugier des Rezipienten von Literaturverfilmungen gesetzt, wie der Stoff filmisch umgesetzt wird. Auf diese Weise bezahlt der Rezipient zweimal: für die Zeitung und für den Kinobesuch. Vor allem lässt sich festhalten, dass bereits zu diesem Zeitpunkt der Rezipient dazu angehalten wird, mediale Grenzen zu überschreiten.121 Der Cliffhanger ist wichtiger Teil dieser Strategie. Die gegenseitige Beeinflussung von US-amerikanischer und französischer Filmindustrie ist von Beginn an stark.122 Die Fortsetzungs-Kinoserie führt diese Entwick-

119 Der Begriff tie-in beschreibt vom Lizenz-Inhaber produzierte oder in Auftrag gegebene, das jeweilige Hauptwerk unterstützende Zusatz-Veröffentlichungen in anderen technischen Medien als dem des Hauptwerks. Mit diesen Zusatzprodukten kann aus der jeweiligen Lizenz noch mehr Profit gezogen werden; darüber hinaus wird das Hauptwerk beworben. Vgl. ebd., S. 269–270. 120 Ebd. 121 „Even as producers were looking to make themselves increasingly autonomous in feature film, the serials openly encouraged audiences to move between media.“ Gardner: Projections, 2012, S. 34. 122 Die Verquickung von amerikanischer und französischer Filmindustrie beginnt bereits bei den technischen Erfindungen. Der Amerikaner Edison und die Franzosen Auguste und Louis Lumière liefern sich einen Wettkampf, der vorerst von den Brüdern Lumières bei einem Amerikaaufenthalt gewonnen wird. Vgl. Pearson: „Das frühe Kino“. In: NowellSmith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 14–15. Fortgeführt wird

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lung weiter. Die französische Filmgesellschaft Pathé produziert erfolgreiche Kinoserien in den USA (The Perils of Pauline, The Exploits of Elaine), die wiederum in Frankreich in teilweise anderen Schnittversionen veröffentlicht werden. Die Fantômas-Reihe wird in den USA gezeigt, aber ohne großen Erfolg ‒ andere USKinoserien hingegen sind in Frankreich sehr erfolgreich wie Les Mystères de New York (The Exploits of Elaine) [Abb. 5]. Die Filme und Kino-Serien passt man dem Publikum des jeweiligen Landes an. Bisweilen produzierte man einen abweichenden Schluß, um so dem unterschiedlichen Publikumsgeschmack in verschiedenen Weltgegenden entgegenzukommen.123 Abbildung 5: Internationale Auswertung von Stoffen

Plakatwerbung für Les Mystères de New York, 1914.124 diese gegenseitige Beeinflussung von George Méliès, der in New York ein Vertriebsbüro einrichtet; noch 1911, als er beinah bankrott ist, produziert sein Bruder Gaston Filme in einem Studio in Texas. Die französische Produktionsfirma Pathé ist zeitweise die größte der Welt, die vor allem in den USA sehr aktiv ist: „1908 vertrieb Pathé doppelt so viele Filme in den Vereinigten Staaten wie alle US-Produzenten zusammen.“ Ebd., S. 15. 123 In Osteuropa zog man beispielsweise einen tragischen oder ‚russischen‘ Schluss dem Happy-End vor, das amerikanische Zuschauer erwarteten. Vgl. Usai: „Frühzeit“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 12. 124 Die Kinoserie Les Mystères de New York wird als „Roman Cinéma Amèricain“ bezeichnet und zeitgleich als Fortsetzungsroman in der Zeitung Le Matin veröffentlicht.

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Die unterschiedlichen Versionen von The Perils of Pauline sind also keine Ausnahme und kein Zufall, sondern wohlbedacht. Jedes überlieferte Film-Ende der frühen Filmjahre ist nur bedingt repräsentativ und kann nur stellvertretend für die filmästhetische Produktion und Rezeption des jeweiligen Landes analysiert werden. Auch wenn die ersten Fortsetzungs-Kinoserien selten Cliffhanger verwenden, wird anhand der Beispiele deutlich, wie sehr der Rezipient bereits mit den ersten Kinoserien und ihren literarischen Vorlagen aktiviert wird: zum Medienwechsel, zur Antizipation und zur Identifikation ‒ vor allem aber zur dreifachen Treue: Serie, ‚Sender‘ (soziales Medium) und (technisches) Medium. Aufgrund der Zusammenarbeit zwischen den Zeitschriftenverlagen und Filmproduktionsfirmen sind die Kinoserien der 1910er Jahre noch von der Literatur geprägt. Die Zeitschriften sind vornehmlich auf Abonnentengewinnung aus und setzen daher eher auf vorausdeutende Cliffhanger, die eine langfristige Antizipation fördern. Weil Frauenzeitschriften häufig ‚Stofflieferanten‘ sind, handeln auch die Kinoserien vorwiegend von Frauen, und das Publikum besteht ebenfalls zum großen Teil aus Frauen, die mit Preisausschreiben, zum Film entworfener Modekollektion etc. gezielt angesprochen werden. Die Erzähltechniken der Fortsetzungsromane werden übernommen: Der vorausdeutende Cliffhanger ist Ausdruck dieser Kontexte ‒ er entspricht und entstammt der literarischen Tradition und ist sowohl dem Stoff als auch dem Publikum angemessener als eine Aneinanderreihung gefahrensituativer Cliffhanger. Gleichzeitig ist wie im Falle von The Exploits of Elaine und The Iron Claw ersichtlich, dass in den Kinoserien dem ursprünglichen Ende der Handlung noch eine kurze spannungssteigernde Einstellung hinzugefügt ist. Wie The Exploits of Elaine beweist, bei dem die Vorlage nicht mit dem angefügten Cliffhanger endet, werden die Stoffe bereits dem technischen Medium angepasst. Auch wenn nicht viele Fortsetzungs-Kinoserien erhalten sind, zeigt das Material zahlreiche Elemente seriell fortgesetzter Kino-Narration. 1. Die Filmproduzenten erkennen angesichts der Fortsetzungsliteratur in Frauenmagazinen die Rezipientenbindung, welche die serielle Fortsetzungsnarration ermöglicht (What happened to Mary?). 2. Mithilfe von Preisausschreibungen wird ausdrücklich die Antizipation der Rezipienten ‒ vor allem von Serien-Abschlüssen ‒ gefördert (What happened to Mary?). 3. Die Popularität von Figuren wird bei einer filmischen Verarbeitung genutzt. Stoffe werden relativ unverändert aus anderen Medien übernommen (What happened to Mary? und The Exploits of Elaine). 4. Mit offenen, auf einen Fortgang der Erzählung vorausdeutenden Folgen-Enden wird auf eine Fortsetzung hingewiesen. („To be continued“ findet sich als eine der letzten Texttafeln bereits bei The Iron Claw).

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5. Die letzte Einstellung als Rezipienten-Köder wird mit Fragezeichen beendet (The Exploits of Elaine) und zu abgebrochener Identitätsenthüllung (The Iron Mask) genutzt ‒ Bestandteile von enthüllendem Cliffhanger mit (zumindest in den wenigen erhaltenen Folgen) häufig interrogativem Kommunikationsakt sind vorhanden. Diese Enden sind aber kein homogener Teil der Erzählung, sondern ‚necken‘ den Zuschauer mit dem jeweiligen Geheimnis. Fast ausschließlich benutzen sie dazu das Zeichensystem Schrift (Juve contre Fantômas, The Exploits of Elaine und The Iron Claw). 6. Zwischen episodischer und fortgesetzter Kinoserie sind bereits Mischformen vorhanden (Juve contre Fantômas und What happened to Mary?). Darüber hinaus zeigen bereits die ersten Filmbeispiele, dass die finalen bildlichen Aussagen in Folgen sich ebenfalls mit den eingeführten Begriffen der verschiedenen Kommunikationsakte beschreiben lassen (bspw. Juve contre Fantômas). Gelegentlich wird sogar die letzte bildliche Aussage auf der finalen Tafel ins systemische Medium der Schrift übersetzt (The Iron Claw). Diese schriftlichen Aussagen stimmen mit den eingeführten Begriffen überein, was die Angemessenheit der Begrifflichkeit bestätigt.

3. D IE 1920 ER J AHRE 3.1 Gefahrensituative Cliffhanger Bereits Mitte der 1920er entwickelt sich die Kinoserie zu einer Attraktion für Kinder und Action-Liebhaber. 1922 danken die zwei größten serial queens ab: Pearl White und Ruth Roland.125 Sie hinterlassen das Format vor allem den Stuntmen und ihren Stunts, welche die eigentlichen Attraktionen der kommenden Fortsetzungs-Kinoserien sind.126 Die Filmrollen und Filme werden länger, das Publikum hat sich an das technische Medium Film gewöhnt. Die Funktionen der Kinoserie als Brücke vom Kurz- zum Feature-Film, als ‚Verführer‘ zum Wechsel vom Fortsetzungsroman zur gleichnamigen Kinoserie und als Programm-Füller fallen langsam weg. Stattdessen wird die Form der Kinoserie klarer: Als Genre meist Action, Abenteuer, Western und Science-Fiction, Stuntmen als Schauspieler, eine dementsprechend klare PublikumsZielgruppe und Cliffhanger als die das Format prägende Erzähltechnik. Insgesamt sind vom Beginn der 1920er Jahre erneut wenige, häufig nur einzelne Folgen erhalten. Die bereits mit Genre-Elementen des Horrors versehene Fortset-

125 Vgl. Stedman: The Serials, 1981, S. 50. 126 Vgl. Barbour: Cliffhanger, 1977, S. 159–175.

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zungs-Kinoserie A Woman in Grey (USA 1920) setzt ausschließlich auf gefahrensituative Cliffhanger.127 Die Bedrohungen für den Helden und die Heldin sind bereits erstaunlich ausgefallen, beispielsweise in der neunten Folge dieser Fortsetzungs-Kinoserie. Die Protagonistin, mit dem sprechenden Namen Ruth Hope wird von einer Gruppe von Kidnappern gefangen genommen und an ein Bett gefesselt [Abb. WG1]. Eine Frau aus der Gruppe möchte Ruth lieber umbringen, statt sie gefangen zu halten. Da sie aber nicht das Einverständnis ihrer Bande hat, muss sie den Tod wie einen Unfall aussehen lassen. Sie zündet eine Kerze an, die das Seil langsam durchbrennt [Abb. WG2], an dem ein Gewicht befestigt ist, das über der gefesselten Ruth hängt [Abb. WG3]. Immer wieder blickt die zappelnde Heldin nach oben auf das Gewicht mit Pfeilspitze, das sie aufspießen und zerquetschen wird, wenn die Kerze das Seil komplett durchgebrannt hat [Abb. WG5]. Zusätzlich wird auf der zweiten Handlungsebene der zur Rettung nahende Held gestoppt: Als er an der Tür zur Ruths Gefängnis steht, öffnet die Entführerin eine Falltür, in welcher er verschwindet. Abbildungen WG1‒6: Detailaufnahmen bilden eine komplexe Gefahrensituation

Abb. WG1, TC 03:44

Abb. WG2, TC 04:21

Abb. WG3, TC 04:29

Abb. WG4, TC 04:43

Abb. WG5, TC 04:45

Abb. WG6, TC 04:46

Alle für den gefahrensituativen Cliffhanger charakteristischen Elemente sind hier vereint. Die Heldin und auch der Held befinden sich in einer scheinbar ausweglosen Situation, die unterbrochen wird: Die Blende schließt langsam auf die angstvoll aufgerissenen Augen der Heldin [Abb. WG5]. Die Details der Situation werden in nahen 127 Zwar wurde bereits 1910 Mary Shellys Frankenstein verfilmt. Als der erste Horrorfilm wird aber meist Nosferatu, eine Symphonie des Grauens von Friedrich Murnau genannt, der erst aus dem Jahr 1922 stammt. Vgl. Abbott: „Spectral Vampires“. In: Hantke (Hg.): American Horror Film, 2010, S. 3–21.

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Einstellungen gefilmt, der Zuschauer fügt sie zusammen zu einer Montage der akuten Gefahr und ausweglosen Situation. Der sprechende Name der Heldin macht bereits darauf aufmerksam, dass es für die Figur, die sich in einem gefahrensituativen Cliffhanger befindet, immer Hoffnung gibt. Ähnlich wie diese enden viele erhaltene Folgen von Fortsetzungs-Kinoserien der 1920er Jahre.128 Ein weiteres Beispiel ist The Flame Fighter (USA 1925), der eine Mischform aus episodischer und fortgesetzter Narration bietet. Einerseits handelt es sich immer wieder um neue, nur für die jeweilige Episode relevante Feuer, die von dem Feuerwehrmann Jack Sparks ‒ der Held ist erneut mit einem sprechenden Namen ausgestattet ‒ gelöscht werden müssen. Andererseits gibt es den zusammenhängenden Handlungsstrang, von dem Schurken Mike Tierney und seinen Gefolgsmännern, die den Rücktritt von Commissioner Baker erreichen wollen; dieses Ziel verfolgen sie mit verbrecherischen Methoden. Zwar ist nur die komplette Folge drei erhalten, doch lässt sie bereits Rückschlüsse über den Aufbau der gesamten Serie zu. Das recap in Folge drei findet hauptsächlich durch Anfangstitel statt, mit denen gleichzeitig Charaktere und die Schauspieler eingeführt werden [Abb. FF2, FF3 und FF5]. Die allererste Kameraeinstellung zeigt Alice Bakers Fingerkuppen. Mit letzter Kraft klammert sie sich an eine Dachkante [Abb. FF4]. Unmittelbar darauf folgt wieder ein Zwischentitel mit ihrem Namen samt dem der Schauspielerin [Abb. FF5]. Die nächste Naheinstellung hat zum Inhalt, wie sich Alice Baker am Dach festhält und auf Rettung durch den Feuerwehrmann Jack Sparks der „Hook & Ladder 9 Company“ wartet [Abb. FF6]. Er kämpft auf dem Dach noch mit einem Bösewicht (nächste Kameraeinstellung), schlägt diesen bewusstlos und rettet dann Alice Baker. Höchstwahrscheinlich schließt die erhaltene dritte Folge direkt an die nicht überlieferte Folge zwei an, den ‚Roofhanger‘ (Interruptionspunkt): Der Cliffhanger gestaltete sich dann so, dass Alice Baker am Dach hängt, während Jack Spark von einem Bösewicht an ihrer Rettung gehindert wird. Dieser Moment wird zumindest in der erhaltenen Folge aufgehoben und sofort auch aufgelöst. Die erhaltene dritte Folge endet ebenfalls mit einem Cliffhanger, bei dem es so erscheint, als sei Jack Sparks von einem Flugzeug aus in den Tod gesprungen, weil sein Fallschirm manipuliert wurde.

128 Bspw. in The Adventures of Tarzan (USA 1921) schließen alle erhaltenen Folgen mit einem Cliffhanger: Entweder Tarzan (Folge 1 und 4) oder Jane (Folge 2 und 3) befinden sich in Gefahr. Auch die einzige erhaltene Folge 11 von Captain Kidd (USA 1922) endet gefahrensituativ.

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Abbildungen FF1‒6: Überlieferte ‚Roofhanger‘

Abb. FF1, TC 00:05

Abb. FF2, TC 00:06

Abb. FF3, TC 00:12

Abb. FF4, TC 00:17

Abb. FF5 TC 00:19

Abb. FF6 TC 28:23

Auch wenn nur wenige Folgen der Kinoserien vom Anfang der 1920er Jahre erhalten sind, lassen sie erkennen, dass der Cliffhanger als Erzähltechnik fest etabliert ist. Als Cliffhanger-Typ kommt in den analysierten Beispielen ausschließlich der gefahrensituative vor. Mit sprechenden Namen wird die Identifikation mit dem Helden oder der Heldin unterstützt, was die Bedrohung der Gefahrensituation zu einer eigenen werden lässt. 3.2

Pulp-Veröffentlichung und Kinoserie ‒ ein Vergleich von Tarzan and the Jewels of Opar und Tarzan the Tiger

3.2.1 Kontext Ende der 1920er Jahre werden in Kinoserien zunehmend Stoffe und Figuren adaptiert, die bereits in anderen technischen Medien erfolgreich sind und dort bereits einen ‚seriellen Erfolg‘ hatten. Wichtiger ‚Lieferant‘ sind außer den Frauenzeitschriften nun auch die Comics und eine Publikationsform, die pulp genannt wird ‒ die als Kinoserie sehr erfolgreichen Figuren Tarzan, Zorro und Fu Manchu entstammen alle pulp-Magazinen.129 Bereits 1882 erscheint mit The Golden Argosy diese neue Magazinform, die aufgrund des billigen Zellstoff-Papiers (pulp), auf dem die Hefte gedruckt sind, nach dieser Papierart benannt wird.130 Bei ihnen handelt sich um eine

129 Vgl. Robinson u. a.: Pulp Culture, 1998, S. 50–70. 130 „The pulp magazine was the idea of a former telegraph operator from Augusta, Maine, named Frank Andrew Munsey. [...] He had a simple maxim, ‚The story is more important

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Weiterentwicklung der dime novels;131 im Hinblick auf das Verkaufsprinzip, Erzählungen auf preiswerterem Papier anzubieten, ist das Format ebenfalls verwandt mit Dickensʼ shilling numbers.132 Die meisten pulp-Magazine werden zwischen den 1920er und 1950er Jahren veröffentlicht.133 Ihre große Hoch-Zeit fällt mit dem Boom der Kinoserien zusammen. Eine der erfolgreichsten Figuren sowohl der pulp-Magazine wie auch der Kinoserie und des frühen Films ist die Figur des Tarzan.134 Im Folgenden wird ein Vergleich zwischen der pulp-Veröffentlichung, der späteren ganzheitlichen Romanveröffentlichung von Tarzan and the Jewels of Opar sowie der Kinoserien-Adaption Tarzan the Tiger vorgenommen, um zu analysieren, inwiefern Cliffhanger bereits Teil der seriellen pulp-Veröffentlichung sind und wie sie für die Kinoserie verändert wurden. Dabei stellt sich anhand der Beispiele die Frage, wie than the paper it is printed on.‘“ Haining: The Classic Era of American Pulp Magazines, 2001, S. 12. 131 „In the beginning, the term ‚dime novel‘ was a brand name. Beadleʼs Dime Novels (1860– 1874) was a series of paper-covered booklets, published at regular intervals, and numbered in sequence. For 14 years, a new title was issued by the publishers, Beadle and Adams, every two weeks or so, 321 in all. […] Each [booklet] contained a work of fiction, a short novel, with a sensational and melodramatic plot, that sold for ten cents. […] The proliferation of paper-covered fiction in the latter part of the nineteenth century turned the brand-name ‚dime novel‘ into a generic term for any work of fiction in paper covers, no matter what the cover price.“ Cox: The Dime Novel Companion, 2000, S. XIII–XIV. Außerdem: Cox: „Dime Novels“. In: Bold (Hg.): The Oxford History of Popular Print Culture, 2011, S. 63–80. Für einen kurzen Aufsatz über pulp-Literatur und die unmittelbaren Vorläufer der dime novels empfiehlt sich die Lektüre von: Smith: „Pulp Sensations“. In: Glover u. a. (Hg.): The Cambridge Companion to Popular Fiction, 2012, S. 141–158; Hoppenstand: „On Pulp Fiction and Weird Tales“. In: Ders. (Hg.): Pulp Fiction of the 1920s and 1930s, 2013, S. XIII–XXVII. 132 „[H]e [d.i. Munsey] knew that, thanks to the advent of the new high-speed printing presses, it was possible to mass-produce magazines in a way that had never been possible before. [...] [H]e decided that if he used the much cheaper pulp paper, which was derived from a wood-fiber base and referred to as ‚newsprint,‘ he would be able to offer a much cheaper product. He would give the readers a suggestion of value for money by giving the magazines a four-colour cover printed on art paper. The saving in costs, Munsey reckoned, would enable him to sell his ‚pulps‘ at 10 cents – less than half the price of a typical slick. It was a decision that would make his fortune and revolutionize publishing.“ Haining: The Classic Era of American Pulp Magazines, 2001, S. 13. 133 Vgl. ebd., S. 12–15. 134 Für die Bedeutung der Tarzan-Kinoserien und Filme siehe: Harney: „Tarzan in Novel and Film“. In: Forrest (Hg.): The Legend Returns and Dies Harder Another Day, 2008, S. 57–80.

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wichtig die Erzähltechnik des Cliffhangers für die Veröffentlichungsform der seriellen pulps waren und inwiefern die Kinoserie mit dem Stoff und der Figur auch die Erzähltechnik einfach nur adaptieren musste oder ob mediale Unterschiede im Gebrauch des Cliffhangers erkennbar sind. Die Figur des Tarzan wird von Edgar Rice Burroughs in seinem ganzheitlich publizierten Roman Tarzan of the Apes im pulp-Magazin All-Story Magazine 1912 eingeführt.135 Alle Tarzan-Geschichten werden nach der pulp-Erst-Veröffentlichung als Buch herausgegeben.136 Eine Ausgabe des All-Story Magazine besteht immer aus einer längeren ganzheitlichen Erzählung und einigen Kurzgeschichten sowie aus mehreren Fortsetzungsgeschichten, von denen jeweils aber nur eine Folge erscheint. Das All-Story Magazine bietet also sowohl Anreiz für den gelegentlichen Leser als auch für den Abonnenten. Die Vorlage zur Kinoserie Tarzan the Tiger mit dem Titel Tarzan and the Jewels of Opar erscheint im pulp-Magazin All-Story Weekly.137 Anders als die bis zu diesem Zeitpunkt publizierten Tarzan-Geschichten wird sie nicht als geschlossene Erzählung veröffentlicht, sondern fünfteilig im wöchentlichen Intervall vom 18.11. bis 16.12.1916. Als Buch erscheint die Erzählung erst 1918. Das Grundschema der Geschichte findet sich in allen drei Versionen ‒ pulp, Buch und Kinoserie. In der Vorgeschichte ist Tarzan, Sohn des verstorbenen britischen Lord Greystoke, bei Affen im Dschungel aufgewachsen. Nach der Entdeckung seiner eigentlichen Herkunft reist er mit Jane, der Tochter eines Wissenschaftlers, in sein 135 Die meiste Forschungsliteratur zu der Figur des Tarzan behandelt die Themen Gender (z. B. Wahl: „Me Hero, You Dupe“. In: Utz u. a. (Hg.): Investigating the Unliterary, 1995, S. 31–48; Mayer: „The White Hunter“. In: West u. a. (Hg.): Subverting Masculinity, 2000, S. 247–265; Coghland: „Absolutely Punk“. In: Churchwell (Hg.): Must Read, 2012, S. 175–195), Sexualität (Henderson: „When Hearts Beat Like Native Drums“. In: Africa Today, 48 (4), 2000, S. 91–124) und Kolonialismus bzw. Imperialismus (CareyWebb: „Heart of Darkness, Tarzan, and the ‚Third World‘“. In: College Literature, 1992 (20), S. 121–141; Cheyfitz (Hg.): The Poetics of Imperialism, 1997; Bady: „Tarzanʼs White Flights“. In: American Literature: A Journal of Literary History, Criticism, and Bibliography, 83 (2), 2011, S. 305–329). Auf diese Themen kann hier nicht weiter eingegangen werden kann. Der größte Teil der Aufsätze konzentriert sich zudem auf Burroughsʼ Tarzan of the Apes. 136 Die Tarzan-Figur ist für den Autor so erfolgreich, dass Burroughs 26 Fortsetzungen schreibt. Zusätzlich verkauft Burroughs die Rechte für eine ganze Reihe von Veröffentlichungen in anderen technischen Medien: Beispielsweise erscheinen ein sehr erfolgreicher Zeitungs-Comic-Strip von Hal Foster (1929) und eine Radio-Fortsetzungsgeschichte (1931). Vgl. Morton: „Tracking the Sign of Tarzan“. In: Kirkham u. a. (Hg.): You Tarzan, 1993, S. 106. 137 Das All-Story Magazine ändert 1914 seinen monatlichen Erscheinungsrhythmus zu einem wöchentlichen und dementsprechend seinen Namen zu All-Story Weekly Magazine.

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Geburtsland England. Zu Beginn der Geschichte von Tarzan and the Jewels of Opar und Tarzan the Tiger muss er jedoch in den Dschungel zurückkehren, da das Anwesen der Greystokes vor dem Ruin steht. Tarzan, nun Lord Greystoke, will nach den Juwelen von Opar suchen, um das britische Greystoke-Anwesen retten zu können. Der Protagonist hat es gleich mit vier Widersachern zu tun: Zum einen Albert Werber, der ihm angeblich bei der Suche hilft, in Wirklichkeit aber die Juwelen in seinen Besitz bringen will. Zum zweiten der rachsüchtige Sklavenhändler Achmet Zek, dessen Verbrechen Tarzan vereitelt hatte. Zum dritten die okkulte Priesterin La, die, weil sie Tarzan begehrt, Jane ausschalten will. Als vierter Gegner tritt gelegentlich der Löwe Numa auf, mit dem Tarzan seit jeher um die Vorherrschaft im Dschungel ringt. Ganz zu Beginn der Erzählung trennen sich die Wege von Tarzan und Jane: Er sucht nach den Diamanten von Opal und verliert kurz danach sein Gedächtnis als ihm ein Stein auf den Kopf fällt; sie wird von Achmet Zek entführt.138 Diese zwei Handlungsstränge werden abwechselnd verfolgt. 3.2.2 Vergleich zwischen pulp- und Buchveröffentlichung: The Jewels of Opar Die pulp-Veröffentlichung besteht aus fünf Folgen, in 17 Kapitel unterteilt ‒ mal bilden drei komplette Kapitel eine Folge, mal vier. Eine Folge endet nie in der Mitte, sondern immer am Ende des dritten oder vierten Kapitels. Die Buchveröffentlichung hat mit 24 Kapiteln 7 Kapitel mehr als die pulp-Veröffentlichung. Vor allem zwei Handlungsstränge werden ausführlicher geschildert: Zum einen Tarzans Sehnsucht nach dem Dschungel und der wilden und ursprünglichen Lebensweise.139 Im zweiten Kapitel der pulp-Veröffentlichung vollzieht sich stattdessen sehr schnell die Verwandlung vom adeligen und zivilisierten Lord Greystoke zurück zum ‚Dschungelmenschen‘ Tarzan. Zum anderen erhält in der Buchveröffentlichung die Nebenhandlung über die okkulte Priesterin La mehr Raum.140 Aus der Handlung der pulp-Veröffentlichung verschwindet die Priesterin La hingegen 138 Im Anhang findet sich ein tabellarischer Vergleich der drei Versionen: pulp- und Buchveröffentlichung sowie Kinoserie. Dabei werden die letzten Sätze der beiden literarischen Vorlagen mit der letzten Einstellung bzw. Sequenz der Kinoserie verglichen. Auf dieser Übersicht sind für das pulp auch die zwei Handlungsstränge von Tarzan und Jane mit unterschiedlichen Farben hervorgehoben. Gelegentlich wird statt Janes Handlungsstrang derjenige von Tarzans Widersacher Werper verfolgt, der jedoch sehr häufig mit Janes zusammenfällt. Bei den anderen zwei Veröffentlichungen wurde auf eine Illumination der Handlungsstränge verzichtet, da diese für die Buchveröffentlichung nicht von Interesse ist und die Wechsel der Handlungsstränge in der Kinoserie zu häufig vorkommen, als dass sie übersichtlich dargestellt werden könnten. Siehe: Anhang, Seite 669ff. 139 Siehe: Kapitel 3, 4 und 11 im ersten Teil, Kapitel 2 im zweiten Teil. 140 Siehe: Kapitel 12, 13 und 14 im ersten Teil.

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ziemlich unvermittelt, während dieser Schritt in der Buch-Veröffentlichung motiviert wird: Tarzan rettet ihr das Leben, deshalb schwört sie, ihn ziehen zu lassen.141 Jedes Kapitel der pulp-Veröffentlichung endet mit einem Mini- oder Binnencliff. Ist das Kapitelende gleichzeitig das Ende der Folge, handelt es sich definitorisch um einen Cliffhanger.142 Es ist jedoch kein Unterschied in der Spannungsintensität zwischen den Binnencliffs und Cliffhangern zu beobachten – außer dem gelegentlichen Wechsel zwischen kommissivem und exklamatorischem Kommunikationsakt.143 Einerseits mag es erstaunen, dass es keinen Unterschied in der Spannungsintensität zwischen Binnencliff und Cliffhanger gibt, da der Cliffhanger bedeutender ist, weil er die Folge beendet. Andererseits erzählt Burroughs abwechselnd von den zwei Handlungssträngen und nutzt somit jedes Kapitel und jeden Handlungsstrang für einen unterbrochenen Spannungsmoment. Die Nebenhandlung von Janes Entführung wird beispielsweise in den Kapiteln drei (Folge 1), sechs (Folge 2) und acht (Folge 3) jeweils fortgesetzt. Keines dieser Kapitelenden ist gleichzeitig das Ende einer Folge. Aufgrund der alternierenden Erzählweise ist aber jede dieser Handlungsunterbrechungen ein Binnencliff; jedes Mal erfährt der Leser erst in der nächsten Folge, wie es mit Jane weitergeht. Cliffhanger und Binnencliff potenzieren gemeinsam die Spannung, weil im Grunde zwei separate Erzählungen an den spannendsten Momenten unterbrochen werden. Zwischendurch führt Burroughs die Handlungsstränge kurz zusammen (Kapitel 9); mehrere Male begegnen sich Tarzan und Jane ‒ abgesehen vom Anfang und Abschluss des Makrotextes ‒ beinahe (Kapitel 10). Es gibt nur selten einen unterbrochenen Spannungsmoment am Ende eines Kapitels, dessen Erzählstrang noch in derselben Folge fortgesetzt wird. Diese Minicliffs kommen vor allem in letzten Kapiteln zustande. Dies scheint vor allem strukturell bedingt, da die Handlungsstränge für einen ent-spannenden Abschluss wieder zusammengeführt werden müssen. Der Vergleich ergibt, dass alle Kapitel-Enden der pulp- auch die Kapitel-Enden der Buch-Veröffentlichung sind. Die sieben zusätzlichen Kapitel des Buches, die keine

141 Warum Burroughs diese Teile in der Buchveröffentlichung ausgiebiger behandelt, ließ sich nicht ganz nachvollziehen. Entweder hatte Burroughs von Vornherein die umfangreichere Version geplant, aber die pulp-Veröffentlichung zwang ihn zu drastischen Kürzungen. Oder aber Burroughs erkannte die Unzulänglichkeiten der ersten Veröffentlichung, und die Buch-Publikation ermöglichte ihm, sein Werk noch einmal zu überarbeiten. 142 Als Beleg dient der im Anhang zu findende tabellarische Vergleich, der alle Kapitel- und Folgen-Enden der pulp-Veröffentlichung zitiert. Siehe: Anhang, S. 669ff. 143 Das gilt auch für den Rest der pulp-Veröffentlichung: Es existiert kein spannungstechnischer Unterschied zwischen den Folgen- und den Kapitel-Enden. Siehe: Anhang, S. 669ff.

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Entsprechung in der pulp-Veröffentlichung haben, werden vorwiegend von den beschriebenen Handlungssträngen gefüllt, die so in der Buchveröffentlichung mehr Raum erhalten.144 In beiden Versionen enden die Kapitel häufig mit einer Enthüllung oder einer Gefahrensituation; beide Cliffhanger-Typen werden entweder mit einem kommissiven oder exklamatorischen Kommunikationsakt kombiniert ‒ vorausdeutende Cliffhanger sind nicht vorhanden. Es ist weder von der Spannung noch der Dramatik her ein Unterschied feststellbar zwischen Kapitel- und Folgen-Enden, zwischen Binnen-, Minicliffs und Cliffhangern. Die pulp-Veröffentlichung von Tarzan and the Jewels of Opar ist aufgrund der verschiedenen Erzählstränge, die alle mit einem Spannungsmoment unterbrochen werden, im zweifachen Sinne seriell: Es ist nicht nur eine serielle Veröffentlichung, sondern auch eine werkimmanente serielle Struktur gegeben. Die werkimmanente Serialität wird von der Publikationseinteilung unterstützt, da auf diese Weise Binnencliffs und Cliffhanger entstehen. 3.2.3 Die Kinoserie Tarzan the Tiger 3.2.3.1 Kontext Tarzan ist bereits 1918 die Hauptfigur im 73-minütigen Spielfilm Tarzan of the Apes, der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Edgar Rice Burroughs aus dem Jahre 1912.145 Die erste Tarzan-Kinoserie, The Son of Tarzan (15 Folgen), startet 1920; ein

144 Alle Kapitel-Enden der pulp-Veröffentlichung kommen auch (fast) wortwörtlich als Kapitel-Enden in der Buch-Veröffentlichung vor. Einige kleine Verbesserungen findet man auch in den Übernahmen; so ist hier mal ein Komma berichtigt (bspw. Kapitel 2 pulp, Kapitel 5 Buch-Veröffentlichung), dort mal eine andere Groß- und Kleinschreibung verwendet (bspw. Kapitel 3 pulp, Kapitel 6 Buch-Veröffentlichung). Ohne Entsprechung sind die Kapitel 2,3,4,7,11,12 und 13 der Buch-Veröffentlichung. 145 Tarzan ist Figur zahlreicher Kinoserien (Tarzan the Fearless 1932, The New Adventures of Tarzan 1935), ist aber auch häufig der Hauptcharakter in Feature-Filmen. „Between 1918 and 1970 a total of forty-one Tarzan films were made. Two of these were made-forTV films, and eight were silent, leaving thirty-one commercially produced sound Tarzan features between 1932 and 1968.“ Cheatwood: „The Tarzan Films“. In: Journal of Popular Culture, 16 (2), 1982, S. 127. (Siehe auch: Cline: In the Nick of Time, 1984, S. 10.) Tarzan ist ein aussagekräftiges Beispiel für die transmediale Verwendung eines Charakters. Ursprünglich von Edgar Rice Burroughs in pulp-Magazinen veröffentlicht, wurde er zum Kinohelden. 1929 wurden die Geschichten als seriell erscheinendes Comic von Hal Foster adaptiert. „By 1931, ‚Tarzan‘ was already a household word. The trademarked character had migrated from his pulp-magazine beginnings to comic strips, games, an illfated Broadway play, radio dramas, and bread and gasoline ads.“ Earnhart: „A Colony of Imagination“. In: Quarterly Review of Film and Video, 2007 (24), S. 341. Cline sieht in der Tarzan-Figur den ersten Superhelden. Vgl. Cline: In the Nick of Time, 1984, S. 15.

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Jahr später folgt The Adventures of Tarzan, von der viele Folgen verloren sind146 ‒ alle erhaltenen Teile zumindest enden mit einem Cliffhanger. Eine weitere sehr erfolgreiche Fortsetzungs-Kinoserie wird 1928 mit Tarzan the Mighty gedreht. In ihr verkörpert der frühere Stuntman Frank Merrill zum ersten Mal Tarzan:147 Die ursprünglich 12-teilige Kinoserie wird aufgrund des enormen Erfolgs auf 15 Teile verlängert.148 Das Sequel Tarzan the Tiger erscheint von Oktober 1929 bis Februar 1930;149 die Hauptrolle spielt weiterhin Frank Merrill. 1927 ist mit The Jazz Singer der erste abendfüllende Tonfilm aufgeführt worden. In der Kinoserien-Produktion will man den technischen Wandel nicht verpassen und stellt daher für Tarzan the Tiger zwei Versionen her: eine stumme und eine mit Schallplatte.150 Tarzan the Tiger ist somit der erste Film mit hörbarem Tarzan-Schrei – von einem ‚echten‘ Tonfilm kann aber nicht die Rede sein, da diese Kinoserie noch vollkommen ohne Dialog ist.151 Vor allem die Synchronität zwischen Schallplatte und Filmprojektion stellt eine große Herausforderung für den damaligen Vorführer dar.152 Die Ton-Aufnahme versucht 146 Vgl. Stedman: The Serials, 1981, S. 56–57. 147 Merrill war körperlich wie geschaffen für die Rolle: „Before films, Merrill had been a gymnast and had won fifty-eight National, Southern California and Los Angeles metropolitan championships on Roman ring, high bars and for rope climbing. He was national gymnastic champ from 1916 to 1918.“ Essoe: Tarzan of the Movies, 1973, S. 60–61. 148 Vgl. ebd., S. 60. 149 Vgl. ebd., S. 62. 150 Vgl. Stedman: The Serials, 1981, S. 58. 151 Tarzan the Tiger ist ein interessantes Übergangsprodukt vom Stumm- zum Tonfilm ‒ auch in Bezug auf den Hauptdarsteller Frank Merrill. Trotz des großen Erfolgs von Merrils Tarzan-Darstellung im Stummfilm Tarzan the Mighty (1928) werden Merrills stimmliche Qualitäten als nicht ausreichend bezeichnet, um den Tarzan auch im Tonfilm zu spielen. Die nach Tarzan the Tiger ursprünglich geplante Fortsetzung Tarzan the Terrible mit Merrill in der Hauptrolle wird nicht mehr verwirklicht. (Vgl. Essoe: Tarzan of the Movies, 1973, S. 62‒63.) Der Übergang zum Tonfilm bedeutet für Merrill das Ende seiner Karriere (ähnlich der exemplarischen Geschichte, die im Film The Artist (F/Belgien 2011) erzählt wird). Auf Merrills Interpretation folgt Johnny Weissmüllers in Tarzan the Ape Man (USA 1932) und den zahlreichen weiteren Tarzan-Filmen, die Weissmüller zum berühmtesten Tarzan-Darsteller werden lassen. Vgl. auch: Lorenz: Alles über Tarzan, 1982, S. 44. 152 Auch hier ist, wie im Einleitungskapitel beschrieben, die damalige Vorführpraxis schwer zu rekonstruieren. Ich beziehe mich bei meinen Analysen auf die bisher einzige erhaltene Tonbandaufnahme. Sie wurde bereits mit den Filmaufnahmen synchron digitalisiert. (Siehe: Schneider: Edgar Rice Burroughs and the Silver Screen, 2005, S. 315–350.) Da die Rechte an der Kinoserie inzwischen verfallen sind, gehört sie zum Public Domain.

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die Aufführungspraxis dadurch zu erleichtern, dass die Musik den ganzen Film ohne Pause begleitet. Der Musikscore hebt auch keinerlei Momente der Filmhandlung hervor: Es gibt keine deutlichen Crescendi und Diminuendi, keine übermäßigen Accelerandi oder Ritardandi. Der Soundtrack dient als Hintergrundmusik, nicht zur Akzentuierung bestimmter Sequenzen und Einstellungen. Somit müssen die meisten Bildeinstellungen nicht übereinstimmen mit bestimmten Musikphasen. Ausnahmen bilden wenige Stellen, mit speziellen Soundeffekten und dem ersten Tarzan-Schrei.153 3.2.3.2 Deskription In einer actiongeladenen Sequenz [TC 14:29–18:04] der ersten Folge nehmen Tarzan und der Löwe Numa die Fährten voneinander auf, um herauszufinden, wer der wahre König des Dschungels ist. Parallelmontiert – eingeführt mit dem Zwischentitel: „While at Greystoke – –“ [TC 16:02] – ist ein Subsequenz [TC 16:06–17:31], in der das Anwesen der Greystokes angegriffen wird. Nach dem geglückten Angriff entführt der Sklavenhändler und Nomadenanführer Achmet Zek [Abb. TT1] Jane [Abb. TT2]. Zurück auf der ersten Handlungsebene treffen der Löwe und Tarzan aufeinander und kämpfen [Abb. TT4], während der heimtückische Bösewicht Albert Werber [Abb. TT5] zusieht, ohne einzugreifen. Abbildungen TT1‒TT6: Jane im Binnencliff, Tarzan im Cliffhanger

Abb. TT1, TC 17:05

Abb. TT2, TC 17:29

Abb. TT3, TC 17:35

Abb. TT4, TC 17:40

Abb. TT5, TC 17:53

Abb. TT6, TC 17:58

Das gemeinnützige Internet-Archiv https://archive.org/details/PublicDomainTarzantheTiger [vom 24.11.2013] stellt die Serie zur Verfügung. 153 Bspw. der Tarzanschrei in Folge 2, TC 03:10, der direkt nach dem recap stattfindet und somit für den Film-Vorführer auch leicht zu ‚treffen‘ ist.

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Den Anfang der zweiten Folge bildet ein recap. Mithilfe zahlreicher Zwischentitel wird die Situation erläutert; auf der bildlichen Darstellungsebene werden einige Einstellungen der ersten Episode wiederholt. Nochmals werden einige Sekunden der Entführung gezeigt sowie eine Erweiterung der Subsequenz aus Folge eins: Die Entführer tragen Jane aus dem Haus der Greystokes, binden sie über ein Pferd und reiten mit ihr davon. In der dritten Minute wird der zweite Cliffhanger aufgelöst: Tarzan hat über den Löwen Numa gesiegt, ersticht ihn, stellt einen Fuß auf dessen Kadaver und stößt den Tarzanschrei aus, der mittels Schallplatte hörbar ist. Abbildungen TT7‒15: Die Schrift im recap als wichtiger Informationsgeber

Abb. TT7, TC 00:53

Abb. TT8, TC 01:01

Abb. TT9, TC 01:05

Abb. TT10, TC 01:10

Abb. TT11, TC 01:25

Abb. TT12, TC 01:28

Abb. TT13, TC 01:48

Abb. TT14, TC 01:52

Abb. TT15, TC 02:26

3.2.3.3 Analyse und Fazit Das recap macht ersichtlich, wie dem neuen und dem wiederkehrenden Zuschauer der Einstieg beziehungsweise Wiedereinstieg in die Geschichte ermöglicht wird: Wichtige Handlungsteile werden mithilfe der Zwischentitel wiedergegeben, bildlich wird aber nur das unmittelbar Vorherige wiederholt. Die Schrift ist ein sehr dominanter Teil des recap. Sowohl der Binnencliff der Entführung als auch der Cliffhanger werden direkt am Interruptionspunkt fortgesetzt‒ die Spannweiten hingegen va-

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riieren. Während der Cliffhanger auf der Handlungsebene von Tarzan und Numa direkt aufgelöst wird und damit dem Zuschauer Erzählbefriedigung verschafft, erstreckt sich der Binnencliff von Janes Entführung über weitere Folgen. Ausnahmslos jede Folge endet damit, dass Tarzan in Gefahr ist – aber zusätzlich ist häufig in einer parallel montierten Subsequenz eine andere Figur in Gefahr, meist Jane. In Folge zwei stürzt aufgrund eines Sandsturms ein Tempel über Tarzan ein. Auf der zweiten Handlungsebene muss sich Jane entscheiden, ob sie den Sklavenhändler heiratet oder verkauft wird, während auf der dritten Albert Werper kurz davor ist, von Eingeborenen den Göttern geopfert zu werden. In der letzten Einstellung von Folge drei beugt sich Albert Werper mit einem Dolch über den besinnungslosen Tarzan und erhebt diesen, um ihn zu erstechen, während in einer Parallelmontage die entflohene Jane von einem Affen entführt wird, der Rache an Tarzan nehmen will. Einige der gefahrensituativen Cliffhanger werden auf der auditiven Ebene betont. Am Ende von Episode 4 sind Tarzan und Jane auf derselben Handlungsebene, weshalb es nur einen Cliffhanger und nicht auf einer zweiten Handlungsebene noch einen Binnencliff gibt: Tarzan ist an einen Baum gefesselt [Abb. TT16], umzingelt von Eingeborenen. Einer von ihnen droht Tarzan und wirft dann seinen Speer auf ihn [Abb. TT17‒19]; die anwesende, von der Priesterin La gefangen gehaltene Jane, stößt einen auf der auditiven Ebene hörbaren Schrei aus und fällt in Ohnmacht [Abb. TT20]. Der gefahrensituative Cliffhanger wird mit dem Schrei unterstrichen und auf den Höhepunkt gebracht ‒ der Zuschauer bekommt nicht mehr zu sehen, ob der Speer Tarzan tatsächlich trifft. Die wenigen, mit Schallplatte nur sehr mühsam zum Bild synchron laufenden Geräusche und Laute heben die wichtigsten Momente hervor ‒ sowohl den Tarzan-Schrei bei der zitierten Auflösung des ersten Cliffhangers als auch die Cliffhanger selbst. Abbildungen TT16‒21: Hervorhebung des Cliffhangermoments durch Laute

Abb. TT16, E4, TC 09:44

Abb. TT17, TC 10:04

Abb. TT18, TC 10:08

Abb. TT19, TC 10:11

Abb. TT20, TC 01:13

Abb. TT21, TC 10:15

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3.2.4 Vergleich zwischen Kinoserie und den literarischen Veröffentlichungen Wie bereits aus der Analyse von Tarzan the Tiger ersichtlich, handelt es sich bei der Kinoserie um eine Cliffhanger-Serie: Immer befindet sich mindestens eine Hauptperson in Gefahr, wenn die Erzählung unterbrochen wird, häufig sind es sogar mehrere. Jede Folge endet mit einem gefahrensituativen statt des häufigen enthüllenden Binnen- oder Minicliffs beziehungsweise Cliffhangers der pulp- beziehungsweise Buchveröffentlichung. Wenn die Kinoserie sich inhaltlich zumindest in den ersten Kapiteln an die literarischen Vorlagen hält, wo finden dann die Momente der gefahrensituativen Cliffhanger in den Vorlagen statt? Die Kinoserie orientiert sich inhaltlich insgesamt mehr an der Buch- als der pulp-Veröffentlichung:154 Sind die Cliffhanger der Kinoserie ebenfalls mehr der Buch-Version entnommen? Die bereits beschriebene erste Folge der Kinoserie heißt Call of the Jungle und endet mitten im Kampf zwischen dem Löwen Numa und Tarzan.155 Auch Kapitel drei der Buchveröffentlichung hat den ähnlichen Titel The Call of the Jungle. Der Kampf ist aber am Kapitel-Ende entschieden, Tarzan in Sicherheit. Diese Stelle wird in der Kinoserie genau an den Schluss der Folge gelegt: Der Inhalt wird kaum verändert, aber zurechtgerückt, um der dramaturgischen Phasenverschiebung, der Schwebeform156 und damit der Struktur der Cliffhanger-Kinoserie zu entsprechen. Aufschlussreich für die Änderungen an den Cliffhangern der Vorlage für die Kinoserien-Adaption ist auch eine Analyse der zweiten Kinoserien-Folge im Vergleich mit pulp- und Buch-Publikation. In der pulp-Veröffentlichung bekommt Tarzan in 154 Im Buch muss Tarzan nach seiner Rückkehr in den Dschungel erneut um seine Herrschaft mit dem Löwen Numa kämpfen. Beide Elemente sind auch Bestandteile der ersten Kinoserien-Folge. Ebenso wird der Handlungsstrang der Kapitel 12 bis 14 des Buches, die Priesterin La betreffend, in der Kinoserie ähnlich ausgiebig ‒ wenn auch leicht verändert ‒ thematisiert. Selbst die Überschriften einiger Buch-Kapitel gleichen den Titeln einiger Folgen der Kinoserie. Nach den ersten fünf Folgen der Kinoserie führen die restlichen zehn die Geschichte jedoch in eine andere Richtung: Sie haben keine Gemeinsamkeiten mit ihren literarischen Vorlagen, abgesehen von der weiteren Suche nach den Juwelen von Opar, Tarzans Gedächtnisverlust sowie Werper als Hauptbösewicht. In der 12. Folge der Kinoserie wird sogar ein neuer Antagonist eingeführt, Philip Annersley, ein Cousin Tarzans, der das Erbe der Greystokes allein haben will und deshalb darauf bedacht ist, mit Werper zusammenzuarbeiten, um Tarzan und Jane zu töten. (Die Figur von Philip Annersley taucht in keiner von Burroughs Tarzan-Geschichten auf, auch nicht in den Tarzan-Comics. Vielleicht wollten die Drehbuchschreiber durch die Einführung dieser Figur einen inhaltlichen Bezug zum Greystoke-Adelssitz in England herstellen, auf dem das Prequel Tarzan the Mighty endet.) 155 Siehe auch Seite 337. 156 Siehe Kapitel: II. 2.5.3, „Die Position des Cliffhangers im Ganzen“, S. 73.

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der Mitte des zweiten Kapitels (1. Folge) aufgrund des Simoom-Sturms einen Stein auf den Kopf und verliert das Bewusstsein; Werper fällt am Ende des Kapitels in die Hände von La und ist kurz davor, von ihr den Göttern geopfert zu werden. Für die Buchveröffentlichung verlegt Burroughs erstaunlicherweise die Dramatik sogar an das Kapitelende: An der Stelle von Tarzans Bewusstseinsverlust schließt das Kapitel; der zweite Spannungsmoment, Werpers Beinahe-Opferung, wird bis an das Ende des nächsten Kapitels verzögert. In der Kinoserie werden diese Ereignisse, die in erzählter Zeit und Erzählzeit der Vorlagen getrennten ablaufen, zu einem parallel montierten Cliffhanger einer Folge kombiniert, und die Reihenfolge der Ereignisse wird minimal umgestellt. Während in der pulp- und der Buch-Veröffentlichung Tarzan das Bewusstsein verliert und dann die Opferung durch La droht, soll in der Kinoserie Werper geopfert werden; parallel montiert erfasst ein Sturm den Tempel, in dem Tarzan sich befindet; die Folge endet damit, dass Tarzan ein Stein auf den Kopf fällt. Die Intensität des Cliffhangers wird gesteigert ‒ sowohl durch die Kombination, dass zwei Protagonisten in Gefahr sind, als auch dadurch, dass die Folge mit Tarzans Bewusstseinsverlust endet. Die Hauptperson erhält mittels des Cliffhangers die Priorität. Selbst wenn sich die unterbrochenen Spannungsmomente der Buchveröffentlichung gelegentlich an ähnlichen Stellen wie in der Kinoserie befinden, wird der Cliffhanger in der Kinoserie immer durch parallel montierte Gefahrensituationen gesteigert. 3.2.5 Fazit Alle Kapitel der pulp- und Buchveröffentlichung haben Mini- bzw. Binnencliffs, alle Folgen der pulp-Veröffentlichung haben Cliffhanger. Es finden sich ausschließlich enthüllende oder gefahrensituative Erzähltypen, die mit kommissiven oder exklamatorischen Kommunikationsakten kombiniert werden. Die Folgen der pulp-Veröffentlichung haben nicht, wie zu erwarten wäre, spannungsreichere Momente als die Kapitel-Enden. Die verschiedenen Erzählstränge werden aber so montiert, dass die Folgen des pulp überwiegend sowohl Cliffhanger als auch Binnencliffs verwenden und der Rezipient auf diese Weise mehrfach in Spannung und Erwartung gehalten wird. Viele der Cliffhanger der Kinoserie sind den literarischen Vorlagen entnommen. Jedoch hat die Kinoserie statt des enthüllenden Cliffhanger-Typs ausschließlich den gefahrensituativen. Auch dieser wird häufig aus der Vorlage übernommen. Aber die Reihenfolge, Position oder Parallelisierung der Ereignisse wird dahingehend verändert, dass die Gefahrensituationen der Vorlagen, die sich nicht am Ende einer Erzähleinheit befinden, bei der Kinoserie an das Ende einer Folge verlegt sind. Häufig erfolgt eine Intensivierung des Cliffhangers der Kinoserie durch eine Parallelmontage: Zwei in der Buchvorlage als Minicliff vorhandene Enden werden in der Kinoserie zu einem Binnencliff und Cliffhanger kombiniert. Im Film wird die Möglichkeit

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genutzt, durch Parallelmontage gefährliche Ereignisse gleichzeitig erscheinen zu lassen und so die Spannung gegen Folgen-Ende zu steigern.157 3.3 Resümee Spätestens in den 1920er Jahren hat die Cliffhanger-Kinoserie ihre feste Form gefunden ‒ das zeigt bereits die Kinoserie A Woman in Grey. In der Mitte der 1920er Jahre wird die Heldin vom Helden abgelöst, der Schauspieler ist häufig auch Stuntman. Aufgrund der Tatsache, dass die Serien nicht lückenlos überliefert sind, kann nur vermutet werden ‒ dies jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit ‒ dass alle Serien (A Women in Grey, The Flame Fighter und Tarzan the Mighty) am Ende jeder einzelnen Folge einen gefahrensituativen Cliffhanger hatten ‒ wie es auch bei der vollständig erhaltenen Kinoserie Tarzan the Tiger der Fall ist. Der ausschließliche Gebrauch des gefahrensituativen Cliffhangertyps ist damit zu erklären, dass sich die Fortsetzungs-Kinoserie ein Stück weit von ihren Wurzeln im Fortsetzungsroman gelöst hat. Für die Verfasser der Zeitschriften-Romane ging es noch darum, mit dem vorausdeutenden Cliffhanger, der fast immer eine lange Spannbreite besitzt, Leser für ein Abonnement zu interessieren. Das Schüren einer langfristigen Antizipation und eines folgenübergreifenden Interesses war dementsprechend Hauptziel. Die Fortsetzungs-Kinoserie hingegen hat keine Distribution über Abonnements ‒ es geht primär um den Impuls, die unmittelbar nächste Folge zu rezipieren. Der gefahrensituative Cliffhanger stellt für die ‚stumme‘ Kinoserie die beste Möglichkeit dar, dies zu begünstigen: Die Handlung kann allein über die Action gezeigt werden, ohne zu viele Zwischentitel. Auch für die pulp-Magazine geht es ‒ anders 157 Die pulp-Vorlage ähnelt der Kinoserie auch in den extradiegetischen Elementen serieller Narration. Die Kinoserien-Folgen beginnen mit einem recap, das vornehmlich in Zwischentiteln erzählt wird. Wiederholt werden auf der visuell-handlungsdarstellenden Ebene vor allem einige Einstellungen des Cliffhangers. Am Ende jeder Folge findet sich der Fortsetzungshinweis: „See…, chapter …of TARZAN THE TIGER serial, to be shown at this theatre next week.“ (Bspw.: Tarzan the Tiger. Folge 1, USA 1929, TC 18:15.) Alle pulp-Folgen beginnen ebenfalls mit einem recap und sogar dem ähnlich formulierten Hinweis: „Synopsis of Preceding Chapters“. (Bspw.: Tarzan the Tiger. Folge 2, USA 1929, TC 02:20.) In ihm werden die wichtigsten Handlungsentwicklungen wiedergegeben; es wird sogar annähernd wie bei der Kinoserie der letzte Cliffhanger paraphrasiert. Vergleichbar enden auch die Folgen der pulp-Veröffentlichung mit dem Fortsetzungshinweis. Immer ist zu lesen: „TO BE CONTINUED NEXT WEEK [Herv.i.O.]. Don’t forget this magazine is issued weekly, and that you will get the continuation of this story without waiting a month.“ In diesem Fall sind die Bestandteile recap, Wiederholung des letzten Cliffhangers vor der Aufhebung und Fortsetzungshinweis Elemente serieller Fortsetzungsnarration, die transmedial vergleichbar eingesetzt werden.

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als bei den Frauen-Zeitschriften ‒ darum, die nächste Ausgabe zu verkaufen. „Pulps seldom had extensive subscription lists. They mainly sold off the newsstand. This meant they competed with dozens of other titles and required covers that grabbed the potential buyerʼs attention at a glance.“158 Zusätzlich zum gefahrensituativen ist auch der enthüllende Cliffhanger für die pulp-Veröffentlichung geeignet, weil die Enthüllung im Gegensatz zur ‚stummen‘ Kinoserie über Worte stattfinden kann. Generell ist eine rein bildliche Enthüllung schwieriger zu inszenieren als eine Gefahrensituation. Der Ende der 1920er Jahre neu zur Kinoserie hinzukommende Ton wird von Anfang an zu unterstützenden Wirkung des Cliffhangers eingesetzt. Für einen Enthüllungs-Dialog als Cliffhanger ist die parallel laufende Schallplatte aufgrund fehlender Synchronität zum Bild aber völlig ungeeignet, was erneut das Vorherrschen des gefahrensituativen Cliffhangers erklärt. Die pulp-Veröffentlichung beziehungsweise das Buch wird als ‚Erzählstoff-Lieferant‘ und Möglichkeit für Cross-Media-Marketing genutzt. Aufgrund des Beispiels von The Jewels of Opar ist anzunehmen, dass die auf Spannung, Gefahr und Sensation ausgelegten Abenteuer-Romane ‒ egal ob als pulp- oder als Buchveröffentlichung ‒ einen dramaturgischen Aufbau liefern, der sich leicht auf die Kinoserie übertragen lässt. Die unterbrochenen Spannungsmomente der Vorlagen werden in Parallelmontagen kombiniert und damit in ihrer Wirkung gesteigert und dem anderen technischen Medium angepasst.159

4. D IE 1930 ER J AHRE 4.1 Kontext In den 1930er Jahren setzt sich der Tonfilm immer mehr durch. Die drei größten Studios für Kinoserien, Universal, Republic und Pathé, vermuten nach einigen wenig erfolgreichen stummen Kinoserien Ende der 1920er Jahre, dass der Ton endgültig den Niedergang der Kinoserien bedeutet.160 1929 hört die französische Filmproduk-

158 Robinson u. a.: Pulp Culture, 1998, S. 10. 159 Über eine Betrachtung des Cliffhangers hinaus kann festgehalten werden: Die extradiegetischen Elemente des Fortsetzungs-pulp haben zahlreiche Entsprechungen in der Fortsetzungs-Kinoserie. Wie anhand des Beispiels ersichtlich, sind die Bestandteile recap, Wiederholung des letzten Cliffhangers vor der Aufhebung und Fortsetzungshinweis Elemente serieller Fortsetzungsnarration, die transmedial sehr ähnlich eingesetzt werden. 160 Stedman: The Serials, 1981, S. 59.

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tionsgesellschaft Pathé auf, Kinoserien herzustellen ‒ zuvor war sie eine der wichtigsten und aktivsten Filmunternehmen für dieses Format.161 Die Herkunft der Kinoserie als Brücke vom Kurz- zum Feature-Film, vom Nickelodeon zum Filmtheater legt die Annahme nahe, die Kinoserie habe sich überlebt. Dem widerspricht vor allem die 12teilige Kinoserie The Indians Are Coming (USA 1930), die als Stumm- und Tonfilm gedreht wird.162 „But when the talking edition played [in] major film palaces throughout the country, it pushed aside the myth that the serial was doomed by sound.“163 Vom Genre werden vor allem Western, aber auch zum Ende des Jahrzehnts Science Fiction bedient. Comic- und Hörspiel-Serien werden zu neuen ‚Erzählstoff-Lieferanten‘. Beide Erzählformen bieten zwei Vorteile: Zum einen sind sie zu jener Zeit sehr populär und geeignet zum Cross-Media-Marketing. Zum anderen bietet sich auch narrativ eine Übersetzung in ein anderes technisches Medium an, in dem aber die seriell-fortgesetzte Veröffentlichungsform erhalten bleibt: Die Geschichten sind seriell erprobt; dem Rezipienten sind die Figuren bereits als seriell in Erscheinung tretend vertraut. Längst hat die „Rückkopplung zwischen Diegese und Alltag“164 stattgefunden, die Rezipienten haben die Figuren bereits als wiederkehrenden Teil ihres Lebens akzeptiert. Die Geschichten sind bereits auf eine seriell-fortgesetzte Veröffentlichung zugeschnitten ‒ und ihr Erfolg hat bewiesen, dass sie seriell funktionieren. Wie sehr bereits Mitte der 1930er Jahre in die Kinoserien die technischen und inszenatorischen Weiterentwicklungen des Films Einzug gehalten haben, demonstriert bereits die erste Science-Fiction-Kinoserie, die sehr erfolgreiche Flash Gordon-Serie.165 4.2

Flash Gordon

4.2.1 Kontext Flash Gordon (1936) beruht auf den Comics von Alex Raymond, die in den Beilagen der vom King Features Syndicate produzierten Zeitungen 1929 erscheinen. Die Figur

161 Pathé wurde in den 1910-1920er Jahren „The House of Serials“ genannt. (Vgl. Hagedorn: „Doubtless to be Continued“. In: Allen (Hg.): To Be Continued ., 1995, S. 44–45). 162 Vgl. Eyman: The Speed of Sound, 1997, S. 285. 163 Stedman: The Serials, 1981, S. 59. 164 Kelleter: „Populäre Serialität“. In: Ders. (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion, 2012, S. 24. Siehe Kapitel: II. 2.6 „Mit der Erzählung leben“, S. 81. 165 Vgl. Kohl: „Flash Gordon Conquers the Great Depression and World War Too!“. In: Hogan (Hg.): Science Fiction America, 2006, S. 40. Flash Gordon ist ‒ nur abgesehen von einem wilden Western-, Unterwasser-, Musical- und Science-Fiction Genremix Phantom Empire (USA 1935) ‒ die erste Science-Fiction-Kinoserie der Filmgeschichte.

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des Flash Gordon hat sich ebenso ins kulturelle US-amerikanische Gedächtnis eingeprägt wie Tarzan.166 Sieben Jahre nach Tarzan the Tiger zeigt sich anhand von Flash Gordon, welche großen technischen und inszenatorischen Entwicklungen auch in der Kinoserie stattgefunden haben. Umfangreich orchestrierter und pompöser Soundtrack begleitet bereits den Vorspann, in dem die Schauspieler und ihre Rollen eingeführt werden. Der Schnitt zur nächsten Bildeinstellung, in der eine weitere Figur vorgestellt wird, findet mittels Flash Gordons Symbol, dem stilisierten Blitz, statt. Auf diese Weise wird effizient und einprägsam, ohne viele Zwischentitel zur nächsten Einstellung gewechselt [TC 00:45]. Die Bildfolge ist sehr flüssig und homogen, die Montage wesentlich ausgefeilter und moderner. Auch die auditive Ebene ist nicht vergleichbar mit der Schallplatten-Aufnahme von Tarzan the Tiger: Ständiger Donner, heulender Wind und ein Held, der fortwährend lässige Sprüche von sich gibt. Special-Effects, Kostüme und Stunts sind wesentlich aufwendiger geworden.167 4.2.2 Deskription Ein Planet rast auf die Erde zu. In Begleitung eines Wissenschaftlers reist Flash Gordon mit der Zufallsbekanntschaft Dale Arden in einem Raketen-Schiff zu dem bedrohlichen Planeten. Dort herrscht der Tyrann Ming. Er lässt Flash festnehmen und in eine Kampfarena bringen. Da aber Gordon die auf ihn gehetzten Ungeheuer alle besiegt, befiehlt Ming, Flash in eine Grube zu werfen, in der ein furchtbares Monster haust. Mings Tochter jedoch hat sich beim ersten Anblick in Flash verliebt und eilt ihm zur Hilfe. Sie erschießt den Soldaten, der den Hebel zur Grube betätigen soll [Abb. FG1‒2]. Der Soldat sackt aber so zusammen, dass er dabei den Hebel der Falltür ‒ untermalt vom Crescendo des Orchesters und hervorgehoben durch eine Detailaufnahme ‒ nach unten schiebt [Abb. FG3‒5]. Während das Crescendo des Orchesters im Aufschrei der hilflos zusehenden Dale Arden mündet [Abb. FG6], sieht man als letzte Einstellung, wie Mings Tochter und Gordon in das schwarze Loch der 166 In der Sonntagsbeilage erscheint der Comic (mit einem anderen Handlungsstrang als in den täglichen Ausgaben) ab dem 7. Januar 1934. Vgl. Stedman: The Serials, 1981, S. 100. Für die Bedeutung der Flash-Gordon-Kinoserien siehe: Kohl: „Flash Gordon Conquers the Great Depression and World War Too!“. In: Hogan (Hg.): Science Fiction America, 2006, S. 40–56. Besonders die Verfilmung mit Max von Sydow, Ornella Muti und Timothy Dalton und dem Soundtrack der britischen Rockband Queen ist nach wie vor ein Kultklassiker (Flash Gordon USA/UK 1980). Außerdem lief bereits 1953 eine Flash Gordon-Fernsehserie. 2007 war der letzte Versuch, die Figur mittels einer Fernsehserie wiederzubeleben (Flash Gordon, USA/Kann 2007–2008). 167 „The budget of Flash Gordon reportedly was $350.000, a figure unheard of for a cliffhanger. Phantom Empire, for example, cost no more than $100.000, and few serials of the 1930s exceeded $150.000 in outlay.“ Stedman: The Serials, 1981, S. 100.

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Monstergrube stürzen [FG7‒8]. Auf diesem schwarzen Hintergrund erscheint der Fortsetzungshinweis auf die nächste Folge [Abb. FG9]. Abbildungen FG1‒9: Aufwendige Montage und akustische Unterstützung

Abb. FG1, TC 20:16

Abb. FG2, TC 20:17

Abb. FG3, TC 20:22

Abb. FG4, TC 20:23

Abb. FG5, TC 20:24

Abb. FG6, TC 20:25

Abb. FG7, TC 20:26

Abb. FG8, TC 20:28

Abb. FG9, TC 20:29

4.2.3 Kategorisierung und Analyse Die technischen Weiterentwicklungen machen bei Flash Gordon ein ausgefeiltes Zusammenspiel von Bild und Ton möglich. Mit dem Crescendo verstärkt der Soundtrack den schockierenden Effekt des Bildes: Der Hebel für die Fallgrube wird, obwohl Mings Tochter Gordon beisteht, noch betätigt. Dale Ardens Aufschrei unterstützt die Wirkung auf den Zuschauer. Zudem folgt unmittelbar die schockierende Einstellung vom Sturz der beiden Hauptcharaktere ins schwarze Nichts. Das recap verläuft ähnlich wie in den Stummfilm-Kinoserien mittels langem Zwischentitel (bis TC 1:35). Daraufhin wird nochmals fast eine ganze Minute der letzten Folge inklusive des Cliffhangers wiederholt, dann unmittelbar am Interruptionspunkt fortgesetzt. Trotz großer technischer und inszenatorischer Weiterentwicklungen zeigt sich gerade beim recap, dass Flash Gordon noch in eine Phase gehört,

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in der sowohl auf Inszenierungsbausteine des Stummfilms als auch auf Informationswiedergabe mittels Ton gesetzt wird. Dabei werden die Vorteile aller drei systemischen Medien genutzt. Für das recap werden zunächst Zwischentitel benutzt; die Schrift kann die wichtigen Inhalte kürzer zusammenfassen als Bildeinstellungen. Die anschließenden Einstellungswiederholungen des Cliffhangers eignen sich hingegen besser dazu, den Rezipienten direkt in die fortgesetzte Handlung einzuweben. Dabei werden die letzten Informationen und der Spannungsmoment wesentlich von der Tonspur unterstützt. Die Titel der Folgen sind wirksamer als bei Tarzan the Tiger. Unmittelbar nach dem Cliffhanger wird stets der Titel der nächsten Episoden als Hinweis eingeblendet. Er macht darauf aufmerksam, dass die Erzählung fortgesetzt wird, lässt aber auch die Gefahren ahnen, die in der Fortsetzung auf den Helden lauern. Beispielsweise erscheint der Titel der nächsten Folge „The Tunnel of Terror“, nachdem Flash mit Mings Tochter in die Fallgruppe gestürzt ist: Im Dunkel der Fallgrube, so wird dem Rezipienten bereits bewusst gemacht, wartet der „Tunnel of Terror“. Selbst wenn der Kinoserien gewohnte Rezipient inzwischen vermutet, dass der Held sich immer von der bildlichen Klippe hochziehen kann, so erscheinen bereits am Horizont die nächsten Klippen. Stets unterstützt der Titel der nächsten Folge den Cliffhanger ‒ sowohl durch seine Funktion als spannungsreich formulierter teaser als auch durch seine ankündigende Position am Folgen-Ende. Flash Gordon zeigt, welche großen Schritte die Kinoserie seit Tarzan the Tiger gemacht hat ‒ sowohl inszenatorisch als auch technisch. Die Schrift wird ebenso als systemisches Medium des Hybridmediums Film genutzt wie der neu hinzugekommene Ton. 4.3

Comic und Kinoserie ‒ ein Vergleich am Beispiel von Dick Tracy

4.3.1 Exkurs: Das Comic Dick Tracy Eine weitere aus den Zeitungscomics stammende Figur ist der Polizeiinspektor Dick Tracy. Chester Gould erschafft die Figur in der farbigen Sonntags-Comic-Beilage des Detroit Mirror, in der sie ab dem 4. Oktober 1931 erscheint. Ab dem 12. November 1931 wird täglich auch ein schwarz-weiß Comicstrip im Detroit Mirror publiziert.168 Der Sonntagsstrip besteht aus drei Panelsequenzen169 à vier Panels und beinhaltet zunächst bis zum 29. Mai 1932 episodisch abgeschlossene Fälle des Polizisten.

168 Vgl. Kinnard: Science Fiction Serials, 2008, S. 51. 169 Vgl. Hein: „Zwischen Panel und Strip“. In: Ders. u. a. (Hg.): Ästhetik des Comic, 2002, S. 52. McCloud umschreibt Panelsequenzen vornehmlich als „sequence of panels“ McCloud: Understanding Comics, 1994, S. 73.

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Der tägliche Comicstrip besteht lediglich aus einer einzigen Panelsequenz à vier Panels, ist also wesentlich kürzer als der Sonntags-Strip und erzählt fortgesetzt. Selbst als die Sonntags-Strips ebenfalls eine fortlaufende Handlung haben, bleiben die Geschichte des Sonntagsstrips und die der täglichen Publikation inhaltlich voneinander getrennt, da die Leser der Tages- und der Sonntagszeitung nicht dieselben sind. In den zwei ersten täglichen Comicstrips ist in der rechten unteren Ecke „continued“ zu lesen. In den darauffolgenden wird dieser Hinweis weggelassen. Bereits der erste Strip verdeutlicht sowohl die Quelle der Inspiration als auch die erhoffte Wirkungsweise der Comics. Dick Tracy besucht die Truehearts. Mutter Trueheart liest gerade Zeitung. Im letzten Panel sagt sie: „Oh, and am I glad you’ve come! It’ll get me away from this paper and these tales about gangsters. I can’t bear to read them and I can’t leave them alone.“170 Gould weist damit auf die Inspiration für seine Geschichten aus den damaligen Zeitungsartikeln hin:171 „Also in the air, in Chester Gouldʼs Chicago, was Al Capone...and Eliot Ness. Capone and other ‚beer barons‘ (Gould’s term for them) were thumbing their nose at Prohibition era law enforcement, most of whom were on the take anyway. Gould told me it was the newspaper coverage of Ness and a handful of other honest ‚feds‘ who were bringing Capone down that caught his attention. Honest G-men like Ness were a kind of American Sherlock Holmes; and Capone was an immigrant Moriarty.“172

Offensichtlich erhofft sich Gould genau den Effekt seiner Comic-Geschichten über Gangster, den Mrs. Trueheart empfindet: „I can’t bear to read them and I can’t leave them alone.“ Die Faszination durch das Verbrechen und das gleichzeitige Zurückschrecken vor der Lektüre äußern sich ebenso in Inhalt und Darstellung der Dick Tracy-Comics. Obwohl es sich um Comics handelt und vornehmlich übertrieben bösartige Bösewichter auftreten, führt Gould mit der Sprache, der Darstellung von Gewalt und den 170 Dick Tracy, 12. Oktober 1931. In: Adams (Hg.): The Complete Chester Gouldʼs Dick Tracy, 2006. 171 „In October 1931, a comic strip was born which chronicled the popular culture of the day, and which focused its content on the then socially prescribed ‚War on Crime.‘ Its storylines, protagonists, and antagonists were intentional exaggerations of actual historic events and people.“ Roberts.: Dick Tracy and American Culture, 2003, S. 1. Dass die damaligen Zeitungen, besonders die allgegenwärtigen Nachrichtenmeldungen um Al Capone, Gould zu den Dick Tracy-Comics inspirierten, wird auch aus den Interviews mit ihm deutlich. Vgl. Gould u. a.: „Chester Gould Speaks“. In: Adams (Hg.): The Complete Chester Gouldʼs Dick Tracy, 2006, S. 9–18. 172 Collins: „Dick Tracy Begins“. In: Adams (Hg.): The Complete Chester Gouldʼs Dick Tracy, 2006, S. 7.

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polizeilichen Ermittlungsmethoden einen neuen Realismus in die Zeitungscomics ein.173 Bereits in dem ersten Comic, mit dem Gould seine Idee und seinen Zeichenstil den Zeitungsverlegern verkaufen will ‒ damals noch unter dem Titel Plain Clothes Tracy ‒ zeigt sich das hohe Maß an Brutalität: Auf mehrere Panels verteilt, lässt Cleaver ‒ eine Figur, die starke Ähnlichkeiten zu Al Capone aufweist ‒ einen Mann mit einem Bunsenbrenner foltern. Nur Cleavers massiger Körper versperrt die direkte Sicht auf die Folter. Als es dann tatsächlich zur Veröffentlichung von Goulds Serie unter dem Titel Dick Tracy im Detroit Mirror kommt, ist der hohe Gewaltanteil erhalten geblieben: Bereits im fünften Strip (16. Oktober 1931) wird Vater Trueheart erschossen, Dick Tracy wurde bis dahin mehrfach geschlagen, seine Verlobte Tess Trueheart wird entführt. Auch die Dialoge sind unter Verwendung von Umgangssprache und zahlreichen Schimpfwörtern realistisch gehalten. Obwohl nur selten gefahrensituative Cliffhanger vorhanden sind, schafft es Gould sehr häufig in den vier Panels der täglichen Comicstrips, die Bildreihe spannungssteigernd zu gestalten: Am spannendsten ist meistens das letzte Panel der Sequenz. Es finden sich vor allem vorausdeutende, gelegentlich sogar gefahrensituative Cliffhanger. Dies wird bereits anhand der ersten Strips deutlich. Erst im letzten Panel des zweiten Strips wird gezeigt, wie zwei Gauner das Haus der Truehearts beobachten. Im nächsten Strip wird wieder für die drei ersten Panels in das Wohnzimmer der Truehearts gewechselt, um erneut erst im vierten Panel die Gangster zu zeigen, wie sie mit einem Fernglas Mr. Trueheart beobachten, als er Geld in seinen Tresor legt. Auch im folgenden vierten Strip vom 15. Oktober 1931 stehen die Gangster erst im letzten Panel in der Wohnung der Truehearts [Abb. 6]. Die Unterbrechung findet also immer in einer Vorausdeutung oder einer Gefahrensituation statt, zu der sich die drei vorangehenden Panels entwickelt haben. Auch in den späteren Strips ist erstaunlich, wie häufig Gould das gezeigte Muster wiederholt ‒ vor allem angesichts des sehr begrenzten Erzählraums überrascht dieses erzählökonomische Können. Abbildung 6: In nur vier Panels eine Steigerung zum Cliffhanger

Gould, Chester: „Dick Tracy“, 4. Folge. In: Detroit Mirror, 15.10.1931.

173 Vgl. Roberts: Dick Tracy and American Culture, 2003, S. 3–4.

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4.3.2 Kontext: Die Kinoserie Dick Tracy Wesentliche Elemente der Comicserie sind bei der Fortsetzungs-Kinoserie Dick Tracy (1937) verändert. Anstatt eines Polizeiinspektors in Chicago ist Dick Tracy in der Kinoserie ein FBI-Agent in San Francisco. Der Gangsterboss der Kinoserie, „The Lame One“ oder auch „Spider“ genannt, ist ein Bösewicht, der nicht aus den Comics stammt ‒ seine Identität bildet einen fortlaufenden Spannungsbogen, da sein Gesicht nie zu sehen ist. 4.3.3 Deskription An ausnahmslos jedem Ende einer Folgen befindet sich der Protagonist Dick Tracy in Gefahr. Exemplarisch wird der Schluss von Folge 12 analysiert. Abbildungen DT1‒9: Komplexe Montage und akustische Untermalung

Abb. DT1, E12, TC 17:03

Abb. DT2, TC 17:05

Abb. DT3, TC 17:08

Abb. DT4, TC 17:12

Abb. DT 5, TC 17:24

Abb. DT6, TC 17:26

Abb. DT7, TC 17:28

Abb. DT8, TC 17:30

Abb. DT9, TC 17:31

Dick Tracy und seine Mitarbeiter befinden sich in seinem Büro [Abb. DT1], als sie vor der Tür die charakteristisch humpelnden Schritte des Bösewichts – daher auch „The Lame One“ genannt – hören [Abb. DT2] und Tracys Assistentin Gwen flüstert: „Listen!“ [TC 16:57]. Alle Figuren schauen entsetzt, was nun passieren wird [Abb. DT3‒4]. Eine Nah-Einstellung zeigt, wie eine Hand im Stromkasten die Sicherung ausschaltet [Abb. DT5]. Dann ist der Schatten des Gangsterbosses in einer offenen Tür zu sehen [Abb. DT6] und das unverkennbare Bösewicht-Symbol der Spinne, das

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immer zu sehen ist, kurz bevor jemand stirbt, erscheint auf Dick Tracys Stirn [Abb. DT7]. Gleichzeitig ist ein Schrei von Tracys Kollegin Gwen zu hören. Die letzte Einstellung zeigt die Detailaufnahme einer Pistole, die drei Mal abgefeuert wird [Abb. DT8]. 4.3.4 Kategorisierung und Analyse Die Spannungssteigerung wird durch das Zusammenwirken der verschiedenen systemischen Medien und filmischen Bauformen erzeugt. Zunächst durch den Ton: Tracy und seine Kollegen bemerken zusammen mit dem Zuschauer das Geräusch der Schritte. Woher es stammt, sieht man zunächst nicht. Hinzu kommt der Ausruf von Gwen, der auch an den Zuschauer gerichtet scheint: „Listen!“ [TC 16:57]174 Die NahEinstellung des Klumpfußes bestätigt die Vermutung: Es handelt sich um den Bösewicht ‒ was jedoch keiner der Akteure mit Gewissheit sagen kann, sondern nur der Zuschauer. In den nächsten Einstellungen [Abb. DT 3–4] wird durch Gestik und Mimik die Spannung erzeugt ‒ die gespannte Haltung der Schauspieler soll sich auf den Zuschauer übertragen. Auch die Beleuchtung wird benutzt, um das den Verbrecher umgebende Grauen, symbolisiert durch den Schatten und das Spinnensymbol, zu inszenieren – auf der auditiven Ebene unterstützt von Gwens Schrei. Hinzu kommt der sehr pointierte und differenzierte Gebrauch von Einstellungsgrößen: Die Detailaufnahme der mehrfach abgefeuerten Pistole beendet die Diegese. In der nächsten Folge werden erneut mit Zwischentiteln die Personen eingeführt, ihre Funktion in der Geschichte klar gestellt und Teile der letzten Sequenz aus der vorherigen Folge wiederholt. Nur eine einzige neue kurze Einstellung wird eingefügt: Als „The Lame One“ die Tür öffnet, besitzt der anwesende Junior die Geistesgegenwart, ein Foto von ihm zu schießen [TC 02:30]. Als es schließlich zu der Einstellung des auf Tracys Stirn ruhenden Spinnensymbol kommt, ist diese länger als in der Folge zuvor: Es wird zusätzlich gezeigt, wie Dick Tracy sich noch gerade rechtzeitig duckt und so den Kugeln entgeht. Seine Mitarbeiter feuern zurück auf den Bösewicht ‒ doch anscheinend kann er rechtzeitig flüchten. Im Vorspann wird mehrfach auf die Übernahme der Figur aus den Comics hingewiesen. Jede Folge beginnt mit der Einstellung einer Dick Tracy Comic-Seite [Abb. DT 10]. In den titles wird ebenfalls zu Anfang jeder Fortsetzung darauf hingewiesen, 174 Diese Kombination aus Geräusch und Ursprungslokalisation wird in der nächsten Folge persifliert. Als das Team nach dem Bösewicht innerhalb des FBI-Gebäudes sucht, ist wieder das charakteristische Geräusch des Bösewichts zu hören. Erst ein Schwenk nach unten zeigt, dass Tracys Sidekick Mike McGurk, der für den comic relief in der Serie zuständig ist, in einen Eimer getreten ist und mit diesem umhergeht. Ein FBI-Agent aus Tracy Team will ihn zunächst niederschlagen, da er das Geräusch „the Lame One“ zuordnet [TC 03:34–04:02].

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dass die Serie auf dem „Cartoon Strip“ von Chester Gould basiert [Abb. DT11]. Auch die Überschrift der jeweiligen Folge erscheint vor dem Hintergrund eines ComicStrips [Abb. DT12]. Abbildungen DT10‒12: Comic als Stofflieferant

Abb. DT10, TC 00:02

Abb. DT11, TC 00:31

Abb. DT12, TC 01:04

Dennoch hat die Kinoserie, wie bereits erwähnt, wenig mit den Comics gemein. Dabei scheint eine direkte Übernahme der Charaktere und Inhalte rechtlich kein Problem zu sein: Chester Gould ist sogar als Berater an der Produktion beteiligt. Höchstwahrscheinlich wird die Geschichte den filmischen Möglichkeiten und Konventionen der Kinoserie angepasst. Der Schauplatz wird von Chicago in das glamourösere San Francisco verlegt, Dick Tracy vom kleinen Polizeiinspektor zum FBI-Agenten befördert. Die Fortsetzungs-Kinoserie hat wesentlich mehr Darstellungsraum in den 20bis 30-minütigen Episoden ‒ trotzdem erreichen die Comic-Strips häufig einen Spannungshöhepunkt. Dramaturgisch ist auch in den täglichen Comic-Strips von Chester Gould ein Spannungsbogen zu erkennen, ausgerichtet auf das Ende der jeweiligen Folge, auf das letzte Panel, und vorausdeutend.175 Trotz des sehr limitierten Platzes der täglichen Strips gibt es sowohl gefahrensituative als auch vorausdeutende Cliffhanger. Der Vergleich zwischen Dick Tracy-Comic und -Kinoserie beweist, dass zwar zahlreiche Kinoserien die serielle Gewöhnung der Rezipienten an eine Figur nutzen und ebenso wie die serielle Vorlage auf Cliffhanger setzen, die Erzählungen aber von Handlungsort, sonstigen Figuren und story her komplett danach gestaltet sind, was für das filmische Medium am geeignetsten erscheint. Vielleicht soll gerade der Rezipient, der sich über einen langen seriellen Publikationszeitraum in einem anderen technischen Medium an Figur und Geschichten gewöhnt hat, zwar mit der Zugkraft des Figurennamens ins Kino gelockt werden; dort aber wird er mit neuen Ge-

175 Chester Gould war sich der Macht des Lesers sehr bewusst. Die allerersten Sätze des wichtigen Interviews zwischen Chester Gould und Max Allan Collins handeln davon: „Gould: […] Not only the characters, I think, held the newspaper reader’s interest. He’s the guy that buys the paper, and when he quits, we’re out of business.“ Gould u. a.: „Chester Gould Speaks“. In: Adams (Hg.): The Complete Chester Gouldʼs Dick Tracy, 2006, S. 10.

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schichten, Orten und Figuren überrascht, damit keine „Wiederkehr des Immergleichen“176 ihn an einer ‚Wiederkehr ins Kino‘ hindert ‒ schließlich gilt es, über 15 Folgen das Interesse aufrecht zu erhalten. 4.4

Radiohörspiel und Kinoserie: The Lone Ranger

4.4.1 Kontext Die Figur des Lone Ranger177 ist ebenfalls fester Bestandteil amerikanischer (Pop-) Kultur.178 Erst 2013 gibt es eine neue, starbesetzte Verfilmung mit Johnny Depp. Der Ursprung der Figur liegt in einer Radioserie begründet, die vornehmlich episodisch abgeschlossen konzipiert ist. Am 2. Februar 1933 strahlt der Radiosender WXYZ in Detroit die erste Folge aus.179 Wie auch Dick Tracy wird die Figur des Lone Ranger übernommen, ohne dass größere Zusammenhänge zu den Erzählungen der OriginalRadio-Ausstrahlungen erkennbar sind. Größter Unterschied ist, dass die Mikrotexte

176 Eco: „Die Innovation im Seriellen“. In: Über Spiegel und andere Phänomene, 2001, S. 160. 177 Stedman behauptet, dass es bereits 1919 einen Film von Fox mit dem Titel Lone Ranger gab – dann hätte der Film vermutlich die Figur im Radio inspiriert. In den wichtigen Filmdatenbanken lässt sich dieser Film nicht finden. Siehe: Stedman: The Serials, 1981, S. 169. 178 Bezeichnend ist auch das Buch über die jüngste Militärpolitik der USA. Im Vorwort des Buches schreibt Solomon: „In dangerous situations on the plains or on the frontier, Perito [d.i. der Autor des Buches] recalls, the Lone Ranger always came to the rescue. Abroad, the U.S. deployed constabularies to restore order in the Caribbean and in postwar Germany and Japan.“ Solomon: „Foreword“. In: Perito (Hg.): Where is the Lone Ranger when we need him?, 2004, S. XI. In jüngster Vergangenheit, dem letzten Irak-Krieg und den Einsätzen in Afghanistan, führte diese ‚Lone Ranger-Mentalität‘ aber zu großem Unheil ‒ so die allgemeine Aussage des Buches. 179 Vgl. Allen: „Omnimedia Marketing“. In: Witschi (Hg.): A Companion to the Literature and Culture of the American West, 2011, S. 465. Die anfangs kurzen (beginnend bei 10 Minuten), später halbstündigen Folgen werden vom Dialog getragen. Ab 1934 wird die Serie auf nationaler Ebene gesendet. Soundeffekte ‒ wenn überhaupt vorhanden ‒ werden anfangs häufig von den Sprechern selbst imitiert. (Häufiger findet sich ein von den Sprechern nachgebildeter Wind auf der Tonspur. Vgl. Allen: „Sight in the Sound“. In: Western American Literature, 42 (2), 2007, S. 120.) In den späteren Folgen (circa ab 1935) nehmen Schüsse und andere Effekte zu, die nun gesondert aufgenommen wurden.

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der Radio-Serie dem Erzählprinzip der Episodenserie folgen: Am Ende jedes Mikrotextes sind die Bösewichte festgenommen, ihr Plan wurde vereitelt.180 Für die Kinoserie werden einige wenige vor allem akustische Elemente übernommen. So findet sich die Erkennungsmelodie, das Ende der bekannten Ouvertüre von Gioacchino Rossinis Oper Willhelm Tell auf sehr ähnliche Weise auch in der Kinoserie wieder. Diese Melodie beziehungsweise ihre Adaption rahmt sowohl die Folgen der Radio- als auch der Kinoserie ein. In der Radio-Serie werden einleitend immer die stets gleichen Worte des Erzählers gesprochen: „A fiery horse with the speed of light! A cloud of dust and a hearty ‚Hi-Yo, Silver!‘ The Lone Ranger!“181 In der Kinoserie ist es nur das Wiedererkennungszeichen: „Hi-Yo, Silver!“182 Die Radioserie The Lone Ranger ist sehr erfolgreich, und die Produzenten wissen das Potenzial der Serie für zahlreiche Werbeprodukte zu nutzen: „The Lone Ranger, Inc., owners of The Lone Ranger radio program, transformed what had been originally conceived as a single-medium product into an iconic American brand suitable for omnimedia marketing, and did so almost immediately after its initial creation for the aural medium. In the 1930s, the corporation expanded its product into additional media and collaborated with manufacturers to produce a range of inexpensive ‚must have‘ Lone Ranger promotions and merchandise. These strategies worked to amplify the pleasurable effects of the original program by extending the highly individualized and participatory nature of the radio listening to other forms of consumption, especially for younger audiences.“183

180 Häufig berichtet die Erzählerstimme sogar, dass die Verbrecher verurteilt werden. Wenn die Beschützten sich fragen ‒ so fährt der Erzähler des Öfteren fort ‒, wem dies zu verdanken sei, ist es immer der Lone Ranger, der, ohne dass man ihm persönlich danken kann, davonreitet. (Siehe bspw. die Folge „Lone Pine“ (vermutlich September 1934), TC: 18:38-19:14.) Die Folge „Finding Silver“ vom 10.04.1936 endet mit den folgenden Worten des Erzählers: „The mission of the masked man was accomplished. The last of the Cavendish Gang was captured. He was […] [unverständlich] by law and punished for his crimes. But there were many others whose criminal crimes would be challenged by the Lone Ranger, his faithful Indian companion Tonto and his great horse Silver.“ „Finding Silver“. In: The Lone Ranger. 10.04.1936, TC 06:06–06:33. Auch dieser Endkommentar zeigt, dass die Radioserie sehr über die Stimme und die Worte funktioniert und nicht über Geräusche: die Beschreibung der Erzählerstimme und die Dialoge vermitteln den plot, auch wenn bei den späteren Folgen etwas mehr auf spezielle Soundeffekte gesetzt wird. 181 „Finding Silver“. In: The Lone Ranger. 10.04.1936, TC 15:45. 182 „The Pitfall“, Ep.3. In: The Lone Ranger. TC 00:45. 183 Allen: „Omnimedia Marketing“. In: Witschi (Hg.): A Companion to the Literature and Culture of the American West, 2011, S. 464.

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Die Kinoserie The Lone Ranger (USA 1938) hat im Gegensatz zur Radioserie eine fortlaufende Handlung und die einzelnen Folgen enden immer mit einem Cliffhanger. Einen zusätzlichen Spannungsbogen über alle Folgen bietet die Frage nach der Identität des Lone Rangers. Er wird am Ende der letzten Folge aufgelöst und ermöglicht der Kinoserie einen mehrfachen Abschluss. In Episode eins werden fünf junge Männer vom Bösewicht Jeffries eingesperrt, auf den Verdacht hin, einer von ihnen könnte der Lone Ranger sein. Und tatsächlich offenbart sich einer der fünf, damit die anderen nicht für ihn leiden oder gar sterben müssen. Aber wann immer der Lone Ranger ohne Maske gezeigt wird, sieht man ihn als Schatten, von hinten oder mit Kopfband aufgrund seiner Verletzung, sodass für das damalige Publikum alle fünfzehn Folgen diesen Antizipationsstrang besaßen. „But who was he? Each member of the audience had a favourite, and a surprising number of adults found themselves taking part in the guessing game. The available nominees were five solid adventure actors, any one of whom would have been worthy rider of great horse Silver. The youngest, Kim Clark, played by George Letz died early in the action. Did this mean that the Lone Ranger was Dick Forrest?“184

4.4.2 Deskription In der letzten Sequenz der ersten Folge [TC 23:50–26:43] hat sich ein Gruppe von Siedlern den Befehlen des tyrannischen und verbrecherischen Jeffries widersetzt und in einem Fort einquartiert. Einem Spitzel Jeffries gelingt es, unter dem Vorwand, ihnen weitere Waffen und Munition bringen zu wollen, von der Siedlerwache Zutritt zum Fort zu erhalten, während die anderen Bewohner in einem der Häuser eine Besprechung abhalten. Der Spitzel schlägt die Wache nieder, ist aber nicht imstande, das Tor zu öffnen, um die Gefolgsmänner Jeffries einzulassen. Deshalb legt er eine Tonne Schießpulver an die Innenseite des Tores und zündet die Lunte. Der Lone Ranger reitet auf das Fort zu, springt mit einem Seil über die Mauer und stürzt sich auf den Spitzel. Die Explosion kann er jedoch nicht aufhalten. Sie tötet den Spitzel und zerstört das Tor. Die Gefolgsmänner Jeffries reiten heran, der Lone Ranger kommt wieder auf die Füße und stellt sich ihnen mit seinen Pistolen in den Weg [LR1–2]. In der vorletzten Einstellung sieht man ihn von vorne, wie er auf die heranrasenden Gefolgsleute schießt [Abb. LR3]. In der letzten Einstellung wird der Held entweder von Kugeln oder den heranrasenden Pferden nach hinten geschleudert ‒ seine Arme sind nach oben gestreckt [Abb. LR4‒11]. Nach dieser letzten Einstellung kann der Zuschauer von einer für Lone Ranger und die Sieder hoffnungslosen Lage ausgehen: Die Gefolgsmänner Jeffries haben den Helden verwundet und sind im Fort.

184 Stedman: The Serials, 1981, S. 111.

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Abbildungen LR1‒11: Gefahr ohne Entkommen

Abb. LR1, TC 26:28

Abb. LR2, TC 26:32

Abb. LR3, TC 26:33

Abb. LR4,TC 26:35

Abb. LR5

Abb. LR6

Abb. LR7

Abb. LR8

Abb. LR9

Abb. LR10

Abb. LR11, TC 26:36

Folge zwei erzählt in bekannter Weise ein recap mit Zwischentiteln [TC 01:43– 02:30] und wiederholt, wie bei Flash Gordon, einen Teil der letzten Sequenz der vorherigen Folge. Wieder wird gezeigt, wie Lone Ranger zum Fort reitet und sich mit seinem Seil über die Mauern schwingt, während der Spitzel die Lunte anzündet. Wieder sieht man den Kampf, die Explosion des Fasses, das Bersten des Tores, das Losstürmen der Gefolgsleute Jeffries. Aber dann folgt eine neue Einstellung, wie die Siedler aus dem Versammlungshaus kommen. Anschließend sieht man den Lone Ranger sich erheben, eine vertraute Einstellung aus der Folge zuvor. Doch dann wiederum eine neue Sequenz: Die Siedler rennen, nun bewaffnet auf den Helden zu. Sind die eingeschobenen Einstellungen bisher als Ergänzung durchaus plausibel, so widersprechen die folgenden Einstellungen denen der ersten Folge. Einige Einstellungen stehen in direktem Widerspruch zueinander; andere ersetzen die letzten Einstellungen der ersten Folge: Anstatt dass der Lone Ranger zurückgeschleudert wird, die Arme in die Höhe streckt und sich in unmittelbarer Nähe der Gefolgsmänner Jeffries befindet, ist nunmehr zu sehen, wie im Hintergrund die Siedler kommen [Abb. LR12] und der Lone Ranger sich umdreht und zurückrennt [Abb. LR13]. Die Auflösung besteht darin, dass der Lone Ranger mit den Siedlern [Abb. LR14] eine Kutsche vor die Einfahrt schiebt. Hinter dieser Barrikade bezieht er Stellung und schießt auf Jeffries Männer, die schließlich die Flucht ergreifen.

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Abbildungen LR12–14: Veränderung des Geschehens im Auflösungsmoment

Abb. LR12, TC 03:36

Abb. LR13, TC 03:37

Abb. LR14, TC 03:39

4.4.3 Kategorisierung und Analyse Der Cliffhanger, der in The Lone Ranger eingesetzt wird, unterscheidet sich von den bisherigen Cliffhangern, weil bereits ein Resultat gezeigt wird. Es wird nicht gezeigt, dass der Held in Gefahr ist, sondern, dass die Gefahr sich bereits realisiert hat. Man könnte von einem resultativen Cliffhanger sprechen. In der Auflösung werden dann einzelne Einstellungen hinzugefügt, die dieses Resultat verändern. In Fall von The Lone Ranger wird das Resultat sogar verfälscht. Zu Zeiten, in denen nur der Kinobesitzer und die Verleihfirmen Autorität über das Produkt haben, ist dies noch möglich; kein Rezipient kann noch einmal die Folge sehen, es sei denn, sie wird noch einmal im Kino gezeigt. Die Kinoserien-Macher setzen darauf, dass der Zuschauer sich nach der Erzählpause von einer Woche nicht mehr genau erinnern kann oder seinem eigenen Gedächtnis nicht traut.

5.

D IE 1940 ER

5.1

The Phantom – Erzählwandel

UND

1950 ER J AHRE

5.1.1 Kontext: Politik Die Kinoserien der 1940er Jahre sind zu einem großen Teil thematisch vom Zweiten Weltkrieg geprägt, vor allem dem Kampf gegen die Nationalsozialisten. In King of the Mounties (USA 1942) müssen sich die Kanadier gegen eine drohende deutsche Invasion behaupten, indem sie einem technisch überlegenen Wehrmacht-Flugzeug ein noch besseres entgegensetzen. In Spy Smasher (USA 1942) operiert ein nationalsozialistischer Bösewicht namens „The Mask“ von einem U-Boot aus vor der Küste Amerikas, mit dem Ziel, die USA zu zerstören. In diesem Kontext ist auch die Kinoserie über den Helden The Phantom (USA 1943) zu sehen. Die Figur des Phantoms beruht auf den Zeitungs-Comics von Lee Falk (ab 1936).185 In der gleichnamigen Kinoserie scheint der Bösewicht Dr. Bremmer, der

185 Vgl. Krensky: Comic Book Century, 2008, S. 17.

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einen geheimen Flugplatz im Dschungel aufbauen möchte, ebenfalls für die Nationalsozialisten zu arbeiten. Auch wenn dies nie ausdrücklich gesagt wird, vermitteln sein Auftreten und sein Name diesen Eindruck. The Phantom passt gut in die Politisierung der Kinoserie jener Zeit, weil bereits die Comic-Serie viele koloniale Themen behandelt: „In colonial and postcolonial British literature the phantom or ghost is a recurrent figure that symbolizes the repressed trauma attendant to colonization that haunts protagonists [...]. The famous comic strip The Phantom by Lee Falk naturalized this figure, making him into a normal man who fabricated a belief in immortality. Referred to as ‚The Ghost Who Walks,‘ his headquarters was in a cave [...]. The Phantom ruled the natives of Africa and India, who superstitiously believed that he was a white god who had lived for centuries. In 1525, the first Phantom swore an oath to [...] battle all evil. Each subsequent Phantom brings up his eldest son to take his place and commit himself to his fatherʼs oath.“186

Einerseits waren die Vorfahren von The Phantom Rassisten, die über die Eingeborenen herrschten; andererseits leistet jedes neuen Phantom den Eid, das Böse an sich zu bekämpfen: Gerade im Zweiten Weltkrieg wird dieser Superheld als Außenposten des Kampfes gegen das Böse benötigt. Zusätzlich zu den anderen Themen verändert sich auch die Inszenierung. Die Kinoserien entfernen sich noch ein Stück weit mehr von ihrer Stummfilm-Vergangenheit: Columbia setzt bei The Phantom auf einen Voice-over-Erzähler und verzichtet vollkommen auf Zwischentitel. Die Produktionsfirmen Columbia und Universal gestalten ab den 1940er Jahren die Cliffhanger ihrer Kinoserien und deren Aufhebungsmomente anders als Republic, die bei den Zwischentiteln bleibt. 5.1.2 Deskription Am Ende der ersten Folge droht The Phantom im Dschungel in einen Sumpf zu versinken [Abb. TP1]. Noch bedrohlicher wird die Situation, als sich ihm ein Alligator nähert [Abb.TP2]. Diese Sequenz wird ohne Kommentar gezeigt, nur von Musik untermalt. Dann findet mit Hilfe einer kurzen Klappblende ein Wechsel statt: Drei Sekunden dauert die Einstellung auf den Eingeborenen Chotas, den Verräter des Phantom, während der Voice-over-Kommentator hinzufügt: „What’s going to be Chotas next move?“ [TC 27:55] Unvermittelt darauf folgt eine ebenfalls einzelne, sechs Sekunden lange Einstellung auf die Expedition von Professor Davidson [Abb. TP4]: „Is the Davidson’s expedition sure from further attacks?“ [TC 27:58] Erneut wird mit einer Klappblende zu einer weiteren einzelnen, wenige Sekunden dauernden Einstellung gewechselt, die eine Bande Gesetzloser zeigt [Abb. TP5]: „Will the outlaws be able to suspend the Safari?“ [TC 28:04] Dann die Ankündigung der nächsten Folge, 186 Duncan u. a.: Icons of the American Comic Book, 2013, S. 53.

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ebenfalls unterstützt vom Voice-over: „Don’t miss ‚The man who never dies!‘. The next exciting episode of The Phantom. At this theatre next week.“ [TC 28:06] Die Aufhebung in der nächsten Folge hat kein recap, sondern es werden lediglich einige Einstellungen der letzten Folge wiederholt. Dann wird direkt daran angeschlossen, wie sich The Phantom gegen den Alligator zu Wehr setzt. Abbildungen TP1–6: Verknüpfung der verschiedenen Handlungsstränge

Abb. TP1, TC 26:52

Abb. TP2, TC 27:02

Abb. TP3, TC 27:55

Abb. TP4, TC 27:58

Abb. TP5, TC 28:04

Abb. TP6, TC 28:06

5.1.3 Kategorisierung und Analyse Der Voice-over-Kommentar unterstützt den Cliffhanger: Er deutet nach dem unkommentierten gefahrensituativen Cliffhanger auf die drei ebenfalls offen gelassenen Handlungsstränge hin und formuliert die Fragen, die bis zum Schluss dieser Folge unbeantwortet bleiben. Die vier Handlungsstränge werden am Ende der Folge in einer Schlussmontage zusammengeführt und damit zeitlich parallelisiert. Allerdings ist dies nur in Ansätzen eine Parallelmontage, denn es wird nicht erneut zu einem Handlungsstrang zurückgeschnitten ‒ es ist kein cross-cutting vorhanden ‒ sondern es wird jeder Handlungsort nur einmal gezeigt.187 Die Wirkung dieser Montage ist einer Parallelmontage jedoch sehr ähnlich: Die Gleichzeitigkeit der Geschehnisse wird dem Zuschauer bewusst, eine filmische Parallelisierung als Mittel der Spannungssteigerung genutzt.188

187 Zur Parallelmontage und dem dafür charakteristischen cross-cutting siehe: Schössler: „Parallelmontage“. In: Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, 2002, S. 435. 188 Siehe z. Bsp. „Die Parallelmontage wird […] als Mittel der Spannungssteigerung genutzt, wobei die beiden Handlungsebenen am Höhepunkt zusammengeführt werden.“ Müller u. a.: Geheimnisse der Filmgestaltung, 2003, S. 241. Natürlich wird die Parallelmontage

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Die Weiterentwicklung des Cliffhangers beziehungsweise seiner narrativen Umgebung und des Aufhebungsmoments zeigt, dass sich die Fortsetzungs-Kinoserie immer weiter vom schriftlichen Zwischentitel entfernt. Lediglich der Endtitel, der auf die Fortsetzung aufmerksam macht, bleibt und wird zusätzlich vom Voice-over-Erzähler gelesen. Bereits in Tim Tyler’s Luck (USA 1937) und Flash Gordon’s Trip to Mars (USA 1938) werden die Zwischentitel, die das recap wiedergeben, durch Comic-Strips ersetzt.189 Der vollkommene Verzicht auf die Schrift (abgesehen von der Vorankündigung der nächsten Folge) wird jedoch erst in den 1940er Jahren von Columbia und Universal umgesetzt. Der vom Voice-over-Erzähler unterstützte Cliffhanger aus The Phantom erscheint als Weiterentwicklung des Cliffhangers in der Kinoserie und wie eine frühe Form des modernen TV-Cliffhangers. Schließlich muss das Kino-Publikum in den 1940er Jahren schon so sehr an diese Erzähltechnik gewöhnt sein, dass es nicht mehr eine Frage des ‚Entkommt der Held?‘ sein kann, sondern eher ‚Wie entkommt der Held?‘. Die Steigerung des gefahrensituativen Cliffhangers kann nicht mehr in der Ausweglosigkeit und Bedrohlichkeit der Situation liegen – in den zahlreichen Cliffhanger-Serien der 1920er bis 1940er Jahre ist bereits die Gefahrensituation ins Extrem gesteigert. Doch offen gelassene Handlungsstränge, die den Cliffhanger mit zusätzlichen, unbeantworteten Fragen in der Spannungssteigerung intensivieren, ermöglichen eine Weiterentwicklung der Erzähltechnik. Wenn auch bereits bei Tarzan the Tiger häufig eine Parallelmontage für die Cliffhanger benutzt wurde, so ist bei The Phantom mit mehr Handlungssträngen und einer bewussten Formulierung der offen gelassenen Fragen eine Steigerung dieser Inszenierungstechnik vorhanden und die Entwicklung zu immer strukturell komplexeren Narrativen in der seriellen Fortsetzungsnarration bereits abzusehen. 5.2

Radar Men from the Moon – „That isn’t what happened last week!“ 190

5.2.1 Kontext Nachdem inhaltlich bereits Stoffe von erfolgreichen Frauenmagazinen, ComicStrips, Hörspielen und pulp-Magazinen adaptiert wurden; nachdem bereits Genres wie Bildungsroman, Horror-, Abenteuerroman, Superheld-Comic, Western, ScienceFiction und Kriminalfilm bemüht wurden; nachdem selbst politische Zeitbezüge zu

nicht ausschließlich zur Spannungssteigerung genutzt. Dennoch hat eine der ersten überlieferten Verwendungen ‒ und sicherlich die berühmteste der ersten Parallelmontagen ‒ in dem Film The Great Train Robbery (USA 1903) genau jenes Ziel. 189 Vgl. Stedman: The Serials, 1981, S. 138. 190 King: Misery, 1987, S.111.

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den Nationalsozialisten als Bösewichten Einzug in die Kinoserie gehalten haben, bieten die meist direkt für eine Kinoserie geschriebenen Stoffe der 1950er Jahre nur ein Recycling von Themen. Die Serie Radar Men from the Moon (USA 1952) wirkt mit der Bedrohung durch einen grausamen Diktator vom Mond, der die Erde angreift, wie ein eigenartiger Mix aus Flash Gordon und dem erfolgreichen King of the Rocket Men (USA 1949). Das Recycling zeigt sich überdeutlich in der Verwendung von Kostümen und Aufnahmen älterer Kinoserien.191 5.2.2 Deskription Die dritte Folge von Radar Men from the Moon endet damit, dass der Held, Commando Cody, zwei Bösewichte mit dem Auto verfolgt. Diese haben jedoch genug Zeit zu einem kurzen Halt, um eine Bombe auf der Brücke zu platzieren [Abb. RM1]. Als Cody wenig später auf die Brücke fährt, ist in seiner Mimik keinerlei Anzeichen dafür erkennbar, dass er die Bombe sieht [Abb. RM2]. Sein Auto wird von der Explosion erfasst und stürzt in den Abgrund [Abb. RM3]. In der Folge darauf der ergänzende Auflösungsmoment: Cody, die Bombe noch rechtzeitig sehend, springt aus dem Auto [Abb. RM9]. Das Auto wird zwar, wie in der Folge zuvor bereits gezeigt wurde, von der Explosion erfasst, aber wir wissen nun: ohne den Helden [Abb. RM10]. Abbildungen RM1–4: Resultativer Cliffhangermoment (Ep. 3)

Abb. RM1, TC 13:18 Abb. RM2, TC 13:19 Abb.RM3, TC 13:20

Abb. RM4, TC 13:24

Abbildungen RM 5–8: Ergänzender Auflösungsmoment (Ep. 4)

Abb. RM5, TC 01:20 Abb. RM6, TC 02:03 Abb. RM7, TC 02:05 Abb. RM8, TC 02:09

191 Angeblich wurden auch zahlreiche Aufnahmen aus der Kinoserie Undersea Kingdom (USA 1936) und dem Film Flight to Mars (USA 1951) verwendet. Vgl. Harmon u. a..: The Great Movie Serials, 1973, S. 288–290.

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Am Ende derselben Folge fliegt Cody mithilfe seines Raketenanzugs dem Flugzeug der gekidnappten Joan hinterher und steigt ein. Wenig später versucht Cody, das auf einen Abgrund zurasende Flugzeug hochzuziehen, aber die Steuerung versagt. Mehrere Einstellungen zeigen im Wechsel Cody und Joan im Flugzeug und den sich nähernden Abgrund, bis das Flugzeug zerschellt. Im Auflösungsmoment der nächsten Folge stoppt Cody plötzlich den Versuch, das Flugzeug zu retten: Er hilft Joan in eine Fallschirm-Montur; sie springt und er folgt ihr in seinem Raketenanzug. 5.2.3 Kategorisierung und Analyse Der resultative Cliffhanger mit ergänzendem Auflösungsmoment ist Teil jeder Folge mit Ausnahme der ersten und der letzten. In den finalen Einstellungen meint man jedes Mal zu sehen, wie der Held stirbt. Sein Entkommen erscheint nicht nur vollkommen abwegig, sondern im Erleben der Sequenz unmöglich. Nach dem recap mit einem bebilderten Zwischentitel [Abb. RM5] sind in die Wiederholung der Cliffhangersequenz unerwartete, neue Einstellungen eingefügt: Der Held ist gerettet. Bei einem Vergleich zwischen diesen Cliffhangern und beispielsweise denen aus Tarzan the Tiger oder selbst The Phantom ist eine extreme Steigerung der Gefahrensituation festzustellen. Bei Tarzan the Tiger kann der Held im Cliffhanger der ersten Folge immer noch gegen den Löwen gewinnen; die Situation ist zwar gefährlich, aber wird filmisch nicht so dargestellt, als habe Tarzan bereits verloren. In den späteren Kinoserien wird am Ende der Folge häufig das Fahrzeug oder das Gebäude zerstört, in dem sich der Held noch zu befinden scheint, sodass es so aussieht, als stürbe er. Das Objekt steht als Stellvertreter für den Helden ‒ seine Zerstörung setzt der Zuschauer mit der Tötung des Helden gleich. Der Cliffhanger wird als resultativer Cliffhanger mit ergänzendem Auflösungsmoment ins Extreme und damit für den Zuschauer Anstrengende ‒ oft auch Lächerliche ‒ gesteigert. Bei jedem Auflösungsmoment fühlt sich das Publikum in gewisser Weise betrogen. Denn immer zeigen wenige neue Einstellungen in der nächsten Folge, wie der Protagonist dem sicher scheinenden Tod doch noch entkommen ist. Der ergänzende Auflösungsmoment wird in dieser Kinoserie überstrapaziert ‒ der Zuschauer entlarvt ihn als betrügerische Masche. In Stephen Kings Roman Misery wird eine ganz ähnliche Sequenz beschrieben. Die Antagonistin Annie erzählt dem sich in ihrer Gewalt befindenden Autor Paul Sheldon, wie sie in ihrer Kindheit immer am Samstag zu den „chapter-plays“ ging. „‚Rocket Man was my favorite. There he would be at the end of Chapter 6, Death in the Sky, unconscious while his plane went into a power dive. Or at the end of Chapter 9, Fiery Doom,

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heʼd be tied to a chair in a burning warehouse. Sometimes it was a car with no brakes, sometimes poison gas, sometimes electricity.‘ Annie spoke of these things with an affection which was bizarre in its unmistakable genuineness. ‚Cliff-hangers, they called them,‘ he ventured.“192

Die ganze Woche überlegte die junge Annie immer, wie der Held aus dieser Gefahrensituation entkommen kann. In einer Folge wurde bereits gezeigt, wie Rocket Man festgebunden ist in einem Auto ohne Bremsen, das über eine Klippe fährt und unten zerschellt. Jedoch in der nächsten Woche wurde der Cliffhanger nicht „fair“193 aufgelöst. „The new episode always started with the ending of the last one. They showed him going down the hill, they showed the cliff, they showed him banging on the car door, trying to open it. Then just before the car got to the edge, the door banged open and out he flew onto the road! The car went over the cliff, and all the kids in the theatre were cheering because Rocket Man got out, but I wasnʼt cheering, Paul, I was mad! I started yelling, ‚That isnʼt what happened last week! That isnʼt what happened last week! […] Are you all too stupid to remember? Did you all get amnesia?‘“194

Stephen King führt bei der Beschreibung der Kinoserie erstaunlich viele zutreffende Details an: Annie bezeichnet sie als chapter-play, Paul führt aber mit „cliff-hanger“ ebenso den Alternativtitel für diese spezielle Form der Kinoserie an; auch wann und wo diese Serien zu sehen waren und dass sie später in anderer Version im Fernsehen liefen, wird erwähnt sowie der Aufbau mit der Beschreibung des Cliffhangers und des recap am Anfang der nächsten Folge. Dementsprechend realistisch erscheint auch die Publikumsreaktion. Zum Teil können auch die resultativen Cliffhanger als eine Spiegelung von Tod und Wiederkehr der seriellen Narration gelesen werden, wie es bei Juve contre Fantômas getan wurde: Die Erzählfortsetzung ermöglicht nicht nur eine Wiederbelebung des Erzählflusses, sondern auch der Figuren. Jedoch ist in diesen Beispielen keine Andeutung und Fragestellung wie bei Juve contre Fantômas vorhanden, hier wird nicht nur die Figur ‚wiederbelebt‘, sondern die erzählte Vergangenheit wird wiederholt und dabei verändert. Tatsächlich hat man den Eindruck, dass die damaligen Produzenten auf die Vergesslichkeit des Publikums setzten, das die Folgen nicht über Wiederholungen auf einem Trägermedium oder auf

192 King: Misery, 1987, S. 108. Vermutlich meint Annie King of the Rocket Men (USA 1949) ‒ eine derartige Episode (auch die Titel der Episoden stimmen nicht) ließ sich jedoch nicht finden. 193 Ebd., S. 109. 194 Ebd., S. 111.

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andere Art erneut rezipieren konnte. Auch wenn Annies Reaktion überzogen und Zeichen ihres bereits frühen Wahnsinns ist, hat sie im Grunde Recht (wie Paul ihr auch zugesteht): „[T]hat was a dirty cheat“.195 Die Übersteigerung des gefahrensituativen Cliffhangers ist auch schon in einzelnen Folgen früherer Kinoserien zu beobachten,196 aber die resultativen Cliffhanger sind in diesen Serien eher die Ausnahme als die Regel wie in der vorliegenden Radar Men from the Moon. Die Serie zeigt sowohl in ihrer Übersteigerung als auch in ihrer Publikationsgeschichte, dass die Zeit der Kinoserien sich dem Ende nähert: Wie auch einige andere Kinoserien der 1950er Jahre wird sie in anderer Schnittlänge in dem neu aufkommenden technischen Medium des Fernsehens wiederveröffentlicht. Aus der Serie Radar Men from the Moon wird eine 100minütige Filmversion, die unter dem Titel Retik the Moon Menace 1966 im Fernsehen läuft.197 5.3 Ausklang: Das Ende der Kinoserie 1956 veröffentlicht Columbia Pictures die letzte Kinoserie: Blazing the Overland Trail. Das Ende der Fortsetzungs-Kinoserie hat vor allem zwei Gründe: Die Produktion wird immer teurer198 und es etabliert sich mit dem Fernsehen ein neues technisches Medium. Das Resultat dieser Entwicklungen sind häufig billig produzierte Fortsetzungs-Kinoserien, die mit den Ansprüchen des von teuren Feature-Filmen verwöhnten Publikums nicht mehr mithalten können. Häufig werden sogar alte Fortsetzungs-Kinoserien ‚geplündert‘, um Bild-Einstellungen daraus in neuen Produktionen wiederzuverwerten.199 195 Ebd., S. 110. 196 Als Beispiel für Folgen, in den ebenfalls das Fahrzeug, in dem sich der Held befindet, zerstört wird, siehe: Dick Tracy, E. 4 und 13. Jedoch ist auch bei diesen Cliffhangern festzustellen: Sie sind weniger resultativ als die der 1950er Jahre. In E. 4 stürzt bspw. das Flugzeug mit Dick Tracy ab, aber der Aufprall wird noch nicht gezeigt, sondern nur, wie es in schwarzer Rauchwolke gen Boden trudelt. 197 Mathis: Valley of the Cliffhangers Supplement, 1995, S. 128–129. 198 „A typical Columbia Pictures campaign booklet [...] during the 1940–1941 season announced, in addition to the companyʼs schedule of 35 or so features, 104 one-reel short subjects, 26 two-reel comedies, and four serials, each running 15 two-reel chapters. This prodigious output was possible only within the old studio contract system, under which producers, directors, writers, actors, and technical people of every description were all signed to long-term contracts at the studios, paid whether they were currently working on a project or not [...]. But chinks finally began to appear in the studiosʼ armour as labour unions, gaining power, demanded and received higher wages, which of course inflated productions costs.“ Kinnard: Fifty Years of Serial Thrills, 1983, S. 3. 199 Vgl. ebd.

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Generell haben die Kinoserien mehrere Leben, denn sie werden mehrfach recycelt: Erst als Kinoserie veröffentlicht, kürzt man die Folgen zunächst häufig zu einem Kinofilm, um sie später wieder in der ursprünglichen oder leicht geschnittenen Version als Fernsehserie auszustrahlen.200 Die Wieder-Veröffentlichungen tragen oft einen anderen Titel, damit es so scheint, als handele es sich um eine neue Produktion oder sogar eine Fortsetzung.201 Der Niedergang der Fortsetzungs-Kinoserie ist somit eng verbunden mit dem Aufkommen der Fortsetzungs-Fernsehserie: „What 12-yearold would pay to see Captain America when George Reeves was waiting at home in The Adventures of Superman – for free? And so the serials died.“202

6. F AZIT

UND

AUSBLICK

6.1 Gefahrensituative Cliffhanger Die Spanne von den 1910er bis zu den 1950er Jahren ist in den USA eine sehr ‚serielle Zeit‘. Serielle Erzählungen finden sich in Zeitschriften, Zeitungen, pulp-Veröffentlichungen, Comics, Hörspielen und Kinoserien ‒ dementsprechend allgegenwärtig ist der Cliffhanger. Jedoch konnten die Einzelanalysen aufzeigen, dass nicht alle technischen Medien gleichermaßen auf den Cliffhanger setzen. Die Erzähltechnik ist in der Fortsetzungs-Kinoserie am prominentesten. Häufig ist zu beobachten, dass die Vorlagen Episodenserien sind oder zumindest größtenteils geschlossen funktionieren. Die Sonntags-Comics von Dick Tracy, das Radio-Hörspiel The Lone Ranger, auch die ersten Tarzan-Romane von Burroughs in pulp-Magazinen erscheinen zunächst ganzheitlich. Selbst ein Fortsetzungsroman wie What happened to Mary? weist zahlreiche episodische Elemente auf. Ganzheitliche und serielle Erzählungen finden sich innerhalb der pulps. Burroughs wechselt bei der seriellen pulp-Veröffentlichung von Tarzan and the Jewels of Opar geschickt zwischen den verschiedenen Erzählsträngen und erreicht so mehrere unterbrochene Spannungsmomente pro Folge: Binnencliff und Cliffhanger. Insgesamt orientiert sich die Kinoserie aber vor allem an der ganzheitlichen Buch-Veröffentlichung und verwendet die Cliffhanger200 Vgl. Stedman: The Serials, 1981, S. 208–211. 201 „The re-issue titles are titles applied to rereleases of complete serials. This was done [...] to create the impression of a new film or to imply a non-existent sequel. Thus The Tiger Woman became Perils of the Darkest Jungle on re-issue; Captain America became The Return of Captain America.“ Kinnard: Fifty Years of Serial Thrills, 1983, S. 5. 202 Ebd., S. 4. Das TV Film Source Book aus dem Sommer 1959 listet zahlreiche Kinoserien auf, die als Fernsehserien wiederveröffentlicht wurden, und legt damit dar, dass ein Großteil aller 1930er–1950er Jahre Kinoserien als Fernsehserie in den 1950er gezeigt wurde. Siehe: Broadcast Information Bureau (Hg.): TV Film Source Book, 1959.

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Erzähltechnik wesentlich intensiver, indem die enthüllenden Binnencliffs und Cliffhanger der pulp-Vorlage alle gegen gefahrensituative ausgewechselt werden. Die Spannungsmomente der Vorlagen werden zwar genutzt, aber verändert, verschoben, kombiniert ‒ den besonderen Erfordernissen der Kinoserie angepasst. In den wochentags täglich veröffentlichten Fortsetzungscomics Dick Tracy wird angesichts des geringen Erzählraums von vier Panels erstaunlich häufig ein Cliffhanger gesetzt. Aufgrund des sehr begrenzten Platzes ist diese Spannungsdramaturgie aber nicht vergleichbar mit einer 20-minütigen Folge der Kinoserie Dick Tracy, bei der jede Folge mit einer komplexen Spannungsdramaturgie samt Cliffhanger endet. Wenn auch die Übernahme von Inhalten serieller Erzählungen zu jener Zeit häufig vorkommt, so wird der jeweilige Stoff dem jeweiligen technischen Medium angepasst. Die Beispiele lassen erkennen, dass der Cliffhanger zu jener Zeit zwar in anderen technischen Medien, die seriell erzählen, benutzt wird, aber dort keine so vordergründige und bestimmende Stellung hat wie in der Kinoserie. Das zeigt sich daran, dass der Begriff ‚Cliffhanger‘ auch als Bezeichnung für ein spezifisches Genreformat von Kinoserien benutzt wird ‒ nicht aber als Genrebeschreibung bei Comics, Hörspielen und literarischen Formaten. Anhand der Cliffhanger lässt sich die filmische Weiterentwicklung der Kinoserien verfolgen. Anfangs setzt sich der Cliffhanger aus der bildlichen Handlung und den unterstützenden Schrift-Zwischentiteln zusammen (siehe Juve contre Fantômas). Auch wenn die Kinoserie den Ton hier nicht braucht, um eine Geschichte zu erzählen, ist dennoch eine Art Verlangen nach dem Ton erkennbar: In Juve contre Fantômas steht auf der Schrifttafel, was Juve zu Fandor sagt: „Ecoutez“. Danach muss noch hinzugefügt werden, was zu hören ist: „…On dirait une respiration.“203 Die Explosion im Cliffhanger wird vom Rezipienten mitgehört ‒ aber noch ist es nur ein beschriebener Ton, eine durch das Bild evozierte Vorstellung, eine imaginierte akustische Erfahrung: Wir sehen die Explosion, davor Fantômasʼ ausgestreckte Arme, und meinen deshalb, die Explosion auch hören zu können. Bei Tarzan the Tiger ist der Ton bereits vorhanden ‒ aber er erzählt nicht synchron dieselbe Geschichte, sondern läuft musikalisch relativ eintönig nebenher. Die von einer mitgelieferten Schallplatte abgespielten Geräusche unterstützten nur wenige Stellen; der Cliffhanger gehört aber zu diesen Momenten, die so wichtig sind, dass sie akustisch hervorgehoben werden. Der Schrei fungiert als auditiv perfekte Unterstützung eines Cliffhangers: Er ist Warnsignal und Schock, er ist gewaltsam, unmittelbar und laut. Der Schrei markiert die Unterbrechung zusätzlich. Das Entsetzen und der Schock der schreienden Figur sollen sich auf den Rezipienten übertragen. In Flash Gordon ist die Filmtechnik bereits wesentlich fortgeschrittener, was sich auch bei den Cliffhangern zeigt; sie werden nicht nur akustisch mittels passender Musik und Geräusche auf den jeweiligen 203 Juve contre Fantômas, F 1913, TC 56:48.

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Moment, sondern auch durch eine ausgefeiltere Montage mit betonenden Kameraeinstellungen intensiviert. Bild und Ton sind eng verzahnt und laufen synchron. Eine komplexe Montage zeigt sich noch deutlicher bei Dick Tracy. Wichtige Elemente, die zu einer Spannungserzeugung beitragen, werden sowohl auditiv als auch visuell zugespitzt: Detailaufnahmen, eine gezielt eingesetzte Beleuchtung und einzelne hervorgehobene Geräusche sowie dramatische Ironie sind Bestandteil dieser effizienten Spannungsmontage. Aus dem „Ecoutez“ von Juve contre Fantômas ist ein „Listen!“204 geworden. Aber der Zuschauer hört selbst die Stimme, die ihn zum Hinhören auffordert, und er selbst kann wahrnehmen, was es zu hören gibt: den nahenden Klumpfuß des Bösewichts. Spätere Kinoserien weisen bereits Vielsträngigkeit und zahlreiche Figuren auf ‒ was sich ebenfalls in der modernen Fernsehserie findet. Der Cliffhanger wird mit Binnencliffs kombiniert, die sich an den Unterbrechungsmomenten jedes Handlungsstrangs befinden (The Phantom). Bei einigen der letzten Kinoserien wird die Abgegriffenheit im Gebrauch der Cliffhanger am deutlichsten sichtbar: Es werden immer nur Typen dieser Erzähltechnik benutzt, die bereits das Ende eines Vorgangs zeigen und daher resultative Cliffhanger sind. Im recap werden neue Einstellungen in die Montage eingefügt ‒ ergänzende Auflösungsmomente, die das gezeigte Resultat der letzten Folge relativieren beziehungsweise korrigieren (siehe: Radar Men from the Moon). Die Spannweite der Cliffhanger ist durchweg kurz, die diegetischen Fortsetzungen sind fast immer direkt am Interruptionspunkt. Selbst wenn, wie bei Tarzan the Tiger, zwei und bei den späteren Kinoserien mehrere Handlungsstränge vorhanden sind, ist in dem Cliffhanger immer der Protagonist in Gefahr ‒ allenfalls der Binnencliff ist enthüllend. Auch eine Gewichtung der Figuren äußert sich in der Setzung der Unterbrechungsmomente: Der Cliffhanger handelt fast immer vom Protagonisten, mit dessen Gefahrenzustand die Erzählung auch wieder am Anfang der nächsten Folge aufgenommen wird; der Binnencliff ist vornehmlich den Nebenfiguren vorbehalten. Beim Aufhebungsmoment ist es am geläufigsten, einen Teil der Erzählzeit und erzählten Zeit zu wiederholen und daran unmittelbar anzuknüpfen. Mit den Interruptionspunkten und kurzen Spannweiten sowie mit dem recap stellen sowohl das Erfassen der Zeitstrukturen als auch der Einstieg in den bisherigen Inhalt der Kinoserie keine Herausforderungen für den Rezipienten dar. Der Cliffhanger weist als Analyseobjekt in dieser seriellen Fortsetzungswelle weit über sich hinaus, weil er eine Miniatur der technischen Entwicklungen des Films jener Zeitspanne ist. Er zeigt die ökonomischen Hintergründe auf, die Gewöhnung des Publikums an das neue technische Medium Film und die Bildung immer komplexer werdender oder zumindest immer komplexer gestalteter Narrative.

204 Dick Tracy, USA 1937, TC 16:57.

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6.2 Die Kinoserie ‒ „Bastard of art“ 205 Die Kinoserie spielt eine essentielle Rolle in der Geschichte der seriellen Narration ‒ und sie ist zugleich ein wichtiger und häufig vergessener Teil der US-amerikanischen Film- und Populärkultur-Geschichte.206 Erneut ist zu beobachten, wie der bereits damals schlechte Ruf des jeweiligen seriellen Formats zum heutigen Vergessen beiträgt. Bereits ab Mitte der 1920er Jahre wird die Kinoserie als Format für Kinder deklassiert. Von Anfang an wird sie als Kommerzprodukt betrachtet. Schon 1916 ist im The New York Dramatic Mirror zu lesen: „I am the serial. I am the black sheep of the picture family and the reviled of critics. I am the soulless one with no moral, no character, no uplift. I am ashamed...Ah me if I could only be respectable. If only the hair of the great critic would not rise whenever I pass by and if only he would not cry. ‚Shame! Child of commerce! Bastard of art!‘“207

Dabei ist die Kinoserie filmhistorisch betrachtet eine wichtige Brücke: Sie verlängert die Narration der ganzheitlichen Kurzfilme und gewöhnt damit auch den Rezipienten an längere Erzählungen eines Feature-Films. Die Kinoserie verbindet die Nickelodeons mit den modernen Lichtspielhäusern. Durch das zeitgleiche Veröffentlichen in alten technischen Medien und dem neuen Medium Film, durch die Übernahme literarischer und anderer Stoffe lockt sie Rezipienten ins Kino und gewöhnt sie mittels der Fortsetzungen an einen häufigeren, zum Ritus werdenden Kinobesuch.208 Auch die Nachwirkung der Kinoserie auf die US-amerikanische Populärkultur ist unterschätzt. Als Beispiel für serielles Erzählen hat 1001 Nacht zahlreiche Kinder und unter ihnen auch spätere Autoren wie William Makepeace Thackeray und Hugo von Hofmannsthal inspiriert209 ‒ ähnlich prägte die Kinoserie durch das Zielpublikum

205 Siehe Fußnote 207. 206 Vgl. Cline: In the Nick of Time, 1984, S. XI. 207 „The Serial Speaks“, In: The New York Dramatic Mirror, 19.8.1916. Zitiert nach: Singer: „Die Serials“. In: Nowell-Smith u. a. (Hg.): Geschichte des internationalen Films, 1998, S. 98. 208 Außerdem hat die Kinoserie berühmte Talente hervorgebracht, zum Beispiel John Wayne. John Waynes Karriere hatte in drei Fortsetzungs-Kinoserien ihren Ursprung: The Shadows of the Eagle (USA 1932), The Hurricane Express (USA 1932) und The Three Musketeers (USA 1933). 209 Siehe: Fröhlich: 1001, S. 49‒63. Das Interesse der Kinder an 1001 Nacht war allerdings vorwiegend ein anderes als das des jugendlichen Publikums an der Kinoserie.

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der Kinder und Jugendlichen mehrere Generationen von Filmbesuchern.210 Der USamerikanische Filmjournalist William C. Cline berichtet über seine ersten Filmerlebnisse anhand des wöchentlichen Besuches von Kinoserien und schlussfolgert: „[T]he millions of ‚grown-up kids‘ who will recall the time when they first became interested in movies through an experience similar to mine know that the ‚continued‘ deserves examination. If in the lives of many movielovers it was not always the ‚big shot‘ of their entertainment, it was at least the ‚trigger‘.“211

Viele Comic-, Hörspiel- und pulp-Helden wurden durch die Kinoserie zum US-amerikanischen Kulturgut. Dick Tracy, Tarzan, The Lone Ranger und Flash Gordon (sowie Zorro und Captain Marvel) wurden Bestandteile der amerikanischen (Pop-)Kultur ‒ zahlreiche Verfilmungen der letzten Jahre zeigen: Sie sind es noch immer.212 Zwar liegt der Anfang aller dieser Helden in den gleichnamigen Comics, pulps oder Radiohörspielen, aber die große Popularität brachten häufig erst die Kinoserien.213 In einer Analyse der Kinoserie sind viele Grenzüberschreitungen, Beeinflussungen und ein Zusammenwirken verschiedener sozialen Medien zu beobachten. Die technischen Medien Zeitschrift, Buch, pulp, Comic, Hörspiel und Film haben bei den Kinoserien Stoffe voneinander übernommen. Die sozialen Medien haben oftmals in der Werbung und Publikation ‚kollaboriert‘ ‒ die Geschichten erschienen teilweise zeitgleich in einem Magazin, als Comic und Kinoserie. Die Auflagen der Zeitschriften, die einen Fortsetzungsroman veröffentlichten, stiegen häufig deutlich durch eine gleichzeitige Kino-Publikation. Kinder konnten ihre geliebten Protagonisten sowohl als Comic- als auch als Kino-Helden verfolgen. Cross-Marketing und Cross-MediaMarketing waren von Anfang an wichtige Teile des Erfolgs der Kinoserie. Womöglich ist einer der Faktoren für das ‚Aussterben‘ der Kinoserie auch dem Umstand geschuldet, dass zum Ende hin die Kinoserie diese Wurzeln vernachlässigte ‒ gerade moderne Fernseh- und Kinomehrteiler nutzen Cross-Media-Marketing wieder intensiv.214 210 Beispielsweise verhehlte Steven Spielberg nicht, zahlreiche Elemente von Kinoserien für seine Indiana Jones-Filme übernommen zu haben. Vgl. Coghlan: „Foreword“. In: Cline (Hg.): Serials-ly Speaking, 2000, S. XI. 211 Cline: In the Nick of Time, 1984, S. XI. 212 Beispiele: Lone Ranger (USA 2013), Captain America (USA 2012), The Mask of Zorro (USA 1998) usw. 213 Siehe: Gumpert: „The Wrinkle Theory“. In: Drucker u. a. (Hg.): American Heroes in a Media Age, 1994, S. 57. 214 Heutzutage wird bei Fernsehserien sogar häufig sogenanntes virales Marketing eingesetzt. Der Begriff ‚virales Marketing‘ beschreibt eine Form der Werbung im Internet, die

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Die seriellen Werke jener Zeit schulten und aktivierten ihr Publikum. Zum einen wurden die Rezipienten (teilweise mittels Preisausschreiben) animiert zu antizipieren, sich den Fortgang einer Geschichte oder den Abschluss einer Erzählung auszudenken. Zum anderen wurden die Rezipienten zum Medienwechsel aufgefordert: Der Leser, der die pulp-Veröffentlichung von Tarzan schätzt, wird höchstwahrscheinlich auch zu einem Zuschauer der Tarzan-Kinoserien und zu einem Comicleser der Tarzan-Strips; der Zuhörer der Lone-Ranger-Hörspiele verfolgt womöglich auch die filmischen Abenteuer seines Helden. „Even as narrative film was working to manufacture an increasingly captive audience, the serials were mobilizing an active audience to engage the narrative across multiple media, participating in the process of making meaning (and even plot) out of these serial pieces.“215 So wurde nicht nur eine Kernkompetenz des transmedialen Storytellings geschult, einer Erzählung über alle Mediengrenzen hinweg auf der Spur zu bleiben, sondern auch die Grundkompetenz jedes seriellen Rezipierens: sich aus Teilen ein Ganzes zusammensetzen. Deshalb ist der Cliffhanger in all seinen Facetten jener Zeit die wichtigste Erzähltechnik. Er ist der Lieferant für Antizipation, die zum Zusammensetzen der narrativen Puzzleteile und zugleich zur transmedialen Grenzüberschreitung motiviert. In einem offenen Brief an Filmproduzenten in Hollywood von 1924 kritisiert der Autor und Kulturkritiker Gilbert Seldes die Feature-Film-Produktionen seiner Zeit und beschreibt anhand der Kinoserie, was seiner Meinung den Film auszeichnet. „The Exploits of Elaine, the whole Pearl White adventure, the thirty minutes of action closing on an impossible and unresolved climax were, of course, infinitely better pictures than your version of Mr. Joseph Conradʼs Victory [...]; you hadnʼt heard of psychology, and drama, and art; you were developing the camera. You bored us when your effects didnʼt come off and Iʼm afraid amused us a little even when they did. But you were on the right road. […] I recall movement, which was excellent.“216

Seldes stellt vor allem die Darstellung von Bewegung und den bewegten Kamerablick als die wichtigsten Qualitäten des Films hin. Seiner Meinung nach setzt die Kinoserie diese Charakteristiken besonders intensiv und überzeugend ein: „Ever since film stated aspiring to become ‚art‘, Seldes argues, it has gone wrong, misled hauptsächlich über private Netzwerke funktioniert. (Vgl. Reiter: Aspekte und Ausprägungen des viralen Marketing im Internet, 2008, S. 6.) Siehe bspw. zum viralen Marketing der Serie True Blood: Vgl. Anyiwo: „Itʼs Not Television, Itʼs Transmedia Storytelling“. In: Cherry (Hg.): True Blood, 2012, S. 166. 215 Gardner: Projections, 2012, S. 35. 216 Seldes: „An Open Letter to the Movie Magnates (1924)“. In: The 7 Lively Arts, 2001, S. 327–328.

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by those who love theater or novels more than movies into trying to make film mimic dead ‚arts‘.“217 Letztendlich behauptet Seldes, dass die Kinoserie dem technischen Medium entsprechender ist als viele der damaligen Feature-Filme, wie die von ihm genannte Literaturverfilmung von Joseph Conrads Victory (USA 1919). In diesem Kontext wird der Cliffhanger umschrieben und dabei als Inbegriff der Spannung, Bewegung und Action angeführt. Man könnte Seldesʼ Argumentation fortsetzen und überhöhen, indem man diese Erzähltechnik als Nukleus der von ihm beschriebenen filmischen Qualitäten bezeichnet: Sie vereint die als genuin filmisch beschriebenen Charakteristiken von Bewegung beziehungsweise Unterbrechung der Bewegung und Spannung. Sicherlich ist Seldesʼ Darstellung einseitig und subjektiv ‒ noch in der Frühphase des Films formuliert, wird sie durch den historischen Kontext relativiert. Und selbst wenn Seldesʼ Aussagen einen wahren Kern haben, vergisst er, dass Erzählungen in technischen Medien immer gegen die ihnen auferlegten Grenzen aufbegehren können.218 Außerdem ignoriert Seldes, dass man durch Bewegung wesentlich mehr zeigen kann als nur Action und gerade das Fehlen einer deutlichen Bewegung narrativ aussagekräftig sein kann. Vermutlich hat er noch keine Literaturverfilmung gesehen, bei der das Wandern über verschiedene Mediengrenzen spannend ist, weil so nicht nur die unterschiedlichen Produzierenden, sondern auch die unterschiedlichen Medien den Stoff verschieden interpretieren und umsetzen und durch diese Entfaltungen den Stoff als solchen reicher werden lassen. Letztendlich hat auch der Cliffhanger eine solche Medienwanderung zurückgelegt. Die Typen, Formen, Mittel und Kontexte machen ihn zu einer autonomen, komplexen und ästhetisch wertvollen Erzähltechnik. Dennoch kann man aus Seldesʼ Aussage eine Qualität der mit Cliffhangern erzählten Kinoserien herausfiltern. In den Kinoserien findet eine Konzentration auf Bewegung und Action statt. Sie vermag es, erzählökonomisch aufs Wesentliche reduziert, Bewegung und Aktion darzustellen. Die Erzähltechnik des Cliffhangers zeigt in diesem Zusammenhang eine Kernkompetenz, gewissermaßen die magische Kraft des Films: Die Abfolge der 24 Bilder pro Sekunde erzeugt eine Bewegung, weshalb der Film gerade in den Anfängen häufig als „moving pictures“ umschrieben wurde.219

217 Gardner: Projections, 2012, S. 29. 218 Siehe Kapitel: III. 1.2 „The medium is not the message, the medium is its own context“, S. 95. 219 So schreibt Nancy Mowll Mathews in ihrer Einleitung zum Sammelband Moving Pictures: „The term moving pictures, rather than cinema or movies, is used here because it is the strongest reminder that films were first and foremost pictures in the minds of the earliest generation of filmmakers and viewers.“ Mathews: „Introduction“. In: Dies. u. a. (Hg.): Moving Pictures, 2005, S. 2.

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Der Cliffhanger unterbricht diesen Bewegungsfluss ‒ und macht damit die Bewegung, den Weiterfluss der Bilderfolge umso spannender. Besonders im Tonfilm bedeutet er eine Unterbrechung in allen systemischen Medien und Bestandteilen des Hybridmediums Film: Mit einem Cliffhanger im Film wird nicht nur der Erzählfluss, sondern damit auch der Weiterfluss der Bilder, der Dialoge, der Musik und der Handlung unterbrochen. Es findet in jedem der Zeichensysteme ein Cliffhanger statt. Für den Film-Rezipienten geht es somit ‒ wie von André Bazin beschrieben und bereits am Anfang des Kapitels zitiert ‒ nicht nur um eine Handlungsfortsetzung, sondern um eine Weiterführung des Erzählflusses und Traumerlebnisses: „Cette histoire, à laquelle le public ne comprenait rien, sʼimposait à son attention et à son désir par la seule et pure exigence du récit. […] Dʼoù le malaise insupportable provoqué par ‚la suite au prochain numéro‘ et lʼattente anxieuse, non pas tant des événements suivants, que lʼécoulement dʼun récit, de la reprise dʼune création suspendue. […] Lʼun comme lʼautre ont besoin dʼéprouver la puissance du charme par son interruption, de savourer la délicieuse attende du conte qui se substitue à la vie quotidienne, laquelle nʼest plus que la solution de continuité du rêve.“220

Wenn der Film den Zuschauer in einen Traumzustand versetzt ‒ wie häufig in der Filmtheorie behauptet221 ‒ dann bedeutet der Cliffhanger ein abruptes, zu frühes Erwachen. Dieses zu frühe Erwachen erweckt gleichfalls umso mehr den Wunsch, in das Traumerleben zurückzukehren. Nicht nur aufgrund der Häufigkeit des Cliffhangers in der Kinoserie, sondern auch aufgrund der beschriebenen Wirkung ist der Begriff ‚Cliffhanger‘ auch als Bezeichnung des Kinoserien-Formats passend: Die Verzauberung durch die Cliffhanger-Kinoserie ist letztendlich ein Werk des Zauberstabs Cliffhanger.

220 Bazin: „Pour un Cinéma impur“. In: Quʼest-ce que le cinéma?, 1993, S. 86–87. 221 Vgl. Kracauer: „Die Errettung der physischen Realität (1960)“. In: Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, 1990, S. 245. Immer spielt in den Vergleichen, die zwischen Filmerleben und Traum gezogen werden, das Aufwachen eine besonders große Rolle: „Filme müssen analysiert werden, weil es sich beim Spielfilm um eine emotionales Erlebnis, eine Art Traum handelt, aus dem man gleichsam erwacht“. Faulstich: Grundkurs Filmanalyse, 2013, S. 20. Gerade was das Erwachen angeht, dass mit dem Traumerleben des Films einhergeht, bedeutet der Cliffhanger ein zu frühes Erwachen, das um so mehr das Verlangen nach einer Fortsetzung weckt: „Jeder Film schließt sich ab, bewahrheitet das Imago [sic] des Spielfilms als jeweils singuläre Ganzheit einer vom gesellschaftlich Realen befreiten Insel aus Raum und Zeit. […] Was bleibt, ist daher ähnlich dem Gefühl beim Erwachen aus einem tiefen Traum“. Kötz: Der Traum, die Sehnsucht und das Kino, 1986, S. 12.

VIII. Seifenopern „In the preface to what remains one of the most useful analyses of soap operas, James Thurber described ‚soapland‘ in 1947 as ‚a country so vast and complicated that the lone explorer could not possibly hope to do it full justice.‘ Today, over thirty-five years later, the soap terrain is more vast than Thurber could have imagined. [...] [T]oday the soap opera remains to us […] a place about which much is said but little known.“ ALLEN: SPEAKING OF SOAP OPERAS, 1985, S. 3–4.

1. K ONTEXT 1.1 Einleitung Der Cliffhanger wird häufig mit der Seifenoper assoziiert.1 Da dieses Genre2 somit sehr prägend für die Wahrnehmung des Cliffhangers ist, darf in dieser Studie eine Analyse der Entwicklung der Seifenoper nicht fehlen. Inzwischen hat dieses Genre eine fast neunzigjährige Geschichte, die es zu überschauen gilt, da sich der Einsatz von Cliffhangern innerhalb dieser Zeitspanne zwangsläufig verändert hat. Der Anfang der US-amerikanischen soap opera ist eng verbunden mit dem Aufstieg des

1

Bspw.: „Die Cliffhanger-Dramaturgie wurde insbesondere für das Fernsehgenre der Soap Opera kultiviert.“ Neumann: „Cliffhanger“. In: Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, 2002, S. 100.

2

Auch wenn die Seifenoper Charakteristiken eines Ausstrahlungsformats hat (siehe auch S. 385 und zum Begriff ‚Format‘ allgemein: Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, 2010, S. 152), wird sie meistens als Genre bezeichnet (siehe z.B.: Ford u. a. (Hg.): The Survival of Soap Opera, 2011, S. 5), weshalb ich mich im Folgenden auf die Klassifizierung und Bezeichnung als Genre beschränke.

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technischen Mediums Radio in den 1930er Jahren. Als in den 1950er Jahren das Fernsehen in Konkurrenz zum Radio tritt, verlagert sich das Genre zum großen Teil dorthin. Es muss sowohl analysiert werden, wie sich der Einsatz der Erzähltechnik über die Jahrzehnte hinweg entwickelt, als auch, wie er sich aufgrund des Medienwechsels verändert hat. Vor der diachronen Analyse müssen einige Herausforderungen berücksichtigt werden, welche die wissenschaftliche Betrachtung der Seifenoper mit sich bringt. Eine Schwierigkeit dieser Auseinandersetzung besteht in der Vielzahl an Serien mit ihrer unüberschaubaren Menge an Folgen.3 Um die Werkauswahl einzuschränken, konzentriere ich mich auf die US-amerikanische Ausprägung.4 Zwar ist die Seifenoper ein internationales Genre, doch sein Beginn ist in den USA angesiedelt, und die US-amerikanische Seifenoper hatte die größte Breitenwirkung.5 Eine weitere Problematik besteht darin, dass, trotz der Masse der Mikrotexte, besonders von den ersten Seifenopern nur einzelne und insgesamt wenige Episoden erhalten sind. Das liegt zum einen daran, dass viele Jahre lang die Radio- und FernsehSeifenopern live gesendet wurden – Rezeption und Ausstrahlung sind damals einmalig und damit flüchtig; sie hätten also für eine Archivierung eigens aufgenommen und konserviert werden müssen. Zum anderen hängt diese spärliche Archivierung erneut 3

Zwei größere Bereiche der Forschung zu Seifenopern werden von mir kaum berücksichtigt. Zum einen gibt es einige Sekundärwerke zu Genderthemen. (Wegweisend: Geraghty: Women and Soap Opera, 1991. Wichtige Nachfolger: Brunsdon: „The Role of Soap Opera in the Development of Feminist Television Scholarship“. In: Allen (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 49–65; Blumenthal: Women and Soap Opera, 1997; Spence: „Watching Daytime Soap Operas: The Power of Pleasure“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 77–88; Anger: Other Worlds, 1999; Scodari: Serial Monogamy, 2004). Zum zweiten beschäftigten sich einige Werke mit der Wirkung von Seifenopern und der Zusammensetzung des Seifenopern-Publikums. (Siehe z.B.: Wiegard: Die Soap Opera im Spiegel wissenschaftlicher Auseinandersetzung, 1999; Spence: Watching Daytime Soap Operas, 2005.)

4

Seifenopern und Telenovelas anderer Länder zu betrachten böte einen großen Reiz – dabei müssten jedoch stets die stark unterschiedlichen Produktions- und Distributionsbedingungen berücksichtigt werden. Die Kontextualisierung dieses Kapitels würde endlos und eine historische Nachzeichnung der Erzähltechnik des Cliffhangers in der Seifenoper erschweren. Die US-amerikanischen Seifenopern werden als stilprägend angesehen, da zumindest die späteren häufig in andere Länder importiert wurden. Robert C. Allen geht der Seifenoper und der Telenovela international in dem Sammelband To Be Continued…(1995) und in dem Aufsatz „As the World Tunes In“ nach. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 111–120. (Siehe auch: Matelski: Soap Operas Worldwide, 1999; Bielby u. a.: Global TV, 2008.)

5

Vgl. ebd., S. 15.; Hobson: Soap Opera, 2003, S. 7.

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mit der Fülle an Seifenopern-Folgen zusammen. Serielle Narration steht generell unter dem Verdacht der industriellen Fertigung und ist deshalb lange Zeit abgewertet worden6 ‒ die Seifenoper hat aufgrund der zahllosen Episoden, des fehlenden Abschlusses der Makrotexte und der langen Laufzeit einzelner Serien einen noch viel schlechteren Ruf.7 Die einzelne Folge einer Seifenoper erfährt deshalb allgemein keine Wertschätzung. Eine Aufbewahrung erscheint unnötig.8 Auch heutzutage ist das Betrachten von aktuellen Folgen nach ihrem Ausstrahlungstermin schwierig; im Gegensatz zu anderen narrativen Fernsehsendungen werden Mikrotexte einer Seifenoper nur sehr selten wiederholt oder auf Trägermedien wie der DVD veröffentlicht.9 „Since soap opera is a form of merchandising rather than of art, the records of its beginnings are somewhat vague. It waited fifteen years for serious researchers, and it has had few compe-

6

Siehe Kapitel: II. 2.1 „Der schlechte Beigeschmack der Worte ‚Serie‘ und ‚Serialität‘“, S. 47.

7

„Many claim there is little morally or educationally uplifting about soap opera; soaps do not inspire us the way a good dramatic work should. It is true that soap opera is easy to attack as a dramatic art because it seems to offer nothing except emotional self-indulgence. Little or no imagination is required. […] It requires no special effort, nor special knowledge or preparation.“ Cathcart: „Our Soap Opera Friends“. In: Gumpert (Hg.): Inter/Media, 1986, S. 208–209. So wie sich eine Unüberschaubarkeit des „soapland“ von Anfang an abzeichnet, etabliert sich früh die Herabwürdigung der Seifenoper. Prägend in der Betrachtung der Seifenoper ist Dr. Louis Bergs Einschätzung von 1941, vor allem, weil er eine der ersten wissenschaftlichen Studien zur Wirkung der Seifenoper veröffentlicht: „New York psychiatrist Dr. Louis Berg compared the repetitiveness of the soaps to Hitler’s propaganda machine, claiming that each was corrupting the human nervous system.“ Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 20; Blumenthal: Women and Soap Opera, 1997, S. 37. Als Synonym für den abschätzigen Begriff ‚Soap Opera‘ wird teilweise ‚washboard weepers‘ benutzt. (Siehe: Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 20).

8

„[U]ntil the mid-1960s Guiding Light (like all soap operas) was transmitted live, and even with the advent of videotaping individual episodes are rarely saved.“ Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 13.

9

„Unlike other narrative television, a soap opera episode is seldom broadcast more than once. In addition, while the commercial sale of television on DVD is becoming a more readily available option, the sheer volume of episodes that constitutes a soap opera has thus far rendered these shows unsuitable for DVD release thus far, a reminder that the content available for sale in this format is only a narrow slice of the scope of television history.“ Wilson: „Preserving Soap History“. In: Ford u. a. (Hg.): The Survival of Soap Opera, 2011, S. 140.

376 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION tent critics. Almost none of the serial writers has saved his scripts. If the more than four thousand scripts (eight million words) of ‚Just Plain Bill‘, the oldest serial now on the air, had been saved, they would fill twenty trunks and the entire wordage of soap opera to date, roughly two hundred and seventy-five million words, would fill a good-sized library.“10

Die Werkauswahl wird also von den spärlich erhaltenen frühen Folgen mitbestimmt. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Seifenoper wird zusätzlich dadurch erschwert, dass die Seifenoper lange Zeit von kaum einem Wissenschaftler einer Analyse für würdig befunden wurde ‒ angesichts der fast 90jährigen Geschichte des Genres kann nur auf wenig Forschungsliteratur zurückgegriffen werden.11 Aber nicht nur die Seifenopern selbst werden immer wieder als Ausdruck des schlechten Geschmacks und der Zeitverschwendung gesehen, die Bezeichnung ‚Seifenoper‘, in der Triviales (in den Werbeblöcken beworbene Haushaltsmittel) und Hochkulturelles (Oper) in offenbar spöttischer Absicht zusammengespannt werden, ist längst zu einem Topos für übertriebene Dramatik geworden.12 Ebenfalls am schlechten Ruf der Seifenoper beteiligt ist ihre Verbindung zur Werbung, die erst zur Bezeichnung ‚Seifen-Oper‘ führt. Diese enge Assoziierung führt dazu, dass die Seifenoper bald in der Betrachtung auf ein narratives Vehikel für Werbung und den jeweiligen Sponsor reduziert wird. „I address the paradox of the soap opera’s cultural status in the US: on the one hand, the soap opera is the most successful broadcast advertising vehicle ever devised; on the other hand, it is among the most disdained forms of popular culture of the last half century.“13 Die von Ron Simon benannten beiden Faktoren bedingen einander: Gerade weil die Seifenoper ein außergewöhnlich erfolgreiches Werbemittel ist, hat sie einen so schlechten Ruf.14 10 Thurber: „O Pioneers“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 42. Ursprünglich veröffentlicht im New Yorker am 15.05.1948. 11 In den meisten dieser Werke rechtfertigen sich die Wissenschaftler zunächst. (Siehe bspw.: Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 8). „[S]oap bashing“, wie Marilyn J. Matelski das immer wieder und wieder auftretende Verunglimpfen von Seifenopern in ihrer Studie Soap Operas Worldwide von 1999 nennt, ist ein ‚beliebter Sport‘. Vgl. Matelski: Soap Operas Worldwide, 1999, S. 1; Allen: „Why do they say such terrible things about Soap Operas?“. In: Ders. (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 1–6. „To many, ‚soap opera‘ is a synonym for bad acting, ridiculous plotting, overwrought dialogue, and low production values“. Ford u. a. (Hg.): The Survival of Soap Opera, 2011, S. 7. 12 Siehe bspw. einen Artikel auf Spiegel Online von Fabian Reinbold: „Italiens Politik als Seifenoper: Berlusconis große Comeback-Show.“ http://www.spiegel.de/politik/ausland/ berlusconi-inszeniert-sein-comeback-a-845917.html [vom 19.03.2013]. 13 Allen: „Introduction“. In: Ders. (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 7. 14 „While soap operas have obtained economic legitimacy by being acceptable commercial products, they have not achieved aesthetic legitimacy because they are generally not seen

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Spätestens seit 2009 sind die Grenzen und die Endlichkeit des bis zu jenem Zeitpunkt uferlos erscheinenden „soapland“ erkennbar. The Guiding Light, die Seifenoper, die in das Buch der Guinness World Records als die längste Erzählung aller Zeiten aufgenommen wurde, lief ab 1937 mit nur wenigen Pausen ununterbrochen bis 2009. So wie The Guiding Light wurden viele Seifenopern aufgrund schlechter Einschaltquoten in den letzten Jahren abgesetzt.15 Durch die zahlreichen Absetzungen wird den endlosen – in der deutschen Wissenschaft auch als ‚Endlosserien‘16 bezeichneten – Seifenopern ein Ende gesetzt. Das erleichtert eine wissenschaftliche Aufarbeitung. Die Gründe für die schlechten Zuschauerzahlen bei heutigen Seifenopern werden unter anderem darin gesehen, dass die Strukturen und Charakteristiken der Seifenoper sich längst in anderen, aufwändiger produzierten und komplexeren Genres und Serien manifestiert haben und dort gewissermaßen inkognito die Geschichte der Seifenoper fortführen;17 vor allem der ensemble cast18 zeigt sich dabei als wesentlicher Bestandteil zahlreicher moderner Fernsehserien.19 Umso wichtiger

as works of art.“ Scardaville: „High Art, No Art“. In: Poetics: Journal of Empirical Research on Culture, the Media and the Arts, August 2009, S. 367. 15 Vgl. Ford u.a. (Hg.): The Survival of Soap Opera, 2011, S. 4–7. Auch in Deutschland wurde Marienhof, eine seit 1992 laufende daily soap, 2011 beendet. „[S]oap opera ratings have been declining for more than a decade […]. Today, all soaps are struggling to figure out who is actually watching, how to attract and retain new viewers while not losing long-term fans, and how best to capitalize on the deep histories of narratives that have been airing for decades.“ Ford u. a.: „Introduction“. In: Ders. u. a. (Hg.): The Survival of Soap Opera, 2011, S. 3. Eine ähnliche Feststellung macht bereits 1999 Marilyn Matelski. Sie zieht einen Bericht des Journalisten Curt Schleier heran, der die Ratings von US-amerikanischen Seifenopern von 1987 mit denen von 1997 vergleicht. Matelski: Soap Operas Worldwide, 1999, S. 40. 16 Siehe bspw. Mielke: Zyklisch-serielle Narration, 2006, S. 492. 17 Siehe: Ford u. a. (Hg.): The Survival of Soap Opera, 2011, vor allem die „Introduction“. In diesem Sammelband wird auch den mannigfaltigen Gründen für die schlechten Einschaltquoten der heutigen Seifenopern nachgegangen. 18 Mit dem Begriff ‚ensemble cast‘ wird eine filmische Erzählung bezeichnet, die eine Vielzahl an mehr oder weniger gleich wichtigen Figuren hat. Es ist also keine Hauptperson auszumachen, die Schauspieler und Schauspielerinnen dieses ensemble casts genießen meist ähnliche Prominenz. Vgl. Butler: „I’m not a doctor, but I play one on TV“. In: Allen (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 147. Auf der narrativen Ebene enthalten ensemble casts meist eine Vielzahl parallel laufender Handlungsstränge. 19 Vgl. Geraghty: „The Continous Serial“. In: Television Monograph 13: Coronation Street, 1981, S. 9–26; Ford u. a.: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): The Survival of Soap Opera, 2011, S. 3–22.

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ist eine Analyse der Seifenoper, denn sie ist längst Teil der populären seriellen Narration geworden. Außerdem ist zu beobachten, dass das Genre häufig in den Betrachtungen aufgewertet wird, seit die Seifenoper im Begriff ist auszusterben.20 Vereinzelt wird sogar beklagt, welch traditionsreiche Erzählform nun verschwinde und wegen der mangelhaften Archivierung größtenteils für immer verloren gehe.21 Für eine Analyse der Cliffhanger im Genre der Seifenoper muss nicht das „soapland“ in seiner ganzen Weite abgeschritten werden. Es sollen exemplarisch einige Formen von Cliffhangern analysiert und ihre besondere Verbindung zur Werbung aufgedeckt werden. Für eine Herausarbeitung der Evolution der Cliffhanger-Erzähltechnik und des Gebrauchs unterschiedlicher Zeichensysteme ist es wichtig, die Geschichte der Seifenoper anhand einiger weniger, aussagekräftiger Beispiele nachzuzeichnen. 1.2

Historischer Hintergrund: Die Heirat zwischen Werbung und Narration

1.2.1 Technische und finanzielle Hintergründe In der Fernsehserie Boardwalk Empire spaziert in den 1920er Jahren das junge Ehepaar Jimmy und Angela Darmody den titelgebenden Holzsteg entlang, eine Promenade, gebaut über den Strand von Atlantic City; sie sind umgeben von dem verführerischen und bunten Treiben der Vergnügungsmeile. Jimmy:

[Die Kamera zeigt das Paar in Nahaufnahme und fährt rückwärts.] Wireless. [Pause.] Look at that.

Angela:

There’s music everywhere suddenly.

Jimmy:

[Am rechten Bildrand erscheint in der Rückwärtsbewegung ein Verkaufsstand mit Radios, auf den die beiden zusteuern.] We should get one.

20 Vgl. Scardaville: „High Art, No Art“. In: Poetics: Journal of Empirical Research on Culture, the Media and the Arts (2009), S. 366–382; Ford u. a.: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): The Survival of Soap Opera, 2011, S. 3–22. 21 So machen die Herausgeber in ihrem Vorwort zu The Survival of the Soap Opera zwar deutlich, welche Elemente moderne Fernsehserien von der Seifenoper übernommen haben, womit Teile des Seifenopern-Genres überleben werden, sie stellen aber abschließend klar: „If soap operas disappear, no other genre will wholly replace them. They are unique in the history of television and in the history of narrative.“ Ebd., S. 12.

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Angela:

[Schaut auf Jimmy.] It would be really nice for Tommy [d.i. ihr Sohn]. We could introduce him to the classics without having to spend a fortune on records. I also read that the immigrants are using it to learn English. It was in the newspaper.22

Der Zuschauer könnte von Jimmys Aussage „Wireless“ irritiert sein, denn Handys oder Wireless-Lan sind noch nicht erfunden. Worauf sich die Aussage bezieht, ist innerhalb des Bildkaders zunächst nicht zu entdecken. Als der Radio-Verkaufsstand am rechten Bildrand erscheint, wird klar, dass das Radio gerade modern und bezahlbar wird. Die Zeit der 1920er Jahre ist recht früh gewählt für den Siegeszug des Radios in den USA. Angelas Argument, mit dem Erwerb eines Radios spare man die Ausgaben für Schallplatten, wird jedoch sogar von Historikern als eine der Begründungen für die enormen Absatzzahlen von Radioapparaten angesehen: „Ironically, the Great Depression contributed considerably to the growth of network radio and, as a result, to the development of radio as a direct-sale advertising vehicle. Most other entertainment industries were damaged by the economic contractions and dislocations of early 1930s. […] All […] entertainment industries depended upon direct and repeated consumer outlay. Once the initial investment was made in a radio receiver, however, the consumer could enjoy, in the words of Broadcasting magazine, ‚the least expensive form of entertainment ever made available to man.‘ […] Faced with a choice of making one expenditure for radio receiver, with which one could then enjoy unlimited ‚free‘ programming, or of paying each week for a new record, magazine, or movie ticket, many Depression-era families chose the former. Between 1930 and 1932 Americans purchased 4.6 million radio receivers.“23

Das Radio findet trotz der Great Depression in den USA großen Absatz, weil es vom Konsumenten – im Gegensatz zu Kino, Magazinen, Zeitungen und Fortsetzungs-Comics – nur eine einmalige Investition erfordert. Für den Rezipienten serieller Narration ist das technische Medium Radio von wichtigem finanziellem Vorteil gegenüber den bisherigen Trägermedien. Bei den Fortsetzungsromanen, Frauenmagazinen, Comics und Kinoserien musste man immer wieder für den jüngst erschienen Mikrotext zahlen. Der Cliffhanger diente den Produzenten als Anreiz, den Zuschauer zum Kauf der nächsten Folge zu veranlassen. Nun erscheint mit dem Radio ein Gerät, mit dessen Erwerb weitere Bezahlungen für Inhalte abgegolten sind. Was für den Käufer 22 Boardwalk Empire, S2E6, 2010‒, TC 21:13–22:30. Es ist tatsächlich anzunehmen, dass eine ganze Reihe von Einwanderern mit den Seifenopern Englisch lernten. Da in Seifenopern alltägliche Ereignisse stattfinden, sie Alltagssituationen zum Gegenstand haben, in normalen Mittelklasse-Haushalten spielen und darüber hinaus in relativ leicht verständlicher Sprache gesprochen werden, boten sie perfekte Sprachschulen. Vgl. Matelski: Soap Operas Worldwide, 1999, S. 2. 23 Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 103.

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finanziell vorteilhaft ist, zwingt den Produzenten, neue Finanzierungsmodelle zu finden. Bereits am 28. August 1922 wird der erste Werbebeitrag im US-amerikanischen Radio gesendet.24 Ebenfalls 1922 gründet der nordamerikanische Telekommunikationskonzern AT&T die erste Radiostation, bei der man gegen Bezahlung die Ausstrahlung einer eigenen Nachricht in Auftrag geben kann, so genanntes toll broadcasting.25 Der Erwerb von Ausstrahlungszeit und Reklame ‒ dies werden die zwei Grundpfeiler des US-amerikanischen Broadcasting-Systems. Zwar kommt schnell massive Kritik an der Kommerzialisierung des Radios auf,26 aber ungeachtet dessen breiten sich Radiowerbung und der Kauf von Sendezeit stetig aus und werden zur vorherrschenden Sende-Praxis des neuen technischen Mediums. Bis Mitte der 1920er Jahre wird das Radioprogramm nur von kleinen lokalen Sendern gestaltet – bei einem derart kleinen Sendebereich lohnt sich für überregional tätige Firmen und Sponsoren die Investition in Werbung nicht. Hinzu kommt, dass, verursacht durch die rasch wachsende Zahl von Sendern, die Empfangsinterferenzen und das Chaos zunehmen, was die größeren Firmen davon abhält, Werbeverträge mit den Radiostationen zu schließen. Mit dem Radio Act von 1927 und der Gründung der Federal Radio Commission (FRC) wird für das kommerzielle nationale Radio das nötige institutionelle Fundament geschaffen.27 Die FRC bringt Ordnung in das Chaos. Sie systematisiert die Empfangsbereiche, ordnet Radiosendern bestimmte Rundfunkwellen zu und erstellt allgemein gültige Richtlinien: „The FRC and later the FCC were given the power to revoke licenses. The FRC in 1927 eliminated stations that were no longer operating, moved station frequencies and required reduced power to

24 „The first advertisement aired over WEAF on August 28, 1922, when a local real estate bought ten minutes for fifty dollars to sell apartments. The instant business success led to other advertisers buying time, and the age of the commercial message was born.“ Finkelstein: Sounds in the Air, 1993, S. 8. Siehe auch: Cox: American Radio Networks, 2009, S. 10–11. 25 Vgl. Cantor u. a.: The Soap Opera, 1983, S. 33. 26 Vgl. Swasy: Soap Opera, 1994, S. 110. 27 Vgl. Cantor u. a.: The Soap Opera, 1983, S. 33. „Hoover and his Department of Commerce personnel laid the technical and legal foundation for commercial broadcasting. They made policy decisions during this period of regulatory development by giving attention to favoring large, well-funded companies that resulted in the development of corporate capitalistic broadcasting.“ Bensman: The Beginning of Broadcast Regulation in the Twentieth Century, 2000, S. 208. 1934 wurde das FRC vom FCC (Federal Communications Commission) abgelöst, das auch heute noch das amerikanische Network-Radio und Network-Fernsehen beaufsichtigt und zum Teil kontrolliert. Siehe zum FCC auch Kapitel: IX. 1.2 „Hintergründe: Das US-amerikanische Broadcasting-System“, S. 455.

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lessen interference.“28 The National Broadcasting Company (NBC) wird 1926 gegründet,29 das Columbia Broadcasting System (CBS) 1927. Sie bieten auch großen Firmen den angemessenen und zuverlässigen Rahmen für Werbung und Sponsoring: ein nationales Publikum und ein klares Empfangssignal.30 Auf der Grundlage des Radio Act von 1927 wird 1928 eine Direktive erlassen, die General Order 40, die den kommerziellen Gründungsgedanken des US-amerikanischen Broadcasting-Systems verdeutlicht: „In 1928, General Order 40 developed a framework that created a preferred category of ‚general public interest‘ stations – commercial stations selling time to any and all – and gave such stations higher power and more favorable frequency allocations. Those owned and operated by nonprofits, schools, religious and social organizations, and political groups – including labor unions – were classified as ‚propaganda‘ stations: stations committed to representing only one point of view or set of interests and thus not open to the general public. These stations were to be discouraged, and many of them soon found themselves assigned to shared frequencies operating on the lowest power. […] This distinctly American conception of the public interest, privileging commercial business operations over nonprofit public service, was the exact reverse of the BBC’s definition, which considered commercial broadcasters inherently private and thus not able to operate in the service of the public.“31

Michele Hilmes arbeitet den großen Unterschied zum britischen und damit deutschen Rundfunksystem ‒ das nach dem Zweiten Weltkrieg nach dem Vorbild der BBC geschaffen wurde ‒ heraus:32 Während in Großbritannien und später auch in Deutschland ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem etabliert wird, das dem Allgemeinwohl dienen soll und sich über Gebühren finanziert, wird das US-amerikanische Broadcasting System von Anfang an auf kommerzielle Stützen gestellt und ist zusätzlich von der staatlichen Autorität der FRC abhängig. „Rather than making licensing decisions that might violate First Amendment freedoms by giving preference to one group’s point of view over another, the FRC deflected the issue by turning control of broadcasting speech over to the marketplace. Commercial stations would sell time freely to all on the basis of their ability to pay, not the content of their speech, and with many 28 Ebd., S. 217. 29 Cox: American Radio Networks, 2009, S. 9. NBC gehörte ab 1930 zu RCA (Radio Corporation of America) die somit doppelt am Radio verdienten: Zum einen an dem Verkauf des Radiogeräts und zum zweiten an dem Verkauf der Sendezeit an Werbefirmen. 30 Vgl. Cantor u. a.: The Soap Opera, 1983, S. 34. 31 Hilmes: „NBC and the Network Idea“. In: Henry u. a. (Hg.): NBC, 2007, S. 15–16. 32 Vgl. Wilke: „Die zweite Säule des ‚dualen Systems‘“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2009 (9), S. 13.

382 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION small, local stations available in every market, every voice could find an audience; this was the concept. National broadcasting, however, would be dominated from the beginning by large commercial corporations.“33

Ab 1927 wird das US-amerikanische Radioprogramm vorwiegend von Sponsoren finanziert und gestaltet.34 Bereits im ersten Jahr des Netzwerk-Programms 1926–27 besteht das Programm hauptsächlich aus Sendungen, die den Namen des Geldgebers tragen.35 Anfangs taucht der Name der Firma, welche die Sendung finanziert, nur im Titel des Programms auf ‒ noch ist es sehr ungewöhnlich, zusätzlich für ein Produkt des jeweiligen Sponsors zu werben.36 Das Finanzierungsmodell für das neue technische Medium Radio, das später mit dem Aufkommen des Fernsehens in ähnlicher Form auch für das US-amerikanische network-Fernsehen gilt, ist bereits erfunden: „Advertising agencies quickly realized the potential of radio to distribute commercial messages to national audiences. […] The networks and the advertising agencies developed a special working relationship, which shaped American broadcasting. The sale of airtime gave networks money with which to fill the broadcast day with improved, more appealing programs. The agencies, in turn, controlled specific time slots for their respective sponsors. As the single source of network revenue, advertising agencies had immense influence over the networks.“37

Das Finanzierungsmodell ist folgendes: Eine Firma beauftragt eine Werbeagentur, für sie eine Kampagne zu gestalten, eingebettet in eine zum Produkt passende Erzählung.38 „The advertising agency acted as a production company and provided the total package to a network. In addition, the agency sponsored the entire unit.“39 Die Abhängigkeit der Sender von den Sponsoren ist gewaltig: 40 Ein Großteil der Sendungen

33 Hilmes: „NBC and the Network Idea“. In: Henry u. a. (Hg.): NBC, 2007, S. 16. 34 Vgl. Cox: American Radio Networks, 2009, S. 13–15. 35 Beispielsweise wird die Donnerstagsabend-Sendung The Maxwell House Coffee Hour auf NBC Blue von der Firma Maxwell House gesponsert. Vgl. Finkelstein: Sounds in the Air, 1993, S. 9; Hilmes: „NBC and the Network Idea“. In: Henry u. a. (Hg.): NBC, 2007, S. 19. 36 Siehe: Cox: American Radio Networks, 2009, S. 15–17. 37 Finkelstein: Sounds in the Air, 1993, S. 65–66. 38 „By 1932, however; sponsors came to perceive that they – or more likely, their advertising agencies – might more successfully produce programs ‚allied with their selling thought‘ than could a network whose loyalties were divided.“ Hilmes: „NBC and the Network Idea“. In: Henry u. a. (Hg.): NBC, 2007, S. 17. 39 Cantor u. a.: The Soap Opera, 1983, S. 35. 40 „In 1929, 33 percent of radio programming was produced by advertising agencies, 28 percent by the networks for sponsors, 20 percent solely by sponsors, and 10 percent by so

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wird von den Geldgebern und ihren Werbeagenturen produziert. Die Sender sind bei diesen Programmen ausschließlich für die Ausstrahlung verantwortlich. 1.2.2 Serielle Vorläufer der Seifenoper Die Wurzeln der seriellen Radio-Narration liegen zum Teil in den anderen ebenfalls seriell erzählenden technischen Medien ‒ wie es auch der Fall ist bei der Kinoserie. Elaine Carrington beispielsweise, eine Pionierin der Radio-Seifenoper, schreibt zuerst Geschichten für Frauen-Magazine,41 ähnlich der Fortsetzungs-Erzählung What Happend to Mary?.42 Vertonungen der Comic-Serien wie Dick Tracy oder auch die Tarzan-Romane von Burroughs werden als Radio- und Kinoserien adaptiert.43 Die sehr erfolgreiche und prägende Radioserie Amos ʼnʼ Andy (1928–1943) wird wesentlich von Sidney Smiths Zeitungs-Comic The Gumps inspiriert.44 Sie wird zum Wegbereiter der seriellen Narration im Radio und hat bereits einige Elemente der Seifenoper: Das dominante Auftreten des Sponsors innerhalb der Sendung, klar und deutlich mit der Serie verknüpft, und eine (allerdings recht lose) fortlaufende Handlung. „The tremendous success of Amos ʼnʼ Andy, however, demonstrated the potential of serial programming to attract a large audience. […] By the end of its first year on NBC’s Blue Network in 1929, Amos ʼnʼ Andy had become the most popular show on the radio, drawing some 40 million listeners weekly. The unprecedented popularity of the program demonstrated that listeners would follow serial programs and the industry took note.“45

called program builders (independent producers).“ Cantor u. a.: The Soap Opera, 1983, S.35‒36. 41 Vgl. Thurber: „O Pioneers“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 44. 42 Siehe Kapitel: VII. 2.1 „Literatur als Inspiration: What happened to Mary?“, S. 301. 43 Ein Großteil der Radio-Fortsetzungsserien ist an Kinder gerichtet und hat mit den Vorlagen nur noch wenig gemein. Vgl. Roberts: Dick Tracy and American Culture, 2003, S. 249. Wie bei der Seifenoper ist bei den Hörspiel-Serien der Anteil an Werbung sehr groß. Vgl. Vernon: On Tarzan, 2008, S. 14. 44 Ursprünglich wollte die Chicago Tribune aus ihrem Comic The Gumps sogar eine RadioFortsetzungsserie machen und auf diese Weise die Leserschaft des Comics zum Medienwechsel animieren und sie somit als Zuhörer ihres eigenen Radiosenders WGN gewinnen – dieser Gedanke mündet nach zahlreichen Umgestaltungen schließlich in der Radioserie Amos ʼnʼ Andy. Vgl. Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 13. 45 Vgl. Hagedorn: „Doubtless to be Continued“. In: Allen (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 35. Simon vermutet, die Zugehörigkeit der beiden Hauptpersonen Amos und Andy zur unteren und hart arbeitenden Bevölkerungsschicht könne ein Grund sein für die starke

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Anders als die klassische Seifenoper ist Amos ʼnʼ Andy komödiantisch angelegt – häufig wird die Serie als erste Sitcom bezeichnet.46 Die Folgen sind meist relativ in sich geschlossen und enden mit einem Witz, einem Clou – dementsprechend selten sind Cliffhanger.47 Für das Genre der Seifenoper ist vor allem die enge Verflechtung von Amos ʼnʼ Andy und der Werbung wegweisend: Die Sendungen werden ein- und ausgeleitet von dem Sponsor. Bei der Ausstrahlung wird dem Rezipienten zu Beginn und erneut am Schluss verdeutlicht, welcher Marke er diese Serie verdankt. Am Ende

Identifikation mit ihnen ‒ eine weitere Gemeinsamkeit mit der Seifenoper, deren Charaktere ebenfalls aus der einfacheren Bevölkerung stammen. Siehe: Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 14. 46 Eine weitere, häufig als Vorläufer der Seifenoper bezeichnete Radio-Serie ist The Smith Family, die sogar noch ein Jahr früher als Amos ʼnʼ Andy, schon 1925 startete (teilweise wird sogar 1924 als Beginn angegeben Cox: Historical Dictionary of American Radio Soap Operas, 2005, S. 205). Ihr Hauptthema ist bereits die für Seifenopern typische Familie. Ebenfalls als Komödie zu bezeichnen wie später Amos ʼnʼ Andy, wird sie wöchentlich am Abend gesendet. Gegen die Behauptung, The Smith Family sei die erste Seifenoper, wehrt sich Marion Jordan, Mitschöpferin der Hörspiel-Serie und Sprecherin: „Many years later Mrs. Jordan seemed somewhat unconvinced by the suggestion of radio historian Francis Chase, Jr., that The Smith Family was the ‚great-granddaddy of the soap operas‘. ‚The humour was much too broad,‘ she commented.“ Stedman: The Serials, 1977, S. 226. 47 Ein Beispiel für die Praxis, häufig einen Witz als letzten Kommunikationsakt der Episode zu setzen, stammt aus der Episode vom 08.10.1943. Andy engagiert für drei Dollar pro Tag die Schauspielerin Lucy, damit sie seine Frau spielt und er durch diese vorgetäuschte Ehe der Hauptbegünstigte des letzten Testaments seines Onkels Edgar wird. Am Ende der Episode gesteht Andy seinem Onkel das ‚Schauspiel‘. Er aber hat seines Neffen Plan längst durchschaut und sich hinter Andys Rücken mit der Schauspielerin Lucy angefreundet. Er möchte sie sofort heiraten. Daraufhin sagt Andy: „Well, now that Lucy is going to be my aunt instead of my wife: Does I have to pay her the three dollars or does you pay her [sic]? [Gelächter und Abspannmusik].“ [TC 25:50–26:07] Einer der sehr seltenen Cliffhanger befindet sich in der Episode vom 04.04.1939: Andy wird während der abschließenden Sätze des Pastors, der die Ehe zwischen Andy und einer Frau besiegeln würde, in den Arm geschossen und fällt in Ohnmacht. Die Aussage des Wikipedia-Artikels über Amos ʼnʼ Andy muss relativiert werden: „With the episodic drama and suspense heightened by cliffhanger endings, Amos ʼnʼ Andy reached an ever-expanding radio audience.“ http://en. wikipedia.org/wiki/Amos_%27n%27_ Andy [vom 24.02.2013]. Amos ʼnʼ Andy hat gelegentlich den Akzent auf Spannung und fortgesetzte Narration gelegt, der Schwerpunkt der (erhaltenen) Folgen liegt jedoch eindeutig auf einer komödiantischen Note, betont durch einen Witz als Schlusspunkt – Cliffhanger laufen dem zuwider und sind daher die Ausnahme.

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der Folge werben die beiden Hauptsprecher gelegentlich sogar noch selbst für Produkte oder auch Kriegsanleihen.48 Sendungen wie Amos ʼnʼ Andy sind noch ganz den Abendstunden vorbehalten. Mittag und Nachmittag werden erst von den Seifenopern-Produzenten als publikumswirksame Sendezeit erkannt. Kinder und Jugendliche genießen bereits nachmittags ihre Radioserien wie Tarzan und Dick Tracy;49 ein wesentlich finanzstärkeres Publikum als die Kinder aber sind die Hausfrauen. „Soap operas were a solution to an advertising problem: how might radio be used during daylight hours to attract the largest audience of potential consumers of certain products?“50 Die Mittagsstunden bieten die Möglichkeit zu zielgerichteter Werbung mit serieller Narration für Hausfrauen. Die Frauen-Zeitschriften (und die Kinoserien der „Serial Queens“) haben längst bewiesen, dass serielle Narration bei diesem weiblichen Publikum Erfolg haben kann ‒ eine Übernahme der seriellen Fortsetzungsnarration und ihrer Erzähltechniken liegt nahe. Einer der stilprägendsten und erfolgreichsten Schöpfer von Seifenopern, Frank Hummert, sagt dementsprechend 1958 über die Geburt der Seifenoper: „As I remember it now the idea for a daytime serial was predicated upon the success of serial fiction in newspapers and magazines. It occurred to me that what people were reading might appeal to them in form of radio drama. It was as simple as that.“51 1.2.3 Merkmale der Seifenoper Betrachtet man die Geschichte der Seifenoper fällt unter anderem auf, dass sich dieses Genre über die Jahrzehnte sehr verändert.52 Das zeitliche Format der Seifenoper wird von 15 auf 30 und schließlich auf 60 Minuten verlängert; auch die Ausstrahlungszeit verschiebt sich von der Mittagszeit (daytime soap) auf die Hauptsendezeit (prime-time-soap), von der werktags gesendeten Seifenoper daily soap zur einmal pro Woche gezeigten weekly soap. Auch die Sendeform ändert sich von live zu Aufzeichnung auf Videotape. Eine Konzeption auf Endlosigkeit hin sowie eine preiswerte Produktion bestimmen das Format und den Inhalt des Genres. Die GenreMerkmale haben sich mit der Zeit ebenfalls erheblich gewandelt: in den ersten RadioSeifenopern über Familien der US-amerikanischen Mittelschicht wird vorwiegend in Innenräumen über Alltagsprobleme diskutiert (z.B. Search for Tomorrow und The Guiding Light). Dann bevölkert sich die Szene mit besser gestellten Familien und 48 Zum Beispiel endet die erste halbstündige Folge vom 08.10.1943 mit der direkten Werbung von den Hauptfiguren für ihren Sponsor ([TC 26:34–27:07]). Ihre Popularität wurde ebenso genutzt, um die Zuhörer zum Kauf von Kriegsanleihen zu animieren. (Bspw. in der Folge vom 15.12.1944, TC 27:45–28:46.) 49 Siehe auch Fußnote 43. 50 Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 10. 51 In einem Brief an Stedman von 1958. Stedman: The Serials, 1977, S. 235. 52 Siehe: Mittell: Genre and Television, 2004, S. 147–187.

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ihren Alltagsproblemen (The Bold and the Beautiful),53 es gibt Krankenhäuser als Schauplatz, Außenaufnahmen, Polizisten spielen eine Rolle, Action wird wichtiger (General Hospital). Die Seifenoper mit ihrer inzwischen langen Geschichte lässt sich nur mit Schwierigkeiten unter einem einzigen Genre-Begriff betrachten ‒ sie spiegelt die unterschiedlichsten Entwicklungen wieder in technischer, historischer und kultureller Hinsicht. Auch aus diesem Grund fehlt bisher eine verbindliche Definition des Genres ‚Seifenoper‘,54 nur wenige Wissenschaftlicher versuchen überhaupt, den Forschungsgegenstand ‚Seifenoper‘ zu definieren.55 Als Genre ist die Seifenoper in ihrer Namensgebung einzigartig. Genres haben sich immer einer einheitlichen Systematik in der Bezeichnung widersetzt.56 Dennoch gibt es einige Konstanten: Normalerweise wird ein Genre nach seinem thematischen Schwerpunkt (Biopic, Krimi), seiner Wirkung auf den Rezipienten (Thriller, Horror) oder seinem technischen Medium benannt (Telenovela, Groschenroman).57 Das Aufkommen des Begriffs ‚Seifenoper‘ lässt sich darauf zurückführen, dass die meisten der ersten Sponsoren Herstellungsfirmen von Reinigungsmitteln und Kosmetika sind.58 Die Seifenoper ist damit das einzige Genre, das nach dem Produktbereich der Sponsoren benannt ist. 53 Als extremes Beispiel für eine Verschiebung der soziokulturellen Handlungsorte könnte man im deutschsprachigen Raum auch die daily soap Verbotene Liebe nennen, die vorwiegend in Adelskreisen spielt. 54 Vgl. Wiegard: Die Soap Opera im Spiegel wissenschaftlicher Auseinandersetzung, 1999, S. 18–19. 55 Als charakteristisch für die Seifenoper gelten aber nach wie vor: die Darstellung von Alltagssituationen, Studioaufnahmen im Fernsehen beziehungsweise im Radio, dialoglastige Geschehnisse in Innenräumen, kleine und größere Schwierigkeiten der Mittelschicht als Themen, (vgl. Matelski: Soap Operas Worldwide, 1999, S. 18), eine realistische Darstellungsweise, (später:) Figurenensembles, (später:) gleichmäßige Ausleuchtung und Drehen auf Videomaterial, eine preiswerte Produktion, die man den Folgen ansieht. Für Definitionsversuche siehe vor allem: Geraghty: „The Continous Serial – A Definition“. In: Television Monograph 13: Coronation Street (1981), S. 9–26; Cantor u. a.: The Soap Opera, 1983, S. 25; Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 8; Cathcart: „Our Soap Opera Friends“. In: Gumpert (Hg.): Inter/Media, 1986, S. 207–218. 56 Vgl. Schweinitz: „Genre“. In: Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, 2002, S. 244–246. 57 Schweinitz zeigt noch mehrere Unterscheidungsmerkmale für Genres, die aber hier nicht von Belang sind. Wichtig als Alleinstellungsmerkmal der Seifenoper ist vor allem, dass Schweinitz den Geldgeber sonst nicht als Unterscheidungsmerkmal eines Genres aufführt, dieser aber bei der Seifenoper Teil der Genrebezeichnung ist. Vgl. ebd. 58 Der Begriff wurde von der Presse geprägt und ist in den 1930er Jahren bereits relativ etabliert (damals teilweise auch als „washboard weepers“ bezeichnet, siehe: Simon: „Serial

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Dieses Alleinstellungsmerkmal steht direkt für das marktwirtschaftliche Kalkül hinter den Anfängen der Seifenoper: Das Erzählen von Geschichten, um Produkte zu verkaufen. Auch bei anderen seriellen Narrationsformaten wird ein Kaufimpuls gesendet, der aber vorwiegend für den nächsten Mikrotext gilt und damit dem technischen Medium, in dem diese Narration veröffentlicht wird. Sogar schon bei den shilling numbers fällt ein vielschichtiges Zusammenwirken von Narration und Werbung auf. Die Seifenoper hingegen bedeutet eine erhebliche Steigerung dieser Prinzipien, die sich bereits in der Bezeichnung offenbart: Nie wurde ein ganzes Genre im Grunde nach seiner Verkaufsintention benannt. Der Name „Seifenoper“ ist die Vervollkommnung des ursprünglichen Gedankens hinter der Seifenoper: das beworbene Produkt wird mit dem Erzählprodukt identifiziert. Ein Grund für die Einzigartigkeit der Genrebezeichnung ‚Seifenoper‘ ist sicherlich, dass bei den bisher in der Geschichte der Fortsetzungsnarration aufgetretenen Erzählungen die Sponsoren nicht so homogen und klar zu benennen waren wie bei den ersten Seifenopern. Auch das Publikum war heterogener als bei der Seifenoper. Die Frauenmagazine und ersten Kinoserien wurden ebenfalls von einem überwiegend weiblichen Publikum rezipiert – aber es wurde sehr schnell zu einem vielschichtigen Publikum, da Kinoserien wie The Hazards of Helen und The Perils of Pauline zwar Protagonistinnen haben, aber die Erzählung mit viel Action dargeboten wird, die ebenso Männer wie Heranwachsende anzog.59 Die Seifenoper hingegen wird anfangs tagsüber an den Werktagen ausgestrahlt – zu einer Zeit, in der damals fast nur die Hausfrauen das Programm verfolgen können. Die Hausfrauen kaufen überwiegend die Haushaltsmittel, darum sponsern die Herstellungsfirmen ein Narrationsformat, das für diese relevante Zielgruppe konzipiert ist. „Daytime listeners were considered an ‚undesirable market,‘ but soap and food manufacturers such as General Food, A&P, Kellogg, and Procter and Gamble eventually realized that their products, though consumed by a diverse population, were primarily purchased by a particular subsegment – mothers of families, or housewives. Both advertisers and networks perceived their target audience as afflicted with a short attention span and low intelligence and therefore sought daytime programming guaranteed to catch, and hold, the attention of even the most distracted listeners.“60

Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 20). Es gibt auch zahlreiche Sponsoren von Seifenopern, die keine Putz- und Haushaltsmittel herstellen. Auf www.old-time.com/soaps/soapless.html [vom 22.02.2013] findet sich eine Liste der dort „soapless“ genannten Seifenopern. 59 Vgl. Enstad: „Dressed for Adventure“. In: Feminist Studies, 21, 1995, S. 67. 60 Hayward: Consuming Pleasures, 2009, S. 139.

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Die Hersteller erkennen, dass Frauen die ‚Macht über die Einkäufe‘ besitzen und darum die Zielgruppe ihrer Werbung sein müssen. Das Kalkül der Sponsoren ist, dass die Treue zur jeweiligen Seifenoper sich auch auf die die Seifenoper produzierende Firma beziehungsweise vor allem auf das in der Seifenoper beworbene Produkt der Firma überträgt.61 „Audiences demonstrating an astonishing loyalty to ‚their‘ shows – as soap audiences overwhelmingly did – could be encouraged to transfer that loyalty to a sponsoring product.“62 Die dreifache Treuefunktion ‒ Serie, Sender (soziales Medium), technisches Medium ‒ wird hier sogar zu einer vierfachen, die auch für das beworbene Produkt gilt.63 Einen zusätzlichen Anreiz für Sponsoren, mehr Sendungen für das Mittags- und Nachmittagsprogramm zu produzieren, sind die Kosten für Programmplätze am Mittag- und Nachmittag ‒ sie sind im Vergleich zur Abendzeit wesentlich niedriger.64 Hilfreich ist für die Sponsoren, dass es erste ratings, eine frühe Art von Einschaltquotenmessung gibt. „The first audience studies in the 1930s were called ‚mail hooks‘: during a commercial, an announcer would offer a free gift […] to anyone sending proof-of-purchase of a product advertised on the show. By extrapolating from the number of letters received and noting their addresses, broadcasters and advertisers could gain a rough idea of the size and geographic distribution of the serial’s audience.“65

Besonders Procter and Gamble, US-amerikanischer Großkonzern für Haushaltswaren und Pflegeartikel, profiliert sich früh als Marktführer ‒ sowohl in der Produktion von Seifenopern als auch in der Ermittlung der Anzahl der Hörer. Bereits bei einer der ersten Seifenopern von Procter and Gamble, Ma Perkins wird mit Hilfe der mail hooks festgestellt: „Ma Perkins attracted more listeners than many nighttime shows. To count how many people listened, P&G conducted one of its first market research tests on the impact of soap operas. During the show, listeners were offered a package of flower seeds for 10 cents and Oxydol 61 Vgl. Hagedorn: „Doubtless to be Continued“. In: Allen (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 35. 62 Hayward: Consuming Pleasures, 2009, S. 139. 63 Siehe zu dreifachen Treuefunktion: Kapitel III, 1.2. „The medium is not the message, the medium is its own context“, S. 95. 64 Vgl. Hagedorn: „Doubtless to be Continued“. In: Allen (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 35. 65 Allen: „Why do they say such terrible things about Soap Operas?“. In: Ders. (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 5. Speziell zu Procter and Gamble: Swasy: Soap Opera, 1994, S. 110–111.

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boxtop. More than a million boxtops flooded P&G headquarters. The show helped sell 3 billion boxes of Oxydol before it was finally cancelled in 1960.“66

Die Treue zur jeweiligen Firma und ihren Produkten wird außerdem durch ermäßigte Produkte forciert – häufig sogar durch Verwendung des Produkts in der Narration: „[M]agazines and newspapers traditionally kept editorial matter and advertising matter separate (although in practice the distinction was often blurred) – recognition of the fact that revenue was derived both from multiple advertisers within a single issue and from direct sale of the text to the consumer. In radio the point was to make a definite connection between programming content and the sponsor of that content; thus listeners became accustomed to the intrusion of the sponsor’s message into the diegesis of the program itself.“67

Die sehr offensive Verbindung aus Narration und penetranter Werbung führt zu zahlreichen Beschwerden bei den jeweiligen Produktionsfirmen und Radiosendern – aber die Verkaufszahlen für die in Seifenopern empfohlenen Produkte steigen, und das zur Zeit der Great Depression, in der viele US-amerikanische Firmen unter der Wirtschaftskrise leiden. „The fifteen-minute show [d.i. die Seifenoper Ma Perkins] ran five days a week and mentioned Oxydol’s name twenty to twenty-five times during each episode. ‚We knew it would be very irritating to some people and we’d get complaints,‘ recalled Walter Lingle, a P&G marketing executive who helped launch the show. ‚But the business was bad enough that we decided to try it.‘ P&G received 5.000 letters complaining about Ma Perkins within the first week. But after a month, salesmen were calling headquarters to say Oxydol sales were up. By the end of the first year, sales had doubled.“68

An die Seifenoper ist eine Markenbindung gekoppelt. In dem genannten Beispiel wird die Zuhörerin etwa 125 Mal in der Woche daran erinnert: Die geliebte Seifenoper verdankt sie der Marke Oxydol. Unweigerlich verbindet sie Ma Perkins mit Oxydol. Das Produkt profitiert von den positiven Gefühlen, welche die Rezipientin ihrer Serie entgegenbringt. Vermutlich streben die Produzenten durch die ständige

66 Ebd. 67 Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 139. Siehe auch: „Procter and Gamble checked their soap opera ‚Oxydo’s Own Ma Perkins‘ by offering flower seeds to be sent in return for ten cents and a box top. […] [M]ore than a million listeners responded – perhaps because Ma herself was planting begonias on the show that day.“ Hayward: Consuming Pleasures, 2009, S. 139. 68 Swasy: Soap Opera, 1994, S. 110.

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Wiederholung sogar bei der Zuhörerin eine assoziative Verschmelzung an von Seifenoper und produzierender Marke: Oxydol ist gleich Ma Perkins, Ma Perkins ist gleich Oxydol.

2. S EIFENOPERN

DER

1930 ER –1950 ER J AHRE

Als erste Seifenoper wird Painted Dreams bezeichnet, die am 20. Oktober 1930 erstmals auf Sendung geht.69 Die Autorin der Radioserie ist Irna Phillips, die wichtigste Schöpferin von Seifenopern70 – abgesehen von Frank und Anne Hummert, welche die meisten Werke dieses Genres konzipieren und produzieren.71 15 Minuten dauern die ersten Radio-Seifenopern,72 aber nur etwa 12 Minuten gelten der eigentlichen Narration ‒ die restliche Zeit nimmt die Werbung des Sponsors in Anspruch. Die Seifenopern laufen werktags, täglich in den Mittags- und Nachmittagsstunden.73 Da von Painted Dreams keinerlei Folgen erhalten sind, analysiere ich die Seifenoper Myrt and Marge, da sie ebenfalls zu den ersten Seifenopern gehört. 2.1 Myrt and Marge (27.12.1937) 1931 bietet die Vaudeville-Schauspielerin Myrtle Vail dem Kaugummi-Hersteller Wrigley das Exposé ihrer Seifenoper Myrt and Marge an,74 das autobiographische Züge trägt.75 Myrtle Spear and Marge Minter sind die Hauptpersonen, Mutter und Tochter,76 in der Sendung gesprochen von Myrtle Vail und ihrer Tochter Donna 69 Cox: Frank and Anne Hummert’s Radio Factory, 2003, S. 128. Hayward nennt 1931 als Erstausstrahlungsjahr. 70 Vgl. Erwin: „Guiding Light“. In: Ford u. a. (Hg.): The Survival of Soap Opera, 2011, S. 180. 71 Vgl. Finkelstein: Sounds in the Air, 1993, S. 79. 72 Vgl. Matelski: „The Soap Opera“. In: O’Dell u. a. (Hg.): The Concise Encyclopedia of American Radio, 2010, S. 703. 73 Vgl. Hagedorn: „Doubtless to be Continued“. In: Allen (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 35. 74 Vgl. Dunning: On the Air, 1998, S. 474. Das Vaudeville war also gleichermaßen eine thematische Inspiration für das Radio wie für die Kinoserie ‒ ehemalige Vaudeville-Stars kamen zum Radio und zum Film. Vgl. Cullen: Vaudeville, Old & New, 2007, S. 909–910. 75 Vgl. Dunning: On the Air, 1998, S. 474. 76 In der Forschungsliteratur gibt es unterschiedliche Aussagen, dass Myrt and Marge entweder Mutter und Tochter oder Schwestern seien (ebd.; Reinehr u. a.: The A to Z of Old-Time Radio, 2008, S. 188). Die erhaltenen Folgen konnten weder das eine noch das andere zweifelsfrei bestätigen. In der ersten Folge scheint es sogar so, als hätten die beiden keinerlei

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Dammerel Fick.77 Bereits in der Namensgebung zeigt sich der starke Einfluss vom Sponsor auf die Narration: die Nachnamen „Spear“ und „Minter“ erinnern an Wrigleys erfolgreichstes Produkt „Wrigleys Spearmint“.78 Anfangs wird die Sendung tagsüber ausgestrahlt, dann aber auf den Abend verschoben, weil sie so erfolgreich ist. Ende der 1930er Jahre verkauft Wrigley die Rechte an die Firma Colgate-Palmolive-Peet, die in der Radioserie vor allem ihre „Super Suds“-Produkte (Waschmittel) vermarktet.79 2.1.1 Deskription Eine der älteren erhaltenen Folgen stammt vom 27.12.1937.80 Wie üblich spricht ein Ansager81 die einleitenden Worte [T1].82

Verwandtschaftsverhältnis, sondern würden mit der Zeit zu Freundinnen. Da die erste Folge (2.11.1931) nicht die sonst übliche Einrahmung durch den Sponsor aufweist, wurde sie nicht für eine genauere Analyse gewählt. 77 Vgl. Cox: Historical Dictionary of American Radio Soap Operas, 2005, S. 156–157. 78 Vgl. Dunning: On the Air, 1998, S. 474–475. 79 Vgl. Cox: Historical Dictionary of American Radio Soap Operas, 2005, S. 156–157. 80 Dass diese Struktur stellvertretend für einen Großteil der erhaltenen Folgen von Myrt and Marge ist, wurde anhand einiger weiterer Episoden überprüft (bspw. vom 21.9.1939). 81 Allen bezeichnet den Ansager als „extradiegetic narrator“ (Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 160), was ebenso passt. Für eine kürzere Benennung belasse ich es aber bei Ansager. Außerdem erscheint mir „narrator“ zu sehr mit der Funktion des Erzählens verbunden, während der Ansager in der Seifenoper häufig eher für An- und Abkündigungen, Übergänge und Werbung zuständig ist. 82 Zu einer besseren Analyse der strukturellen Beschaffenheit der entsprechenden Seifenopern-Folgen habe ich Übersichten hergestellt, die den (für uns heute) ungewöhnlichen und vor allem stark fragmentierten Charakter der Folgen verdeutlichen. Siehe: Anhang, S. 663. Sie sollen vor allem die verschiedenen Segmente und deren Längen graphisch zeigen. Die Übersichten der einzelnen Seifenopern-Folgen im Vergleich verdeutlichen außerdem sehr gut die Entwicklung und Veränderung der Seifenoper über die Jahrzehnte. Es gibt zwei unterschiedliche Arten von Segmenten: die kleineren Blöcke stellen die Werbe-Segmente (W) dar, die größeren die narrativen (N). Die Titelsegmente (T) habe ich ‒ je nach Folge unterschiedlich ‒ W oder N in ihrer Größe zugeordnet. Dies kommt dadurch zustande, dass in früheren Folgen (1930er–1970er Jahre) der Sponsor in den Titelsegmenten sehr dominant auftritt und diese Segmente damit eher Werbung als Narration sind, während in den späteren Folgen (1970er‒1990er Jahre) kein Sponsor mehr vorhanden ist und die Titelsegmente deshalb der Narration zugeordnet werden.

392 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „[Hammond-Orgel-Motiv] Presenting Myrt and Marge. [Hammond-Orgel-Motiv] Another episode in the true-to-life experiences of Myrt and Marge brought to you by the makers of concentrated Super Suds in the blue box. The new all purpose soap for laundry and dishes, for every household use. Mrs. Landsing and Mrs. Heuse, mothers of two large families are having a little chat about teenage problems.“83

Unmittelbar nach dem letzten Satz beginnt ein Werbesegment, dargeboten in Form einer kleinen Erzählung [W1]: Mrs. Landsing berichtet Mrs. Heuse, ihr Sohn wolle seine ganze Basketballmannschaft nach Hause einladen und ihr mache schon der Gedanke an den Abwasch Sorgen. Ihre Freundin beruhigt sie mit dem Hinweis, es gebe doch das sehr empfehlenswerte „Super Suds in the blue box“. „And now“, schaltet sich der Ansager wieder ein, „let’s see what’s happening to Myrt and Marge [N1 mit Hammond-Orgel-Motiv]. Today Myrt and Marge are looking forward to another year and for the benefit of our new holiday audience, we’ve like to give a brief review of the highlights in the lives of Myrt and Marge.“84 Darauf folgt ein langes recap. Zwei neue Szenen schließen sich an. In der ersten sitzt Marges Ehemann Jack Arnold beim Staatsanwalt, weil sein Freund ausgeraubt worden ist. Dann macht er sich auf den Heimweg [N2]. Der Sprecher leitet über in die nächste Szene und führt kurz extradiegetisch die Figur der Haushälterin ein [N3], bevor die akustische Darstellung intradiegetisch zu ihr in die Küche der Arnolds wechselt [N4]. Mit einem Stück des französischen Dramatikers Henry Dufay wollen Myrt und Marge das Hayfield Theatre in New York wiedereröffnen. Dufay ist zum Abendessen bei den Arnolds eingeladen. Während die Haushälterin das Essen vorbereitet, warten im Wohnzimmer Marge und Dufay auf Marges Ehemann, der sich noch auf dem Rückweg befindet. Dufay:

[Traurig, mit gespieltem französischem Akzent:] I had hoped that it would be the other way. That after all of these days not seeing you I would find you less beautiful than I expected, but I find you more beautiful.

Marge:

[Lacht verlegen:] I thought that we decided that it would be better if you and I didn’t talk about ourselves.

Dufay:

Yes, but you, you must have known what was behind that decision.

Marge:

I thought that it was the fact that we wanted to produce your play. And you wanted us to do it.

Dufay:

[Sehnsüchtig:] You say that so easily.

Marge:

Because it’s true!

Dufay:

True? I will tell you what is true about us. It’s what I said the first time I met you: that you are made for me. Now that I see you again, I know it is so.

83 Myrt and Marge vom 27.12.1937, TC: 00:00–00:36. 84 Myrt and Marge vom 27.12.1937, TC: 02:02–02:19.

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Marge: Dufay:

Please Mr. Dufay, we’ve… Listen! I know what I feel. And I know that in spite of all you say, in spite of the way you laugh at me and fend me off, you too must know the truth. Deep down in your heart there is a…a stirring that you are fighting. It must be so.

Marge:

[Beruhigend:] Mr. Dufay. I’ve told you, I happen to be very much in love with my husband. It also happens that every penny that Myrt and I have, as well as the mother’s people capital, is invested in this play. [Leicht aufgebracht:] Can you, won’t you be enough of a man to forget this foolishness? [Hammond-Orgelmotiv von Radio-Seifenoper erklingt.]

Ansager: And so for the second time Henry Dufay has been unable to restrain his order. Will he listen to Marge’s plead? Or will he continue his unwelcome intentions? What would Jack say if he knew about it? And with the gangster Gimpy apparently hiding out, what will be Jack’s next move in his search for the reckless assailant? Maybe we will find out [Pause] – tomorrow. [Unmittelbarer Übergang zur Werbung (W&T2) desselben Sprechers.]85

2.1.2 Kategorisierung und Analyse Die Werbung und das beworbene Produkt sind eng mit der Narration verflochten. Erstens lässt der Ansager keine Separierung der Segmente erkennen, da er nahtlos, ohne jede Pause, zwischen Werbung und Narration wechselt. In der (heutigen, mit derartigen Formaten unvertrauten) Rezeption ist es unmöglich, sofort zu erkennen, ob es sich um ein Erzähl- oder ein Werbesegment handelt. Zweitens findet vor der ‚eigentlichen‘ Erzählung noch eine ‚Werbe-Erzählung‘ statt, welche die Grenzen zwischen Werbung und Narration zusätzlich verwischt. Die Unterhaltung der beiden Hausfrauen und Mütter ist stilistisch ähnlich gesprochen und inszeniert wie anschließend die Episode von Myrt and Marge. Drittens umrahmt die Werbung die Erzählung. Denn sowohl vor Myrt and Marge in Form des Titelvorspanns und der WerbeNarration als auch danach mit dem ausleitenden Titelsegment sind mehrere Minuten Werbung für das Super-Suds-Produkt zu hören. Die strukturelle Rahmung der Serie durch die Werbung ist Spiegelung der finanziellen Rahmengebung durch ColgatePalmolive-Peet beziehungsweise Super-Sud. Viertens zeigt das musikalische Motiv der Hammond-Orgel deutlich, dass Werbung und Narration zusammengehören. Zwar erklingt es immer dann, wenn der Ansager die Serie Myrt and Marge ankündigt und beendet, fungiert also als musikalische Trennung von Werbung und Narration. Aber obwohl es die einzelnen Teile der Sendung separiert, steht das Motiv ebenso für die Serie inklusive Werbung als Ganzes.

85 Myrt and Marge vom 27.12.1937, TC: 11:43–13:35. Der Aufhebungsmoment kann leider nicht betrachtet werden, da die Folge vom 28.12.1937 nicht erhalten ist.

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Bevor die Handlung der Episode beginnt, rekapituliert der Ansager das bisherige Leben der beiden Hauptpersonen in groben Zügen und fügt dann ein detailliertes recap der letzten Geschehnisse hinzu, an dessen Ende unmittelbar die eigentliche Erzählung einsetzt. Der Grund (auch aus Sicht des Senders) für dieses recap wird genannt: Nach den Feiertagen (Ausstrahlung am 27. Dezember 1937), an denen die Ausstrahlung pausiert hat, versucht der Sender neuen Zuhörern, die über die Feiertage Zeit haben, den Einstieg in die Geschichte zu erleichtern. Der Cliffhanger wird mittels eines interrogativen Kommunikationsaktes in einer brenzligen Situation dargeboten: „Can you, won’t you be enough of a man to forget this foolishness?“ Auf der histoire-Ebene haben wir zum einen die Enthüllung, dass Dufay noch immer in Marge verliebt ist und nur deshalb der Aufführung zugestimmt hat. Zum anderen befindet sich die Hauptfigur dadurch in einer zeitlich angespannten Situation: Während Dufay ihr seine Liebe gesteht, ist jeden Moment die Rückkehr von Marges Ehemann möglich. Das könnte zu weiteren Komplikationen führen. Auf der discours-Ebene bleibt die Frage von Marge unbeantwortet. Diese innerdiegetische Frage wird aber auf der extradiegetischen Seite vom Ansager betont und aufgegliedert. Die Hauptfrage wird als erstes und explizit vom Sprecher gestellt: „Will he listen to Marge’s plead? Or will he continue his unwelcome intentions? What would Jack say if he knew about it?“ Außerdem wird in den letzten Sätzen noch eine Fragestellung und mögliche Problematik der Szene benannt, als Marge den Autoren Dufay entschieden zurückweist: Wie wird es mit der Eröffnung des Theaters weitergehen, wenn Marge Dufay ablehnt, ihn, den Autor des Premieren-Stücks? Was wird aus ihren Investitionen? Marge fühlt sich gegenüber ihrer Mutter und den anderen Geldgebern verantwortlich ‒ sie alle verlieren vielleicht ihr Geld. Gibt deshalb Marge Dufays Werben nach? Aber auch die Frage, die sich aus der ersten Szene ergibt, stellt der Sprecher: „And with the gangster Gimpy apparently hiding out, what will be Jack’s next move in his search for reckless assailant?“ Überdeutlich wird: Bereits in dieser Folge findet eine Überbietung der Cliffhangertypen und Erzählmittel statt. Der Cliffhanger lässt sich als enthüllender Cliffhanger mittels eines interrogativen Kommunikationsakts beschreiben ‒ zusätzlich ist durch die zu erwartende Wiederkehr des Ehemanns eine ‚zeitliche Bedrohung‘ vorhanden, und der extradiegetische Ansager hebt alle offen gelassenen Fragen hervor, auch die der ersten Szene; er schiebt in gewisser Weise einen Binnencliff mit einem interrogativen Kommunikationsakt nach. Die explizite Aufgliederung der möglichen Schwierigkeiten und offenen Fragen macht deutlich, wie sehr bereits die Seifenoper in den 1930er Jahren vom Cliffhanger bestimmt wird. „Maybe we will find out [Pause] – tomorrow.“

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2.2 The Guiding Light (1949–1950) Zahlreiche der erhaltenen Folgen von The Guiding Light tragen kein genaues Datum,86 sondern einzig eine Episoden-Nummerierung. Da jedoch nicht zu ermitteln ist, wann diese Seifenoper Ausstrahlungspausen hatte und wie viele, ist diese Nummerierung nur bedingt für die Errechnung eines genauen Ausstrahlungstermins hilfreich. Anhand des überlieferten plot-Verlaufs der gesamten Seifenoper im Vergleich zum Inhalt der einzelnen erhaltenen Folgen87 und den mit Zeitangaben verbundenen Gewinnspielen einiger Folgen, 88 lässt sich der ungefähre Zeitraum ermitteln. Von 1949 bis Ende 1950 ist eine ganze Reihe von Episoden erhalten. Zwei Folgen wähle ich für eine kurze Analyse. Nummer 794, weil sie noch eine der früheren Folgen ist und der Ansager vor allem die Cliffhanger betont. Nummer 851, weil sie einen besonders intensiven Cliffhanger aufweist. 2.2.1 Deskription Die unverheiratete Meta Bauer bringt ihren Sohn Chuckie zur Welt und gibt ihn zu Adoption frei. Einige Jahre später wollen jedoch sowohl Meta als auch der Vater des Jungen, Ted White, ihr Kind zurück. Obwohl sie einander nicht lieben, heiraten sie, und erlangen so das Sorgerecht für ihren Sohn. Die Ehe verläuft sehr unglücklich ‒ zumal Meta statt zu Ted White Zuneigung zu Doctor Ross Boling entwickelt hat.89 In Folge 794 leidet Meta bereits seit längerem unter einem wiederkehrenden Alptraum, dessen Inhalt die Zuhörer jedoch nicht kennen. Zu Beginn der Folge ruft Doctor Ross Boling an, um den von Meta erbetenen Kontakt zu einem Kinderpsychologen zu vermitteln. Vor allem aber sucht er Metas Nähe, denn er hat sich in sie verliebt. Ted ahnt die gegenseitige Zuneigung der beiden und weiß nichts von Metas Sorgen um Chuckie und ihren Albträumen. Ted nimmt das Telefonat an und erfährt von Doctor Boling nur, dass dieser Meta sprechen möchte, nicht aber den Grund. Er gibt den 86 Im Folgenden konzentriere ich mich in der Werkauswahl auf The Guiding Light, da sie die längste Seifenoper ist und sich daher für einen diachronen, transmedialen Vergleich besonders eignet. 87 Eine gute Zusammenfassung der wichtigsten plot-Entwicklungen von The Guiding Light bietet: Matelski: The Soap Opera Evolution, 1988, S. 114–128. Die plot-Entwicklung bis in die 1970er Jahre sowie einige Produktions-Hintergründe der Seifenoper finden sich in: Cox: The Great Radio Soap Operas, 1999, S. 60–70. Eine Analyse des Ensembles und der über die Jahrzehnte hinweg behandelten Themen ist nachlesbar bei: Cantor u. a.: The Soap Opera, 1983, S. 97–112. 88 Vor allem in der Folge 851 von The Guiding Light gibt es einen Hinweis, der eine ungefähre Zeiteinordnung erlaubt, da der Ansager bei der Werbung hinzufügt: „But hurry: Offer expires September the 30th 1950.“ TC 06:13. 89 Vgl. http://www.soapcentral.com/gl/whoswho/meta.php [vom 05.01.2014]

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Apparat weiter an sie. Meta redet kurz mit dem Doktor und legt dann auf, woraufhin man den Ansager hört: „This phone call from Doctor Boling was rather inopportune, wasn’t it, Meta? You are going to realize that Ted is going to ask for an explanation. I wonder what you are going to tell him. The truth? We’ll learn more about this in a moment.“90 Die Handlung an sich hat kaum vorausdeutende und besonders spannende Charakteristika: Meta beendet das Telefonat. Im Anschluss aber stellt der extradiegetische Ansager stellvertretend für den Rezipienten einige Fragen an Meta, ehe er in das Werbesegment überleitet. Erst der extradiegetische Ansager setzt mit dem interrogativem Kommunikationsakt den Minicliff.91 In der zweiten Szene wird die erste direkt am Interruptionspunkt fortgesetzt. Am Ende der zweiten Szene hat Meta erneut ihren Alptraum. Aus ihren im Schlaf gesprochenen Satzbruchstücken lässt sich nur erahnen, dass Chuckie etwas Schlimmes widerfährt. Schreiend wacht sie auf, Ted eilt herbei. Nach einem kaum beruhigenden Gespräch über Träume sagt Meta zu Ted, sie werde versuchen wieder einzuschlafen. Ted:

Goodnight my dear.

Meta:

Goodnight Ted. [Klicken eines Schalters. Pause.]

Ansager: But you can’t sleep, can you Meta? You wait, [Pause] tense, [Pause] apprehensive [Pause] until you hear the regular breathing of your husband. Until you know, he is asleep. [Pause] Than you quietly leave your room [Pause] and go to Chuckie’s room. And watch over a sleeping child, whose life for some reason you dreamt had been snuffed out.92

Erneut übernimmt der Ansager den spannungssteigernden Teil des Endes. Er berichtet sowohl ‒ betont durch die vielen Pausen ‒, dass Meta noch einmal aufsteht und zu Chuckie geht, als auch über den bedrohlichen Traum: Chuckie stirbt, wobei die brutale Wortwahl „snuffed out“ (auf Deutsch „auslöscht“, „umgebracht“ oder sogar „weggeputzt“) besonders erschreckt. Der enthüllende Cliffhanger wird durch den exklamatorischen Kommunikationsakt betont; die Enthüllung findet erst in den zwei allerletzten Worten statt.

90 Guiding Light, Ep.794, TC 02:23–02:44. 91 Allen zitiert eine ähnliche Stelle aus The Guiding Light, in der sogar noch mehr die Unterbrechung im Vordergrund steht: „‚Well, Bill? What are you going to do about Bert? What are you going to tell her? I wouldn’t want to be in your shoes, not for anything – because – well, we’ll learn more about this in a moment.‘“ Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 165. Für eine Diskussion, inwiefern dieser Unterbrechungsmoment als ‚Minicliff‘ zu bezeichnen ist, siehe S. 397. 92 Guiding Light, Ep.794, TC 11:38–12:20.

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57 Folgen später, in Nummer 851, kommt es schließlich zu dem lange vorausgedeuteten Ereignis. Ted und seine Frau Meta haben sich getrennt und streiten um das Sorgerecht für Chuckie. In der ersten Szene bringt Ted ihn zum Boxtraining, weil er der Meinung ist, Chuckie sei von Meta völlig verweichlicht worden; das Boxtraining werde ihn zu einem ‚echten Mann machen‘. Er setzt Chuckie nur ab und fährt weiter zu dem für die Adoption zuständigen Richter Rowlins. Er möchte ihm erklären, dass Meta keine gute Mutter ist. Im Laufe des Gesprächs erhält der Richter einen Anruf von Bill, Metas Bruder. Während des Telefonats ist Rowlins wortkarg ‒ zwischen seinen halben Sätzen sind zahlreiche bedeutungsschwere Pausen. Dann legt er auf und wendet sich Ted zu. Rowlins: I don’t know [zögernd] how to break it to you, Ted. Ted:

What is it?

Rowlins: I wish Bill would have told you himself. Ted:

Told me what?

Rowlins: There’s been an accident. Ted:

Meta?

Rowlins: No. [Pause] Chuckie! Ted:

Chuckie?!

Rowlins: Bill said it was a [Pause] bad accident. The boy is on his way to the [unverständlicher Name] hospital [Sirene ertönt].93

2.3 Zweifache Serialität und die Kategorien des Mini- und Binnencliffs im Rundfunk Die Begriffe ‚Minicliff‘ und ‚Binnencliff‘, wie sie bisher in dieser Arbeit für den Fortsetzungsroman definiert wurden, müssen für das technische Medium des Rundfunks und des Fernsehens aktualisiert werden. Bisher wurde ‚Binnencliff‘ als ein unterbrochener Spannungsmoment definiert, dessen einziger Unterschied zum Cliffhanger seine Position ist: Er befindet sich nicht am Ende eines Mikrotextes, sondern inmitten, ‚binnen‘ einer Folge. Dementsprechend kann der Rezipient nicht die Aufhebung steuern ‒ im Gegensatz zum Minicliff, der sich innerhalb einer Erzähleinheit befindet. Bei der Erstausstrahlung einer Sendung hingegen sind beide, Mini- und Binnencliff, nicht vom Rezipienten steuerbar. Der Zuhörer beziehungsweise Zuschauer kann dieser Art von Text nicht vorauseilen ‒ es sei denn, der Text befände sich auf einem Trägermedium in seinem Besitz. Eine zusätzliche Schwierigkeit entsteht in einer Folge, die durch Reklame unterbrochen wird, sodass sich innerhalb der Folge Erzählpausen ergeben: Bei jeder Werbeunterbrechung finden eine Erzählunterbrechung, eine Pause und eine Fortsetzung statt. Dementsprechend könnte man 93 Guiding Light, Ep. 851, TC 11:57–12.32.

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sogar die Erzählunterbrechungen an einem spannenden Moment vor einer Werbeunterbrechung als Cliffhanger bezeichnen. Tatsächlich haben also Fernseh- und Radiosendungen mit Werbeunterbrechungen bei ihrer Erst-Ausstrahlung eine zweifache Serialität: Eine innerhalb des narrativen Makrotextes, der aus mehreren Mikrotexten besteht; eine zweite innerhalb des Mikrotextes, der aus verschiedenen, zeitlich und strukturell unterbrochenen Segmenten besteht. Dieser Kontext muss mit berücksichtigt werden. Doch ist der Rezipient bei einer Werbeunterbrechung nicht aus der Rezeption entlassen: Die Folge und die Unterbrechung durch die Werbung sind als ein Ganzes konzipiert. Wenn man den Cliffhanger vom offenen Ende mittels der späteren Aufhebung abgrenzt, müssen auch der Binnen- und der Minicliff vom Kriterium ihrer Fortsetzung bestimmt werden. Aus diesem Grund bleibt innerhalb der Einheit einer Folge die bisherige Definition erhalten: Wenn ein unterbrochener Spannungsmoment noch innerhalb derselben Folge fortgesetzt wird, handelt es sich um einen Minicliff. Die Erzählpause, auch wenn grundsätzlich vorhanden, ist sehr kurz, und die Aufhebung findet noch innerhalb der Einheit dieser Folge statt. Wird der Erzählstrang nicht am Ende der Folge unterbrochen, sondern erst im Laufe des nächsten Mikrotextes, handelt es sich um einen Binnencliff. In diesem Fall sind alle Parameter eines Cliffhangers vorhanden außer der Position, die sich inmitten einer Folge befindet. Die Besonderheit, dass im Gegensatz zum Fortsetzungsroman der Rezipient den Minicliff nicht selbst aufheben kann ‒ es sei denn, er besitzt die nächste Folge ‒ verändert nichts an der Position und Beschaffenheit des entsprechenden Minicliffs. In der ersten beschriebenen Folge von The Guiding Light, der Nummer 794, ist bereits ein Minicliff mit Werbeunterbrechung vorhanden. Es ist ‚nur‘ ein Minicliff, weil der Erzählstrang direkt nach der Werbeunterbrechung am Interruptionspunkt fortgesetzt wird. Wie auch in zahlreichen anderen Folgen von The Guiding Light ist der Moment der Unterbrechung weder besonders unterbrechend noch besonders spannend – erst die Sätze des Ansagers bilden den Minicliff: Nicht die diegetische Handlung, sondern seine ergänzenden extradiegetischen Aussagen steigern die Spannung und machen dem Rezipienten die ungeklärte Situation bewusst. Wesentlich dramatischer als der Minicliff ist der Cliffhanger derselben Folge. Auch hier ist es der Ansager, der den Spannungsmoment hinzufügt. Während es aber beim Minicliff allein um die kommenden, vorausgedeuteten Erklärungsnöte von Meta geht, findet beim Cliffhanger eine Enthüllung statt. Der Rezipient erfährt, warum Meta seit einigen Folgen verstört ist: Sie träumt, dass ihr Sohn sterben werde. In der zweiten analysierten Folge ist der Cliffhanger-Moment ein von der intradiegetischen Handlung getragener und nicht extradiegetisch hinzugefügter. Statt den Unfall direkt darzustellen, wird über ihn nachträglich berichtet: Ted erhält gemeinsam mit dem Rezipienten die Nachricht, dass Chuckie einen Unfall hatte. In dieser

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Folge ist der Cliffhanger so intensiv, dass es des Ansagers nicht bedarf. Als akustische Hervorhebung der Dramatik, als ‚auditives Ausrufezeichen‘, ist abschließend das Geräusch einer Krankenwagensirene zu hören. Sie ertönt einige Sekunden, dann folgt sofort die Werbung. In beiden Beispielen sind Enthüllungen die Cliffhanger-Momente, die mittels eines exklamatorischen Kommunikationsaktes vermittelt werden. Im ersten Beispiel steht ganz am Ende die Enthüllung von Metas immer wiederkehrendem Traum, dass Chuckie stirbt. In der zweiten analysierten Folge wird zuletzt offenbart, dass Chuckie einen schweren Unfall hatte. Beide Male wird die Enthüllung durch viele Pausen retardiert. Die diegetischen Fortsetzungskategorien können nicht in jeder Folge betrachtet werden. So ist zum Beispiel die nächste Episode von Myrt and Marge nicht erhalten. Die Folgen von The Guiding Light haben jedoch alle einen elliptischen Interruptionspunkt oder eine verzögerte Interruptionsspanne.94 Nachdem der Inhalt von Metas Traum in Folge 794 offenbart wird, setzt Folge 795 mit Glockengeläut ein und einem Gespräch zwischen Meta und Doctor Boling am nächsten Morgen (elliptischer Interruptionspunkt). Folge 851, die mit der Nachricht von Chuckies Unfall endet, wird in Folge 852 damit fortgesetzt, dass Bill gerade vom Krankenhaus wiederkommt und seiner Frau von dem Unfall berichtet. Der unterbrochene Handlungsstrang mit Ted White wird erst später (TC 03:15) fortgesetzt (verzögerte Interruptionsspanne). Der Cliffhanger ist meist von mittlerer oder langer Spannweite. 2.4 Resümee und Ausblick „A soap opera is a kind of sandwich, whose recipe is simple enough although it took years to compound. Between thick slices of advertising, spread twelve minutes of dialogue, add predicament, villainy, and female suffering in equal measure, throw in a dash of nobility, sprinkle with tears, season with organ music, cover with a rich announcer sauce, and serve five times a week.“ THURBER: „O PIONEERS“. IN: MUSEUM OF TELEVISION AND

RADIO (HG.): WORLDS WITHOUT END,

1997, S. 41.

94 Hinsichtlich der diegetischen Fortsetzungskategorien wurden die Folgen 791‒854 von The Guiding Light betrachtet, sowie einige wenige Folgen der Seifenoper Road of Life von Anfang 1940. Alle gehörten Episoden haben einen elliptischen Interruptionspunkt oder eine verzögerte Interruptionsspanne.

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James Thurber fasst den Aufbau der Seifenoper polemisch zusammen. Trotz der süffisanten Übertreibung finden sich zahlreiche der von ihm genannten Bestandteile der Seifenoper auch in der bisherigen Analyse (und der Segment-Übersicht im Anhang) wieder. Angesichts dieser Struktur ist die Betitelung ‚soap opera‘ einleuchtend: So wie der Cliffhanger die Struktur vieler Kinoserien bestimmt, umrahmen Werbung und Sponsor jede einzelne Folge der damaligen Seifenoper. Narration, Stimme des Ansagers, Titelmelodie und beworbenes Produkt werden zu einem „sandwich“ zusammengefügt ‒ das ummantelnde ‚Werbe-Brot‘ sowie die „über alles gegossene Ansager-Sauce“ bilden den Rahmen. Besonders die gewichtige Rolle des Ansagers ist hervorzuheben, denn er fügt die Teile der Narration und der Werbung zusammen zu einem Ganzen.95 Er ist die verbindende Stimme und die männliche Autorität. So findet gleichzeitig eine akustische Verknüpfung zwischen Ansager und Produkt der jeweiligen Seifenoper statt. Angesichts der zahlreichen Teile hätte die Zuhörerin sonst womöglich erst später ein- oder zu früh ausgeschaltet, um Werbesegmente zu überspringen oder in der Meinung, die Sendung wäre bereits vorbei. Die gleichbleibende Stimme des Ansagers innerhalb der Ausstrahlung aber verdeutlicht, dass es sich um ein noch unvollständiges Ganzes handelt. Dass nicht die intradiegetische Handlung, sondern der extradiegetische Ansager häufig die Mini- und Binnencliffs sowie Cliffhanger setzt, unterstreicht die strukturelle Bedeutung seiner Stimme: So wie ihre Autorität für das hinter der Narration stehende Produkt wirbt, leitet und lockt sie die Zuhörerin auch zur nächsten Folge des ‚Narrations-Produktes‘. Anstelle der zu Beginn des Aufkommens der Seifenoper vorgefundenen Einrahmung der Narration durch die Werbung wird diese zunehmend in den späteren Jahren in die Folge selbst verlagert: Die Werbung unterbricht den Fortgang der Handlung. Auf diese Weise ergibt sich eine zweifache Serialität: Eine innerhalb des narrativen Makrotextes, der aus mehreren Mikrotexten besteht; eine zweite innerhalb des Mikrotextes aus verschiedenen, zeitlich und strukturell unterbrochenen Segmenten. Vor jeder Unterbrechung des Mikrotextes findet sich ein Spannungsmoment, der die Narration über die sehr kurze Erzählpause, hervorgerufen durch die Werbung, hinwegtragen soll. Da diese Erzählpause sehr kurz ist, Folge und Werbung als ein Ganzes konzipiert sind, handelt es sich begrifflich nur um einen Minicliff. Die Bezeichnung spiegelt sich auch in der Intensität der Unterbrechung wieder: Wie im Beispiel der Folge 794 von The Guiding Light ersichtlich, sind im Vergleich zum Cliffhanger Unterbrechung und Spannung in geringerem Maße vorhanden. Wie im Fortsetzungsroman und der Kinoserie werden in der Seifenoper der 1930er bis 1950er Jahre dem Rezipienten teilweise recaps geboten. Bei Myrt and 95 Zur Bedeutung des Ansagers in frühen Radiosendungen, siehe: Altheide u. a.: „The Grammar of Radio“. In: Gumpert (Hg.): Inter/Media, 1986, S. 273–281. Die Autoren sprechen davon, dass der jeweilige Ansager direkt dem ganzen Radiogerät eine Persönlichkeit verlieh, eine „radio personality“ (S. 278‒279).

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Marge fallen diese besonders ausführlich aus, damit die neuen, über die Feiertage hinzukommenden Zuhörer sich in der Geschichte zurechtfinden können. In späteren Seifenopern werden recaps aber nicht mehr verwendet.96 Stattdessen macht das relativ gemächliche Erzähltempo den Erzähleinstieg möglich. Folge 794 und Folge 851 aus The Guiding Light demonstrieren diesen Sachverhalt und damit auch die lange Spannweite der Vorausdeutung: Erst 57 Folgen später geschieht das lange vorausgedeutete Unheil, der Tod des Sohnes Chuckie. „Since each day’s episode survived only in memory, the first soap operas moved slowly: the weight of tradition, fifteen-minute segments, and sporadic listeners prevented quick-moving plots. Even when soaps moved to television and to half-hour and the hour-long segments, key scenes carried over from day to day, and significant bits of information were repeated several times to ensure that viewers who missed episodes would not fall too far behind and therefore abandon the show.“97

Tatsächlich ‚überleben‘ die Folgen beim damaligen Rezipienten nur im Gedächtnis – das erschwert, wie am Kapitelanfang erwähnt, eine historische Herleitung der Seifenoper und des Cliffhangers. Auch deshalb ist das Erzähltempo so langsam und die Einprägung wird beim Rezipienten mithilfe der Cliffhanger unterstützt. „Until the invention and popular appropriation of the video recorder, soap audiences could not capture their text and were forced to return every day after day to renew its pleasure. The narrative was not meant to be owned; each moment, even each character, was brief, passing, and prone to alteration by memory – or new scriptwriters.“98

Dieses „Nicht-Besitzen der Narration“, die Unmöglichkeit vor und zurück zu spulen oder zu blättern, bringt abgesehen vom wirtschaftlichen Nutzeffekt des Cliffhangers auch einen narrativen mit sich: Ohne recap muss die Geschichte sich bei der Rezipientin einprägen, damit die Erzählung am nächsten Tag sofort weitergeführt werden kann. Der Cliffhanger ist in Bezug auf den hohen Werbeanteil der damaligen Radioserien zweifach wichtig. Zum einen weil er die Spannung des Rezipienten nicht nur über die Erzählpause hinweg bis zur nächsten Folgen tragen muss, sondern noch über den Werbeanteil hinweg bis zum Handlungsbeginn. Zum zweiten ist der Cliffhanger für den Sponsor essentiell, weil der Rezipient wegen der durch den Cliffhanger auf-

96 Sowohl die Folgen 791‒854 von The Guiding Light als auch einige Folge der Seifenoper Road of Life von 1950 weisen keinerlei recap auf. 97 Hayward: Consuming Pleasures, 2009, S. 138. 98 Ebd.

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gebauten Spannung nicht nur zur Serie zurückkehrt, sondern unbewusst auch zur Rezeption der Werbung. Der Cliffhanger ist für die erwähnte Markenbindung die wichtigste Erzähltechnik. Er stellt zu der Serie die Rezipientinnenbindung her. Der Cliffhanger soll eine doppelte ‚Kundenbindung‘ hervorrufen: Bewusst zur Serie und unbewusst zur Marke. Die Treue, welche die Rezipientin aufgrund des Cliffhangers der Serie hält, soll sich auch auf die Marke übertragen. 2.4.1 Ein Vergleich mit der Kinoserie An dieser Stelle ist ein Vergleich zwischen der Verwendung des Cliffhangers in der Kino- und Radioserie ‒ beide entstehen in den 1920er bis 1930er Jahren ‒ für eine Herausarbeitung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede sinnvoll. In der Kinoserie findet der Unterbrechungsmoment fast immer unmittelbar während der Handlung statt, der inszenatorisch sowohl von der Bildeinstellung als auch von der in den späteren Kinoserien möglichen akustischen Dramatisierung unterstützt wird. Männer sind zumindest in den späteren Jahren das Zielpublikum. Im Gegensatz zur Kinoserie finden die Cliffhanger in der Radioseifenoper auf der Dialogoder Monologebene statt ‒ die Handlung wird am elliptischen Interruptionspunkt oder der nach einer verzögerten Interruptionsspanne fortgesetzt. Diese narrativen Differenzen ergeben sich aus vier Bestandteilen: 1. Die Radioseifenoper ist in einem anderen technischen Medium beheimatet. Spannung für den ‚täglichen Gebrauch‘ kann im Radio am schnellsten und preiswertesten über Dialoge oder Monologe hervorgerufen werden. 2. Die damaligen Radioseifenopern haben ein völlig anderes und sehr homogenes Zielpublikum: Hausfrauen. Dementsprechend verschieden von der Kinoserie ist der narrative Schwerpunkt der Erzählungen. Das Drama und die Tragödien des Zusammenlebens gewöhnlicher Menschen stehen im Vordergrund; Frauen mit ‚gewöhnlichen‘ Berufen oder Hausfrauen sind die Protagonisten im Gegensatz zu den Superhelden, maskierten Rächern und Dschungelmenschen der Kinoserien. 3. Die Radioseifenopern haben einen völlig anderen Veröffentlichungsrhythmus. Statt wöchentlich einmal erscheint eine Folge an jedem Werktag ‒ dementsprechend preiswert muss sie produziert sein. Unterbrechungen finden auf der Dialogebene statt, weil akustische Spezialeffekte, die eine unterbrochene Handlung suggerieren könnten, für eine täglich live gesendete Seifenoper zu aufwendig und teuer sind. 4. Alle Hörspiel-Episoden haben einen elliptischen Interruptionspunkt oder eine verzögerte Interruptionsspanne. Denn die Seifenopern der 1930er–1950er Jahre werden im Gegensatz zur Kinoserie live ausgestrahlt. In der nächsten Folge kann bei einer Live-Sendung nur unter großen Schwierigkeiten direkt an die erzählte

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Zeit der vorausgegangenen Folge angeknüpft werden, da die Episoden zu unterschiedlichen Zeiten produziert werden. Verbunden mit der Akzentsetzung auf Dialog statt Aktion ist auch die Erkenntnis, dass die Cliffhanger eine andere finale Aussage in der Seifenoper haben als in der Kinoserie. Die Cliffhanger der Kinoserie sind alle gefahrensituativ, fast immer in Verbindung mit einem exklamatorischen Kommunikationsakt: Der Held ist in Gefahr oder scheinbar sogar im Begriff zu sterben. Alle Aufhebungsmomente von Erzählsträngen sind für gewöhnlich direkt am Interruptionspunkt gelegen und die Cliffhanger haben häufig eine kurze bis maximal mittlere Spannbreite. Die Cliffhanger der Seifenoper hingegen sind nie gefahrensituativ, sondern immer enthüllend oder ‒ selten ‒ vorausdeutend.99 Im Gegensatz zu den vorwiegend exklamatorischen werden die Cliffhanger auffallend häufig mit interrogativen Kommunikationsakten kombiniert.

3. S EIFENOPERN

DER

1950 ER –1970 ER J AHRE

3.1 Kontext Nach dem Zweiten Weltkrieg, der die Massenproduktion von Fernsehgeräten verzögert hat, wird 1948 in den USA eine große Zahl von Fernsehern hergestellt. Zugleich starten fast 100 Fernsehkanäle ihr Programm.100 Eine Übertragung des SeifenopernGenres auf das neue technische Medium wird nur zögerlich umgesetzt, da die Sponsoren nicht Gefahr laufen wollen, durch einen Wechsel zum Fernsehen das treue Hörfunk-Publikum zu verlieren.101 Es herrschen vor allem Zweifel, ob Hausfrauen auch fernsehen (können), während sie ihrer Hausarbeit nachgehen.102 Charles Siepmann, Professor für Kommunikationswissenschaft und einer der ersten Kritiker und 99

Bei Myrt and Marge ist lediglich eine zeitliche Bedrohung zusätzlich zur Enthüllung vorhanden; diese Bedrohung ist aber weder lebensbedrohlich noch bildet sie den Vordergrund der Spannungserzeugung.

100 Vgl. Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 122. 101 Vgl. Cox: The Great Radio Soap Operas, 1999, S. 66. 102 Siehe z.B. Irna Phillips’ Aussage hinsichtlich des neuen technischen Mediums Fernsehen: „I have had very little interest in television from a daytime standpoint, and unless a technique could be evolved whereby the auditory could be followed without the constant attention to the visual…I see no future for a number of years in televising the serial story.“ Matelski: Soap Operas Worldwide, 1999, S. 21. Ähnliches äußerte der Präsident von NBC. (Vgl. Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 20.)

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Beobachter des US-amerikanischen Rundfunks, schreibt in seinem Buch Radio, Television, and Society von 1950: „Television, which claims the attention of both eye and ear, is likely to prove altogether too exacting in its demands for daytime audiences. Women will probably continue to listen to serial drama and other daytime radio features.“103 Ein paar wenige erste Fortsetzungsserien und Seifenopern setzen daher auf ein Voice-over, das den Zuschauerinnen auch erlaubt, die Augen abzuwenden. „David P. Lewis [Produzent einer der ersten TV-Seifenopern, Faraway Hill] searched for techniques that would not require total viewer attention, allowing the housewife time ‚to turn away and go on peeling potatoes or knitting.‘ He devised a stream-of-consciousness technique, an offscreen voice that probed the interior motives of the series heroine“.104

Die Sponsoren misstrauen dem neuen technischen Medium Fernsehen so sehr, dass einige Seifenopern sowohl im Rundfunk als auch im Fernsehen laufen. Auf diese Weise sichern sich die Sponsoren ab: Falls die Hausfrauen ihre Seifenoper nicht im Fernsehen schauen wollen, gehen sie trotzdem nicht verloren als Publikum (und als Käufer). The Guiding Light ist 1952 die erste Seifenoper, die im Fernsehen übertragen wird und parallel im Radio läuft.105 Bei The Guiding Light werden im Radio und im Fernsehen inhaltlich fast identische Folgen gesendet – mit einem angenehmen Nebeneffekt für die Produzenten: Die teureren Herstellungskosten der Fernseh-Variante werden reduziert, denn es muss nur ein Skript hergestellt werden. Es wird, je nach Medium, nur minimal verändert.106 Viele Seifenopern werden auf das Fernsehen übertragen, nur wenige sind dort erfolgreich.107 Ein Grund ist sicherlich die große Unbedarftheit von Seiten der Pro-

103 Siepmann: Radio, Television, and Society, New York: 1950, S. 345. Zitiert nach: Cantor u. a.: The Soap Opera, 1983, S. 47. 104 Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 20. 105 Vgl. Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 125. 106 Vgl. ebd. „While the radio version continued, scripts were taken directly from the audio performances and acted out in front of a camera.“ Cox: The Great Radio Soap Operas, 1999, S. 63. Im Anhang von Speaking of Soap Operas fügt Allen ein aufschlussreiches Script hinzu. Die Fernseh- und Radiosendung von The Guiding Light vom 3. März 1956 hat bis auf den Eingang ein identisches Script. Während bei der Radioversion der Ansager die Szenerie und die Gesichtsausdrücke der Protagonisten beschreibt, wird bei der Fernsehversion eine Regieanweisung gegeben, was gefilmt statt, wie in der Radioversion, beschrieben werden soll. Siehe: Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 204. 107 Vgl. Stedman: The Serials, 1977, S. 268–269.

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duzenten im Umgang mit dem neuen technischen Medium, denn das Produktionsteam bleibt häufig dasselbe wie bei der Radio-Version.108 Die Schauspielerin Mary Stuart, die in der Seifenoper Search for Tomorrow von Anfang bis zur Absetzung der Serie 1986 mitspielte, erinnert sich an die ersten Drehbücher, die eher denen eines Radiohörspiels ähneln: „All we had was each other so it was all in the listening, in the faces. It was partly because the writers came from radio and they didn’t know how to write television. I remember Charles Irving [d.i. der Regisseur zahlreicher Folgen] going right through the roof one day, over a scene at the mailbox. And that’s all the script said, ‚This scene takes place at the mailbox.‘ And he said, ‚What is behind the mailbox? Where is the mailbox?‘ […] It’s so obvious now, but in the early days, the writers were just learning.“109

Narrative Muster der Radio-Seifenoper ins Fernsehen zu übersetzen erweist sich häufig als der falsche Weg. Faraway Hill, die Seifenoper mit dem unnötig wirkenden Voice-over, das Hausfrauen erleichtern soll, weiterhin der Hausarbeit nachzugehen, wird nach nur wenigen Monaten abgesetzt. Erfolgreicher ist das Konzept, im neuen technischen Medium direkt auch neue Seifenopern zu starten.110 Das Produzieren von Fernseh-Seifenopern bringt zunächst ‒ verglichen mit den Radio-Varianten ‒ eine erhebliche Erhöhung der Produktionskosten mit sich. Alles, was vorher nur im Dialog stattfand, muss jetzt gezeigt werden. Der Cast111 einer Fernseh-Seifenoper ist wesentlich größer als bei einer Radio-Seifenoper.112 Hinzu kommen Bauten und Studioaufnahmen. Zwar handelt es sich nicht um kostspielige Dreh-

108 Vgl. Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 22. 109 Ebd. 110 Vgl. Cox: The Great Radio Soap Operas, 1999, S. 63; Hagedorn: „Doubtless to be Continued“. In: Allen (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 38. 111 Der Cast bleibt weiblich bzw. wird noch weiblicher als zuvor. Die Seifenoper ist ein Genre, das nach wie vor fast ausschließlich Frauen schauen. In Seifenopern mitzuspielen, ist bis in die 1960er Jahre besonders für Männer nicht besonders attraktiv. (Vgl. Hayward: Consuming Pleasures, 2009, S. 142.) Für Frauen bedeutet es hingegen die einfachste Möglichkeit, in der Film- und Fernsehindustrie Fuß zu fassen. 112 Vgl. ebd., S. 139. Allerdings gehört zu einer der vielen Seifenopern-Klischees der späteren Jahre, dass erstaunlich häufig Schauspieler zwei Rollen spielen, vorwiegend den guten und den bösen Zwillingsbruder. Genauso wird eine Rolle, weil der Schauspieler aus der Seifenoper aussteigt, plötzlich neu besetzt. Vgl. ebd., S. 154.

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orte, da die Seifenopern-Produktionen sich lange Zeit fast ausschließlich auf Studioaufnahmen beschränken, dennoch müssen die unterschiedlichen Innenräume gezeigt werden.113 Trotz Kostenerhöhung und zahlreicher Vorbehalte erkennen die Sponsoren mit der Zeit auch die Vorteile des neuen technischen Mediums: Ihre Produkte und der Nutzen ihrer Produkte können nun gezeigt und nicht nur mit werbenden Worten umschrieben werden. Die Seifenoper passt sich den Anforderungen des Fernsehens vollkommen an und ist bald viel erfolgreicher als ihr rein akustischer Vorläufer. 1940 gab es noch 64 Radio-Seifenopern, die höchste Anzahl jemals114 ‒ einundzwanzig Jahre später ist die Zeit des Seifenoper-Hörspiels in den USA bereits ganz vorbei. Bis 1960/61 laufen noch einige wenige Seifenopern im Rundfunk. 1961 werden die letzten abgesetzt – hauptsächlich weil die Sponsoren im Fernsehen ein besseres Werbemedium sehen.115 3.2

The Guiding Light (04.04.1953)

3.1.1 Deskription Ein Ansager eröffnet die Folge The Guiding Light vom 04.04.1953 und zeigt Ivory Soap und Duz, Produkte der Firma Procter & Gamble, welche die Sendung sponsert [T1].116 Ein kurzer Werbespot für Ivory Soap folgt [W2], ehe Ansager und Orgelmelodie zur Erzählung überleiten [N1]. In der Sequenz 1 unterhalten sich Robert und seine Frau Laura über ihren Sohn Dick und dessen Ehefrau Kathy [N2]. Kathy steht vor Gericht, angeklagt, ihren ersten Ehemann Robert Lang umgebracht zu haben. Dicks Vater Richard äußert gegenüber seiner Frau, er habe den Eindruck, sie hätten Dick bisher im Stich gelassen. Deshalb will er von nun an zu Dick und Kathy halten. Seine Frau Laura hingegen misstraut der Schwiegertochter. Richard: And I think you should know that from here on out. I intend to do everything I can for Dick and his wife and our grandchild. Laura:

[Enttäuscht:] Well, Richard. Perhaps you change your [betont:] tune after the grand jury hears this case. That I am sure you will. [Orgel und langsame Schwarzblende.]

Ansager: We learn more about this in a moment.117 113 Vgl. Matelski: „The Soap Opera“. In: O’Dell u. a. (Hg.): The Concise Encyclopedia of American Radio, 2010, S. 702–703. 114 „By 1940, sixty-four different soap operas were in regular broadcast, including all then of the highest-rated daytime programs.“ Hagedorn: „Doubtless to be Continued“. In: Allen (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 36. 115 Vgl. Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 126. 116 Siehe: Segmentübersicht 2, Anhang XII, S. 664. 117 The Guiding Light vom 04.04.1953, TC 04:49–05:21.

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Es folgt zunächst ein Werbespot von Duz [W2], in dem der Ansager in Person zu sehen ist, wie er das Produkt anpreist. Anschließend sagt der Ansager während der Schwarzblende und einem kurzen Orgelintro: „And now back to [betont]: The Guiding Light.“118 Die zweite Sequenz spielt im Gerichtssaal. Der Staatsanwalt befragt in Anwesenheit von 12 Geschworenen Kathys damalige Mitbewohnerin Alice Graham zur Mordnacht. Alice sagt aus, Kathy sei zum angegebenen Zeitpunkt mit ihr und George Stevens zusammen gewesen. Staatsanwalt:

Yes. But she definitely was with you and Mr. Stevens at 11:30 on the night of September the 12th?

Alice:

She was with us.

Staatsanwalt:

Thank you, Misses Graham. [Dreht sich zu den Geschworenen um.] Ladies and Gentlemen, the next witness I will call will be Mr. George Stevens. [Orgelmusik und darauffolgende langsame Schwarzblende.]119

3.1.2 Kategorisierung und Analyse Die im Vergleich zur Radioseifenoper höheren Produktionskosten sind besonders in der zweiten Sequenz offensichtlich: 12 Schauspieler sitzen im Studio-Gerichtssaal als wortlose Geschworene. Im Hörspiel hätte allein die Stimme des Erzählers zur Vergegenwärtigung dieser Situation genügt. Akustisch bleibt den Zuschauerinnen ‒ vermutlich da sie vorher zum Großteil Zuhörerinnen waren ‒ möglichst viel Vertrautes erhalten. Noch immer ist ein Ansager vorhanden, der die Sendung ein- und ausleitet [T1 und T2], der teilweise Übergänge zwischen Werbung und Narration schafft [N1] und der für das Produkt der Firma wirbt, welche die Sendung sponsert. Auch die Hammond-Orgel spielt weiterhin an allen Segment-Übergängen. Die Narration ist ebenfalls wie bei dem Beispiel von Myrt and Marge und The Guiding Light in zwei Szenen unterteilt [N2 und N3]. Zwischen diesen Teilen befindet sich wie bereits in der Radiofolge der Seifenoper von 1949/50 ein Werbespot [W2]. Anders als noch bei der Radio-Seifenoper ist nun der Ansager zu sehen, wie er das Produkt vorstellt. Das Ende der ersten Sequenz ist vorausdeutend und dramatischer als beispielsweise das Ende der ersten Szene in der analysierten Radio-Folge von Myrt and Marge. Dort machte sich der Ehemann Jack auf den Heimweg, um rechtzeitig zu Hause zu sein. Der vorausdeutende Minicliff vor der Werbeunterbrechung macht hingegen auf die nächste Sequenz, die Gerichtsverhandlung neugierig: Wird Richard mit seinem Vertrauen oder Laura mit ihren Bedenken gegenüber der Schwiegertochter Recht behalten? Vor allem der kommissive Kommunikationsakt deutet Unheil und

118 The Guiding Light vom 04.04.1953, TC 06:34. 119 The Guiding Light vom 04.04.1953, TC 12:20–12:52.

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Überraschungen an: „Perhaps you change your tune after the grand jury hears this case. That I am sure you will.“120 Auch wenn der Ansager in der Fernsehfolge der Seifenoper noch immer vorhanden ist, trägt er als extradiegetischer Erzähler viel weniger zur Narration bei als in der analysierten Radio-Episode von The Guiding Light. Diese Veränderung wird vor allem anhand des Minicliffs und des Cliffhangers deutlich: Beide finden ohne Kommentar des Ansagers statt.121 Lediglich auf die Fortsetzung der Geschichte nach dem Minicliff macht der Ansager nach wie vor aufmerksam mit den Worten: „We’ll learn more about this in a moment.“122 Der Cliffhanger am Ende der Folge ist lediglich andeutend. Kathys Mitbewohnerin Alice hat zwar Kathy belastet, indem sie ausgesagt hat, Kathy hätte den toten Robert Lang eher ‚aus Versehen‘ geheiratet. Sie entlastet aber Kathy in Bezug auf den Tathergang, denn diese sei zur fraglichen Zeit mit ihr und George Stevens zusammen gewesen. Jedoch wirkt der Staatsanwalt trotz dieses Alibis sehr selbstsicher und ruft als nächsten Zeugen den genannten George Stevens auf. Die Rezeptionserwartung geht aufgrund der Autorität des Staatsanwalts eher in die Richtung, dass George Stevens ‒ vielleicht aus gekränkter Eitelkeit, dass Kathy Dick Grant geheiratet hat ‒ Kathy belasten könnte. Die nächste Szene wird mit dem Aufruf des Zeugen vorbereitet und bricht dann ab. „Ladies and Gentlemen, the next witness I will call will be Mr. George Stevens.“ Der kommissive Kommunikationsakt macht darauf aufmerksam, was jetzt innerhalb der Erzählung kommen würde, aber zunächst einmal unterbrochen wird. Man könnte in diesem Fall von einer Aposiopese der Sequenz sprechen: Während George Stevens in den Raum geholt wird und der Staatsanwalt Alice mit Gesten zu verstehen gibt, sie könne sich wieder in den Zuschauerraum setzen, findet die langsame Überblende auf den schwarzen Bildschirm statt. Auf der auditiven Ebene kündigt eine düstere Orgelcoda Unheil an. Als Rezipient hat man den Eindruck, dass die Szene eigentlich weiter geht und nur von der Schwarzblende unterbrochen wird. Die Blende stoppt also Bewegungen und die Einstellung. Dieser Eindruck entsteht vermutlich auch aus dem Umstand, dass die Folgen noch live gespielt werden. Daher ist ‒ besonders mit einer langsamen Schwarzblende ‒ kein perfekt geschnittenes Ende der Folge möglich. Die Schauspieler agieren weiter, während die Schwarzblende gesetzt wird und die Folge endet.

120 The Guiding Light vom 04.04.1953, TC 05:19. 121 Allen beweist anhand seiner Transkripte von Radio- und Fernsehversion von The Guiding Light, dass der Ansager in der Radioversion die Szenerie beschrieb, die in der Fernsehversion ohne zusätzlichen Kommentar gezeigt wurde. Vgl. Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 166. 122 The Guiding Light vom 04.04.1953, TC 05:21.

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3.3

Love of Live (20.03.1953)

3.3.1 Deskription Diese Folge wurde für eine Analyse ausgewählt, weil sie ‒ anders als die bisher analysierten Folgen ‒ an einem Freitag ausgestrahlt wurde. Der neunjährige Benno Harper und sein Freund Gilbert Ross sind von ihrer Schule weggelaufen und wollen per Anhalter nach Alaska. Benno ist unglücklich, weil seine Eltern sich scheiden lassen und er hin- und hergerissen ist zwischen seinem Vater und seiner Mutter. Die Folge endet mit einer Sequenz, in der die beiden Jungen am Straßenrand stehen und darauf warten, per Anhalter mitgenommen zu werden. Gilbert entdeckt einen Dollar auf der anderen Straßenseite [Abb. LL1]. Er rennt über die Straße, während auf der Tonspur das Geräusch eines näher kommenden Autos hörbar wird. Benno ruft daraufhin: „Gil, watch out.“ [Abb. LL2] Die nächste Einstellung zeigt Gils erschrockenes und dann entsetztes Gesicht [Abb. LL3–4]. Benno ruft ihm erneut „Gil“ zu [Abb. LL5] und verbirgt dann voller Entsetzen sein Gesicht in seinen Händen [Abb. LL6], während ein dramatisches Orgelspiel einsetzt. Auf die Einstellung von Bennos in seinen Händen vergrabenem Gesicht folgt eine lange Schwarzblende und dann die Werbung. Abbildungen LL1–6: Hinweise auf Handlung außerhalb des filmischen Raums

Abb. LL1, TC 11:00

Abb. LL2, TC 11:21

Abb. LL3, TC 11:27

Abb. LL4, TC 11:28

Abb. LL5, TC 11:29

Abb. LL6, TC 11:34

Nach der Werbung fasst der Ansager wie in Myrt and Marge noch einmal die offen gelassenen Fragen zusammen. „Nothing can happen to a boy out on the road alone, Ben said. What can happen, she asked Telly. But her question was more a plead for reassurance than it was statement of fact. […] And this awareness of danger may well

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mean new explosions.“123 Nach dem anschließenden Werbespot, fügt der Ansager im Voice-over abschließend hinzu: „Don’t forget: be with us again on Monday for Love of Life.“124 3.3.2 Kategorisierung und Analyse Da am Wochenende keine Episoden von Seifenopern gesendet werden, ist die Erzählpause von Freitag bis Montag länger als bei den Folgen werktags. Vor dieser längeren Erzählpause wird anstelle des bisher in der Analyse vorherrschenden enthüllenden Cliffhangertyps mit einem gefahrensituativen geendet. Die Cliffhanger der Freitags-Episoden waren aber auch in den Radioseifenopern dramatischer.125 Noch sind die Wurzeln des Radios in der Fernsehseifenoper erkennbar. Besonders der Ansager wirkt wie ein Relikt aus vergangen Zeiten, wenn er am Ende die offen gelassenen Fragen und Handlungsentwicklungen im Voice-over bespricht und damit auditiv auf den Cliffhanger hinweist. Sein Gesicht ist zu Beginn der Folge zu sehen, während er die Sendung einleitet; aber dann ist nur seine Stimme zu hören. Der Cliffhanger erinnert zwar an die gefahrensituativen Cliffhanger der Kinoserien, denn die Konzentration liegt auf der direkten visuellen Handlungsdarstellung einer gefährlichen Situation. Es wird nicht ‒ wie bei Chuckies Unfall in der analysierten Folge von Guiding Light ‒ von diesem Geschehen nachträglich in einem Dialog berichtet.126 Die Inszenierung aber findet hauptsächlich noch über auditive Elemente statt: Das Auto ist nicht zu sehen, nicht einmal die Straße. Das nahende Fahrzeug wird durch recht merkwürdig klingende Soundeffekte hervorgerufen, ebenso wie darauf folgendes nachgeahmtes Quietschen der Reifen. Danach setzt, wie aus dem Radio gewohnt, eine Orgel ein, die das Ende hervorhebt und dramatisiert. Zum Teil mag auch das niedrige Budget ein Hintergrund dieser Inszenierung sein, aber die noch unmittelbare Radio-Herkunft des Produktionsteams und der Seifenoper ist offensichtlich. 3.4 As the World Turns (29.03.1962) 3.4.1 Deskription Die Folge von As the World Turns dauert eine halbe Stunde. In den 1960er Jahren werden einige Seifenopern von 15 auf 30 Minuten verlängert, andere wie Search for 123 Love of Live vom 20.03.1953, TC 13:04–13:30. 124 Love of Live vom 20.03.1953, TC 14:20. 125 „Fridayʼs installment, however, had to build enough suspense to cause listeners to tune in on the next episode, which did not come until Monday. […] As in other things, the less skillful writers and the dialoguers threw most of the responsibility for the Friday suspense tag to the narrator.“ Stedman: The Serials, 1977, S. 268–269. 126 Guiding Light, Ep. 851, TC 11:57–12.32. Siehe Seite 397.

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Tomorrow bleiben bei der alten Erzähldauer. As the World Turns und The Edge of Night sind die ersten beiden halbstündigen Seifenopern. Sie starteten am 02.04.1956 in dieser Länge.127 Die Folge ist noch immer in zwei Abschnitte unterteilt, nur dass diese je eine Viertelstunde dauern.128 Insgesamt wirkt die Folge eher wie eine Doppelfolge, nicht wie ein von vornherein geplantes Formt von 30 Minuten. Dieser Eindruck kommt vor allem dadurch zustande, dass in der Mitte [T2] eine kurze Einblendung mit dem Titelbild stattfindet und der Ansager im Voice-over sagt: „The first portion of this program has been brought to you today by Best Foods, makers of Nucoa with all your vitamin a in three pads a day. We’ll continue with As the World Turns following station identification.“129 Nach einer kurzen Einstellung des Logos von CBS fährt der Ansager fort: „And now the second portion of As the World Turns brought to you today by Carnation Instant Dry Milk and Carnation Instant Chocolate Drink.“130 Insgesamt finden statt der bisherigen zwei Szenen (im Radio) beziehungswiese Sequenzen (im Fernsehen) fünf statt, getrennt durch fünf Werbespots. Jeder Minicliff wird von den Klängen einer Hammond-Orgel unterstrichen; jeder erneute Einstieg in die Narration nach der Werbung wird ebenfalls von der Orgel begleitet. Das Ehepaar Betty und David (Dick) Stewart hat den kleinen Danny vor fünf Jahren adoptiert, ohne etwas über die Herkunft des Kindes zu wissen. Ellen, eine Babysitterin bei den Stewarts, stellt fest, dass Danny ihr leibliches Kind ist, und will es zurückhaben. In Sequenz 1 [N1] fragen sich die Stewarts, nachdem Ellen in der letzten Episode bei ihnen war, was nun geschehen wird und wie sie ihren Adoptivsohn behalten können. Betty ist so besorgt, dass Ellen ihnen Danny wegnehmen könnte, dass sie mit dem Kleinen fliehen will. Dick hält sie jedoch zurück: Dick:

[Orgel setzt leise ein mit einzelnen tiefen Tönen.] Danny is ours. And nobody can take him away from us.

Betty: [Vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen und schluchzt.] Oh Dick! [Orgel wird lauter, es erklingen mehr Akkorde und in höheren Lagen als zuvor.] What’s gonna happen, Dick? [Schüttelt den Kopf, noch immer in ihrer Hand vergraben.] What she’s gonna do? What’s gonna happen? [Schwarzblende.]131

Auf ähnliche Weise funktionieren die weiteren Minicliffs. Im ersten Teil der Seifenoper stehen die Minicliffs allein, ohne dass der Ansager die Überleitung spricht. Im 127 Siehe: Cox: The Great Radio Soap Operas, 1999, S. 67; Matelski: Soap Operas Worldwide, 1999, S. 22. 128 Siehe Segmentübersicht 3, Kapitel XIII, S. 664. 129 As the World turns vom 29.03.1962, TC 14:40–14:57. 130 As the World turns vom 29.03.1962, TC 15:07–15:17. 131 Ebd., TC 6:31–6:52.

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zweiten Teil sagt er nach dem Orgelcoda und in die Schwarzblende hinein: „We’ll return to As the World Turns in just a moment.“132 In der zweiten Sequenz [N2] sitzen Dr. Doug Cassen und seine Frau Claire zusammen und überlegen, ob Danny wirklich Ellens Sohn sei ‒ nie war bei den Stewarts die Rede davon, er sei adoptiert ‒ und wie sie ihnen helfen könnten. Doug ist Psychiater und behandelt Ellen seit längerem. Gleichzeitig ist das Ehepaar mit den Stewarts befreundet und befindet sich nun in einer Konfliktsituation. Die Sequenz endet damit, dass Doug im Begriff ist, die Stewarts anzurufen, um die Wahrheit zu erfahren und ihnen seine Hilfe anzubieten ‒ ein vorausdeutender Minicliff mit kommissiven Kommunikationsakt. In der dritten Sequenz [N3] wechselt die Handlung wieder zu den Stewarts. Diese Sequenz endet mit einer Parallelmontage, wie Doug anruft und fragt, ob er vorbeikommen könne. Der vorausdeutende Cliffhanger wird mittels eines exklamatorischen Kommunikationsakts vermittelt, als David Stewart antwortet: „Alright Doug, I think you are right. I think, we got a great deal to talk over.“133 In der folgenden vierten Sequenz besucht Doug Cassen schließlich die Stewarts. Die Sequenz wird mitten in der Handlung unterbrochen: Doug: There is one thing, I have to know. [Orgel setzt ein und langsamer Zoom auf die Stewarts.] […] We assumed right along that you were Danny’s parents. What I mean to say is: You are his natural parents? David, I have to know. Did you adopt him? Betty: [Fällt ihm ins Wort.] No, we didn’t. He’s our son. I gave birth to him. David: [Greift Betty bei den Schultern, um sie zu trösten.] Betty. I think Doug can be a great help to us. I hope he can. But if he can, he’s got to know the truth. Betty: [Schüttelt vehement den Kopf und fängt an zu weinen.] David, no. [Sie befreit sich aus seinen Händen und wendet sich schluchzend ab, während die Orgel lauter wird.] No, no, no! [Die Männer schauen sich hilflos und beunruhigt an. Schwarzblende.]134

Der Cliffhanger am Ende der Folge unterscheidet sich in seiner Dramatik nicht von den Minicliffs. Als die drei Figuren relativ beruhigt der Zukunft entgegensehen und sich darauf geeinigt haben, dass Doug nochmals mit Ellen spricht als ihr Psychiater und Mentor, ertönt plötzlich aus dem Off eine Jungenstimme: Danny: [Aus dem Off:] Mummy. Mummy! Betty: [Dreht sich besorgt und schnell in Richtung der Rufe.] Yes, Danny. Danny: [Aus dem Off:] I can’t sleep. I woke up but I can’t get back to sleep. 132 Ebd., TC 18:13. Sowohl bei N3 als auch bei N4 leitet der Ansager mit diesem Satz in die Werbung [W4 und W5] über. 133 Ebd., TC 18:00–18:15. 134 Ebd., TC 21:45–22:30.

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Betty: Mother is coming. [Dreht sich kurz zu den Männern um und geht dann hektisch in Richtung der Rufe und betont:] Your mother is coming. [Sie geht links an der Kamera vorbei. Die Kamera fährt leicht auf Doug und David zu, die einander ratlos und sorgenvoll anschauen. Schwarzblende.]135

3.4.2 Kategorisierung und Analyse Wegen Verdopplung der Folgenlänge gibt es nun mehrere Minicliffs. In der Intensität lässt sich aber zwischen den Minicliffs und dem Cliffhanger kein Unterschied feststellen. Der Ansager tritt nur noch akustisch und selten auf, zum Beispiel macht er auf den Wiedereinstieg nach dem Werbespot aufmerksam. Er präsentiert weder selbst die Werbung noch fasst er die offen gelassenen Fragen zusammen und dramatisiert dadurch das Ende der Folge. Der Ansager wirkt hier nur noch wie ein Überbleibsel aus dem technischen Ursprungsmedium Radio. Die Rufe des Kindes aus dem Off sowie die langsame Kamerafahrt auf die besorgten Gesichter der Männer lassen ein größeres Bewusstsein für die Möglichkeiten des technischen Mediums Film erkennen. Sicherlich suggerieren wie im Radio die Rufe aus dem Off einen unsichtbaren Raum. Aber diese Suggestion wird visuell erstens verbunden mit der Reaktion Bettys, die zu ihrem Adoptivsohn eilt und ihrem Satz „mother is coming“ betonend hinzufügt: „your mother is coming“. Zweitens nimmt die Kamera durch die Ranfahrt betont langsam die sorgenvollen Mienen der im Wohnzimmer zurückbleibenden Männer ins Visier, ohne jeden Dialog ‒ ein visuell-deiktischer Vorgang, im Rundfunk unmöglich. Auch die örtliche Parallelführung ist ausgereifter: Zwar sind die Schauplätze immer noch auf Innenräume beschränkt, aber immerhin verbindet eine Parallelisierung136 die beiden miteinander telefonierenden Personen und die beiden unterschiedlichen Orte. Auch die Werbespots wirken ‚filmischer‘. Der Kontrast zwischen vorherigen Beispielen wird in der Folge besonders bei dem Zeichentrick-Werbespot [W2] deutlich. Die bisherige vollständige Live-Ausstrahlung von Seifenoper und Werbung ist nun nur noch auf die Narration beschränkt: die Werbung wird inzwischen vorher aufgenommen und an den entsprechenden Stellen abgespielt.137 Insgesamt ist die Seifenoper mit den 30-minütigen Folgen wesentlich komplexer geworden. Es gibt keinen extradiegetischen Erzähler mehr, der zusammenfasst, erklärt und die offen gelassenen Fragen formuliert. Stattdessen sind mehr Figuren, Handlungsstränge, Segmente und Sequenzen vorhanden. Dementsprechend verwi-

135 Ebd., TC 26:24–27:04. 136 Aufgrund der Live-Sendung kann im eigentlichen Sinne nicht von einer ‚Parallel-Montage‘ gesprochen werden, da die Aufnahmen nicht im Nachhinein montiert werden. 137 Ab den 1950er Jahren waren „pre-recorded commercials“ üblich. Vgl. Hendricks: The Twenty-First-Century Media Industry, 2010, S. 253. Siehe auch: Fußnote 142.

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ckelter sind die Beziehungen zwischen den Figuren. Zeitabläufe der einzelnen Handlungsstränge werden parallelisiert. Was bei den 15-minütigen Seifenopern bereits angelegt ist, wird mit der zugenommenen Erzählzeit konsequent weitergeführt und ausgebaut: Die Kommunikation und Komplikationen des alltäglichen Zusammenlebens einer Vielzahl von Charakteren.138 3.5 Resümee und Ausblick Die Seifenoper hat das technische Medium gewechselt – vom Rundfunk zum Fernsehen. Die Produzierenden des Genres erkennen erst nach und nach die neuen Möglichkeiten, die mit diesem Medienwechsel verbunden sind. Das zeigt sich auch an den Cliffhangern. Anfangs, wie bei der analysierten Folge von The Guiding Light, ist der Cliffhanger der Fernseh-Seifenopern noch völlig dem Dialog verhaftet. Er könnte auch ohne Einbußen im Radio ausgestrahlt werden ‒ wie es tatsächlich bei The Guiding Light der Fall ist. Denn ein und dasselbe Skript dient als Vorlage für die Versionen in beiden Medien.139 Bei der analysierten Love of Live-Episode ist der Cliffhanger wesentlich handlungsbezogener – die Inszenierung jedoch trägt noch alle Züge des Hörfunks: Der Unfall des Jungen wird sehr assoziativ vor allem durch Geräusche (und die Reaktion seines Freundes) evoziert. Erst bei der Folge von As the World Turns von 1962 werden die filmischen Möglichkeiten für die Seifenoper ausgeschöpft. Durch einige offscreen gesprochene Sätze wird akustisch die Gegenwart einer Person in einem anderen als dem optisch dargestellten Raum suggeriert; die Reaktion auf die Rufe wird dann bildlich gezeigt und inszenatorisch durch eine Ranfahrt betont. Hier finden sich bereits die Grundbestandteile der später für die Fernseh-Seifenoper charakteristischen Einstellungen des enthüllenden Cliffhangers: „Soap operas also possess their own readily identifiable production style. […] Because the world of soap operas emphasizes relationships, camera shots concentrate on the human face rather than on sets. Close-up shots dramatize the charactersʼ intense emotional reactions to

138 „The source of the soap opera’s paradigmatic complexity is its large community of interrelated characters. The Hollywood film or traditional novel is structured around a limited number of characters, a few of whom are marked more specifically as protagonists or antagonists. The events of the narrative ‚happen‘ to them, and the fates of minor characters hinge on that of the heroes and heroines. Soap opera narratives, on the other hand, contain upwards of forty regularly-appearing characters, and while some are more prominent than others at any given time, none can be singled out as the motor of the narrative.“ Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 69. Siehe auch: Fußnote 18. 139 Siehe auch: Fußnote 121.

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events. Consequently, a formulaic shot sequence consists of (1) a revelation of some kind; (2) a close-up of the principal speaker; and (3) reaction shots of the other characters.“140

Diese Art der filmischen Darstellung wird im Folgenden unter dem Begriff der Enthüllungs-Montage zusammengefasst: Ein Close-up, häufig in Kombination mit einer Ranfahrt oder einem Zoom, werden zu häufig verwendeten inszenatorischen Mitteln der Fernsehseifenoper. „Slow, lingering close-up during intimate revelations became the visual paradigm of the serial and presented many possibilities for character revelation.“141 Die auch von Simon doppelt genannte und damit betonte „revelation“ unterstützt damit meine These, in der Seifenoper werde vornehmlich der enthüllende Cliffhanger eingesetzt. Auch wenn vor allem in Freitags-Folgen, die eine längere Erzählpause überbrücken müssen, gelegentlich gefahrensituative Cliffhanger gesetzt werden, macht die für die Seifenoper als charakteristisch dargestellte EnthüllungsMontage deutlich, dass enthüllende Cliffhanger im Genre der Seifenoper insgesamt überwiegen. Vor allem die Filmtechnik ermöglicht der Seifenoper in der Zeitspanne der 1950er bis 1970er Jahre eine andere Struktur. Die Werbung wird vorproduziert. So können die Cliffhanger besser geplant und gezielter gesetzt werden, als es beispielsweise noch der Fall ist beim Cliffhanger der Folge The Guiding Light vom 04.04.1953, die wie eine Aposiopese der Sequenz wirkt. „Because both commercials and ‚story‘ were broadcast live through the early 1960s, soap opera advertisements were limited to technically simple and rhetorically straight-forward product pitches – a voice-over narrator extolling the virtues of Tide detergent while a model illustrated his points on a laundry-room set, for example. Anything much more elaborate was difficult to accommodate within the ‚real-time‘ restrictions of live television. With the advent of video tape as a recording and retransmission medium in the mid-1960s, however, advertisements could be prepared in advance and inserted into the program as it was broadcast. Soap opera commercials were prerecorded long before the narrative segments they surrounded were.“142

In längeren Folgen können mehr Werbeeinheiten zwischen die Narration geschoben werden, dementsprechend mehr commercial slots können zur Verfügung gestellt werden143 ‒ doch erst mit den im Voraus aufgenommenen Werbespots ist dies praktisch umsetzbar. Durch mehr Werbesegmente sind auch häufigere Mini- und Binnencliffs möglich. 140 Silverblatt: Genre Studies in Mass Media, 2007, S. 172. 141 Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 23. 142 Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 167. 143 Vgl. Blumenthal u. a.: This Business of Television, 2006, S. 3.

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Insgesamt findet wegen der Vorfertigung von Spots und des allmählichen Verschwindens des Ansagers eine deutlichere Trennung zwischen Werbung und Narration statt. Bei den Radio- und ersten Fernseh-Seifenopern wirkt noch die ganze Sendung zusammengehörig; trotz der verschiedenen Teile erscheint die Inszenierung wie aus einem Guss. Der Ansager verbindet die Teile, und sie sind zusätzlich im selben Stil aufgenommen: Sowohl Narrations- als auch Werbesegmente werden im Studio gedreht und live ausgestrahlt. In den zuletzt analysierten Folgen ist hingegen eine deutliche Trennung vorhanden. Die Spots finden an ganz anderen Schauplätzen statt, entweder als Außendreh, in anderen Studios, oder sie bedienen sich sogar der Tricktechnik. Sie werden nicht von demselben Ansager präsentiert wie die Narration. Durch die Laufzeit von nun 30 Minuten144 sind mehrere Sponsoren-Produkte im Fokus. Die längeren Folgen erfordern aufgrund der steigenden Produktionskosten sogar die Werbung für verschiedene Produkte. Würde auch in den 30-minütigen Folgen nur ein Produkt beworben, wäre das ein sehr hoher Werbeaufwand für ein einziges Produkt. Drei bis vier Werbespots vom selben Produkt innerhalb einer Sendung würden recht aufdringlich und damit enervierend erscheinen. Auf diese Weise kann beispielsweise Procter and Gamble die Produktionskosten auf verschiedene Produkte ihres Sortiments verteilen und mit einer einzigen Sendung mehrere Produkte bewerben.145 Dementsprechend schwindet auch die Bedeutung des Ansagers. Eine eindeutige Verknüpfung zwischen Ansager und Produkt ist nicht mehr möglich, da es kein einzelnes Produkt mehr gibt, das für die jeweilige Seifenoper steht. Die Stimme des Ansagers ‒ beziehungsweise später seine Gestalt ‒ kann nicht mehr für ein einziges Produkt stehen. Außerdem fallen die narrativen Vorteile eines Ansagers weg: Er muss nicht wie bei der Radio-Seifenoper die Szenerie beschreiben, noch den Cliffhanger inszenatorisch durch zusätzliche Fragen hervorgehoben. „[M]ost of the basic narrational tasks performed by the radio announcer were obviated by the addition of a visual channel of information to the soap opera form. Characters and settings no longer needed to be described to listeners. […] A close-up of a character’s face could induce protensive projection in the reader [sic] almost as well as the narrator’s commentary at the end of a scene or an entire episode.“146

Dass der Cliffhanger im Fernsehen auch ohne Ansager spannungsgeladen ist, liegt auch an den zusätzlichen narrativen Hervorhebungsmöglichkeiten des Films. Die 144 Nach Allen waren alle neu eingeführten Fernseh-Seifenopern ab 1956 halbstündig. Vgl. Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 169. 145 Wie bereits erwähnt, werden beispielsweise bei der analysieren Folge The Guiding Light vom 04.04.1953 die Produkte Duz und Ivory Soap beworben, die beide von Procter & Gamble hergestellt werden. 146 Ebd., S. 166.

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Enthüllungs-Montage akzentuiert visuell, dass eine dramatische Entwicklung stattfindet. Es muss nichts mehr ‚angesagt‘ werden, sondern alles kann gezeigt und mit filmischen Mitteln inszeniert werden. Trotz aller Veränderung bleibt der für die Radioseifenoper bestimmende Grundcharakter in der Fernsehversion erhalten: Der große Werbeanteil sowie die Verknüpfung von Produkt und Serie sind geblieben ‒ auch wenn es nun mehrere beworbene Produkte sind. Der Ansager, der zumindest in The Guiding Light noch verstärkt auftritt und den Binnen-Werbespot präsentiert, ist noch vorhanden. Genauso gibt es weiterhin die musikalische Betonung dramatischer Momente durch eine live gespielte Hammond-Orgel.147

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DER

1970 ER –1990 ER J AHRE

Der allmähliche Machtverlust der Sponsoren beginnt 1959 mit dem quiz show scandal.148 Wie die Seifenopern gibt es die Quiz-Sendungen zuerst im Rundfunk. Besonders im Fernsehen sind sie ebenso werbewirksam für die Geldgeber wie die Seifenopern.149 „CBS’s $64,000 Question premiered June 7, 1955, and was sponsored by Revlon. Contestants answered questions from a glass ‚isolation booth.‘ Successful contestants returned in succeeding weeks to increase their winnings, and Revlon advertised its Living Lipstick. By September, the program was drawing 85 percent of the audience, and Revlon had to substitute an ad for another product because its factory supply of Living Lipstick had completely sold out.“150 147 Ob der Cliffhanger ausdrücklich in den Scripts der Seifenopern vorkommt, konnte nicht festgestellt werden. Immerhin sind die Bedeutung des teasers und precaps schon bewusst. In einem Script von Irna Phillips The Guiding Light vom 19.01.1950 steht bspw. als letzte Aussage. „Announcer: (tease) Meta Bauer learns of Charlotteʼs hospitalization in the next dramatic episode of The Guiding Light brought to you by the New Duz.“ Ebd., S. 203. 148 Robert Redford drehte über diesen Skandal den Film Quiz Show (USA 1994), der die Bedeutung des Skandals als wichtigen Wendepunkt des amerikanischen Broadcasting Network-Systems deutlich macht. 149 „[T]he links between television quiz show scandals and the genre’s history on radio are both vital and complex. The quiz show emerged on radio in the earliest days of the medium’s commercialization“. Mittell: Genre and Television, 2004, S. 31. Jason Mittell bietet die umfassendste Analyse des quiz show scandal, weil er die gesamte Geschichte des Quiz-Genres, vor allem auch im Radio, in seine Betrachtung einbezieht. Siehe: ebd., S. 28–54. 150 Biagi: Media Impact, 2012, S. 167.

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Im Sommer 1958 kommt es vermehrt zu Anschuldigen, es fände bei den Quiz-Sendungen eine Wettbewerbsverzerrung statt. Die Teilnehmer folgen angeblich nur einem ihnen von den Produzenten vorgegeben Skript und sind in die Fragen eingeweiht. Ende 1958 beginnt eine Untersuchung, bei der vor allem die Teilnehmer und Produzenten zu den Vorgängen in der Herstellung der Quiz-Sendungen verhört werden. 1959 gibt schließlich einer der Gewinner, Charles Van Doren, vor einem Kongress-Komitee zu, ihm seien die richtigen Antworten, die ihn 1957 zum Gewinner der Quiz-Sendung Twenty-One machten, vorher von den Produzenten zugeschoben worden.151 Das Vertrauen der Zuschauer ins ‚Fair-Play‘ des Fernsehens und in die Authentizität, die eine Live-Ausstrahlung suggeriert, ist tief erschüttert. Die networkSender bestreiten zwar, etwas von diesen Methoden gewusst zu haben ‒ dass sie aber behaupten können, nicht über die Produktionsmethoden von Sendungen informiert gewesen zu sein, die sie ausstrahlten, beweist, wie sehr die Macht der Geldgeber über das network-Programm ausgeufert ist.152 Die Sender müssen den Einfluss der Sponsoren deutlich eingrenzen, um das Vertrauen des Publikums wieder zu gewinnen.153 „Before the scandals, advertisers and their agencies produced one-quarter to one-third of network programming. As a result of the quiz show scandals, the networks turned to other sources, such as independent producers, for their programming.“154 Die Herstellung der Seifenopern wird vom quiz show scandal beeinflusst, weil die daily soaps bisher vorwiegend von Werbefirmen produziert werden.155 Noch in den 1950er und frühen 1960er Jahren haben die Sponsoren großen Einfluss auf die Produktion der Seifenopern. Irna Phillips beispielsweise, eine sehr erfolgreiche Seifenopern-Produzentin, bietet den network-Sendern ihre TV-Seifenopern in den

151 Eine subjektive, aber sehr detaillierte und aufschlussreiche Darstellung der Ereignisse lieferte Charles van Doren in einem Artikel des New Yorker im Jahre 2008. Doren: „All the Answers“. In: New Yorker, Juli 2008. 152 „[T]he quiz show scandals were instrumental in prompting a change in the economic and institutional infrastructure of American Television. Instead of buying space to produce an entire program, advertisers were to buy time to screen adverts in the separate slots of ‚commerical breaks‘ […]. If advertisers no longer had direct involvement with a show, it was perceived that such a structure would eliminate the desire to ‚meddle‘ with content in order to boost ratings.“ Holmes: The Quiz Show, 2008, S. 49. 153 „As presented in traditional accounts of the scandals, television audiences assumed certain generic conventions – such as ‚televised fair play‘ and spontaneous unrehearsed competition – as definitional elements of the genre; when the programsʼ actual production practices were revealed to contradict these conventions, the 1950s scandals ensued.“ Mittell: Genre and Television, 2004, S. 31. 154 Biagi: Media Impact, 2012, S. 168. 155 Vgl. Cantor u. a.: The Soap Opera, 1983, S. 53.

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1960er Jahren weiterhin als Paket an, also inklusive Werbung des Sponsors.156 Im Unterschied zu anderen Formaten dauert es bei der Seifenoper lange, die Macht der Sponsoren über die Produktion von Seifenopern einzuschränken.157 Bis in die 1960er Jahre ist ‒ nach den Anfängen in Chicago ‒ New York die Hauptproduktionsstätte der daily soaps, vor allem weil dort zahlreiche Werbe- und Sponsorenfirmen ihren Sitz haben. Aus der Machtbeschneidung dieser Parteien ergibt sich, dass die network-Sender nun ihre Seifenopern zum Teil selbst produzieren; dementsprechend dreht man in Hollywood und nicht mehr in Chicago und New York. „Until then most of the serials had been produced in New York, with roots in the city’s performing arts heritage. Beginning with General Hospital [seit 1963], soap producers on the West Coast started their own tradition, using videotape, but searching for the more polished look and artful camera angels associated with the movies.“158

Dass die Sponsoren sich langsam Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre aus der Produktion der Seifenopern zurückziehen, hängt auch zusammen mit den sinkenden Einschaltquoten der Sendungen dieses Genres.159 Das Mittags- und Nachmittagspublikum ist wesentlich heterogener geworden. Ein ‚Genre (nur) für Hausfrauen‘ ist weder zeitgemäß noch lohnend: „To make matters worse for soap opera producers, the baby boom of the immediate postwar years had ended, and women had begun working outside the home in numbers unprecedented in peacetime. Soap opera ratings declined in 1977–78 as part of an overall drop in daytime HUT (households using television). Soap opera producers responded by introducing younger characters, injecting plot lines with social controversy, and making more female characters career oriented.“160

Mehr Figuren, die ein gemischteres Zielpublikum ansprechen, führen zu längeren Folgen. Besonders der Wechsel von einer Live-Produktion zu einer auf preiswertem

156 Vgl. Cox: The Great Radio Soap Operas, 1999, S. 63. 157 Procter and Gamble stellte lange Zeit noch eigene Seifenopern her. Die zuletzt verbleibende einzige eigene Produktion, As The World Turns, wurde am 17. September 2010 nach 54 Jahren zum letzten Mal ausgestrahlt. http://news.pg.com/blog/entertainment/pgssoap-opera-era-ends-our-innovation-entertainment-continues [vom 19.02.2014] 158 Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 32. 159 Vgl. Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 128. 160 Ebd.

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Videotape vorproduzierten Seifenoper ermöglicht ausgedehntere Episoden.161 Die zehnte Jubiläumsfolge von Another World 1974 dauert statt der üblichen 30 Minuten doppelt so lange. Sie erzielt so hohe Einschaltquoten, dass bald weitere Seifenopern von 30- auf 60-Minuten-Folgen wechseln,162 während nicht so erfolgreiche daily soaps im Gegenzug abgesetzt werden.163 Das heutzutage für Seifenopern typische ensemble cast wird vor allem mit der längeren Erzählzeit von einer halben und dann einer ganzen Stunde möglich: „The longer format allowed Phillips [d.i. die Seifenopern-Autorin Irna Phillips] to underline two central tenets: that the heart of the serial is the exchange of feeling and memories between two characters; and that any incident should not affect a handful of characters but the whole community.“164 Die Einführung des ensemble cast ermöglicht eine Vielzahl an Charakteren und Handlungssträngen, die ein heterogeneres Publikum ansprechen. Aufgrund der Zunahme von Erzählzeit, Figuren und Handlungssträngen sind die 60-minütigen Folgen wiederum mit noch höheren Produktionskosten verbunden, die sich für einen einzelnen Sponsor nicht mehr lohnen. „Since 1959, dramatic series costs have risen substantially. At the same time, prime-time series have a very high mortality rate. Also, there is a greater sophistication about demographic characteristics and how audiences use television. It is thus more beneficial to both the networks and advertisers to use a ‚magazine‘ concept of sponsorship, so that no single advertiser needs to bear the entire cost of production.“165

Der quiz show scandal, ein vielschichtigeres Publikum, längere Folgen mit mehr Werbung und teurere Produktionskosten verringern die Macht, aber auch das Interesse der Geldgeber an der Produktion der Seifenoper. Ihr Format wird damit aber in keiner Weise uninteressant für Werbeträger – im Gegenteil: Das sehr loyale Publikum bleibt für Netzwerk-Sender und Werbefirmen eine konstante und verlässliche Größe. Aber die direkte und relativ exklusive Verbindung eines beworbenen Produkts mit einer Seifenoper ‒ ursprünglich das namensgebende Merkmal dieses Genres ‒ ist kaum noch tragfähig. Das Publikum ist zu uneinheitlich geworden, um sich

161 1956 wurde Ampexs Quadruplex Videosystem verfügbar. Vgl. Howett: Television Innovations, 2006, S. 37. 162 Ein Großteil der Seifenopern wurde auf 60 Minuten verlängert. Einige wenige wie Search for Tomorrow blieben 30-minütig. 163 Vgl. Hayward: Consuming Pleasures, 2009, S. 139; Hagedorn: „Doubtless to be Continued“. In: Allen (Hg.): To Be Continued…, 1995, S. 38. 164 Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 23. 165 Ebd., S. 32.

S EIFENOPERN | 421

für ein einziges Produkt gewinnen zu lassen, und die Produktion der Seifenoper für die Bewerbung nur eines einzelnen Produkts wird zu teuer. 4.1

Guiding Light (15.11.1989)

4.1.1 Deskription Drei bereits in der vorherigen Episode aufgekommene Konflikte bestimmten den allergrößten Teil der Folge und stehen im Fokus der Analyse:166 I.

Der junge, bereits straffällig gewordene Dylan hat in der letzten Folge gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen und sitzt nun im Büro der Bewährungshelferin. Sein jetziges Vergehen, das er aus Liebe begangen hat, besteht aber nur aus einer Nichteinhaltung der vorgegeben Ortsbeschränkung. Ansonsten hatte sich Dylan in der letzten Zeit gebessert. Nun droht ihm erneut das Gefängnis wegen einer Bagatelle. Der Mitinhaber der Firma Spaulding, Phillip Spaulding, wurde in der vorhergehenden Folge nachts auf einem Friedhof von der Polizei aufgegriffen, als er das Grab seiner Geliebten Beth öffnete, in der festen Überzeugung, ihre Leiche liege nicht dort, sondern Beth sei noch immer am Leben (was tatsächlich der Fall ist). Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, weil er sich der Polizei widersetzte und einige Ärzte sowie die Polizei davon überzeugt waren, er habe einen Nervenzusammenbruch. Phillips Abwesenheit bietet seinem Bruder Allan und der Mitinhaberin Vanessa die Gelegenheit, ihm die Firmenleitung ganz zu entreißen. Maureen Readon und Ed Bauer sind geschieden, aber haben in den letzten Wochen entdeckt, dass sie doch zusammengehören und ein neues Miteinander möglich wäre.

II.

III.

Handlungsstrang II: Die zweite Sequenz endet im Krankenhaus, wo Blake, Phillips Ehefrau, die Krankenschwester nachdrücklich fragt, wie es ihrem Mann gehe. Die Krankenschwester will aber nicht die Nachrichtenüberbringerin sein. Unbemerkt von den beiden steht die Firmen-Mitinhaberin Vanessa im Hintergrund, die nichts von Phillips Schwierigkeiten weiß und seine Lage ausnutzen könnte. Blake:

[Im Hintergrund betritt Vanessa den Raum.] How is he?

Krankenschwester: He seems calm now. Blake:

[Fordernd, besorgt und ungeduldig.] That’s it?

Krankenschwester: [Verlegen:] That’s all I can say at this point. 166 Die folgenden römischen Ziffern beziehen sich auf die in der Segmentübersicht 4 dargestellten Handlungsstränge. Siehe: Anhang, S. 665.

422 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION Blake:

What do you mean, that’s all you can say? What is it? What? Tell me the truth! Has Phillip had a breakdown? [Close-up auf Vanessa im Hintergrund. Beginn des Vorspanns.]167

Die Sequenz wird vom Vorspann unterbrochen ‒ in den TV-Studies als cold open oder teaser bezeichnet.168 Nach dem Vorspann folgt ein Werbeblock aus fünf Spots. Dann wird die Handlung unmittelbar am Interruptionspunkt fortgeführt: Vanessa, deren Erstaunen über Phillips Zustand in einem Close-up als letzter Einstellung gezeigt wurde, schaltet sich in die Unterhaltung ein: „A Breakdown?“ Eine direkte Reaktion auf Blakes Frage (aus Sq.2): „Has Phillip had a breakdown?“ Handlungsstrang I: Das zweite Narrationssegment endet damit, dass die Bewährungshelferin zu Dylan sagt: „You are on parole, you break it. You end up with an injunction. You break it. Now how many times you think that the pretty smile of yours is gonna get you past me? Well, you’re not slipping out of this one. [ReactionClose-up auf den entsetzten Dylan mit anschließender Schwarzblende.]“169 Dieser Handlungsstrang wird erst in der dritten Sequenz des vierten Narrationssegments [N4.3] fortgesetzt. Handlungsstrang II: Das dritte Narrationssegment endet im Krankenhaus. Phillip soll entlassen werden. Als er dabei ist, seine Sachen zusammenzusuchen, kommt seine Frau Blake ins Zimmer. Da er sich sicher ist, dass sie ihn wegen der angeblich toten Beth angelogen und hintergangen hat, stürzt er sich auf sie, seine Hände umklammern ihren Hals. Der anwesende Freund und Arzt Rick Bauer versucht ihn, abzuhalten. Rick: [Versucht Dylans Hände von Blakes Hals zu lösen.] „Phillip! Stop it!“170 Die Sequenz wird unmittelbar nach der Werbeunterbrechung [W3] fortgesetzt: Blake und Rick kämpfen immer noch mit Phillip; Rick ruft zwei Pfleger herbei, die Phillip von Blake trennen und ihn auf seinem Bett festschnallen. Handlungsstrang I: In der Sequenz 11, der letzten von Narrationssegment 4, wird das Gespräch um Dylans Bewährung fortgesetzt. Dabei eilt Dylans Sponsor ihm zur Hilfe und platzt ins Büro der Bewährungshelferin.

167 Guiding Light vom 15.11.1989, TC 2:20–2:40. 168 „A teaser, also called ‚a cold opening,‘ refers to dramatic material before the titles (before the name of the series and credits). It may be a one-minute ‚hook,‘ or as long as ten minutes that includes several small scenes, making it nearly as full as a traditional whole act. In any style, it exists to grab the viewers faster than the enemy, which is the remote. The notion is to open the hour with an action, image, situation or character that provokes enough anticipation to keep viewers through the title sequence and into the first act.“ Douglas: Writing the TV Drama Series, 2011, S. 78. 169 Guiding Light vom 15.11.1989, TC 09:29–9:43. 170 Ebd., TC 16:25.

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Mr. Louis:

He didn’t steal it. That’s my truck.

Bewährungshelferin:

[Ironisch:] Oh, hello Mr. Louis. Do come in.

Mr. Louis:

[Etwas verlegen:] There wasn’t anything illegal about it. As a matter of fact, I gave him that truck that night.

Bewährungshelferin:

Are you saying that you knew that Dylan was breaking parole? [Reaction-Close-up auf Mr. Louis’ entsetztes Gesicht. Schwarzblende.]171

Die Sequenz wird nach der Werbung direkt am Interruptionspunkt fortgesetzt. Die Bewährungshelferin sagt: „Your job, Mr. Louis, was to keep Dylan in line, not to push him over it. What kind of sponsor are you?“172 Handlungsstrang II: Am Ende des fünften Narrationssegments ist Blake nach dem Würgeangriff ihres Mannes ins Büro von Spaulding Enterprises zurückgekehrt, in dem Phillips Bruder Alan-Michael auf sie wartet. Er weiß bereits von dem Zwischenfall. Alan-Michael, der stets eifersüchtig auf den adoptierten Phillip war, versucht nun Blake gegen Phillip aufzuwiegeln. Blake: Alan. [Musik setzt ein.] I don’t care about that right now. My husband just tried to kill me. Alan:

I know. [Siegessicher:] And he did in front of witnesses. That puts you in a perfect position. [Reaction-Close-up auf Blake. Musik wird lauter. Schwarzblende.]173

Die Sequenz wird erst in der zweiten Sequenz des letzten Narrationssegments der Folge fortgesetzt. Handlungsstrang I: In der zweiten Sequenz (Sq. 17) von Narrationssegment 6 entscheidet sich die Bewährungshelferin schließlich dazu, Dylan nur einige Restriktionen aufzuerlegen und ihn nicht ins Gefängnis zu schicken – eine Auflösung in der Mitte des Segments. Handlungsstrang III: Das Segment endet hingegen damit, dass Ed Bauer Maureen Reardon fragt, ob sie sich zu einer zweiten Heirat mit ihm entschieden habe. Er überreicht ihr einen Ring und hat einen Sänger engagiert: „So what do you say? Do I get a second chance?“ [Im Hintergrund beginnt der Sänger ein Lied. Close-up auf sie, Close-up auf Ed, wie er sie zuversichtlich anlächelt; Close-up wieder auf sie, wie sie seufzt und schluckt. Schwarzblende.]174 Die Sequenz wird nach der Werbeunterbrechung am Interruptionspunkt mit der Frage des Sängers fortgesetzt: „So how are we

171 Ebd., TC 25:30–25:50. 172 Ebd., TC 27:53–28:00. 173 Ebd., TC 37:20–37:35. 174 Ebd., TC 48:08.

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doing?“ Wenige Sekunden danach stimmt Maureen einer erneuten Ehe mit Ed zu. Auch hier findet eine Auflösung innerhalb eines Segments statt. Handlungsstrang II: Die zwei folgenden Sequenzen erhöhen die Spannung wieder. In der anschließenden zweiten Sequenz (Sq. 20) wird der Minicliff im Spaulding Büro fortgesetzt, und Alan macht der zunächst ungläubigen Blake klar, welche Macht sie nach Dylans Angriff vor Zeugen über sein Schicksal hat. Alan:

He [d.i. Phillip] attacked you in front of witnesses. [Musik setzt ein.] That makes some clear and present danger.

Blake: [Immer noch verwirrt:] What are you saying? Alan:

I am saying: Put him away. Put him away, where he can’t hurt you again. [ReactionClose-up auf Blakes Gesicht (Abb. GL1).]175

Handlungsstrang II: Dieses Sequenz-Ende wird von der folgenden und letzten Sequenz an Spannung noch überboten. Phillips Freund Rick, der Arzt ist, schaut auf seinen an das Krankenhausbett fixierten und unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln schlafenden Freund Phillip. Er verlässt das Zimmer und teilt der befreundeten Krankenschwester mit, Phillip solle möglichst bald das Krankenhaus verlassen. Abbildungen GL1–6: Close-ups im Cliffhanger – anschließend Werbung

Abb. GL1, TC 52:54

Abb. GL2 TC 53:04

Abb. GL3, TC 53:17

Abb. GL4, TC 53:51

Abb. GL5 TC 53:55

Abb. GL6 TC 54:03

Krankenschwester: If the doctors determine that he is a threat to himself or to others they have to take him away. [Langsame, bedrohliche Musik.] Rick:

Wait a minute! Are you saying he could be committed against his will?

175 Ebd., TC 52:35–52:57.

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Krankenschwester: Maybe. Maybe. I mean, at the very least he could be declared unable to make that decision himself. Rick:

And then?

Krankenschwester: It would be up to Blake. If she decided to have him committed he’d had no choice.176

4.1.2 Kategorisierung und Analyse Die Folge ist wesentlich länger und verschachtelter, als es noch die 30-minütigen Seifenopern waren. Es sind viel mehr Narrationssegmente, viel mehr Werbeunterbrechungen und somit mehr Minicliffs vorhanden. In die einzelnen Segmente sind mehr Sequenzen eingefügt. In der analysierten Folge von As the World Turns vom 29.03.1962 gibt es nur eine Sequenz pro Segment, hier sind es zwei bis vier Sequenzen. Das Darsteller-Ensemble ist dementsprechend größer. Vor jeder Werbeunterbrechung kommt ein Minicliff. Alle Minicliffs haben, von der erzählten Zeit aus betrachtet einen direkten zeitlichen Anschluss: Der Aufhebungsmoment ist entweder direkt am Interruptionspunkt oder nach einer gewissen Erzählzeit am selben Moment der unterbrochenen erzählten Zeit. Wir haben es hier also mit seltenen parallelisierten Interruptionsspanne177 zu tun: Erzählstrang A wird von einer Werbeunterbrechung beendet; danach werden zunächst ein oder mehrere andere Erzählstränge fortgesetzt, bevor dann zu Erzählstrang A gewechselt wird, bei dem jedoch die erzählte Zeit stehengeblieben ist. Ähnlich wie bei einer Parallelmontage wird suggeriert, dass alle dargestellten Erzählstränge zeitgleich ablaufen, der Zuschauer sie nur innerhalb der Erzählzeit nacheinander sieht. Die Interruptionspunkte und parallelisierten Interruptionsspannen sind auch Ausdruck der veränderten Produktionsbedingungen: Die Seifenoper wird nicht mehr live, sondern vom Videoband ausgestrahlt. Die Handlungsstränge einer Folge werden vermutlich mit Minicliff, aber in einem Durchgang gefilmt und erst später unterbrochen und parallel geschnitten. Bei der Tabelle GL1 (und Segmentübersicht 4 im Anhang) sowie der Analyse wird deutlich, wie konsequent die Handlungsstränge alternierend erzählt werden. Als Teil der Abwechslung haben die Handlungsstränge immer im Wechsel einen Minicliff vor einer Werbeunterbrechung:178 Narrationssegment 1 wird mit dem Minicliff von Handlungsstrang II beendet, woraufhin im folgenden Narrationssegment 2 Handlungsstrang I mit einem Minicliff Spannung erzeugt. Der vom Heiratsantrag handelnde Handlungsstrang III, der nicht viel Spannungspotenzial besitzt, wird dementsprechend nur für einen einzigen Minicliff verwendet.

176 Ebd., TC 53:12–54:04. 177 Siehe: Kapitel III. 3.2.3 „Die neuen Kategorisierungen“, S. 125. 178 Siehe Übersicht 4: Anhang, S. 665.

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Tabelle GL1: Komplexes Spiel mit Minicliffs und deren Aufhebung Sg

Sq

Letztes Geschehen

Aufhebung

Kom.-Akt

N1

2

Has Phillip had a breakdown? [Close-up auf Vanessa im Hintergrund]179

Interrogativ

N2

5

Well you’re not slipping out of this one. [Reaction-Shot auf Dylan.]180

Kommissiv

Enthüllend

N3

8

Exklamatorisch

Gefahrensituativ

N4

11

Interrogativ

Enthüllend

N5

15

Exklamatorisch

Enthüllend

N6

18

[Phillip versucht Blake zu erwürgen.] Rick: [versucht ihn aufzuhalten] Phillip. Stop it! Are you saying that you knew that Dylan was breaking parole? [Reaction shot auf Louis.] Blake: My husband just tried to kill me. Gary: I know. And he did in front of witnesses. That puts you in a perfect position. [Close-up reaction shot auf Blake.]181 Do I get a second chance? [Sie überlegt. Close-up auf sie. Close-up auf ihn.]182

Interrogativ

Enthüllend

N7

21

Sg.N2/ Sq.1 Interruptionspunkt Sg.N4/Sq.3 Parallelisierte Interruptionsspanne Sg.N4/Sq.1 Interruptionspunkt Sg.N5/Sq.1 Interruptionspunkt Sq.N7/Sq.2 Parallelisierte Interruptionsspanne Sq.N7/Sq.1 Interruptionspunkt -

Cliff.Typ Enthüllend

Kommissiv

Enthüllend

If she decided to have him commited he’d had no choice. [Reaction-Shot auf Rick, harter Schnitt auf eine Totale von Phillip angekettet im Krankenzimmer.]183

Minicliffs und der Cliffhanger der Folge vom 15.11.1989 samt Gestaltung und Aufhebung.

Ebenso eindeutig kann festgestellt werden, dass der Cliffhanger im Vergleich zu den Minicliffs noch wesentlich dramatischer inszeniert wird. Dies ist vor allem an der vorletzten Sequenz mit Binnencliff ersichtlich, welche die Tragweite und Wirkung des Cliffhangers vorbereitet. In dieser Sequenz [N7.2] nutzt Alan die Gelegenheit, Blake zu manipulieren, damit sie gegen ihren Mann Phillip tätig wird. Die Bedeutung der Enthüllung von Alans Plan als Binnencliff wird aber erst in der nächsten, letzten Sequenz der Folge deutlich: Die Krankenschwester macht Rick klar, dass Phillip nach seinem Anschlag auf Blake gegen seinen Willen in eine Anstalt gebracht werden kann. Würde er tatsächlich als unmündig eingestuft, träfe Phillips Frau Blake die Entscheidung über eine Einweisung ‒ die dramatische Ironie besteht darin, dass der Rezipient bereits durch den Binnencliff der vorherigen Sequenz weiß, dass Blake stark von Alan beeinflusst wird und sie deshalb höchstwahrscheinlich diese Entscheidung gegen Phillip träfe. Die letzte, von bedrohlich pulsierender Musik untermalte 179 Ebd., TC 2:20–2:40. 180 Ebd., TC 09:29–9:43. 181 Ebd., TC 37:20–37:35. 182 Ebd., TC 48:08. 183 Ebd., TC 53:12–54:04.

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Einstellung, wie der festgebundene Phillip in seinem großen Krankenzimmer liegt, verbildlicht: Er ist jetzt allein, hilflos seinen Gegnern ausgeliefert. 4.1.3 Resümee Aus den bisherigen Erkenntnissen ergibt sich folgende Visualisierung: Graphik GL2: Spannungskurve in Form einer mikrozirkulären Schwebeform Narrationssegmente | N 1-7 Titelsegmente | T 1-2 Sequenzen | 1-21 Werbesegmente | W 1-7

Spannungskurve | Letztes Geschehen |

„If she decided to have him committed, he’d had no choice.“ „Has Patrick had a breakdown?“

„Has Patrick had a breakdown?“

„Well you’re not slipping out of this one!“

Patrick versucht seine Frau zu erwürgen.

„Are you saying that you knew that Dylan was breaking parole?“

„And he did it in front of Auflösung: Dylan kommt witnesses. That puts you frei in a perfect position!“

Auflösung: Heiratsantrag wird angenommen Heiratsantrag

Segmentübersicht mit Spannungskurve von Guiding Light, 15.11.1989.

Die Spannungskurve184 zeigt, wie sehr der Rezipient von Rezeptionsimpuls zu Rezeptionsimpuls geleitet wird. Kurz vor der Werbeunterbrechung findet immer eine Klimax statt. Die Schwebeform zeichnet hier nicht nur die Folge als Ganzes aus, sondern ist auf einer kleineren Ebene auch innerhalb jedes Narrationssegments vorhanden. Es liegt somit eine zweifache Schwebeform vor. Darüber hinaus verdeutlich die Graphik GL2, dass es in dieser Folge nicht nur Spannungsmomente, sondern auch Auflösungen gibt: Zwei von drei Hauptthemen der Folge sind am Ende abgeschlossen. Dylans Bewährungsverstoß wird sehr milde geahndet, und Maureen nimmt Eds Heiratsantrag an. Die Liebenden finden sich und erhalten ‒ so wie der gute, aber verlorene Sohn Dylan ‒ eine zweite Chance. Jedoch befinden sich die ‚Happy Endings‘ keinesfalls an einem wie auch immer gearteten 184 Die Spannungskurve ist eine ungefähre Markierung. Es geht bei ihr nicht um Detail und Genauigkeit, sondern um eine Grobstruktur, welche die Spannungskurve graphisch sichtbar macht: Wo werden Konflikte aufgelöst, wo zeichnen sich Gefahren ab?

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Ende ‒ weder des Narrationssegments noch der Folge ‒, sondern mitten in einem Segment. Dass Dylan in Freiheit bleibt, wird in der Sequenz 17, genau in der mittleren Sequenz des sechsten Narrationssegments, offenbart. Wie Maureen auf Eds Heiratsantrag reagiert, sieht man in Sequenz 19 ‒ der ersten Sequenz des siebten Narrationssegments. Danach steigt die Spannung mit den zwei letzten Sequenzen erneut stark an, bis die Spannung bei der Erzählunterbrechung den Höhepunkt der gesamten Folge erreicht. Die Tabelle GL1 und die Graphik GL2 verdeutlichen, dass diese Folge von Guiding Light eine 7-Akt-Struktur aufweist. Jedes Narrationssegment hat eine eigene Spannungsentwicklung und wird von einem Minicliff oder Cliffhanger beendet.185 Seit Jahrzehnten wurden Serien des US-amerikanischen network-Fernsehens nach einer sogenannten „4-act structure“ konzipiert.186 Sie war Vorgabe für alle Drehbuchautoren.187 Bei der Ausstrahlung einer Fernsehserie durch einen US-amerikanischen network-Sender fand alle 12‒15 Minuten eine Werbeunterbrechung statt, die sich in der Struktur der Serie widerspiegeln musste.188 Bei einer Erzählzeit (ohne Werbeunterbrechung) von 45‒48 Minuten pro Folge geteilt durch die 12 Minuten, nach denen eine Unterbrechung kommt, ergibt dies eine Teilung der Sendung in vier Akte.189 Das hieß für die Drehbuchautoren, dass sie alle 12 Minuten einen Mini- oder Binnencliff, das Ende eines Aktes einplanen müssen und dass jeder dieser Akte eine Spannungsentwicklung und Thematik haben sollte. Circa 2006 gingen einige network-Sender dazu über, fünf bis sechs Werbeunterbrechungen in eine Fernsehserie einzuplanen. Das führte zu einer 5- bis 6-Akt-Struktur.190 Seit etwa 2011 setzen einige network-

185 Siehe auch: Thompson: Storytelling in Film and Television, 2003, S. 16. 186 Vgl. ebd., S. 50–55. Thompson weist die 4-Akt-Struktur auch nach in cable- und PayTV-Sendungen wie The Sopranos und Sex and the City. 187 Die Drehbuchautoren Lee Goldberg und William Rabkin schreiben in ihrem Ratgeber: „Every hour-long dramatic series has a four-act structure for telling stories. This is true whether youʼre talking about NYPD Blue or Stargate SG-1, Judging Amy or Baywatch. Most of you know the four-act structure almost instinctively […]. The reason you know it is because youʼve been conditioned by the predictable rhythm of climatic moments in the story, the interruption of commercial breaks at the end of each act.“ Goldberg u. a.: Successful Television Writing, 2003, S. 19. 188 Vgl. Allrath, u. a.: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): Narrative Strategies in Television Series, 2005, S. 11–12. 189 Vgl. Duncan: A Guide to Screenwriting Success, 2006, S. 199. 190 Die Drehbuchautorin Pamela Douglas schreibt in ihrem Autoren-Ratgeber:„In 2006 some networks and basic cable shows including the popular Grey’s Anatomy and Lost went to five acts, and then ABC network mandated six acts for all its new shows, so they became six acts. You can guess why: more commercial breaks. I donʼt know any writers who like

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Sender sogar auf 7 Akte.191 Das Beispiel aus Guiding Light demonstriert nicht nur, wie ein derartiges Konzept narrativ umgesetzt wird, sondern auch, dass die Seifenoper schon lange vor 2011 eine 7-Akt-Struktur aufweist. Es werden bereits in den 1980er Jahren fast doppelt so viele Werbeunterbrechungen bei einer Seifenoper eingeplant wie bei einer Drama-Serie mit ähnlicher Erzählzeit. Die daily soap nimmt diese Entwicklung der TV-Serie vorweg ‒ das ist vor allem auf ihre Funktion als Werbe-Vehikel zurückzuführen. Auch wenn in den 1980er Jahren kein alleiniger Sponsor mehr vorhanden ist, stehen die ökonomischen Aspekte nach wie vor noch beherrschender als bei anderen Fernsehserien im Vordergrund. Gleichzeitig zeigen die Graphiken aber auch, wie narrativ komplex aufgebaut die Seifenopern der 1980er sind – Ökonomie und strukturelle Komplexität stehen sich hier keinesfalls im Weg, sondern bedingen sich in diesem Fall sogar: Konsequent und virtuos werden Minicliffs alternierend eingesetzt, geschickt werden Zeigarniks „Ersatzziele“ als Auflösungen ausschließlich zwischen Werbeunterbrechungen eingebaut und bewusst wird die Steigerung zum Cliffhanger im letzten Segment aufgebaut.

5. P RIME - TIME - SOAP : K OSTSPIELIGE O PER

OHNE

S EIFE

Vereinfacht gesehen, sind Hollywood, Farbfernsehen192 und Seifenoper die Bestandteile und Entstehungsgründe der prime time soap. Diese Serien werden in Hollywood produziert und verfügen über aufwendige Darstellungstechniken.193 Für die neuen, größeren Farbfernseher der 1980er Jahre finden die Außenaufnahmen an exotischen und entsprechend kostspieligen Orten statt.194 Nicht am Mittag oder Nachmittag, nicht mehr täglich, sondern wöchentlich zur prime time wird gesendet. Prominenteste Vertreter sind Dallas, Dynasty (dt: Denver Clan), Knots Landing (dt. Unter der Sonne Kaliforniens) und Falcon Crest.

this change which seems pushed by desperation to pump revenues when network advertising rates are declining and the audience has discovered the mute button, not to mention all the people who record shows to omit commercials altogether.“ Douglas: Writing the TV Drama Series, 2011, S. 74. Siehe auch: Duncan: A Guide to Screenwriting Success, 2006, S. 200. 191 Douglas: Writing the TV Drama Series, 2011, S. 75. 192 Days of our Lives von 1965 war die erste Seifenoper, die farbig ausgestrahlt wurde. Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 32. 193 Vgl. Ang: Watching Dallas, 1985, S. 54. 194 „Dallas looks chic – because of the high production values which generally apply for prime time programmes – and it is made with filmic expertise.“ Ebd., S. 55.

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In den US-amerikanischen Fernsehwissenschaften ist häufig diskutiert worden, ob es überhaupt zulässig ist, Dallas und Co. als ‚soap opera‘ zu bezeichnen.195 Tatsächlich gibt es zahlreiche Unterschiede zur daily soap. Die seltenere Ausstrahlungsfrequenz führt im Vergleich mit erfolgreichen daily soaps zu wesentlich weniger Folgen. Die Episoden einer prime time soap haben zudem meist einen eigenen Titel und sind in Staffeln gebündelt – eine Verfahrensweise, die bei daily soap aufgrund der beinahe pausenlosen Ausstrahlung und enormen Folgenmenge sogar unmöglich ist. „The American producers of Dallas held the audience in suspense with a cliffhanger of ‚Who Shot J.R.?‘ over many months while a new series was made. A new series? Soap opera is supposed to be continuous with only the real time of the days that it is not transmitted separating the audience from their satisfaction. Programmes like Dallas and Dynasty are not a pure form of soap opera, but rather a form of high-quality prime-time series which bears little relation to the daytime series of American television […]. The productions had huge budgets and highstandard production values and presented an image to […] viewers which was far from their own everyday life experiences. Yet they do contain one of the vital ingredients for success in relation to audiences for soap operas – personal problems and emotional entanglements.“196

Die Produktion von prime time soaps läuft von Anfang an ohne festen Sponsor. Die Budgets sind erheblich größer, und es werden viel weniger Folgen produziert. Damit geht einher, dass die Produktionszeit für die einzelne Folge im Gegensatz zur daily soap wesentlich länger ist ‒ die Herstellung einer daily soap zwingt die Filmcrew immer zu einem sehr strengen Produktionsablauf unter großem Zeitdruck.197 Außerdem stellen die zahlreichen Außenaufnahmen, die kostspieligen Drehorte und Requisiten einen visuellen Gegensatz dar zu den schnell und preiswert produzierten, mit einem unbekannten Cast besetzten und von Innenaufnahmen dominierten daily soaps. Das ganze Setting der prime time soaps ist ein anderes: Das Augenmerk liegt nicht auf den täglichen Problemen der Mittelklasse, sondern vornehmlich auf den Intrigen, Romanzen, Morden und geschäftlichen Verstrickungen der Reichen. Damit 195 Für eine grobe Zusammenfassung einiger Standpunkte siehe zum Beispiel: Geraghty: Women and Soap Opera, 1991, S. 3–5. 196 Hobson: Soap Opera, 2003, S. 12–13. 197 Vgl. Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 48–58. Die schnelle und effiziente Drehweise von daily soaps wurde im US-amerikanischen TV 2009 besonders werbewirksam zur Schau gestellt, als der berühmte Filmschauspieler James Franco zwei Monate bei General Hospital mitspielte und in den höchsten Tönen die fordernde Drehweise der daily soap rühmte: „In one story, Franco commented on having to memorize a single dayʼs shooting script ‚that was as thick as a film script,‘ without ad-libbing or using a TelePrompTer.“ Ford u. a.: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): The Survival of Soap Opera, 2011, S. 16.

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verbunden ist auch eine schnellere Dramaturgie. Die daily soaps sind auf Wiederholung und sehr langsame plot-Entwicklung ausgerichtet, sodass der Rezipient sogar mehrere Folgen verpassen kann, ohne den Anschluss zu verlieren. Die nur wöchentlich gezeigten prime time soaps mit weniger Folgen hingegen sind mehr ein „actionorientated drama“.198 Für eine Etikettierung als ‚soap opera‘ spricht jedoch die Offenheit der Handlung und die Anmutung von Endlosigkeit. So besteht zum Beispiel Dallas aus 14 Staffeln, die über den Zeitraum von 13 Jahren ausgestrahlt wurden. Wenn also auch keine derartige Menge an Folgen vorhanden ist wie bei einer daily soap, so ist die Anzahl der Staffeln und die Dauer der Ausstrahlung auch nicht mit einer gängigen Fernsehserie vergleichbar. Außerdem ähnelt sich der thematische Fokus auf psychologische Familiendramen, auf Dialoge und auf Figurenkonstellationen innerhalb eines ensemble cast.199 Das beste Argument aber für eine Zuordnung der prime time-Variante zur Seifenoper ist: „While the series were strictly speaking not soap operas […] they were perceived as part of the genre, in both the eyes of viewers and the opinions of critics. For good or bad, they contributed to the reception of the genre and influenced the way that it was defined.“200 Weil die prime time soap vom Publikum als Seifenopern bezeichnet und gesehen werden, haben sie starken Einfluss auf die täglich ausgestrahlte Variante und umgekehrt,201 zumal eine zentrale Erzähltechnik in beiden Genres der Cliffhanger ist. 5.1 Die Macht des Cliffhangers: Dallasʼ „Who shot JR?“ (21.03.1980) Einer der berühmtesten Cliffhanger befindet sich am Ende der letzten Folge der dritten Staffel (S3E25) der prime time soap Dallas. In der letzten Einstellung der Folge „A House Divided“ (21.03.1980) werden von einer nicht erkennbaren Gestalt zwei Schüsse auf den von vielen Charakteren gehassten Protagonisten J.R. Ewing abge-

198 Vgl. Skill: „Television’s Families“. In: Cassata u. a. (Hg.): Life on Daytime Television, 1983, S. 140. 199 Vgl. Newcomb: „A Humanist’s View of Daytime Serial Drama“. In: Cassata u. a. (Hg.): Life on Daytime Television, 1983, S. XXXIII–XXXIV. 200 Hobson: Soap Opera, 2003, S. 14. 201 Vgl. Liccardo: „The Ironic and Convoluted Relationship between Daytime and Primetime Soap Operas“. In: Ford u. a. (Hg.): The Survival of Soap Opera, 2011, S. 119–129.

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feuert. Die öffentliche Diskussion über den Cliffhanger führte zu einer eigenen Betitelung: „Who shot JR?“202 Wie anhand des Sequenzprotokolls ersichtlich, 203 ist anders als bei der daily soap eine 4-Akt-Struktur gegeben. Die Minicliffs und Werbeunterbrechungen stehen aber nicht im Fokus der Analyse. Betrachtet wird die Vorbereitung des Cliffhangers, die einer der Gründe für eine derart große Breitenwirkung ist. 5.1.1 Deskription204 J.R. hat über einen Insider erfahren, dass alle Ölfelder in einem asiatischen Land ‒ auch die der Ewings ‒ kurz vor der Verstaatlichung stehen. In einem raschen, riskanten und geheimen Coup hat J.R. in der vorherigen Episode 75% seiner asiatischen Ölfelder an texanische Investoren verkauft ‒ einige davon sind Freunde der Ewings. Im ersten Segment beginnt die Folge „A House Divided“ mit einer Pressekonferenz, in der J.R. und sein Vater stolz berichten, dass sie, obwohl sie nichts von den politischen Umwälzungen wussten, durch Glück die meisten ihrer asiatischen Ölfelder verkaufen konnten. Unmittelbar darauf betritt einer der Käufer das Zimmer, beschimpft J.R. und teilt mit, ein anderer Abnehmer, Seth Stone, habe auf die Nachricht von der Nationalisierung der Ölfelder hin Selbstmord begangen. Während der gesamten Folge weist J.R.s Sekretärin ihn mehrfach darauf hin, Seths Witwe versuche, ihn zu erreichen. Wenig später erscheint Vaughn Leland, ein Freund der Familie, im Büro, und beschimpft und bedroht J.R. Leland:

I am wiped out. There is no way I can repay that loan. […] 20 Million Dollar. […] It was crooked! And I believe you knew that! [Schaut hasserfüllt auf J.R.] You’ll regret this!

J.R.:

[Schaut ihn unbeeindruckt an:] Is that a threat Vaughn?

Leland:

No threat. A promise! I’ll get you for this and if it’s the last thing I’ll do!205

Im zweiten Segment versucht J.R., seine Geliebte, Kristin, zu bestechen [Sq. 2.5], da ihm klar geworden ist, dass sie von seinem Insidergeschäft bezüglich der Nationalisierung der Ölfelder weiß. Sie lehnt jedoch das Geld ab mit den Worten: „One day 202 Siehe Zitat Fußnote: 196. Siehe auch den Wikipedia-Artikel unter den Stichwort „Who shot J.R?“. http://en.wikipedia.org/wiki/Who_shot_J.R.%3F [vom 11.03.2013] Auch in der Making-of-Dokumentation „Who shot J.R?“ sprechen die Produzenten und Schauspieler immer nur von dieser Folge als „Who shot J.R?“. 203 Siehe Sequenzprotokoll 1, Anhang, S. 666. 204 Ich konzentriere mich bei der Deskription auf die Sequenzen, die für den Cliffhanger von Relevanz sind und lasse die Nebenstränge um die Ewing-Tochter Lucy und Bobbys Frau Pam weg. 205 „A House Divided“, S3E25. In: Dallas, (21.3.1980), TC 07:33–08:15.

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someone is going to stop you and I hope I am there to watch it. No way you can buy me off.“206 Ebenfalls im zweiten Segment [Sq. 2.7] haben er und seine Frau Sue Ellen einen Streit, in dem J.R. ihr droht, sie wegen ihres Alkoholismus erneut in eine Entzugs- und Nervenanstalt einzuweisen. J.R.: Sue Ellen:

Gonna do something about those ravings. No J.R. I am not raving, I am not drunk. I am just fine. And you’re not gonna put me back in that sanatorium.

J.R.: Sue Ellen:

Who’s gonna stop me? Bobby’s [d.i. J.R.s Bruder] gonna stop you. He’s not gonna let you put me away.

J.R.:

I wouldn’t count on that. You know I always get what I want. [Öffnet die Tür, um zu gehen.]

Sue Ellen: J.R.:

Tell me J.R., which slut are you gonna stay with tonight? [Hält inne, dann hasserfüllt:] What difference does it make? Whoever it is has got to be more interesting than the slut I am looking at right now. [Dramatische Klavier- und Orchestermusik. Nachdem J.R. gegangen ist, wirft Sue Ellen eine Vase an die Wand und die Kleider aus ihrer Kommode auf den Boden. Dabei entdeckt sie unter den Kleidern einen Revolver, den sie begeistert betrachtet.]207

Sofort zu Beginn der nächsten Sequenz [Sq. 2.8] eröffnet Cliff Barnes J.R., er habe ein Dokument gefunden, aus dem hervorgehe, dass ihm Anteile an den Erlösen eines Bohrturms zustehen. J.R. ruft daraufhin bei den Arbeitern des Bohrturms an und veranlasst in Cliffs Beisein, den Bohrturm zu schließen – Cliff Barnes Gesichtszüge entgleisen. Im dritten Segment versucht J.R., Kristin einzuschüchtern, damit sie nicht ihr Wissen über die unlauteren Ölgeschäfte ausplaudert. Er lässt ihren Freund Alan von einem korrupten Polizisten abholen und zu sich ins Büro bringen: Wenn er nicht aus der Stadt verschwinde, werde ihm J.R. mithilfe des Polizisten eine Vergewaltigung anhängen. Daraufhin sagt Alan: „You just leaned too hard on the wrong man, J.R.“208 J.R. bringt aber auch seinen Bruder Bobby gegen sich auf, als dieser erfährt, dass J.R. den von ihm gebauten Bohrturm, an dem Cliff Barnes Anteile besitzt, eigenmächtig hat schließen lassen. Als er seinen Vater Jock um Unterstützung bittet [Sq 3.4], stellt dieser sich auf J.R.s Seite. Bobby ist daraufhin so wütend, dass er beschließt, am Morgen mit seiner Frau Pam die Ewing Ranch Southfork zu verlassen.

206 Ebd., TC 21:47–21:54. 207 Ebd., TC 23:08–23:39. 208 Ebd., TC 30:53.

434 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION Bobby: Five minutes in the same room with J.R., I feel like I’ve been in a pigsty. […] We’re leaving Southfork first thing in the morning. Pam:

This is your family.

Bobby: Not anymore, they’re not. […] Bobby: I’ve put up with all the wheeling and dealing and backstabbing that I’m going to. [Extreme Close-up auf Bobby.] We leave in the morning. [Schwarzblende.]209

Im vierten Segment spitzt sich die Entwicklung weiter zu: Alle Sequenzen handeln von den Menschen, die J.R. gegen sich aufgebracht hat. Die erste Sequenz beinhaltet den tränenreichen Abschied Bobbys von seinen Eltern. Er erklärt ihnen, er könne nicht mehr mit J.R. unter einem Dach leben. Sogar J.R.s Mutter Ellie ist nun wütend auf J.R. In der Anwesenheit von J.R.s Eltern zieht Sue Ellen über die zahlreichen menschlichen Defizite ihres Mannes her. Nachdem die Eltern das Zimmer verlassen haben, eröffnet J.R. seiner Frau, er werde sie nun in die Anstalt einweisen. „You’re a drunk and an unfit mother. […] Sooner we have you put away, the better off you’re gonna be.“210 In der zweiten Sequenz besucht der korrupte Polizist Kristin, beschimpft sie als Hure und sagt ihr und ihrem Freund Allan, sie hätten die Stadt innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Nachdem der Polizist gegangen ist, sagt Kristin: „I’ll kill him. I swear, I’ll kill him“, woraufhin Allan erwidert: „Take a number. There are a few of us ahead of you.“211 In der dritten Sequenz telefoniert J.R. in seinem Büro mit einer Anstalt, um die Einweisung Sue Ellens zu veranlassen. Anschließend gibt es einen Anruf von Vaughn Leland, in dem er J.R. ein zweites Mal droht: „J.R., I am gonna ask you for the last time. […] J.R., I’m warning you. I’m gonna see to it that this is the last crooked deal you ever pull.“212 In der vierten Sequenz packt Sue Ellen nach einigem Zögern den Revolver ein, den sie bei ihrem Wutanfall gefunden hatte. In der folgenden fünften Sequenz wird Cliff Barnes am Grab seines Vaters gezeigt. Er schwört, dass er sich rächen wird: „There’s not a whole lot left I can do. Except stop J.R. for good. I don’t know if that’d make you rest any better or not, but that’s something that I have to do.“213 Die sechste Sequenz zeigt Sue Ellen bei ihrem Psychiater. Sie weiß nun, dass Bobby sie nicht vor J.R. beschützen wird, da Bobby Southfork verlassen hat: „You don’t seem to understand. He [d.i. J.R.] is dangerous, and he’s got to be controlled. 209 Ebd., TC 33:10–34:19. 210 Ebd., TC 38:55–39:05. 211 Ebd., TC 39:53. 212 Ebd., TC 41:10. 213 Ebd., TC 42:15.

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[…] I can’t rely on anyone else to do what I have to do. [Sie geht aus der Tür. Einzelne tiefe Klaviertöne erklingen].“214 Abbildungen DA1–9: Dunkelheit und Spekulationsfreiräume

Abb. DA1 TC 44:02, S3/E25

Abb. DA2 TC 44:08

Abb. DA3 TC 44:30

Abb. DA4, TC 44:46

Abb. DA5, TC 45:06

Abb. DA6, TC 45:09

Abb. DA7, TC 45:16

Abb. DA8 TC 45:21

Abb. DA9, TC 45:22

Die siebte und letzte Sequenz wird mit einem establishing shot des Ewing-Hochhauses bei Nacht eingeleitet [Abb. DA1]. Ein dunkler und mysteriöser tiefer StreicherScore untermalt die ersten Einstellungen. J.R. wird gezeigt, wie er abends in seinem Büro sitzt. Das Telefon klingelt. Er nimmt den Hörer auf und meldet sich mit Namen, aber der Anrufer legt auf [Abb. DA2]. Daraufhin holt sich J.R. im Nebenraum einen Kaffee [Abb. DA3], kehrt zurück zu seinem Schreibtisch und schaut aus dem Fenster. Die Kamera wechselt in den dunkeln Nebenraum, in dem die Kaffeemaschine steht. Mit subjektiver, leicht wackelnder Hand-Kamera wird gefilmt, wie jemand von der anderen Seite den Raum betritt (kurze, sehr hohe Flötentöne akzentuieren den Eintritt der unbekannten Person) und sich langsam dem Zimmer J.R.s nähert; die leisen Schritte der Person sind hörbar, bis sie aus Versehen etwas umwirft [Abb. DA4]. Die Kamera wechselt zu J.R., der aufhorcht, sich vom Fenster wegdreht und fragt, ob 214 Ebd., TC 43:30.

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jemand dort sei [Abb. DA5]. Er geht auf den Nebenraum zu, um nachzusehen [Abb. DA6]. Als er bei der Tür ist, wechselt die Kamera wieder zur subjektiven Sicht, eine Halbtotale, die J.R im Türrahmen zeigt. Ein Schuss ist zu hören, J.R. neigt sich zu Seite [Abb. DA7], fällt zu Boden (die Streicher spielen eine Crescendo). Ein zweiter Schuss ertönt und in einem snap zoom215 sieht man J.R. auf dem Boden liegend, vor Schmerzen gekrümmt. Seine Augen sind geschlossen, schwer geht sein Atem [Abb. DA8]. Diese Bild-Einstellung kommt in einem freezeframe216 zum Stillstand, und die Streicher spielen eine Art Abschlussakkord, während die ersten zwei credits erscheinen [Abb. DA9] und eine Schwarzblende folgt, die dann auf den immer wiederkehrenden Abspann der Serie wechselt. 5.1.2 Kategorisierung und Analyse Wie die Deskription in Kombination mit dem Sequenzprotokoll aufweist, ist innerhalb der Folge eine allmähliche Spannungssteigerung hin zum Cliffhanger zu beobachten: Die Sequenzen der ersten drei Segmente beinhalten zum Teil noch andere Erzählstränge als die um den Hass zahlreicher Figuren auf J.R. Im letzten Segment wird J.R. ausschließlich als Widersacher thematisiert. Eine Vielzahl von Charakteren erhält im Laufe der Folge ein Motiv für den Mordanschlag auf J.R. Der Cliffhanger wird wie ein klassischer Kriminalfall, eine Art Cluedo aufgezogen: Es gibt ein Opfer und sehr viele Verdächtige, die alle einen Grund hätten. Das aus Kriminalgeschichten gängige Whodunit?-Prinzip217 wird sorgfältig vorbereitet. Die Verdächtigen sind: Kristin, Ellen Sue, Alan, Cliff Barnes, Vaughn Leland, Seth Stones Witwe, Bobby – ja sogar seine Mutter ist wütend, nachdem J.R. zwei ihrer Söhne vertrieben hat. Der große Kreis der Verdächtigen ermutigt die Zuschauer zu Spekulationen, was wiederum die Spannung erhöht. J.R. macht sich zahlreiche Personen zu Feinden, deshalb kommen viele als Täter in Frage. Dazu gibt es etliche Vorausdeutungen, verteilt auf J.R.s Widersacher – vor allem ihre Äußerungen, sie wollten sich an J.R. rächen, seien nicht mehr bereit, sich von ihm so ausnutzen zu lassen, machen sie zu Verdächtigen. Die Kommunikationsakte sind fast ausschließlich kommissiv, sei es in Form eines Sprechakts, sei es in Form einer Handlung wie der von Ellen Sue, als sie den Revolver mitnimmt. Die vorausdeutenden Minicliffs ‒ durch einen kommissiven Kommunikationsakt vermittelt ‒ werden zu einem Abschluss gebracht im exklamatorischen Kommunikationsakt des gefahrensituativen Cliffhangers. In zahlreichen Sequenzen und Minicliffs äußern oder tun die Akteure etwas, das auf ihre Absicht hindeutet, in irgendeiner Weise gegen J.R. vorzugehen. Die Spannweite dieser Minicliffs mündet in den Cliffhanger:

215 Zur Erklärung des snap zooms siehe bspw: Block: The Visual Story, 2007, S. 181. 216 Siehe zur Erklärung von freezeframe: Verstraten u. a.: Film Narratology, 2009, S. 17. 217 Siehe bspw.: Keating: Whodunit?, 1982.

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Einer der Charaktere macht seine Drohung wahr. Der kommissive Kommunikationsakt wird in einer Art exklamatorischer Tat verwirklicht. Eine langsamere Vorbereitung als in der Folge selbst findet bereits in den vorhergehenden vier Folgen statt. Der Schöpfer der Serie, David Jacobs, verrät in einer Dokumentation von 2005, wie es zu diesem Cliffhanger kam und bestätigt, dass vor allem die letzten vier Folgen auf den Cliffhanger zusteuern: „The Who shot JR?-episode was almost an accident. CBS had ordered the usual number of shows for the season and then the show was so hugely successful that they asked for four additional shows. The season was supposed to end with Jock [d.i. J.R.s Vater] on trial. The additional four episodes required a new cliffhanger.“218

Die Faszination dieses Cliffhangers ist auch begründet in J.R.s schillerndem und zugleich charismatisch-bösem Charakter. Ebenso wie bei Feuillades Fantômas wird der Zuschauer diesen Schurken höchstwahrscheinlich nicht vollends besiegt oder tot sehen wollen. In der Miniserie219 beziehungsweise ersten Staffel ist J.R. beinahe eine Nebenfigur, die sich aber mit Staffel zwei und spätestens der dritten Staffel zur eigentlichen Hauptperson der Serie entwickelt.220 Weil J.R. so viel Erzählzeit zugestanden wird, kennt der Zuschauer dessen Motivationen und meint, J.R.s Beweggründe nachvollziehen zu können ‒ trotz dessen Bösartigkeit: Er trägt die Verantwortung für Firma und Familie und führt das Familien-Unternehmen sehr erfolgreich und gewinnpotenzierend. Trotzdem bleibt J.R.s Bruder Bobby der Liebling des Vaters. Den Verkauf der ausländischen Ölfelder an Freunde und Bekannte der Ewings könnte man auch als einzig möglichen Ausweg sehen und als erneuten Versuch, die Anerkennung und Zuneigung des Vaters zu gewinnen: Nur eine Episode zuvor berichtet J.R. seinem Vater, die Southfork Ranch sei jetzt wieder vor den Gläubigern sicher ‒ er könne ihm vertrauen. Wenig später erhält J.R. telefonisch die Information, dass 218 „Who shot J.R.?“ auf: Dallas, 3 Staffel, Disc 7, TC 07:13–7:37. 219 Die erste Staffel war mit fünf Folgen eigentlich eine Miniserie. Die Miniserie war als Pilot gedacht und erwies sich als so erfolgreich, dass Dallas als Serien-Produktion gestartet wurde. Siehe: Curran: Dallas, 2005, S. 8–10. 220 Der Fernsehwissenschaftler Ed Robertson und der Darsteller des Bobby Ewing, Patrick Duffy, sind sich in der Dokumentation über das Cliffhanger-Phänomen in Bezug auf JRs Bedeutung für die Serie einig. Robertson sagt: „Little by little J.R emerged from the shadows and became the main reason, the driving force behind all the show.“ (TC 2:20) Patrick Duffy fügt hinzu: „Hagman was sort of the leader of the parade, when it came to Dallas. […] After the first season he was the undisputed central figure on the show.“ (Who shot J.R.? auf: Dallas, 3 Staffel, Disc 7, TC 2:30–2:40.) Vom Schauspieler Larry Hagman wurde dieser Umstand auch in den Verhandlungen über seine Gage nach dem Cliffhanger ausgenutzt, siehe S. 438.

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die ausländischen Ölfelder verstaatlicht werden. Das wäre für die Sippe der Ruin. Der Hauptgrund für die meisten der Animositäten J.R. gegenüber ist eine konsequente und nachvollziehbare Entscheidung eines Geschäftsmann mit Familiensinn, der sich um die Liebe seines Vaters bemüht. Aber selbst wenn diese menschlichen Gesichtspunkte außer Acht gelassen werden, ist J.R. der lustvolle Bösewicht, der immer lächelnd seine Widersacher austrickst, bevor sie es tun. Weil er der Bösewicht der Serie ist, kommen zahlreiche Figuren für den Anschlag in Frage. Weil er aber als Bösewicht die Hauptfigur ist und zudem seine Taten nachvollziehbar sind, identifiziert sich der Rezipient mit ihm; zumindest bewundert er ihn. Aus dieser Kombination erwächst das Interesse zu erfahren, wer auf ihn geschossen hat, und ob J.R. überlebt. Die Zweischneidigkeit der Faszination seines Charakters kommt besonders in diesem Cliffhanger zum Ausdruck. 5.1.3 Produktionsästhetische Hintergründe Dass der Cliffhangermoment beziehungsweise die Diskussion über ihn mit „Who shot J.R?“ einen eigenen Titel trägt, zeigt, wie weit dieses Ende und dessen Einfluss über die Handlung der Folge hinausgehen und zu einem „Who shot J.R. phenomenon“221 geworden sind. Die Wirkungssteigerung wird noch potenziert durch eine Reihe von bereits genannten narrativen Komponenten, welche die Wirkung des Cliffhangers vergrößern; auch eine Reihe von produktionsästhetischen Hintergründen trägt zu einer Potenzierung des Cliffhangers bei. Erstens wird die Wirkung durch den damaligen Streik der US-amerikanischen Film- und Fernsehautoren erhöht. Ursprünglich ist geplant, das Publikum nach der Sommerpause 1980 die Identität des Schützen erfahren zu lassen ‒ der Streik verzögert jedoch eine Ausstrahlung. Die auf drei Monate angesetzte Erzählpause dauert schließlich fast sechs Monate und steigert damit das Interesse an der Serie und der Auflösung des Cliffhangers.222 Diese lange Zeitspanne, in der das Geheimnis des Täters gewahrt bleibt, kann nur aufgrund einer sehr ausgeklügelten Taktik durchgehalten werden. Alle potenziellen Schützen wurden beim Dreh der Folge gefilmt, wie sie J.R. erschießen: „A lot of people shot J.R.“223 Alle Schauspieler sowie der Großteil des Produktionsteams wussten nicht, wen die Autoren als Attentäter vorgesehen hatten. Zweitens wurde die öffentliche Diskussion um den Cliffhanger unterstützt durch die finanziellen Verhandlungen des Darstellers von J.R. Ewing, Larry Hagman. Patrick Duffy, der dessen Bruder Bobby spielt, erinnert sich:

221 Who shot J.R.? auf: Dallas, 3 Staffel, Disc 7, TC 2:15. 222 Vgl. Who shot J.R.?, Dallas, 3 Staffel, Disc 7, TC 17:28. 223 Patrick Duffy in der Dokumentation Who shot J.R.?, Dallas, 3 Staffel, Disc 7, TC 09:53.

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„Then Larry, somebody with real business sense, took that moment [nach dem Cliffhanger] to renegotiate his contract and hold out and make a very public display of: I might not come back if I don’t get what I want. Which added then more fuel to the question fire: Does he die? Is it a new actor? Who is J.R.?“224

Larry Hagman untermauert diese Aussage: „When I [sic] got shot, I figured: Now is the time to really ask them for some more money.“225 Somit stehen zwei Fragen im Vordergrund der öffentlichen Diskussion über die Serie: Die Zuschauer hören von Hagmans Verhandlungen und spekulieren nicht nur, wer auf J.R. schoss, sondern auch, ob er überlebt. Alle diese Faktoren vervielfachen den Effekt des Cliffhangers und bewirken die damalige Allgegenwärtigkeit des Who shot J.R.-Cliffhangers. Times, Newsweek und zahlreiche andere Zeitschriften bringen die Spekulationen über den Cliffhanger aus Dallas als Titelgeschichte; es gibt T-Shirts, Buttons und sogar eine Biersorte JR, die mit dem Slogan wirbt „Take a shot at J.R.“. Aufgrund der breiten Diskussion erzielt Dallas zu Beginn der nächsten Staffel noch höhere Einschaltquoten als zuvor. „The effect of the Who shot J.R?-episode was to make the cliffhanger far more important than it had ever been in television. All that the cliffhanger does now is to keep the audience, the audience you have till next year. Who shot J.R.? increased the audience because it became such a huge phenomenon.“226

Mit 90 Millionen Zuschauern stellt die erste Folge der vierten Staffel den damaligen Weltrekord in Einschaltquoten auf.227 Selbst Leute, die den Cliffhanger nicht gesehen hatten, wollen nun wissen, wer der Täter ist. Der Cliffhanger ist nicht nur ein Rezeptionsimpuls für die nächste Staffel, sondern für die ganze Serie, und hat sicherlich Anteil daran, dass die Serie 14 Staffeln umfasst und im Jahr 2012 ein reboot erhält. 5.1.4 Resümee Wie bereits erwähnt, unterscheidet ein wesentlicher Punkt Dallas und die anderen prime time soaps von den daily soaps: die Gliederung in Staffeln. Der „Who shot J.R.?“-Cliffhanger ist besonders, nicht zuletzt durch seine Position am Ende einer Staffel. Bei den daily soaps ist meistens der Freitags-Cliffhanger dramatischer als jeder andere während der Woche. Der ‚Freitags-Cliffhanger‘ von Dallas – die immer 224 Who shot J.R.? auf: Dallas, 3 Staffel, Disc 7, TC 8:16–8:29. Vgl. Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 57–58. 225 Who shot J.R.? auf: Dallas, 3 Staffel, Disc 7, TC 8:29–8:33. Vgl. Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 58. 226 Who shot J.R.? auf: Dallas, 3 Staffel, Disc 7, TC 15:06–15:29. 227 Vgl. http://www.studiobriefing.net/2012/06/dallas-on-top-again/ [vom 08.01.2014]

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nur freitags ausgestrahlt wird – ist im Grunde der Cliffhanger am Ende einer Staffel: Die Erzählpause danach ist länger als innerhalb der Staffel; dementsprechend dramaturgisch wichtiger ist seine Gestaltung. Das wöchentliche Einschalten ist im Laufe der Ausstrahlung einer Staffel dem Rezipienten zur Gewohnheit geworden und benötigt daher keinen so deutlichen Rezeptionsimpuls. Dieses Ritual der wöchentlichen Rezeption wird aber durch das Ende einer Staffel und die dreimonatige (oder längere) Erzählpause aufgebrochen. Der Rezeptionsimpuls am Ende einer Staffel muss daher besonders stark sein, damit der Rezipient nach der langen Unterbrechung wieder zurück in seine Gewohnheit fällt. Diese Art von Cliffhangern muss daher auch begrifflich unterschieden werden als Finalecliff.228 Bei Dallas ist der Kontrast zwischen Cliffhanger und Finalecliff besonders scharf, da die Staffel-Folgen nur sehr selten einen ‒ und wenn, dann ‚nur‘ vorausdeutenden ‒ Cliffhanger aufweisen. Folge 13 („Mother of the Year“) und 14 („Return Engagement“) enden beispielsweise sehr abschließend.229 Die stärkere Wirkung der unterschiedlichen Finalecliffs jeder Dallas-Staffel im Vergleich zu den Enden der Staffel-Folgen wird auch durch eine Internet-Recherche bestätigt: Es wird ausschließlich über die Finalecliffs diskutiert. Besonders aussagekräftig sind zwei Videos, in denen ausschließlich die Finalecliffs der Staffeln nahtlos aneinander geschnitten sind, sowie ein Kommentar, in dem sie nochmals zusammengefasst werden: „1978 mini series..pam lost her baby at the first Ewing BBQ 1978-79 season...John Ross is born 1979-80 season...who shot JR 1980-81 season...who’s the body in the pool 1981-82 season...does cliff survive 1982-83 sesaon...who survives the Southfork fire 1983-84 season...Bobby is shot 1984-85 season...Bobby dies 228 In den Feuilletons und teilweise auch in den Fernsehwissenschaften wird seit einiger Zeit das Ende einer Staffel aufgrund seiner besonderen und hervorgehobenen Bedeutung und meist auch teureren Produktion als „season finale“ bezeichnet. (Siehe bspw.: Kelly: „A Stretch of Time“. In: Ames (Hg.): Time in Television Narrative, 2012, S. 46; Newman: „From Beats to Arcs“. In: The Velvet Light Trap (2006), S. 19.) Dementsprechend wird in Analogie zum Binnen- und Minicliff der Cliffhanger am Ende einer Staffel als Finalecliff bezeichnet. Im Gegensatz zu den beiden erstgenannten ist der Finalecliff medial beschränkt auf die Fernsehserie bzw. auf alle seriellen Formen, die in Staffeln gebündelt werden. 229 Am Ende der Folge 14 haben sich Gary Ewing, der Bruder von J.R. und seine Ex-Frau Valene wieder versöhnt und erneut geheiratet. J.R. freut sich, weil sie nach Southern California ziehen und ihm damit nicht im Wege stehen werden.

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1985-86 season...Bobby returns 1986-87season...loss of Ewing Oil/does Pam survive the explosion 1986-88 season...Sue Ellen shoots JR 1988-89 season...Sue Ellen leaves Dallas 1989-90 season...JR is put away in a mental hospital 1990-91 season...JR commits suiside [sic]?“230

Bei dieser Liste ist erstaunlich, wie prägnant und klar der Kommentator den jeweiligen Cliffhanger in wenigen Worten zu beschreiben vermag. Anscheinend ist der Spannungsmoment von der Handlung eindeutig vorgegeben und kann so in eine einzige kurze Frage oder Aussage umgewandelt werden. Der Kommentator formuliert ausschließlich interrogative und exklamatorische Kommunikationsakte ‒ wie „Who shot J.R?“ ‒ und bestätigt die in dieser Studie eingeführten Kategorien. Die Finalecliffs prägten sich stark ein und provozierten eine bewusste Fragestellung beziehungsweise einen repräsentativen Sprechakt. Die öffentliche Spekulation über die Identität des vermutlichen Mörders von J.R. beweist aber auch, dass nicht nur Einprägung und Fragestellung vom Cliffhanger initiiert werden, sondern dass der Rezipient auch antizipiert: Eine Frage fordert eine Antwort heraus; Einprägung und Mitautorschaft gehen Hand in Hand. „Who shot J.R.?“ ist für die Produzenten von serieller Narration der Beweis für die ungeheure narrative und wirtschaftliche Kraft des Cliffhangers. Erst die lange Erzählpause nach dem Cliffhanger aus Dallas ermöglicht eine so intensive öffentliche Spekulation über die Identität des Mörders und das Überleben des Protagonisten. Der Cliffhanger ist so berühmt, dass verschiedene spätere Cliffhanger sich direkt auf ihn beziehen und erstaunlich häufig Hauptfiguren im Finalecliff scheinbar erschossen werden ‒ um dann doch zu überleben.231 Besonders bei einer langen Erzählpause sind Einprägung und Mitautorschaft die beiden besten Wirkungsmechanismen, um eine Rezipiententreue zu gewährleisten.

230 Kommentar vom Nickname „Keith Clark“ auf: http://www.youtube.com/watch?v=7lOwEgGnVv8 [vom 16.03.2013]. 231 Dallas kopierte sich selbst zwei Mal: In Staffel sieben schießt jemand auf Bobby Ewing – erneut ohne dass man den Schützen sieht – und in Staffel 12 (1988) feuert Sue Ellen einen Schuss auf J.R. Beispiele für ähnliche Finalecliffs in anderen Serien sind: 1. „Kobolʼs Last Gleaming: Part 2“. In: Battlestar Galactica, S1E13. Captain Adama wird von Boomer erschossen. 2. „Who shot Mr. Burns?“. In: The Simpsons, S6E25. Mr. Burns wird von einem unbekannten Täter erschossen – die ganze Stadt spekuliert über die Identität des Mörders.

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6. F AZIT

UND

AUSBLICK

6.1 Recap der bisherigen Resümees Es ist erstaunlich wie eindeutig und klar sich die folgenden Aussagen anhand der wenigen aussagekräftigen Beispiele über die Entwicklung der Seifenoper machen lassen – und das dies bisher kaum in der Forschung getan wurde. Wie es im Anfangszitat bereits heißt: „[T]oday the soap opera remains to us […] a place about which much is said but little known.“232 Die ersten Seifenopern haben sehr wenig gemein mit dem heutigen Erscheinungsbild dieses Genres. Die 15-minütigen Folgen sind noch ausschließlich an einen einzigen Sponsor und ein einziges Produkt gebunden. Es wird eine starke Identifikation zwischen beworbenem Produkt, Stimme des Ansagers und Seifenoper hergestellt. Die Serien haben statt eines ensemble cast meist nur eine Hauptfigur, die der Seifenoper den Namen gibt: Das Guiding Light ist eine Metapher für den Charakter des Reverend Dr. John Ruthledge;233 Just Plain Bill, Ma Perkins und Myrt and Marge handeln von den im Titel genannten Protagonisten. Der Cliffhanger findet entweder im Dialog statt oder wird von einem omnipräsenten Ansager, der die narrativen und werbenden Segmente verbindet, extradiegetisch hinzugefügt. Eine Hammondorgel unterstützt sowohl die Überleitungen als auch die dramatischen Momente ‒ die Cliffhanger. Der enthüllende Cliffhanger-Typus überwiegt. Er wird mit exklamatorischen oder interrogativen Kommunikationsakten verbunden. Der Wechsel des Genres ins Fernsehen verläuft zögerlich, und nur einigen wenigen Seifenopern gelingt er. Schließlich aber stellt sich das Fernsehen als das noch erfolgreichere Werbemedium heraus, weil die Sponsoren ihre Produkte und deren Wirksamkeit unmittelbar demonstrieren können. Die erhöhten Produktionskosten führen dazu, dass meist mehrere Produkte von einem Hersteller vermarktet werden und so die Identifikation zwischen Ansager, Produkt und Seifenoper sich abschwächt. Die erzählerischen Mittel hingegen wirken zunächst wie direkt aus dem Radio übernommen. Nur einige Cliffhanger ‒ besonders die freitäglichen, die eine längere Erzählpause zu überwinden haben ‒ sind handlungsbetonter als die ausschließlich dialogischen. Die Action wird aber oft noch allein durch Soundeffekte

232 Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 3–4. 233 Das Guiding Light ist das Licht, das Reverend Dr. John Ruthledge ins Fenster stellt, um Menschen, die seine Hilfe suchen, eine Orientierung zu geben. Siehe: Simon: „Serial Seduction“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 18. Einer der wenigen männlichen Protagonisten von Seifenopern, Bill aus der Serie Just Plain Bill, ist Friseur in Harville und Hauptfigur. Vgl. Thurber: „Sculptos in Ivory“. In: The Beast in Me and Other Animals, 1948, S. 223.

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hervorgerufen, und innerhalb der Woche bleiben die Cliffhanger für gewöhnlich ganz vom Dialog getragen. Mit der Verlängerung der Seifenopern auf 30 Minuten und dem allmählichen Verschwinden des Ansagers und des alleinigen Sponsors werden in den Werbeunterbrechungen unterschiedliche Produkte verschiedenster Firmen angepriesen. Aufgrund der längeren Erzählzeit gibt es mehr Charaktere und entsprechend unterschiedliche Handlungsstränge. Der Cliffhanger findet nicht nur auf der akustischen Ebene statt, sondern Bild und Ton unterstützten einander. Es werden verstärkt die filmischen Möglichkeiten der Darstellung zwischenmenschlicher Konflikte genutzt: Bereits hier etabliert sich als letzte Einstellung ein Close-up ohne Dialog auf das sorgenvolle oder entsetzte Gesicht einer Person, unterstützt von dramaturgisch eingesetzter Musik. Diese Enthüllungs-Montage verdeutlicht, dass diese Gestalt in Zukunft Komplikationen und Probleme zu erwarten hat. Die 30-minütigen Folgen werden stärker unterbrochen von Minicliffs und anschließenden Werbespots. Die 60-minütigen Folgen haben ein ensemble cast. Sponsor und Ansager sind nicht mehr vorhanden. Bei zahlreichen Seifenopern ist eine 7-Akt-Struktur gegeben. Jeder einzelne Akt wird mit einem Minicliff beendet, bevor eine Werbeunterbrechung folgt. Die Minicliffs werden durch einen exklamatorischen oder interrogativen Kommunikationsakt vermittelt, nur sehr selten durch einen kommissiven. Vergleicht man die vier im Anhang gezeigten Segmentübersichten,234 lassen sich folgen Aussagen treffen: 1. Eindeutig ist das allmähliche Verschwinden des Ansagers (grauer Balken) und der Hammond-Orgel (schwarzer Balken) zu beobachten. 2. In Segmentübersicht 1 rahmen Sponsor und Werbung die Narration nur ein. In Übersicht 2 wird die Narration von einem Werbeblock, in Übersicht 3 von fünf und in Übersicht 4 von sieben Werbesegmenten unterbrochen. Mit den Jahrzehnten wird die Narration auch aufgrund der zunehmenden Erzählzeit immer mehr von den Werbesegmenten fragmentiert. Deshalb ist die Seifenoper von einer zweifachen Serialität gekennzeichnet. 3. Mit der zunehmenden Erzählzeit werden in der Seifenoper immer mehr Narrationssegmente mit einer größeren Anzahl Sequenzen, Figuren und Handlungssträngen dargestellt. Da man die Folgen der ersten drei Übersichten noch live ausstrahlt, wird pro Narrationssegment nur eine Szene (Radio) beziehungsweise Sequenz (Fernsehen) dargestellt. Die Folge von Segmentübersicht 4 wird hingegen bereits auf Video aufgenommen und erlaubt daher die Darstellung einer Vielzahl von Sequenzen pro Segment.

234 Siehe: Anhang, S. 663ff.

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Allgemein lässt sich über den Cliffhanger in der Seifenoper festhalten, dass er nach wie vor dialogbestimmt ist und darum vorwiegend als enthüllender Cliffhanger in Szene gesetzt wird. Die vorherrschenden Kommunikationsakte sind interrogativ und exklamatorisch. Es wird nur selten mit vorausdeutendem Cliffhanger und kommissivem Kommunikationsakt auf weit in der Zukunft zu erwartende Entwicklungen hingedeutet. Meistens wird ein unmittelbarer Rezeptionsimpuls für den nächsten Akt oder die nächste Folge gesendet. Zwar sind die Wendepunkte und Enthüllungen, die am Ende einer Folge stattfinden, auch aufgrund des gemächlichen Erzähltempos für eine ganze Reihe nächster Folgen von Bedeutung, sie sind aber bereits dringlich und präsent in der nächsten Folge. Es wird also nicht eine mögliche Entwicklung angedeutet, sondern eine Gefahren- oder Entwicklungssituation steht im Brennpunkt. Trotz aller Gemeinsamkeiten im Gebrauch der Erzähltechnik wirken die Cliffhanger der frühen Seifenopern zurückhaltend im Vergleich mit denen der 1980er und 1990er, die heutzutage meist mit dem Begriff ‚Cliffhanger‘ assoziiert werden. Zum einen liegt dies an der Inszenierung. Die live gespielte Hammond-Orgel, die auch noch in den ersten Fernseh-Seifenopern eingesetzt wird, setzt Akzente, ist aber weit entfernt von einem dramaturgisch eingesetzten Orchester-Crescendo wie bei der berühmten ‚Cliffhanger-Musik‘ der deutschen Seifenoper Lindenstraße oder der analysierten Guiding Light-Folge von 1989.235 Die technischen Mittel (und die Gewöhnung an Cliffhanger) haben zu einer teilweise exzessiven Dramatisierung der Erzählunterbrechungen geführt. Kameraführung, Musik, Dialog und unterstützende Vorbereitung des Cliffhangers in den vorherigen Sequenzen (wie bei Dallas und Guiding Light) erzielen zusammen eine Wirkungs-Potenzierung. Bei den prime time soaps ist vor allem der Finalecliff von Bedeutung, während die einzelnen Folgen innerhalb einer Staffel nicht immer einen Cliffhanger haben. Wegen der besonderen Länge der Erzählpause wird der Finalecliff über mehrere Folgen hin vorbereitet und erhält so sein Gewicht und seine zentrale Bedeutung. Die internationale Wirkung des „Who shot J.R?“-Cliffhangers zeigt den Produzenten die Macht des Cliffhangers: Er veranlasst sein Publikum nicht nur zur Treue, sondern vergrößert es in diesem Fall noch. Für ein klareres Verständnis der Erzähltechnik beweist dieser Cliffhanger auch, dass viele Cliffhanger seiner Art durch die Leerstelle den Rezipienten zu relativ eindeutigen Fragen oder Feststellungen ermuntern, die sowohl Einprägung als auch Antizipation bewirken.

235 Die Abschlussmelodie von Lindenstraße beginnt mit einem bedrohlich wirkenden Streicherunisono, das auf einem Halbschluss endet. Danach setzt eine einfache, fast naive Melodie, gespielt von einer Mundharmonika, ein, die in einer Standard-Kadenz Subdominante-Dominante-Tonika endet. Zum Schluss wird diese Kernmelodie noch einmal von einem Streichquartett wiederholt, was den Abschluss der Folge unterstützen soll.

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6.2 Eine neue Form der seriellen Narration „[I]t is clear that the idea of presenting continuing stories focusing upon domestic concerns on daytime radio was a result of the conjunction of corporate desire to reach a particular audience (women eighteen to forty-nine) […]. The soap opera represents a form of cultural production that has been fully penetrated by capital since the moment of its conception, a form driven and sustained by corporate imperatives.“236 ALLEN: SPEAKING OF SOAP OPERAS, 1985, S. 128– 129.

Anders als die bisher analysierten seriellen Narrationsformen und Erzählungen ist beim Rundfunk und Fernsehen neu, dass der Rezipient nur eine einmalige Investition statt einer mehrfachen tätigen muss, um Narration rezipieren zu können. Statt dem Narrationsprodukt selbst wird über die Rezeption Werbezeit an einen Sponsor verkauft. Die Rezeptionszeit ist zur Ware geworden. „Presented within the covers of a book or across a number of magazine issues, the narrative fiction was a commodity to be purchased. To have expected the reader to purchase a narrative without an ending would have been like expecting him or her to purchase a shirt without buttons: the book or story’s ending held the piece together and provided its ultimate logic and design. In radio, however, the listener, not the narrative, was the commodity being sold; thus, closure became an obstacle to be overcome in the attempt to establish regular, habitual listenership.“237

Die in der Einleitung des Kapitels genannten Schwierigkeiten in der Analyse der Seifenoper werden dadurch vergrößert, dass Seifenopern (auch wenn sie dann irgendwann de facto an ein Ende kommen) prinzipiell keinen Abschluss ‒ im Sinne einer teleologischen Ausrichtung ‒ haben. Es gibt keinen zusammenhängenden Sinn oder plot, nur eine grobe Grundsituation und ein Setting. Die prinzipielle Endlosigkeit der Seifenoper ist im Hinblick auf den ökonomischen Hintergrund zu sehen. Sie ermöglicht eine grenzenlose Treue zur Werbung ‒ und anfangs so auch zu einem bestimmten Produkt des Sponsors.

236 Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 128–129. 237 Ebd., S. 138. Dem mag man insofern widersprechen als dass es auch einige GroschenFortsetzungshefte gibt, die beinahe endlos laufen. Siehe bspw. zur Perry Rhodan-Reihe Kapitel: V. 5.3 „Ausblick“, S. 256, Fußnote 272.

446 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „Although Dickens might not have known how The Old Curiosity Shop was going to end when he began writing it, he did know that eventually it was going to end. Each chapter moved the reader one step closer to the novel’s telos, closing off more and more sources of indeterminacy along the way. The soap opera has no telos from which meaning can be retrospectively constructed.“238

Ein Ziel, einen Sinn, einen roten Faden oder eine spezifische Deutung in einer Seifenoper als Ganzes im Nachhinein entdecken zu wollen, erscheint fast unmöglich und ist vom Format nicht vorgesehen: Enden soll die Seifenoper gerade nicht, sie ist auf Endlosigkeit ausgelegt. Es geht um eine ‚unendliche‘ Abfolge von Episoden, deren Handlung sich erst im Laufe der Zeit ergibt. Die Folgen bilden höchstens kleinere Sinneinheiten. Der Cliffhanger ist das Mittel, diese Folgen miteinander zu verbinden. Wie auf der Spannungskurve der analysierten Folge von Guiding Light zu sehen, sendet er immer wieder einen Rezeptionsimpuls, um so ‒ gewissermaßen in Gestalt einer Sinuskurve, also der in dieser Arbeit eingeführten Schwebeform ‒ zu leiten: Es geht immer weiter. Die Serielle Narration hat fortwährend eine „Rückkopplung zwischen Diegese und Alltag“ hervorgerufen ‒ stets korrespondiert die Narration mit dem Leben des Rezipienten, da er das Leben der Figuren über längere eigene Lebensabschnitte hin verfolgt. Die Seifenoper aber ist die Maximierung dieses Phänomens. Zum einen wird ‒ zumindest an jedem Werktag ‒ die daily soap Teil des Rezipienten-Alltags. Zum anderen werden die Geschichten ausgestrahlt und begleiten über die Spanne von Jahrzehnten das Leben des Rezipienten: „Soaps offer continuity. People don’t just watch soap operas; they live with them. Day after day, ‚as the world turns,‘ soap characters bare their struggles without making any real-life demands upon the viewer.“239 Die Seifenoper ist damit die ‚seriellste‘ Narration, die möglich ist. Fortlaufendere und figurenreichere Gestaltung, häufigere Unterbrechungen, ein längerer Erzählfluss, mehr Mini- und Binnencliffs sowie Cliffhanger und häufigere Veröffentlichungen sind nicht vorstellbar. Die Produktion muss industriell-seriell konzipiert sein, um diese Masse an Aufgaben und Folgen zu bewältigen. Es werden viele Autoren benötigt, mehrere Regisseure, zahlreiche Darsteller und eine klare Teilung der Aufgaben gefordert, damit ein schnell hergestelltes Gesamtprodukt aus dem Zusammenwirken vieler Einzelteile entstehen kann.240 Die Seifenopernproduktion bedeutet

238 Ebd., S. 14. 239 Rosen: „Search for Yesterday“. In: Gitlin (Hg.): Watching Television, 1987, S. 45. 240 Allen beschreibt die Arbeitsaufteilung der Seifenopern-Produktion im Kapitel „Detailed Division of Labor“. Vgl. Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 48.

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die deutlichste Abkehr vom einzelnen Künstler, der allein für die künstlerische Vision zur jeweiligen Erzählung die Verantwortung übernähme.241 Diese ‚seriell-narrative Abfertigung‘ hat einen schlechten Beigeschmack, weil sie an industriell-maschinelle Herstellung, an das Fließband denken lässt. Die Sets müssen möglichst gleichmäßig ausgeleuchtet sein, die Einstellungen alles sichtbar machen, die Schauspieler müssen ihren Text vor allem schnell meistern können, damit die Produktion ihr Soll erfüllen kann; gedreht wird möglichst im Studio, weil dort weniger Unvorhergesehenes geschieht. Die Seifenoper muss aufgrund des Zeit- und Kostendrucks schnell abgedreht werden. Diese Kosten-Nutzen-Rechnung läuft einer künstlerischen Perfektion zuwider. Der Cliffhanger ist Teil dieser Maschinerie. Es konnte nachgewiesen werden, dass er von Anfang an bis in die neueren Entwicklungsformen der Seifenoper bestimmender Teil dieses Genres ist: Er ist der stets wiederkehrende Impuls zur Weiterführung auf Produktions- und Rezeptionsseite. Er ist der Motor der Endlosserie zur Endlosigkeit. Er ist der Höhepunkt der Folge, die Klimax – der dramatische und dramaturgische Anstoß zum Weitererzählen. Das Herz der Seifenoper ist der Cliffhanger; nicht in einem thematischen Sinne, sondern als die Seifenoper bestimmender Impuls. Er trägt bis zur nächsten Folge, eng verwoben mit ihrer Entwicklung und Geschichte aus dem ökonomischen Entstehungsprozess heraus.

241 Dennoch muss man einschränkend hinzufügen, dass auch dieser Umstand nicht von Anfang an gegeben war, sondern eher einer Entwicklung geschuldet ist. Besonders die ersten Seifenopern hatten meistens einen für die Serie sehr wichtigen Schöpfer wie Myrtle Vail (Myrt and Marge), Anne und Frank Hummert (Ma Perkins etc.) sowie Irna Phillips (The Guiding Light), die durchaus mit den heutigen creators von Serien vergleichbar sind. „The Guiding Light. Created by Irna Phillips.“ (04.04.1953, TC 00:10) Der Name der Schöpferin taucht sehr prominent im Vorspann der Seifenoper(n) auf und wird vom Ansager betont. Er gilt schon in diesen Zeiten als Qualitätsmerkmal – ein Vorläufer und Grundstein der creator-Verehrung im US-amerikanischen Fernsehen der Gegenwart. Dies widerspricht der bisherigen Annahme zahlreicher Wissenschaftler, die Seifenoper habe vor allem deswegen einen so schlechten Ruf, weil sie nicht als künstlerischer Ausdruck einer einzigen Person gesehen werden könne, sondern sich ein anonymer Pool von Schreibern dahinter verberge. „Soap operas, however, are marked by their authorial anonymity, and the soap opera production process has long been viewed as inimical to artistic expression of any sort. […] [T]he soap opera is seen as having no identifiable artist who embodies it with a personal vision.“ Ebd., S. 15. Aussagekräftig ist auch, dass einer der ersten wissenschaftlichen Texte über die Seifenoper sich mit den Schöpfern auseinandersetzt und nicht von einer anonymen Produktion spricht: Thurber: „O Pioneers“. In: Museum of Television and Radio (Hg.): Worlds Without End, 1997, S. 41–50; Thurber: „Sculptos in Ivory“. In: The Beast in Me and Other Animals, 1948, S. 223–235.

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Zumindest ansatzweise konnte die Geschichte des „soapland“ nachgezeichnet werden, was zu einem besseren historischen Verständnis verschiedener Gegenstände führt. Zum einen spiegelt sich in der Geschichte der Seifenoper ein Stück weit die Entwicklung des US-amerikanischen Broadcasting-Systems wider, was angesichts der starken Vormacht US-amerikanischer TV-Serien in der Gegenwart eine wichtige Verständnisgrundlage darstellt. Zum anderen ist die Seifenoper ein zentraler Bestandteil der Geschichte der seriellen Fortsetzungsnarration, weil sie sich – wie gezeigt werden konnte – bei anderen seriellen Formaten bedient und gleichzeitig wieder spätere serielle Narrationsformate mitgeprägt hat: Mit der Maximierung der ökonomischen Hintergründe serieller Narration, der doppelten Serialität der TV-Seifenoper, der starken Fragmentierung und dem ensemble cast war dieses Genre wichtiges ‚Versuchslabor‘ und zum Teil sogar Vorreiter späterer serieller Formate.242 Angesichts der langen und in sehr unterschiedlichen Stufen verlaufenden Entwicklung der Seifenoper darf dieses Genre, für viele der Inbegriff billiger und in Massen produzierter Unterhaltung, nicht allein durch das Prisma solcher Vorurteile betrachtet werden. Der ökonomische Hintergrund bleibt zumindest in der US-amerikanischen daily soap beherrschend; bereits in den 1980er Jahren erhält sie eine 7Akt-Struktur ‒ mehr Werbeunterbrechungen als eine damalige ‚gewöhnliche‘ TVSerie.243 Aber die lange Geschichte der Seifenoper weist eine äußerst beziehungsreich strukturierte Narration auf, die den Rezipienten zur Antizipation, Einprägung und Verknüpfung der verschiedenen Segmente, Teile und Handlungsstränge animiert. „Soap opera institutionalizes the pace and feel of daily talk. It doesn’t rush us, it doesn’t force us to accept the writer’s philosophy. It doesnʼt present us with a conclusion.“244 Der Text mag an rein ökonomischen Imperativen ausgerichtet sein ‒ wie gezeigt werden konnte, hat er sich aber über die Jahrzehnte zu einem mehrsträngigen, strukturell komplexen Narrativ entfaltet. „[T]exts are not simply endowed with meaning by their creators; readers construct their own meaning through their interactions with the text. In the case of the soap opera, the role of any particular participant in the creative process is so circumscribed, the text created so immense, and the reading so crucial that the Romantic view of the artist is rendered conspicuously anachronistic.“245

242 Vgl. Ford u. a.: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): The Survival of Soap Opera, 2011, S. 3– 22. 243 Wie beispielsweise anhand der analysierten Folge von Dallas ersichtlich, die nur eine 4Akt-Struktur aufweist. 244 Cathcart: „Our Soap Opera Friends“. In: Gumpert (Hg.): Inter/Media, 1986, S. 212. 245 Allen: Speaking of Soap Operas, 1985, S. 59–60.

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Die zahlreichen Minicliffs entspringen dem ökonomischen Gedanken, das Interesse des Rezipienten über die Werbeunterbrechungen wach zu halten. Gleichfalls sind sie narrativ betrachtet der Impuls für den Rezipienten, die verschiedenen Teile der Narration zu verknüpfen und damit anhand der zahlreichen plot-Teile selbst zum Schöpfer der zusammenhängenden story zu werden. Der Hintergrund der Seifenoper, ihr Kontext ist ein ökonomischer. Die Seifenoper als narrativer Text aber ist von der Struktur her wesentlich komplexer und reicher als ihr nicht zu vernachlässigender Entstehungsgedanke.

IX. Moderne (Fernseh-)Serien Sherlock: …and the dying man jumped out of his bed, ran straight to the piano and finished it… Moriarty: …couldn’t cope with an unfinished melody. „THE REICHENBACH FALL“. IN: SHERLOCK, S2E3, TC 22:18‒22:22.

1. K ONTEXT 1.1 Einleitung „Scorseses neue TV-Serie könnte das Kino ruinieren“.1 So lautete die Überschrift zur Rezension von Boardwalk Empire in der Tageszeitung Die Welt.2 Die Zeitschrift Brigitte titelte ähnlich: „Boardwalk Empire ist eine Gefahr fürs Kino“.3 Im Dezember

1

Praschl: „Boardwalk Empire: Scorseses neue TV-Serie könnte das Kino ruinieren“ In: Die Welt, 26. September 2010, S. 15.

2

Zwar könnte eine Betrachtung der Fortsetzungs-Fernsehserie zu einem früheren Zeitpunkt als dem hier gewählten einsetzen. Abgesehen von der daily soap, der prime time soap und der Mini-Serie sind jedoch Fortsetzungsserien im US-amerikanischen Fernsehen bis zum Ende der 1990er Jahr die Ausnahme. Serien wie Miami Vice, Crime Story, La Piovra, Hill Street Blues, Twin Peaks, NYPD Blue, Cracker, X-Files, Buffy the Vampire Slayer und einige weitere erzählen zum Teil fortgesetzt. Aber sie stellen zusammen keine größere Welle der fortgesetzten Narration dar; ihre Publikationsdaten finden sich über die Jahrzehnte verteilt, produziert werden sie in unterschiedlichen Ländern. Außerdem kommen nur einige wenige Cliffhanger vor. (Hill Street Blues wird bspw. zum Teil fortgesetzt erzählt, es finden sich allerdings nur sehr selten Cliffhanger.) Zu einer Welle fortgesetzt erzählender Fernsehserien mit Cliffhangern ‒ erneut von den USA ausgehend ‒ kommt es vor allem ab 1999.

3

Hentschel: „Gefahr fürs Kino“. In: Brigitte, 22. September 2010, S. 45.

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2011 veranstaltete das Filmbüro Nordrhein-Westfalen ein Symposium über die moderne Fernsehserie unter der Fragestellung: „Besser als Kino?“4 Im Spiegel ist sogar vom „Jahrzehnt der TV-Serie“ die Rede.5 Wie im Kapitel über serielle Narration beschrieben, wurde die Fernsehserie häufig als Inbegriff der industriell massengefertigten, aufgrund ihrer knapp bemessenen Erzählzeit nur zu simplen Erzählungen fähigen Unterhaltungsware angesehen.6 Anlässlich der Neuauflage und deutschen Übersetzung seines Werks Film als subversive Kunst schreibt 1997 der US-amerikanische Filmwissenschaftler Amos Vogel: „Der Raum, in dem diese Infantilisierung der Menschheit am klarsten hervortritt, ist die monströse Struktur des amerikanischen Fernsehens. Zum ersten Mal in der Geschichte wird das mächtigste Massenmedium einer Gesellschaft ausschließlich von der Werbewirtschaft und vom Markt kontrolliert, ausschließlich geleitet von kommerziellen Geboten, gesättigt von allgegenwärtigen Werbungen, die bestimmte Publikumsmengen an die Werbekundschaft vermitteln (statt dem Publikum ein Programm), und einem breiten Spektrum von Kanälen, die 365 Tage im Jahr vor allem Müll ausstrahlen. So wurde das wunderbare Potential dieses Mediums betrogen.“7

Das „wunderbare Potential“ dieses Mediums scheint nun genutzt zu werden. Aber wie kommt es, dass nun eine Fernsehserie wie Boardwalk Empire als „Gefahr fürs Kino“ gesehen wird, der Fernsehserie als solcher die Möglichkeit zugesprochen wird, besser als der Kinofilm zu sein? Boardwalk Empire ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme; sie ist nur eine unter vielen Fernsehserien der letzten Jahre, die überschwänglich rezipiert wurden: The 4

„Unter dem provokanten Titel ‚Besser als Kino?‘ hatte das Filmbüro Nordrhein-Westfalen zu einem Symposium eingeladen, um über epische Erzählformen in modernen Fernsehserien zu diskutieren. Die These: ‚Das Kino hat einen Teil seiner künstlerischen Vorreiterrolle verloren.‘“ http://torrent-magazin.de/?p=185 [vom 12.10.2011]. „‚Four or five years ago,‘ Harris reminds, ‚it was a jaunty provocation to claim that ‚TV is better than the movies‘ (a phrase that headed articles in Time, Newsweek, and EW). Today, itʼs just a fact. […]. TV can react quickly to a changing zeitgeist, whereas movies now take ridiculously long to respond to anything, if they even try.“ Lavery: „The Imagination will be Televised“. In: Dreher u. a. (Hg.): Autorenserien, 2010, S. 64–67.

5 6

Kleingers: „Das Jahrzehnt der TV-Serien“. In: Spiegel, 2. Januar 2010, S. 89. Siehe Kapitel: II. 2.1 „Der schlechte Beigeschmack der Worte ‚Serie‘ und ‚Serialität‘“, S. 47.

7

Vogel: Film als subversive Kunst, 2000, S. 10. Siehe auch: Ritzer: Fernsehen wider die Tabus, 2011, S. 8. Ritzer stellt gleichzeitig fest, dass im selben Jahr, in dem Vogels Buch veröffentlicht wurde, HBOs Fortsetzungsserie OZ startete, die zum wichtigen Vorreiter wurde bzw. zu einer der ersten Serien des third golden age of television zählt.

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Wire wurde mit Balzacs Werk verglichen,8 The Sopranos mit Buddenbrooks.9 Der modernen Fernsehserie wird nicht nur zugebilligt, besser als der Kinofilm zu sein; sie wird häufig sogar mit (vermeintlich) elaborierter Literatur auf eine Stufe gestellt. Diese Vergleiche sind für ein Verständnis der neueren Fernsehserien nur sehr begrenzt hilfreich und werden vornehmlich im Feuilleton gezogen. An solchen Wertungen lässt sich aber ablesen, dass Kritiker und Zuschauer in den neueren Fernsehserien eine ‚andere Qualität‘ erkennen, die ihnen vornehmlich von Büchern und Filmen her vertraut zu sein scheint. Auch in der Wissenschaft wird versucht, diese ‚Qualität‘ der neueren Fernsehserien mit dem problematischen Begriff ‚Quality TV‘ vom ‚alten Fernsehen‘ zu unterscheiden.10 Der irreführende Begriff ‚Quality TV‘ suggeriert vor allem, Fernsehen an sich sei nicht qualitätsvoll ‒ es gebe ‚Quality TV‘ und ‚TV‘. Damit bestätigt er alte Vorurteile.11 Die Bezeichnung ‚Quality TV‘ ist aller-

8

„Der Roman der Gegenwart ist eine DVD-Box: Amerikanische Serien wie „The Wire“ beweisen die Emanzipation einer epischen Form von der Unterhaltungsindustrie und sind längst zum ernsthaften Konkurrenten der Literatur geworden.“ Kämmerlings: „Ein Balzac für unsere Zeit“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Mai 2010, S. 33.

9

Vgl. Lahme: „Die Mafia trägt Morgenmantel“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. April 2007, S. 74.

10 Zwar kam der Begriff ‚Quality TV‘ bereits im Feuilleton der 1980er Jahre auf, in die Geisteswissenschaften übertragen wurde er aber erst 1997 von Robert Thompson: Televisionʼs Second Golden Age, 1997. In seinem Buch beschreibt er in 12 Punkten die Gemeinsamkeiten der (meisten) Quality-TV-Serien. Ein sehr häufiger Gebrauch des Begriffs ‚Quality TV‘ ist erst mit den Serien seit der Jahrtausenderwende zu beobachten. (Vgl. Jancovich u. a. (Hg.): Quality Popular Television, 2003); McCabe u. a.: „Introduction“. In: Ders. u. a. (Hg.): Quality TV, 2007, S. 11.) 11 Unvorstellbar wäre es, analog von Qualitätsbüchern und -filmen zu sprechen. Im Gegenteil: Bei Belletristik und Film wird von ‚Qualität‘ als Regel ausgegangen; die ‚schlechten‘ Werke werden durch eine Wortergänzung kenntlich gemacht wie ‚Trivialliteratur‘ oder ‚BFilm‘. Außerdem ist der Begriff in fünf weiteren Punkten problematisch: 1. Thompson führt als wichtigstes Kriterium fortgesetztes Erzählen an. (Vgl. Thompson: Televisionʼs Second Golden Age, 1997, S. 14.) Die Grenzen zwischen Episoden- und Fortsetzungsserie verschwimmen jedoch immer mehr. Robin Nelson führte 1997 den Begriff ‚flexi-narrative‘ in die Fernsehwissenschaft ein (Jason Mittell spricht in seinem ebenfalls wegweisenden Aufsatz von „narrative complexity“, vgl. Mittell: „Narrative Complexity in Contemporary American Television“. In: The Velvet Light Trap, 58, 2006, S. 29–40). Nelson definiert mit diesem Begriff Fernsehserien, die Hybride aus Episoden- und Fortsetzungsserie sind. (Vgl. Nelson: TV Drama in Transition, 1997, S. 34. Nelson hebt in einem neueren Aufsatz hervor, dass dies nur ein Aspekt ist, den sein Begriff der ‚flexi-narrativ‘ beschreibt, siehe:

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dings aussagekräftig als Symptom des gewandelten Blicks der (meisten) Wissenschaften auf die Fernsehserie. Die Flut an neuen, fortgesetzt erzählenden Fernsehserien hat in den letzten Jahren in verschiedenen Bereichen zu einem stärkeren Bewusstsein für das Potenzial der seriellen (TV-)Narration geführt. Viele Film-Regisseure und -Schauspieler sind inzwischen in die Produktion von Fernsehserien involviert. „Die hierarchischen Verhältnisse zwischen TV und Kino haben sich stark verändert in den letzten Jahren – die Lage ist komplexer und unübersichtlicher geworden. Längst passé die Zeiten, in denen TV-Produktionen noch als minderwertig galten; zwar fungieren insbesondere Serien immer noch als Kaderschmiede, in der sich Talente fürs Kino qualifizieren können. Doch angesichts rückläufiger Produktionszahlen und zunehmend einseitiger Genreausrichtung verwandelt sich das Kino selbst in eine Monokultur. Für Qualität, Innovation und Risiko ist inzwischen eher das Fernsehen ‚the place‘, was man auch daran erkennen kann, dass selbst die Stars des Regiefachs sich immer öfter im Fernsehen verwirklichen.“12

In den letzten Jahren drehen und produzieren berühmte Filmregisseure wie Martin Scorsese (Boardwalk Empire), Michael Mann (Luck), David Fincher (House of Cards) und Neil Jordan (Borgias) Serien, in denen Filmstars wie Steve Buscemi, Nelson: „Entwicklung der Geschichte“. In: Eichner u. a. (Hg.): Transnationale Serienkultur, 2013, S. 26.) Da immer mehr Serien fortgesetzt erzählen oder dem Erzählprinzip der ‚flexi-narrative‘ entsprechen, fällt eine eindeutige Klassifizierung als ‚Quality TV‘ zunehmend schwer. 2. Es bleibt unklar, warum man von ‚Quality TV‘ spricht, aber nur Serien darunter fallen. 3. Der Begriff enthält eine subjektive Wertung: Trotz aller von Thompson aufgestellten Kriterien mag für den einen die jeweilige Serie ‚Quality‘ sein, für den anderen nicht. Gut gemachtes Fernsehen müsste unterschieden werden von Quality TV? (Vgl. Cardwell: „Is Quality Television Any Good?“. In: McCabe u. a. (Hg.): Quality TV, 2007, S. 19–34.) Wenn ‚Quality TV‘ nicht auf moderne Serien von Bezahlfernsehsendern begrenzt ist, hat dann die Qualitätssteigerung nicht mit einer generellen Weiterentwicklung des Fernsehens zu tun, die mit technischen Veränderungen, neuen Distributionswegen etc. einhergeht? 4. Thompson schreibt, es gehe kein ästhetisches Urteil mit diesem Begriff einher, sondern es handele sich um eine Genrebeschreibung. (Vgl. Thompson: Televisionʼs Second Golden Age, 1997, S. 16.) Typische Genremerkmale wie thematische Ähnlichkeiten weisen Quality TV-Serien aber gerade nicht auf. 5. „Quality TV is best defined by what it is not. It is not ‚regular‘ TV.“ Ebd., S. 13. Was aber ist heutzutage noch ‚regular‘ TV? Auch diese Etikettierung unterliegt dem zeitlichen Wandel. (Eine weitere Problematisierung des Begriffs bieten die Sammelbände: McCabe u. a. (Hg.): Quality TV, 2007; Jancovich u. a. (Hg.): Quality Popular Television, 2003. Blanchet: „Quality TV“. In: Ders. (Hg.): Serielle Formen, 2010, S. 37–70 ergänzt und aktualisiert Thompsons 12 Punkte). 12 Schnelle: „Die ganze Welt des Entertainments“. In: epd film, 2013 (5), S. 32.

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Dustin Hoffmann, Kevin Spacey und Jeremy Irons mitwirken. Selbst IndependentRegisseure wie Todd Haynes (Mildred Pierce) und Jane Champion (Top of the Lake) wenden sich der Miniserie zu. Es gilt zu untersuchen, was sich seit 1999 ‒ einer Zeitspanne, die auch als third golden age of television bezeichnet wird13 ‒ im Format der Fernsehserie verändert hat, dass so viel fortgesetzt erzählt wird und der TV-Serie so viel Anerkennung zuteilwird. Vor allem ist zu fragen, was diese Aufwertung für die serielle Narration und den Einsatz von Cliffhangern bedeutet. 1.2 Hintergründe: Das US-amerikanische Broadcasting-System Die ökonomischen Hintergründe bleiben auch in der gegenwärtigen Welle der seriellen Fortsetzungsnarration sehr wichtig. Das momentane US-amerikanische Broadcasting-System besteht vornehmlich aus drei unterschiedlichen Gruppen von Fernsehsendern: network-, basic cable- und Pay-TV-Sender. Die network-Sender NBC, CBS, ABC, Fox und The CW können terrestrisch (und per Satellitenschüssel) empfangen werden. Sie bilden einerseits ein Netzwerk aus vielen kleinen Lokalsendern, die ein komplettes Programm nicht finanzieren können und daher einige Sendeplätze einem network gegen Bezahlung überlassen (affiliates);14 andererseits setzen sie sich aus einer Vielzahl von eigenen Radio- und Fernsehstationen zusammen (owned and operated stations).15 Die network-Sender werden hauptsächlich durch Werbung finanziert. Sie unterliegen aber noch einer gewissen ‒ vor allem historisch bedingten ‒ staatlichen Regulierung: Trotz Werbefinanzierung sollen diese Sender seit ihrer Gründung dem Gemeinwohl dienen und müssen daher die regulations der FCC (Federal Communications Commission) beachten.16 13 Als erstes golden age of television wird vornehmlich die Zeitspanne Ende der 1940er bis Anfang der 1960er Jahre bezeichnet, in der im US-amerikanischen network-Fernsehen eine Reihe innovativer Sendungen zu sehen waren wie Alfred Hitchcock Presents, The Twilight Zone und Playhouse 90. (Vgl. Sturcken: Live Television, 1990.) Etabliert hat sich der Begriff ‚golden age of television‘ aber vor allem durch Robert Thompsons Televisionʼs Second Golden Age, 1997. Dadurch, dass viele der Serien ab der Jahrtausendwende den von Thompson genannten Kriterien entsprechen, werden diese Serien als Quality TV bezeichnet und die Zeitspanne seit der Jahrtausendwende gelegentlich als „third golden age of television“. (Vgl. Schabacher: „Serienzeit“. In: Meteling u. a. (Hg.): „Previously on …“, 2010, S. 20.) 14 Vgl. Biagi: Media Impact, 2012, S. 174; Blumenthal u. a.: This Business of Television, 2006, S. 9. 15 Vgl. Boddy: Fifties Television, 1993, S. 114. 16 Siehe Kapitel: VIII. 1.2.1 „Technische und finanzielle Hintergründe“, S. 378. Vgl. Hilmes: „NBC and the Network Idea“. In: Henry u. a. (Hg.): NBC, 2007, S. 22. Die FCC-regulations werden erklärt in: Blumenthal u. a.: This Business of Television, 2006, S. 27–54.

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Auf die serielle Narration wirkt sich diese Konzeption aus, weil die network-Serien eine doppelte Einschränkung zu beachten haben: Wie bereits im letzten Kapitel über die Seifenoper am Beispiel von The Guiding Light (15.11.1989) verdeutlicht, werden aufgrund der Werbespots die Erzählungen mehrfach unterbrochen und müssen der vier- bis siebenaktigen Struktur entsprechen.17 Die Programmgestaltung orientiert sich an den Werbekunden. Auch die Serien sollen ein ‚werbefreundliches Umfeld‘ schaffen: einladend für die Werbefirmen und kompatibel mit verschiedenen Werbebotschaften.18 Die FCC-regulations limitieren die Narration ebenfalls, weil sie beispielsweise Schimpfwörter und Nacktheit ‒„obscene, indecent, and profane programming“19 ‒ untersagen. Die Netzwerke werden als öffentliche Unterhaltungs- und Informations-Anbieter verstanden, die auf den der Allgemeinheit zugänglichen Frequenzen ausgestrahlt werden.20 Die Anfänge des US-amerikanischen Kabelfernsehens liegen in den 1950er Jahren.21 Über 70% der US-amerikanischen Haushalte haben basic cable, insgesamt gibt es mehr als 300 Sender.22 Kabelsender finanzieren sich durch eine Mischkalkulation. Erstens offerieren die Kabelfernseh-Anbieter dem Zuschauer verschiedene SenderPakete. Nicht vom Konsumenten erhält der Kabelsender sein Geld, sondern vom jeweiligen cable-system-operator.23 Dieser wiederrum wird für das jeweilige SenderPaket vom Abonnenten bezahlt. Da die Kabel beziehungsweise Satelliten, über die das Empfangssignal verbreitet wird, der Privatwirtschaft gehören, ist ein Kabelsender 17 Vgl. Levinson: „Naked Bodies, Three Showings a Week, and No Commercials“. In: Lavery (Hg.): This Thing of Ours, 2002, S. 27. 18 Vgl. Kelso: „And Now No Word from our Sponsor“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 47. 19 Webseite des FCC: http://www.fcc.gov/guides/obscenity-indecency-profanity-faq [vom 27.01.2013]. Erstaunlich ist dabei, dass Gewalt im network-Fernsehen durch die FCC-Regulierungen nicht verboten wird: „The FCC does not currently regulate the broadcast of violent programming.“ Ebd. 20 In den letzten Jahren wurden die FCC-regulations gelockert. Generell werden wohl nur Verwarnungen ausgesprochen ‒ die allerdings für die Sender kostspielig sein können. Vgl. Zarkin u. a.: The Federal Communications Commission, 2006, S. 45–50. Aber noch von 2004 bis 2006 kam es zu härterem Durchgreifen und einer Reihe von Verwarnungen durch die FCC, auch bei Fernsehserien. Dazu hatte geführt, dass während der live übertragenen Super-Bowl halftime show 2004 Sänger Justin Timberlake ‚versehentlich‘ die Brust von Janet Jackson entblößte; bekannt wurde dieses Ereignis als Nipplegate-Skandal. (Vgl. Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012.) 21 Vgl. Parsons: Blue Skies, 2008, S. 2. 22 Vgl. Blumenthal u. a.: This Business of Television, 2006, S. 11. Die Zahlen stammen aus dem Jahr 2006. 23 Vgl. ebd., S. 12.

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befreit von den FCC-regulations. Zweitens finanzieren sich die Kabelsender über Werbeeinahmen ‒ dementsprechend häufig sind je nach Senderprofil und Finanzierung die Werbeunterbrechungen. Meistens ist die Schaffung eines werbekompatiblen Umfeldes ebenso Ziel des Kabelsenders wie eine erhoffte Attraktivität des Programms für Abonnenten und ein daraus resultierender erhöhter Preis für die Aufnahme des Senders in ein bestimmtes Kabelsender-Paket eines Providers.24 Das Bezahlfernsehen ‒ Pay TV, premium cable oder premium tv genannt ‒ startet in den USA 1972 mit dem Sender HBO (Home Box Office).25 Er bezieht seine Einnahmen über die direkten Abonnements und die Zweitdistribution eigener Produktionen, nicht über Werbung.26 Das Programm wird weder von Werbespots noch von den FCC-regulations eingeschränkt. Die Inhalte sind dementsprechend freier gewählt und dargestellt, da kein für die Werbung passendes Umfeld in der Serie geschaffen und keine staatliche Aufsicht zufrieden gestellt werden muss. 1.3 HBO und the third golden age of television 1999 beginnen zwei Serien im US-amerikanischen-Fernsehen, die beide fortgesetzt erzählen, sehr erfolgreich sind und im Nachhinein als Beginn des third golden age of television gesehen werden: The West Wing und The Sopranos. Ist The West Wing vom US-amerikanischen network-Sender NBC produziert ‒ einem alt eingesessenen Serienproduzenten ‒, so stammt The Sopranos vom Bezahlfernsehsender HBO, der erst 1997 anfängt, eigene Serien herzustellen und zum Wegbereiter des neuen golden age wird.27 Ein wesentlicher Entstehungs- und Erfolgsgrund von The Sopranos ist HBOs spezifische Stellung in der US-amerikanischen Fernsehindustrie als Bezahlsender. In

24 Auch wenn Werbeslots im basic cable wesentlich preiswerter sind als bei den networkstations, beziehen diese Sender noch immer einen Teil ihrer Finanzierung aus dem Verkauf von Werbeslots. Vgl. ebd. 25 Vgl. Gomery: „The History of U.S. Cable TV Networks“. In: Leonhard u. a. (Hg.): Medienwissenschaft, 2002, S. 2188. 26 Wobei es im Pay-TV gelegentlich Product-Placement geben soll. (Vgl. Kelso: „And Now No Word from our Sponsor“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 52f.) 27 Vgl. Anderson: „Overview“. In: Edgerton u. a. (Hg.): The Essential HBO Reader, 2008, S. 23; Ritzer: Fernsehen wider die Tabus, 2011, S. 10. Wichtiger, aber nicht sehr erfolgreicher Vorreiter ist die Gefängnisdrama-Serie Oz (vgl. Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 19–32). Sex and the City ist für HBO ein erster großer Erfolg im halbstündigen Comedy-Format.

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den 1970er bis 1990er Jahren hatten die Pay-TV-Kanäle einen Großteil des Programms gestaltet, indem sie Filme kurz nach deren Erscheinen im Kino sendeten.28 Videotheken, Videorekorder, später die DVDs führten in den 1980er und 1990er Jahren zu rückläufigen Abonnementzahlen.29 Erst durch das Konzept, mit eigenen Produkten, „Original Programming“,30 Kunden zu akquirieren, erhöhten sich die Abonnentenzahlen wieder. Bereits in den 1990er Jahren beginnt HBO, selbst Fernsehfilme zu produzieren.31 Die eigenen Serien haben gegenüber den ganzheitlichen Werken zusätzlich den Vorteil, dass sie eine länger anhaltende Rezipiententreue erreichen können. HBO stellt original series her, die sich in zahlreichen Punkten von (damaligen) Serien des network-Fernsehens unterscheiden. 1. Nacktheit und Schimpfwörter: Aufgrund der Befreiung von Werbung und den FCC-Regulierungen kann in den Serien geflucht und viel nackte Haut gezeigt werden ‒ eine Freiheit, die ausgiebig genutzt wird.32 2. Fortgesetztes Erzählen: Zum einen erhält der HBO-Abonnent häufig die Gelegenheit, verpasste Folge nachzuholen. Während das network-TV ungern und dementsprechend selten Wiederholungen zeigt, da diese so genannten reruns bei Werbekunden viel weniger attraktiv sind, ist HBO unabhängig von Werbung und

28 Vgl. Santo: „Para-Television and Discourses of Distinction“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 21–22. Die Namen der Sender verraten die ursprüngliche Programmausrichtung zum Teil: HBO (Home Box Office) und der Kabelsender AMC (American Movie Classics) lassen erkennen, dass bis in die 2000er Jahre vor allem auf die zeitnahe Zweitauswertung von Kinofilmen gesetzt wurde. 29 Vgl. Anderson: „Overview“. In: Edgerton u. a. (Hg.): The Essential HBO Reader, 2008, S. 31; Santo: „Para-Television and Discourses of Distinction“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 21–22. „A major turning point for HBO, in particular, was the release of the VCR. […] [N]ow people could easily bypass HBO by renting movies (and choosing from a much greater selection), HBO realized it had to venture into the production of original content.“ Kelso: „And Now No Word from our Sponsor“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 58. 30 Vgl. Ulin: The Business of Media Distribution, 2013, S. 332–333. 31 Vgl. Anderson: „Overview“. In: Edgerton u. a. (Hg.): The Essential HBO Reader, 2008, S. 30. 32 Die Auswirkungen der Befreiung von den FCC-regulations in Bezug auf die Serie The Sopranos wird erläutert in: Leverette: „Cocksucker, Motherfucker, Tits“, in: Ders. u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, 123–151. Ivo Ritzer konzentriert sich in seinem Buch vornehmlich auf die FCC-regulations und den daraus sich ergebenden Tabubruch in vielen Pay-TVSerien: Ritzer: Fernsehen wider die Tabus, 2011, S. 26–90.

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verfügt inzwischen über sieben subchannels,33 auf welche die Wiederholungen verteilt werden können. Zum anderen setzt HBO bewusst auf eine Zweitdistribution mittels Trägermedien, Online-Stores, on-demand-Service etc. Die DVD-Boxen der letzten Staffel erscheinen kurz vor dem Ausstrahlungsbeginn einer neuen, sodass der Rezipient auf sie aufmerksam gemacht wird und zudem jederzeit in eine bereits laufende Serie einsteigen oder sie ganz ohne Fernsehausstrahlung rezipieren kann.34 Dementsprechend dürfen und müssen alle Serien einer erneuten Rezeption, die im Netzsprachgebrauch als „rewatchability“ bezeichnet wird, standhalten.35 3. Werbefreiheit, längere Erzählzeit und keine Unterbrechungen: Aufgrund der Werbefreiheit muss eine Folge keine vier- bis siebenaktige Struktur und keine Binnen- oder Minicliffs vor Werbeunterbrechungen aufweisen.36 Bezahlfernsehserien können Geschichten in einem anderen Tempo erzählen. Ein längerer Erzählatem kann eingeplant werden, da sie nicht sofort zu einem plot point oder einer Klimax kommen müssen.37 Aufgrund der fehlenden Werbung haben die Folgen statt der im network- und basic cable-Fernsehen üblichen 43‒48 Minuten meist 55‒58 Minuten Erzählzeit. Die immense Bedeutung der Werbefreiheit für die Gestaltung der Pay-TV-Serien wird von David Simon, dem Schöpfer der HBO-Serien The Wire und Treme unterstrichen: „Es gibt uns nur, weil wir die Werbung losgeworden sind. Werbung ist nichts dem Fernsehen Äußerliches, sie beeinflusst das Erzählen einer Geschichte über den finanziellen Druck, der in den Werbeblöcken steckt – bis hin zu dem Punkt, an dem automatisch der strukturell größtmögliche Bullshit entsteht. Denn wenn du deine Story alle zwölf Minuten unterbrechen musst, um sie beim Sender loszuwerden, muss sie einfach gutartig und bequem sein, nur so bekommt der Zuschauer Lust, endlich einen neuen BMW, einen Mercedes oder einen iPod zu kaufen. Für dunklere, traurigere Geschichten bleibt da kein Raum. Es ist also nur ein winziges Fenster, das sich mit dem Pay-TV für uns geöffnet hat.“38 33 HBO, HBO2, HBO Latino, HBO Signature, HBO Family, HBO Comedy und HBO Zone. Vgl. Mittell: „The Wire in the Context of American Television“. In: Kennedy u. a. (Hg.): The Wire, 2012, S. 23. 34 Vgl. Santo: „Para-Television and Discourses of Distinction“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 29. 35 Vgl. Kelleter: „Serien als Stresstest“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Februar 2012, S. 15. 36 Vgl. Santo: „Para-Television and Discourses of Distinction“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 28. 37 Vgl. Kelso: „And Now No Word from our Sponsor“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 47. 38 Simon u. a.: „Crime Scene Baltimore“. In: Spex, 11/12, 2012, S. 137.

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4. ‚Nischenpublikum‘: Die Serien von Bezahlfernsehsendern sind nicht primär von den Einschaltquoten abhängig wie network-Serien, sondern von der Resonanz, den Abonnenten des Senders und den naturgemäß spät vorliegenden Verkaufszahlen der Zweitdistribution.39 Sie sollen vor allem das Branding von HBO für anspruchsvolle und exklusive Unterhaltung unterstützen und für eine Zweitdistribution attraktiv sein.40 Serien erhalten außerdem die Möglichkeit, sich über eine längere Zeit zu profilieren und die Zuschauer anzuziehen und an sich zu binden.41 HBO kann also anspruchsvolle Produkte herstellen und ausstrahlen, wenn die entsprechende Serie wichtig für das Branding ist und ins Serienportfolio passt – selbst wenn die Einschaltquoten eher für eine Absetzung der Serie sprächen. Vereinfacht könnte man sagen: Es ist nicht entscheidend, dass die Abonnenten das einzelne Serien-Produkt rezipieren, solange sie weiterhin bereit sind, für das Gesamtpaket HBO zu zahlen und es genug Käufer für die DVDs gibt.42 5. Statt Fernsehen ‚Filmaura‘: Die jeweiligen Serien werden nicht wie zuvor als Gemeinschaftsprodukt einer wechselnden Filmcrew hingestellt. Angeblich ist die Pay-TV-Serie ein Werk aus einer Hand. Der creator als Äquivalent zum Kinofilm-auteur prägt mit vermeintlich individueller Handschrift die Serie; ihn verehren oft die Fans, die Serie wird vor allem mit seinem Namen in Verbindung gebracht.43 Der Terminus ‚creator‘ impliziert viel mehr als ‚Autor‘ oder ‚Regisseur‘: Er verweist auf die Dimensionen Vermarktung und Verehrung; der creator 39 „Subscription is key.“ McCabe u. a.: „Itʼs not TV, itʼs HBOʼs Original Programming“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 84; Santo: „Para-Television and Discourses of Distinction“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 31. The Wire war bspw. kein unmittelbarer Erfolg, die DVDs der Serie weisen aber über einen langen Zeitraum konstante Verkaufszahlen auf (vgl. Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 95). 40 Selbst Drama-Serien, die relativ schlechte Einschaltquoten haben, wie The Wire und Treme werden fortgesetzt. 41 Vgl. Kelso: „And Now No Word from our Sponsor“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 52. 42 „As current HBO chairman and CEO Chris Albrecht has said, ‚the products that the broadcast networks sell are the ones that appear on the commercials in between the shows. The product that we sell is HBO the network. You canʼt buy a piece of it. You have to buy it all.‘“ Anderson: „Overview“. In: Edgerton u. a. (Hg.): The Essential HBO Reader, 2008, S. 29. 43 „American broadcasters are once again emphasising the importance of authoring as a means of distinguishing their products from regular TV. Using the idea of the author as brand label of quality and exclusivity, they are institutionalising the writer-producer as a strategy.“ McCabe u. a.: „Introduction“. In: Ders. u. a. (Hg.): Quality TV, 2007, S. 9. Christoph Dreher hat als Herausgeber seinen Sammelband Autorenserien. Die Neuerfindung des Fernsehens genannt. Er vergleicht die Serien-creators mit den auteurs der Novelle Vague:

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wird in den Rang des gottgleichen Schöpfers einer eigenen Welt ‒ der jeweiligen Serie ‒ erhoben. Kannte man in den 1980er und selbst noch 1990er Jahren allerhöchstens einige wenige Namen von Serien-Produzenten wie David Lynch, Michael Mann und womöglich noch X-Files-creator Chris Carter,44 so gelten die Schöpfer der neuen Serien als visionäre Genies,45 die meist wichtiger als die Hauptdarsteller an prominenter Stelle im Vorspann und auf den DVD-Boxen erscheinen. Zur ‚Filmaura‘ tragen auch die bedeutenden Kino-Regisseure bei, die meistens die Pilotfolge inszenieren. So wird die Serie direkt als „not-TV“, als „filmisch“ und exklusiv deklariert.46 Die ‚Filmaura‘ ist auch an der Stoffauswahl „Damit [d.s. die Gespräche und Analysen in den Cahiers du Cinema der 1950er Jahre] wurden die Unterhaltungsspezialisten nun als Autoren begriffen, die etwas hervorbringen, was man eher als Kunst denn als bloße Unterhaltung auffassen kann. Eine solche Betrachtung erscheint mir ebenso angemessen für die creators von Qualitätsserien und ihre Werke, für die insofern der Begriff ‚Autorenserien‘ zutreffend erscheint.“ Dreher: „Autorenserien“. In: Ders. u. a. (Hg.): Autorenserien, 2010, S. 61. Bei einer aus vielen Folgen und Staffeln bestehenden, von Sender-Autoritäten abhängigen, von einem großen Team produzierten Serie ist es für den Rezipienten noch schwieriger als bei Filmen, eine Autorschaft wahrnehmen und beurteilen zu können. Er ist von den Aussagen der Studios abhängig, die den creator als alleinigen Schöpfern darstellen. Zumal die auteur-Theorie von John Caughie bereits für den Film problematisiert wurde: Vgl. Caughie: „Authors and Auteurs.“ In: Donald u. a. (Hg.): The SAGE Handbook of Film Studies, 2008, S. 419. Aufgrund dieser Fehler wurde die auteur-Theorie aus dem Film-Theoriekanon verbannt. David Lavery nimmt an, dass ähnliche Fehler und eine daraus resultierende Entwicklung sich in den TV Studies wiederholen werden. (Vgl. Lavery: „The Imagination will be Televised“. In: Dreher u. a. (Hg.): Autorenserien, 2010, S. 70.) Lavery legt damit nahe, in wenigen Jahren gingen auch die TV-Studies nicht mehr von der alleinigen Handschrift eines Serien-auteurs aus. 44 Diese wenigen kannte man womöglich nur, weil sie auch im Kinofilm tätig waren. Michael Mann und David Lynch waren Filmregisseure und Produzenten und blieben in diesem Gebiet am aktivsten. 45 Beim Filmfestival von Deauville werden inzwischen TV-Serien vorgestellt und statt Filmregisseuren Serien-creators eingeladen „Zudem wurden die Schöpfer einiger bahnbrechender Serien eingeladen, um Meisterkurse zu geben – wahre ‚Auteurs‘ wie David Chase, der Erfinder der ‚Sopranos‘, oder Clyde Phillips, der kreative Kopf hinter ‚Dexter‘. Beide wurden in Deauville gefeiert wie Popstars.“ Schmidt: „Verbrechen zahlt sich selbstverständlich aus“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Oktober 2010, S. 78. Ein Vorreiter dieser Entwicklung war Joss Whedon, der mit seiner Serie Buffy the Vampire Slayer früh als Serienschöpfer prominent wurde. 46 So führen berühmte Filmregisseure wie Walter Hill (Deadwood, S1/E1), Michael Apted (Rome, S1/E1–3), Mike Figgis (Sopranos, S5/E10) usw. in einigen Folgen Regie. Zu den

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ersichtlich. Gab es früher selten Serien im historischen Setting, schon allein wegen der höheren Produktionskosten, so spielt ein Großteil der Bezahlsender-Serien in alten oder fremden Welten.47 Namhafte Filmregisseure und Schauspieler bringen in die Produktion der Serien die Exklusivität von Kinofilmen. Höhere Budgets und eine andere Stoffwahl rücken die Serien in die Nähe von Spielfilmen. Auch dieser von den Bezahlsendern gesuchte Vergleich mit dem Kino kann historisch hergeleitet werden: Hatten die Pay-TV-Sender früher auf das Alleinstellungsmerkmal einer zeitnahen Auswertung von Kinofilmen gesetzt, werden nun die eigenen Produktionen mit einer ‚Filmaura‘ versehen.48 Aufgrund dieser fünf Charakteristika schafft HBO Serien, die Ende der 1990er Jahre und Anfang der 2000er Jahre in dieser Machart nur von einem Pay-TV-Sender angeboten werden können.49 Die original series der Bezahlfernsehsender bieten die Möglichkeit, bereits in der Konzeption die Vorteile dieser Sender mit maßgeschneiderten Stoffen auszuschöpfen. Nur bei Bezahlfernsehsendern – so lautet die Werbebotschaft – bekommen die Kunden werbefreie, ungeschnittene, an Erwachsene gerichtete, exklusive, qualitätsvoll-‚filmische‘ Produkte, die es nirgendwo im ‚kostenlosen‘ network-Fernsehen zu sehen gibt. Der viel zitierte Slogan HBOs von 1996 bis 2009 „It’s not TV. It’s HBO“ brachte diesen Anspruch und die Corporate Identity auf den Punkt.

HBO-Regisseuren von Drama-Serien gehört aber auch ein fester Kern, der zwischen den verschiedenen Serien wechselt und damit für konstante Qualität bürgt. Diese Regisseure sind inzwischen auch häufig Kinofilm-Regisseure ‒ ein Indiz dafür, wie hochwertig und ‚filmisch‘ ihre TV-Arbeit ist und wie durchlässig die Grenzen zwischen ‚Fernseh- und Filmwelt‘ geworden sind. Bspw.: Allen Coulter (Sopranos, Rome, Luck, Boardwalk Empire etc.) drehte zwei starbesetzte Kinofilme: Hollywoodland (USA 2006) und Remember Me (USA 2010). 47 Historische Settings und Gestalten finden sich in: Rome (50–30 v. Chr.), Deadwood (1876– 1878), Mad Men (ab 1969), The Tudors (1518–40), The Borgias (ab 1492) und Boardwalk Empire (ab 1920). Game of Thrones spielt in einer Welt, die in ihrer Größe und Komplexität Anklänge an Tolkiens Herr der Ringe-Trilogie aufweist. 48 Die Finanzierung und Abhängigkeit der network-Sender von der Werbung wird bereits im Kapitel über die Seifenoper historisch erläutert, weshalb hier keine Kontrastierung zum Pay-TV stattfindet, sondern sich lediglich auf die Veränderungen und Neuerungen konzentriert wird. 49 Vgl. Santo: „Para-Television and Discourses of Distinction“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 37.

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1.3.1 Auswirkungen auf die TV-Industrie: ‚Mit- und Nachmacher national‘ Der Einfluss des Erfolgs von HBOs original series auf die US-amerikanische Fernsehindustrie ist sehr groß. Teilweise wird vom „HBO aftereffect“50 gesprochen.51 Inzwischen folgt eine ganze Reihe von Sendern dem Beispiel HBOs. Auch die beiden Pay-TV-Sender Showtime und Starz stellen inzwischen eigene Serien her. Seit dem großen Erfolg von The Shield des Kabelsender FX im Jahr 2002 setzen sogar einige basic cable networks verstärkt auf die Produktion eigener Serien und erhöhen so ihre Attraktivität und ihren Preis beim Kabelfernseh-Provider.52 Ähnlich vielen Pay-TVSendungen stellen diese Serien brutale Gewalt dar und benutzen unflätige Schimpfwörter. Vor allem FX und AMC steigern mit exklusiven eigenen Serien ihren Marktwert beim Kunden und damit beim Provider und nehmen dafür geringere Werbeeinnahmen in Kauf.53 Ein vielzitierter Artikel von Adam Davidson beschreibt die Strategie dieser Kabelsender am Beispiel der AMC-Serie Mad Men: „Starting with Mad Men in 2007, the network landed hit shows that developed small but obsessive followings. Soon after, it began making larger financial demands of the cable and satellite providers, like Comcast and DirectTV, that carry the network. AMC now charges these providers about 40 cents a month for each subscriber, including the millions who will never watch Mad Men or Breaking Bad. These providers can refuse to pay up, but doing so would infuriate legions of vocal viewers. (Last summer, the Dish Network played chicken with AMC and lost.) AMC collects $30 million a month in fees alone on a base of 80 million subscribers […]. This business model, perhaps as much as artistic creativity, is responsible for TV’s current golden age.“54

Die basic cable networks produzieren eigene Serien und fordern von den Providern aufgrund ihrer Exklusivität höhere Summen als Sender ohne eigene Serien. Die Provider wiederum erhöhen den Paketpreis ‒ am Schluss zahlt der Konsument.55 Selbst 50 Edgerton: „Introduction“. In: Ders. u. a. (Hg.): The Essential HBO Reader, 2008, S. 17. 51 Der Begriff ‚HBO aftereffect‘ wirkt verfälschend, wenn man berücksichtigt, dass es im Netzwerk-Fernsehen, angefangen mit The West Wing und 24, ebenfalls einen Trend zu aufwendigeren und fortgesetzt erzählten Serien gibt. 52 Vgl. Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 131–135. 53 Dennoch gelten nach wie vor einige von den Werbefirmen und Kabelsendern beschlossene Regeln: Man bemüht bspw. das Wort ‚fuck‘ nicht und verzichtet auf Nacktszenen. Vgl. Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 149. 54 http://www.nytimes.com/2012/12/09/magazine/the-mad-men-economic-miracle. html?_r=0 [vom 28.01.2014]. 55 Davidson sieht gerade in dieser Preiserhöhung das Ende der aktuellen golden age of television. Er befürchtet, angesichts höherer Beträge für Kabelfernseh-Pakete mit Sendern, die

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kleine, ursprünglich auf Dokumentationen ausgelegte Kabel-Sender wie History und Discovery produzieren eigene Serien (Vikings und Klondike); sogar ein Sender wie TNT, der noch verstärkt auf Werbung setzt und dementsprechend Schimpfwörter, Gewalt und Sex aus den Programmen fernhält, produziert seit 2013 die raue und düstere Serie Mob City. Inzwischen stellen sogar einige on-demand-Plattformen wie Netflix und Amazon eigene Serien her.56 Auch im network-Fernsehen ist der HBO aftereffect spürbar: Zunehmend werden fortgesetzt erzählte Serien produziert (The Good Wife), mit Stars besetzt und teilweise von Filmregisseuren hergestellt (The Following, The Blacklist etc.). In der Mehrzahl der network-Serien wird aber noch immer episodisch erzählt: Episodische Kriminalserien und Sitcoms sind nach wie vor am häufigsten vertreten.57 1.3.2 Auswirkungen auf die TV-Industrie: ‚Mit- und Nachmacher international‘ Der Erfolg der US-amerikanischen original series hatte zumindest in der westlichen Welt Auswirkungen auf die Fernsehindustrie. Besonders bei Serien europäischer Sender, die teilweise nicht von Kabel- oder Pay-TV-Sendern produziert sind, ansonsten aber auf die gleichen Charakteristika setzen, ist die Zweitverwertung essentiell. Auf diese Weise werden die Serien international gekauft und gesehen, auch wenn die produzierenden Sender nur national ausgestrahlt werden. Fernsehen für eine bestimmte Zuschauergruppe, narrowcasting, ist vor allem deshalb für die jeweiligen Sender profitabel, weil sie nicht nur vom jeweiligen nationalen Publikum rezipiert und bezahlt werden, sondern ein internationales ‚Nischenpublikum‘ bedienen ‒ das aufgrund der internationalen Vermarktung kaum noch in eine bloße ‚Nische‘ einzuordnen ist. Erst die Zweitauswertung ermöglicht die hohen Budgets, die Voraussetzung sind, um mit dem filmischen Look der US-amerikanischen Konkurrenz mithalten zu können. Zusätzlich setzen die europäischen Sender verstärkt auf internationale Koproduktionen, um ebenfalls große Budgets zusammenstellen zu können. Beispielsweise die britische BBC ist bei Rome eine Koproduktion mit HBO und dem

eigene Serien produzieren, subskribierten immer weniger Menschen und besorgten sich die Inhalte stattdessen über illegale Downloads. Bisher aber scheint dem nicht so. 56 Siehe folgendes Kapitel: X. „Ausblick: In der Zukunft wird die Vergangenheit wiederholt“, S. 569. 57 Immer mehr Filmschaffende sind auch im network-Fernsehen zu finden, aber das Bezahlfernsehen zieht eher die auteurs und das network-Fernsehen eher die ‚Unterhalter‘ an. Drehen bei HBO Scorsese und Haynes, sind es bei den network-Sendern die für MainstreamUnterhaltung bekannten Filmregisseure und Produzenten: Bruckheimer (CSI etc.), die Scott-Brüder (Numb3rs, The Good Wife), Turteltaub (Jericho) und Spielberg (Under the Dome).

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italienischen Sender Rai eingegangen.58 Die Verbindungen zwischen US-amerikanischem und britischen Serienprodukten scheinen besonders eng.59 Downton Abbey erhielt mehrere Emmys und einen Golden Globe. Sherlock hat sich als so erfolgreich erwiesen, dass CBS unter dem Titel Elementary eine eigene Neuinterpretation von Doyles Figur des Sherlock Holmes produziert. Als Produzenten von Serien-Hits außerhalb Hollywoods gelten außerdem die skandinavischen Länder.60 Forbyrdelsen wurde 2011 von AMC unter dem Titel The Killing adaptiert, die ebenso erfolgreich war, viele US-amerikanische Preise erhielt und inzwischen bereits aus mehr Staffeln besteht als das Original.61 Die Polit-Serie Borgen beweist, dass die skandinavischen Serien, die häufig unter dem Etikett Scandinavian Crime zusammengefasst werden, nicht nur Action62 und Krimi zum Thema haben.63 Danmarks Radio (DR), der dänische öffentlich-rechtliche Sender, produziert einen Großteil dieser Serien, häufig mit finanziellem Zutun der deutschen öffentlich-rechtlichen Programme.64 Ähnlich wie Pay-TV-Serien setzen die skandinavischen Serien auf längere Folgen (55 Minuten). Der Einfluss von HBO ist auch bei dem französischen Pay-TV-Sender Canal+ ersichtlich: „Canal+, créateur original de programmes originaux.“ Im Grunde genommen wird das „Original Programming“ im Slogan von Canal+ ausformuliert. Auf den 58 Besonders das britische Fernsehen ist auch ohne Koproduktionen sehr erfolgreich in der Herstellung moderner Fernsehserien: Vor allem Luther, Sherlock und Downton Abbey verkaufen sich international sehr gut. Luther wird zusammen mit BBC America produziert. 59 Die Serien (und teilweise bereits älteren Miniserien) Cracker, State of Play, House of Cards, Being Human und Shameless wurden in den USA alle neu verfilmt. 60 Den Anfang machte die Verfilmung der Romane um den Kommissar Wallander von Henning Mankell (2005‒). Ungewöhnlicher Weise wurde kein Hollywood-Remake unternommen, sondern BBC sicherte sich die Rechte und verfilmte die Romane mit dem berühmten Shakespeare-Mimen und Regisseur Kenneth Brannagh in der Hauptrolle. 61 Auch Bron erhielt ein Remake von FX unter dem Titel The Bridge. Wie begehrt die Rechte an den Skandinavischen Serien sind, zeigte sich bei einem Interview mit Peter Nadermann, der für das ZDF Komissarin Lund mitproduzierte: „Bei uns rufen US-Produktionsfirmen schon an, bevor wir eine neue Serie mit unseren skandinavischen Partnern produziert haben, weil sie sich die Rechte für eine Remake sichern wollen.“ Kirzynowski: „Der Traum von der kreativen Freiheit“. In: Torrent, 2012 (1), S. 48. 62 Die schwedische Serie Johan Falk: GSI - Gruppen för särskilda insatser und die dänische Serie Livvagterne setzen auf Action. 63 Vgl. Kundic: „So etwas muss man erst mal schreiben können“. In: Torrent, 2013 (1), S. 46. 64 Alle skandinavischen neuen, fortgesetzt erzählenden TV-Serien werden von anderen EULändern koproduziert ‒ vor allem dem deutschen ZDF. Beispielsweise koproduziert das ZDF die Serie Kommissarin Lund sowie Der Adler – Die Spur des Verbrechens. Vgl. ebd.

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DVD-Boxen der Serien steht groß „Les Series de Canal+“ oder „Canal+, créateur original“.65 Auch die Inhalte lassen deutlich die Prägung durch die US-amerikanischen Serien erkennen: Braquo erinnert an The Shield, Mafiosa an The Sopranos, Engrenages könnte man mit The Wire vergleichen – lediglich der Schauplatz der Serie Maison close, ein Pariser Bordell im Jahre 1871, wurde bisher nicht in US-amerikanischen TV-Serien gewählt.66 Doch sind die Canal+-Produkte keinesfalls reine HBO-Kopien, sondern greifen genuin länderspezifische Stile und Themen auf, wie die Analyse von Braquo zeigen wird. Diese Entwicklung ist nicht nur auf den Einfluss der US-amerikanischen Vorbilder zurückzuführen: Besonders die britischen (Edge of Darkness), aber auch die deutschen (Berlin Alexanderplatz) und italienischen Sender (La Piovra) besitzen eine Tradition der anspruchsvollen Miniserien. Die in den letzten Jahren wachsende Produktion von fortgesetzt erzählenden Serien ist sowohl als Weiterentwicklung der eigenen Tradition als auch als Inspiration durch den US-amerikanischen Erfolg zu werten. Besonders in letzten Jahren wirken die europäischen Serien innovativer und anspruchsvoller als ihre US-amerikanischen Verwandten. Serien wie Misfits, Hit and Miss, Borgen, The Paradise, Sherlock und Braquo beweisen in der Figuren- und Themenauswahl Mut. Es ist zu beobachten, dass die US-amerikanische Formel in europäischer Hand eigenwilliger, kreativer und innovativer ausfällt ‒ die zahlreichen amerikanischen Remakes europäischer Serien bestätigen es. 1.4 Distributionsveränderungen: Fernsehserien ohne Fernsehen Sowohl die US-amerikanische als auch die internationale Produktion anspruchsvoller Serien ist unter anderem erst aufgrund der Distributionsveränderungen der letzten Jahre möglich. Im Branchenmagazin Billboard wird bereits 2002 über den einsetzenden Verkaufserfolg von Serien-DVD-Boxen berichtet und dass nun auch die network-Sender überlegen, welche Serien sich im Hinblick auf eine DVD-Veröffentlichung lohnen könnten.67 „But for HBO Home Video senior VP of marketing Cynthia Rhea, virtually any series the network produces can have a second life on DVD. Because HBOʼs series programming – includ-

65 Bspw. bei Braquo und den Mafiosa-Staffeln. 66 Wobei Deadwood zu einem großen Teil in zwei Bordellen spielt. 67 Inzwischen setzen alle Fernsehsender auf eine Zweitdistribution und veröffentlichen die letzte Staffel kurz vor der Ausstrahlung der nächsten (vgl. Kompare: „Publishing Flow“. In: Television New Media, 7 (4), 2006, S. 351).

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ing the high-profile The Sopranos, Sex and the City, and Oz – all air on a premium cable channel, there is a huge potential audience of consumers who have been exposed to information about the shows but who have never seen them.“68

Inzwischen ist die Zweitdistribution über DVD, Online-Angebote, Blu-ray-Discs etc. für Produktionsfirmen zu einer wichtigen Einnahmequelle geworden, die es ihnen überhaupt erst ermöglicht, kostenintensive Serien für ein „Nischenpublikum“69 zu produzieren.70 Wo früher die Trägermedien eine große Gefahr für das Konzept der Pay-TV-Sender bedeuteten, weil Filme bereits früh zu leihen und kaufen waren und so der Anreiz für ein Abonnement schwand, nutzen diese Sender jetzt diese Distribution über Trägermedien als Teil ihres Geschäftsmodells ‒ mit der Produktion und Veröffentlichung eigener Inhalte haben sie die Gefahr in einen Vorteil verwandelt. ‚Qualitätsvolle‘ und exklusive Produkte lassen die Bezahlfernsehsender zu Marken werden, die nicht nur die Bedeutung der Abonnements, sondern damit auch den Wert der DVDs und Blu-ray-Discs ihrer Serien erhöhen.71 In dem viel zitierten HBO-Slogan „It’s not TV, it’s HBO“ steckt zum einen die Implikation gehobener Qualität, einer filmischeren Erzählweise, höherer Budgets und dem Einsatz von Kinofilm-Crews. Man könnte „It’s not TV“ aber auch wörtlich nehmen als Hinweis auf die bedeutendste Rezeptionsveränderung von Fernsehserien: Die moderne Fernsehserie wird meist nicht mehr als Teil des Fernsehprogramms konsumiert. Genau betrachtet ist die moderne Fernsehserie keine Fernseh-Serie mehr, sondern eine audiovisuelle oder filmische Serie, die über die verschiedensten Anbieter und Geräte rezipiert wird.72 Der Ursprung dieser Veränderung liegt bereits im Aufkommen der Videokassette (VHS) und dem Videorekorder in den 1980er Jahren. 68 Sherber: „Collections of Popular TV Series may fuel another Boom for DVD“. In: Billboard, 22. Juni 2002, S. 60. 69 Ritzer: Fernsehen wider die Tabus, 2011, S. 20. 70 Siehe zur Zweitdistribution von HBO vor allem das Unterkapitel: „Itʼs not TV: Itʼs DVDʼs and other forms of distribution.“ In: Kelso: „And Now No Word from our Sponsor“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 58–59. 71 Vgl. Blumenthal u. a.: This Business of Television, 2006, S. 23. 72 Vgl. Spigel: „Introduction“. In: Dies. u. a. (Hg.): Television after TV, 2004, S. 1–40. „Was Distribution und Rezeption amerikanischer Primetime-Serien betrifft, ist das Medium Fernsehen nach wie vor die Erstverwertungsinstanz, denn zumindest derzeit noch erfolgt in den USA wie auch in Europa die Investitionsbindung vorbehaltlich der zu erwartenden Zuschauerresonanz im TV – sei es durch Quote oder den Zugewinn an Abonnenten.“ Schabacher: „Serienzeit“. In: Meteling u. a. (Hg.): „Previously on …“, 2010, S. 30. Ob dies auch international so gesehen werden kann, wäre zu diskutieren. Mit den Serien der on-demand-Anbieter Netflix und Amazon ist das Fernsehen nicht mehr exklusiver Ursprung von Serien. Zumal die Perzeption der modernen Fernsehserie als vom Fernsehen

468 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „American television industry has suggested that the viewers typically only watch around onethird of the episodes of a favored series [...]. [P]roducers realized they could not assume that a viewer had seen previous episodes or were watching a series in sequential order, leading to a mode of storytelling favoring self-contained episodes that could be consumed in any order, and built-in redundant exposition.“73

Mit dem Videorekorder erhielt der Rezipient erstmals die Möglichkeit, Folgen aufzunehmen sowie wenige Serien auf Videokassette zu kaufen. Damit hatte der Zuschauer nach der Ausstrahlung die Option, zum selbst gewählten Zeitpunkt und in frei gewähltem Rhythmus Serien zu rezipieren.74 Aber für derartige Rezeptionsformen benötigte man programmierbare Videorekorder – käufliche Videokassetten von Serien waren die Ausnahme, da bei Serien aufgrund der Vielzahl der Folgen eine große Menge von platzintensiven VHS-Kassetten benötigt wird.75 Eine kulturelle Aufwertung und eine preisgünstige Archivierung von Serien wurden vor allem mit der DVD (ab Mitte der 1990er Jahre) möglich.76 DVDs nehmen sowohl aufgrund ihres kleineren Formats als auch ihrer viel höheren Speicherkapazität deutlich weniger Platz ein als die VHS-Kassetten. Gerade für Serien ist die DVD im Vergleich zur VHS das wesentlich geeignetere Trägermedium, weil der Rezipient direkt jede einzelne Folge anwählen kann ‒ diese Funktion ist wesentlich wichtiger als bei einem Film auf einem Trägermedium. Extras und Hintergründe zum Werk auf

losgelöst durch nationale und subjektive Faktoren beeinflusst wird: In Deutschland, einem Land, in dem bspw. HBO nicht empfangen werden kann und zahlreiche US-Serien sofort wieder abgesetzt oder gar nicht erst ausgestrahlt wurden, werden diese Serien noch stärker als ‚Fernsehen ohne Fernsehen‘ rezipiert und empfunden. 73 Mittell: „The Wire in the Context of American Television“. In: Kennedy u. a. (Hg.): The Wire, 2012, S. 23. 74 „[T]he primary innovation of video technology [was]: the ability to selectively play back prerecorded programs.“ Kompare: „Publishing Flow“. In: Television New Media 7 (4) (2006), S. 336. 75 „In a home video culture that defaults to the feature film two-hour program length – it is no coincidence that most blank consumer VHS tapes run exactly this long – individual television episodes are too short for one tape, while entire seasons, let alone series, are much too long. The available options for dealing with this issue have had to sacrifice thoroughness by releasing only particularly significant episodes […] or physical space (by filling up retailersʼ and consumersʼ shelves).“ Ebd., S. 341. 76 Das Potential der Serien-DVD-Boxen zeigte aber erst die Veröffentlichung der Serie XFiles 2000. Ebd., S. 338.

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der DVD liefern einen Bonus gegenüber der Fernsehausstrahlung.77 Dazu bescheren die bücherdicken DVD-Boxen – häufig in aufwändigem Design und als Sonderedition – den Serien auch eine materielle und damit kulturelle Aufwertung.78 „Eine Fernsehserie im DVD-Format lässt sich nämlich nicht nur archivieren (und erfüllt damit ein wichtige materielle Voraussetzung für kulturelle Aufwertung und Kanonisierung; auch lässt sie sich im Bücherregal nun direkt neben Romanen und Filmen platzieren), eine Fernsehserie im DVD-Format erlaubt, ja provoziert auch andere Erzähl- und Konsumformen als eine bloße Sendung.“79

Diese Aufwertung der Fernsehserie geht einher mit einer Ausblendung des Fernsehens, sprich der ursprünglichen Veröffentlichungsform: Wenn man die DVDs oder Blu-ray-Discs (ab 2007) betrachtet, ist das Fernsehprogramm, dem sie entstammen, nur noch sehr bruchstückhaft erkennbar.80 Gleichzeitig führte der Erfolg von Serien

77 In einem Artikel des Fach- und Branchenmagazins Billboard von 2002 wird aufschlussreich über den einsetzenden Verkaufsboom von TV-Serien berichtet: „Why would consumers pay to purchase programming that comes into their homes for free? But when Fox Home Video release of the complete first season of The Simpsons on DVD topped 1 million units in sales last year, studios put intuition aside. […] ‚It really is a new revenue stream opening up,‘ says Peter Staddon, senior VP of marketing for Fox Home Video […]. ‚Itʼs going to be increasingly important. Itʼs almost a new genre.‘ […] With the exception of Paramountʼs Star Trek franchise and a small handful of other programming with cult-like followings, studios that attempted to release episodes of TV series in the VHS format had very little success. According to Doug Wadleigh, VP of marketing for special-interest programming at Warner Home Video (WHV), purchasing an entire season of programs required consumers to make a big commitment, space-wise. […] Studio sales and marketing executives agree that in addition to the complete, commercial-free episodes, consumers are looking for extras that they canʼt get from TV and that do not fit on VHS cassettes.“ Sherber: „Collections of Popular TV Series may fuel another Boom for DVD“. In: Billboard, 22. Juni 2002, S. 60. Die DVD bietet darüber zusätzliche Inhalte, Originalsprache, Untertitel usw. Siehe auch: Scheyer: Die TV-Serie im Zeitalter der digitalen Globalisierung, 2009, S. 21–24. 78 Vgl. Mittell: „The Wire in the Context of American Television“. In: Kennedy u. a. (Hg.): The Wire, 2012, S. 24. 79 Kelleter: „Serien als Stresstest“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Februar 2012, S. 15. 80 Jason Mittell vergleicht die alte Videokassetten-Bibliothek einer Universität mit der neuen Sammlung an Serien-DVD-Boxen. Die alten VHS-Kassetten trugen immer noch die Spur des ursprünglichen Ausstrahlungsereignisses, da meist auch die Werbeunterbrechungen

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auf DVD dazu, dass wesentlich mehr auf fortgesetzte Erzählstränge gesetzt werden konnte.81 Serien können auch völlig losgelöst von Trägermedien rezipiert werden; die ständige Verfügbarkeit der Serien ist längst Realität. Die audiovisuelle Serie kann jederzeit und fast überall geschaut werden – und immer wieder. Legale und illegale Streaming- und Download-Angebote,82 Festplattenrekorder, DVD-Aufnahmegerät sowie in den USA TiVo83 (im Grunde zeitversetztes Fernsehen) bieten die technischen Möglichkeiten, die Folge nach der Ausstrahlung zu sehen, wann immer man möchte. Einige dieser Distributionswege sind national begrenzt, andere international verfügbar. Dementsprechend wird auch die Fernsehserie nicht nur von der Fernsehausstrahlung, sondern auch vom Fernsehgerät losgelöst rezipiert und findet sich auf Computerbildschirmen und Handhelds wieder. Als Rezipient ist man nicht mehr abhängig von Programmen und Wiederholungen, sondern von den finanziellen Möglichkeiten und den eigenen Geräten (sowie technischen Fertigkeiten). Die Vorhut einer radikalen Loslösung vom Fernsehen sind die Serien der on-demand-Services Amazon und Netflix: Sie werden weder von einem Fernsehsender produziert noch sind sie Teil eines Fernsehprogramms.84 Für die vorliegende Studie steht die Frage im Vordergrund, ob und wie der Cliffhanger eingesetzt wird, wenn die Fernsehserie zwar vorwiegend fortgesetzt erzählt, aber häufig nicht mehr in einem vorgegebenen Rhythmus rezipiert wird, sondern Rezeptionszeitpunkt und -rhythmus aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten selbst gewählt werden können. der Fernsehsender mit Logo am Bildrand sowie Zeitangaben der Ausstrahlung aufgenommen wurden: „Diese DVD-Boxen fristen, völlig losgelöst von ihrem ursprünglichen Sendekontext, Programmplatz, den Werbepausen und historischen Momenten, ihr Dasein auf den Regalbrettern.“ Mittell: „Serial Boxes“. In: Blanchet (Hg.): Serielle Formen, 2010, S. 135. Erkennbar ist aber noch immer bei (network-)Serien die 4‒7 Akt Struktur, die cold open und cliffhanger, die auch auf den Ursprung der Sendung als Teil des Fernsehprogramms zurückzuführen sind. 81 Vgl. Mittell: „The Wire in the Context of American Television“. In: Kennedy u. a. (Hg.): The Wire, 2012, S. 23. 82 Die Angebote sind vielfältig: Von video-on-demand, pay-per-view, download-to-own, Smart-TV und streaming sind verschiedenartige Modelle auf unterschiedlicher Rechtsgrundlage und von unterschiedlichen legalen Anbietern vorhanden. Vgl. Gajic: „Filme aus der Steckdose“. In: epd film, 2012 (29), S. 10–12. 83 Siehe zum TiVo (Television Input / Video Output): Blumenthal u. a.: This Business of Television, 2006, S. 24–26. TiVo hat sogar eine Lernfunktion, die es dem Gerät ermöglicht, selbstständig Sendungen aufzunehmen, die dem ‚Geschmacksprofil‘ des Nutzers entsprechen. Inzwischen sind auch in Deutschland entsprechende Geräte verfügbar. 84 Siehe folgendes Kapitel: X. „Ausblick: In der Zukunft wird die Vergangenheit wiederholt“, S. 569.

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1.5 Technik- und Rezeptionsveränderungen Eine weitere Aufwertung der Fernsehserie ist durch den technischen Fortschritt der Heimgeräte bedingt. TV-Serien können heutzutage optisch und inhaltlich anders gestaltet werden. Die Fernsehbildschirme sind wesentlich größer, die Bilder schärfer, der Sound ist klarer. Außerdem ist auch die Bild- und Sound-Qualität von Sendungen gestiegen: Bei zahlreichen US-amerikanischen (und auch deutschen) Fernsehsendern sind ein hochauflösendes Bild und Dolby Digital Sound bereits Realität.85 Von kleinen Bildschirmen mit – je nach Wetterlage, Satellitenschüssel- oder Antennenausrichtung – schlechtem Empfang kann also kaum noch die Rede sein.86 Nicht jeder Rezipient nutzt diese Möglichkeiten, nicht jeder kann es. Aber die Serien richten sich in ihrer Gestaltung nach der modernsten technischen Entwicklung. Besonders die Serien der Bezahlfernsehsender, auf hochwertige Ausstattung, filmischeren Look und eine Abhebung vom network-Fernsehen bedacht, setzen häufig auf ein historisches oder fantastisches Setting, auf weite Einstellungen und viele Details. „[D]er entscheidende Punkt [ist], dass dieses destandardisierte Schauen sich in seinem Bruch mit der alten Funktion von TV – einerseits durch fixe Termine und Formate unseren Alltag zu kontrollieren und zu standardisieren, andererseits durch eskapistische Inhalte von dieser Kontrolle abzulenken: uns zugleich wecken und einschläfern – seinerseits mindestens zur Hälfte an einer anderen längst eingeführten Rezeptionskultur orientiert: dem schmökernden Abtauchen

85 Zu den technischen Veränderungen v. a. des US-amerikanischen Kabel-Fernsehens empfiehlt sich die Lektüre von: Mullen: Television in the Multichannel Age, 2008. Zu den Auswirkungen der jüngsten technischen Veränderungen auf die Produktion, Distribution und Rezeption von Fernsehen allgemein siehe v. a.: Lotz: The Television will be Revolutionized, 2007. 86 Was zum Beispiel Theodor W. Adorno über das Fernsehen schrieb, ist heute hinfällig: „Die visuellen Bilder sind sehr viel kleiner als die im Kino. [...] Einstweilen dürfte das Miniaturformat der Menschen auf der Fernsehfläche die gewohnte Identifikation und Heroisierung behindern. Die da mit Menschenstimmen reden, sind Zwerge. Sie werden kaum in demselben Sinn ernst genommen wie die Filmfiguren.“ Adorno: „Prolog zum Fernsehen“. In: Tiedemann (Hg.): Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft II, 2003, S. 508– 509. So sagte Scorsese im Interview mit der britischen Zeitung The Observer über Boardwalk Empire: „‚Well, you know,‘ he smiles wryly, ‚it is made for what I guess you would call the small screen. But we made it like a film; an epic B-film in a way. And you know what? Those small screens arenʼt that small any more!‘“ Kermode: „Martin Scorsese: ‚3D is liberating. Every shot is rethinking cinema‘“. In: The Observer, 21. November 2010, S. 32.

472 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION mit einem Buch [...]. [A]uch die Fan-Kultur blättert vor und zurück und schreibt, was sie weit hinten im Bildraum erkannt hat, in ihre Blogs und Netz-Kommentare.“87

Abbildung 7: Hintergründiges für Fans mit großen HD-Bildschirmen

Sherlock, S2E2, TC 4:33.

Die Technik mit großen Fernsehbildschirmen, gelegentlich sogar Leinwandprojektionen, und HD ermöglicht dem Fan – so könnte man hinzufügen – diese Einzelheiten „weit hinten im Bildraum“ überhaupt zu erkennen; nur die „Rewatchability“ lässt ihn mit Interesse das ‚Hintergründige‘ im Bildraum entdecken [Abb. 7].88 Teil der technischen Veränderungen ist auch eine transmediale Erweiterung der Erzählungen. Die Produzenten erkennen, wie wichtig das Nischenpublikum ist und ködern besonders die Fans über Mediengrenzen hinaus.89 Da heute viele der Serien im Netz rezipiert werden, nutzen die Produzenten das Internet für virales Marketing, für Web-Episoden und vieles mehr; Fans werden auch deshalb als wichtigstes Klientel gesehen, weil sie bereit sind, mit der Serie verbundene Produkte zu kaufen. Die

87 Diederichsen: „In Bewegten Bildern Blättern“. In: Dreher u. a. (Hg.): Autorenserien, 2010, S. 175–176. 88 „[V]or allem Festplattenrekorder und DVD [erlauben] die für komplexe Serien unabdingbare Möglichkeit der Relektüre: Stets kann der Rekorder angehalten, ein Bild zurückgegangen, ein Dialog noch einmal gehört werden. Ein Tatbestand, der von einigen Produktionen bewusst einkalkuliert wird, in dem sich bestimmte Informationen (‚über das Geheimnis‘) erst in einer solchen zweiten Lektüre erschließen.“ Schabacher: „Serienzeit“. In: Meteling u. a. (Hg.): „Previously on …“, 2010, S. 32. 89 Siehe: Winter: „Fernsehserien als Kult“. In: Eichner u. a. (Hg.): Transnationale Serienkultur, 2013, S. 67–86.

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Serien Lost und Heroes schöpften die narrativen und fanorientierten Wege der Narrationsausweitung am umfassendsten aus.90 Bei der Serie Heroes entstanden eine Vermehrung der Figuren und eine Erweiterung der Handlungsstränge in Webcomics, die ein Jahr nach der Veröffentlichung der letzten Folge gesammelt als Buch herausgegeben wurden. Zusätzlich gab es einen Führer durch das Universum von Heroes91 sowie das offizielle Heroes-Magazin (Heroes. The Official Magazine) und die Heroes Evolutions-Webseite, auf der eine Menge zusätzlicher Inhalte inklusive Spielen, Hintergrundberichten, eigenem Wiki-Lexikon, Facebook-Seiten der fiktionalen Heroes-Figuren, Twitter-Kanälen der Figuren etc. angeboten wurden.92 Das Interesse der Fans wird in einem solchen Maß geweckt, dass sie selbstständig Geschichten zu den jeweiligen Serien schreiben: Fanfiction. Außerdem wird in den Chatrooms über die einzelnen Folgen diskutiert, und es werden verschiedene Möglichkeiten der Auflösung von Cliffhangern antizipiert sowie die Schlüssigkeit einzelner Auflösungen bewertet.93 Alle Faktoren ‒ wie die Möglichkeit zu Wiederholungen, bessere technische Qualität sowie DVD-Distribution ‒ erfordern, die Serien so zu gestalten, dass sie auch einer wiederholten Rezeption standhalten und Wege für eine Transmedialität oder Fortführung seitens der Fans zulassen. Der serielle Text muss so reich und offen sein, dass er mehrfacher Rezeption, Erweiterung und Diskussion des Textes gewachsen ist. Rezipienten und Käufer sollen beim wiederholten Sehen einer Folge, sei es auf DVD oder bei einem zufälligen ‚Reinzappen‘ in eine bereits bekannte Folge, neue Dinge entdecken und womöglich erst dann die ‚wahre Qualität‘ des Produkts erkennen. Die technische Bandbreite, geringe Preise, die umfangreichen Distributionswege fördern in der Produktion von Fernsehserien die Entdeckung kreativer, inhaltlich neuer Wege. Die Aufwertung der TV-Serie ist das Ergebnis der Wechselwirkung dieser Produktions-, Distributions- und Rezeptionsveränderungen von Fernsehserien. Die Herausarbeitung der verschiedenen Faktoren hat gezeigt, wie sehr sich die serielle TV-Narration in den letzten Jahren verändert hat und welche verschiedenen Hintergründe ‚plötzlich‘ eine derartige Masse an seriell-fortgesetzten Erzählungen ermöglichen. Zudem wird damit auch bereits angedeutet, welche Bestandteile die aktuelle serielle Narrationswelle mit anderen vorher analysierten Formaten gemein hat, inwiefern sie also sowohl als Entwicklungsschritt in der Geschichte der TV-Narration 90 Siehe: „Searching for the Origami Unicorn: The Matrix and Transmedia Storytelling“. In: Jenkins: Convergence Culture, 2008, S. 95–134. 91 Porter u. a.: Saving the World, 2007. 92 Siehe zum Transmedia-Storytelling in Heroes: Rauscher: „Helden des Comic-Alltags“. In: Seiler (Hg.): Was bisher geschah, 2008, S. 10–22. 93 Für Heroes siehe z. B: http://www.fanfiction.net/tv/Heroes/ [vom 14.08.2012]. Am Abrufdatum sind allein auf dieser Seite 5.365 Fanfiction-Texte zur Serie Heroes online.

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als auch der seriellen Fortsetzungsnarration zu sehen ist. Mit 1001 Nacht verbindet die neuen Pay-TV- und basic cable-Serien, dass die Treue des Rezipienten im Vordergrund steht, aufwändige und teilweise exotische Szenerien gewählt werden und eine komplexe Struktur offensichtlich ist. Mit dem Feuilletonroman haben sie die Abhängigkeit von Abonnements gemein, die eine längere Planung und erzählerische Freiheit gewährleistet. Mit dem Fortsetzungsroman teilen die neuen Serien die vielfachen Distributionswege und ‚Leben‘ und einen stärkeren Fokus auf telos als bei der Seifenoper oder 1001 Nacht der Fall ist. Von der Seifenoper stammt hingegen der ensemble cast, der auch schon in einigen der späteren Kinoserien vorhanden ist. Auch die mehrsträngigen, strukturell komplexen Narrative haben Seifenopern mit einer gleichzeitigen Verwurzelung tief im US-amerikanischen Broadcasting System mit den neuen Serien gemein. Im Gegensatz zur Seifenoper nutzen die Serien jedoch aufgrund ihrer ‚Filmaura‘ mehr die größere Bandbreite an Gestaltungsmöglichkeiten, die das Hybridmedium Film bietet – wie es auch in der Kinoserie der Fall ist. Da die für das vorliegende Kapitel gewählte Zeitspanne kürzer ist als bei den anderen Wellenkapiteln, ist ein chronologisches Vorgehen nicht sinnvoll. Stattdessen ist dieses Analysekapitel in drei große Teile gegliedert. Im ersten wird anhand von drei Beispielen aufgezeigt, in welcher Art die Erzähltypen gefahrensituativer, enthüllender und vorausdeutender Cliffhanger in heutigen Fernsehserien vertreten sind. Da die von Pay-TV-Sendern produzierten Serien erst seit 1999 hergestellt werden und wichtiger Impuls für fortgesetztes Erzählen im Fernsehen sind, konzentriert sich der zweite Teil auf Beispiele dieses Formats. Vor allem der vorausdeutende Cliffhanger, der in diesen Serien häufig verwendet wird, steht in diesem Abschnitt im Vordergrund. Der größte Teil des Kapitels ist der dritte, der auf die Weiterentwicklung des Cliffhangers fokussiert ist: Dort wird analysiert, inwiefern die Erzähltypen kombiniert werden und welche Häufigkeit und Position sie in den Serien je nach Finanzierung des jeweiligen Sender einnehmen.

2. E RZÄHLTYPEN

UND

E RZÄHLMITTEL

2.1 Der gefahrensituative Cliffhanger: Braquo Bei der französischen Serie Braquo von Canal+ fühlt sich der Serien-Rezipient zunächst an die erfolgreiche US-amerikanische Serie The Shield erinnert. Eddy Caplan ‒ gespielt von dem in Frankreich berühmten Schauspieler Jean-Hugues Anglade ‒ führt eine Spezialeinheit in den Banlieues von Paris. Die Einheit hat im Aussehen und Handeln mehr Ähnlichkeit mit Verbrechern, überschreitet immerzu die gesetzlichen Grenzen der Polizeiarbeit. Im Verlauf der französischen Serie werden jedoch ganz andere Akzente gesetzt als bei The Shield: Die Banlieues und der flic, der von

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seinem Umfeld ohne jeden Respekt behandelt wird, bieten andere Schwerpunkte. Dazu unterscheidet sich auch der visuelle Stil: Zwar wird auch in Braquo viel auf Handkamera gesetzt, aber die Farbpalette beschränkt sich vor allem auf grau und schwarz, mit gelegentlichem Dunkelblau. Viele Sequenzen spielen nachts. Die Bilder sind verschattet, sodass auch visuell die Figuren fast immer im Zwielicht stehen. Die Hauptdarsteller wirken ungeschminkt, die Figuren sehen extrem müde aus, allen voran Eddy Caplan. Zusätzlich zu einer hochkarätigen Besetzung hebt Canal+ wie die US-amerikanischen Serien den creator hervor: Die Serie wurde ‒ auffällig groß in Vor- und Abspann sowie auf den DVD-Boxen zu lesen ‒ vom Filmregisseur und ehemaligen Polizisten Olivier Marchal geschaffen,94 der auch bei einigen Folgen Regie führte.95 Die erste Staffel besteht aus acht Folgen. Die Geschichte der Serie ist fortlaufend erzählt. Mit nur sehr kurzen Zeitellipsen schließen die Folgen von der erzählten Zeit dicht aneinander. Es gibt keine recaps. Jede Folge endet mit einem Cliffhanger. Aber anders als bei der Kinoserie oder der Seifenoper herrscht kein einzelner Erzähltyp vor: Es finden sich vorausdeutende, enthüllende und ein gefahrensituativer Cliffhanger. 2.1.1 Deskription In Folge drei kommt die Einheit einem Diebesduo auf die Spur, das mit einer ans Auto befestigten großen Metallzange [Abb. B1] Bankautomaten aus der Wand zieht, abtransportiert und irgendwo ungestört öffnet. Das Polizistenteam wartet vor Ort auf die Verbrecher. Als diese dann tatsächlich auftauchen, werden sie gestellt und es kommt zur Festnahme [Abb. B2–3]. Dabei sträubt sich einer der beiden Kriminellen, seine andere Hand für die Handschellen nach hinten auf den Rücken zu drehen. Als ein Polizist sie ergreift, befindet sich in ihr eine Granate [Abb. B4], die der Dieb wegschleudert: Ein warnender Aufschrei, jeder versucht augenblicklich in Deckung zu gehen [Abb. B5]. Die Explosion, auf einem schwarzen Bildschirm, der für drei Sekunden ‚stillsteht‘, ist nur hörbar [Abb. B6]. Dann folgt der Abspann.

94 „Une Série créée par Olivier Marchal“ steht bspw. auf den DVD-Boxen. Canal+ übernimmt mit ‚créer‘ also auch die Begrifflichkeit der amerikanischen TV-Serien. 95 Olivier Marchal ist in Frankreich für seine Polizeithriller im Kino berühmt ‒ unter anderem, weil er selbst lange Zeit Polizist war und, auf diese Erfahrungen zurückgreifend, Drehbücher für Polizeithriller schrieb. Er führte Regie bei 36 Quai des Orfèvres (F 2004) mit Daniel Auteuil und Gérard Depardieu, MR 73 (F 2008) ebenfalls mit Daniel Auteuil und Les Lyonnais (F 2011).

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Abbildungen B1‒6: Bildliche Aussparungen erhöhen die Spannung

Abb. B1, TC 46:12, S1E3

Abb. B2, TC 46:18

Abb. B3, TC 46:34

Abb. B4, TC 47:09

Abb. B5, TC 47:11

Abb. B6, TC 47:13

Folge vier beginnt wenige Minuten (erzählter Zeit) nach der Explosion. Die Kamera zeigt ein EKG und schwenkt dann auf den Innenraum eines Krankenwagens, mit dem die anscheinend schwer verletzte Hauptfigur Eddy Caplan ins Krankenhaus gefahren wird. Abbildung B7: Elliptischer Interruptionspunkt

Braquo, S1E4, TC 01:04

2.1.2 Kategorisierung und Analyse Der gefahrensituative Cliffhanger wird so eingesetzt, wie er vor allem aus den Cliffhanger-Kinoserien bekannt ist, allerdings mit einer bedeutenden Abweichung: Stellte für die frühen Ton-Filmserien die auditive Gestaltung eine Herausforderung dar, so wird hier das Bild durch den Ton ersetzt. Dieser Einsatz hat eine doppelte Funktion. Erstens wird durch den teilweisen Erzählabbruch die Spannung erhöht und gleichzeitig eine Antizipationsrichtung vorgegeben. Der Zuschauer weiß durch die Tonspur, dass die Granate explodiert, die Bildspur verweigert jedoch die Information, wo sie explodiert ist und wen sie verletzt. Zweitens ermöglicht das Ausblenden des Bildes eine Kosten-Ersparnis. Alle teuren Bestandteile dieser Sequenz erübrigen sich durch die Montage. Der Rezipient sieht keine explodierende Granate, keine demolierten

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Autos, nicht einmal mehrere Verwundete ‒ die Ellipse des Interruptionspunktes überspringt sie und kehrt erst im Krankenwagen zur Handlung zurück. 2.1.3 Schlussfolgerungen Die diegetischen Fortsetzungskategorien der Folgen-Enden von Braquo sind direkte bis minimal elliptische Interruptionspunkte. Der analysierte gefahrensituative Cliffhanger wurde vermutlich zwecks Einsparungen elliptisch gestaltet.96 Gleichzeitig beweist dieser Cliffhanger, dass eine ökonomische Beeinflussung der Narration nicht automatisch zum Nachteil der Erzählung sein muss: Der gefahrensituative Cliffhanger ist mit der bildlichen Auslassung wesentlich herausfordernder. Das Schema des gefahrensituativen Cliffhangertyps aus der Kinoserie wird hier variiert und erhält eine größere Aktivierungs- und Antizipationsvielfalt. Souverän werden verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten, welche die systemischen Medien des Hybridmediums Films bereithalten, genutzt. Der Cliffhanger aus Braquo ist ein Beispiel dafür, dass der ‚klassische‘ gefahrensituative Cliffhanger nicht aufgrund seiner Vordergründigkeit überholt ist ‒ auch in internationalen ‚Qualitätsserien‘ wird er benutzt, jedoch häufig in leicht abgewandelter Form. Drastik und Realismus spielen in allen bisherigen Produktionen des ehemaligen Polizisten Olivier Marchal eine große Rolle. Der Realismus leidet aber aufgrund der Granatenexplosion etwas: Die Setzung eines Cliffhangers ist hier wichtiger als eine realistische Darstellungsweise, weil sie der Garant für die Zuschauertreue ist.97

96 Ein ähnlicher, minimal elliptischer Cliffhanger (ebenfalls vermutlich wegen Budgeteinsparungen) ist der Finalecliff der ersten Staffel der deutschen Serie KDD. Ein Polizist trifft sich mit einem Informanten auf dem Pariser Platz in Berlin. Ein Kollege erblickt auf den Dächern rings um den Platz zahlreiche Scharfschützen, die alle nicht gezeigt werden, sondern nur durch die Reaktion des Kollegen ersichtlich sind. Die erste Folge der zweiten Staffel beginnt bereits damit, dass der Informant und der Polizist im Krankenwagen sind (KDD, S1E10 und S2E2). Vgl. Fröhlich: „Spurensuche: Warum es die deutsche QualityTV-Serie so schwer hat“. In: Journal of Serial Narration in Television. 2013 (2), S. 39. 97 Wenn es auch einige Beispiele für gefahrensituative Cliffhanger gibt, so ist dieser Erzähltyp in der modernen Fernsehserie relativ selten zu finden. Gängiger sind enthüllende und vorausdeutende Cliffhanger sowie Mischformen verschiedener Erzähltypen.

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2.2 Der enthüllende Cliffhanger: 24 Die sehr erfolgreiche Serie 24 wurde vom US-amerikanischen network-Sender Fox produziert und ausgestrahlt. Protagonist Jack Bauer, Spezialist für Terror-Bekämpfung (Kiefer Sutherland) ist Mitglied der fiktiven Spezialeinheit für Inland-TerrorBekämpfung CTU (Counter-Terrorist Unit) in Los Angeles. Die 24 Folgen jeder der acht Staffeln handeln von einem Tag, 24 Stunden in Jack Bauers Leben. Immer muss Jack Bauer einen oder mehrere terroristische Anschläge, die innerhalb dieser 24 Stunden drohen, verhindern. Das Besondere der Serie ist unter anderem ihre Darstellung in real time:98 Die Erzählzeit fällt mit der erzählten Zeit zusammen; die Folgen selbst dauern nur 42 Minuten, es werden aber die Werbeunterbrechungen der Erstausstrahlung miteinberechnet, sodass eine Folge relativ genau 60 Minuten umfasst. Während der Werbung geht die Handlung im Off weiter, die Minicliffs haben also alle elliptische Interruptionspunkte.99 Der Zuschauer verliert nicht den Überblick, sondern wird immer wieder mittels splitscreen darüber informiert,100 was an den anderen Handlungsorten passiert, und kann auf diese Weise mit dem Geschehen Schritt halten. 98

Siehe: Furby: „Interesting Times“. In: Peacock (Hg.): Reading 24, 2007, S. 59–70. In der ersten Staffel stand zu Beginn jeder Folge: „Events occur in real time.“ Ab der zweiten Staffel wurde dieser Schriftzug nicht mehr gezeigt. Der Begriff ‚Echtzeit‘ ist äußerst problematisch: „Sie [d.i. die Echzeit] ist virtuell und gar nicht echt. Die Echtzeit ist die äußerst virtuelle Form der Zeit.“ Baudrillard: Die Illusion und die Virtualität, 1994, S. 42.

99

Das bedeutet, dass die Folgen von 24 auf einem Fernsehsender mit einer anders gearteten Länge und Anzahl von Werbeblöcken – wie beispielsweise in Deutschland – nicht mehr in die Serienkonzeption von Echtzeit passen. Die Minicliffs und schwarzen Bildeinstellungen mit Zeitellipsen, die ursprünglich für die Werbeunterbrechung gedacht sind, finden häufig mitten in Erzählsegmenten statt. Da die Ein- und Ausleitung der Akte immer durch die Anzeige der Digitaluhr und eine Vergegenwärtigung der verschiedenen Handlungsstränge geschieht, sind die geplanten Unterbrechungen aber noch deutlich auf DVD und im deutschen Fernsehen erkennbar.

100 splitscreen ist eine Technik, in der das Bild in mehrere Einstellungen unterteilt wird, die gleichzeitig gezeigt werden. Auf diese Weise kann zwischendurch immer wieder eine Gleichzeitigkeit der verschiedenen Handlungsstränge visualisiert oder eine Sequenz aus verschiedenen Perspektiven gezeigt werden. (Siehe: Jermyn: „Reasons to Split Up“. In: Peacock (Hg.): Reading 24, 2007, S. 49–57.) Nicht zu vergessen ist dabei, dass splitscreen auch deshalb in einer TV-Serie eingesetzt werden kann, weil die Bildschirmgrößen und die Auflösung der heutigen Fernseher vier Bilder nebeneinander ermöglichen, ohne dass Informationen für den Rezipienten verloren gehen. 24 wäre in dieser Erzählweise bis Mitte der 1990er Jahre nicht möglich gewesen. Siehe zum Einsatz der

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Die Serie hat ein kinematographisches Erscheinungsbild: Die Folgen sind auf 35mm Film aufgenommen, mit einem Bildformat von 16:9 statt wie klassisches Fernsehen in 4:3. 70 Prozent der Aufnahmen sollen on location gedreht sein.101 Gleichzeitig wird die filmische Darstellung aber mit den für Live-Sendungen typischen visuellen Attributen kombiniert,102 wodurch eine Mischung aus kinematographischer und televisueller Ästhetik entsteht.103 Auf inhaltlicher Ebene wurde die Serie kontrovers diskutiert. Vor allem Jack Bauers Vorgehen, das vorwiegend nach dem Prinzip „der Zweck heiligt die Mittel“ verläuft, stand in der Kritik, denn er setzt häufig Folter ein, um an lebensrettende Informationen zu gelangen.104 Dazu kam in der zweiten und vierten Staffel der Vorwurf, Muslime würden ausschließlich als Terroristen dargestellt.105 Die Serie wurde als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 gesehen106 – auch wenn die erste Staffel zu diesem Zeitpunkt bereits fast fertig produziert war und schon am 11. November 2001 erstausgestrahlt wurde.107 Obwohl es keine direkte Verbindung zu den Anschlägen gibt, fängt die Serie die damals sehr präsente Atmosphäre der ständigen Bedrohung und Verunsicherung, des Terrors und der Terrorbekämpfung ein.108 splitscreen-Technik in 24: Hagener: „Komplexität, Präsenz und Flexibilität in den Zeiten der Netzwerkmedien“. In: Eichner u. a. (Hg.): Transnationale Serienkultur, 2013, S. 139– 152. 101 Chamberlain u. a.: „24 and Twenty-First Century Quality Television“. In: Peacock (Hg.): Reading 24, 2007, S. 16. 102 „Of course, 24, as a programme that purports to present its action in real-time, benefits from these televisual associations because these are the very types of programming that best support the ideological ‚liveness‘ of television.“ Ebd., S. 17. 103 Die Farbpalette ist bewusst gewählt und wird konsequent eingesetzt: Die Außenaufnahmen in LA haben immer einen gelblichen Ton, während im CTU-Hauptquartier kalte Blau- und Grautöne dominieren. Vgl. Peacock: „Itʼs about Time“. In: Ders. (Hg.): Reading 24, 2007, S. 3. 104 Vgl. Sutherland u. a.: „Tell me where the bomb is or I will kill your son“. In: Peacock (Hg.): Reading 24, 2007, S. 119–133; Howard: „Youʼre going to tell me everything you know“. In: Peacock (Hg.): Reading 24, 2007, S. 133–148. 105 Vgl. Morey: „Terrorvision“. In: Interventions: International Journal of Postcolonial Studies, 12 (2), 2010, S. 251–264; Lewis: „Making Modern Evil“. In: Heit (Hg.): Vader, Voldemort and Other Villains, 2011, S. 162–174. 106 Vgl. Hark: „Today Is the Longest Day of My Life“. In: Dixon (Hg.): Film and Television after 9/11, 2004, S. 121–141. 107 Vgl. Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 218. 108 Heutzutage wird die Serie gern als erfolgreiche, typisch amerikanische Mainstream-Unterhaltung dargestellt, die den Krieg gegen Terror und Folter rechtfertigt. Vgl. Koch: „It Will Get Even Worse“. In: Seiler (Hg.): Was bisher geschah, 2008, S. 115. Dabei wird

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Die Serie erweckt durch die immer wieder eingeblendete Digitaluhr, welche ihren Echtzeitcharakter verdeutlichen und dem Rezipienten den Wettlauf mit der Zeit bewusst machen soll, einen starken Eindruck von Getriebensein, der sich auf den Rezipienten überträgt. Die Zeit sitzt den Figuren ‒ und damit auch dem Zuschauer ‒ ständig im Nacken, alle Aufgaben sind dringend, die Situation ist brenzlig und der Ausgang ungewiss. Dieses Gehetztsein manifestiert sich in den Figuren, allen voran Jack Bauer, der selbst ein Getriebener ist; erzeugt wird es durch drohende Terroranschläge, die stets einen Zeitplan, Zeitrahmen oder genauen Zeitpunkt haben.109 Die immer wieder eingeblendete Digitaluhr mit lautem Ticken der Sekunden, die suggerierte Echtzeit und Gleichzeitigkeit, vom splitscreen getragen, das Rennen gegen die Zeit und die zahlreichen Cliffhanger – alles zusammen erzeugt einen immer nur vorwärts drängenden narrativen Sog, einen Strudel der Ereignisse. Jede Folge endet mit einem Cliffhanger. Zusätzlich gibt es eine fünfaktige Struktur mit einem Minicliff vor jeder Werbeunterbrechung. Bei der Analyse betrachte ich die fünfte Staffel der Serie, da sie einige besonders gute Beispiele für enthüllende Cliffhanger und darüber hinaus einen außergewöhnlichen Finalecliff aufweist. 2.2.1 Deskription und Analyse In der zweiten Folge der fünften Staffel telefoniert mit dem Rücken zur Kamera eine Person mit den Auftraggebern der Terroristen. In der Schlusseinstellung dreht sie sich langsam zur Kamera um: Es ist der Berater des Präsidenten, Walt Cummings; er ist

häufig vergessen, dass die Serie narrativ sehr innovativ und die erste Staffel nicht besonders erfolgreich war. (Vgl. Chamberlain u. a.: „24 and Twenty-First Century Quality Television“. In: Peacock (Hg.): Reading 24, 2007, S. 13.) Außerdem wurde das offene Bekenntnis des creator Joel Surnow zur Republikanischen Partei als Folie für eine Deutung der Serie gesehen (vgl. Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 227). Die Handlung der Serie gibt zu einer derartigen Deutung nur wenig Anlass, vor allem da in der analysierten fünften Staffel der republikanisch-konservative Präsident der Hauptbösewicht ist, während der afroamerikanische, äußerst charismatische, liberale Präsident der ersten vier Staffeln als Held und Freund Bauers dargestellt wird: „[Es] bleibt […] die Überlegung, ob nicht gerade die so populäre Figur des Präsidenten David Palmer die amerikanische Öffentlichkeit an die Vorstellung gewöhnt hat, daß ein schwarzer Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei dazu in der Lage sein könnte, die Antworten zu finden, die die USA nach nunmehr sieben Jahren Krieg dringend brauchen.“ Koch: „It Will Get Even Worse“. In: Seiler (Hg.): Was bisher geschah, 2008, S. 115. 109 Jacqueline Furby beweist in ihrem Aufsatz, dass die Figuren von 24 besonders häufig auf die Zeit hinweisen. Furby: „Interesting Times“. In: Peacock (Hg.): Reading 24, 2007, S. 63.

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der Verräter im Weißen Haus. Die Enthüllung ist evident und wird mittels eines exklamatorischen Kommunikationsaktes im Bild gestaltet.110 Bis zur Schlusssequenz von Folge fünf besteht die dramatische Ironie darin, dass Jack Bauer und sein Team nicht wissen, wer der Verräter ist. Dann erst offenbart ein Mitarbeiter der CTU, dass es Cummings ist, der mit den Terrorristen kollaboriert. Die CTU-Ermittler kommen zu dem Schluss, dass ihre Behörde als zur Regierung gehörend zunächst weitere Beweise sammeln muss, ehe sie dem Präsidenten alle schwerwiegenden, einen so engen Mitarbeiter betreffenden Anschuldigungen vorlegen kann – auch wenn sich alle sicher sind, dass Cummings tatsächlich der Verräter ist. Lynn McGill:

Cummings is the Presidentʼs chief of staff, Jack, and his friend. Without any hard evidence, CTU can’t touch him.

Jack Bauer:

I’m not CTU. [Geht auf McGill zu.] I’ll go get Walt Cummings myself.111

Mit Jack Bauers kommissiven Sprechakt und seinem entschlossenen Gesicht erscheint im splitscreen Walt Cummings in der rechten Bildhälfte; er wird als Antagonist bildlich und farblich kontrastiert. Die Enthüllung, dass Cummings der Verräter ist, wird mit einem kommissiven Kommunikationsakt verbunden. Das blaue Bild des Protagonisten scheint von der Höhe her bereits über das rote gesiegt zu haben. Abbildung TF1: Unterstützung des kommissiven Sprechaktes

24, S5E5, TC 41:54.

110 Ähnliche Enthüllungen finden an den Enden zahlreicher Folgen statt. 1. Jack Bauers Freundin Audrey Raines wird als Verräterin enttarnt – wie sich später herausstellt, fälschlicherweise (E14). 2. Der Präsident ist der Hauptschuldige (E16). 3. Es wird offenkundig, dass die Terroristen eine Keycard umprogrammieren wollen, um in die CTU-Zentrale zu kommen und dort einen Giftgaskannister ins Ventillationssystem zu entleeren (E11). 111 24, S5E5, TC 41:45–41:53.

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Die meisten Episoden der fünften Staffel enden als enthüllende Cliffhanger mit einem exklamatorischen oder kommissiven Kommunikationsakt.112 24 setzt zudem auf eine fünfaktige Struktur. Als Beispiel diene hier die siebte Folge:113 Jeder der fünf Akte wird mit einem unterbrochenen Spannungsmoment beendet. Zudem zeigt sich auch die geschickte Setzung unterschiedlicher CliffhangerFormen: Minicliffs werden in dem inhaltlich unwichtigeren Handlungsstrang und 112 Bereits die nächste Folge endet erneut mit einem enthüllenden Cliffhanger mittels kommissivem Kommunikationsakt. Zwei weitere Beispiele für enthüllende Cliffhanger mit kommissiven Sprechakten der Figuren sind: E17, TC 41:45–41:52; E23, TC: 41:49– 41:58. Nicht immer beendet ein Satz einer Figur die Folge: Gelegentlich finden sich exklamatorische oder kommissive Kommunikationsakte als letzte Bildeinstellung. So sterben zum Beispiel zwei Figuren genau am Folgenende (E7/12) und in der letzten Einstellung der Episode wird eine Bombe in ein Torpedorohr geladen (E22). Eine kommissive Bildeinstellung beendet beispielsweise Folge 11: Ein Terrorist kann unerkannt vom Tatort fliehen. 113 Der Aufbau im Detail: Im recap wird das bisherige Geschehen in kurzen Ausschnitten zusammengefasst und als letztes der enthüllende Cliffhanger wiederholt. Auf diese Weise wird der Cliffhanger in Erinnerung gerufen, ein Spannungsmoment und Rezeptionsimpuls direkt am Anfang der neuen Folge eingesetzt und die Einprägung des Cliffhangers verstärkt. 1. Akt (TC 2:20–13:25): Zuletzt geht der flüchtige Terrorist Erwich in eine Motorradwerkstatt. Der dort allein arbeitende Mechaniker wird mit einer Waffe bedroht: Er soll mit seinen Werkzeugen die Ummantelung der Giftgaskanister öffnen, damit die Terroristen an die Steuereinheit der Giftgaskanister gelangen. Als Minicliff mit exklamatorischem Kommunikationsakt fungiert Erwichs Ruf an seine Komplizen: „Get the canisters.“24, S5E7, TC 13:20. 2. Akt (TC 13:27–23:28): Es gelingt der CTU, den russischen Verbrecher Rossler in seinem Penthouse zu überwältigen. Jack Bauer bekommt von der Zentrale die Nachricht, die Bewegungsdetektoren spürten eine zweite Person in der Wohnung auf. Im Schlafzimmer findet er ein fünfzehnjähriges Mädchen, übersät von blauen Flecken. Sie sagt: „He is holding me here. I want to go home.“ Ebd., TC 23:25. 3. Akt (TC 23:30–28:35): Die CTU verhandelt mit Rossler. Er willigt ein, wenn er Immunität erhält, die Terroristen auszuliefern – aber er will nur kooperieren, wenn sie ihm das junge Mädchen namens Inessa überlassen. Der letzte Satz von Rossler lautet: „And remember, I want Inessa.“ Ebd., TC 28:35. 4. Akt (TC 28:37–34:26): Logans Frau hat durchgesetzt, die Wahrheit über den Präsidentenberater Cummings, der als Verräter enttarnt wurde, in einer Pressemitteilung verlautet zu lassen. Doch werden Logan und seine Frau bei den Vorbereitungen dazu unterbrochen. Ein Secret Service-Agent führt sie zu einem Zimmer, in dem sich Cummings erhängt hat. 5. Akt (TC 34:28–41:55): Der fünfte Akt endet mit einem gefahrensituativen Cliffhanger: Inessa erschießt ihren Peiniger Rossler. Jeden Augenblick ist aber mit einem Anruf der Terroristen bei Rossler zu rechnen, durch den die CTU an die Giftgaskannister gelangen könnte.

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spannungstechnisch nicht vordergründigen ‒ da in der Mitte der Folge gelegenen ‒ Akten 2 und 3 gesetzt; Binnencliffs hingegen finden sich am Ende von Akt 1 und Akt 4. Die Mitte der Folge wird also mit Minicliffs gestaltet; die dramaturgisch wichtigeren Akte werden stattdessen mit Binnencliffs oder dem Cliffhanger beendet. Die fünf Akte dieser Folge werden immer mittels der Anzeige der Digitaluhr ein- und ausgeleitet. Nach der Werbeunterbrechung ist zunächst wieder die Digitaluhr zu sehen, deren Anzeige nun um die Minuten weiter vorgesprungen ist, welche die Werbeunterbrechung in der Originalausstrahlung beansprucht hat. Ein splitscreen verdeutlicht die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Handlungsebenen und synchronisiert somit die verschiedenen Cliffhanger-Formen. 24 verbindet vor der Werbeunterbrechung im splitscreen des Minicliffs nicht nur die einzelnen Handlungsstränge in der EchtzeitDarstellung,114 sondern hat auch eine sehr eigene und innovative Art gefunden, die Werbeunterbrechung in die Handlung einzubauen. Da die Serie in Echtzeit spielt, steht die Handlung nie still, sogar während der Werbeunterbrechung schreitet sie voran. Der Mini- und Binnencliffs vor der Unterbrechung macht nicht nur darauf neugierig, was nach der Werbeunterbrechung erzählt wird ‒ wie es bei den analysierten Serien der 1980er und 1990er Jahre der Fall war ‒, sondern steigert die Spannung und wirft Fragen auf, das Geschehen während der Werbeunterbrechung im Off betreffend.115 Die elliptischen Interruptionspunkte werden hier durch die Mehrsträngigkeit vervielfacht und erhalten eine ganze andere Spannungsintensität und die Aufhebung und Auflösung eine viel größere Dringlichkeit für den Rezipienten. 1.2.3 Schlussfolgerungen Anders als bei einer auf Action angelegten Serie zu erwarten, werden in der fünften Staffel der Serie 24 hauptsächlich enthüllende Cliffhanger eingesetzt. Gefahrensituative Cliffhanger beenden lediglich zwei der 24 Folgen. Die Serie ist damit in ihrer Art, Cliffhanger zu gebrauchen, der Seifenoper wesentlich näher als der Kinoserie.116 114 Vgl. Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 221. 115 Deborah Jermyn stellt in ihrem Aufsatz fest, 24 benutze den splitscreen, um vier Cliffhanger zeitlich zu verknüpfen. Vgl. Jermyn: „Reasons to Split Up“. In: Peacock (Hg.): Reading 24, 2007, S. 52. Zumindest in der fünften Staffel kann dieses Verfahren nicht beobachtet werden. Im Gegenteil, es gibt einige Segmente, in denen sich leicht zwei Spannungsmomente zu einem additiven Cliffhanger hätten verbinden lassen, wie in Folge 10. Aber statt eine Bombenexplosion, bei der Jack Bauer von Trümmern begraben wird, und den Cliffhanger der Drohung der Terroristen an den Präsidenten zu kombinieren, wird noch sehr kurz gezeigt, dass Jack bei der Explosion nicht verletzt wurde, sondern entkommen kann. Vielleicht hätten additive Cliffhanger sogar in dieser Serie die Adrenalin- und Spannungserzeugung überstrapaziert. 116 Lediglich in zwei Folgen sind gefahrensituative Cliffhanger vorhanden: 1. S5E7, TC 40:49–41:02; 2. S5E15, TC 40:38–41:04. Gail Berman, die damalige Präsidentin von

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Wie bestimmend für die Serie Cliffhanger sind, beweist auch der Finalecliff. Am Ende der Staffel sind alle Terroristen tot oder gefangen genommen. Jack küsst seine Freundin, als ein Secret Service-Agent zu ihm kommt und sagt, seine Tochter sei am Telefon [Abb. TF2]. Jack geht in das ihm genannte Gebäude, wird dort von mehreren Männern betäubt und entführt. Das ist zugleich der Minicliff vor der letzten Werbeunterbrechung [Abb. TF3–4]: Die Digitaluhr zeigt 06:49:03 [TC 35:15]. Schon in TC 38:44 befindet sich Jack auf hoher See in einem großen Containerschiff Richtung China. Seine Verletzungen lassen Rückschlüsse auf eine längere Folterung zu [Abb. TF 5‒6]. Seit seiner Ergreifung sind aber in der erzählten Zeit nur acht Minuten vergangen. In ihnen wurde er vom gesicherten Gelände des Präsidenten auf das untere Deck des Schiffes transportiert, das bereits auf hoher See ist, und gefoltert: Von der Einstellung des Kidnapping bis zur letzten Einstellung des Containerschiffes vergehen 11 Minuten erzählte Zeit. Hier wird das formale Prinzip der Echtzeit zugunsten eines packenden Finalecliffs vernachlässigt. Die Setzung eines Cliffhangers ist diesem Fall wichtiger als das zeitlich-narrative Grundprinzip der Serie, das Geschehen in Echtzeit zu erzählen. Abbildungen FT2–7: Der Cliffhanger hebelt die Echtzeit aus

Abb. TF2, TC 34:27, S5E24

Abb. TF3, TC 35:11

Abb. TF4, TC 35:15

Abb. TF5, TC 38:44

Abb. TF6, TC 41:50

Abb. TF7, TC 41:53

2.3 Der vorausdeutende Cliffhanger: Sleeper Cell Die US-amerikanische Serie Sleeper Cell des Pay-TV-Senders Showtime ist unter anderem deshalb außergewöhnlich, weil sie einen farbigen Muslim als Helden hat.117 Es handelt sich zwar um eine Serie, die sich mit einer extremistisch-muslimischen Fox, sagt passenderweise über die Serie: „Itʼs a male soap.“ Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 222. 117 Die australische Serie East/West 101 handelt ebenfalls von einem muslimischen Polizisten, der im kulturellen und ethnischen Schmelztiegel Sydneys ermittelt.

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Terror-Schläferzelle in Amerika beschäftigt, sie ist jedoch um eine ausgewogenere Darstellung des Islam bemüht. Ethan Reiff und Cyrus Voris, die creators und Drehbuchautoren der Serie, sind selbst gläubige Muslime.118 Der farbige FBI-UndercoverAgent Darwyn Al-Sayeed sieht sich aus religiösen Gründen verpflichtet, die in den Terrornetzwerken praktizierte falsche Auslegung seines Glaubens zu bekämpfen.119 Außer Al-Sayeed spielen in der Serie auch viele andere gläubige Muslime eine Rolle. Sie bilden einen Gegenpol zu den extremistischen Terroransichten der Schläferzelle.120

118 DVD-Extra (Staffel 2): „The Enemy Within“, USA 2008. 119 So vielschichtig die Darstellung des Islam in der Serie auch ist, man kann dennoch der Argumentation von Sasha Torres folgen, der besonders in der Anfangssequenz eine fragwürdige Bestätigung US-amerikanischer Vorurteile sieht: Darwyn erhält Kontakt zu einer islamischen Terrorzelle über einen schwarzen Gefängnisinsassen, der Mitglied der Nation of Islam ist. Hautfarbe, muslimische Radikalisierung und Verbindung zum Terror werden in der Serie verknüpft, beinahe als Norm dargestellt, an der gemessen Darwyns FBI-Zugehörigkeit nur die Ausnahme der Regel ist ‒ eine Ausnahme, die seine Tarnung umso glaubwürdiger erscheinen lässt: „Darwyn’s cover is rendered plausible ‒ both for the cell members and, I would argue, for the audience ‒ by the fact of his incarceration, by the centrality of Islamic practice and community to that experience for many black men (including, famously, Malcolm X), and by the marginality and economic precariousness signified by his unsavory residence and minimum-wage job at a grocery store. The presence of Albert Hall, who plays the Librarian, Darwyn’s mentor in prison and his connection to the terror cell, is crucial here. Hall had a prominent role in Spike Lee’s Malcolm X (1992) and played Elijah Mohammad in Ali (dir. Michael Mann; 2001); it is not accidental, I think, that he is given the first line of the series, which deftly links the black Muslim notion of the ‚white devil‘ to the racialized work of the prison-industrial complex. ‚Remember what it feels like to leave this place and don’t come back,‘ he tells Darwyn. ‚If it comes to it, let the devil shoot you in your motherfucking head before they put you into one of their prisons.‘ Thus the Nation of Islam’s message of black empowerment, a message that has historically been terrifying to many whites, is here situated as an ideological slippery slope to jihad.“ Torres: „Black (Counter)Terrorism“. In: American Quarterly, 65 (1), 2013, S. 171–172. 120 Auch wenn die Serie aufgrund einiger stereotyper Darstellungsweisen kritisiert wurde (vgl. Morey u. a.: Framing Muslims, 2011, S. 166–176), zeigt sie sich in Einzelheiten wie der Wichtigkeit des arabischen Kalenders, der richtigen Aussprache und dem Gebrauch essentieller Begriffe des muslimischen Glaubens sowie häufigen Zitaten aus dem Koran wesentlich detaillierter und korrekter in der Darstellung einiger Facetten des Islam als andere Werke.

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2.3.1 Deskription In der ersten Staffel infiltriert Al-Sayeed die Schläferzelle von Anführer Farik. Der geplante Anschlag kann am Ende der Staffel vereitelt werden, die meisten Zellenmitglieder sterben, Farik wird festgenommen. Die Überlebenden erfahren nicht AlSayeeds wahre Identität, nichts von seiner Verantwortung für das Auffliegen der Zelle. In Staffel zwei wird Al-Sayeed beauftragt, erneut unter seinem Decknamen Darwyn al-Hakim eine andere Schläferzelle zu infiltrieren. Aufgrund seiner umfangreichen Erfahrung wird er von den Zellen-Mitgliedern bald als Anführer gewählt. Als Farik nach mehreren Monaten Gefängnis von den USA zwecks Verhör in ein anderes Land überführt wird, schafft es das Terrornetzwerk, ihn zu befreien. Nach seiner Flucht wird er von dem einflussreichen, wohlhabenden Finanzier, Abdullah Al Ghamedi, aufgenommen. In der Folge „Faith“ (S2E04) erzählt dieser Farik von der neuen Zelle in den USA. Abdullah Al Ghamedi:

[Kommt in den Raum, während Farik sinnierend am Fenster steht.] Your old friend, Brother Darwyn al-Hakim, has found his way to our new faithful unit in Los Angeles [legt Fotos der Zelle auf den Tisch]. And since the death of Brother Khalid, he has become more than a soldier. [Farik nimmt die Fotos und betrachtet sie.] Now he is the leader of the cell. So, tell me what you think of this man?

Abbildungen SC1‒6: Unbeantwortete Fragen mit großer Spannbreite

Abb. SC1, TC 51:12, S2E04

Abb. SC2, TC 51:45

Abb. SC3, TC 52:50

Abb. SC4, TC 53:40

Abb. SC5, TC 53:46

Abb. SC6, TC 53:50

Eine Antwort gibt Farik nicht. Er lässt das Foto sinken [Abb. SC4]. Sein Blick ins Leere wird vier Sekunden lang gezeigt, bevor der Abspann beginnt [Abb. SC5–6].

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2.3.2 Kategorisierung und Analyse Fariks Antwort ist für den weiteren Handlungsverlauf entscheidend: Wenn Farik in Darwyn einen Agenten sieht, der die vorherige Zelle verraten hat, dann wird Darwyn voraussichtlich nichts von seiner Enttarnung erfahren und dem sicheren Tod entgegensteuern. Wenn Farik ihm hingegen nach wie vor vertraut, kann er weiterhin verdeckt ermitteln und am Ende womöglich den Anschlag der neuen Schläferzelle vereiteln. Farik war bis vor Kurzem mehrere Monate im Gefängnis ‒ dort hatte er viel Zeit nachzudenken, über das Scheitern seines Terroranschlags und das Auffliegen seiner Zelle. Dass er Darwyn als einen der wenigen Überlebenden zumindest verdächtigt, ist naheliegend. Der Cliffhanger ergibt sich aus einer Vorausdeutung: Der Zuschauer stellt sich die beiden möglichen Entgegnungen Fariks und die daraus erwachsenden Konsequenzen vor. Die Antwort könnte einen Wendepunkt bilden und damit eine akute Gefahr für den Protagonisten bedeuten ‒ sie wird dem Zuschauer vorenthalten. Fast bis zum Ende der Staffel bleibt das Vertrauensverhältnis zwischen Farik und Darwyn unklar. Die Positionierung des Cliffhangers innerhalb der Staffel sowie seine Auflösung am Ende tragen ebenfalls zur Wirkung des Cliffhangers bei. In Folge vier von insgesamt acht Folgen, genau in der Mitte der Staffel, befindet sich dieser vorausdeutende Cliffhanger. Eindeutig aufgelöst wird er erst in der allerletzten Folge. Er schafft damit eine Grundspannung für Darwyns Situation innerhalb der Schläferzelle. Darwyn ist nicht nur durch seine fortgesetzte Undercover-Tätigkeit in Gefahr, sondern auch durch die offene Frage, ob Farik ihn enttarnen konnte oder ihm zumindest so misstraut, dass er ihm Fallen stellt oder Nachforschungen veranlasst. Am Ende der Staffel vermag Darwyn es, den geplanten Terroranschlag zu verhindern und dennoch nicht als Verräter dazustehen, sondern seine Tarnung aufrecht zu erhalten. Doch Farik scheint ihm nicht zu trauen. Er lässt ihn nicht umbringen, doch beauftragt er eine Terroristin, Darwyns Freundin Gayle Bishop zu kidnappen ‒ unbeabsichtigt stirbt Gayle dabei. Um sich an Farik zu rächen, benutzt Darwyn seine CIA-Kontakte: Er erhält die Möglichkeit – noch immer getarnt als Terrorist – die Befreiung von Fariks Frau aus der Obhut des britischen Geheimdienstes vorzutäuschen und sie zu ihrem Mann zu schmuggeln. Darwyn erhofft sich dadurch, Farik so nahe zu kommen, dass er ihn umbringen oder festnehmen kann. Farik enttarnt ihn jedoch als FBI-Agenten. Es kommt zum Kampf. 2.3.3 Schlussfolgerungen Vermutlich wird Farik Abdullah Al Ghamedi geantwortet haben, sie sollten Darwyn nur unter genauer Kontrolle weiterarbeiten lassen ‒ so zumindest könnte das Kidnapping der Freundin Darwyns interpretiert werden. Das Wissen um Darwyns wirkliche Identität als FBI-Agent erhält Farik erst später, sonst hätte er früher eingegriffen. Eine große Stärke dieses Cliffhangers und der weiteren Erzählung ist, dass der Text nie

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aufklärt, wie Fariks Antwort lautet. Der Zuschauer wird über Darwyns Schicksal im Ungewissen gelassen. Charakteristisch ‒ wie für die meisten vorausdeutenden Cliffhanger ‒ ist auch hier die lange Spannbreite. Der Erzählstrang um Farik wird bereits in der Mitte der nächsten Folge fortgesetzt ‒ Antwort und weitere Diskussion werden aber ausgelassen, es findet also eine verzögerte Interruptionsspanne statt. Aufgelöst wird der Cliffhanger aber zu großen Teilen erst bei der einzigen Begegnung von Protagonist und Antagonist am Ende der Staffel. Der vorausdeutende Cliffhanger spannt über die Hälfte der Staffel und hält den Zuschauer in Atem. Die uneindeutige Reaktion auf die Frage steht als Vorbote einer ständig möglichen Bedrohung im Raum.121

3. D IE P OESIE

UND

K RAFT

DER

V ORAUSDEUTUNG

„Epische Erzählungen wie The Wire oder Deadwood arbeiten üblicherweise nicht mit Cliffhangern. Es ist anzunehmen, dass der Zuschauer dabei andere Erwartungen an das Unterhaltungserlebnis hat, die vornehmlich nicht auf Spannung beruhen.“ WEBER U. A.: „TO BE CONTINUED…“. IN: METELING U. A.

(HG.): „PREVIOUSLY ON …“, 2010, S.

121.122 121 Als wiederkehrendes Motiv ist der interrogative Kommunikationsakt in der BBC-Serie Luther vorhanden. Inspektor Luther lockt mit seiner psychopathischen Freundin Alice seinen korrupten Kollegen Ian Reed in eine Falle. Alice erschießt Reed gegen Luthers Willen. Nach dem Schuss nähern sich Einheiten der Polizei. Auf der auditiven Ebene beginnt der Song „Donʼt Let Me Be Misunderstood“ von Nina Simone. Die letzte Einstellung zeigt Luther, wie er sagt: „Now what?“ (S1E6, TC 1:43:22). Folge eins der zweiten Staffel beginnt mit Alices Frage: „Now what?“ (S2E1, TC 00:04). Sie ist inzwischen in einer psychiatrischen Anstalt und beantwortet Luthers Vorgesetzten Fragen. Ihre Erzählung dient als recap; gleichzeitig bringt sie den Zuschauer auf den neuesten Stand, was Luther und Alice seit dem Ende der ersten Staffel getan haben (elliptische Interruptionsspanne). In Staffel zwei nimmt sich Luther einer Schutzbefohlenen an, die ihn in der letzten Einstellung fragt: „So, now what?“ (S2E3, TC 1:41:17) Auch wenn die zweite Staffel viel abschließender und vor allem versöhnlicher endet als Staffel eins, zeigt die Wiederholung des interrogativen Kommunikationsakts, wie bewusst die Produzenten dieses Erzählmittel einsetzen. 122 Daniel Eschkötter ist, was The Wire angeht, derselben Meinung: „Es [d.i. The Wire] ist der Roman in Fortsetzung, aber ohne Cliffhanger, der ihr ein historisches und narratives Modell gibt“. Eschkötter: The Wire, 2012, S. 18.

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3.1 The Wire Die HBO-Serie The Wire wird aufgrund ihrer inhaltlichen Komplexität häufig als die beste Fernsehserie des letzten Jahrzehnts bezeichnet.123 Sie erzählt über fünf Staffeln von den mannigfaltigen Verbindungen von Verbrechen und dessen Bekämpfung zu unterschiedlichen Menschen und Institutionen in der US-amerikanischen Stadt Baltimore. Jede Staffel richtet dabei den Fokus auf einen Bereich, den das Verbrechen beeinflusst. „[H]ere it is not an individual criminal responsible for an enigmatic crime, but rather a whole society that must be opened up to representation and tracked down, identified, explored, mapped like a new dimension or a foreign culture.“124 Der Titel der Serie spielt nicht nur auf die ‚wiretaps‘ an, die Telefonüberwachung, die vor allem in der ersten Staffel eine zentrale Rolle einnimmt,125 sondern legt von jedem in den Staffeln behandelten Bereich eine Linie, einen ‚Draht‘ zum Verbrechen: „‚Itʼs all connected‘ is a key motif of the show“.126 Der Titel The Wire beinhaltet noch einen dritten Aspekt: Die eigentliche Hauptrolle der Serie spielt die Stadt Baltimore,127 eine Stadt, welche die Amerikaner in die Kategorie ‚zweitrangig‘, „second-tier“ einordnen.128 In der Serie symbolisiert die Stadt auch die deutliche Trennung zwischen Arm und Reich in den USA, eine von Geburt an gegebene „Platzanweisung“ zu einem dieser Lager.129 Baltimore ist Beispiel dieser Spaltung, vor allem des armen, vorwiegend schwarzen Amerikas und damit Spiegel des ganzen Landes ‒ so differenziert und detailliert die Beschreibung der Verhältnisse ist, so sehr soll die Analyse der Stadt über sie selbst hinausweisen. Wie die Figuren in The Wire in ihren sozialen Stellungen verharren und beinahe nie die Stadt verlassen, verbleibt die Stadt selbst in ihrem Status als „second-tier“. Creator David Simon sagt: „It really is a show about the other America in a lot of ways, and so The Wire really does refer to almost a 123 Vgl. Kennedy u. a.: „Introduction“. In: Ders. u. a. (Hg.): The Wire, 2012, S. 1. 124 Jameson: „Realism and Utopia in The Wire“. In: Criticism, Sommer 2010, S. 361. 125 S1E6 ist sogar als „The Wire“ betitelt. In dieser Folge beginnt die für die erste Staffel zentrale Telefonüberwachung, und wichtige Handlungsstränge der Serie werden bzw. sind bis dahin etabliert. 126 Kennedy u. a.: „Introduction“. In: Ders. u. a. (Hg.): The Wire, 2012, S. 2. 127 Vgl. Kinder: „Rewiring Baltimore“. In: Kennedy u. a. (Hg.): The Wire, 2012, S. 71–83. 128 „Baltimore is a poor, second-tier city that has seen rough times since World War II. Deindustrialization, suburbanization, segregation, and globalization have not been kind to the city. At least 40.000 buildings are now vacant, many abandoned as the population shrank to less than two-thirds of its peak. Also, crime and drugs have besieged the city, and the homicide rate is a constant problem. […] Baltimore is a part of America, but it is also separated from much of the country.“ Ethridge: „Baltimore on The Wire“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 153. 129 Vgl. Eschkötter: The Wire, 2012, S. 69.

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boundary of a fence or the idea of people walking on a high wire and falling to either side.“130 Dass die Serie, differenziert und realistisch anmutend, voller Insiderwissen um die kleinen Details und Vorgänge, die kriminellen ‚Verwicklungen‘ einer Stadt darstellen und aufgliedern kann, liegt unter anderem begründet in der langjährigen journalistischen Tätigkeit von David Simon und dem ausführenden Produzenten Ed Burns, der über zwei Jahrzehnte Polizist in Baltimore war.131 Der visuelle Stil der Serie passt zu diesem in der Realität verorteten Hintergrund: Es gibt nur eine einzige Rückblende,132 keine Prolepsen, Traumsequenzen oder subjektiven Kamerafahrten. Die Sequenzen sind von einer zurückhaltendenden Inszenierung und spröden Darstellungsweise geprägt.133 „Gedreht wurden die Stadtbilder auf 35mm-Filmmaterial und ausgestrahlt als Standard Definition Television im entsprechenden, schon zur Ausstrahlungszeit fast anachronistisch anmutenden 4:3, dem klassischen Fernsehformat. […] Es ist ein Look, der zwar als filmisch charakterisiert werden kann, der aber nicht den Production Value einer größeren Produktion (ob Kino oder HBO) hat: dem Gegenstand und der Stadt gemäß als, second-tier-filmisch.“134

Die Narration wird äußerst selten von extradiegetischer Musik unterstützt. Besonders in den Sequenzen der Straßendealer sprechen diese (selbst für US-Amerikaner 130 David Simon in B. Andelman: „Fridays with Mr. Media: The David Simon/ The Wire Interview“. In: The Mr. Media Interviews, 2007. Zitiert nach: Ethridge: „Baltimore on The Wire“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 154. Dieser Symbolik klingt auch in dem Lied an, das die Polizisten singen, immer wenn einer von ihnen gestorben ist: „The man of wire/ who was often heard to say, ‚I’m a free man born of the USA‘“. Zitiert nach: Marshall u. a.: „‚I am the American Dream‘“. In: Potter u. a. (Hg.): The Wire, 2009, S. 12. 131 Vgl. Eschkötter: The Wire, 2012, S. 9. Simon arbeitete 12 Jahre für die Tageszeitung Baltimore Sun und schrieb zwei Bücher über das Verbrechen in Baltimore: Homicide: A Year on the Killing Streets – es wurde teilweise literarische Vorlage für die NBC-Serie Homicide: Life on the Street – und zusammen mit Ed Burns The Corner: A Year in the Life of an Inner-City Neighborhood. (Vgl. Ethridge: „Baltimore on The Wire“. In: Leverette u. a. (Hg.): Itʼs not TV, 2008, S. 153.) 132 Diese Rückblende in der Pilotfolge wurde als einzige Subsequenz von HBO vorgegeben, da der Sender der Meinung war, sonst verstünde der Zuschauer die für die Staffel essentiellen Zusammenhänge nicht. Vgl. Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 80. 133 Vgl. Mittell: „The Wire in the Context of American Television“. In: Kennedy u. a. (Hg.): The Wire, 2012, S. 26. 134 Eschkötter: The Wire, 2012, S. 16–17.

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schwer verständliche) Soziolekte, erweitert um die umfangreiche Terminologie der Drogenszene.135 Allerdings werden der Realismus und die deskriptive Darstellungsweise immer wieder verlassen zugunsten äußerst fiktional konstruierter, stilisierter Sequenzen: Beispielsweise gibt es in der vierten Folge der ersten Staffel eine Sequenz,136 in der zwei Ermittler unzählige Male während einer Tatortbesichtigung die mannigfaltigen Bedeutungen des Wortes „fuck“ benutzen ‒ eine Parodie auf Serien wie CSI. Auch überlebensgroße Figuren wie Omar Little137 und Brother Mouzone sowie komödiantische Trinkgelage der Hauptfigur Jimmy McNulty sind Teile eines Gegenpols zur dokumentarisch anmutenden Ästhetik und Thematik der Serie.138 Insgesamt tendiert die Serie gelegentlich mehr zu der auf Witz oder Spannung, Action und Gewalt ausgerichteten TV-Serien-Konstruktion, während an anderen Stellen die realistische, journalistisch geprägte, den zahlreichen Verstrickungen des Verbrechens nachgehende Darstellungsweise im Vordergrund steht ‒ beide Extreme sind Teil von The Wire.139 Trotz allem Realismus darf nicht vergessen werden, dass die Serie fest verankert ist in den Möglichkeiten und Gesetzmäßigkeiten des Pay-TVs und der seriellen Narration im Fernsehen.140 3.1.1 Deskription (Beispiel 1) In der ersten Episode der zweiten Staffel werden mehrere Tote gefunden. Erst entdeckt der auf ein Polizeiboot versetzte Protagonist Jimmy McNulty eine unbekannte Leiche im Wasser. Dann stößt der Zoll bei der Kontrolle eines Containers auf einige erstickte Frauen, die als Prostituierte in den USA arbeiten sollten. Ganz am Ende der Folge stehen die Verladearbeiter um den von der Hafenpolizei und dem Zoll abgesperrten Unglücksort. Frank Sobotka, der Anführer und Schatzmeister der ArbeiterGewerkschaft, war für das Schmuggeln des Containers aus den Docks verantwortlich (unwissend, welches Unglück er barg). Er steht fassungslos neben den anderen Dockarbeitern. Auf der Tonspur ist bereits eine Polizeisirene zu hören. Dann wird auf die Halbtotale eines Polizeiwagens geschnitten, der mit Blaulicht und lautem Signalhorn 135 „[W]atching the show felt like a crash course in a foreign language.“ Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 76. 136 Vint: The Wire, 2013, S. 21. 137 Siehe zu Omar Little: Vaage: „Our Man Omar: Warum die Figur Omar Little aus The Wire so beliebt ist“. In: Blanchet (Hg.): Serielle Formen, 2010, S. 211–228. 138 Vgl. Barton: „Drinking with McNulty“. In: Kennedy u. a. (Hg.): The Wire, 2012, S. 215– 238. 139 Martin Urschel formuliert es ähnlich: „Die Ästhetik der Serie positioniert sich konstant zwischen ‚objektivem Abbilden‘, identifikatorischer Nähe […] und abstrakter Künstlichkeit“. Urschel: The Wire, 2013, S. 46. 140 Siehe auch: Mittell: „The Wire in the Context of American Television“. In: Kennedy u. a. (Hg.): The Wire, 2012, S. 15–32.

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die Docks entlang fährt, während die Kamera herauszoomt ‒ die Veränderung von einer halbtotalen zu einer totalen und schließlich weiten Bildeinstellungsgröße gibt immer mehr vom riesigen Dockgelände samt der unzähligen Container frei. Abbildung TW1: Eindringen in eine unbekannte Welt

Abb. TW1: The Wire, S2E1, TC 57:19.

3.1.2 Kategorisierung und Analyse (Beispiel 1) Das bereits sehr laute Geräusch der Sirene leitet von Sobotkas entsetztem Gesicht zur letzten Einstellung über [Abb. TW1]. Der Ton ist dem Bild voraus ‒ er weist bereits auf eine Geräuschquelle hin, die der Zuschauer erst in der nächsten Einstellung sehen kann und die noch sehr weit vom Fundort entfernt ist. Das Geräusch deutet voraus, dass etwas naht ‒ aus Sobotkas Sicht betrachtet ist es eine Gefahr, eine Bedrohung: Das Signalhorn kündigt den Eintritt von etwas Fremdem, der Polizei, in die Heterotopie des Hafengeländes an. Bisher hatten der Zoll und die Hafenpolizei das Gelände abgeriegelt. Mit dem Eintreffen der regulären Polizei wird nicht nur Sobotka, sondern es werden alle Teile der Hafenwelt wie Zoll, Gewerkschaft und die Dockarbeiter aus dem Gleichgewicht gebracht; sie verlieren ihre Macht- und Zuständigkeitsbereiche. Bis zum Leichenfund war das Dockgelände nicht im Bewusstsein der Mordkommission und der Major Crimes Unit. Hier waren allein der Zoll und die Hafenpolizei zuständig, die über manches hinwegsahen, teilweise sogar dafür bezahlt wurden. Erst durch das Entdecken der Toten ist die reguläre Polizei gezwungen, sich für die Verwicklungen der Dockarbeiter in kriminelle Machenschaften zu interessieren. Auch wenn jede Behörde versucht, den Fall an die nächste Instanz weiterzuschieben, muss er am Ende bearbeitet werden ‒ was für alle Beteiligten zu Unannehmlichkeiten führen wird. Aber nicht nur Dockarbeiter, Zoll und Hafenpolizei werden mit der Ankunft der regulären Polizei bedrängt ‒ die Polizei selbst wird es in dieser eigenen Welt des

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Hafengeländes schwer haben. Der langsame Zoom-Out zeigt deutlich die Größenunterschiede des Hafengeländes im Vergleich zum kleinen Polizeiauto. Auch die Vielzahl der Container im Gegensatz zum einzelnen Streifenwagen deutet darauf hin, dass die von außen kommende Polizei an diesem Ort, in diesem Milieu mit seinen eigenen Regeln kaum ihr Gesetz wird durchsetzen können. Die Ermittler dringen in eine Welt ein, in der sie bildlich vor lauter (Container-)Wänden stehen, weil ein fester Zusammenhalt zwischen den Arbeitern besteht. Ein Gespräch mit der Polizei bedeutet bereits Verrat. Zusätzlich bildet diese Einstellung einen späten establishing shot der gesamten Staffel, der dem Zuschauer zeigt, wo die folgenden 11 Episoden vornehmlich verortet sein werden, welche ‚Zweigstelle‘ des Verbrechens hier unter die Lupe genommen wird. Die Spannbreite dieses vorausdeutenden Cliffhangers ist sehr groß. Für die ganze Staffel werden die Frauenleichen eine entscheidende Rolle spielen ‒ dieser Fall ist der Impetus für alles Folgende: den Beginn der polizeilichen Ermittlungen in den Docks, den Schwierigkeiten für die Dockarbeiter und Frank Sobotka, die Aufdeckung der Verbindungen zwischen Gewerkschaft und organisiertem Verbrechen und schließlich die Kulmination im Tod von Sobotka am Staffelende. Die letzte Kameraeinstellung der Folge ist vorausdeutend, nicht enthüllend, weil der Fund der Leichen bereits mehr als 10 Minuten Erzählzeit zurückliegt. Die überwiegend dokumentierende, distanziert beobachtende, im doppelten Sinne unbewegte Kamera und die sonst nur realistisch wiedergebende Tonspur treten beide aus ihrer objektiven Position heraus und weisen auf Entwicklungen und Zusammenhänge hin. Ohne Dialog sind ein optischer und ein akustischer exklamatorischer Kommunikationsakt vorhanden. Zusammen sind sie Teil eines vorausdeutenden Cliffhangers. 3.1.3 Deskription (Beispiel 2) Über den Inhalt des Containers war Sobotka nicht informiert, für den Schmuggel aus dem Hafengelände lag die Verantwortung aber bei ihm. In der vierten Folge der zweiten Staffel wird Sobotka von zwei Polizisten der Mordkommission in der Stammkneipe der Gewerkschaft unter Druck gesetzt und zu den Frauenleichen befragt. Sobotka beginnt zu schwitzen und sagt: „That was a accident. [Einer der Ermittler schüttelt den Kopf. Daraufhin lauter:] That was a fucking accident. [Wesentlich leiser:] That’s what I heard anyway.“141 Als er merkt, dass er damit verraten hat, mehr über diesen Vorfall zu wissen, als er zugibt, und die beiden Polizisten ihn sehr eindringlich anschauen, entschuldigt er sich und geht auf die Toilette. Dort betrachtet er sich zitternd im kleinen, verdreckten Spiegel, wäscht sich das erschöpfte, müde Gesicht, versucht sich zu beruhigen und geht wieder hinaus. Die Kamera dreht sich mit ihm in seiner Bewegung hin zum Ausgang, aber nur bis zur Hälfte der Strecke. Dort

141 The Wire, S2E4, TC 58:36.

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verharrt sie fünf Sekunden auf einem Jahrzehnte alten Schwarz-Weiß-Foto von Dockarbeitern [Abb. TW2], ehe die langsame Schwarzblende auf den Abspann folgt. Abbildung TW2: Vorausdeutung auf ‚den Fortschritt‘

Abb. TW2: The Wire, S2E4, TC 57:27.

3.1.4 Kategorisierung und Analyse (Beispiel 2) Eine Gegenüberstellung, ein allegorischer Vergleich zwischen Sobotkas Spiegelbild und dem Schwarz-Weiß-Foto wird durch den Kameraschwenk nahegelegt ‒ vor allem weil wie im ersten Beispiel die Inszenierung aus ihrer sonst lediglich beobachtenden, objektiven Rolle heraustritt und ein einzelnes Element durch die unterbrochene Kamerabewegung und lange Verweildauer hervorhebt: das Schwarz-WeißFoto. Sobotka ist für den Lohn seiner Arbeiterkollegen verantwortlich. Er wird von vier Seiten unter Druck gesetzt: Den Gewerkschaftsmitgliedern, den Verladechefs, der griechischen Verbrecherorganisation, die ihn für den Containerschmuggel bezahlt, und nun noch von der Polizei. In den zwei letzten Sequenzen fühlt er sich mitverantwortlich für den Tod der Frauen. Der folgende unterbrochene Kameraschwenk auf das Schwarz-Weiß-Foto weist darauf hin, dass Sobotka einer früheren Zeit angehört, in der es im Hafengelände mehr Arbeit gab und die Dockarbeiter nicht, um überleben zu können, sich dazu gezwungen sahen, krumme Geschäfte zu machen. „We used to make shit in this country. Build shit.“142, sagt Sobotka einmal, verzweifelt darüber, dass kaum noch etwas in Baltimore produziert wird und darum auch nichts mehr in größeren Mengen aus der Stadt heraus oder in sie hinein transportiert werden muss. Signifikant ist auch bei dieser Aussage, dass Sobotka sein eigenes Schicksal in Baltimore als Sinnbild für die ganzen Vereinigten Staaten sieht ‒ ähnlich der Serie selbst, 142 The Wire, S2E11, TC 35:14.

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die Baltimore als große Metapher behandelt, hat Sobotka hier eine StellvertreterFunktion. Die letzte Plansequenz bringt das Dilemma der Dockarbeiter und Sobotkas auf den Punkt: Wie kann man leben von diesem Beruf, in dem es kaum noch ausreichend Arbeit gibt, um ohne kriminelle Aktivitäten genug zu verdienen? Kein Wort wird in der ganzen Sequenz gesprochen ‒ zu hören sind nur das Schnauben und Seufzen Sobotkas, das seine Anstrengung beim Festhalten und Vortäuschen alter Zeiten symbolisiert und die leise, ebenfalls Harmonie vortäuschende Musik aus der Kneipe. Durch diese Wortlosigkeit wird der Kameraschwenk mit seinem Innehalten auf dem Foto besonders betont ‒ er wird zum optischen exklamatorischen Kommunikationsakt eines vorausdeutenden Cliffhangers: Sobotkas müdes Gesicht wirkt letztendlich genauso alt und ‚vergilbt‘ wie das Foto; er wird dem Druck nicht standhalten können. Erneut weist dieser Cliffhanger auf zentrale Themen und Entwicklungen der Staffel hin und macht auf die Konflikte einer der Hauptfiguren aufmerksam. Während der ganzen Staffel sucht Sobotka nach einem Kompromiss: als Gewerkschaftsführer für seine Arbeiterkollegen sorgen und sich trotzdem weiterhin im Spiegel betrachten können. Am Ende der Staffel entscheidet er sich für sein Gewissen: Er willigt ein, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, wird daraufhin umgebracht und ins Meer geworfen. David Simon erinnert sich, was der Impetus für den Inhalt der zweiten Staffel war: „The next season has to be about the working class and the death of work.“143 Die lange vorausgedeutete Ermordung Sobotkas symbolisiert sicherlich zum einen den für die Staffel zentralen „Tod“ der Arbeiterschicht. Zum anderen wird Sobotka selbst zu einem toten Gut, angeschwemmt an den Strand von Baltimore wie die anfangs von McNulty gefundene unbekannte Leiche. Das Zyklische der Leichenfunde suggeriert die Sinnlosigkeit der von allen Beteiligten gezeigten Bemühungen ‒ passend zu einem der zentralen Sätze der Serie über den Drogenkrieg: „You can’t even call this shit a war. […] Wars end.“144 3.2 Deadwood Die HBO-Serie Deadwood handelt von den Jahren 1876 und 1877 in der real existierenden Goldgräbersiedlung gleichen Namens. Zahlreiche historische Gestalten tauchen auf oder sind sogar Hauptfiguren.145 Thematisch liegt der Fokus darauf, wie Unordnung und Gesetzlosigkeit durch den Einzug von Zivilisation und Kapitalismus

143 Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 88. 144 (Gesprochen von Detective Carver). The Wire, S1E1, TC 35:14. 145 Es treten auf die Westernlegenden Wild Bill Hickok, Wyatt Earp und Calamity Jane, aber auch George Hearst, der Vater des Zeitungsmoguls William Randolph Hearst, auf dessen Leben Citizen Kane beruht.

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geordnet werden und die Siedlung langsam zu einer Stadt heranwächst.146 Die Fortsetzungs-Serie eignet sich für eine derartige Darstellung viel besser als der WesternFilm, weil bei diesem Format das Werden, der Prozess der Stadtbildung und der Einzug des Kapitalismus in die mythisch aufgeladene western frontier sich zeitlich entfalten können. Das Heranwachsen der Stadt und die allmähliche Ordnung der Machtverhältnisse lassen sich zugleich als Sinnbild für die Entstehung der USA auffassen. Die Serie legt nahe, dass Grundsteine der Vereinigten Staaten hauptsächlich von sehr eigenwilligen, menschlichen, nicht-heldenhaften Personen gelegt wurden: Huren, ökonomischen und religiösen Flüchtlingen, vorwiegend ungebildeten Männern, Schlägern, zwielichtigen Geschäftsleuten, selbstgerechten Sheriffs und einer Vielzahl von Individuen, die ausschließlich auf ihr persönliches Glück und ihren Wohlstand bedacht waren.147 Der creator David Milch recherchierte sorgfältig zu den historischen Gestalten, der damaligen Sprache, zu Goldgräbersiedlungen und Deadwood im Speziellen.148 Milch äußerte in Interviews häufig die Meinung, der traditionelle Western sei ein Konstrukt Hollywoods, mit dem die Geschichte der USA mythisch überhöht und „reingewaschen“ worden sei:149 „[T]he West I was encountering in my research […] had nothing to do with the westerns.“150 Dieser Anspruch auf realistische Darstellung wird möglich durch die Freiheiten der Pay-TV-Sender: Die Serie nutzt sie intensiv in Form der Darstellung und Wiedergabe von Gewalt, nackter Haut und brutaler, unflätiger Sprache. 146 Siehe zur Thematik ‚Zivilisation gegen Wildnis‘ in der Serie Deadwood vor allem: Holtz: „Amerika zwischen Wildnis und Zivilisation“. In: Seiler (Hg.): Was bisher geschah, 2008, S. 68–79. Holtz zeigt sehr differenziert den über mehrere Staffeln dargestellten Umgang mit Neuankömmlingen in Deadwood. Damit spiegelt die Serie anhand eines lokalen Mikrokosmos die historische Entwicklung US-amerikanischer Einwanderungspolitik. 147 Vgl. Worden: „Neo-liberalism and the Western“. In: Canadian Review of American Studies, 39 (2), 2009, S. 221–246. Worden sieht Deadwood vor allem als Allegorie auf neoliberale Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes. 148 Vgl. Vest: The Wire, Deadwood, Homicide, and NYPD Blue, 2011, S. 139; Millichap: „Robert Penn Warren, David Milch, and the Literary Contexts of Deadwood“. In: Winchell (Hg.): Robert Penn Warren, 2007, S. 118. David Milch schrieb und produzierte Serien, die vor allem aufgrund ihrer Innovation berühmt wurden, allen voran Hill Street Blues und NYPD Blue, die beide in Robert Thompsons Buch über Quality TV behandelt werden. Thompson: Televisionʼs Second Golden Age, 1997, S. 59–74. Auch Deadwood wurde mit zahlreichen Auszeichnungen versehen: 28 Emmy-Nominierungen, acht gewonnene Emmys und ein Golden Globe. Die Zuschauerzahlen waren hingegen gering. 149 Vgl. Vest: The Wire, Deadwood, Homicide, and NYPD Blue, 2011, S. 136–137; Groot: Consuming History, 2009, S. 200–201. 150 David Milch zitiert nach: ebd., S. 200.

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Deadwood ist in einem visuell aufwändigen, einheitlichen Stil inszeniert. Der berühmte Regisseur der Pilotfolge, Walter Hill, hat sicherlich dazu beigetragen. Brauntöne und Erdfarben bestimmen die Farbpalette. Die Beleuchtung wirkt realistisch und erinnert an technische Pionierwerke wie Barry Lyndon (UK/USA 1975),151 mit wenig direkter, dafür viel gelblicher Lichtgebung durch Kerzen und Lagerfeuer sowie ausgeprägter Inszenierung von Schatten und Silhouetten. Hinzu kommt eine überzeugende Realisierung von Deadwood als Siedlung, in der die Menschen gelegentlich nur durch den Schlamm watend über die Hauptstraße gelangen können ‒ die Gesichter sind häufig voller Schmutz. Das Außergewöhnlichste an der Serie ist jedoch die Sprache, die in der TV- und Filmgeschichte ihresgleichen sucht: „The most notorious aspect of Deadwood has become its dialogue, a striking conflation of flowery rhetoric, often verging on Shakespearean verse or Victorian prose, with rough slang and crude profanity.“152 Die Sätze sind voller Schimpfwörter,153 aber gleichzeitig in einem altertümlichen, poetischen Englisch gesprochen, das von langen Sätzen voller Zweideutigkeiten und Andeutungen lebt.154

151 Siehe: Malkiewicz u. a.: Cinematography, 2009, S. 135. 152 Millichap: „Robert Penn Warren, David Milch, and the Literary Contexts of Deadwood“. In: Winchell (Hg.): Robert Penn Warren, 2007, S. 118. 153 Die Internetcommunity zählte 2980 Mal „fuck“ innerhalb der drei Staffeln. http://www. thewvsr.com/ deadwood.htm [vom 06.03.2014]. 154 Zur Sprache von Deadwood: „Häufig ist die komplizierte Sprache Ausdruck für die arrogante Annahme intellektueller Überlegenheit von Figuren […].[J]e komplizierter, formal ausgeschmückter, also zivilisierter, Sprache [in Deadwood] ist, desto trügerischer, hinterlistiger, verschleiernder und unkommunikativer ist sie auch. In solchen Fällen sind Sprache und Kommunikation ganz klar ein Machtinstrument.“ Holtz: „Amerika zwischen Wildnis und Zivilisation“. In: Seiler (Hg.): Was bisher geschah, 2008, S. 78. Die Poesie der Sprache lässt sich auch auf den Einfluss des langjährigen Lehrers und Mentors von David Milch, des US-amerikanischen Autors und Lyrikers Robert Penn Warren sowie Milchs Studium der Literatur zurückführen: „At Yale, Milch’s major advisor in English was R. W. B. Lewis, an eminent scholar of American literature, and his teachers included Cleanth Brooks, theorist of the New Criticism, as well as Robert Penn Warren. Milch went on to earn an MFA at Iowa, later teaching there and at Yale while publishing poetry and fiction. During the early 1970s he assisted his three distinguished professors with the editing of their anthology, American Literature: The Makers and the Making (1973).“ Millichap: „Robert Penn Warren, David Milch, and the Literary Contexts of Deadwood“. In: Winchell (Hg.): Robert Penn Warren, 2007, S. 116. Milch behauptet, die von den Figuren gesprochene Sprache sei ebenfalls realistisch, was teilweise bezweifelt wird (vgl. Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 109).

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3.2.1 Arten von Enden Drei Arten von Enden finden sich in Deadwood: Vorwiegend werden vorausdeutende Cliffhanger gesetzt, hinzu kommen pro Staffel ein bis zwei enthüllende.155 Es gibt auch einige finale Sequenzen, die keine Spannungsmomente aufweisen.156 Mit den enthüllenden Cliffhangern der Serie lässt sich Junklewitzʼ und Webers Behauptung, in Deadwood gebe es keine Cliffhanger, am einfachsten widerlegen. Pro Staffel gibt es mindestens zwei enthüllende Cliffhanger wie beispielweise am Ende von Folge 8 der dritten Staffel. George Hearst, einflussreicher, machtbesessener Mitinhaber der größten US-amerikanischen Bergbaugesellschaft, versucht, die Stadt unter seine Ägide zu bringen. Bisher aber ist er in Deadwood nur ein wohlhabender Neuankömmling ohne Gefolgschaft. Am Ende der Folge reitet eine Schar seiner Revolvermänner ‒ unübersehbar zur Machtdemonstration mit Fackeln ausgestattet ‒ in Deadwood ein: Hearst hat Verstärkung und Druckmittel organisiert. Dass dieser und andere enthüllende Cliffhanger ‒ meist in der Mitte der Staffel positioniert ‒ eine wichtige dramaturgische Funktion als möglicher Wendepunkt der gesamten Staffel haben, wird häufig auch im Titel der jeweiligen Folge deutlich. So lautet diese: „Leviathan Smiles“. Der letzte exklamatorische Kommunikationsakt, den der erschrockene Al Swearengen unmittelbar angesichts der Reiter formuliert, lautet: „Leviathan fucking smiles.“157 Gemeint ist damit Hearst ‒ der Teufel, der das Schicksal der Stadt nun zu seinen Gunsten beeinflussen kann.

155 Vorausdeutende Cliffhanger in Staffel 1 finden sich in Episode 1,5,7,8,9,10, enthüllende Cliffhanger gibt es nur in den Mikrotexten 3 und 4. Die Finalefolge bietet eine Mischung aus vorausdeutendem Cliffhanger und Abschluss. 156 In der ersten Staffel sind folgende Episoden ohne Spannungsmoment in der letzten Sequenz: 2, 6, 11. 157 Deadwood, S3E8, TC 49:39. Zwei weitere Beispiele für enthüllende Cliffhanger: In Staffel eins wird kurz vor dem Ende der vierten Folge der als Hauptfigur eingeführte, von dem berühmtem Darsteller Keith Carradine gespielte historische Revolverheld Wild Bill Hickock erschossen. Die Folge endet damit, dass in ganz Deadwood ein großer Tumult wegen Hickocks Tod ausbricht. Kurz nimmt das Chaos Überhand über die Anfänge einer geordneten Siedlung und die bisherigen Fortschritte scheinen zunichte gemacht. Eine der zentralen Figuren, Seth Bullock, rennt in den leeren Saloon, in dem Wild Bill Hickock tot auf dem Boden liegt. Die letzte Einstellung zeigt Seth Bullock entsetzt und traurig, seine Augen sind mit Tränen gefüllt. Eine ähnlich dramatische Wendung findet in der neunten Folge der zweiten Staffel statt. Zwei freigelassene Sklaven versuchen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ohne sich erneut in eine zu große Abhängigkeit von Weißen zu begeben. Sie besitzen ein wildes Pferd, das sie verkaufen wollen, das aber einen Stein in einem seiner Hufe hat. Bei dem Versuch, ihn aus dem Huf zu ziehen, wird das

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3.2.2 Vorausdeutende Cliffhanger Beispiel 1 Die vorausdeutenden Cliffhanger in Deadwood sind so zahlreich, dass ich mich im Folgenden auf die Darstellung der Frauen konzentriere und damit die vielfältigen Themen der Serie für eine fokussierte Analyse eingrenze. In der Pilotfolge wird die Prostituierte Trixie von einem Freier geschlagen und bedroht. Im Affekt erschießt sie ihn. Der Bordell- und Saloonbesitzer Al Swearengen ist darüber sehr erbost – vor allem, weil diese Tat nicht gut fürs Geschäft ist, dem sein oberstes Interesse gilt. Er wirft ihr vor, nicht seine Aufpasser gerufen zu haben und kritisiert, dass sie überhaupt einen Revolver besitzt. In einer drastischen Sequenz schlägt er sie und stellt ihr dann seinen Stiefel aufs Genick, fragend, ob sie sich ab jetzt benehmen werde oder er sie jetzt gleich umbringen solle. Trixie schwört, ihm zu gehorchen. Kurz danach aber besorgt sie sich erneut eine Waffe. Auch wenn Swearengen davon nichts weiß, begegnen Trixie und er sich äußerst misstrauisch. Der Argwohn der beiden wird durch zahlreiche Äußerungen anderer Personen potenziert.158 Die letzte Sequenz deutet voraus, dass dieser Konflikt nur vorläufig beendet ist. Al Swearengen liegt entspannt in seinem Bett, als es klopft [Abb. DW1]. Er ahnt schon, wer es sein könnte, und greift nach dem Revolver auf seinem Nachttisch [Abb. DW2], den er unter seine Bettdecke legt. Eine Hand an das Bettgestell geklammert, die andere unter der Bettdecke auf den Revolver gelegt, ruft er herein [Abb. DW3]. Trixie tritt ein und legt ihren kleinen Revolver demonstrativ und wortlos auf den Nachttisch ‒ genau auf die Stelle, an der zuvor Swearengens Waffe gelegen hatte [Abb. DW 4]. Dann zieht sie sich aus, steigt zu ihm ins Bett und legt ihren Kopf auf seine Brust [Abb. DW5‒7]. Die Kamera schwenkt hoch zu seinem kalt, aber nun wieder etwas entspannter wirkendem Gesicht [Abb. DW8]. Die ganze Sequenz ist ohne Musik und Dialog.

Pferd toll und rennt in die Straßen von Deadwood, in denen es Seth Bullocks Sohn verletzt. Die letzte Einstellung zeigt aus der Vogelperspektive, wie der Junge bewusstlos auf dem Boden liegt, Blut läuft aus seiner Nase. 158 So sagt zum Beispiel Dan Dority, einer von Swearengens Leuten, als er von ihm den Auftrag erhält, Tim umzubringen: „I’d look for Trixie for danger before I’d look to Tim.“ Worauf Swearengen nur antwortet: „No kidding.“ (Deadwood, S1E1, TC 43:34.) Trixie wird ebenso verunsichert als sie Sätze von ihren Kolleginnen mitanhört wie: „She must have done some fancy fucking to keep Al from killing her.“ (Deadwood, S1E1, TC 46:25.)

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Abbildungen DW2–10: Ehevollzug inklusive Macht- und Pistolenspiel

Abb. DW1, TC 57:08, S1E1

Abb. DW2, TC 57:12

Abb. DW3, TC 57:19

Abb. DW4, TC 57:22

Abb. DW5, TC 57:45

Abb. DW6, TC 58:07

Abb. DW7, TC 58:15

Abb. DW8, TC 58:24

Abb. DW9, TC 58:29

Erneut hebt allein die Inszenierung diese Sequenz als bedeutend hervor. Vor allem das Fehlen von Musik und Sprache lässt die Akzentuierung von verschiedenen Objekten und Details (Revolver und Gesichtsausdruck) durch die verschiedenen Einstellungsgrößen zu und betont die Mimik als offen für Interpretationen. Diese Hervorhebung führt hier zu einer Vieldeutigkeit, die den vorausdeutenden Cliffhanger auszeichnet: Zum einen erscheint ein Wendepunkt oder eine Eskalation möglich ‒ Swearengen hat seine Waffe noch immer unter der Bettdecke, Trixie legt ihre direkt neben sich auf den Nachtisch. Keiner der beiden scheint dem anderen zu vertrauen. Die ganze Sequenz wirkt nur wie ein vorläufiger Waffenstillstand. Zum anderen ist die Sequenz wie eine seltsame Art von Eheschließung zwischen Prostituierter und ihrem Zuhälter inszeniert. Einerseits bietet Trixie sich Swearengen körperlich an: Sie zieht sich aus und legt sich nackt auf seine Brust, unterwirft sich bewusst ihrem starken Beschützer und Versorger. Andererseits behält Trixie ihren eigenen Revolver und damit ihren Willen. Sie zeigt Swearengen offen, dass sie eine Waffe trägt und diese nur für den Geschlechtsakt ablegt. Der Revolver steht besonders im US-amerikanischen Westen dieser Zeit und dem Western-Film ‒ an dessen Genremerkmalen die Serie sich immer wieder abarbeitet ‒ für männliche Selbstbehauptung und Macht. Trixie legt ihn genau an die Stelle, an der vorher Swearengens Waffe lag ‒ sie nimmt also bildlich denselben Platz in Anspruch. Trixie nutzt die Vorteile des privaten und geschlossenen Raums, in dem Swearengen nicht den anderen Angestellten seine Stärke demonstrieren und Trixie dementsprechend für ihren Ungehorsam bestrafen muss.

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Sie zeigt ihm deutlich, dass sie ihn vor anderen nicht in Frage stellen wird, seinen Schutz sucht, aber weiterhin eigenständig bleibt. Mit dieser raffinierten Mischung aus Verführung, Unterwerfung und Selbstbehauptung bekommt sie ihren Willen. Wie sich später zeigen wird, erlangt sie mit der ‚Eheschließung‘ einige Privilegien, und ein Stück weit erobert sie das Herz von Swearengen.159 Alle anderen Prostituierten befriedigen Swearengen immer nur oral, sind damit „cocksuckers“, wie er verallgemeinernd alle seine Frauen außer Trixie nennt ‒ sie hingegen teilt das Bett mit ihm.160 Die Situation besteht aus einer als nur vorläufig gekennzeichneten Entspannung, die eine kommende, beinahe fortwährende Spannung zwischen den Figuren bereits andeutet. Die ganze Serie über bleibt die Beziehung der beiden eine aufgeladene Hass-Liebe. Entscheidende Momente dieser Beziehung sind Inhalt weiterer Cliffhanger.161 Beispiel 2 Bei einem Überfall auf eine reisende, kaum englisch sprechende Siedlerfamilie, der von den Verbrechern als Indianerattacke hingestellt wird, stirbt die ganze Familie bis auf die junge Tochter, die sich unter einer Kutsche versteckt und seitdem nicht mehr spricht ‒ aufgrund des Schocks und mangelnder Sprachkenntnisse. Die aus wohlhabenden Kreisen stammende Witwe Alma Garret nimmt das Kind auf. Das Kind stellt für die Banditen eine Gefahr dar, denn es könnte später erzählen, dass die Mörder keine Indianer waren. Für Swearengen wäre eine solche Aussage gefährlich, da er diese Männer gelegentlich anheuerte. Zudem hat Swearengen das Goldclaim im Visier, das der Witwe Garret gehört. Deshalb schleust er Trixie als Kindermädchen ein, damit sie ihm von den Plänen der Witwe berichtet. Trixie jedoch erhofft sich, durch die Witwe Garret aus Deadwood und von Swearengen fort zu kommen. Als sie erkennt, dass dieser Plan zwecklos ist ‒ auch weil sie an ihrem Zuhälter hängt ‒, rät sie Alma Garret, die Parzelle an Swearengen zu verkaufen, damit dem kleinen Mädchen

159 „Trixie will share Swearengen’s bed exclusively and become not simply a bed buddy but his confidante […] echoing a strangely domestic and martial relationship between pimp and whore.“ Williams: „Pimp and Whore“. In: Lavery (Hg.): Reading Deadwood, 2006, S. 151. 160 Vgl. ebd., S. 148. 161 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang bspw. das Ende der Staffel, in der Trixie und Swearengen fast versöhnt erscheinen. Swearengen schaut von der Treppe des ersten Stocks auf seinen Saloon und sieht verträumt zu, wie die körperlich eingeschränkte Putzfrau mit dem Arzt tanzt. Als Swearengen auch Trixie unten erblickt, schaut sie ihn fast ein wenig verliebt an, lächelt, vermutlich auch, weil sie seinen sentimentalen Moment bemerkt. Er blickt wütend und gebieterisch zurück ‒ augenblicklich verschwindet aus Gehorsam ihr Lächeln. (Deadwood, S1E12, TC 55:57–56:45.)

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nichts passiert. Sie verrät Alma Garret die Pläne Swearengens und legt ihr eine Entscheidung nahe: „I have to go back to the Gem [d.i. das Bordell von Swearengen]. He’s [d.i. Swearengen] waiting for me now, to tell him your and Mr. Bullocks thinking about selling the claim. And I won’t be able to lie anymore. […] And with choices bigger elsewhere and nothing I can tell to hold you here, maybe you better think about selling and getting out. […] She’s [d.i. das kleine Mädchen] about to say her name, you know. She named her sisters and her folks. Think of selling. If you took her away, you could hear her say it.“162

Daraufhin verlässt Trixie das Zimmer. Alma Garret schaut ihr hinterher und seufzt dann bedeutungsvoll. Trixie fasst in ihrer Aussage das Dilemma beider Frauen zusammen. Die Witwe Garret kann verkaufen und Deadwood verlassen ‒ nur steht sie dann nicht nur ohne Mann, sondern auch ohne festes Einkommen da. Zudem wäre sie dann nicht in der Nähe von Seth Bullock, in den sie sich verliebt hat. Wenn sie in Deadwood bliebe und nicht verkaufte, könnte sie aus dem Goldclaim ein festes Einkommen beziehen. Sie brächte dann aber sich selbst und vor allem das kleine Waisenkind in große Gefahr. Die letzten Sätze deuten auf eine Bedrohung hin: Wenn die Kleine wieder in der Lage ist, ihren eigenen Namen auszusprechen, dann ist nicht mehr auszuschließen, dass sie auch die Mörder benennen kann: „If you took her away, you could hear her say it.“ Auch in diesem Beispiel ist kein Wendepunkt gegeben, sondern die Abschlusseinstellungen weisen auf die vielfältigen Schwierigkeiten hin, die für Alma Garret entstehen ‒ welche Entscheidung sie auch immer trifft. Trixie wendet sich kurzzeitig wieder Swearengen zu, aber der Zuschauer weiß aus der ersten Folge, dass diese Entscheidung nicht endgültig ist, sondern weitere Probleme in sich birgt. Das „Getting out“, das Trixie der Witwe empfiehlt, wünscht sie sich selbst ‒ und hängt gleichzeitig an ihrem Zuhälter Swearengen. Beispiel 3 Die Prostituierte Joanie macht sich selbstständig und eröffnet ein Bordell ‒ jedoch ohne männlichen Schutz. Wenig später werden einige ihrer Mädchen von einem psychopathischen Kunden umgebracht. Joanie gibt den restlichen Mädchen ihr letztes Geld, damit diese die Stadt verlassen und irgendwo neu anfangen können. In der Hoffnung auf Unterstützung und Schutz geht sie zu ihrem alten Arbeitgeber, der ein großes Bordell in Deadwood führt. Er macht ihr aber klar, dass sie von ihm nur Hilfe bekommt, wenn sie ihre Unabhängigkeit aufgibt. Am Ende der Folge zeigt eine Totale sie allein und einsam in ihrem halbdunklen, leeren Bordell [Abb. DW10]. Es 162 Deadwood, S1E7, TC 44:57–46:45.

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bleibt unklar, ob sie ihr Schicksal erträgt und auf Freier wartet oder fürchtet, der gewalttätige Kunde könne zurückkehren und sie ebenfalls umbringen. Ohne Dialog steht das Bild allein wie ein Ausrufezeichen am Ende der Folge. Es beschreibt die momentane, schwierige Situation von Joanie und deutet zugleich Entwicklungen, Entscheidungen und schwere Zeiten an, die möglicherweise ihr bevorstehen. Abbildung DW10: Einsamkeit und mögliche Gefährdung

Deadwood, S2E7, TC 48:04.

Wie Kathleen Smith in ihrem Aufsatz „Whores, Ladies, and Calamtiy Jane“ herausarbeitet, sind die Frauen in der Geschichtsschreibung des US-amerikanischen Westens jener Zeit nur eine Randnotiz.163 „Because newspapers document the official facts, not the informal ones, historians who rely solely on newspapers in their research perpetuate the invisibility of women. In Victorian culture, a womanʼs name and picture never appeared in newspapers, with the possible exceptions of her marriage and her death. […] [O]ral histories have been a major source of documenting women’s informal community activities.“164

Die Serie zeigt zum einen die wichtigen Aufgaben, die Frauen bei der Zivilisierung des Westens übernahmen: Die Witwe Garret beispielsweise behält durch geschicktes Taktieren ihren Goldclaim und finanziert mithilfe ihres Vermögens zu einem Großteil die erste Bank von Deadwood. Zum anderen zeigt Deadwood, dass die Frauen der damaligen Zeit selbst in der gesetzlosen und von Konventionen freieren western 163 Vgl. auch: Jameson: „Women as Workers, Women as Civilizers“. In: Armitage u. a. (Hg.): The Womenʼs West, 1987, S. 145–164. 164 Smith: „Whores, Ladies, and Calamity Jane“. In: Lavery (Hg.): Reading Deadwood, 2006, S. 81.

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frontier immer noch in ein enges gesellschaftliches Korsett gezwängt waren. Gleichzeitig wird jedoch deutlich, wie geschickt die einzelnen Frauenfiguren der Serie um diese Einschränkungen herum manövrieren: Trixie beispielsweise behauptet sich zuletzt in der ersten Folge gegen ihren Zuhälter Swearengen und erlangt noch mehr Privilegien. „[T]he gender bias underlying Western history has led us to believe that stalwart men and incidental, unimportant women built the West. […] The women of Deadwood operate within an extremely limited set of options, but the series’ genius is that it is subtle enough to show an interesting variety of strategies women adopt to maneuver their way through those narrow options. […] In Deadwood some of the women […] are given the opportunity to discover who they want to be and choose their identities. As Trixie tells Alma, ‚Few choices are ours to make. Others should stay the fuck out of the process‘.“165

Die Frauenfiguren in Deadwood sind Teil der Neuinterpretation dieser Zeit. Sie machen dem Zuschauer bewusst, dass sie trotz der selbst noch an der western frontier geltenden engen Rollenvorgaben wesentlichen Anteil an der Transformation der chaotischen Siedlung zur geordneten, zivilisierten Stadt hatten und damit an der ‚Genese der USA‘. Die vorausdeutenden Cliffhanger verdeutlichen die schweren Entscheidungen der Frauen in Deadwood, die im Grunde härter sind als die der Männer, weil ihnen nur wenige Optionen zur Wahl stehen und sie immer auf intelligente Weise die aggressiveren und mehr Macht besitzenden Männer umgehen mussten. Vor allem die vorausdeutenden Cliffhanger machen diese Entscheidungen, Entwicklungen und Zusammenhänge der Frauenfiguren dem Zuschauer bewusst. 3.3 Resümee Beide HBO-Serien erzählen ihre Geschichte in Genres, die nicht vom Format der Fortsetzungs-Fernsehserie geprägt wurden. Das police procedural ist das häufigste Genre der network-Episodenserie,166 der Western ist vor allem das Genre zahlreicher berühmter Spielfilme. The Wire und Deadwood nutzen die spezifischen Qualitäten, Unterschiede und Merkmale des Pay-TV-Senders HBO ‒ vor allem die Möglichkeiten einer fortgesetzten Erzählweise ‒, um diese Genres neu zu beleuchten und sich gleichzeitig mit der Vorprägung des Zuschauers auseinanderzusetzen und mit dessen Genrewissen zu spielen. The Wire zeigt statt der in 45 Minuten Erzählzeit darstellba-

165 Ebd., S. 90. 166 Der Begriff ‚police procedural‘ beschreibt Kriminalgeschichten, in denen der Fokus auf der Arbeitsweise der Polizei in der Lösung eines Falls liegt. Vgl. Dove: The Police Procedural, 1982, S. 15.

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ren Lösung eines Einzeltäter-Verbrechens die Mühe und Langsamkeit der Polizeiermittlungen, gliedert die Verästelung und Multikausalität des Verbrechens auf. Deadwood spürt statt Revolverhelden und Duellen dem Werden von Zivilisation nach und räumt den Frauen dabei differenzierte und vielschichtige Rollen ein. In der ebenfalls wie die Serie benannten Folge „The Wire“ ‒ ein Indikator für die in dieser Folge behandelte Reflexion der ganzen Serie auf sich selbst ‒ sagt der Polizist Freamon zu einem Kollegen über die Beweismittelsicherung: „All the pieces matter.“167 Dieser Satz gilt für beide Serien: Das Verbrechen in Baltimore und die Zivilisierung des Westens lassen sich nur in einem größeren Kontext erklären und lesen. Es geht um das Ganze, das aus vielen Teilen besteht. Der Inhalt ist nicht wie bei einem (Western-)Film oder einer (Kriminal-)Episodenserie in sich geschlossen und verständlich, sondern alles hängt mit allem zusammen. In The Wire geht es dabei eher um ein Zusammensetzen der Puzzlestücke, um eine Bild-Werdung des Ausmaßes, der Komplexität des Verbrechens und seiner Hintergründe; bei den Figuren und der Handlung sind zyklische Sinnlosigkeit, eine Verfestigung der Strukturen und sozialen Positionen erkennbar. Dagegen handelt Deadwood von Prozess und Entwicklung. In beiden Serien bedingen sich inhaltlicher Kontext und fortgesetzte Erzählweise: Es ist nicht nur inhaltlich jedes Element wichtig, sondern strukturell auch jedes „piece“, jede Folge. Das Einander-Bedingen von Bestandteil und Ganzem sind der Fortsetzungsserie immanent ‒ diese Möglichkeiten werden in beiden Serien durch eine Verschmelzung von Struktur und Inhalt genutzt. Demgemäß sind auch die Erzähltechniken nicht auf kurzfristige Spannungserzeugung ausgelegt ‒ die Serien sollen sich bewusst auch in diesem Punkt von networkSerien unterscheiden. So wie die Erzählungen einzelner Figuren in einen größeren Kontext eingebettet werden, steht auch bei der Spannungserzeugung ein längerer Erzählbogen im Fokus. Der am häufigsten vertretene Cliffhangertyp ist dementsprechend sowohl in The Wire als auch in Deadwood der vorausdeutende. Die Erzähltechnik unterstützt den strukturellen und thematischen Ansatz beider Serien. Die Elemente der Spannungserzeugung und die Spannweite erfordern eine aufmerksame Rezeption, da die vorausdeutenden Cliffhanger fest in die Fortsetzungserzählung eingebaut sind. Das Latente ihrer Spannung ‒ Teil ihrer Spezifik ‒ umfasst Vergangenheit und Zukunft der erzählten Zeit. Zentrale Konflikte, Entwicklungen, Themen der Staffel oder sogar der ganzen Serie werden mithilfe der Positionierung am Folgen-Ende betont. Der Reiz von The Wire und Deadwood ergibt sich aus den langen Erzählbögen. Essentieller Teil dieser Erzählweise ist der vorausdeutende Cliffhanger, weil er auf die größere und weiter gefasste Entwicklung der Erzählung gespannt macht und nicht (nur) auf das direkt Folgende. Der vorausdeutende Cliffhanger hat vor allem eine charakteristische Konstante: Es werden in der Inszenierung immer ein oder mehrere Elemente hervorgehoben, sei 167 „The Wire“. In: The Wire, S1E6, TC 14:24.

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es durch Geräusche (Polizeisirene), menschliche Laute (Seufzen), eine ungewöhnlich geweitete Kameraperspektive (Hafengelände/Bordell), durch das Verharren auf einem Objekt (dem Foto der Dockarbeiter) oder der Mimik (Swearengen). Die Inszenierung tritt in den Vordergrund, markiert deiktisch etwas und verleiht ihm Bedeutung. Ungewöhnliche Kamerafahrten, lange Verweildauern und plötzliche Schnitte heben Elemente aus dem sonstigen Fluss der Erzählung, der üblichen Montage der Serie heraus und schenken ihm damit besondere Aufmerksamkeit ‒ kurz bevor die Erzählung unterbrochen wird. So wird beispielsweise besonders häufig als allerletzte Äußerung an Folgen-Enden von Deadwood geseufzt.168 In diesem Kontext ist eine solche Gefühlsregung Ausdruck eines vorausdeutenden Cliffhangers: Der jeweiligen Person wird eine nahende Gefahr oder die Notwendigkeit eines Entschlusses bewusst. Das Seufzen weist auf Kommendes hin und ist gleichfalls Ausdruck der bisherigen Entwicklung: Die Entscheidung, der Wendepunkt oder die Bedrohung sind noch nicht gegenwärtig – aber das bisherige Geschehen deutet sehr stark darauf hin, dass es dazu kommen wird. Diese Erwartung des voraussichtlich Unvermeidbaren verursacht Spannung. Anhand der Serien The Wire und Deadwood konnte beispielhaft ausgearbeitet werden, dass der vorausdeutende Cliffhanger in der Pay-TV-Serie der vorherrschende Erzähltyp ist. Für die Pay-TV-Serie gilt, was sich auch beim Feuilletonroman gezeigt hat: Die Erzählkunst kann sich frei von einem beengenden ökonomischen Raster entfalten. Ein ständiger wirtschaftlicher Druck, immer auf den nächsten Einzelverkauf gerichtet, ist nicht gegeben ‒ dementsprechend muss auch kein steter und nur kurzfristig ausgerichteter Rezeptionsimpuls in die Narration eingebaut werden. Der Rezipient muss nicht am Ende jeder Folge zur Rezeption animiert werden ‒ er hat das Programm bereits abonniert, die DVD-Box bereits bezahlt. Es ist auch kein schnelles Erfassen der Spannungselemente nötig. Vielmehr muss das Programm Niveau beweisen, dem Anspruch auf eine künstlerische Vision mit Weitblick entsprechen. Das bedeutet nicht, dass die wichtigste Erzähltechnik der seriellen Fortsetzungs-Narration missachtet werden kann: Auch ‒ beziehungsweise ‒ gerade in diesen fortgesetzt erzählenden Werken müssen narrativer Sog und Spannung erzeugt werden. Dabei gilt es, den Cliffhanger elaboriert, wohl dosiert und innovativ einzusetzen. Kunstvoll kann erzählt werden, da der Cliffhanger aus einer ökonomisch bedingten Kurzfristigkeit befreit ist und stattdessen über eine große Spannweite verfügen kann. Der vorausdeutende Cliffhanger belohnt den aufmerksamen und treuen Rezipienten mit einer langfristigen und kunstvoll gestalteten Spannungserzeugung. Besonders bei Deadwood stellt sich die Poesie der Serie durch eine große Abwechslung der Gestaltungsmöglichkeiten von Folgen-Enden ein. Einige Enden ‒

168 Siehe: S1E5, S1E7, S2E2, S2E6, S2E22 etc.

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strategisch in der Mitte einer Staffel positioniert ‒ sind Wendepunkte. Sie sind deutlich, losgelöst von anderen Folgen, als Cliffhanger zu identifizieren. Andere Enden haben keinen finalen Spannungsmoment, sondern schließen versöhnlich oder mit einer heiteren Note. In der dritten Art von Enden wird die bisherige Geschichte einbezogen und kommende Entwicklungen deuten sich an. Anders als Schahrasad vertraut die Serie dem Rezipienten, dass er nicht ‚sofort untreu‘ wird, wenn die Erzählung einmal am Ende der Nacht abgeschlossen wird. Stattdessen setzt die Serie darauf, dass der Rezipient die Abwechslung der Gestaltung von Enden zu schätzen weiß. Diese Vielgestaltigkeit macht die Serie, langfristig betrachtet, unberechenbar und entsprechend anregend. Gerade aufgrund der Alternierung von schließenden Enden, enthüllenden und vorausdeutenden Cliffhangern entsteht ein länger anhaltender Sog als bei gefahrensituativen Cliffhangern am Ende einer jeden Folge, wie es bei den Kinoserien meist der Fall ist.169

4. S ERIELLE E RZÄHLTRADITION G AME OF T HRONES

UND

M ISCHTYPEN :

Die sehr erfolgreiche und kostspielige Fortsetzungsserie Game of Thrones von HBO ist die Verfilmung der Fantasy-Buchreihe A Song of Ice and Fire von George R. R. Martin.170 Martin begann als Schriftsteller, war dann aber lange Zeit als Drehbuchautor tätig. Unter anderem schuf er Skripte der Serien The Twighlight Zone und The Beauty and the Beast. In den 1990er Jahren wandte er sich wieder dem Schreiben von Romanen zu, weil er sich durch die finanziellen und narrativen Limitierungen der damaligen Fernsehserien zu sehr in seiner Kreativität eingeengt fühlte:

169 Die Beispiele zeigen auch die Beschreibungsqualität des Begriffs ‚Kommunikationsakt‘. Auch ohne Dialog, ohne Sprechakt der Figuren, vermittelt die Erzählung eine Aussage an den Rezipienten. Während bei der Seifenoper meistens der letzte Sprechakt einer Figur im Vordergrund steht und die Reaktion mit der Enthüllungsmontage hervorgehoben wird, verhält es sich bei den Pay-TV-Serien genau umgekehrt: In beiden HBO-Serien trägt als letzte Aussage das Bild den vorausdeutenden Cliffhanger. (Siehe zur Sprache in The Wire: Toolan: „I Donʼt Know What Theyʼre Saying Half the Time, but Iʼm Hooked on the Series“. In: Piazza u. a. (Hg.): Telecinematic Discourse, 2011, S. 161–183.) Die Spannung wird häufig allein durch diese bildliche Aussage hervorgerufen. Die Serien beweisen damit, dass der ‚Kommunikationsakt‘ gut zur Beschreibung von letzten Aussagen eines Textes und des Cliffhangers funktioniert, selbst wenn weder Sprechakt noch Dialog vorhanden sind. Allein über das Bild oder Geräusche kann ein exklamatorischer oder kommissiver Kommunikationsakt vermittelt werden. 170 Vgl. o. A.: „Im Land der Trolle und Hexen“. In: epd film, 2012 (29), S. 5.

508 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „I was constantly smashing up against the walls of what was possible in film and television.[…] [T]he studio would say, whenever I turned in the first draft of a new script, […] ‚it would cost five times our budget to shoot what’s on the page. You need to lose ten pages…cut twelve characters…turn this huge battle scene into a duel…get down from twelve matte paintings to two…‘ Et cetera.“171

Nachdem sich Martin dem Verfassen von Literatur erneut zuwandte, schrieb er A Game of Thrones, den ersten Band einer fünfbändigen (geplant siebenbändigen) Romanreihe, in der er alle Beschränkungen des Fernsehens hinter sich lassen wollte: „Now I wanted to [...] pull out all the stops. Huge castles, vast dramatic landscapes, deserts and mountains and swamps, dragons, dire-wolves, gigantic battles with thousands to a side, glittering armor, gorgeous heraldry, swordfights and tournaments, characters who were complicated, conflicted, flawed, a whole imaginary world and a cast of thousands. Absolutely unfilmable, of course. No studio or network would ever touch a story like this, I knew.“172

Dass ausgerechnet dieses ‚maßlose‘ Werk als Fernsehserie verfilmt wird, zeigt erneut, wie sehr sich die Stoffe für das Fernsehen, namentlich für die Fernsehserie, seit den 1990er Jahren verändert haben.173 Die Serie spielt in dem fantastischen Reich Westeros, das aus sieben Ländern besteht. In King’s Landing befindet sich der Iron Throne, der Sitz des Königs, Herrscher über die sieben Königreiche. Zahlreiche Familien begehren den Thron – vor allem die Lannisters und die in Verbannung lebende ehemalige Herrscherfamilie Targaryen. Die Familie Stark, die in der Burg Winterfell über den Norden herrscht, unterstützt einerseits den regierenden König Robert Baratheon. Andererseits lebt sie nahe der Mauer und schützt das Reich. Die Mauer wird vornehmlich bewacht von 171 Martin: „Preface“. In: Cogman (Hg.): Inside HBOʼs Game of Thrones, 2012, S. 5. 172 Ebd. 173 Staffel eins spielt an verschiedenen fantastischen Handlungsorten mit unterschiedlichsten klimatischen Bedingungen, die mit zahlreichen Außenaufnahmen gezeigt werden. Der Vorspann versucht, anhand eines Nachvollzugs der in den Büchern vorhandenen Landkarte, die zahlreichen Schauplätze zu verorten. Gleichzeitig macht diese Visualisierung ‒ Zahnräder, die ineinander greifen und auf einem überlebensgroßen Spielbrett Landschaften, Burgen und Städte aus dem Boden erstehen lassen ‒ auch den thematischen Schwerpunkt der Serie deutlich: Alle Figuren und Orte sind miteinander verbunden, die Metapher des Spiels ist der Kampf um die Kronen der einzelnen Reiche. Diese SpielbrettKarte führt neue Schauplätze ein und zeigt die für die jeweilige Folge bedeutungsvollen Handlungsorte. Die Dauer des Vorspanns variiert daher meist von Folge zu Folge leicht. In Folge neun wird im Vorspann bspw. die Brücke „The Twins“ eingeführt, da Teile der Episodenhandlung sich dort abspielen.

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einer eigenen kleinen Armee, den Männern der nightʼs watch. Die Mauer trennt die sieben Länder von einen Gebiet, in dem böse Wesen lauern, die whitewalkers und ein Volk, das von den Bewohnern der sieben Königreiche als wildings bezeichnet wird, sich selbst aber free folk nennt. Im Winter kommen die whitewalkers hervor und suchen ihre Opfer. Eine solche Jahreszeit kann Jahre dauern. Die erste Episode trägt den Titel „Winter is coming!“ ‒ das Motto der Stark-Familie. Die beiden größten Konflikte der Serie (und Buchreihe) sind die Streitigkeiten, Intrigen und Kämpfe um den Iron Throne und die Bedrohung aus dem Norden, hinter der Mauer. Beide Konflikte werden in der ersten Staffel vor allem durch Mitglieder der Starks in Zusammenhang gebracht, da die Familie sowohl die Eindringlinge aus dem Norden abwehrt als auch in die Verwicklungen um die Besitznahme des Iron Throne verstrickt ist. Game of Thrones ist eine HBO-Serie, die, anders als The Wire und Deadwood, jede Folge mit einem Cliffhanger beendet. Die unterschiedlichen Cliffhangertypen werden im Folgenden für die erste Staffel analysiert und mit dem Roman verglichen. 4.1

Die Gefahren-Wende (Folge 1)

4.1.1 Deskription Der zehnjährige Bran Stark, bereits als enthusiastischer Kletterer eingeführt, hat eine Turmruine in Winterfell erklommen [Abb. GOT1]. Durch ein Fenster sieht er, wie Königin Cersei und ihr Bruder Jaime Lannister miteinander schlafen [GOT2–3]. Abbildungen GOT1–6: Paarung aus Enthüllung und Gefahrensituation

Abb. GOT1, S1E1, TC 57:06 Abb. GOT2, TC 57:33

Abb. GOT3, TC 57:46

Abb. GOT4, TC 58:06

Abb. GOT6, TC 58:38

Abb. GOT5, TC 58:35

Die Königin bemerkt den Jungen, Jaime ergreift ihn blitzschnell, ehe er wieder nach unten klettern kann, und fragt ihn nach seinem Alter [GOT4]. (Die Musik bricht ab, allein das Pfeifen des Windes ist zu hören.) Zwei Mal betont die Königin: „He saw

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us.“ [TC 58:04] Nach kurzer Überlegung und der Äußerung „The things I do for love“, [TC 58:30] stößt Jaime den Jungen aus dem Fenster. Die letzte Einstellung – begleitet von einem kurz einsetzenden Geigen-Crescendo – zeigt aus der Froschperspektive Bran, wie er auf die Kamera zustürzt, bis sein Körper sie bedeckt [GOT5– 6]. 4.1.2 Kategorisierung und Analyse Der Cliffhanger dieser Folge ist aus zwei Typen zusammengesetzt: Dem gefahrensituativen und dem enthüllenden. Einerseits ist Bran in Lebensgefahr. Da der Sturz des Jungen aus der Froschperspektive gezeigt wird, bleibt unklar, wie er auf dem Boden aufprallt ‒ ein den Ablauf unterbrechender Faktor wird wirksam. Andererseits gibt es zwei Wendepunkte: Die Entdeckung des Inzestes zwischen Königin Cersei und ihrem Bruder Jaime und dessen Entscheidung, das Kind vom Turm zu stoßen. Aus dieser Tat ergeben sich eine Reihe von Fragen: Werden die Starks entdecken, dass dies kein Unfall, sondern ein Mord(-Versuch) war? Wird Bran noch fähig sein, den Namen seines Mörders zu verraten? Die Gefahren-Wende vereinigt die Merkmale beider Cliffhangertypen. Der Sturz Brans könnte, wenn man den Jungen durch einen erwachsenen Helden ersetzte, auch in eine Tonfilm-Kinoserie der 1930er bis 1950er Jahre passen. Die Enthüllung, dass Schwester und Bruder ein Verhältnis haben und zur Bewahrung dieses Geheimnisses imstande sind, ein Kind umzubringen, könnte hingegen auch ein enthüllender Cliffhanger einer Seifenoper sein.174 4.2

Die Voraus-Wende (Folge 2)

4.2.1 Deskription In der ersten Folge finden Eddard Stark und seine Kinder fünf direwolf-Welpen ‒ der direwolf ist ein wolfsähnliches Fabelwesen, das Wappentier der Stark-Familie. Die Mutter der Welpen wurde von dem Geweih eines Hirschs nach dem Wurf der Jungen tödlich verletzt. Jedes der Stark-Kinder darf einen Welpen behalten. In der zweiten Folge besteht der Cliffhanger aus einer Parallelmontage. Auf der einen Handlungsachse befindet sich Eddard Stark. Entsetzt über den König und die Lannisters, muss er einen der direwolfs töten [Abb. GOT8 & 10]; denn eins der Tiere hat Joffrey, den Sohn des Königs, gebissen ‒ allerdings tat dies der direwolf nur, weil Joffrey sich grausam verhalten hatte. Auf der anderen Handlungsachse liegt der seit seinem Sturz bewusstlose Bran in seinem Zimmer [Abb. GOT7]. Scheinbar zeitgleich zur Tötung des Wolfs öffnet er seine Augen und blickt in einer Großaufnahme hellwach direkt in die Kamera [Abb. GOT 9 & 11]. 174 Bereits in der Vorlage existiert dieser Cliffhanger in Form eines Minicliffs am Ende des 8. Kapitels. Das Geschehen wird in der Serie ähnlich erzählt wie im Roman; die Dialoge sind zum großen Teil wörtlich übernommen. Martin: A Game of Thrones, 1996, S. 85.

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Abbildungen GOT7–12: Kombination aus Enthüllung und Vorausdeutung

Abb. GOT7, S1E2, TC 51:12 Abb. GOT8, TC 51:46

Abb. GOT9, TC 52:10

Abb. GOT10, TC 52:19

Abb. GOT12, TC 52:32

Abb. GOT11, TC 52:21

4.2.2 Kategorisierung und Analyse Bei diesem Cliffhanger handelt es sich erneut um die Kreuzung zweier Cliffhangertypen: Auf der Achse von Eddard Stark haben wir eine Vorausdeutung. Dass er den Schattenwolf tötet, ist weder eine Gefahrensituation noch eine Enthüllung ‒ er hat der Tötung des Wolfes bereits zugestimmt und wird als Ehrenmann zu seinem Wort stehen; die nächsten Momente sind weder gefährlich noch ausgesprochen spannend. Die Inszenierung aber hebt die Tötung des Tieres als sehr bedeutsamen Akt hervor. Das Ereignis wirkt wie eine rituelle Opferung, die Stark für den Frieden zwischen beiden Familien und für seinen König auf sich nimmt; doch tötet er schweren Herzens, gegen seine eigene Überzeugung, das Symbol seiner Familie und zudem auch noch den falschen jungen direwolf.175 Während Stark das Tier ersticht, ist die Kamera ausschließlich auf ihn fixiert [Abb. GOT10], um seine Regungen zu beobachten. Das Tier ist in den letzten Einstellungen überhaupt nicht mehr im Bildkader, als sei Eddard das eigentliche Opfer, als töte er mit diesem Akt seine eigenen Grundsätze. Auf der zweiten Handlungsachse ist ein Wendepunkt vorhanden: Bran erwacht aus seinem Koma. Anscheinend wird er nicht an der Verletzung sterben, sondern die Wahrheit über seinen angeblichen Unfall erzählen. Streng genommen ist der Unterbrechungsmoment auf der Handlungsachse von Eddard ein Binnencliff, da nach ihm noch der zweite Handlungsstrang folgt; dieser wird aber so schnell geschnitten und unmittelbar mit dem zweiten Handlungsstrang parallelisiert, dass eine Kopplung der Erzähltypen entsteht und eine nach Erzähltypen differenzierte Trennung der Handlungsachsen sinnlos ist. Diese Mischform könnte man als Voraus-Wende bezeichnen, da der vorausdeutende und der enthüllende Erzähltyp in einem einzigen Cliffhanger verbunden werden. Die Wirkung des Cliffhangers wird durch die Vereinigung beider 175 Eddard soll den falschen direwolf töten, den von Sansa, weil man Aryas Wolf, der Joffrey gebissen hat, nicht finden kann.

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Charakteristika verstärkt. Die Voraus-Wende ist so inszeniert, als bedingten sich die Bestandteile, als würde Bran erst durch die Tötung des Wolfes aufwachen; es könnte sogar eine Vorausdeutung auf Brans wesentlich später enthüllte Seher-Gabe sein.176 4.3

Der vorausdeutende Cliffhanger (Folge 3)

4.3.1 Deskription In der letzten Sequenz der dritten Folge wird der Fechtmeister Syrio Forel eingeführt. Eddard Stark hat ihn als Lehrer für seine Tochter engagiert. Es herrscht Ausgelassenheit, als Arya die Bekanntschaft mit ihm macht. Die beiden beginnen spielerisch mit kleinen Holzschwertern zu fechten [Abb. GOT13]. Auf der auditiven Ebene unterstützt diese Stimmung ein beschwingter Orchestersoundtrack mit Lyra. Zwei Minuten Erzählzeit verstreichen, bis der Vater den Raum betritt, im Türrahmen stehenbleibt und zunächst leicht belustigt der Fechtstunde zuschaut [TC 54:08]. Abbildungen GOT13–18: Vorausgedeutete Konfrontationen

Abb. GOT13, S3E2, TC 53:34 Abb. GOT14, TC 54:08

Abb. GOT15, TC 54:10

Abb. GOT16, TC 54:15

Abb. GOT18, TC 54:32

Abb. GOT17, TC 54:31

Wenige Sekunden später [ab TC 54:20] wird auf der auditiven Ebene das hölzerne Geräusch des Aneinanderschlagens der Holzschwerter immer metallener und lauter. Bei dieser ‚akustischen Überblende‘ verfinstert sich Eddards Gesicht, auf das die Kamera langsam zufährt [Abb. GOT 17]. Immer wieder wird in der Ranfahrt zu Einstellungen von Arya und Forel gewechselt, wie sie noch immer mit Holzschwertern 176 Auch diese beiden Cliffhanger sind im Roman als Minicliffs vorhanden. Es handelt sich um die Enden des 16. und 17. Kapitels, die in einer Parallelmontage zusammengebracht werden. Die Parallelmontage ermöglicht eine zeitlich verdichtete Darstellung der im Roman getrennt erzählten Handlungselemente ‒ aufgrund der Kombination der zwei unterschiedlichen Roman-Enden in einem Cliffhanger wird außerdem eine Spannungssteigerung und Bedeutungsaufladung erreicht. Ebd., S. 159; ebd., S. 164.

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kämpfen ‒ das metallene Geräusch muss Eddards Phantasie entspringen. Ranfahrt, Crescendo und Verfinsterung von Eddards Miene steigern sich kontinuierlich bis sich das metallene Geräusch sogar mit Kriegsgeschrei mischt und die Einstellungsgröße eine Großaufnahme von Eddards angsterfülltem Gesicht zeigt. Es folgt ein harter Schnitt zum stummen, zwei Sekunden lang schwarzen Bildschirm, auf dem schließlich die Abspannschrift erscheint, begleitet von der erneut einsetzenden Lyra-Musik. 4.3.2 Kategorisierung und Analyse Mit den letzten Bildeinstellungen und vor allem der begleitenden auditiven Ebene wird angedeutet, dass Eddard Stark eine Gefahr ahnt, die in ferner Zukunft zu liegen scheint, aber in seiner Imagination bereits sehr gegenwärtig ist. Im Unterbrechungsmoment ist weder eine Gefahr vorhanden noch erfolgt eine Enthüllung. Die Inszenierung – besonders auf der auditiven Ebene – tritt in den Vordergrund und deutet kommendes Unheil an. Was das imaginäre Geklirr der Schwerter zu bedeuten hat, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Man könnte es als Starks Erahnung eines kommenden Krieges zwischen den Starks und den Lannisters interpretieren, als Ankündigung von Starks Tod oder auch als Hinweis darauf, dass Aryas hier im Spiel mit einem Holzschwert erworbenes Können ihr tatsächlich später mit einem Metallschwert dienlich sein und sie bereits früh Menschen töten wird ‒ in allen drei Fällen ist die Spannweite sehr lang. Der vorausdeutende Cliffhanger besteht aus einer Inszenierung, die auf nahenden Krieg und künftiges Unheil hinweist, ohne konkrete Informationen zu geben und einen ungefähren Auflösungszeitraum anzudeuten. Der letzte Kommunikationsakt, der aus dem Zusammenspiel von Bild und Ton entsteht, ist kommissiv: Unheil droht. Der Grundaufbau der Schlusssequenz entstammt dem Roman: Arya lernt ihren Fechtmeister Syrio Forel kennen. Unverzüglich lehrt er sie die Grundlagen des Fechtens, indem er sie spielerisch herausfordert. Erneut ist ein Großteil der Dialoge wörtlich dem Buch entnommen. Doch nur in der TV-Serie tritt Eddard in das Zimmer, nur hier wird auditiv wiedergegeben, was ihm plötzlich in seiner Imagination widerfährt. Der vorausdeutende Cliffhanger entstammt nicht dem Buch. Da keins der Kapitel des Buches, die für den Inhalt der dritten Folge adaptiert wurden, einen Minicliff enthält, wird die letzte Sequenz der Serienfolge um den vorausdeutenden Cliffhanger ergänzt.177 So wird überaus deutlich, dass jede Folge mit einem Cliffhanger enden soll. Wenn auch die erste Staffel sehr nah am Text des Romans ist, kann man an

177 Eddard hat an einigen Stellen auch im Roman düstere Vorahnungen. Kapitel 4 endet bspw.: „For a moment Eddard Stark was filled with a terrible sense of foreboding. […] He could feel the eyes of the dead. They were all listening, he knew. And winter was coming.“ Ebd., S. 48. Aber diese Stelle scheint sich ‒ anders als der vorausdeutende Cliffhanger der Serie ‒ vor allem auf die Gefahr jenseits der Mauer zu beziehen.

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dieser Stelle sagen: Die Setzung eines Cliffhangers steht über der Treue zum Original. Jedoch gereicht dieses Prinzip einer Cliffhanger-Setzung am Ende jeder Folge der Erzählung keineswegs zum Nachteil: Im Gegenteil, in der Serie wirkt das im Roman bedeutungs- und spannungsarme Ende wesentlich vielschichtiger. 4.4

Vergleich mit der Vorlage

Die meisten Cliffhanger der Fernsehserie finden sich als Minicliffs im Buch.178 Fast alle Kapitel enden auf einem Höhepunkt ‒ doch Drastik und Bedeutung des Cliffhangers in der Serie haben immer mehr Gewicht als in der Vorlage.179 Außer dem vorausdeutenden Cliffhanger der dritten Folge werden für die Cliffhanger der ersten Serienstaffel die drastischsten und spannendsten des ersten Buches ausgewählt und zur Potenzierung der Wirkung teilweise kombiniert.180 4.4.1 Serielle Erzähltechniken in der Buchvorlage Die Bücher der A Song of Ice and Fire-Reihe haben einige aus der seriellen Narration vertraute Bestandteile. Vor den eigentlichen Kapiteln mit der Haupthandlung gibt es in jedem einzelnen Band der A Song of Ice and Fire-Reihe einen „Prologue“. Im ersten Buch wird beispielsweise auf die große Bedrohung durch die whitewalkers hingewiesen, einer Art Zombies, die jenseits der Mauer leben. Eine Gruppe von Männern der night’s watch, welche die Mauer schützen müssen, ist jenseits der Mauer und wird dort von whitewalkern auf grauenhafte Weise umgebracht. Der Prologue 178 Der Cliffhanger der ersten Folge ist bspw. im Buch ein Minicliff. Allerdings beobachtet Bran dort nicht nur den Inzest, sondern erfährt auch einiges von den Intrigen gegen den König, da die Geschwister sich zunächst besprechen. Doch aus dem Fenster stürzt Bran auch im Roman, nachdem das Paar ihn entdeckt hat. Ebd., S. 75. 179 Kapitel sieben endet beispielsweise damit, dass Arya, die heimlich den Jungen bei ihren Schwertübungen zuschauen wollte, zurückkehrt in ihr Zimmer aus Furcht, ihre Amme Septa Mordane hätte ihre Abwesenheit bemerkt: „It was worse than Jon [d.i. ihr Halbbruder] had thought. It wasn’t Septa Mordane waiting in her room. It was Septa Mordane and her mother.“ Ebd. Das Kapitel endet also auf eher leichtem Ton: Vermutlich bekommt Arya für ihr ‚Ausbüchsen‘ nun Schelte von der Amme und ihrer Mutter. 180 Eine Auflistung der Cliffhanger der TV-Serie verdeutlicht im Vergleich mit den Minicliffs des Buches die Dramatik und Drastik: Drei Mal ist der Tod als Folgen-Ende gewählt (E2, E6, E9), als Finalecliff fungieren Tod und Geburt (E13). Zwei Mal wird die Gefangennahme von Hauptfiguren als Cliffhanger gestaltet (E4, E7). Wiederum zwei Mal werden am Folgen-Ende wichtige Charaktere lebensbedrohlich verletzt. (E1, E5). Zwei Mal ist ein inhaltlicher Wendepunkt vorhanden (E2, E8). Alle diese Cliffhanger tauchen auch in der Vorlage auf, nur der vorausdeutende Cliffhanger der dritten Episode weicht von ihr ab.

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endet mit einem gefahrensituativen Minicliff:181 Zuletzt legt der als whitewalker von den Toten auferstandene Waymar Royce seine feinen, kalten und blutverschmierten Handschuhe um den Hals eines einfachen Soldaten der night’s watch namens Will. In der Serie wird dieser Prolog als cold open adaptiert. Für eine Translation muss strukturell in der Serie nichts geändert werden: Ein cold open mit Minicliff ist bereits im Buch als Prolog vorhanden.182 Es deutet auf Grauen und Bedrohung hin, die sich durch das ganze erste Buch ziehen (sie werden mit dem Satz „Winter is coming“ wiederholt vorausgedeutet) und werden auch über die anderen Bücher und Staffeln erhalten bleiben. Eine ebenfalls aus dem Film und besonders der TV-Serie bekannte Erzähltechnik ist der Trailer beziehungsweise teaser. Nach dem eigentlichen Ende eines Buches, dem Appendix, den „Acknowledgments“183 und „About The Author“184 ist eine Ankündigung zu lesen, die eine ganze Seite füllt und sehr der Werbung gleicht, die bereits in zahlreichen Fortsetzungs-Werken der vorliegenden Studie zu finden war: „George R. R. Martinʼs epic fantasy saga A Song of Ice and Fire begins with A Game of Thrones and continues in A Clash of Kings, A Storm of Swords, A Feast of Crowds. Donʼt miss any volume in the series!“ [Herv.i.O.]185

Ähnlich wie in den Fortsetzungsgeschichten der Magazine, zum Beispiel in What happened to Mary?, wird unmittelbar auf die Fortsetzungen hingewiesen und zum Kauf animiert. Auf der gegenüberliegenden Seite ‒ sprich nach der Handlung, dem erklärenden Anhang, den paratextuellen Notizen zum Autor, den Danksagungen sowie der Ankündigung ‒ ist zu lesen: „Now, hereʼs a special preview of the next book in George R. R. Martinʼs landmark series A Clash of Kings the riveting sequel to A

181 Vgl. ebd., S. 11. 182 Keineswegs soll behauptet werden, die Bezeichnungen ‚cold open‘ und ‚Prolog‘ beschrieben dieselben Abschnitte in unterschiedlichen technischen Medien. Ein cold open befindet sich immer vor dem Paratext (daher beim Film auch als pre-title-sequence bezeichnet, vgl. Stanitzek: „Reading the Title Sequence“. In: Cinema Journal, 48 (4), 2009, S. 44–58), der die jeweilige Serie erst ‚beschriftet‘, wohingegen dies bei einem schriftlichen Text kaum vorstellbar ist. Bei einem schriftlichen Text sind die extradiegetischen Schriftfigurationen auf dem Umschlag und dem Deckblatt für den Titel, den Autor usw. fester, vorgegebener Bestandteil der Buchpublikation. Bei einer TV-Serie oder einem Spielfilm hingegen sind diese Teile flexibler setzbar beziehungsweise müssen nicht unbedingt (am Anfang) gezeigt werden. 183 Martin: A Game of Thrones, 1996, S. 836. 184 Ebd., S. 837. 185 Ebd., S. 838.

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Game of Thrones. On sale now“ [Herv.i.O.].186 Es folgt ein fast vollständiges Kapitel, das elfte aus dem folgenden Buch A Clash of Kings. Es werden also sowohl einige Kapitel übersprungen als auch die Erzählperspektive einer neuen Figur (Theon) eingeführt, die bis dahin eine Nebenrolle spielte. Das zusätzliche Kapitel fügt dem eigentlichen Cliffhanger des ersten Buches – der Geburt der Drachen im letzten ‚offiziellen‘ Kapitel – noch einen Cliffhanger hinzu, wodurch ersterer im Grunde zu einem Binnencliff wird. Der kommissive Kommunikationsakt von Theons Vater beendet das hinzugefügte Kapitel: „I pay the iron price. I will take my crown, as Urron Redhand did five thousand years ago.“187 Im folgenden Buch A Clash of Kings ist das Kapitel um einige Sätze länger und endet weit weniger dramatisch.188 Die Erzählunterbrechung hingegen findet nach der Enthüllung der Pläne von Theons Vater und dem kommissiven Kommunikationsakt statt. Außerdem ist das zusätzliche Kapitel samt Cliffhanger gut gewählt, weil der Leser einen Eindruck bekommt, welche Figuren Bestandteil des im Titel genannten Clash of Kings sind: Zu den Königen, die im Folgeband Anspruch auf den Iron Throne erheben und sich darüber in Krieg und Intrige, in den Clash verwickeln, gehört auch Theons Vater. Der Cliffhanger weist auf den Titel Clash of Kings hin und schmückt ihn direkt mit Handlung aus. 4.5 Resümee: Literaturverfilmung mit großer Erzählbreite Die erste Staffel der Serie Game of Thrones vereint in sich alle Vorteile der modernen Pay-TV-Fortsetzungsserie. Sie nutzt die produktionstechnischen Möglichkeiten, da durch das zur Verfügung stehende hohe Budget eine fremde Fantasiewelt überzeugend verwirklicht werden kann. Das Pay-TV hat die Voraussetzungen für die Darstellung von Gewalt und Sex, die Bestandteile der A Song of Ice and Fire-Reihe sind. Die Bedrohung durch die whitewalkers, die unheimliche Atmosphäre, eine brutale, quasi-feudale Gesellschaft ‒ das alles kann ohne Kompromisse dargestellt werden. Auf der translativen Seite müssen keinerlei inhaltliche Abstriche gegenüber der Vorlage gemacht werden. Die Serie erlaubt – aufgrund ihrer Länge – eine sehr genaue Übertragung vom literarischen ins filmische Medium.189 Mit zehn Stunden für die erste Staffel ist so viel Erzählzeit vorhanden, dass sogar einige Szenen und Dialoge hinzugefügt werden ‒ sehr zum Vorteil der Handlung. Die Figuren erhalten durch die

186 Ebd., S. 839. 187 Ebd., S. 854. 188 Vgl. Martin: A Clash of Kings, 2011, S. 186. 189 Häufiger haben Regisseure wie Rainer Werner Fassbinder (Berlin Alexanderplatz) und Todd Haynes (Mildred Pierce nach dem 1941 erschienen Roman von James M. Cain) die Qualitäten einer Fernsehserie für eine gelungene, ‚ungekürzte‘ Übertragung von Literatur auf den Film erkannt.

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zusätzlichen Sequenzen mehr Kontur als im Roman; selbst der Hintergrund von Nebenfiguren wird thematisiert.190 Der Erfolg der Serie und ihre Nähe zur Vorlage haben zu einem gewissen Teil auch mit der Serialität der Romanreihe zu tun. Sie besteht nicht nur aus einer über sieben Bände erzählten Fortsetzungsgeschichte. Auch innerhalb des Werks gibt es unterschiedliche serielle Komponenten wie einen Prolog, Minicliffs, einen Vorabdruck des nächsten Kapitels inklusiver raumgreifender Werbung und eine aus der Seifenoper bekannten Fülle von Figuren. Diese seriellen Muster müssen in der Fernsehserie ‚lediglich‘ aufgegriffen und dem Medium angepasst werden. Wie erkennbar an den zahlreichen wörtlichen und inhaltlichen Übernahmen aus dem Roman, steht die Buchreihe in großer Nähe zum technischen Medium und Format der Fernsehserie und besitzt eine stark auf Serialität ausgerichtete Konzeption. Dass die Übersetzung in ein anderes technisches Medium mit seinen jeweiligen Möglichkeiten ohne große Einbußen gelingt, zeigen auch die Cliffhanger. Die Minicliffs der Vorlage werden für die Cliffhanger der Serie übernommen. Häufiger werden zwei Minicliffs des Romans in der TV-Serie zu einem Cliffhanger kombiniert. In ihrer Konzeption, jede Folge mit einem unterbrochenen Spannungsmoment zu beenden, kann die TV-Serie Game of Thrones als der fortgesetzten Kinoserie verwandt gesehen werden. Jedoch ist der Einsatz der Cliffhanger wesentlich abwechslungsreicher und in der Grenzverwischung von Erzähltypen postmodern. Zum einen finden sich innerhalb der ersten Staffel nicht nur gefahrensituative Cliffhanger, sondern alle Erzähltypen. Zum anderen werden Erzähltypen gekreuzt. Es entstehen Mischformen, die sowohl Vorausdeutung als auch einen Wendepunkt oder sowohl Gefahrensituation als auch Enthüllung bieten. Diese vielschichtige Spannungserzeugung zeigt sich auch in der zeitlichen Relevanz, da das eine Cliffhanger-Element eine kurze, das andere eine lange Spannbreite bietet. Von der Kinoserie übernimmt die Serie die akute Gefährdung des Helden, kombiniert den Typus des gefahrensituativen Cliffhangers aber mit einer Enthüllung (Episode 1). Vom Fortsetzungsroman übernimmt die Serie vorausdeutende Cliffhanger, die Unheil und Gefahr ahnen lassen, den Zuschauer zu einer Antizipation anregen (Episode 2 und 3) und kombiniert sie mit einer Enthüllung (Episode 2). Diese Mischformen sind eine Weiterentwicklung der bisherigen Cliffhangertypen. Sie vereinen die Kinoserien-, Seifenopern- und Literaturtradition des Cliffhangers.

190 Bspw. erhalten die Figuren Baelish (S1E7, TC 09:25–14:20), Pycell (S1E10, TC 33:21– 36:00) und Lord Varys (S1E10, TC 36:00–37:47) Sequenzen, in denen teilweise genauer als im Buch auf ihrer Beweggründe eingegangen wird. In der ersten Staffel (S1E5) gibt es im Unterschied zu den Büchern auch einen längeren Dialog zwischen Robert Baratheon und seiner Ehefrau, der sehr differenziert ihre Ehe beleuchtet.

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5. Z EITSPRÜNGE

UND

P OSITIONSWECHSEL

5.1 Der proleptische Minicliff mit ergänzendem Auflösungsmoment: Alias Alias ist eine nur mäßig erfolgreiche network-Serie des creators J.J. Abrams,191 die sich vor allem dank ihrer aktiven Fangemeinde fünf Staffeln lang halten konnte. Sie handelt von der Doppelspionin Sydney Bristow. Im Vordergrund steht der Wettstreit verschiedener Agentenorganisationen, die mit der CIA um die Vorherrschaft im Informations- und Technologiesektor kämpfen. Zur Zeit der Erstausstrahlung galt Alias in verschiedener Hinsicht als innovativ.192 Der Spannungsaufbau der Folgen und Staffeln ist für eine damalige network-Serie komplex, da auf zahlreiche fortlaufende Handlungsstränge gesetzt wird: Meistens wird der innerhalb der jeweiligen Episode behandelte Fall am Ende abgeschlossen, bleibt aber zugleich relevant für einen größeren Handlungsbogen und erzählerischen Rahmen. Auch der Umgang mit erzählter Zeit ist vielschichtig, da sowohl zahlreiche Ana- als auch Prolepsen stattfinden. Zusätzlich werden die unterschiedlichsten Genres vermischt,193 da die Serie auf eine sehr an die Seifenoper erinnernde komplexe Verflechtung des Figurenensembles setzt, aber auch Spionage- und Actionelemente besitzt und darüber hinaus ein „mythological storytelling“ verwendet: 194 Vor allem in den späteren Folgen bietet die Suche nach Artefakten von Milo Rambaldi – eine Mischung aus Leonardo da Vinci und Nostradamus ‒ einen weit gespannten Mystery- und Science-Fiction-Handlungsbogen.195 Diese eigene Mythologie, fortgesetzt und mit zahlreichen Erzähltechniken und in zeitlichen Sprüngen erzählt, aktivierte eine sehr loyale Fangemeinde.196 191 Vgl. Nirmalarajah: „Narrative Komplexität, das Melodrama und die Alias-Clipshow“. In: Eichner u. a. (Hg.): Transnationale Serienkultur, 2013, S. 154. 192 Einen Hinweis dafür, dass die Serie damals als innovativ galt, sind auch die Gast-Auftritte zahlreicher Filmstars (Isabella Rossellini, Roger Moore u.a.) und Filmregisseure. Vor allem wurde die Serie durch die Auftritte von Quentin Tarantino (S1E12‒13 und S3E13) und David Cronenberg (S3E9‒10) ‚geadelt‘. 193 Vgl. ebd. 194 Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 159. 195 Vgl. Zinder: „Syndey Bristowʼs ‚Full Disclosure‘“. In: Abbott u. a. (Hg.): Investigating Alias, 2007, S. 40–54. 196 Vgl. Robson: „Accusatory Glances“. In: Abbott u. a. (Hg.): Investigating Alias, 2007, S. 147–161. Auch in der nachfolgenden Serie von J.J. Abrams, Lost, findet sich diese Verbindung von mythologischer Aufladung des Inhalts; beides wird dort noch exzessiver und komplizierter eingesetzt. Bei Lost führte diese Wechselwirkung aus narrativer Komplexität, Genrevermischung und Erschaffung einer eigenen Mythologie zu einer noch zahlreicheren Fanschar und einem entsprechend größeren Erfolg als bei Alias. Abrams war

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5.1.1 Deskription Die Folge „Authorized Personnel Only: Part 1“ (S4E1) beginnt mit einem langen cold open [bis TC 14:03], das aus drei Sequenzblöcken besteht. Sequenzblock 1 findet in einem Zug statt [TC 00:00‒05:52]. In der ersten Einstellung der vierten Staffel tritt Sydney aus dem großzügigen Badezimmer dieses Zuges heraus in die zugehörige Suite. Sie betört einen Chemiker, damit dieser ihr einen Behälter mit einem instabilen Isotop zeigt, für dessen Transport er verantwortlich ist. Kaum hat sie den Behälter gesehen, schaut sie kurz verwirrt, schlägt den Chemiker dann bewusstlos und flüchtet mit dem Koffer. Ein bulliger Bodyguard entdeckt und jagt sie. Es kommt zum Kampf in einem der Gepäckwagons [Abb. AL1]. Sydney fällt aus der Tür, kann sich aber an einem aus dem Zug baumelnden Gepäcknetz festhalten [Abb. AL2]. Zusätzliche Spannung entsteht dadurch, dass der Zug gerade über eine sehr lange Brücke fährt, Sydney also tief fiele [Abb. AL3]. Genüsslich schneidet der Bodyguard vom Gepäcknetz einen Riemen nach dem anderen mit seinem Messer durch. Auf der auditiven Ebene gibt es sowohl die Geräusche des Zuges und der Messerschnitte als auch einen Orchester-Score. Das Klirren des Zuges und des Durchtrennens der einzelnen Riemen scheint fast Teil des an die Musik einiger Hitchcock-Filme erinnernden Soundtracks zu sein, der langsam an Intensität und Lautstärke zunimmt. Detailaufnahmen vom Messer, kurz davor den letzten Riemen zu durchschneiden, und von Sydneys Gesicht, verzerrt aufgrund der Ausweglosigkeit der Situation, sind die beiden letzten Einstellungen [Abb. AL 4‒5]. Abrupt hört die Musik auf, ein harter Schnitt auf einen schwarzen Bildschirm, auf dem „72 hours earlier“ erscheint, darüber nach zwei Sekunden „Shanghai“ [Abb. AL6]. Mit diesem Zwischentitel wird übergeleitet in den zweiten Sequenzblock des cold open [TC 05:52‒11:43]. Das treibende Schlagzeugvorspiel, die einsetzende E-Gitarre des Songs „Cold Hard Bitch“ der Band Jet lassen hörbar werden, dass die Sequenz von einer anderen Stimmung und Situation beherrscht ist: Sydney und ein Kollege von ihr werden von chinesischen Agenten in den Straßen von Shanghai gejagt. Diese Geheim-Operation läuft schief. Ein Undercover-Agent stirbt. Sydney muss ihr Vorgehen nun im dritten Sequenzblock vor einem Komitee in Los Angeles rechtfertigen [TC 11:43‒13:53]. Sie ist über die ihr gestellten Fragen und das ganze Verfahren so erbost, dass die Sequenz und das cold

allerdings vornehmlich an der Konzeption von Lost beteiligt und führte bei der berühmten und äußerst kostspieligen Pilotfolge Regie. Danach stieg er aus der Produktion von Lost aus, um sich der Regie seines ersten Kinofilms Mission Impossible 3 zu widmen. (Später verfasste er für die dritte Staffel noch ein Drehbuch. Vgl. Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 164.) Alias war somit das Sprungbrett für J.J. Abrams, der inzwischen vornehmlich als Filmregisseur von Action-Großproduktionen wie den reboots von Star Trek und Star Wars tätig ist. Die Serie verhalf auch den beiden Hauptdarstellern Jennifer Garner und Bradley Cooper zu Berühmtheit.

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open mit ihrem exklamatorischen Kommunikationsakt beendet wird: „I quit!“ [TC 13:52] Dann erst folgt der Vorspann. Abbildungen AL1–6: Bestandteile des proleptisch-gefahrensituativen Cliffhangers

Abb. AL1, S4E1, TC 04:45

Abb. AL2, TC 05:04

Abb. AL3, TC 05:38

Abb. AL4, TC 5:46

Abb. AL5, TC 05:52

Abb. AL6, TC 05:57

Erst in TC 26:59 taucht der Schriftzug „Belarus“ auf [Abb. AL7]. Es folgt ein ‚verspäteter‘ establishing shot vom Zug, in dem das erste Handlungssegment spielt [Abb. AL8]. Nun erst wird der Chemiker eingeführt und deutlich gemacht, wie es überhaupt zu den am Anfang der Folge dargestellten Sequenzen kommt. Der Zuschauer weiß nun wesentlich mehr über die Umstände des ersten Sequenzblocks, so zum Beispiel, dass der CIA-Partner und ehemalige Liebhaber von Sydney, Vaughn, ebenfalls im Zug ist und mit ihr über ein kleines Sprechfunkgerät in Kontakt steht [Abb. AL9]. In TC 30:29 werden Teile des Sequenzblocks wiederholt [Abb. AL10]. Allerdings werden die Sequenzen dieses Mal durch eine Parallelmontage von Vaughns Handlungsachse im Zug ergänzt: Er gibt sich als der Chemiker aus, den Sydney gerade betört, um auf diese Weise an die Käufer des Isotops zu gelangen, die sich ebenfalls im Zug befinden. Nachdem Vaughn enttarnt worden ist, schickt ein Verbrecher den bulligen Bodyguard auf die Suche nach dem echten Chemiker. Vaughn warnt Sydney über sein Mikrophon: „Sid, they are on to us. Get out of there. They are coming to you. Move.“ [TC 33:00]. Jetzt erst wird verständlich, wieso Sydney bei TC 4:12 beziehungsweise TC 33:00 so irritiert schaut und daraufhin sehr plötzlich den Chemiker bewusstlos schlägt: Sie wurde von Vaughn gewarnt. Dennoch entdeckt der losgeschickte Schläger sie im Gang und es kommt schließlich zum Kampf im Gepäckwagon. Vaughn versucht ebenfalls, sich seines Kontrahenten zu entledigen [Abb. AL11]. Sydneys und Vaughns Kämpfe werden in einer Parallelmontage gezeigt, wobei Vaughns Handlungsachse wesentlich mehr Erzählzeit einnimmt als die bereits gezeigte Auseinandersetzung zwischen Sydney und dem Bodyguard [Abb. AL12‒

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13]. In TC 34:26 schlägt Vaughn schließlich seinen Gegner zu Boden, rennt zu Sydney und kann sie retten [Abb. AL 14, TC 35:03]. Statt Sydney stürzt der Bodyguard aus dem Zug ‒ Vaughn und Sydney umarmen sich [Abb. AL15]. Abbildungen AL7–15: Ergänzender Auflösungsmoment des proleptischen Minicliffs

Abb. AL7, TC 26:59, S4E01

Abb. AL8, TC 27:04

Abb. AL9, TC 27:14

Abb. AL10, TC 28:03

Abb. AL11, TC 33:30

Abb. AL12, TC 34:02

Abb. AL13, TC 34:15

Abb. AL14, TC 34:50

Abb. AL15, TC 35:04

5.1.2 Kategorisierung und Analyse Das cold open besteht aus zwei Minicliffs. Der letzte der beiden entsteht durch Sydneys Aussage, dass sie bei der CIA kündigt ‒ ein enthüllender Minicliff mit einem exklamatorischen Kommunikationsakt. Diese Art von cold open ist bereits in der analysierten Folge von The Guiding Light (1989) behandelt worden und daher bekannt.197 Von anderer Art ist hingegen der unterbrochene Spannungsmoment am Ende der Sequenz im Zug. Als Erzähltyp ist es ein klassisch gefahrensituativer Minicliff: Die Heldin befindet sich in einer scheinbar ausweglosen, lebensbedrohlichen Lage. Ausführlich werden die Bestandteile der Gefahr inszeniert und dem Zuschauer bewusst gemacht: Die Fahrt über eine Brücke, der Blick in den Abgrund, der Bodyguard beim Durchschneiden der letzten drei Riemen, immer wieder parallel geführt zu Sydneys Situation, wie sie hilflos an der Zugtür baumelt, die Beine krampfhaft angezogen, damit sie nicht die Erde berühren. Auch die Auflösung ist bereits aus Kinoserien bekannt: Einige Informationen werden dem Zuschauer beim unterbrochenen Spannungsmoment vorenthalten. Und 197 Siehe Kapitel: VIII. 4.1 „Guiding Light (15.11.1989)“, S. 421.

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noch immer rettet ein Mann die Heldin wie 90 Jahre zuvor bei den Serial-Queens.198 Bei der Auflösung werden die vorherigen Einstellungen durch neue ergänzt, die überhaupt erst Möglichkeiten einer Rettung aufzeigen. Außergewöhnlich jedoch sind Prolepse und Position des Minicliffs gleich zu Beginn der Folge und Staffel. Findet der gefahrensituative Cliffhanger in den Kinoserien immer am Ende der Folge statt, nach dem nur noch der extradiegetische Abspann folgt, so wird hier der Minicliff durch einen Zeitsprung innerhalb der Diegese unterbrochen.199 Ein ganzer Sequenzblock wird vorweggenommen und proleptisch vor die erst nach der Staffel drei einsetzende Erzählzeit gesetzt.200 Der proleptisch-gefahrensituative Minicliff oder Cliffhanger fügt der gewöhnlichen Frage, wie der Held aus der Gefahrensituation entkommen könnte, eine zweite hinzu: Wie kam es überhaupt zu der dargestellten Situation? Weil der Zuschauer mitten in eine gefährliche Lage versetzt wird, ohne dass die Hintergründe und die Entwicklungen bis zu dieser Sequenz deutlich werden, ist von der erzählten Zeit aus betrachtet eine zeitlich nach vorne und zugleich nach hinten gerichtete Spannung vorhanden. Ein wichtiger Zusammenhang der beiden Minicliffs ist, dass die Serie vom network-Sender ABC produziert wurde, also in der Konzeption der Folgen fünf Werbeunterbrechungen eingeplant werden mussten. Zwei Minicliffs mit drei Spannungselementen befinden sich im cold open. Der letztere Minicliff mit Syndeys Kündigung wird bereits fünf Minuten später [TC 18:31] aufgelöst: Sydney hat so getan, als wolle sie kündigen, um auf eine noch geheimere Ebene der CIA zu gelangen. Der Minicliff trägt nur über den Vorspann und die erste Werbeunterbrechung. Die Spannung des ersten proleptischen Minicliffs wird hingegen 30 Minuten aufrechterhalten [TC 35:04]: Aufgrund der Position am Anfang muss der Rezipient fast die vollständige Folge betrachten, also über fünf Werbeunterbrechungen hinweg der Serie treu bleiben. Nicht mehr nur die Erzählpause ist eine Zeitspanne, die es mithilfe eines Cliffhangers zu überbrücken gilt. Für Serien von Sendern, die über Werbung finanziert werden, ist die Ausstrahlung der Reklame ebenfalls eine Spanne, bei der ein Rezeptionsimpuls zu Beginn der Folge eine größere Rezipiententreue gewährleistet. Die 198 Siehe zu den Geschlechterrollen und Klischees in Alias: Coon: „Putting Women in their Place“. In: Feminist Media Studies, Nov. 2010, S. 231–244. 199 Dieser Zeitsprung wird mithilfe einer extradiegetischern Schriftfiguration dem Zuschauer angezeigt. 200 Letztendlich hängt es davon ab, wo sich der Rezipient in der Zeit der Erzählung einordnet. Ich habe mich für die Prolepse entschieden, da die Hintergründe und die Entwicklung zu dem dargestellten Cliffhanger unklar sind, und die Erzählung nach dem Ende der dritten Staffel erst erzählt werden muss, die Narration also vorgreift und erst im Nachhinein erklärt, wie es eigentlich dazu kommt. Außerdem erhält die diegetische Fortsetzungsspanne mehr Erzählzeit als die Inszenierung des Cliffhanger, weshalb ich diese Zeit als Gegenwart der Erzählung sehe.

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zahlreichen Werbeunterbrechungen lassen ständig Pausen entstehen, die den Rezipienten verleiten könnten umzuschalten. Ein Minicliff zu Anfang der Folge und Staffel könnte helfen, den Rezipienten so für die Serie zu interessieren, dass er ihr trotz aller Unterhaltungs-Alternativen folgt.201 5.2 Cliffhanger und proleptische cold open in Breaking Bad Die Serie Breaking Bad des basic cable-Senders AMC handelt von dem 50-jährigen Highschool-Chemielehrer Walter White, der in Albuquerque mit seiner schwangeren Frau Sykler und seinem körperlich benachteiligten Sohn Walter Junior lebt. Trotz seines Berufs als Lehrer kann er seine Familie nur mithilfe eines Nebenjobs in einer Autowaschanlage ernähren. Eines Tages erfährt White, dass er Lungenkrebs im Endstadium hat. Durch Zufall kommt er auf die Idee, die chemische Droge Meth herzustellen, um mit dem dadurch verdienten Geld seine Familie für die Zeit nach seinem Tod abzusichern. Jesse Pinkman, ein ehemaliger Schüler von ihm, der selbst die Droge hergestellt und mit ihr gedealt hat, wird Walters Partner. Eine große Gefahr geht davon aus, dass Walters Schwager Hank bei der DEA (Drug Enforcement Agency) arbeitet. Die Diagnose der Krebs-Erkrankung wird für Walter White zum Wendepunkt: „Son cancer aux poumons est un moteur qui lui permet de prendre sa revanche sur une frustration et une amertume refoulée.“202 Gleichzeitig verändert dieser „Motor“ nicht nur seinen Körper, sondern auch seine moralischen Grundsätze: „Face au cancer, sons corps physique et son corps moral, après avoir abdiqués, se rebellent.“203 Wie viele Fortsetzungsserien seit 1999 hat Breaking Bad einen Prozess zum Inhalt, der mit dem Titel, der Verlaufsform (progressive form) bereits angedeutet wird: breaking bad. Anders als in Deadwood handelt es sich um einen innerlichen Prozess vornehmlich einer Person.204 In der Serie geht es, je nach Sichtweise, um das ‚Böse-Werden‘ oder um das Erwachen und Sich-Bahnbrechen des Bösen in einem Menschen: 201 Vergleichbar ist bspw. der proleptische Minicliff der Episodenserie Castle „A Deadly Affair“ (S03E01, USA 2010) des network-Senders ABC. 202 Boully: „Breaking Bad ou lʼétude (chimique) dʼun changement“. In: Positif: Revue Mensuelle de Cinéma, 2011 (607), S. 109. 203 Ebd. 204 Differenzierter stellt es Lorenz Engell dar: „Die dargestellte Zeit schreitet einerseits unerbittlich voran: der Tod des Helden nähert sich, die Schwangerschaft seiner Frau nimmt ihren Verlauf […]. Andererseits scheint hier jedoch zwischen einen Anfangs- und einen Zielpunkt immer noch ein Zwischenschritt einfügbar zu sein. Vorhaben werden, wie in einer derridistischen Welt der ‚Différance‘, immer verzögert, nie eingelöst, es sei denn, durch Zufall. Jeder Schritt voran auf dem Weg zum Ziel – der Erlangung des nötigen Geldes – ist tatsächlich eine Komplikation, also ein Schritt zur Seite oder ein Treten auf

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Der unauffällige Chemielehrer und Familienvater wird zum mordenden Drogenboss.205 Kennzeichnend für Serien des ‚Quality TVs‘ und des third golden age of television ist eine „mélange des genres (mélodrame, gore, films de gangsters etc.)“.206 Ein starker Gegensatz zwischen sehr dunkler Thematik und einer häufig auftauchenden, schwarzen Komik gehört zu den Besonderheiten der Serie.207 Auch visuell spiegelt sich das wieder: Die Helligkeit der Drehorte, die überwiegend am Tag spielenden Sequenzen, die sehr klare Farbsetzung stehen in direktem Kontrast zur Dunkelheit des Themas: „BB – which has noir themes at its black heart – wholeheartedly embraces the dazzling desert light of its Albuquerque, New Mexico setting, so that these darkest of deeds unfold in an incongruously bright and colourful palette.“208 Vor allem die zweite Staffel zeichnet sich aus durch den proleptischen Gebrauch des cold open. Er wird anhand von zwei Beispielen analysiert. 5.2.1 Deskription (Beispiel 1) Zunächst wird die Verbindung des Cliffhangers der zweiten Folge zum cold open der dritten analysiert. Die zweite Folge der zweiten Staffel endet mit einem gefahrensituativen Cliffhanger: Der gewalttätige Drogendealer Tuco kidnappt Walter und Jesse und fährt mit ihnen in Jesses rotem Auto davon. Die darauffolgende Episode beginnt mit einem cold open. Die Bildeinstellungen werden auf der auditiven Ebene ununterbrochen von einem quietschenden Geräusch begleitet, dessen Ursprung nicht erkennbar ist. Aber von Einstellung zu Einstellung wird es lauter, als suche die Kamera

der Stelle wie in einem Alptraum.“ Engell: „Zur Chemie des Bildes“. In: Freyermuth u. a. (Hg.): Bildwerte, 2012, S. 198. 205 „The Sopranos showed us the ordinariness at the heart of an evil man, BB [d.i. Breaking Bad] shows us something potentially far more challenging: the evil at the heart of an ordinary man.“ Wrathall: „The Secret Life of Walter White“. In: Sight&Sound, 32 (9), 2013, S. 34. 206 Boully: „Breaking Bad ou lʼétude (chimique) dʼun changement“. In: Positif: Revue Mensuelle de Cinéma (2011), S. 109; Siehe auch: Dreher u. a.: Breaking Down Breaking Bad, 2013, S. 39. 207 Der Anteil an dunkler Komik führte unter anderem zur ungewöhnlichen Besetzung von Bryan Cranston als Walter White, der zu jenem Zeitpunkt vor allem aus der Sitcom Malcolm in the Middle (2000‒2006) bekannt war (und der bereits mit dem creator Vince Gilligan bei der X-Files-Folge „Drive“, S6E2 zusammengearbeitet hatte). Vgl. Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 345. 208 Wrathall: „The Secret Life of Walter White“. In: Sight&Sound, 32 (9), 2013, S. 36. Wrathall erkennt in dem bisherigen Werk des creator und einiger Regisseure von Folgen (z.B. John Dahl) zahlreiche Verbindungen zum film noir.

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zusammen mit dem Zuschauer die Quelle des Geräuschs und komme ihr immer näher. Einstellungen von scheinbar wahllos gewählten Objekten werden aneinandergereiht [Abb. BB1‒3]. Dann findet eine Spannungssteigerung statt: Zuerst sieht man Detailaufnahmen von Patronenhülsen [Abb. BB4], schließlich einzelne Teile eines roten Autos. Die letzte Einstellung enthüllt in einer Totalen die Ursache des Geräuschs: Die per Knopfdruck funktionierende Spezialfederung von Jesses Auto bewegt sich hin und her [Abb. BB5]. Nach diesem cold open setzt der Vorspann ein. Im Anschluss daran beginnt die Handlung der Folge mit dem fortgesetzt erzählten Kidnapping ‒ nur wenige Minuten erzählte Zeit (verzögerte Interruptionsspanne) sind vergangen, seitdem Tuco mit Walter und Jesse weggefahren ist. Erst am Ende der Folge wird der zeitliche Rahmen geschlossen: Auf der Ranch von Tuco kommt es zu einer Schießerei zwischen Hank und Tuco, bei der Tuco erschossen wird. Mit den letzten Einstellungen auf das verlassene und wegen seiner automatischen Federung immer noch quietschende Auto aus dem cold open wird die Entstehung der Anfangssequenz in den zeitlichen Rahmen eingeordnet. Abbildungen BB1–6: Puzzleteile einer teilweisen Enthüllung in der Prolepse

Abb. BB1, S2E02, TC 00:10

Abb. BB2, TC 00:22

Abb. BB3, TC 00:32

Abb. BB4, TC 00:54

Abb. BB5, TC 01:05

Abb. BB6, TC 01:10

5.2.2 Kategorisierung und Analyse (Beispiel 1) Das Zusammenspiel zwischen dem Cliffhanger der zweiten Folge und dem proleptischen cold open der dritten hat mehrere Spannungselemente. Der Rezipient hat vor dem cold open zuletzt die Entführung der Hauptpersonen in Jesses rotem Wagen erlebt, den gefahrensituativen Cliffhanger. Nun beginnt die nächste Folge mit der allmählichen Enthüllung, dass etwas während dieser Gefahrensituation passiert, das die zahlreichen Patronenhülsen und Jesses verlassenes Auto erklären könnte. Wieder

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wird eine Prolepse im cold open benutzt, um Spannung auf Zukünftiges hervorzurufen.209 Die Auflösung findet am Ende der Folge statt, die erzählte Zeit hat den Moment eingeholt, der in der Erzählzeit vorweggenommen wurde. Erst am Ende der Episode wird deutlich, wie die Konstellation der abgebildeten Gegenstände im cold open zustande kommt. Das cold open zeigt den Ausgang der Gefahrensituation ‒ jedoch so fragmentarisch und rätselhaft, dass die Spannung durch den enthüllenden Minicliff noch wächst. Der Rezipient weiß, dass das Kidnapping in einem gewalttätigen Konflikt mit vielen Patronenhülsen rund um Jesses Auto endet ‒ mehr aber nicht. Der Beginn der Folge bietet damit eine Fülle von Antizipationsrichtungen, und der Minicliff verursacht durch die teilweise Enthüllung Spannung. So wird die Wirkung des Cliffhangers der letzten Folge noch potenziert und verlängert: Der Rezeptionsimpuls des Cliffhangers für die nächste Folge wird vom Minicliff aufgegriffen und zu einem Spannungsmoment verwandelt, der über die zahlreichen Werbeunterbrechungen des basic cable-Senders AMC hinwegträgt. 5.2.3 Deskription (Beispiel 2) Die letzte Folge der ersten Staffel endet mitten in einem Treffen zwischen Walter, Jesse und Tuco. Die erste Folge der zweiten Staffel beginnt hingegen mit einigen Einstellungen in schwarz-weiß. Gezeigt werden zunächst scheinbar unzusammenhängende Objekte: Ein tropfender Gartenschlauch, eine Laterne, eine Schnecke [Abb. BB7‒BB9]. Dann folgt eine Halbtotale vom Pool der Whites [Abb. BB10], die Detailaufnahme eines (Glas-)Auges im Poolwasser [Abb. BB11], das sich durch die Wasserbewegung langsam zum Rezipienten dreht und schließlich von der Poolfilteranlage angesogen wird [Abb. BB12]. Als letztes Objekt wird die rechte Seite des einzigen farbigen Gegenstands, eines rosa Teddy-Bären, im Wasser gezeigt, der sich ebenfalls durch die Wasserbewegung langsam zur Kamera dreht [Abb. BB13]. So wird die linke Seite des Teddys sichtbar, der das Auge fehlt und die schwarz verbrannt ist [Abb. BB14]. Unterstützt werden die Einstellungen auf auditiver Ebene

209 Christine Lang und Christoph Dreher bezeichnen diese Erzählweise nicht als proleptisch, sondern als „Inversion“: „Die Vorwegnahme einer Schlusssequenz, auf die die Handlung dann zustrebt, ohne dass am Ende diese Szene noch einmal in Gänze zu sehen ist, nennt sich Inversion und ist ein häufig genutztes dramaturgisches Mittel, um Neugier zu erzeugen.“ Dreher u. a.: Breaking Down Breaking Bad, 2013, S. 62 (außerdem S. 100). Die Reihenfolge des Dargestellten kann mit dem rhetorischen Begriff der ‚Inversion‘ dargestellt werden ‒ obwohl dieser Begriff bisher hauptsächlich auf Rhetorik, Sprachanalyse und Lyrik beschränkt war, weshalb zunächst einmal eine Überführung in ein anderes Medium stattfinden müsste. (Vgl. Burdorf u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur, 2007, S. 359.)

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von unheilvollen Geräuschen: einer Sirene [ab TC 00:19], einem dumpfen Klang unter Wasser [ab TC 00:32], dem Blubbern beim Verschwinden des Auges [ab TC 00:46] sowie dem Crescendo eines nicht identifizierbaren Geräuschs, das mit dem Sichtbarwerden der verbrannten Hälfte des Teddys anschwillt [ab TC 01:07]. Nach den titles wird das Treffen zwischen Tuco, Jesse und Walter aus Staffel 1 fortgesetzt. In den Folgen 4, 10 und 13 gibt es eine Fortsetzung des cold open der ersten Folge. Sie setzt jedes Mal beim zuletzt gezeigten Objekt ein: In der ersten Einstellung der vierten Episode beispielsweise sieht man sofort den Teddybären, wie er im Pool schwimmt. Es folgen weitere Objekte: Eine kaputte Brille, wie Walt sie besitzt, Turnschuhe, wie Jesse sie trägt, Leichensäcke vor dem Haus der Whites usw. Die vier cold open ergeben eine zusammenhängende Sequenz. Diese beginnt beim Pool der Whites, zeigt den Teddy, dann mehrere Männer in Schutzanzügen und Gasmasken, wie sie Verschiedenes in Tüten packen und beschriften und einige Leichensäcke vor dem Haus der Whites einsammeln. Im cold open der Finale-Folge werden diese Säcke in einen Transporter mit der Aufschrift NTSB gelegt. Erst mit den letzten Einstellungen der Finale-Folge wird das proleptisch fortgesetzte cold open der vier Episoden aufgelöst und verständlich. Abbildungen BB7–15: Über verschiedene Folgen verstreute Puzzleteile

Abb. BB7, S2E01, TC 00:04

Abb. BB8, TC 00:07

Abb. BB9, TC 00:11

Abb. BB10, TC 00:24

Abb. BB11, TC 00:32

Abb. BB12, TC 00:46

Abb. BB13, TC 01:07

Abb. BB14, TC 01:14

Abb. BB15, TC 01:18

In Folge fünf bezieht Jesse eine neue Wohnung und verliebt sich in seine Nachbarin Jane. Sie erholt sich nach längerem Drogenentzug und wird von ihrem Vater, einem

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Fluglotsen, unterstützt und überwacht. Jane und Jesse werden ein Paar, obwohl der Vater versucht zu intervenieren, und stürzen gemeinsam in eine schwere Drogenabhängigkeit. Beide wenden sich gegen Walter, erpressen ihn mit der Drohung, zur Polizei zu gehen und seine Verbrechen zu verraten, wenn er ihnen kein Geld gibt. Die vorletzte Folge endet damit, dass Walter in die Wohnung von Jesse einbricht und beide völlig high, fast bewusstlos auf dem Bett findet. Bei dem Versuch, Jesse zu wecken, dreht Walter Jane versehentlich so, dass sie an ihrem eigenen Erbrochenen erstickt. Statt ihr zu helfen, lässt Walter dies zu. In der letzten Folge ist Janes Vater zutiefst erschüttert vom Tod seiner Tochter, kehrt aber dennoch zur seiner Arbeit zurück. In der vorletzten Sequenz der Folge wird er gezeigt, wie er, anscheinend in Trance, zwei Flugzeuge ‒ als Striche auf seinem Monitor erkennbar [Abb. BB16] ‒ auf Kollisionskurs bringt. In der anschließenden Sequenz sitzt Walter am Pool im Garten seines Hauses, hört und sieht dann den Absturz der beiden Flugzeuge [Abb. BB17‒18]. Wenige Sekunden später fällt der rosa Teddy in den Pool. 210 Aus der Untersicht im Wasser befinden sich der rosa Teddy und der einen rosa Pullover tragende Walter nebeneinander [Abb. BB19]. Dann wird der Einstellung die Farbe entzogen und Walter entfernt sich. Zurück bleibt der rosa Teddy des ersten cold open in schwarz-weiß [Abb. BB20], bevor der Abspann die Staffel beendet. Abbildungen BB16–21: Zusammensetzung des Puzzles am Ende der Staffel

Abb. BB16, S2E13, TC 43:39 Abb. BB17, TC 43:43

Abb. BB18, TC 44:11

Abb. BB19, TC 45:05

Abb. BB21, TC 44:15

Abb. BB20, TC 45:10

5.2.4 Kategorisierung und Analyse (Beispiel 2) Der Zuschauer sieht auf vier Folgen verteilt eine fortgesetzt erzählte Sequenz, die erst nach der eigentlichen Handlung der Staffel spielt: Männer des NTSB (National Transportation Safety Board) ‒ der US-amerikanischen Behörde für Transportsicherheit, die unter anderem Flugzeugabstürze untersucht ‒ sammeln Beweisstücke ein, 210 Die Einstellung ist eine perspektivische Umkehrung von Abb. BB4, der vierten Einstellung aus dem ersten cold open.

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die verstreut im Pool und Garten der Whites liegen. Diese Gegenstände stammen weder von den Hauptfiguren, noch sind die Leichen dem Zuschauer bekannt. Es sind die Insassen der beiden Flugzeuge, die Janes Vater in den tödlichen Zusammenprall gelotst hat.211 Diese über die Staffel mittels der proleptischen cold open fortgesetzte Spannungserzeugung besteht aus verschiedenen Komponenten. Erstens ist bei jeder dieser Prolepsen ein Spannungsbogen vorhanden. In der beschriebenen Sequenz der ersten Folge wird der Rezipient zunächst im Unklaren darüber gelassen, wo die gezeigten Objekte sich befinden. Die Halbtotale des Pools gibt darüber Auskunft, ohne dem Rezipienten bereits vollkommene Gewissheit zuzugestehen ‒ letztendlich könnte es sich auch um einen anderen Pool als den der Whites handeln. Der Anblick des Glasauges im Pool evoziert Entsetzen, jedoch unmittelbar gefolgt von der Erleichterung, da es sich nur um das Auge eines Teddys handelt. Die Spannung steigt jedoch wieder und endet mit der Enthüllung der verbrannten Seite des Teddys, begleitet vom Crescendo eines nicht identifizierbaren Geräuschs. Alle vier cold open münden in einem (teilweise) enthüllenden Binnencliff. Zweitens bilden diese Binnencliffs eine Spannungskurve: Von der Enthüllung eines lediglich angesengten Teddys steigern sich die cold open zu der Einstellungen einer Brille, wie sie Walt trägt (Ep. 4), zur Enthüllung, dass drei Leichensäcke vor dem Haus der Whites liegen (Ep. 10), und schließlich zu der Sequenz, wie der Wagen wegfährt, dessen Aufschrift NTSB als Letztes zu sehen ist (Ep. 13). Die Antizipationsimpulse und die Spannung werden durch die Fortsetzung der vorweggenommenen Zeitspanne von cold open zu cold open gesteigert. Drittens legt ein sehr komplexes Spiel aus Vorausdeutungen und Hinweisen die Schlussfolgerungen nahe, es handele sich um Gegenstände der Protagonisten: eine Brille, wie sie Walter trägt, Turnschuhe, wie sie typisch für Jesse sind, Walters Auto mit zerstörter Frontscheibe, drei Leichensäcke im Vorgarten. Die Auflösung ist völlig anders und daher noch erschütternder ‒ sie ist Auflösung und enthüllender Finalecliff in einem: Walter hat aus Geldgier und aus der Angst heraus, Jesse und Jane würden ihn anzeigen, Jane sterben lassen. Ihr Tod bringt ihren verzweifelten Vater dazu, zwei Flugzeuge abstürzen zu lassen. Die Einstellungen der vier proleptischen cold open machen das Resultat dieser tragischen Verwicklungen bereits im Vorhinein deutlich. Die letzte Bildeinstellung des rosafarbenen Teddys zeigt nicht nur die zeitliche Rahmenschließung, sondern legt dem Rezipienten zweierlei nahe: Erstens sind Kinder bei diesem Flugzeugabsturz umgekommen. Zweitens ist damit verbunden die bildliche Parallelisierung von Walt im rosa Pullover und dem rosafarbenen Teddy. Der einseitig verbrannte Teddy ist Metapher für die Hauptfigur: Nach außen hin mag 211 Die fortgesetzte Erzählweise der vier proleptischen cold open spiegelt sich in den Titeln der vier Folgen. Zusammen ergeben die Titel: „Seven Thirty Seven“ (Ep. 1) „Down“ (Ep. 4) „Over“ (Ep. 10) „ABQ“ (Ep.13).

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Walt als treusorgender Ehemann erscheinen, in seinem Innern aber hat sich das Böse Bahn gebrochen. Die Cliffhangerformen bilden diesen für die Staffel und Serie entscheidenden allegorischen und zeitlichen Rahmen. Nicht die erste Einstellung der Staffel ist die mit dem Teddy, sondern das letzte Bild des ersten cold open und das letzte der Staffel zeigen den Teddy. Binnencliff und Finalecliff bilden zusammen den Nukleus der zweiten Staffel: Der rosa Teddy bildet die bisherige Entwicklung des Protagonisten und das Ergebnis dieses Prozesses am Ende der zweiten Staffel metaphorisch ab. 5.2.5 Schlussfolgerungen Der creator Vince Gilligan sagt über den Kern der Serie: „The in-between moments really are the story in Breaking Bad – the moments of metamorphosis, of a guy transforming from a good, law-abiding citizen to a drug kingpin. It is the story of metamorphosis, and metamorphosis in real life is slow. It’s the way stalactites grow, you stare at it and there’s nothing, but you come back 100 years later and there’s growth.“212

Aufgrund der Langsamkeit dieser Entwicklung setzt die Serie häufig Prolepsen, die mit einem Mini- oder Binnencliff enden. Die Pilotfolge ist dafür das beste Beispiel: Sie beginnt damit, dass Walter in weißer, altmodischer Unterhose und mit Gasmaske einen alten Wohnwagen in hohem Tempo durch die Wüste New Mexicos steuert ‒ neben ihm sitzt bewusstlos Jesse mit Gasmaske, hinter ihm liegen zwei ebenfalls bewusstlose Männer. Die Gasmaske schränkt Walters Sichtfeld ein, der Wagen landet im Graben. Verzweifelt steigt er aus, plötzlich ertönen Sirenen im Hintergrund. Walter holt eine Pistole aus dem Wohnmobil, steckt sie in den Bund seiner Unterhose, ergreift eine Videokamera. Rasch richtet er unter Tränen einige wenige Worte an seine Familie: „No matter how it may look, I only had you in my heart. [Pause. Sirenen werden immer lauter.] Goodbye.“213 Dann zieht er die Pistole, stellt sich breitbeinig wie ein Westernheld an den Straßenrand und zielt in Richtung der Sirenen. Die Handlung wird von der title sequence unterbrochen und springt dann drei Wochen zurück zu Walters 50. Geburtstag. Seine Familie, sein Beruf als Chemielehrer, sein Zweitjob in der Autowaschanlage und schließlich der Krebsbefund sind die Themen. In dieser Folge und der nächsten ist das Erzähltempo noch schnell, dann verlangsamt es sich. Aber selbst bei dieser hohen Geschwindigkeit wäre ein Einstieg in der Rezeption ohne Prolepse ungemein deprimierend, anstrengend und sehr langatmig: Der Zuschauer hätte zunächst die gewöhnliche Existenz eines 50jährigen, unscheinbaren Jedermann erlebt, die Mitleid erregenden Arbeits- und Lohnbedingungen und dann auch die niederschmetternde Diagnose ‒ gerade bei einem basic cable 212 Vince Gilligan zitiert nach: Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 351. 213 „Pilot“. In: Breaking Bad, S1E1, TC 2:55.

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network hätte vermutlich die Hälfte der Zuschauer in der ersten Werbeunterbrechung den Kanal gewechselt. So aber beginnt die Serie rätselhaft, mit Walts Bekleidung amüsant, spannend, voller Action: Sirenen, Pistole, Bewusstlose, Gasmasken und die Zitierung zahlreicher Genres (Western, Gangster- und Actionfilm) geben genug Spannung vor, sodass der Rezipient den anschließenden, äußerst dunklen und bedrückenden chronologischen Beginn der story aushalten kann. Zugleich weist sie ohne Umschweife in die Zukunft und gibt bereits einen wichtigen Hintergrund des Geschehens preis: Dieser Protagonist hat nichts mehr zu verlieren. Er will sich eher erschießen als festnehmen lassen. Ein proleptisches cold open ist ein ‚Erzähltrick‘, den die Serie häufig einsetzt.214 Die Produzenten sind sich der Langsamkeit der dargestellten Entwicklung der Hauptfigur bewusst und stellen häufig ein Teil-Ergebnis voran ‒ aber in einer vieldeutigen Art und Weise. Die vier fortgesetzten cold open nehmen die Auswirkung der „Metamorphose“ vorweg und erzählen erst dann, wie es dazu kommen konnte und was das jeweilige rätselhafte Ergebnis bedeutet.215 Die Serie setzt damit auf eine wichtige Qualität serieller Fortsetzungsnarration: Nicht nur die Darstellung von Entwicklung und Weiterführung, sondern auch die Auslassungen, die Zeitsprünge, das Vergehen der Zeit, die von Gilligan genannten „in-between moments“ können von einer Fortsetzungsserie erfahrbar gemacht werden. Nicht nur das Dargestellte, sondern auch das Nicht-Gezeigte zwischen Unterbrechungs- und Aufhebungsmoment ist Teil der story. Zugleich ist dieser ‚Erzähltrick‘ deutbar als Teil eines der zentralen Themen der Serie. Walter wählt für seine andere Identität als Drogendealer einen Szenenamen: Heisenberg. Die ‚Zweiseitigkeit‘ des Teddys findet ihre Entsprechung auch in dieser 214 Es gibt zahlreiche Episoden, in denen nur die erzählte Zeit der jeweiligen Folge proleptisch vorweggenommen wird (bspw. S3E5). Darüber hinaus spielt ein proleptisches cold open aber auch für die letzte Staffel eine große Rolle. In S5E1 wird Walter an seinem 52. Geburtstag gezeigt, allein, körperlich sehr verändert, in Albuquerque unterwegs mit einem neuen Auto, in dessen Kofferraum eine riesengroßes Maschinengewehr liegt. Dann beginnt die credit sequence. 215 Es gibt auch einige cold open in der Serie, die analeptisch sind. Bspw. in der S5E14 wird gezeigt, wie Walt beim ersten Kochen der Droge Meth seine Frau Sykler anruft. Er lügt sie an, er komme später nach Hause, weil er noch bei der Inventur der Autowaschanlage helfen müsse. Das Gespräch zwischen den beiden ist liebevoll ‒ Walter erkundigt sich nach seiner gesamten Familie. Im Gegensatz zu den proleptischen cold open wird hier also keinerlei Spannung evoziert, sondern in kurzer Zeitspanne ein Vergleich hergestellt zwischen dem damaligen fürsorglichen Familienvater und dem nun ermordenden Drogendealer. Gleichzeitig ist unter Umständen diese erste harmlose Lüge zur Erklärung seines Zuspätkommens als Beginn der Lügenkonstrukts zu sehen, das zu der Katastrophe in der aktuellen erzählten Zeit mit beigetragen hat.

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zweiten Identität: „A lui seul, Walter/Heisenberg symbolise lʼhybridité du mélodrame et de lʼaventure, caractéristique de tant de séries contemporaines, et rien nʼest plus éloigné de lui que le dédoublement radical dʼun Jekyll/Hyde.“216 Die Tatsache, dass der Chemiker Walter White als Decknamen nicht den eines Chemikers, sondern den des berühmten Physikers und Nobelpreisträgers Werner Heisenberg annimmt, ist bezeichnend. Heisenberg hat an der Formulierung der „Kopenhagener Deutung“ des Welle-Teilchen-Dualismus maßgebend mitgewirkt. Er besagt, dass Elektronen die sich widersprechenden Eigenschaften von Teilchen und Wellen gleichzeitig haben.217 Erstens liegt die Interpretation nahe, dass Walter White sich nicht mehr nur als Walter White sieht, sondern auch als Heisenberg ‒ er empfindet sich nicht mehr nur als Lehrer und Familienvater, sondern auch als Drogenkoch und Gangster, er ist gewisser Weise gleichzeitig Teilchen und Welle. Die Eigenschaften seiner beiden Existenzweisen stehen im Widerspruch zueinander und sind dennoch in einem einzigen Körper vereint ‒ Walter White ist personifizierter Dualismus. Er birgt in sich zwei Identitäten: In der Bildsprache der Serie ist er halb rosaroter und halb verbrannter Teddy. Diese Interpretation steht für Walters bewusste Wahl des Namens ‚Heisenberg‘. Zweitens lässt sich die Namenswahl als von Seiten des creator oder als von Walter selbst unbewusst gewählte Metapher interpretieren. Ausgehend vom Welle-Teilchen-Dualismus hat Werner Heisenberg seine berühmteste Formel, die Unschärferelation, entwickelt. Sie sagt stark vereinfacht aus: Die Bewegung eines Elektrons ist so stark von Störungen abhängig, dass die Beobachtung und Messung dieser Bewegung das Ergebnis bereits verändert.218 Es lässt sich somit nicht berechnen und vorhersagen, wo ein Teilchen sich zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhält.

216 Boully: „Breaking Bad ou lʼétude (chimique) dʼun changement“. In: Positif: Revue Mensuelle de Cinéma (2011), S. 110–111. 217 Diese Entdeckung hat Heisenberg nicht allein gemacht, sondern sie geht vor allem auf die sogenannten „Kopenhagener Deutung“ und Niels Bohr, Heisenbergs Lehrer, zurück. Vgl. Gribbin: Schrödingers Kätzchen und die Suche nach der Wirklichkeit, 1998, S. 26– 27. Heisenberg aber hat sie mit seiner Unschärferelation fortgeführt, und mit ihm ist der Begriff verknüpft. Siehe allgemein zum Welle-Teilchen-Dualismus: Teller: Die dunklen Geheimnisse der Physik, 1993, S. 165–190. 218 Die uninterpretierte Relation besagt: Das Produkt aus Ortsunschärfe und Impulsunschärfe entspricht dem Plankschen Wirkungsquantum. Man kann nicht gleichzeitig berechnen, wo ein Teilchen ist, und wie schnell es sich bewegt. Die Formel gibt im Grunde nur eine Aufenthaltswahrscheinlichkeit an. Vgl. Gribbin: Schrödingers Kätzchen und die Suche nach der Wirklichkeit, 1998, S. 35.

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Es gibt unzählige, sehr verschiedenartige philosophische Deutungen der Unschärferelation, sodass eine Bezugnahme und Interpretation erschwert wird.219 Sicherlich lässt sich aber feststellen, was die Unschärferelation zeigen kann: Die Berechenbarkeit der Welt hat prinzipielle Grenzen, und der Zusammenhang von Ursache und Wirkung gilt nicht uneingeschränkt. In einem Aufsatz von 1931 wendet sich Heisenberg zum Beispiel bewusst gegen die Kantʼsche, bis dahin auch in der Physik gültige Formulierung des Kausalgesetzes. „‚Wenn der gegenwärtige Zustand eines isolierten Systems in allen Bestimmungsstücken genau bekannt ist, so läßt sich der zukünftige Zustand des Systems daraus berechnen.‘ Dieser Satz bildet die Basis für den grandiosen Versuch einer objektiven Naturwissenschaft […]. Es liegt diesem Satz die Hypothese zugrunde, daß es prinzipiell möglich sei, ein isoliertes System in allen wesentlichen Bestimmungsstücken zu kennen. […] Kant hebt mit Recht hervor, daß eben die Möglichkeit einer Objektivierung unserer Wahrnehmung an das Postulat eines Kausalzusammenhangs geknüpft ist.“220

Heisenberg kommt in diesem Aufsatz zumindest für die Quantenmechanik zu dem Ergebnis: „Es ist prinzipiell nicht möglich, alle zur Berechnung der Zukunft notwendigen Bestimmungsstücke eines isolierten Systems zu ermitteln.“221 Die Subjektivität des Beobachters beziehungsweise der Umstand, dass beobachtet wird, öffnet und verändert das isolierte System; zahllose Störungen, die man unter dem Begriff ‚Zufall‘ zusammenfassen könnte, wirken auf den Gegenstand im System ein. Ursache und Wirkung sind nicht zwangsläufig (streng deterministisch) auseinander ableitbar.222 Walter Whites Leben war bereits vor der Krebsdiagnose bestimmt von zahlreichen Zufällen. Aber das große, unbekannte und unberechenbare Element, das in sein ‚System‘ tritt, ist die Erkrankung. Die relativ einfach zu berechnenden Komponenten von Walters Leben ‒ Lehrerdasein, Frau und Kind ‒, die eine grundsätzliche Richtung seines Lebens vorzugeben scheinen, werden dadurch stark beeinflusst. Durch Zufall wird er krebskrank, durch Zufall begegnet er Jesse Pinkman und durch Zufall kommt er auf die Idee des Meth-Kochens. Von der Krebsdiagnose an nehmen die

219 Vgl. ebd., S. 33. 220 Heisenberg: „Kausalgesetz und Quantenmechanik“. In: Erkenntnis, 1931 (2), S. 175– 176. 221 Ebd., S. 174–175. 222 Der Philosoph Filmer Northrop unterscheidet in seinem Aufsatz über die Heisenberg’sche Theorie zwischen ‚Determinismus‘ und ‚Kausalität‘ und stellt dabei klar, dass sehr wohl ein Kausalität vorhanden, sie aber nicht streng determiniert ist. Vgl. Northrop: „Einführung in die Probleme der Naturphilosophie“. In: Heisenberg: Physik und Philosophie, 1959, S. 184.

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‚Störungen‘ und ‚Interferenzen‘ zu.223 Walt jedoch hält an seiner naturwissenschaftlichen beziehungsweise deterministischen Überzeugung fest, er könne alle Komponenten, Risiken und Zufälle einer Situation kalkulieren und dadurch Gefahren ausschließen. Immer wieder hat er gut durchdachte, raffinierte Pläne, wie ein Problem zu beheben sei ‒ und immer wieder kommt ihm zuletzt eine ‚Interferenz‘, eine Überlagerung mit einem anderen Leben dazwischen, die das geplante Ergebnis stark verändert.224 Walter denkt, sein Leben sei nun wie ein gefährliches, aber steuerbares Chemie-Experiment, er befinde sich in einem isolierten System, könne sein Ziel planen und das Ergebnis durch wissenschaftliches Kalkül beeinflussen: möglichst schnell viel Geld für seine Familie erwirtschaften. Das Ende stehe ohnehin fest: sein Tod durch Krebs. Werner Heisenbergs Theorie sagt im Grunde nicht aus, Kant sei im Unrecht: Es gibt Ursache und Wirkung. Doch ist die Welt als Grundlage einer ‚objektiven‘ Vorhersage von Ergebnissen ungeeignet, da sie nur verfälscht ‒ weil beeinflusst durch den Beobachter ‒ wahrgenommen werden kann. Nicht die Annahme, dass Vorhersagen möglich sind, ist inkorrekt, sondern die Grundlage der Vorhersage. Das Fundament für Walters ‚Experiment‘ und Ziel ist seine eigene Person: Er meint, sich und das Ende seines Lebens zu kennen. Aber der Ausbruch aus seinem eigenen geschlossenen System, seinem bisherigen Leben, gerät für ihn mehr und mehr zum Faszinosum mit hoher Eigendynamik. Die größte Schwäche, die größte Gefahr für das Gelingen seines ‚Experiments‘ ist er selbst ‒ die Beobachtung und Einschätzung seiner 223 Den Begriff der ‚Interferenz‘ verwende ich hier in übertragenem Sinne. In der Physik wird mit diesem Begriff „eine Überlagerung beim Zusammentreffen zweier oder mehrerer

Wellenzüge

bezeichnet“

(http://www.duden.de/suchen/dudenonline/interferenz

[vom27.04.2014]) ‒ aufgrund des Welle-Teilchen-Dualismus fällt der Begriff bei Heisenberg ebenfalls häufig (Vgl. Schiemann: Werner Heisenberg, 2008, S. 37). Übertragen auf Walters Leben bezeichne ich damit die Wellenbewegungen anderer Leben, die mit Walters Plänen unerwartet ‚interferieren‘ und zusammen mit Walters Wellenbewegung eine „Überlagerung“ bilden. (Siehe als Beispiel folgende Fußnote.) 224 Das beste Beispiel dieser ‚Interferenzen‘ ist die Folge Dead Freight (S5E5). Walter und Jesse schaffen es auf akribisch geplante, intelligente Weise, einen Wagon voll mit Methylamine während eines Zughaltes in der Wüste leer zu pumpen und mit Wasser wieder aufzufüllen, ohne dass ein Mensch bedroht, verletzt oder getötet wird oder jemand Zeuge ihres Diebstahls wird. Doch als der Plan bereits geglückt scheint, steht plötzlich mitten in der Wüste ein Junge mit seinem Cross-Bike vor ihnen; anscheinend hat er den Coup zum Teil mitangesehen (Interferenz 1). Ein einfacher Gehilfe namens Todd, den Jesse und Walter benötigten, zieht kurzerhand seine heimlich mitgebrachte Pistole und erschießt den Jungen (Interferenz 2). Die ‚Wellenbewegungen‘ der Handlungen des Jungen und seines Todes interferieren mit der Wellenbewegung von Jesses und Walters als gewaltlos geplantem Zugüberfall und führen zu einem anderen als dem geplanten Ergebnis.

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selbst ist die falsche Basis für eine Vorhersage der Wirkung. Denn Walter zieht das Unberechenbare an: Er kennt zwar viele einzelne Faktoren, aber das Experiment ‚Lehrer wird zum Drogenkoch‘ kann er nicht beherrschen. Die Krebserkrankung nutzt er, um aus seinem geschlossenen System auszubrechen, und verfällt zuletzt der Gier. Gegen Ende seines Lebens behauptet Walter nicht mehr, er habe das alles nur für seine Familie getan, sondern gibt gegenüber seiner Frau Skyler zu: „I did it for me. [Pause] I liked it. [Pause] I was good at it. [Pause] And I really [zögert] I was alive.“225 Walters eigener Charakter ist für sein ‚Experiment‘ die größtmögliche Störung. Werner Heisenberg steht hier unter anderem als Symbol für die Unberechenbarkeit des eigenen Charakters. Heisenberg veröffentlichte 1969 das autobiographische Werk Der Teil und das Ganze. Es ging ihm bei der Untersuchung der kleinsten Teilchen, der Elementarteilchen immer um die Auswirkungen auf das Ganze, die philosophische Konsequenz aus der Atomphysik.226 Obwohl dieses Werk andere Schwerpunkte hat, handelt auch Breaking Bad von der Auswirkung des Teils (Walter) beziehungsweise der Teile (Entwicklungsschritte und Episoden) auf das Ganze. Heisenbergs Buch endet mit einer Erinnerung an Beethovens Serenade in D-Dur. „In ihr [d.i. Beethovens Serenade] verdichtete sich beim Zuhören die Gewissheit, dass es, in menschlichen Zeitmaßen gemessen, immer weitergehen wird, das Leben, die Musik, die Wissenschaft; auch wenn wir selbst nur für kurze Zeit mitwirken können ‒ nach Nielsʼ [d.i. Niels Bohr] Worten immer zugleich Zuschauer und Mitspieler im großen Drama des Lebens.“227

Walter ist „Zuschauer“ seiner eigenen Wechselwirkung; seiner Wechselwirkung mit sich selbst und dem großen Ganzen, dessen Teil er ist ‒ damit ist er gleichzeitig auch „Mitspieler“. Das „Weitergehen“ und das „Drama des Lebens“ ‒ diese vielschichtigen Reaktionen werden in Breaking Bad mit den proleptischen Cliffhanger-Formen vorweggenommen; es wird jeweils ein Teilergebnis von Walters ‚Experiment mit (zu) vielen Unbekannten‘ gezeigt. Der Zuschauer kennt die ‚Versuchsanordnung‘, den Beginn, die Gegebenheiten. Aber wie dieser Anfang zu einem solchen Ergebnis führen kann, welche ‚Interferenzen‘ und Zufälle auf dem Weg dorthin gewirkt haben müssen, vermag nur der weitere Verlauf offen zu legen. In der zweiten Staffel nimmt Walter den Tod von Jane in Kauf ‒ die in der Prolepse gezeigten Auswirkungen aber sind für ihn nicht mehr berechenbar und stürzen in Form von Wrackteilen und Überresten menschlichen Lebens wie eine göttliche Strafe auf sein Haus nieder. Er selbst verändert durch seine Taten und seine Beobachtung sein eigenes Experiment. Walter ‒ oder zumindest der Zuschauer ‒ erkennt, dass jedes Individuum Teil eines Ganzen, 225 „Felina“. In: Breaking Bad, S5E16, TC 25:15. 226 Vgl. ebd., S. 62. 227 Heisenberg: Der Teil und das Ganze, 1976, S. 288.

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einer Gesellschaft, eines größeren Systems ist, auf das sein Verhalten und seine Taten sich auswirken. Heisenbergs Unschärferelation lässt sich auch auf eine ‚moralische Bewertung‘ von Walter Whites Taten übertragen: Auch sie ist nur unscharf möglich. Je nachdem, aus welcher Perspektive die anderen Charaktere und die Zuschauer sein ‚Experiment‘ betrachten, ist sein Verhalten entweder nachvollziehbar in Bezug auf das Individuum oder verwerflich in Bezug auf das Ganze ‒ seine Taten sind nachvollziehbar und verwerflich zugleich.228 Die Erzähltechnik des proleptischen Minicliffs setzt Anfangspunkt und Ergebnis in direkten Kontrast zueinander und zeigt damit die Heisenbergʼsche Unberechenbarkeit einer Auswirkung. Anhand der Verbindung aus halb intaktem, halb verbranntem Teddybär, der doppelten Identität Walter Whites und dem Bezug auf Werner Heisenberg wird deutlich, dass die Funktionsweise der Erzähltechnik viel mehr ist als nur ein ‚Erzähltrick‘: Sie steht für den Inhalt, die erkenntnistheoretischen und ethischen Fragen sowie die Ästhetik des Werks. 5.3 Resümee: cold open, Prolepse und Cliffhanger Der Beginn von Episoden ist ebenso wie deren Ende Teil der komplexen Spannungserzeugung vieler Serien. Ein cold open mit seiner Unterbrechung durch den Vorspann bietet die Möglichkeit eines Mini- oder Binnencliffs ‒ es muss aber keinen haben. Eine Unterscheidung der Begriffe ist wichtig, da cold open ein ganzes Erzählsegment beschreibt, während der Mini- beziehungsweise Binnencliff eine Erzähltechnik ist, mit der dieses Segment enden kann. Bei den Beispielen aus Breaking Bad ist sich der Rezipient erst dann über den inhaltlichen und zeitlichen Zusammenhang der Einstellungen des cold open vollkommen im Klaren, wenn die Erzählung den Moment der erzählten Zeit erreicht, der vorweggenommen wurde. Beim ersten Beispiel handelt es sich um einige Stunden ‒ ähnlich wie bei Alias ‒ während beim zweiten mehrere Monate erzählte Zeit übersprungen werden. Das proleptische cold open bietet somit die Möglichkeit, den Re-

228 Die ‚moralische Beurteilung‘ von Walter Whites‘ Taten war das in der Öffentlichkeit meist diskutierte Thema der Serie. Viele Fans von Breaking Bad waren auf der Seite Walters: Seine Ehefrau Skyler wurde von einigen Fans dafür gehasst, dass sie Walter im Stich lässt ‒ die Darstellerin der Skyler, Anna Gunn, antwortete auf diese Feindseligkeiten mit einem offenen Brief (http://www.nytimes.com/2013/08/24/opinion/i-have-acharacter-issue.html?_r=0 [vom 08.05.2013]). Für andere wiederum war die Serie Ausdruck einer Reise in den moralischen Abgrund, ‒ naheliegend in Teilen der Serie: Die allerletzten Einstellungen, die dem sterbenden Walter White gelten, werden von dem Song „Baby Blue“ der Band Badfinger begleitet. Der erste Vers lautet: „Guess I got what I deserved“.

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zipienten über eine ganze Folge oder Staffel in Spannung zu halten und die Antizipation zu fördern, abhängig davon, wie weit voraus in der erzählten Zeit die Prolepse angesiedelt ist. Die Unterschiedlichkeit der vorweggenommenen Zeitspanne bedingt die Spannweite. Das proleptisch-fortgesetzte cold open ruft die vorweggenommene Zeit immer wieder ins Bewusstsein, erweitert die Andeutungen und damit auch die Spannung und hält den Rezipienten auf diese Weise über die ganze Staffel in Atem. Sowohl aus einer narrativen als auch aus einer ökonomischen Perspektive handelt es sich bei dem fortgesetzt proleptischen cold open in Breaking Bad um eine Weiterentwicklung des Beispiels aus Alias: Musste man dort die gesamte Alias-Folge schauen, um die Auflösung des Cliffhangers zu erfahren, so wird hier die Betrachtung der ganzen Staffel gefordert.229 Ein proleptisches cold open wird meistens mit einem Minicliff oder bei Breaking Bad sogar Binnencliff beendet. Immer steht die Frage im Raum, wie es zu dieser dargestellten Szene gekommen sein könnte.230 In allen drei Beispielen ist die Prolepse also ein zusätzliches Spannungselement zum jeweiligen Erzähltypus des Mini- oder Binnencliffs. Während der Cliffhanger den Impuls für eine erneute Rezeption geben soll, ist dieses Ziel mit der Rezeption des cold open bereits erreicht. Das cold open sowie die Binnen- oder Minicliffs versuchen – vor allem wegen der enormen SenderKonkurrenz – den Rezipienten für die gesamte Folge oder Staffel zu interessieren, ihn vor allem zu einer Fortführung der Rezeption zu bewegen.231 Damit ist der Rezeptionsimpuls ein völlig anderer als beim Cliffhanger: Das cold open lädt zum Weiterschauen, zum ‚Dranbleiben‘ ein, zu einer Fortführung der bereits begonnenen Rezeption. Es ist daher auch medial auf audio-visuelle und auditive Medien beschränkt. Das Ziel des Cliffhangers ist demgegenüber, ein Wiedereinschalten, eine Fortsetzung der bereits beendeten Rezeption zu erreichen. Das Spezifische der Serien von basic cable-Sendern ist ihr Zwitterdasein zwischen network-Fernsehen und Pay-TV. Wie auch schon in Deadwood werden die Cliffhanger in ihrer ganzen Vielfalt eingesetzt und gestalten dadurch die Serie unberechenbar und abwechslungsreich. Während HBO-Serien sehr selten auf cold open 229 Ein Unterschied ist die Art der Unterbrechung. Alias wird nur aufgrund des Zeitsprungs unterbrochen, während der Vorspann erst später gezeigt wird und erneut die Erzählung pausiert [TC 15:12]. Bei Breaking Bad findet aufgrund der Prolepse in Kombination mit dem cold open eine zweifache Unterbrechung statt: Eine zeitliche und eine narrative. 230 Ein Beispiel für eine ältere Serie, die bereits proleptische cold open einsetzt, ist Space: Above and Beyond (bspw. S1E21). 231 Außerdem hat das cold open auch die Funktion, den Rezipienten einzustimmen, während der Cliffhanger nicht primär gesetzt wird, um auf Kommendes einzustimmen. Beispielsweise wird in Downton Abbey im cold open der zweiten Staffel die Thematik des begonnen Ersten Weltkriegs eingeführt und visuell mit deutlich anderer Farbgebung und Schnittfrequenz unterstrichen (S2E1).

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setzen,232 da dies aufgrund der Programmgestaltung eines Pay-TV-Sender nicht nötig ist, wurde Breaking Bad vom basic cable network AMC produziert. Die kontroversen Themen, die Darstellungsweise, die Genre-Mischung, die ‚Qualität‘ sind sehr ähnlich ‒ der Einsatz der Erzähltechniken jedoch unterscheidet sich deutlich. In Breaking Bad werden viele Cliffhanger in den unterschiedlichen Erzähltypen eingesetzt. Jede Staffel endet mit einem Finalecliff, es gibt eine fünfaktige Struktur mit Mini- und Binnencliffs, und jede Folge beginnt mit einem cold open. Die Serien der Kabelsender müssen sich von der Werbung und anderen Programmen absetzen. Im flow der Programme wird zuerst ein Teil der Narration gezeigt, bevor der sehr kurze, unterbrechende Vorspann erscheint ‒ zu diesem Zeitpunkt soll der Rezipient bereits involviert und auf den Fortgang der Folge gespannt sein, sonst begünstigt die Unterbrechung ein Abschalten. Die Vielfalt und Abwechslung der Cliffhangertypen in Serien wie Deadwood setzt Breaking Bad mit den cold open fort: Das über die gesamte Staffel fortgesetzte proleptische cold open wird von episodisch relevanten proleptischen cold open sowie chronologisch erzählten abgelöst. Im Verlauf der Staffel werden kurzfristig relevante Minicliffs und Binnencliffs mit einer großen Spannweite in den cold open gesetzt.

6. F INALECLIFFS 6.1 Der Finalecliff in der Episodenserie: Spooks Spooks ist eine mit zehn Staffeln sehr erfolgreiche BBC-Serie, in der es um den Inlandgeheimdienst MI5 (Military Intelligence, Section 5) geht, der vorwiegend Fälle von Terrorismus bearbeitet.233 Auf der einen Seite stehen die 90 bis 95% der Erzähl-

232 In The Wire und True Blood werden cold open eingesetzt. Sopranos hat nur ein einziges und Game of Thrones bisher zwei. Six Feet Under, Rome und Boardwalk Empire haben kein einziges cold open. 233 Ihr Buch über die Geschichte des British Television Drama beendet Lez Cooke mit der Frage, die zumindest 2003 in den britischen TV-Studies und der TV-Produktion diskutiert wird: Kann die britische Serie mit der amerikanischen mithalten, was Innovation und vor allem „creative risks“ (S. 195) angeht oder ist sie zu sehr ‚Sklave der Quote‘ – eine Diskussion, die auf ähnliche Art in der deutschen Wissenschaft und den deutschen Feuilletons gefühlt wird (vgl. Fröhlich: „Spurensuche: Warum es die deutsche Quality-TVSerie so schwer hat“. In: Journal of Serial Narration in Television, 2013 (2), S. 35). Cooke nennt unter anderem Spooks als Beispiel für britische Serien, die ähnlich innovativ und qualitativ anspruchsvoll sind wie die US-amerikanischen. „There has […] been plenty of drama produced in Britain in recent years to match the ambition, complexity and

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zeit einnehmenden Terror-Bedrohungen, auf der anderen die davon deutlich getrennten fortlaufenden, sehr wenig Erzählzeit einnehmenden privaten Handlungsstränge. Immer sind die Folgen episodisch abgeschlossen – mit Ausnahme der letzten Folge der Staffel. Das Finale von Staffel 1 demonstriert bereits den starken Gegensatz zwischen Finale- und gewöhnlicher Staffel-Folge. 6.1.1 Deskription Der MI5-Ermittler Tom Quinn hat endlich das Vertrauen und die Liebe der allein erziehenden Ellie gewonnen, woraufhin sie mit ihrer Tochter Maisie mit ihm zusammengezogen ist. Damit sie sich sicher vorkommen, vor allem aber damit Tom das Gefühl hat, die beiden zu beschützen, hat er das Haus mit den neuesten Sicherheitsvorkehrungen ausrüsten lassen. Beispielsweise kann die dicke Eingangs-Stahltür nur mit einer Magnetkarte geöffnet werden ‒ wie im cold open der Episode gezeigt wird. Nach dem cold open widmet sich Tom mit seinem Team einer Terror-Bedrohung, die von einer IRA-Gruppe ausgeht. Ein Treffen mit den Terroristen bleibt ohne Erfolg. Als er am Ende der Folge nach Hause kommt, erhält er einen Anruf seines IRAInformanten. Da Tom keinen Empfang im Haus hat, verlässt er es, wobei ihm Maisie mit ihren von Schokolade verschmierten Händen per Magnetkarte die Tür öffnet [TC 41:15–51:27]. Toms Informant verrät ihm, während seines Treffens mit der IRAGruppe sei in seinen Laptop eine Bombe eingebaut worden. Die IRA rechne damit, dass Tom mit seinem Computer ins MI5-Hauptquartier zurückkehre, wo die Bombe dann detonieren werde. Bei dem Versuch, wieder ins Haus zu seinem sich dort befindenden Laptop zu kommen, stellt Tom fest, dass Maisie mit ihren Schokoladenhänden den Türöffner für die Magnetkarte blockiert hat. Ellie versucht zunächst, von Tom durch die vergitterten Fenster dirigiert, die Tür von innen zu öffnen [Abb. SP1]. Da dies nicht gelingt, leiten Tom und das MI5 Hauptquartier Ellie an, wie sie überprüfen kann, ob überhaupt eine Bombe im Laptop eingebaut ist und ob man sie vielleicht mit Anleitung entschärfen kann. Nach kurzer Erleichterung, da Elli keinerlei ungewöhnliche Bestandteile im Laptop entdeckt, erkennt Tom jedoch durch das Fenster die Bombe mit einem Timer [Abb. SP2], auf dem nur noch eine Minute und 15 Sekunden steht. Draußen macht sich unterdessen die Polizei daran, die Tür aufzubrechen. Sie erkennt aber, dass für eine derart verstärkte Stahltür weitere Hilfsmittel benötigt werden und bricht angesichts der kurzen verbleibenden Zeit ab. Die letzten Einstellungen zeigen, wie Tom hilf- und fassungslos die beiden im Inneren des Hau-

modernity of the best American television. One need only cite This Life […] and Spooks (BCC 1, 2002–) as examples of drama series and serials which are stylish, fast-moving, modern and yet quintessentially British in their iconography and cultural concerns.“ Cooke: British Television Drama, 2003, S. 196.

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ses sieht, wie sie angsterfüllt zu ihm herausblicken, wissend, dass die Bombe sie jeden Moment alle drei töten wird [Abb. SP3‒4].234 In dem für die Serie typischen freeze frame, bei dem gleichfalls eine Hell-Dunkel-Umkehrung stattfindet, endet die Folge [Abb. SP5]. Daran schließt sich jedes Mal eine Einstellung eines krisseligen weißen Fernsehbildes an, das oben und unten zwei schwarze Balken aufweist [Abb. SP6]. Diese schieben den Mittelteil zusammen, bis der Bildschirm vollkommen dunkel ist. Abbildungen SP1–6: Schockierender Wechsel des episodischen Erzählprinzips

Abb. SP1, TC 43:15, S1E6

Abb. SP2, TC 48:21

Abb. SP3, TC 51:18

Abb. SP4, TC 51:23

Abb. SP5, TC 51:25

Abb. SP6, TC 51:27

6.1.2 Kategorisierung und Analyse Während jede sonstige Folge eine inhaltliche Geschlossenheit und umgekehrte Gewichtung der beruflichen und privaten Erzählstränge aufweist, prallen in der letzten Folge Privat- und Berufsleben aufeinander. Es kommt nicht mehr zu einer Geschlossenheit. Stattdessen weist die Folge eine Schwebeform auf: Wenige Sekunden vor der Explosion werden Erzählzeit und erzählte Zeit unterbrochen ‒ direkt am Interruptionspunkt wird die Erzählung am Anfang der nächsten Folge wieder aufgenommen. Der ökonomische Hintergrund wird offensichtlich: Da die Erzählpause bis zum Beginn der nächsten Folge bei dem Finale einer Staffel länger ist als sonst, wird hier sogar in einer Episodenserie das Erzählprinzip kurzzeitig gewechselt. Wie auch bei anderen gefahrensituativen Cliffhangern, wie beispielsweise A Pair of Blue Eyes und Alias, entsteht die Spannung zu einem großen Teil aufgrund der ausgiebigen Vorbereitung des Unterbrechungsmoments. Erst die zahlreichen Details verdeutlichen die ganze Ausweglosigkeit der Situation. Im unmittelbaren Umfeld des

234 Bei der Serie Spooks lässt sich diese Erzählstruktur durchgängig in allen 10 Staffeln verfolgen. Beinahe jede Folge ist episodisch geschlossen; die Finale-Folgen hingegen weisen alle einen Cliffhanger auf.

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Cliffhangers erlebt der Zuschauer die zahlreichen Bemühungen und das Fehlschlagen der Rettungsversuche aller Beteiligten: des Versuchs, von beiden Seiten aus die Tür zu öffnen, der Inspektion des Laptops samt kurzer Erleichterung, der Bemühungen der MI5-Kollegen, über Telefon Anweisungen und Hilfestellung zu geben, und des Versuchs der Polizei, die Tür aufzubrechen. Anders jedoch als in A Pair of Blue Eyes, wo im Cliffhanger lediglich allegorisch das Fossil ‚eingefroren‘ ist, hat der Film die Möglichkeit, das Bild anzuhalten: Der freeze frame ermöglicht einen sofortigen Stillstand. Die anschließende Einstellung des Fernsehbildes mit schwarzen Balken, das zu einem vollkommen schwarzen Bildschirm wird, kommt dem Rezipienten wie das Ausschalten eines Fernsehers vor. Obwohl es am Ende jeder Folge vorhanden ist, wird es in diesem Fall mit dem Tod des Protagonisten gleichgesetzt und verstärkt die Cliffhanger-Wirkung. Der Rezipient sieht schwarz: Der ‚Tod‘ des Fernsehbildes wird rezeptionsästhetisch mit dem Tod der Familie verbunden. Die Tragik des Cliffhangers bezieht sich auch auf den ganzen Handlungsstrang von Toms Privatleben. Die kindlich-unschuldigen Schokoladenhände des Mädchens kollidieren mit dem todernsten Berufsleben des Agenten. Diese Kollision versperrt Tom im wörtlichen Sinne den Eintritt in ein harmonisches und unbeschwertes Familienleben. Im Hintergrund dieses Cliffhangers steht die Frage, ob ‒ und wenn ja, wie ‒ der Beruf des Spions, nach dessen umgangssprachlicher Bezeichnung ‚spook‘ die Serie benannt ist, mit sozialen Kontakten, Liebe und Kindern vereinbar ist. Tom musste Ellie, was seinen Beruf, seine Identität, sogar seinen Namen betrifft, anlügen, obwohl er sich sehr in sie verliebt hatte. Die Richtlinien des MI5 erfordern eine solche Vorgehensweise bei einem Partner, solange man nicht plant, diese Person zu heiraten. Tom benutzte zudem seine Kontakte, um Ellies Ex-Mann und Vater von Maisie, der aufdringlich wurde, von der Lebenspartnerin und deren Tochter fern zu halten. Nachdem er Ellie seine wahre Identität offenbart hatte, wollte sie zunächst keinen Kontakt mehr zu ihm haben. Zum einen meinte sie, ihm nicht mehr vertrauen zu können, zum anderen hatte sie wegen seines Berufs Angst um ihn, Maisie und sich selbst. Tom und Ellie wollten aber schließlich doch ein Zusammenleben versuchen. Tom meinte, Ellie und Maisie ein sicheres Zuhause geben zu können. Aber gerade mit seinen Vorsichtsmaßnahmen schafft er ein Gefängnis, sogar möglicherweise ein Grab. Dass er zuletzt hilflos mitansehen muss, wie der Countdown der Bombe gegen Null geht, macht die große Tragik dieses Cliffhangers aus: Der Held der Serie, der bisher aller Verbrecher habhaft werden konnte, kann seine eigene Familie nicht beschützen. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen wird in dieser Situation klar, dass Toms Beruf unberechenbar ist und bleibt. Es gibt keine Sicherheit für ihn und die Menschen in seiner Nähe. Obwohl die Bombe letztendlich nicht zündet, enthält der Cliffhanger diese Wahrheit, die das Ende der Beziehung von Tom und Ellie bedeutet. Der Cliffhanger wird für alle Beteiligten zum Trauma, das gemeinsam zu verarbeiten ihnen nicht gelingt.

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Dass in der Finale-Folge von Episodenserien ein Cliffhanger gesetzt wird, ist keinesfalls ein neues Phänomen und das Beispiel aus Spooks nur eins von vielen,235 das ausgewählt wurde, weil die mit dem gefahrensituativen Cliffhanger dargestellte Begebenheit hier ‒ anders als bei den meisten Kinoserien ‒ für alle Hauptfiguren zum unüberwindbaren Trauma wird. Ersichtlich wird dabei, wie flexibel einsetzbar die Erzählprinzipien sind, wie schnell zwischen ihnen gewechselt werden kann. Zwei unterschiedliche Handlungsebenen für Berufliches und Privates erleichtern den Übergang zum fortgesetzten Erzählprinzip: Das Berufsleben wird privat, das Privatleben beruflich relevant. So wie sich die Erzählprinzipien vermischen, verbinden sich die Erzählstränge. In der Rezeption einer Episodenserie, die lediglich in den Finalefolgen Cliffhanger verwendet, bedeutet der Finalecliff ‒ besonders der ersten Staffel ‒ einen enormen Schock. Der Cliffhanger hat hier meist eine noch größere Wirkung als in Fortsetzungsserien, die häufiger Cliffhanger verwenden. Denn innerhalb der Rezeption einer Episodenserien-Staffel hat der Rezipient sich bereits an Abschluss und Entspannung am Folgen-Ende gewöhnt und wird daher im doppelten Sinne schockiert: nicht nur mit dem jeweiligen Cliffhanger, sondern zusätzlich noch mit der unerwarteten Aufbrechung der Ecoʼschen „Wiederkehr des Immergleichen“ ‒ die bereits zum Ritus gewordenen Seh- und Rezeptionsgewöhnung an das Erzählprinzip der jeweiligen Serie. 6.2 Der selbstreflexive (und aktivierende) Finalecliff: Sherlock Die BBC-Serie Sherlock hat eine ungewöhnliche Form: Mit nur drei Folgen pro Staffel236 und einer Erzählzeit von 90 Minuten pro Folge hat sie Gemeinsamkeiten mit dem Format der Miniserie und der Filmreihe. Sherlock wird jedoch in Staffeln produziert und veröffentlicht.237 Die lange Erzählzeit bietet eine wichtige Voraussetzung 235 Bereits in Miami Vice (bspw. S4E22, 1988) wird das Erzählprinzip bei der Finalefolge gewechselt. 236 Der Großteil der britischen Serien der Gegenwart, die überwiegend fortgesetzt erzählen, verfügt über weniger Folgen als seine US-amerikanischen Pendants. Die US-amerikanischen network-Serien haben meist 17‒23 Folgen (mit einer Erzählzeit von je 43‒48 Minuten), die Pay-TV-Serien 12 Folgen (je 55‒58 Minuten), die basic cable-Sender 10‒13 Folgen (je 43‒48 Minuten). Die britischen Serien umfassen gewöhnlich nur 6 Folgen (bspw. The Hour, Luther, Sherlock, Misfits), einige auch 8‒9 (bspw. Ripper Street, The Paradise und Downton Abbey). Sherlock aber besitzt mit drei Folgen pro Staffel nur die Hälfte der sonst üblichen 6 (bis 8). 237 ‚Miniseries‘ bezeichnet Serien aus 2 bis 12 Folgen, die einen geplanten Abschluss haben und nicht wie Serien in mehreren Staffeln in verschiedenen Zyklen produziert und ausgestrahlt werden. Vgl. Selznick: Global Television, 2008, S. 43. Meistens handelt es sich bei Miniserien um Literaturadaptionen. Vgl. Vito u. a.: Epic Television Miniseries, 2010,

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für die komplexe, überwiegend geschlossene Erzählweise und die Nähe zu den Sherlock Holmes-Erzählungen Arthur Conan Doyles; sie ist damit einer der Gründe für den enormen Erfolg der Serie.238 Creator Steven Moffat sagt: „We [d.s. Moffat und Co-creator Mark Gatiss] don’t think of them as episodes, we think of them as movies because they are 90 minutes long and if you do them as episodes of a series they seem very slow and long. They have to have the size and weight of a movie.“239 Jede Folge der Serie hat die „Größe und das Gewicht von Filmen“, zugleich aber auch serientypische Elemente wie die Bündelung in Staffeln, den Einsatz von cold open, Finalecliffs und (einige wenige) fortgesetzte Handlungsstränge. Unter anderem diese Kombination aus langer Erzählzeit eines Films und gleichzeitiger, über mehrere Mikrotexte entfalteter Figuren- und Handlungsentwicklung führt zu einer komplexen Erzählweise und einer für Serien typischen, äußerst aktiven und großen Fan-Gemeinde.240 In der Serie werden die Erzählungen Conan Doyles in die Gegenwart verlegt. Sherlock Holmes ist ein Junggeselle, arrogant, unnahbar, extrem intelligent, äußerst schnell in seiner Auffassungs- und Kombinationsgabe, eine Art ‚Fachidiot‘ ‒ er selbst bezeichnet sich in zwei Sequenzen als „highly functioning sociopath“;241 auf diese

S. 2. (Gelegentlich auch als ‚Mini Serial‘ bezeichnet: Weissmann: „Travelling Cultures“. In: Journal of British Cinema and Television, 6 (1), 2009, S. 41–57.) ‚Filmreihe‘ passt ebenso wenig wie ‚Miniserie‘ angesichts der Staffelaufteilung. Letztendlich macht Sherlock deutlich, wie unscharf die Grenzziehungen zwischen diesen Begriffen sind. Interessanterweise waren die Folgen der Serie zunächst 60-minütig geplant. (Vgl. Steward: „Holmes in the Small Screen“. In: Stein u. a. (Hg.): Sherlock and Transmedia Fandom, 2012, S. 143.) 90 Minuten sind für die prime time am Sonntagabend, zu der die Erstausstrahlung der Serie stattfindet, aber angemessener, zumal die Erzählzeit eines Films auch die damit einhergehende Suggestion, jede Folge sei so aufwändig und einzigartig wie ein Film, beinhaltet. (Steward geht auch auf die flexi-narrative-Form von Sherlock ein, zeigt die Analogien zum police procedural auf und weist eine aus dem US-amerikanischen Fernsehen importierte Konzentration auf die creator nach.) 238 Der Hauptdarsteller Benedict Cumberbatch ist vor allem dank der Serie in kurzer Zeit zu einem Filmstar aufgestiegen. Der Erfolg der Serie ist so groß, dass der US-amerikanische network-Sender CBS relativ kurz nach der ersten Staffel von Sherlock eine eigene Modernisierung der Figur mit der Serie Elementary vornahm. Allein aufgrund der geringen Erzählzeit von 43 Minuten pro Folge ist der Versuch weniger komplex und erfolgreich. 239 DVD-Extra: „Sherlock Uncovered“. In: Sherlock, 2.Staffel, TC 08:35‒08:45. 240 Winter: „Fernsehserien als Kult“. In: Eichner u. a. (Hg.): Transnationale Serienkultur, 2013, S. 67–86. 241 „A Study in Pink“. In: Sherlock, S1E1, TC 35:15; „His Last Vow“. In: Sherlock, S3E3, TC 63:12. Eine Analyse der Charakterisierung von Sherlock Holmes in der Serie im Ver-

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Weise erklärt die Serie die geradezu übermenschlichen Fähigkeiten der abduktiven Beweisführung von Doyles Sherlock Holmes auf sehr moderne Art. Dr. Watson ist Militärarzt, der aus dem Krieg (bei Doyle ist es der Zweite Anglo-Afghanische Krieg, in der Serie ist es der ISAF-Einsatz in Afghanistan) zurückkehrt, auf dem teuren Londoner Wohnungsmarkt eine WG sucht und dabei auf Sherlock Holmes stößt. Die beiden gründen eine eigene WG in der Baker Street 221B. In einem Blog schreibt Watson über seine Abenteuer mit Sherlock.242 Die Stoffe sind in den Neuverfilmungen sowohl innerhalb der Diegese243 als auch in den filmtechnischen Darstellungsweisen sehr zeitgemäß,244 ohne dass wichtige Merkmale der Doyle-Vorlagen verschwänden oder zentrale Figuren kaum wiedererkennbar wären. Sicherlich liegt das auch an den beiden creators, die sich selbst als Sherlock Holmes-„geeks“ bezeichnen. Moffat behauptet: „Partly because we’ve committed this huge heresy of updating it, we sort of want to say to everyone who knows the originals: ‚Look, everything else is incredibly authentic.‘ In fact, you’ll never see a more obsessively authentic version of Sherlock Holmes than this because it is being motored by a couple of geeks.“245

6.2.1 Deskription James Moriarty soll hinter einer Reihe von Sherlock Holmesʼ Kriminalfällen als Drahtzieher stehen. Seine Rolle als Antagonist verknüpft die ansonsten episodisch gleich zu den Erzählungen Doyles und dem Film von Guy Ritchie bietet: Nicol: „Sherlock Holmes Version 2.0“. In: Vanacker u. a. (Hg.): Sherlock Holmes and Conan Doyle, 2012, S. 124–139. 242 In den Erzählungen Doyles berichtet Watson aus der Ich-Perspektive von den Fällen. 243 Siehe: Bochman: „Detecting the Technocratic Detective“. In: Porter (Hg.): Sherlock Holmes for the 21st Century, 2012, S. 144–154. 244 Zu den zahlreichen Tricktechniken gehört bspw., dass Kurznachrichten und Mails als extradiegetische Schriftzüge im Bild erscheinen. In S2E1 wird eine Phantom-Kamera benutzt, um extreme slow motion darstellen zu können. Die Sequenzen wiederum, in denen Sherlock versucht, Menschen und Tathergänge rasch zu ‚lesen‘, zeichnen sich durch eine sehr hohe Schnittfrequenz mit zahlreichen Detailaufnahmen und eine äußerst mobile Kamera aus. Siehe: Gregoriou: „The Televisual Game Is On“. In: Moving Worlds: A Journal of Transcultural Writings, 13 (1), 2013, S. 49–61. 245 DVD-Extra: „Sherlock Uncovered“. In: Sherlock, 2. Staffel, TC 17:14‒17:25. Ob die Serie wirklich so ‚authentisch‘ der Figur und den Erzählungen gegenüber ist, kann durchaus bezweifelt werden (siehe bspw. Basu: „Sherlock and the (Re)Invention of Modernity“. In: Stein u. a. (Hg.): Sherlock and Transmedia Fandom, 2012, S. 196–209) ‒ aber zumindest wird dieser Anspruch ständig in der Erzählung und den Paratexten vermittelt und ist Teil des Erfolgs der Serie.

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abgeschlossenen Fälle der ersten und zweiten Staffel.246 Am Ende der ersten kidnappt Moriarty Dr. Watson. Als Sherlock zu dem Schwimmbad kommt, das Moriarty ihm als Treffpunkt genannt hat, sind dort nicht nur der in eine Sprengstoffweste gezwungene Watson sowie Moriarty mit dem Fernzünder, sondern zudem richtet ein Scharfschütze sein Laservisier auf Sherlock. Nachdem Sherlock Moriarty mit seiner Pistole bedroht, entschließt sich der Antagonist zu gehen und seinen Scharfschützen mitzunehmen. Sherlock zieht Holmes die Sprengstoffweste aus und wirft sie ein paar Meter weit weg. Doch Moriarty kommt zurück mit der Aussage, er könne die beiden nicht leben lassen, sie behinderten seine Geschäfte zu sehr. Zeitgleich tauchen nicht nur einer, sondern mehrere Lichtpunkte aus Laservisieren auf Holmesʼ und Watsons Körpern auf. Mit diesem Finalecliff endet die erste Staffel. Abbildungen S1–6: Das postmoderne Spiel der Persiflage und Andeutung

Abb. S1, S2E1, TC 0:01

Abb. S2, TC 26:50

Abb. S3, TC 27:22

Abb. S4, TC 27:24

Abb. S5, TC 27:27

Abb. S6, TC 27:32

Die erste Folge der zweiten Staffel wiederholt die letzten Einstellungen, während unten im Bild „recently“ als extradiegetischer Schriftzug erscheint, ehe die Handlung unmittelbar am Interruptionspunkt fortgesetzt wird [Abb. S1]. Sherlock richtet seine Pistole auf die von ihm weggeworfene Sprengstoffweste. Plötzlich ertönt als Klingelton der Disco-Popsong Staying Alive der Band Bee Gees ‒ Moriarty geht an sein Handy. Das Telefongespräch interessiert ihn so sehr, dass er, es kurz unterbrechend, zu Sherlock sagt [Abb. S2–3]: Moriarty:

Sorry, wrong day to die.

246 Vgl. Steward: „Holmes in the Small Screen“. In: Stein u. a. (Hg.): Sherlock and Transmedia Fandom, 2012, S. 140. Eco nennt als Merkmal der Episodenserie, dass nur der Protagonist über die Folgen erhalten bleibt, während die Antagonisten ständig wechseln. (Vgl. Eco: „Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien“. In: Im Labyrinth der Vernunft, 1995, S. 304.)

546 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION Sherlock: Moriarty:

Oh, did you get a better offer? You’ll be hearing from me Sherlock. [Dreht sich um und nimmt sein Telefongespräch wieder auf.] So if you have what you say you have, I will make you rich […]. [Kurz bevor Moriarty aus der Tür ist, schnippt er mit den Fingern. Die Punkte der Laservisiere verschwinden.]

Watson:

What happened there?

Sherlock:

Someone changed his mind. The question is …who?247

6.2.2 Kategorisierung und Analyse Die Spannung dieses Cliffhangermoments ergibt sich aus dem Zusammenwirken der verschiedenen situativen Bestandteile und der Gefahren-Steigerung: die Sprengstoffweste und der Fernzünder, gleichzeitig Sherlock mit einer Pistole und der Scharfschütze, der auf Sherlock zielt. Die Spannung wird durch den Ablauf der letzten Sequenz erhöht. Denn der Zuschauer, Sherlock und Watson werden durch Moriartys Weggehen zunächst in dem Glauben gelassen, es habe eine Entspannung der Situation stattgefunden. Der Verbrecher kommt jedoch zurück mit noch mehr Scharfschützen als zuvor und der eindeutigen Ankündigung, Sherlock und Watson zu töten ‒ die Situation erscheint noch auswegloser. Diese bereits aus anderen Cliffhangern bekannten Elemente ‒ Darstellung der Details, besonderen Umstände der Gefahrensituation, kurzzeitige Entspannung, anschließende Spannungserhöhung ‒ werden durch den Auflösungsmoment zu Beginn der zweiten Staffel ironisiert. Mit dem Handy-Klingelton „Stayinʼ Alive“ wird der Erzähltyp des gefahrensituativen Cliffhangers in überaus komprimierter Weise persifliert: Für den Helden geht es beim gefahrensituativen Cliffhanger immer um die Frage des Überlebens. Dass einerseits auf eine Intensivierung der Spannung gesetzt wird, aber andererseits zur Auflösung der Disco-Popsong aus den 1970er Jahren gespielt wird, zeigt den reflexiven Einsatz der Cliffhanger-Erzähltechnik. Der Klingelton als selbstbezüglich-ironischer Kommentar ist Teil der generellen Aktualisierung der Erzählungen Doyles: Sherlock selbst verwendet sein Handy als Handwerkszeug bei der Aufklärung von Fällen, sein Antagonist als böses Spiegelbild muss entsprechend häufig ebenso darauf zurückgreifen.248 Der Cliffhangermoment wird in der Serie sehr ernsthaft, intensiv, bedrohlich und detailliert inszeniert, aber seine Verwendung wird im Aufhebungs- und im kurz danach folgenden Auflösungsmoment ironisch gebrochen. Da aber ist der Zuschauer längst zur Rezeption zurückgekehrt ‒ 247 Sherlock, S2E1, TC 02:40–03:33. 248 Das Handy spielt auch im kommenden Fall eine essentielle Rolle, als Irene Adlers wichtigstes und persönlichstes Werkzeug, ein besonderes Fabrikat, geschützt durch einen Code, den ‒ das Handy als Symbol der Person ‒Sherlock immer wieder versucht zu entschlüsseln. Vgl. Kazmaier u. a.: „Sherlocked“. In: Nesselhauf u. a.: Quality TV, 2014, S. 252f.

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unter anderem dank des Cliffhangermoments. Die Serie jongliert gewissermaßen mit der Erwartungshaltung des Rezipienten ‒ und seinem Wissen um die Beschaffenheit von gefahrensituativen Cliffhangern. Nach kurzer Entspannung durch den ironisierenden Bruch wird erneut in einem enthüllenden Minicliff Spannung erzeugt. Sherlock äußert nach der Auflösung des Cliffhangers: „Someone changed his mind. The question is …who?“ Ähnlich wie in den Seifenopern, in denen die offen gelassenen Fragen vom extradiegetischen Ansager in Worte gefasst werden, spricht Sherlock die offene gelassene Frage aus. Diese geht für den Zuschauer unmittelbar in eine Beantwortung, in eine Enthüllung über: Die Domina, die mit Moriarty telefonierte, scheint eine Person aus dem britischen Hochadel als Kundin zu haben und hört auf den Namen Miss Adler. Vor allem für den Kenner des Doyle’schen Sherlock Holmes bietet das cold open hier einen zusätzlichen Spannungsmoment. Die Figur der ehemaligen Opernsängerin Irene Adler aus Doyles Kurzgeschichte A Scandal in Bohemia ist die einzige Frau, die in Doyles Erzählungen für Sherlock Holmes von wirklichem Interesse ist.249 Aber selbst für den Doyle-Kenner werden lediglich Hinweise gegeben: Wer Irene Adler in der Serie, wie ihre Verbindung zu Moriarty ist und inwiefern sie Macht über das britische Königshaus hat ‒ all diese Fragen werden noch nicht beantwortet. Im Gegenteil, gerade die Aktualisierung der Serie bietet dem Doyle-Kenner unerwartete, zusätzliche Spannung, da immer die Frage im Raum steht, wie man die Figuren und plots von Doyle umgesetzt hat. Erneut wird episodisch Relevantes (Irene Adler) mit fortgesetzten Erzählsträngen (Moriarty) verbunden. 6.2.3 Schlussfolgerungen Finalecliff, Auflösung und Minicliff weisen hier eine „postmoderne Haltung“ auf, wie sie Umberto Eco beschreibt:250 249 Die ersten Sätze von Doyles Kurzgeschichte lauten: „To Sherlock Holmes she is always the woman. I have seldom heard him mention her under any other name. In his eyes she eclipses and predominates the whole of her sex. It was not that he felt any emotion akin to love for Irene Adler.“ Doyle: „A Scandal in Bohemia“. In: Adventures of Sherlock Holmes, 1892, S. 3. 250 Der postmoderne Roman, als den Eco sein Werk Der Name der Rose bezeichnet, ist ‒ wie der Begriff der Postmoderne ‒ ein sehr verschieden benutzter Begriff, der inflationär gebraucht wird und einer klaren Abgrenzung zur Moderne ermangelt. (Siehe bspw. Plaice: Spielformen der Literatur, 2010.) Wichtige Merkmale, die zur Definition dieses Begriffs häufig verwendet werden, treffen jedoch auf Sherlock zu (wie im Folgenden gezeigt wird). So lässt sich die dem postmodernen Roman häufig nachgesagte „permanente Selbstreflexion“ (zum Bsp. Kollmann u. a.: „Einleitung“. In: Ders. u. a. (Hg.): PostModerne De/Konstruktionen, 2004, S. 12) auch bei den Cliffhangern in Sherlock wiederfinden.

548 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION „Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: ‚Ich liebe dich inniglich‘, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir, von Laila geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: ‚Wie jetzt Laila sagen würde: Ich liebe dich inniglich.‘ […] Keiner der beiden Gesprächspartner braucht sich naiv zu fühlen, beide akzeptieren die Herausforderung der Vergangenheit, des längst schon Gesagten, das man nicht einfach wegwischen kann, beide spielen bewußt und mit Vergnügen das Spiel der Ironie... Aber beiden ist es gelungen, noch einmal von Liebe zu reden.“251

Auf ganz ähnliche Weise lässt sich die Funktionsweise dieses Cliffhangers ausdrücken. Der gefahrensituative Erzähltyp ist ‚abgenutzt‘: Nicht nur, dass er der Cliffhanger-Typ ist, der am deutlichsten zur Spannungsevozierung inszeniert wird und damit am offensichtlichsten den ökonomischen Impuls für eine Rückkehr zur Rezeption gibt; zusätzlich wurde er im Format der Kinoserie als einziger Erzähltyp und dazu noch so exzessiv und über mehrere Jahrzehnte verwendet, dass ganze Kinoserien nach ihm ‚Cliffhanger‘ benannt wurden. Aufgrund offensichtlicher Spannungsevozierung und gleichzeitigem Verschleiß kann dieser Erzähltyp heutzutage kaum noch ohne ein Augenzwinkern oder eine kleine Veränderung der üblichen Inszenierung eingesetzt werden. Sherlock zielt vornehmlich auf ein junges, gebildetes, intelligentes Publikum, das ebenso vernetzt ist wie der Protagonist.252 Die Serie muss darum zumindest bei der Auflösung das Wissen der Zuschauer über die Funktionsweise des gefahrensituativen Cliffhangers berücksichtigen und anerkennen. Der gefahrensituative Cliffhanger kann hier nur als intertextuelles Zitat, als ironisches Spiel eingesetzt werden; alles andere wäre, als missachteten die creators der Serie ‒ als Äquivalent zum Mann aus Ecos Zitat ‒ Wissen, Belesenheit und Klugheit des Publikums. Der Refrain der Popband Bee Gees könnte in Bezug auf Eco umformuliert werden: ‚Wie jetzt die Bee Gees sagen würden: Ah, ha, ha, ha, stayinʼ alive.‘ Nach der Auflösung des Cliffhangers braucht sich auch hier „keiner der beiden Gesprächspartner […] naiv zu fühlen, beide akzeptieren die Herausforderung der Vergangenheit, des längst schon Gesagten, das man nicht einfach wegwischen kann, beide spielen bewußt und mit Vergnügen das Spiel der Ironie.“ Bei Sherlock ist es aufgrund dieser Geisteshaltung möglich, dass sich Text und Rezipient bewusst auf das Spiel der Spannungserzeugung einlassen. Es gelingt ihnen, noch einmal den Reiz und die Spannung des gefahrensituativen Cliffhangers auszukosten, ohne dass der Zuschauer das Gefühl haben muss, ihm werde unterstellt, dass er das veraltete Klischee nicht durchschaue.

251 Eco: Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘, 1986, S. 78–79. 252 Vgl. Hills: „Sherlockʼs Epistemological Economy of the Value of ‚Fan‘ Knowledge“. In: Stein u. a. (Hg.): Sherlock and Transmedia Fandom, 2012, S. 35.

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Zugleich offenbart das Zusammenspiel aus Cliffhangermoment, Auflösung und cold open eine weiteres Merkmal postmoderner Werke: Dieses Zusammenspiel funktioniert auf verschiedenen Ebenen, es spricht sowohl den von Eco als „kritischen Modell-Leser“ bezeichneten Rezipienten wie auch den „naiven“ an.253 Eco meint mit diesen Begriffen das imaginierte Ideal eines Lesers.254 Der naive Modell-Zuschauer erfährt auf der ersten Ebene die Spannungserzeugung, die hervorgerufen wird durch Gefahrensituationen und Fragestellungen. Das Zusammenspiel der drei Erzählbausteine Cliffhangermoment, Auflösung und cold open lässt sich vollständig ohne jegliches Hintergrundwissen rezipieren und genießen; mit Scharfschützen, Sprengstoffwesten, Pistolen, einer Domina und einem Geheimnis sind genug offensichtliche Spannungselemente vorhanden. Auf der zweiten Ebene wird das Wissen von der Beschaffenheit gefahrensituativer Cliffhanger aktiviert ‒ in Gestalt von Selbstreflexion und Spiel, die sich an das Vorwissen des kritischen Modell-Rezipienten richten. Diesem Rezipienten müssen einige gefahrensituative Cliffhanger vertraut sein, vor allem sollte er die Funktionsweise dieses Erzähltyps durchschaut haben, um den Witz zu verstehen und schätzen zu können. Auf der dritten Ebene wird die Kenntnis der Vorlagen voraus- und eingesetzt ‒ sie zielt vor allem auf die Doyle-Kenner unter den Rezipienten.255 Diese wissen den Namen Irene Adler einzuordnen und dass Moriartys 253 „Der Modell-Leser einer Geschichte ist nicht der empirische Leser. Der empirische Leser ist jeder von uns, wenn er einen Text liest.“ Eco u. a.: Im Wald der Fiktionen, 1994, S. 18. Eco erklärt diesen Modell-Leser anhand eines Komödien-Films, den man unter tiefer Traurigkeit sieht und über den man deshalb nicht lachen kann: „Selbstverständlich ‚liest‘ man den Film dann als empirischer Leser falsch. Aber falsch in Bezug auf was? In bezug [sic] auf den Zuschauertyp, an den der Regisseur gedacht hatte, einen Zuschauer, der zum Lachen aufgelegt und bereit ist, einer Geschichte zu folgen, die ihn nicht direkt involviert. Diesen Typus von Zuschauer (oder von Leser) nennen wir Modell-Leser: eine Art IdealLeser“. Ebd., S. 18–19. 254 Der naive Leser „nimmt das Werk vor allem als rein semantisches Gebilde und wird zum Opfer der Strategien des Autors, von dem er Schritt für Schritt durch eine Reihe von Voraussagen und Erwartungen geführt wird.“ Der kritische Leser hingegen „bewertet das Werk als ästhetisches Produkt und beurteilt die Strategien, die der Text anwendet, um ihn zum Modell-Leser der ersten Art zu machen.“ Eco: „Die Innovation im Seriellen“. In: Über Spiegel und andere Phänomene, 2001, S. 167–168. Eco führt den Begriff des Modell-Lesers ein in: Eco: Lector in fabula, 1998, S. 247–248. 255 Für die verschiedenen Fan-Gruppen ‒ von Sherlock Holmes „fanboys“ genannt ‒ sowie für so genannte „Sherlockians“ ‒ d.h. Autoren, Wissenschaftler und Leser, die sich systematisch mit den Doyle-Erzählungen befassen ‒ siehe vor allem: Hills: „Sherlockʼs Epistemological Economy of the Value of ‚Fan‘ Knowledge“. In: Stein u. a. (Hg.): Sherlock and Transmedia Fandom, 2012, S. 27–40. Siehe auch: „It [d.i. Sherlock] has found acclaim both with new fans who are unfamiliar with the work of Sir Arthur Conan Doyle

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Sätze „Sorry, wrong day to die“ und „You’ll be hearing from me, Sherlock“ mehr sind als nur Floskeln: In den Erzählungen Doyles begegnen sich Protagonist und Antagonist tatsächlich erneut, wobei es zu einer dramatischen Entwicklung kommt, einem Kampf, bei dem beide die Reichenbach-Wasserfälle in der Schweiz hinunterstürzen. Für einen Rezipienten, der in serieller Narration und Fernsehunterhaltung ebenso bewandert ist wie in den Detektivromanen von Doyle, stellt sich die Rezeption somit als besonders reizvoll dar. Denn er ist in der Lage, das Zusammenspiel und die Spannungserzeugung aus Finalecliff, Auflösung und Minicliff auf allen Ebenen zu verstehen und daher entsprechend zu genießen. Die Serie ersetzt mit der letzten Einstellung des cold open Sherlock Holmes als Spurenleser. Stattdessen übernimmt der kritische Rezipient seine Rolle: Während Sherlock mit der offenen Frage zurück gelassen wird, wer Moriartys Meinung geändert hat, besteht die dramatische Ironie darin, dass der Zuschauer bereits entscheidende Hinweise erhält, die ein intertextuelles Spiel beginnen. Der Minicliff, der eine Verlängerung des Finalecliffs ist, evoziert Spannung und bezieht das Hintergrundwissen des kritischen Zuschauers mit ein, erkennt dieses Wissen an und befriedigt den Zuschauer damit ein Stück weit. Denn wie Sherlock Holmes kann der Rezipient mit seinem Vorwissen bereits erste Abduktionen vornehmen und Künftiges antizipieren. 6.3

Der (selbstreflexive und) aktivierende Finalecliff: Sherlock

6.3.1 Deskription Der Finalecliff der zweiten Staffel sorgte für ein noch größeres Aufsehen als jener der ersten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb, er sei „vielleicht der meistdiskutierte Cliffhanger der Filmgeschichte.“256 Er ist nicht nur „vielleicht der meistdiskutierte“, sondern sicherlich auch einer der längsten. Die Spannungsevozierung and with the most dedicated members of the established Sherlockian community“. Polasek: „Winning ‚The Great Game‘“. In: Stein u. a. (Hg.): Sherlock and Transmedia Fandom, 2012, S. 42. Selbst die Sherlockians, die den Adaptionen sonst äußerst kritisch und meist ablehnend gegenüberstehen (ebd., S. 45), sind aufgrund der Modernisierung weniger skeptisch, da die Geschichten einerseits vielerlei aus den Erzählungen Doyles übernehmen, aber andererseits mit der Modernisierung von Vornherein eine Art Narrenfreiheit genießen. 256 „Das ist spitze!, sagt der Moderator“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Dezember 2013, S. 35. Siehe zur Wirkung des ersten Finalecliffs: „This provocative cliffhanger [d.i. der Finalecliff der ersten Staffel] has engendered interpretive analyses, post-series fan fiction, and other intellectual creative responses that try to resolve this moment, and indeed one could argue that the cliffhanger motivated this collection as well.“ Busse u. a.: „Conclusion“. In: Stein u. a. (Hg.): Sherlock and Transmedia Fandom, 2012, S. 229.

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beginnt bereits mit dem proleptischen cold open.257 Watson sitzt bei einer Psychiaterin und versucht, ein Trauma zu verarbeiten. Die Psychiaterin bittet ihn, dieses Trauma selbst zu formulieren: „My best friend, Sherlock Holmes is dead.“258 Unmittelbar nach diesem enthüllenden Minicliff mit exklamatorischen Kommunikationsakt beginnt der Vorspann. Mit einem extradiegetischen Schriftzug „Three months before“ wird nach dem Vorspann der Zeitsprung angezeigt. Sherlock wird unter anderem wegen der Wiederbeschaffung des berühmten William-Turner-Gemäldes The Great Falls of the Reichenbach, auf dem der Schweizer Wasserfall gleichen Namens abgebildet ist, und einiger anderer gelöster Fälle zu einer Berühmtheit in England [Sq.-Block I]. Eine ungewisse Zeitspanne später wird Moriarty verhaftet, als er scheinbar gleichzeitig die Kronjuwelen im Tower an sich nehmen kann sowie den Tresor der Bank von England und die Türen eines Gefängnisses per Handy öffnet; im Gerichtsprozess wird er aber entgegen jeglicher Logik freigesprochen. Nach seiner Entlassung besucht er Sherlock in seiner Wohnung [Sq-Block II]. Moriarty verabschiedet sich mit einer Drohung: „Every fairy tale needs a good old-fashioned villain. […] I want to solve the problem. Our Problem. The final problem. It’s going to start very soon, Sherlock. The fall.“259 Ein Zeitsprung wird erneut mittels extradiegetischer Schrift deutlich gemacht: „Two months before.“260 In Sequenzblock III und IV zerstört Moriarty sehr erfolgreich den guten Ruf Sherlocks: Er macht die Öffentlichkeit glauben, Sherlock Holmes sei eigentlich ein Hochstapler und Moriarty ein Schauspieler namens Richard Brook, von Sherlock engagiert, um den perfekten Bösewicht zu mimen und Sherlock als Held erscheinen zu lassen. Der Finalecliff nimmt beinahe vollständig den Sequenzblock V ein. Sherlock hat sich mit Moriarty verabredet. Watson wird durch einen angeblichen Hilferuf ihrer gemeinsamen Vermieterin Mrs. Hudson abgelenkt und fährt zu ihr. Moriarty und Sherlock treffen sich auf dem Dach des Bartholomew’s Hospital. Moriarty wartet bereits auf Sherlock und spielt erneut den Song „Stayinʼ alive“ mit seinem Handy ab. Moriarty:

Here we are at last. You and me, Sherlock. And our problem, the final problem…staying alive. So boring, isn’t it? [Klappt sein Handy zu und macht damit die Musik aus.] […] One final act. Glad you chose a tall building. […]

Sherlock:

My suicide.

257 Siehe für das Sequenzprotokoll der Folge: Anhang, S. 667. 258 „The Reichenbach Fall“. In: Sherlock, S2E3, TC 01:04. 259 Ebd., TC 22:18‒25:50. 260 Ebd., TC 27:05.

552 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION Moriarty:

Genius detective proved to be a fraud. I read it in the paper, so it must be true. I love newspapers. Fairy tales. And pretty grim ones, too. […] Your only three friends in the world will die. Unless…

Sherlock:

…unless I kill myself, complete your story. […]

Moriarty:

I told you how this ends.261

Moriarty droht Sherlock, wenn er nicht von diesem Dach springe, lasse er unverzüglich Sherlocks drei Freunde Watson, Inspektor Lestrade und Mrs. Hudson umbringen. Sherlocks Tod würde Moriartys (Lügen-)Geschichte vervollständigen: Sherlock könnte die Verleumdung nicht mehr entkräften, die Öffentlichkeit ginge davon aus, er habe sich aus Schuld- und Reuegefühl das Leben genommen. Sherlock tritt an den Rand des Gebäudes. Dann aber wird ihm klar, dass Moriarty sicher mit seinen angeheuerten Killern einen Code vereinbart hat, um sie aufzuhalten, falls etwas Unvorhergesehenes passiert. Sherlock tritt vom Rand zurück und Moriarty begreift, dass er selbst die Schwachstelle seines Plans ist: Solange er lebt, können die Attentate verhindert werden, woraufhin er sich kurzerhand erschießt. Nun geht Sherlock erneut an den Rand des Daches. Watson, der inzwischen das Ablenkungsmanöver erkannt hat, erreicht gerade mit seinem Taxi das Krankenhaus und erhält einen Anruf Sherlocks. Sherlock:

It’s all true.

Watson:

What.

Sherlock:

Everything they said about me. I invented Moriarty […] I am a fake. [Tränen sind in seinen Augen.] […] The newspapers were right all along. […] I want you to tell anyone who will listen to you that I created Moriarty for my own purposes.

Watson:

Ok. Shut up, Sherlock. The first time, the first time we met you knew all about my sister.

Sherlock:

Nobody could be that clever.

Watson:

You could.

Sherlock:

[Lacht kurz auf:] I researched you. […] I wanted to impress you. It’s a trick. Just a magic trick. […] Stay exactly where you are. Keep your eyes fixed on me. […] This phone call. It’s my note. That’s what people do, don’t they. Leave a note. Goodbye John. [Wirft das Handy weg und lässt sich fallen.]262

261 Ebd., TC: 01:08:27‒01:14:05. 262 Ebd., TC 1:19:25‒1:21:19. Auch in diesem Telefonat zeigt sich die Bedeutung des Handys für Sherlock, der sogar seinen Abschiedsbrief (ins Doyles Vorlage war es ein Brief, der auf den möglichen Tod Holmes vorausdeutete) als Telefongespräch gestaltet.

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Aus verschiedenen Perspektiven sieht man im Folgenden, wie Sherlock vom Dach fällt [Abb. S7–12] bis kurz vor den Aufprall. Dann wird unversehens zu einer Halbtotalen geschnitten, bei der am unteren Rand nur unscharf ein schwarz gekleideter Körper auf dem Bürgersteig zu erkennen ist [Abb. S13]. Aus der Entfernung (hinter einer der Ecken eines Gebäudes, zum Teil von einem Kleinlastwagen verdeckt) sieht Watson seinen Freund blutend am Boden. Als er zu Sherlocks Körper rennt, wird er von einem Radfahrer angefahren [Abb. S15], fällt, ist kurz benommen. Aus der Vogelperspektive wird Sherlocks Körper auf dem Boden gezeigt und wie sich um ihn Blut sammelt [Abb. S16]. Watson taumelt zu ihm, Passanten und aus dem Krankenhaus herbeigeeilte Leute versuchen, ihn fern zu halten. Aber es gelingt ihm, Sherlocks Handgelenk zu nehmen [Abb. S17]: Er fühlt keinen Puls mehr. Die Passanten drehen den Körper um. Kurz ist Sherlocks blutverschmiertes Gesicht zu sehen [Abb. S18], bevor er auf eine Trage gelegt und weggebracht wird. Abbildungen S7–18: The Fall im Kaleidoskop der Perspektiven

Abb. S7, S1E3, TC 1:21:21

Abb. S8, TC 1:21:28

Abb. S9, TC 1:21:30

Abb. S10, TC 1:21:31

Abb. S11, TC 1:21:32

Abb. S12, TC 1:21:34

Abb. S13, TC 1:21:35

Abb. S14, TC 1:21:38

Abb. S15, TC 1:21:45

Abb. S16, TC 1:22:05

Abb. S17, TC 1:22:32

Abb. S18, TC 1:27:34

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In den restlichen 1:30 Minuten werden noch fünf sehr kurze Sequenzen gezeigt. In der vorletzten Sequenz sitzt Watson bei der Psychiaterin vom Beginn der Folge ‒ erst hier wird der proleptische Rahmen geschlossen. Am Ende der Folgen laufen Watson und Mrs. Hudson über den Friedhof und stehen an Sherlocks Grab. Als Mrs. Hudson bereits vorausgeht und Watson am Grab zurückbleibt, wendet er sich seinem toten Freund zu und äußert seine Bewunderung: niemals werde er die Lügen über ihn glauben. Und Sherlock solle für ihn ein letztes Wunder vollbringen: nicht mehr tot sein. Während er sich vom Grab entfernt, nähert sich die Kamera einer etwas abseits stehenden Gestalt von hinten, fährt um die Person herum und zeigt: Es ist Sherlock. Anscheinend hat er alle Äußerungen Watsons gehört. Er dreht sich um und geht davon. Der Abspann beginnt. Die dritte Staffel zeigt direkt, wie Sherlock sich vom Dach stürzt, aber statt auf dem Boden aufzuprallen, wird er von einem an ihm befestigten Bungee-Seil hochgerissen. Wie ein Actionheld durchbricht er ein Fenster des Krankenhauses, landet im Inneren, küsst leidenschaftlich die dort stehende Molly, schüttelt das zerbrochene Glas von seinem Mantel und verlässt das Krankenhaus. Die Sequenz stellt sich als Erzählung von Lestrades ehemaligen Untergebenen Anderson heraus. Denn Lestrade beendet die Metadiegese mit dem Ausruf: „Bollocks!“ Anderson antwortet: „No, no, no. It’s obvious. That’s how he did it.“263 Anderson hat inzwischen den Polizeidienst quittiert und eine Fangemeinde gegründet, die sich unter dem Namen „the empty hearse“ trifft und spekuliert, ob Sherlock noch lebt und ‒ wenn ja ‒ wie er entkommen konnte.264 Eine weitere Theorie des Fanklubs, das Überleben Sherlocks betreffend, wird später gezeigt, als sich die von Anderson ins Leben gerufene Sherlock-Holmes-Fangemeinde trifft und diskutiert: Moriarty und Sherlock seien ineinander verliebt gewesen und hätten, um gemeinsam ein neues Leben beginnen zu können, ihren Tod vortäuscht.265 Als sie gerade dabei sind, sich zu küssen, unterbricht Anderson die 263 „The Empty Hearse“. In: Sherlock, S3E1, TC 03:20. 264 Das ausgerechnet Anderson Anführer des Fanklubs ist ‒ der mäßig intelligente Polizist, der sich mehrfach mit Sherlock anlegt und am Rufmord Sherlocks seinen Anteil hat ‒, kann als ironischer Kommentar der Serienautoren gedeutet werden. Der Titel der Folge und des Fanklubs „The Empty Hearse“ ist erneut ein Verweis auf die Erzählungen Doyles. In „The Adventure of the Empty House“ begegnet Sherlock Holmes Watson und berichtet ihm, wie er nicht die Reichenbach-Wasserfälle hinunterstürzte, sondern sich an einem Felsvorsprung hat klammern können. 265 Die Auflösungs-Version ist auch eine Anspielung auf die zahlreichen Diskussionen im Internet, ob Sherlock und Watson ein homoerotisches Verhältnis zueinander hätten bzw. Sherlock homosexuell sei. Siehe zur Darstellung von Sexualität in der Serie: Lavigne: „The Noble Bachelor and the Crooked Man“. In: Porter (Hg.): Sherlock Holmes for the 21st century, 2012, S. 13–23.

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Metadiegese: „What? Are you out of your mind?“266 Ein klischeehaft dargestellter weiblicher Fan hatte diese Theorie vorgestellt [Abb. S20] und verteidigt seine Theorie, als er plötzlich eine SMS erhält, Sherlock lebe noch und sei mehrfach gesehen worden. Daraufhin klingen alle Handys der anwesenden Fans und der Bildschirm wird bedeckt von Schriftfigurationen wie beispielsweise: „#SherlockIsNotDead“ [Abb. S21]. Abbildungen S20–21: Fan-Objekt stellt seine eigenen Fans dar

Abb. S20, S3E1, TC 30:27

Abb. S21, TC 30:29

Eine (halbwegs) plausible Auflösung des Finalecliffs wird erst spät in der Folge präsentiert [TC 1:12:00 ‒ 1:19:39]. Sherlock und Watson befinden sich mit einer Bombe in einem verlassenen U-Bahn-Waggon. Der Countdown der Bombe zeigt nur noch wenige Sekunden bis zur Explosion an, und anscheinend wissen beide nicht, wie sie sich entschärfen lässt, als plötzlich eine Weißblende folgt. In einer Rückblende wird gezeigt, wie Sherlock Anderson die Auflösung präsentiert: „It was vital that John stayed just where I’d put him. That way his view was blocked by the ambulance station.“267 Die Details von Sherlocks Erklärung sind zu zahlreich, um sie hier zu nennen, nur der grobe Inhalt ist von Interesse: Sherlock hat mit seinem Bruder alles geplant, die ganze Straße ist abgesperrt durch dessen eingeweihte Agenten. Watson steht, während Sherlock fällt, an einer Stelle, zu der ihn Sherlock dirigiert hat und

266 „The Empty Hearse“. In: Sherlock, S3E1, TC 30:10. 267 Auf die Einzelheiten von Sherlocks Erklärung kann hier nicht eingegangen werden, zumal nicht ganz sicher ist, dass es wirklich die Auflösung des Cliffhangers ist. Zum einen zeigt sich Moriarty in einem Videofilm am Ende der dritten Staffel ‒ er scheint ebenfalls nicht tot zu sein. Zum anderen wirkt Sherlocks Enträtselung zum Teil inszeniert, da er seine ‚exklusive‘ Enthüllung für Anderson in einen Camcorder spricht und die Sequenz mit einer Art mise en abyme, einem Videobild im eigentlichen Filmbild beginnt. Diese metafiktionale Komponente sowie Andersons zum Teil berechtigte, aber unbeantworteten Fragen am Ende des Interviews lassen auch diese Auflösung als „magic trick“, als Beruhigung der für Sherlock in seinen Ermittlungen hinderlichen Fans erscheinen.

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von der er die letzten Meter des Sturzes, vor allem den Aufprall, nicht sehen kann, da seine Sicht durch ein niedriges Gebäude versperrt wird. Sherlock landet auf einem Sprungkissen, das, während Watson vom Zusammenprall mit dem (Agenten-)Fahrradfahrer benommen ist, von einigen Gefolgsleuten seines Bruders rasch entfernt wird. Der Puls Sherlocks wird mit einem Ball unter der Achsel unterdrückt ‒ der Rest ist Kunstblut und eine Sherlock ähnelnde, von Molly besorgte Leiche. 6.3.2 Wirkung Die vor allem im Internet geführte Diskussion über den Finalecliff bestand aus zwei Komplexen. Zum einen aus der Frage, wie Sherlock es geschafft habe, am Leben zu bleiben. Der Zuschauer sieht ihn kurz davor aus vier verschiedenen Perspektiven fallen, sieht seine Gestalt blutüberströmt auf dem Asphalt liegen ‒ Watson fühlt ihm sogar noch den Puls und bestätigt dann seinen Tod für den Zuschauer. Zum anderen wurden vor allem die Fans unter dem hashtag268 „I believe in Sherlock Holmes“ aktiv. Als Sherlock sich vom Dach fallen lässt, ist die diegetische Öffentlichkeit davon überzeugt, Sherlock sei ein Hochstapler.269 Sherlock stellt es in seinem letzten Telefonat mit Watson so dar, als sei die Beziehung zu Watson und damit auch zum Zuschauer eine einzige Lüge: Es erscheint fast so, als habe er niemals die für ihn charakteristischen genialen Kombinations- und Analyse-Fähigkeiten besessen, sondern sie immer nur vorgegaukelt und mit ihnen getrickst. Die Fans wollten dies nicht hinnehmen: Unzählige Webseiten wurden online gestellt, eine erstaunliche Anzahl selbst geschriebener Songs von Frauen auf youtube veröffentlicht270 und in ganz London tausende von Plakaten, Zetteln und Postern aufgehängt mit Formulierungen wie: „Moriarty was real. I believe in Sherlock Holmes“.271 Das Ansinnen der Fans wird in einem Youtube-Video deutlich: „on the 15 January 2012 he ‚died‘ a liar we know the truth he should have ‚died‘ a hero 268 hashtag (#) beschreibt ein typografisches Doppelkreuz, das benutzt wird, um die Suche nach Gruppen in sozialen Netzwerken zu erleichtern. 269 In den Fortführungen der Geschichten von Doyle (genannt „The Great Game“) ist Moriarty eine vom Drogenkonsum Sherlock Holmesʼ herbeigeführte Halluzination. (Vgl. Polasek: „Winning “The Great Game”“. In: Stein u. a. (Hg.): Sherlock and Transmedia Fandom, 2012, S. 44.) 270 Am 22.03.2014 finden sich unter dem Stichwort „I believe in Sherlock“ 14 selbst geschriebene Songs mit Videos auf Youtube ‒ alle werden von jüngeren Frauen gesungen. 271 Siehe zur Wirkung dieses Cliffhangers auf die Fans auch: Kazmaier u. a.: „Sherlocked“. In: Nesselhauf u. a.: Quality TV, 2014, S. 261‒263.

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fiction or not he deserves to be redeemed the Sherlock fandom has the power to change his image we’ll come together we’ll believe in him just like john“272

6.3.3 Kategorisierung und Analyse Die erstaunliche Wirkungsbreite des Finalecliffs ist vor allem aufgrund von dessen zahlreichen Komponenten erklärbar. 1. Ein wichtiger Faktor für die Breite der Wirkung ist, dass der Finalecliff aus drei Cliffhanger-Formen besteht. Indem sie sich gegenseitig beeinflussen, verstärken sie die Intensität der Spannung: Erstens ist die Aussage Johns bei der Psychiaterin, Sherlock sei tot, ein enthüllender Minicliff im Rahmen eines proleptischen cold open. Er gibt den Impuls zur Rezeption der vollständigen Folge, steht aber auch in Verbindung mit den anderen Cliffhanger-Formen dieser Episode. Erst in der vorletzten Sequenz ist die erzählte Zeit erreicht, die im cold open vorweggenommen wird ‒ die ganze Folge über sieht der Rezipient das Geschehen mit dem Wissen, dass Sherlock sterben wird. Zweitens wird das Erreichen der vorweggenommenen Zeit unmittelbar in der anschließenden Sequenz mit einem Cliffhanger aufgelöst, aus dem hervorgeht: Sherlock lebt. Diese Auflösung des Minicliffs vom Anfang der Folge ist zugleich ein enthüllender Cliffhanger. Er entsteht durch seinen Zusammenhang mit der dritten Cliffhangerform, dem Binnencliff von Sherlocks Sturz vom Krankenhausdach. Wie lässt sich Sherlocks Überleben erklären? Der Minicliff des proleptischen cold open und Teile des Binnencliffs werden mit dem enthüllenden Cliffhanger der Folge aufgelöst. Es ist aber nur eine partielle Auflösung. Denn es bleibt ungeklärt, wie Sherlock überleben konnte. Durch das Wechselspiel der drei Erzählformen entstehen die große Wirkung und der Umfang des Finalecliffs. 2. Wichtige Bestandteile des Binnencliffs sind die unterschiedlichen Perspektiven und Einstellungsgrößen. Nach Sherlocks Sturz sieht Watson mit eigenen Augen den blutbefleckten, leblosen Körper, fühlt keinen Puls mehr, wird für den Zuschauer zum Zeugen von Sherlocks Tod. Zunächst wird Watsons Perspektive eingenommen: Der Rezipient sieht Sherlock aus Watsons Position, man rennt mit ihm über die Straße, ist nach dessen Sturz mit ihm kurz benommen und steht im kleinen Kreis der Passanten, als Watson ihm den Puls fühlt. Watsons Perspektive wird vor allem mit dem Cliffhanger der Folge aufgegeben: Watson verlässt den

272 http://www.youtube.com/watch?v=Q0mnC3F7h5E [vom 04.03.2014].

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Friedhof, der Zuschauer sieht hingegen, dass Sherlock noch lebt. Mit dieser Enthüllung wird der Rezipient zweifach aktiviert: Zum einen weiß der Zuschauer mehr als Watson (dramatische Ironie) ‒ was einige Fans als Aufforderung empfanden, Sherlocks Ruf zu retten. Zum anderen sind die Zuschauer aktiviert, sich zu fragen, wie er überleben konnte. 3. Fast 30 Minuten Erzählzeit nehmen in „The Reichenbach Fall“ der Binnencliff und der nachfolgende Cliffhanger ein ‒ auch in der nächsten Folge dreht sich die Inszenierung größtenteils um die Auflösung (bzw. die Auflösungen) des Cliffhangers. Der eigentliche, neue Fall beansprucht in „The Empty Hearse“ nur wenig Erzählzeit und Aufmerksamkeit der Figuren, zumal die Folge als Ganzes nach dem Fanklub benannt ist und nicht nach dem Fall. Die lange Erzählzeit ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil des Finalecliffs und der Wirkungserklärung. 4. Ebenso wie bei dem „Who shot J.R.?“-Finalecliff aus Dallas ist die Dauer der Erzählpause ein wichtiger Hintergrund der Breitenwirkung. Zwischen der Ausstrahlung der Staffeln liegt eine Unterbrechung von fast zwei Jahren. Eine derart lange Zeitspanne unterstützt Antizipation und Spekulation. Vergleichbar mit Dallas ist auch die eigenständige Namensgebung der Zuschauer. Wird bei Dallas der Cliffhanger und die Diskussion über ihn mit der Frage „Who shot J.R.?“ betitelt, so wird bei Sherlock die Wiederherstellung von Sherlocks Ruf unter dem Slogan „I believe in Sherlock“ betrieben. Beide Male fühlen sich die Zuschauer ermuntert zur Fortführung und eigenen Formulierung ihrer Auseinandersetzung mit der Serie im Allgemeinen und dem Cliffhanger im Besonderen.273 5. Bei einer Erklärung der Wirkung darf nicht die unrealistische Darstellungsweise außer Acht gelassen werden: Trotz einer sehr geschickten und aufwändigen Inszenierung funktioniert der Binnencliff ähnlich wie der resultative Cliffhanger mit ergänzendem Auflösungsmoment in der Kinoserie. Es werden beim Binnencliff Einstellungen gezeigt, die mit der von Sherlock Anderson gegenüber präsentierten Auflösung nicht möglich sind. Dem Zuschauer wird beim Binnencliff ein Ergebnis gezeigt, das mit dieser Auflösung relativiert, sogar zum Teil korrigiert wird. Das Fallen Sherlocks wird so inszeniert, als sei der Zuschauer teilweise an Watsons Perspektive gebunden und sehe deshalb wie Watson nicht die 273 Lange Zeit war der Ausstrahlungstermin unklar. Im November 2013 ließ die BBC einen Leichenwagen (siehe Titel „The Empty Hearse“, S3E1) durch London fahren. Auf dem Blumenschmuck stand: „Sherlock 01 01 14“. (Vgl. „Das ist spitze!, sagt der Moderator“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Dezember 2013, S. 35.) Auch von den Machern wurde eine Vermischung aus Fiktion und Realität unterstützt. Am 24.12.2013 wurde außerdem eine Mini-Episode (7min:11sek) „Many Happy Returns“ auf BBC One ausgestrahlt. Ähnlich wie bei ‚Fan-Serien‘ wie z. B. Lost und Heroes werden von der Produktionsseite den Fans kleine Zusatzinhalte und Events geboten, welche die Treue zur Serie zusätzlich unterstützen.

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große Luftmatte hinter dem niedrigen Gebäude der Ambulanz. Auch während Watson kurz zu Boden sinkt, benommen ist, bleibt die Kamera bei ihm, zeigt nicht das Geschehen ringsum. Diese Einschränkung der Perspektive würde Sherlocks Auflösung plausibel machen. Damit aber sein Sturz noch überzeugender ist, wird diese Perspektivenbeschränkung nicht konsequent eingehalten, sondern durch andere, wie die extreme Aufsicht, erweitert: diese Ergänzungen laufen nicht mit Sherlocks Enträtselung konform.274 Der aus verschiedenen Perspektiven gezeigte und daher nicht zu bezweifelnde Tod des Protagonisten und sein bereits mit der letzten Einstellung enthülltes Überleben vergrößert die Wirkung des Cliffhangers erheblich. Der Rezipient wird erneut in der Rolle eines ‚Detektivs‘ versetzt und zwei Jahre mit der Lösung dieses Rätsels alleingelassen. 6. Zu der herausragenden Wirkungsbreite hat auch das Ansprechen verschiedener Publikumsgruppen, verschiedener Modell-Zuschauer geführt. Zum einen richtet sich auch dieser neue Finalecliff ‒ wie schon der erste Finalecliff ‒ an die DoyleKenner. In der Serie wird Sherlock Holmes durch die Wiederbeschaffung eines Gemäldes, betitelt The Great Falls of the Reichenbach, der Öffentlichkeit bekannt.275 Die zu Grunde liegende Kurzgeschichte The Final Problem erschien im Dezember 1893 im Strand Magazine. Moriarty und Sherlock Holmes kämpfen am Reichenbach-Wasserfall, einer riesengroßen Kaskade, und stürzen schließlich beide hinunter. Im Gegensatz zum Finale der Serien-Staffel war dieses Ende jedoch nicht als Cliffhanger geplant, denn Doyle beabsichtigte den Tod Sherlock Holmesʼ.276 Hauptsächlich aus finanziellen Gründen wurde Sherlock Holmes im Nachhinein zum Cliffhanger im wörtlichen Sinne: Er konnte sich an einen Felsvorsprung klammern und überlebte. Der Aufruhr, den der (im Rückblick nur ver-

274 Vor allem die Schnittfolge ist so nicht möglich: Der harte Schnitt von Abb. S12 zu S13 ist nicht mit Sherlocks Auflösung kompatibel. 275 Mit dem Titel „The Reichenbach Fall“ ist ein Wortspiel verbunden, dass die dreifache Bedeutung von ‚fall‘ beinhaltet: 1. Der Wasserfall, den in Doyles Erzählung Sherlock Holmes und Moriarty hinunterstürzen. 2. Das von Moriartiy für die Öffentlichkeit inszenierte ‚moralische Fallen‘ von Sherlock. 3. Das wortwörtliche Fallen Sherlocks am Ende der Folge. Zudem heißt Moriartys erfundener Märchenerzähler Rich Brook (auf Deutsch: „Reichen“ und „Bach“) und die Reflexion über Auflösung und Bösewichter im ersten Drittel der Folge beginnt mit einer Anekdote über Bach. 276 Nach der Veröffentlichung vermerkte Doyle im Dezember 1893 in seinem Tagebuch „Killed Holmes“. Doyle u. a.: The New Annotated Sherlock Holmes, 2007, S. 747. 1896 rechtfertigte sich Doyle mit den Worten: „If I had not killed him, he certainly would have killed me.“ Davies: „Introduction“. In: Ders. (Hg.): The Best of Sherlock Holmes, 1998, S. IX. Die zahlreichen Beschwerdebriefe zeigten ebenfalls deutlich an, dass die Leser die Intention des Autors verstanden hatten: Holmes ist tot.

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meintliche) Tod Sherlock Holmesʼ verursachte, war vergleichbar mit der Wirkung des Cliffhangers aus „The Reichenbach Fall“. Doyle erhielt Morddrohungen, das Strand Magazine wurde von vielen Abonnenten abbestellt.277 Ganz im Gegensatz zu den Aktionen der Sherlock-Fans und den Diskussionen im Internet, in denen es um Antizipation und Spekulation ging, protestierten die Leser in den Briefen an Doyle gegen Sherlock Holmesʼ Tod. Diese Wirkung der Doyle-Geschichte wird in die Serie Sherlock mit hinein genommen, es wird erneut intertextuell mit dem Vorwissen gespielt. Mit der Art der Inszenierung des Finalecliffs werden vor allem die Doyle-Kenner geradezu zu einem intertextuellen Spiel aufgefordert und animiert ‒ und die Fans haben diese Einladung angenommen. Aber insgesamt werden alle Zuschauer-Gruppen angesprochen: Die Doyle-Kenner, mit der Möglichkeit zum Vergleich der Vorlage The Final Problem, die Serien-Fans, welche die Figur des Sherlock Holmes ähnlich verehren wie die damaligen Leser des Strand Magazine, und die übrigen Fernseh-Zuschauer, welche die Setzung eines Finalecliffs und seiner späteren Auflösung bereits vom ersten Finalecliff kennen und voller Erwartung sind. 6.3.4 Schlussfolgerungen: Eine Reflexion über das Bedürfnis nach einem Abschluss Erneut zeigt sich auch im zweiten Finalecliff von Sherlock ein postmoderner, selbstreflexiver Einsatz des Cliffhangers. Die Folge beginnt bereits mit einem vorweggenommenen Resultat: Sherlock ist tot. Dieses Trauma will Watson verarbeiten und damit abschließen. Die geplante Vernichtung sowohl des Rufes als auch der Person Sherlock beginnt mit Moriartys Besuch. Bereits hier werden von Moriarty mehrfach „the final problem“ und „the fall“ genannt. Es beginnt bereits eine Reflexion über Geschichtenerzählen, Autorschaft und das Bedürfnis nach einem Abschluss – zugleich ist dies ein Nachdenken über die Funktionsweise des Cliffhangers. Als Moriarty Sherlock besucht, spielt dieser gerade ein Stück von Johann Sebastian Bach auf der Geige. Moriarty:

You know, while he was on his deathbed, Bach, he heard his son at the piano playing one of his pieces. The boy stopped before he got to the end…

277 „The death of Sherlock Holmes caused a sensation among his readers. On the streets of London, men wore black crepe armbands and hatbands in mourning. Conan Doyle was deluged with furious letters, including his favorite, from a woman who began, ‚You brute!‘ Perhaps most upset of anyone was The Strand, which had lost one of its most valuable properties. The magazineʼs circulation dropped by 20.000.“ Pascal: Arthur Conan Doyle, 2000, S. 78.

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Sherlock:

[Setzt fort:] … and the dying man jumped out of his bed, ran straight to

Moriarty:

[Setzt fort:]…couldn’t cope with an unfinished melody.

Sherlock:

Neither can you. It’s why you’ve come. […]

Moriarty:

Every fairy tale needs a good old-fashioned villain. […] I want to solve

the piano and finished it…

the problem. Our Problem. The final problem. It’s going to start very soon, Sherlock. The fall.278

Bereits im Finalecliff von Staffel 1 und der Auflösung zu Beginn der zweiten Staffel wird der Konflikt der beiden inklusive der eingesetzten Erzähltechnik mit dem Refrain von Stayinʼ Alive als eine Art Melodie inszeniert, die wiederkehren wird. „You’ll be hearing from me Sherlock,“279 sagt Moriarty zum Abschied. Mit der zitierten Reflexion über ‚Enden‘ und ‚Auflösung‘ anhand der Anekdote über Bach wird in der Finalefolge von Staffel zwei der Konflikt zusätzlich als Kunstwerk, als MärchenErzählung bezeichnet, die einen Bösewicht und einen Abschluss benötigt. So wie Sherlock an dieser Stelle Moriartys Satz beendet und Moriarty Sherlocks, ist von vornherein eine geteilte Autorschaft dieser ‚Erzählung‘, dieses „fairy tale“ vorhanden. Moriarty gibt sich später als Richard Brook ‒ von Beruf Märchenerzähler fürs Kinderfernsehen ‒ aus und spielt mehrfach auf die Gebrüder Grimm an.280 Er hat einen genauen Plan, ein ‚Skript‘: Die Öffentlichkeit soll glauben, Moriarty sei erfunden.281 Wie sich Bach und sein Sohn die Melodie teilen, benötigen Protagonist und Antagonist einander zur Vollendung der Geschichte: Moriarty braucht Sherlocks Tod; Sherlock hingegen ist auf Watsons Glauben, der Selbstmord sei real, (und auf Mollys Mithilfe) angewiesen, damit auch die Auftragskiller seinen Tod als Tatsache ansehen und keinen seiner Freunde töten. „The final problem“, das unter anderem für das Treffen auf dem Dach steht, beginnt mit Moriartys Sätzen: „Here we are at last. You and me, Sherlock. And our problem, the final problem…staying alive. So boring, isn’t it? […] One final act.“ Der gefahrensituative Cliffhanger, für den das „stayinʼ alive“ steht, ist bereits eine aus dem Finalecliff der ersten Staffel bekannte Melodie im wörtlichen und metaphorischen Sinne: Eine Melodie ist nichts anderes als eine charakteristisch geordnete Folge von Tönen ‒ der gefahrensituative Cliffhanger ist ein charakteristisch gestaltetes Ende. Der gleichbleibende Refrain „stayinʼ 278 „The Reichenbach Fall“. In: Sherlock, S2E3, TC 22:18‒25:50. 279 „A Scandal in Belgravia“. In: Sherlock, S2E1, TC 03:25. 280 „Genius detective proved to be a fraud. I read it in the paper, so it must be true. I love newspapers. Fairy tales. And pretty grim ones, too.“ „The Reichenbach Fall“. In: Sherlock, S2E3, TC 1:22:25. 281 Insofern ist die Auflösung konsequent, weil auch Sherlock von vornherein mit seinem Bruder (erneut geteilte Autorschaft) eine Erzählung, einen Plan entwirft, der den Sprung Sherlocks einschließt.

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alive“ steht für die Variation der ‚Cliffhanger-Melodie‘, einer Fortsetzung des ersten Finalecliffs: Der Held ist in Gefahr, Protagonist und Antagonist stehen sich gegenüber: „So boring, isn’t it?“ Die geteilte Autorschaft folgt der Serie auf die Produktionsseite: Letztendlich teilen sich nicht nur die beiden creators Mark Gatiss und Steven Moffat die Autorschaft, sondern sie teilen sie auch mit Arthur Conan Doyle ‒ so wird es dem Zuschauer und Doyle-Fan zumindest vermittelt. Der letzte extradiegetische Schriftzug des Vorspanns nennt nicht die Namen der creators, wie in den meisten neueren Serien, sondern lautet: „Based on the works of Sir Arthur Conan Doyle“.282 Ab der dritten Staffel kommt hinzu, dass die creators den Fans suggerieren wollen, dass sie (die Fans) ebenfalls an der Autorschaft beteiligt sind. Sie haben im doppelten Sinne die „unfinished melody“ nicht ertragen. Zum einen, weil sie eine Erklärung dafür brauchten, wie es sein kann, dass Sherlock Holmes noch immer lebt. Zum anderen, weil sie sich in der Verantwortung gesehen haben, die Erzählung richtig zu stellen, zu korrigieren. Anhand des Youtube-Beitrags wird deutlich, dass die Fans zwischen Diegese und Alltag unterscheiden können ‒ „fiction or not“; diese Unterscheidung ist ihnen aber gleichgültig. Sie verehren die Erzählung so sehr, dass sie diese in der langen Erzählpause weiterführen müssen ‒ sie selbst setzen die Diegese fort, verlängern sie in den Alltag hinein. Die lange Erzählpause wird mit eigenen Gedanken, Aktionen und Spekulationen gefüllt. Statt der realen hashtags wie „#believeinsherlock“ oder „#IBelieveInSherlock“283 zeigt die Serie den fiktiven hashtag „#SherlockIsNotDead“. (Stereotype) Stellvertreter der Fans treten als Figuren auf, Vorschläge der Cliffhanger-Auflösung werden gezeigt. Mit ihren Aktivitäten haben die realen Fans die Geschichte weitergeführt, die Rückkopplung in der Erzählpause wesentlich verstärkt und sogar in der Diegese Spuren hinterlassen. Ein selbstreflexiver Gebrauch drei verschiedener Cliffhangerformen regt zur Antizipation und Aktion an ‒ der Rezipient selbst kann die Erzählpause der seriellen Narration damit füllen. Die Autorität der Autorschaft bleibt zwar bei den Produzenten, aber die Wirkung des Cliffhangers und die Bedeutung der Fans sind zu groß, als dass sie ignoriert werden könnten. 6.4 Resümee: Convergence Culture und Postmoderne Beide besprochenen Finalecliffs hatten eine enorme Wirkung und führten zu einer breiten Diskussion. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Finalecliffs der Serie ‒ wie auch die Serie an sich ‒ verschiedene Publikumsgruppen ansprechen. Der stark involvierte Fan will vor allem Sherlocks Ruf retten, der Doyle-Kenner die Bezüge zum Original aufdecken und der gewöhnliche Fernsehserien-Zuschauer die 282 Bspw.: Sherlock, S2E1, TC 06:37. 283 http://www.youtube.com/watch?v=Q0mnC3F7h5E [vom 22.03.2014]; http://www. pinterest.com/ameera1214/ibelieveinsherlock/ [vom 22.03.2014].

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Cliffhanger auflösen. Selbst Serien, die eher dem episodischen Erzählprinzip zuzuordnen sind und ‒ wie Spooks und Sherlock ‒ als Detektiv- beziehungsweise Agenten-Genres Fall für Fall abschließen, setzen auf den Cliffhanger. Er ist die zentrale Narrationstechnik, um innerhalb einer Erzählung Interesse, Antizipation, Involvierung und Konvergenz hervorzurufen. Um diese Technik einsetzen zu können, wird kurzzeitig das Erzählprinzip gewechselt. Als „Convergence Culture“ bezeichnet Henry Jenkins unter anderem die vorherrschende Populärkultur, in welcher der Rezipient die Macht hat, mithilfe der zahlreichen Beteiligungs- und Kommentarmöglichkeiten der heutigen medialen Vernetzung, aktiv mitzuwirken. Der Finalecliff aus „The Reichenbach Fall“ entspricht Jenkins Theorie und zeigt, wie weit Spekulation, Antizipation und Aktivierung des Rezipienten, ausgelöst durch einen Cliffhanger, gehen können. In der Auflösung des Finalecliffs aus Sherlock werden die Fans, ihre Aktionen und Vorschläge Teil der Erzählung. Ecos Begriffe des ‚naiven‘ und ‚kritischen Modell-Lesers‘ ergänzen Jenkins Theorie in diesem Fall, weil Eco darauf aufmerksam macht, dass bereits in der Produktion bewusst verschiedene Modell-Rezipienten angesprochen werden. Die Grenzen zwischen Produktion und Rezeption werden zwar nicht verwischt; wahr ist aber auch, dass die heutigen Fans sehr großen Einfluss auf den Verlauf der Erzählung haben. Die beiden Finalecliffs von Sherlock stehen in der Tradition des fortgesetzten Erzählens mit Cliffhangern. Die Erzähltechnik wird (selbst-)ironisch kommentiert, es wird auf das Wissen des Rezipienten über die Beschaffenheit und Funktionsweise der Erzähltechnik vertraut. Gleichzeitig verwendet man den Cliffhanger auf vielschichtige, zeitlich ausgedehnte und dramatisch hervorgehobene Weise. Die Wirkmächtigkeit des Finalecliffs wird eingesetzt, um jede Staffel fulminant und mit zahlreichen Spekulations- und Antizipationsrichtungen zu beenden. Dies setzt ausgiebige Vorbereitung voraus. Der Erfolg von Sherlock ist zu einem nicht unerheblichen Teil dem geschickten und komplexen Gebrauch von Finalecliffs zu verdanken. Wegen der geringen Folgenanzahl ist die Serie aber in Gefahr, zu sehr von dieser Mechanik und deren Erfolg bestimmt zu werden. Die Glaubwürdigkeit der Serie wird spätestens mit dem Finale von Staffel 3 strapaziert, in dem der eigentlich totgeglaubte Moriarty erneut auftaucht. Während die erste Staffel in Kombination mit der Auflösung am Anfang der zweiten einen selbstreflexiven Cliffhangereinsatz aufweist, steigert sich der Gebrauch dieser Erzähltechnik am Ende der zweiten Staffel zu einer Reflexion über Erzählen, das Verhältnis von Protagonist und Antagonist, Offenheit und Abschluss und geteilte Autorschaft. Die Serie wird zunehmend von Cliffhangern bestimmt: Die ausgedehnte Vorbereitung und Inszenierung des Finalecliffs der zweiten Staffel zusammen mit den viel Erzählzeit beanspruchenden Auflösungen der dritten Staffel, der externen Diskussion der Serie und der gleichzeitigen innerdiegetischen

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Reflexion von Auflösung und Unterbrechung wird fast übermächtig. So bleibt zumindest in der dritten Staffel kaum noch Platz für die Kriminalfälle der beiden Freunde Sherlock und Watson.

7. F AZIT

UND

AUSBLICK

Noch nie wurde im Fernsehen so viel fortgesetzt erzählt.284 In der aktuellen Welle der seriellen Fortsetzungsnarration wird der Cliffhanger sehr häufig und in sämtlichen Variationen eingesetzt. Alle Serien verwenden nicht wie in der Seifenoper oder der Kinoserie nur einen Cliffhangertyp, sondern kombinieren die bisherigen zu neuen: Die ‚Voraus-Wende‘ als Mischung aus vorausdeutendem und enthüllendem sowie die ‚Gefahren-Wende‘ als Kombination aus gefahrensituativem und enthüllendem Cliffhanger kommen zu den bisherigen Kategorien als neue Erzähltypen hinzu.285 Angesichts des alternierenden Gebrauchs unterschiedlicher Cliffhanger in zahlreichen Serien haben die Folgen sehr verschiedene Spannweiten und fördern damit die Rezeption auf kurze und lange Sicht: Beispielsweise spannt der vorausdeutende Cliffhanger der dritten Folge von Game of Thrones über eine weite Strecke, während die Gefahren-Wende der ersten Folge vornehmlich für die nächste Episode Interesse weckt. Nicht nur diese Abwechslung macht die Serien vielfältig und spannungsreich, sondern ebenso der Einsatz von Mini- und Binnencliffs ‒ häufig in Kombination mit einem proleptischen cold open. Auf diese Weise werden innerhalb der einzelnen Folge mehrere Spannungsrahmen gesetzt. Der Cliffhanger ist eine bedeutende Erzähltechnik, weil er eine tragfähige Treue zu Serie, zum Sender und zum Medium ‒ beziehungsweise heutzutage verschiedenen Medien ‒ fördert. Gründe für diesen Variationsreichtum an Cliffhangern sind unter anderem erneut die ökonomischen, distributorischen und technischen Gegebenheiten, die ebenfalls vielfältiger sind als in den bisherigen Narrationswellen. Die network-Serien sind akutem Druck ausgesetzt. Sie müssen vor allem bei der Erstausstrahlung hohe Einschalt-

284 Fortgesetzes Erzählen ist ein entscheidendes Kriterium des Quality TV (vgl. Thompson: Televisionʼs Second Golden Age, 1997, S. 14). In den wissenschaftlichen Publikationen zu aktuellen Fernsehserien wird gezeigt, dass die momentane serielle Narrationswelle auch die Hochphase des Quality TV ist (vgl. McCabe u. a. (Hg.): Quality TV, 2007; Blanchet: „Quality TV“. In: Ders. (Hg.): Serielle Formen, 2010, S. 37–70); dieser Befund bestätigt auch, dass im Fernsehen noch nie so viel fortgesetzt erzählt wurde wie seit Beginn der third golden age (ca. seit 1999). 285 Eine Kombination aus gefahrensituativem und vorausdeutendem Erzähltyp erscheint mir nicht möglich und ist mir bisher auch nicht begegnet. Der gefahrensituative ist zu explizit und gegenwärtig, als dass er sich mit einer Vorausdeutung kombinieren ließe.

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quoten erzielen. Daher setzen sie vornehmlich auf den wiederholten Einsatz von enthüllenden und gefahrensituativen Cliffhangern sowie Mini- und Binnencliffs am Ende eines jeden Akts. Die Pay-TV-Sender hingegen sind dank der Finanzierung durch Abonnements und die Zweitdistribution befreit von ökonomischem Druck auf den einzelnen Mikrotext und bevorzugen daher vermehrt vorausdeutende Cliffhanger. Bei ihnen tritt oft die filmische Inszenierung in den Vordergrund ‒ eine bildliche Deixis wird benutzt, um die besondere Aufmerksamkeit des Zuschauers zu erreichen. Einige der Serien von basic cable networks wie Breaking Bad kombinieren die Charakteristiken von network-Sendern und Pay-TV: Dargestellt werden kontroverse Themen, für ein Nischenpublikum gedacht, jedoch mit den Techniken des network-Fernsehens: cold open (teilweise proleptisch), vier- bis fünfaktige Struktur inklusive zahlreicher Mini- und Binnencliffs, Cliffhanger und Finalecliffs sowie große Abwechslung in der Gestaltung der Cliffhanger, bekannt aus den Pay-TV-Serien. Im Gegensatz zu den bisher analysierten seriellen Narrationswellen gibt es heute ein Nebeneinander vielgestaltiger ökonomischer Finanzierungsmodelle. Es gibt sehr unterschiedliche Distributionsweisen und zahlreiche Möglichkeiten, Serien zu rezipieren. Diese Vielgestalt und Freiheiten lassen die Vielfalt der Cliffhangertypen zu. Dank unterschiedlichster Distributionswege kann heutzutage auch ein Nischenpublikum angesprochen werden. Die Serien kennen ihr Publikum und wenden sich gezielt an sie. Fans sind wichtiger Bestandteil der Zuschauerschaft und werden darum mit Cliffhangern zur Partizipation herausgefordert. Die Erzählungen der Serien Firefly und Veronica Mars setzt man wegen der Fan-Nachfrage in einem Kinofilm fort. Die Serie Jericho wurde nur infolge des umfangreichen Fanprotests um eine zweite Staffel verlängert. Die Finalecliffs in Sherlock besitzen mehrere Ebenen und sprechen mit jeder von ihnen eine andere Gruppe von Zuschauern an. Aber nicht nur die ökonomischen, distributorischen und technischen Gegebenheiten führen zu der Vielgestalt an Cliffhangern. Die Autoren und Produzenten selbst sind sich der Möglichkeiten und der Charakteristiken serieller Fortsetzungsnarration bewusst. Dieses Bewusstsein lässt sich in der Bandbreite und Weiterentwicklung der Cliffhanger-Typen, der abwechslungsreichen Positionierung von Cliffhangern, dem Spiel mit Anachronien und der Selbstreflexivität des Cliffhanger-Einsatzes erkennen. Ein Hintergrund dieses bewussten Einsatzes ist die ‒ wie schon bei der Kinoserie zu beobachtende ‒ gegenseitige Beeinflussung der Medien ‒ nur dass diese Beeinflussung nicht mehr zeitlich begrenzt ist auf gegenwärtige populäre Stoffe, sondern die Autoren sich allgemein auf die serielle Erzähltradition beziehen.286 Während die Wis-

286 Sherlock kombiniert bspw. Charakteristiken der Film-Reihe, der Miniserie und der TVSerie für eine modernisierte und stark abgewandelte Adaption einer vornehmlich seriell veröffentlichten Reihe von Erzählungen. Die Serie Game of Thrones ist die Verfilmung einer Buchreihe eines Autors, der selbst für TV-Serien Drehbücher geschrieben hat.

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senschaft noch immer sehr stark in der synchronen Betrachtung serieller TV-Narration verhaftet bleibt, besinnen sich zahlreiche TV-Serien auf die Geschichte der seriellen Narration: In The Wire finden sich zahlreiche Bezüge zu Dickens Werk, in Justified zu The Rockford Files, in The Americans zu Miami Vice, in True Detective zu Twin Peaks, in Lost zu The Prisoner; Les Trois Mousquetaires wird endlich statt als Film als TV-Serie realisiert (The Musketeers); die TV-Serie Penny Dreadful ist sogar nach dem gleichnamigen viktorianischen Groschenheft betitelt. In Sherlock wird die Erzähltechnik des Cliffhangers ironisch und selbstreflexiv eingesetzt. Diese Selbstreflexion beinhaltet, dass das Erzählprinzip des Cliffhangers verstärkt auch für Anfänge von Serien, Staffeln und Folgen verwendet wird. Wichtiger als bei den bisherigen seriellen Narrationswellen ist vor allem die Bedeutung des Anfangs der Folgen, der vornehmlich mit Minicliffs gestaltet wird. Bei zahlreichen Serien, vor allem denen der basic cable networks und network-Sender, ist ersichtlich, dass der Anfang der Folge nahezu so zentral ist wie ihr Ende. Der Beginn der Folge wird in den Vordergrund der Inszenierung gestellt; er soll zur Rezeption der gesamten Folge animieren, denn diese muss sich gegen die große Unterhaltungs-Konkurrenz durchsetzen. Das proleptische cold open, endend mit einem Minicliff, stellt sich als besonders wirkungsvolle Kombination heraus. Stärker als in den bisherigen seriellen Narrationswellen ‒ am ehesten vergleichbar mit dem viktorianischen Fortsetzungsroman ‒ ist ein vermehrter Einsatz des vorausdeutenden Cliffhangers zu beobachten. Die US-amerikanischen Pay-TV-Serien vertrauen zu einem großen Teil auf vorausdeutende Cliffhanger (Deadwood, The Wire, Sleeper Cell). Die Pay-TV-Sender sind wichtiger Motor und Initiator der gegenwärtigen seriellen Welle. Daher ist sie auch eine Hochphase des vorausdeutenden Cliffhangers. Möglich wird dieser Einsatz vor allem infolge der spezifischen Stellung der Pay-TV-Sender im US-amerikanischen Broadcasting-System und dank der Finanzierung dieser Sender. Game of Thrones ist bisher als Ausnahme zu sehen, da es bei dieser Serie ‒ im Gegensatz zu anderen des Pay-TV ‒ zum einen am Ende jeder Folge einen Cliffhanger gibt und zum zweiten nur sehr selten der vorausdeutende Typus verwendet wird. Diese Ausnahme lässt sich aber mit zahlreichen Mini- und Binnencliffs und Cliffhangern der Vorlage erklären. George R. R. Martins Arbeit als TV-Drehbuchautor ist erkennbar an der Art und Häufigkeit, mit der er serielle Erzähltechniken in seiner Roman-Reihe einsetzt. Zu Beginn dieser Studie ging es um die Begriffe ‚Ende‘, ‚Abschluss‘ und ‚Auflösung‘. Der Rahmen dieser Arbeit wird mit dem letzten Analysebeispiel aus Sherlock geschlossen: Der letzte Cliffhanger verbildlicht nicht nur das Bedürfnis nach Abschluss, sondern dieses Bedürfnis der Fans wird während der Erzählung reflektiert. Der Cliffhanger in all seiner aktuellen Vielfalt trägt die Tradition in sich. Es sind deutliche Elemente der Seifenoper und der für sie typischen enthüllenden Cliffhanger

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vorhanden. Der gefahrensituative Cliffhanger in Braquo und die resultativen Auflösungsmomente in Sherlock erinnern an Kinoserien. Die Vorlage zu Game of Thrones verwendet zuletzt paratextuelle Hinweise auf den nächsten Band und endet mit einem Kapitel des nächsten Bandes als Cliffhanger. Vertraut ist diese Art aus Beispielen wie What happened to Mary und den pulps. Der Hinweis auf ein Foto, auf ein Geräusch, einen Zusammenhang in The Wire und Deadwood, vor allem die allegorische Vieldeutigkeit der jeweiligen Elemente, hat Ähnlichkeiten mit den vorausdeutenden Cliffhangern bei Dickens. Jedoch sind diese Cliffhanger immer auch Weiterentwicklungen: Mit dem splitscreen in 24 wird eine größere Gleichzeitigkeit und Parallelisierung erzeugt; mit dem Weiterlaufen des Tons, aber dem Ausbleiben des Bildes in Braquo eine größere Antizipations- und Aktivierungsrichtung als in den Kinoserien ermöglicht. In Sherlock wird der resultative Cliffhanger wesentlich komplexer und geschickter verwendet als in den Kinoserien. Die Cliffhanger dieser Welle beweisen beeindruckende Kalkuliertheit ‒ und gleichzeitig verblüffende erzähltechnische Virtuosität. Besonders in Sherlock wird der Cliffhanger selbstreflexiv eingesetzt, ist sich der eigenen Konstruktion, Zielsetzung und Wiederholung bewusst. Der Cliffhanger in all seiner Vielfalt ist häufig der Dreh- und Angelpunkt, der aktivierendste und manchmal auch poetischste Moment der Serie. Die unterschiedlichsten Distributions-, Produktions- und Rezeptionsformen in Kombination mit der Selbstreflexivität des seriellen Fortsetzungs-Formats und seiner Möglichkeiten führen dazu, dass die Funktionsweise der Erzähltechnik Cliffhanger überwiegend mehr ist als nur eine bloße Technik: Wie vor allem die Analyse von Breaking Bad verdeutlicht, ist der Cliffhanger häufig Miniatur des Inhalts und der Ästhetik des ganzen Werks.

X. Ausblick: In der Zukunft wird die Vergangenheit wiederholt „Geschichten erzählen ist ja immer die Kunst, sie weiter zu erzählen“. BENJAMIN: „DER ERZÄHLER“. IN: ILLUMINATIONEN, 1961, S. 392.

Es ist reizvoll, einen Blick in die Zukunft der seriellen Fortsetzungsnarration zu werfen, die längst Teil der Gegenwart ist. Als Anzeichen für das Erstarken neuerer Formate der seriellen Fortsetzungsnarration werden drei Beispiele gezeigt. Sie alle verwenden den Cliffhanger.

1. O N -D EMAND : N ETFLIX , W EB -S ERIEN UND H OUSE OF C ARDS Die bereits bei den aktuellen Fernsehserien oft vorhandene Entkopplung vom Fernsehgerät, von der Ausstrahlung und einem Publikationsrhythmus findet ihre Vollendung in den (im Internet als) ‚Webseries‘ bezeichneten Serien von Online- und Versand-Videotheken. Der US-amerikanische Anbieter Netflix ist Vorreiter dieser Entwicklung. Ähnlich wie bei Pay-TV-Sendern ist eine Serie bei einer Leihversand- und Online-Videothek wie Netflix oder Amazon Prime Instant Video nicht von unmittelbarem Erfolg abhängig.1 Die Nutzer abonnieren den Service des jeweiligen Anbieters. Für eine monatliche oder jährliche Gebühr haben sie unbegrenzt Zugriff auf die

1

Bisher haben Netflix (in den USA) und Lovefilm (in Deutschland) noch ein zweiteiliges Angebot: Filmversand und on-demand-Service. Netflix gibt es seit 1999, aber bereits seit 2009 baut das Unternehmen den on-demand-Zweig aus, sodass in Zukunft der Versand entfallen könnte. Vgl. Schweizerhof: „Folge dem Geld“. In: epd film, 4/13, S. 8‒10.

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on-demand-Videothek; auch werden nicht online gestellte Filme und Serien als Trägermedium über die Post versendet.2 Wie bei Pay-TV-Sendern geht es bei der Produktion eigener Inhalte von Online-Videotheken vornehmlich um ein Alleinstellungsmerkmal, die Herstellung und Pflege der eigenen Marke. Netflix und Co. haben gegenüber den Pay-TV-Sendern den großen Vorteil, dass sie wesentlich mehr über den persönlichen Geschmack ihrer Abonnenten wissen: „Ende Oktober verzeichnete Netflix mehr Abonnenten als der Bezahlsender HBO. […] Netflix behauptet, man habe den Erfolg dank der Struktur des Internets sorgfältig planen können. Netflix hält seine Nutzer zur Bewertung der Filme und Serien an und erzeugt ‚Geschmacksprofile‘ als Blaupause einer Reihe von Empfehlungen […]. Auf diese Weise hat Netflix Big Data genutzt, um ‚House of Cards‘ zu produzieren: ein angesehener Regisseur, eine geschätzter Schauspieler, eine Serie, deren britisches Original vor mehr als zwei Jahrzehnten schon ein Hit war, dazu hundert Millionen Dollar Produktionsbudget – fertig ist der Hingucker.“3

Es kann beängstigend überwachend wirken, dass mittels Ausnutzung privater Benutzerdaten Serien von Amazon- und Netflix-Kunden produziert werden. Zusätzlich lautet die Frage, ob diese Entstehungsart der Serien nicht einer eigenen künstlerischen Vision und Innovation entgegensteht, mit welchen der Zuschauer überrascht wird. House of Cards, Lilyhammer und Orange is the New Black beweisen bisher das Gegenteil: Sie erzählen auf überraschend eigentümliche Weise, haben ein angenehm entschleunigtes narratives Tempo und behandeln kontroverse Themen. Anscheinend führt eine Ausrichtung nach dem Geschmack der Abonnenten zu mehr Innovation als die ständigen Mutmaßungen zahlreicher Film- und Fernsehproduktionsfirmen mit der Behauptung, sie wüssten am besten, was den Rezipienten interessiere, und dem Effekt, aus Angst vor Misserfolg häufig weniger kontroverse Themen zu wählen. Die erste Netflix-Serie House of Cards ist eine sehr teure und von zahlreichen im Filmgeschäft angesehenen Spezialisten hergestellte Produktion:4 Der berühmte Filmregisseur David Fincher produziert die Serie und führte bei den ersten beiden Folgen Regie, Kevin Spacey und Robin Wright spielen die Hauptrollen. Die Art der Publikation bietet den größten Unterschied zur Fernsehserie. Die Folgen einer Staffel ste-

2

Bspw. kombiniert Lovefilm, die deutsche Tochter des Amazon-Unternehmens, on-demand-Service mit DVD-Versand und ermöglicht dadurch ein umfangreicheres Angebot an Filmen und TV-Serien als die Konkurrenz.

3

Rehfeld: „Wäre er doch bloß nicht ans Handy gegangen“. In: Frankfurter Allgemeine Zei-

4

House of Cards ist nur die erste allein von Netflix produzierte Serie. Die allererste Serien-

tung, 11. Dezember 2013, S. 29. produktion war Lilyhammer, die Netflix gemeinsam mit der staatlichen norwegischen Rundfunkanstalt NRK herstellt.

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hen zunächst ausschließlich über die Netflix gehörende Videoplattform zum Download bereit ‒ sie werden also nicht nach einem Zeitplan ausgestrahlt, sondern auf einen Schlag veröffentlicht. Eine Publikationspause zwischen den Folgen gibt es nicht, nur zwischen den Staffeln. Der Abonnent kann von vornherein alle Folgen der Staffel schauen, wann immer er es möchte. Die entsprechende Frage muss lauten, ob dies noch eine Serie ist und ob deshalb nicht die eventuell vorhandenen Unterbrechungsmomente als Minicliff statt als Cliffhanger zu bezeichnen sind. Auf der Makroebene ist eine Beantwortung am einfachsten, da die Staffelstruktur der Webserie sich nicht von der TV-Serie unterscheidet ‒ auch hier gibt es eine längere Erzählpause zwischen den Staffeln. Aber auch strukturell und in der Konzeption setzt sich die Webserie nicht von anderen seriellen Werken ab. Um auf die Differenzierung vom Anfang der Studie zurückzugreifen: Erstens wird die Webserie von der Produktionsebene aus seriell konzipiert, zweitens insofern seriell veröffentlicht, als sie nur in von Paratexten umschlossenen Folgen rezipiert werden kann, und drittens weist sie werkimmanent eine serielle Struktur auf.5 Die Handlung ist unterteilt in Folgen, die zusammen Staffeln bilden. Am Anfang jeder Folge wird sogar ein recap gezeigt ‒ ein Zeichen dafür, dass die Produzenten auch davon ausgehen, dass House of Cards seriell rezipiert wird und daher eine Zusammenfassung des bisherigen Geschehens notwendig oder zumindest hilfreich ist. Außerdem werden mit der Produktion der Webserien die gleichen Ziele verfolgt wie mit Pay-TV-Serien: Das Format der Fortsetzungsserie schafft eine längere Bindung zwischen dem Zuschauer und dem sozialen Medium. Netflix stellt eben gerade keine Filme her, sondern nutzt eigene Serien, die fortgesetzt erzählen, als Alleinstellungsmerkmal.6

5

Allerdings muss einschränkend hinzugefügt werden, dass Netflix die von den Paratexten gekennzeichneten Schnittstellen der Folgen glättet. Während noch der Abspann läuft, verkleinert sich das Filmbild, der Rezipient kehrt automatisch zur Netflix-Seite zurück und in der rechten Bildschirmhälfte wird bereits ein Countdown für den automatischen Abspielbeginn der nächsten Folge gestartet. Unterbricht oder beendet der Rezipient diesen Countdown nicht, werden teilweise recap und title sequence übersprungen (bspw. bei Penny Dreadful). Netflix verleitet also seine Abonnenten zum binge viewing – selbst nach dem Ende einer Folge muss der Rezipient aktiv die Rezeption beenden oder unterbrechen. Es findet also vor allem in der spezifischen Streaming-Form von Netflix eine Grenzverwischung zwischen ganzheitlich und seriell statt – sie ist insofern nur geringfügig, als dass die Schnittstellen trotzdem mit der kurzen Rückkehr zur Homepage offensichtlich bleiben und der Rezipient nach wie vor die Kennzeichnung eines vorläufigen Endes erhält, das er womöglich für eine Unterbrechung der Rezeption nutzt.

6

Amazon setzt bisher mehr auf eigen-produzierte Sitcoms (Betas, Alpha House u.a.), die ebenfalls vorwiegend fortgesetzt erzählen.

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Die Produzenten kennen dank der Benutzerdaten die Vorlieben ihrer Kunden bei Serien und Filmen. Alle Folgen erscheinen gleichzeitig, und der Rezipient ist Abonnent. Bedarf es da noch der Cliffhanger? Tatsächlich setzt House of Cards kaum auf diese Erzähltechnik. Die erste Episode endet mit einem vorausdeutenden Cliffhanger als Impuls für die Rezeption der gesamten Staffel. Dann folgt erst wieder ein Cliffhanger in der neunten Episode ‒ zu einem Moment, der für die gesamte Dramaturgie der Staffel wichtig ist. Die Serie handelt von dem Kongressabgeordneten Frank Underwood und seiner Frau Claire. Frank hat mühsam und sorgfältig einen Vorschlag zur Abstimmung im Abgeordnetenhaus vorbereitet und im Vorhinein bereits genügend Zusagen für die Annahme des Vorschlags eingeholt. Er weiß nicht, dass seine ihm bisher treu ergebene Frau sich zuletzt gegen ihn gewendet und zwei Abgeordnete zu einer Ablehnung des Vorschlags bewogen hat. Die beiden letzten Einstellungen zeigen, wie bei der Auszählung zwei Stimmen für eine Annahme des Gesetzesentwurfs fehlen und Underwood wütend neben seiner Frau stehend, sagt: „I wanna know who lied!“7 In den restlichen vier Folgen werden Cliffhanger verwendet, bis die Staffel mit einem vorausdeutenden Finalecliff endet. Zumindest House of Cards baut also noch weniger Cliffhanger ein als HBO-Serien wie The Wire oder Deadwood. Aber an den entscheidenden Wendepunkten oder wichtigen Impulsmomenten für eine weitere Rezeption wird der Cliffhanger benutzt: Pilotfolge und neunte Folge sind inhaltlich und strukturell wichtig. Das zeigt, dass die Erzähltechnik auch fast vollständig losgelöst von ökonomischen und distributorischen ‚Notwendigkeiten‘ als autonomes ästhetisches Mittel einsetzbar ist. Bisher scheinen die Webserien ziemlich frei in ihrer Produktionsgestaltung. So kalkuliert die ersten Überlegungen für die jeweiligen Serien, fußend auf Benutzerdaten, sein mögen, so selbständig und unabhängig sind die Produzenten in der eigentlichen Konzeption und dem Dreh der Folgen8 ‒ was an die ersten Serien von HBO und den basic cable networks erinnert, die in dem Buch The Revolution was Televised beschrieben werden.9 Kevin Spacey betont in einigen Interviews, Netflix habe bisher

7

House of Cards, S1E9, TC 57:28.

8

Auch der deutsche Produzent Jan Mojto (Produktionsfirma Eos) betont die Freiheiten, die Netflix und Co. den Produzenten lassen: „Sie [d.s. Netflix und Co.] bestimmen nicht so viel vor [sic] wie die traditionellen Sender und setzen mehr auf die Parole des amerikanischen Abo-Senders HBO: Wir wissen, was wir wollen, mischen uns aber nicht stark ein, schon gar nicht in die tägliche Arbeit. Wir lassen die Kreativen machen.“ Hanfeld u. a.: „Die Kunst der Intrige kommt nie aus der Mode“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. September 2013, S. 38.

9

Viele creator der ersten Pay-TV- und Kabel-Serien wie Tom Fontana (Oz), David Chase (The Sopranos) und Shawn Ryan (The Shield) betonen immer wieder die Freiheit, die sie

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noch nicht einmal ein eigenes Büro für die Produktion seiner Serien. Deshalb könne man ab Produktionsbeginn machen, was man wolle.10 Während man selbst bei PayTV-Sendern zunächst einen Pilotfilm für eine Serie produzieren lässt und anhand der Qualität dieses Pilotfilms und einiger Test-Screenings überlegt, wie vielversprechend der Pilotfilm als Beginn einer Serie sei und ob er zu einer Staffel ausgebaut werden solle, wird bisher auf diese Produktionspraxis bei den Webserien verzichtet.11 Zumindest bei Netflix gibt man sofort sämtliche Folgen in Auftrag. House of Cards sieht man diesen Vorteil einer Veröffentlichung aller Teile und der Produktion ohne Pilotfolge an: Der Handlungsbogen der ersten Staffel ist mit großer Spannweite und langem Atem konzipiert, ohne große Rücksicht auf Aktstrukturen, Ablenkung durch andere Programme oder eine episodisch-rhythmisierte Rezeption.

2. E-B OOK : AMAZON , K INDLE -S ERIALS UND O PTION TO K ILL Das Internet-Verkaufshaus Amazon stellt seit 2007 ein E-Book her, den Kindle. Er ist ein elektronisches Gerät, auf das sich der Besitzer Texte zur digitalen Lektüre laden kann. 2012 bot Amazon für den Kindle verstärkt Fortsetzungsserien an, die „Kindle Serials“. „Serials sind nun für 1,99 Dollar zu haben, einschließlich aller Fortsetzungen, die Amazon ‚Episoden‘ nennt. Ganz direkt und unmissverständlich wird so auf das Vorbild von Fernsehserien verwiesen, deren Episodenhaftigkeit sich ebenfalls in Publikumstreue auswirken soll.“12 Ein Beispiel für diese Strategie ist der Roman Option to Kill. Er ist der dritte Teil der Romanreihe über den fiktiven ehemaligen CIA-Agenten Nathan McBride des Thriller-Autors Andrew Peterson. Amazon sicherte sich die Rechte an der Veröffentlichung vor der Niederschrift, sodass Peterson, anders als bei den beiden vorherigen Romanen der Reihe, Option to Kill als Fortsetzungsroman plante. Ab September 2012 wurde alle zwei Wochen exklusiv für den bei der Produktion der ersten original series besaßen ‒ die Verhältnisse wären wie im Wilden Westen gewesen, ohne Regeln und Gesetze. (Siehe z. Bsp.: Sepinwall: The Revolution was Televised, 2012, S. 121.) 10 „Because this is the first time they [Netflix] are doing drama, they donʼt even have the offices to do this compared with the other networks. I feel sorry for the makers of the third series they do ‒ when they have the offices (and can interfere).“ http://www.imdb.com/ name/nm0000228/bio?ref_=nm_dyk_qt_sm#quotes [vom 18.03. 2014]. 11 Zumindest bei Netflix ist dies der Fall. Amazon Instant Video hat eine Kategorie genannt „Pilots“, in der Abonnenten abstimmen können, welcher Pilotfilm zu einer Serie ausgebaut werden soll. 12 Meijias: „Kindle Serials oder: Fortsetzung folgt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. September 2012, S. 26.

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Kindle die neue Episode zum Download angeboten ‒ erst im Dezember 2013 erschien der Roman als (gedrucktes, ganzheitliches) Buch. Alle sieben Episoden umfassen zwischen 40 bis 50 Seiten und enden (bis auf die letzte) mit einem Cliffhanger. Peterson schreibt auf seiner Homepage: „Option to Kill is being released in serialized format (seven episodes) like the cliffhangers of the Victorian age. Amazon is releasing episodes of Option to Kill as I write them. The book is not complete yet, I’m still writing it. Every two weeks, your Kindle will automatically download the next episode to the end of the previous episode.“13

Der Vergleich zwischen „cliffhangers of the Victorian age“ und einem Thriller auf dem Kindle ist vor allem deshalb unpassend, weil viele Fortsetzungsromane dieser seriellen Narrationswelle nur gelegentlich Cliffhanger haben und den vorausdeutenden Erzähltyp einsetzen statt des enthüllenden und des gefahrensituativen, die in Option to Kill vorwiegend zu finden sind.14 Aber Petersons Vergleich macht deutlich, dass der Autor von Anfang an den Fortsetzungsroman als Vorbild nimmt, inklusive des dafür charakteristischen Produktions- und Veröffentlichungsrhythmus: Auch Dickens war in seiner Produktion der Publikation nur gering voraus und konnte deshalb die Meinung und Vorschläge der Leserschaft berücksichtigen. Andrew Petersons Werk ist mit den neuen technischen Möglichkeiten schneller beim Leser, und mit dem Internet als Kommunikationsmedium kann er noch direkter auf die Rezipienten reagieren: Die Rezipienten können am Erscheinungstag der aktuellen Episode bei Amazon den Mikrotext bewerten, kommentieren und auf der Webseite des Autors eine Nachricht hinterlassen. Wie bei den viktorianischen Fortsetzungsromanen erfolgt eine ganzheitliche Veröffentlichung erst einige Monate später. Darüber hinaus ist vor allem der Preis aussagekräftig. Mit 3,99€ kostet die Kindle-Version weniger als die Hälfte der 9,99€ Buchversion.15 Amazon ist vor allem an einer Bewerbung des E-Book-Readers interessiert und will auf diese Weise dessen Kauf und Benutzung fördern. Der Leser soll sich mittels der zeitlich exklusiven Fortsetzungsnarration und der darin enthaltenen Cliffhanger an das neue technische Medium, den E-Book-Reader Kindle, gewöhnen. Amazon selbst gibt die Inspiration für sein Unterfangen preis: Abgesehen von einigen unter Vertrag stehenden Autoren wie Andrew Peterson, die eigens Fortsetzungs-Romane für den Kindle produzieren, kann der Kindle-Nutzer umsonst die Werke The Pickwick Papers und Oliver Twist von Dickens als Fortsetzungsromane herunterladen – mit Originalillustrationen. Mit dem 13 http://www.andrewpeterson.com/option-to-kill-out-now/ [vom 06.04.2013]. 14 Siehe Kapitel: V. 5.1 „Der Einsatz von Cliffhangern im viktorianischen Fortsetzungsroman“, S. 247. 15 Im Vergleich: Game of Thrones und andere Werke kosten gewöhnlich in der Kindle-Version nur ein Drittel weniger. www.amazon.com [vom 15.03.2014].

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Preisdumping und der alt bewährten Technik der Fortsetzungsnarration inklusive Cliffhangern wird eine Gewöhnung an das neue Medium des Kindle unterstützt und erneut ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen, um sich von der Konkurrenz abzusetzen: von Apples IPad, Barnes and Noble und ihrem E-Book Nook, von Google und dem hauseigenen Nexus 7 sowie der traditionellen Buchhandlung.16

3. D IGITAL D OWNLOAD : V IDEOSPIEL , G AME -S ERIES UND T HE W ALKING D EAD Als überraschend erfolgreich stellte sich ein Video-Spiel heraus, das 2012 in mehreren Teilen erschien. Das Produktionsstudio Telltale Games produzierte ein Spiel, das in der gleichen Welt wie die Comics und die Fernsehserie The Walking Dead angesiedelt ist und denselben Titel trägt ‒ der Untertitel lautet „A Telltale Game Series“. Zunächst konnten die einzelnen Episoden des Spiels nur von Online-Kaufplattformen bezogen werden (digital-download). Spielkonsolenbesitzer hatten die Möglichkeit, die einzelne Episode über XBox Live oder Playstation Network herunterzuladen, PCGamer über Steam oder andere Seiten. Die Zeitspanne zwischen der Veröffentlichung der einzelnen Episoden ist unterschiedlich, da die Produktion oft etwas länger dauerte als geplant17 ‒ auch hier zeigt sich wieder eine häufig in serieller Fortsetzungsnarration zu findende kurze Zeitspanne zwischen Produktion und Rezeption. Erst Ende 2013 erschienen alle Episoden der ersten Staffel in einer retail-Version (also auf einem Trägermedium). Anfang 2013 wurde die erste Episode auf den Onlinekaufplattformen umsonst angeboten und so den Spielern ein Anreiz für den Kauf weiterer Folgen gegeben. Einige Charaktere der Comics tauchen auch im Spiel auf. Die Hauptfiguren sind jedoch neu: Der Spieler steuert Lee, einen Mann im Alter um die 40, der von einem Polizeiauto zu einem Gefängnis gebracht werden soll, als die Zombieseuche ausbricht. Auf dem Weg zum Gefängnis hat der Fahrer jedoch einen Unfall und Lee ist frei. Er lernt das in einem Familienhaus von seinen verreisten Eltern allein gelassene Mädchen Clementine kennen und versucht es zu beschützen. Das Spiel lebt von den Entscheidungen, die man für die Hauptfigur treffen muss, um Clementine und sich selbst zu verteidigen. In einem Interview mit der Webseite gameindustry.biz, die auf brancheninterne Informationen der Spieleindustrie spezialisiert ist, sprachen Kevin Boyle, Executive

16 Meijias: „Kindle Serials oder: Fortsetzung folgt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. September 2012, S. 26. 17 Vgl.

http://www.gamestar.de/spiele/the-walking-dead-episode-1-a-new-day/46682.html

[vom 07.04.2014].

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Producer und Dan Connors, der Chef der produzierenden Spielefirma Telltale Games auffallend viel über die serielle Erzählweise. „More than any other product in Telltale’s portfolio, The Walking Dead left players hanging between episodes, desperate to find out what happened next. Like the best TV shows, it was water-cooler entertainment. ‚That space between episodes really gave players the time to have Lee and Clementine in the front of their minds,‘ says Boyle. ‚And I don’t know that we could have established such a strong connection if it wasn’t for the episodic format.‘ ‚I think the fact that had this anticipation building between episodes every month, so it was this sustained experience from April till November, that all played into its success,‘ adds Connors. ‚It was our best execution of the episodic model to date.‘“18

Ähnlich wie in den Fortsetzungsserien wird die serielle Publikationsweise als Möglichkeit erkannt, die „Rückkopplung zwischen Diegese und Alltag“ für eine enge Identifikation, die Darstellung einer Entwicklung und Antizipation zu nutzen. Womöglich ist eine Identifikation mit den beiden Hauptcharakteren, unterstützt von der seriellen Narrationsweise, im Videospiel noch wichtiger, da der Spieler für die Figur Lee Entscheidungen treffen soll und das Mädchen Clementine einem über die Zeitspanne der Distribution ans Herz wachsen soll, was im Zusammenwirken den Beschützerinstinkt weckt. Jede Folge endet mit einem Cliffhanger, und jeder Cliffhanger stellt eine Bedrohung für das Mädchen dar. Aber um es zu retten, muss erst die nächste Episode gekauft werden. So findet sich beispielsweise am Ende von Episode drei eine Gruppe von Überlebenden zusammen und errichtet sich in einem verlassen Hotel einen sehr vielversprechend wirkenden Zufluchtsort, der aufgrund der hohen Mauer gut gegen die Zombies zu verteidigen ist. Der Spieler beziehungsweise Lee hat es nicht nur geschafft, eine Art Ersatzfamilie mit anderen Kindern für Clementine zu finden, sondern scheint ihr auch ein neues sicheres Zuhause bieten zu können. Die dritte Episode endet mit einer Totalen, die das Hotel bei Nacht zeigt und dem sehr entspannten Voice-over eines der Charaktere: „What could possibly go wrong now?“ Daraufhin geht plötzlich das Licht im ganzen Hotel aus, die Episode endet. Spiele-Serien wie The Walking Dead verknüpfen den digitalen Erwerb von Spielen mit der seriellen Struktur von Narration und gewöhnen den Rezipienten damit nicht nur wie in anderen seriellen Veröffentlichungen an das Format, sondern auch an das Spielen der Hauptperson.

18 Handrahan: „Tales of the Unexpected: The strange Success of the Walking Dead.“ Auf: http://www.gamesindustry.biz/articles/2013-01-29-tales-of-the-unexpected-the-strangesuccess-of-the-walking-dead [vom 29.01.2013].

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4. F AZIT

UND

AUSBLICK „[I]ndividual serials function not only to increase newspaper circulation, the sale of theatre tickets, or increasingly expensive advertising spots, but more significantly they serve to promote the medium in which they appear. This explains why serials appear in a particular medium precisely at that period when the real rival is not so much another serial in the same medium, but another medium.“ HAGEDORN: „TECHNOLOGY AND ECONOMIC EXPLOITATION. THE SERIAL AS A FORM OF NARRATIVE

PRESENTATION“. IN: WIDE ANGLE, 1988 (10.4), S. 5.

Auch in der Zukunft werden neue Formate und neue technische und soziale Medien aufkommen ‒ und häufig wird bei der Einführung dieser Formate und Medien auf die serielle Fortsetzungs-Narration mit Cliffhangern gesetzt werden. Wie die drei Schlaglichter gezeigt haben, ermöglicht die serielle Fortsetzungsnarration mit Cliffhanger eine Hinführung zu Format und Medium und eine entsprechende Gewöhnung. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird immer wieder, wie in der Gegenwart so auch in der Zukunft, von den Erkenntnissen über die Funktionsweise serieller Fortsetzungsnarration und den Cliffhangern Gebrauch gemacht werden. 1001 Nacht, Dickensʼ und Dumasʼ Werke, What happened to Mary?, Dallas und viele andere Serien haben bewiesen, dass die serielle Fortsetzungsnarration die Treue in dreifacher Hinsicht fördert: zur Serie, zum sozialen und technischen Medium ‒ und die wichtigste Erzähltechnik ist dabei der Cliffhanger.

XI. Schlussfolgerungen „Wir dürfen [...] nicht meinen, das Suspensionssignal sei nur für kommerzielle Romane oder Filme typisch. Das Aufstellen von Prognosen über den Fortgang der Geschichte ist ein unverzichtbarer emotionaler Aspekt des Lesens, der Hoffnungen und Ängste ebenso ins Spiel bringt wie die Spannung, die aus der Identifikation mit dem Los der Personen entsteht.“ ECO: IM WALD DER FIKTIONEN, 1994, S. 72. „[E]ine der größten Herausforderungen für die Spannungsforschung [bleibt] die Funktionsbeschreibung der Leerstelle oder auch des espace blanc, also der Zäsur, die auch von einem völligen Aussetzen der Präsenz einer Erzählung getragen wird, und das in einem Maß, das weit über die Kapitelwechsel in einem Buch hinausgeht.“ TÜRSCHMANN: „SPANNUNG UND SERIELLES ERZÄHLEN“. IN:

ACKERMANN (HG.): GESPANNTE ERWAR-

TUNGEN, 2007, S. 218.

1. D ER C LIFFHANGER … 1.1 Wirkung Iser und Jurga sehen die Antizipation als primären Wirkmechanismus des Cliffhangers und sprechen von einer „Mitautorschaft“.1 Däumer hingegen kritisiert Jurgas

1

Jurga: „Der Cliffhanger“. In: Willems u. a. (Hg.): Inszenierungsgesellschaft, 1998, S. 474. Auch Tudor Oltean formuliert in seinem wegweisenden Aufsatz zur seriellen Narration: „The purpose of the serial transformation is to bind the audience to a narrative sequential

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und Isers Theorie der Mitautorschaft, auch wenn er der These einer generellen, vagen Antizipation nicht widerspricht.2 Als primären Wirkungsmechanismus sieht er eine traumatische Memorierung, eine Einschreibung. Däumers und Jurgas Ansätze zur Erklärung der Rezeptionsästhetik des Cliffhangers sind aufgrund ihrer Werkauswahl geprägt von einer medial begrenzten Perspektive auf diese Erzähltechnik. Jurga nähert sich dem Cliffhanger über die Fernsehserie und bezieht sich auf Isers Leerstellen-Theorie, in der dieser vor allem auf den Fortsetzungsroman Bezug nimmt. Alle von Iser und Jurga berücksichtigten Werke sind serielle Erzählungen auf Trägermedien ‒ es sind also zuvor aufgenommene und reproduzierbare Geschichten. Die von Däumer analysierten Werke der höfischen Romane und Spielmannsepen wurden hingegen von oralen Erzählern frei oder nach einer Art Partitur vorgetragen. Sowohl der Rezipient als auch der zum Teil aus seinem Gedächtnis vortragende Erzähler mussten sich den Cliffhanger einprägen; beide mussten wieder an der unterbrochenen Stelle anknüpfen können. Die diachrone Analyse des Cliffhangers sowie eine genauere Analyse von Zeigarniks Erkenntnissen legen hingegen nahe, dass der Cliffhanger sowohl Antizipation als auch Einprägung begünstigt.3 Antizipation ist wichtiger Teil einer Spannungserzeugung. Hans Jürgen Wulff schreibt sogar: „There is no experience of suspense without anticipation!“4 Eine Überspitzung der Antizipation zur „Mitautorschaft“ ist hingegen übertrieben: Die Autorität der Autorschaft bleibt beim Textproduzenten.5 Die Zeigarnik-Theorie gibt Däumer dahingehend Recht, dass eine Einprägung von Unterbrechungen stattfindet. Besonders in oraler oder performativ verwirklichter Literatur stellt diese sicherlich eine gezielte Wirkungsästhetik für den Rezipienten und den Vortragenden dar. Sie als primären Wirkungsmechanismus zu bezeichnen, ist hingegen genauso übertrieben wie Isers und Jurgas Behauptung der „Mitautorschaft“. Welcher der beiden Teile ‒ Antizipation oder Einprägung ‒ überwiegt, process, maintaining its involvement as receiver of successive episodes, and attempting to seduce it as a co-author of the whole.“ Oltean: „Series and Seriality in Media Culture“. In: European Journal of Communication, 8 (5), 1993, S. 11. 2

Däumer: Stimme im Raum und Bühne im Kopf, 2013, S. 457.

3

Siehe Kapitel: II. 1.2.3 „Exkurs: Die Forschungen Bluna Zeigarniks“, S. 38ff.

4

Wulff: „Suspense and the Influence of Cataphora on Viewersʼ Expectations“. In: Vorderer u. a. (Hg.): Suspense, 1996, S. 1. „Der Abbruch der Präsenz des materiellen Trägers einer Erzählung ist also immer auch ein Bruch, der Vorhersagen über die Zukunft der erzählten Welt provoziert. […] Deshalb regt die Zäsur, die hier eine Lösung vorenthält, besonders stark zu Vorhersagen an.“ Türschmann: „Spannung und serielles Erzählen“. In: Ackermann (Hg.): Gespannte Erwartungen, 2007, S. 207.

5

Ädaquater als „Mitautorschaft“ ist die ebenfalls von Jurga gewählte Formulierung, der Cliffhanger eröffne ein „kontingentes Möglichkeitsfeld“. Jurga: „Der Cliffhanger“. In: Willems u. a. (Hg.): Inszenierungsgesellschaft, 1998, S. 474.

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hängt vom Rezipienten ab und den in dieser Studie herausgearbeiteten Feinheiten der Erzählformen, Erzähltypen, Erzählmittel und der jeweiligen Inszenierung des unterbrochenen Spannungsmoments. Jedwede Abstufung in ‚primär‘ und ‚sekundär‘ läuft daher einer Berücksichtigung der individuellen Rezeption und der jeweiligen Gestaltung eines Cliffhangers zuwider. Antizipation und Einprägung wirken ineinander. Durch die Einprägung des Cliffhangers wird eine Antizipation angestoßen ‒ die Antizipation wiederum verursacht eine stärkere Einprägung. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass der Cliffhanger Aktivierung und Partizipation fördert. Dies ist bisher nicht ausdrücklich in den Theorietexten, in denen der Cliffhanger eine Rolle spielt, erwähnt worden. Beide Wirkkomponenten sind mit Antizipation und Einprägung verbunden. Unter anderem sind die unzähligen Fan-Fiction-Beiträge im Internet Hinweise auf eine starke Aktivierung und Partizipation der Rezipienten.6 Aus Zeigarniks Ergebnissen lassen sich die zwei zusätzlichen Komponenten ebenfalls ableiten. „Auch später beim Ausführen der Aufgabe macht sich eine Tendenz bemerkbar, die fortlaufende Handlung durch ein tatsächliches Ende abzurunden. Wenn die Perlen aufgezogen sind, so pflegt die Vp. das nicht als eine vollkommen erledigte Aufgabe anzusehen. Häufig will sie aus ihnen noch ein Halsband oder Armband machen, um so der Sache einen wirklichen Abschluß zu geben.“7

Die Versuchspersonen wurden in einigen Fällen durch die Unterbrechung dazu bewogen, selbst die Aufgabe weiterzuführen, zu partizipieren; sie haben sich häufig bewusst der Autorität des Versuchsleiters widersetzt, weil die Restspannungen, das „Quasibedürfnis“, das Verlangen nach „Sättigung“ zu groß waren.8 6

Die Cliffhanger aus Dallas und Sherlock belegen zudem die Kraft zur Aktivierung und Anteilnahme. Die Zuschauer fanden sich zu Fan-Gemeinden zusammen mit Slogans wie Who shot JR und I believe in Sherlock ‒ bei beiden Cliffhangern fand eine Aktivierung zu eigenen auf die Erzählung bezogenen Handlungen statt.

7

Zeigarnik: „Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen“. In: Lewin (Hg.): Un-

8

Man könnte bei Sherlock die intensive Wirkung auch so erklären: Alle in den Versuchen

tersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie, 1927, S. 53. von Zeigarniks gegebenen Parameter sind erfüllt. Zum einen geschieht die Unterbrechung im Augenblick der stärksten Involvierung: Sherlock Holmes hat unmittelbar vor seinem Sprung in die Tiefe für seinen besten Freund Watson ‒ und stellvertretend für den Rezipienten ‒ eine bewegende, tränenerfüllte Botschaft formuliert; die Bindung an die Hauptfigur ist im Moment des Binnencliffs besonders eng. Zum anderen wird eine Art Aufgabe suggeriert: Weil Watson nicht weiß, dass Sherlock noch lebt, fühlen sich die Fans veranlasst, dank ihres Wissensvorsprungs den Ruf ihres Helden Sherlock zu retten. Sie sehen die Erzählunterbrechung als eine an sie gerichtete Aufgabe, ähnlich der „Abwicklungsaufgabe“

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1.2 Erzählformen Die Begriffe ‚Minicliff‘, ‚Binnencliff‘, ‚Cliffhanger‘ und ‚Finalecliff‘ haben sich für eine Beschreibung, Unterscheidung und Einordnung der unterschiedlichen Formen, in denen die Erzähltechnik Cliffhanger auftreten kann, als sehr hilfreich erwiesen. Sie werden ‚Erzählformen‘ genannt, weil sie vornehmlich die Gestalt und Position des unterbrochenen Spannungsmoments bezeichnen und von ihrer textuellen oder paratextuellen Umgebung ‚geformt‘ werden. All diesen Begriffen ist gemein, dass eine Unterbrechung der Narration an einem spannenden Moment stattfindet ‒ in der Art der Unterbrechung, ihrer Position und der Relevanz des unterbrochenen Spannungsmoments für die gesamte Erzählung unterscheiden sie sich aber massiv. Im Folgenden wird zu jedem einzelnen Begriff ein Resümee seiner Definition und Wirkungsweise gezogen. Der Minicliff beschreibt einen unterbrochenen Spannungsmoment innerhalb einer Folge oder eines geschlossenen Werks. Er ist die einzige Cliffhanger-Erzählform, die sich nicht auf serielle Narration beschränkt: Der unterbrochene Handlungsstrang wird noch im selben Text fortgesetzt. Die Unterbrechung hat meist die Form eines Handlungsstrangwechsels, eines zeitlichen Sprungs,9 einer grafischen Absetzung (Kapitelumbruch im Roman),10 eines Vorspanns (beispielsweise bei einem cold open) oder einer Werbeunterbrechung bei der Seifenoper oder der TV-Serie. Der Minicliff wurde in dieser Studie nur in seriellen Werken betrachtet. Dort ist er ein Impuls für das weitere Verfolgen des jeweiligen Handlungsstrangs, dessen Fortsetzung jedoch durch eine Unterbrechung innerhalb desselben Textes in die Zukunft der Erzählzeit verschoben ist. Er erhält größeres Gewicht in Werken, die zwischen dem Unterbrechungsmoment des Minicliffs und dessen Aufhebung andere nicht-diegetische Texte setzen, wie dies in Zeitschriften (What happened to Mary) oder Fernsehserien mit Werbeunterbrechung (The Guiding Light) der Fall ist. In diesen Beispielen ist die Rezeption nicht beendet, es findet aber eine sehr kurze Erzählunterbrechung statt. Der Minicliff sendet keinen Impuls für eine Rückkehr zur Rezeption nach deren Unterbrechung, sondern er ist ein Spannungsmoment, damit der Leser, Zuschauer aus dem Aufgabenkatalog der Versuche Zeigarniks, die besonders gut eingeprägt und rekapituliert wurde. 9

Zeitliche Sprünge stellen in Form einer Anachronie, also einer Prolepse, Analepse oder Ellipse ebenfalls eine Unterbrechung dar. „Anachronien (wie ich die verschiedene Formen von Dissonanz zwischen der Ordnung der Geschichte und der der Erzählung nennen möchte)“. Genette: Die Erzählung, 2010, S. 18.

10 „[S]ogar der Kapitelwechsel im Buch macht diese Unterbrechung [d.i. ein Minicliff] durch einen espace blanc sinnlich erfahrbar, obwohl das Buch nicht zu Ende ist.“ Türschmann: „Spannung und serielles Erzählen“. In: Ackermann (Hg.): Gespannte Erwartungen, 2007, S. 207.

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oder Zuhörer mit der bereits begonnen Rezeption eines Textes fortfährt. Der Minicliff wird besonders in network- und basic cable-Serien in so hoher Frequenz gesetzt und aufgelöst, dass er für den Inhalt des Makrotextes nicht von Belang ist und daher sowohl innerhalb der Narration als auch in der Rezeption schnell wieder in Vergessenheit gerät. Der Binnencliff beschreibt ebenfalls einen unterbrochenen Spannungsmoment innerhalb einer Folge. Im Gegensatz zum Minicliff ist der Binnencliff auf serielle Narration beschränkt. Er teilt viele Charakteristiken mit dem Cliffhanger als Form, befindet sich aber statt am Ende ‚binnen‘ einer Folge. Das heißt, der jeweilige Erzählstrang wird ebenso wie beim Minicliff nicht am Ende des Mikrotextes unterbrochen ‒ der (diegetische) Unterbrechungsmoment fällt also nicht mit der (außer-diegetischen) Erzählunterbrechung zusammen. Anders als der Minicliff wird der Binnencliff jedoch erst im nächsten Mikrotext fortgesetzt. Der Binnencliff wirkt meist allein durch seine Position nicht so spannend wie der Cliffhanger: Der Rezipient wird sofort durch die Weiterführung der Erzählung abgelenkt. Zudem geht der Binnencliff sehr häufig einem Cliffhanger voraus. Es gibt zwei sehr unterschiedliche Intentionen und damit verbundene Wirkungen einer Folge mit Binnencliff und Cliffhanger. Entweder es handelt sich um zwei aufeinander Bezug nehmende Handlungsstränge. In diesem Fall steigert der Binnencliff die Wirkung des danach folgenden Cliffhangers.11 Oder aber der Binnencliff stellt einen unterbrochenen Spannungsmoment für einen relativ unabhängigen Handlungsstrang dar.12 Gerade bei mehrsträngigen Erzählungen wie den späteren Seifenopern wird auf diese Weise mit dem autonomen Binnencliff berücksichtigt, dass mancher Rezipient mehr Interesse an einem der in der gegenwärtigen Folge unwichtigeren Handlungsstränge hat. Der Cliffhanger steigert die Spannung für die Fans von Charakter A, der Binnencliff hingegen setzt einen unterbrochenen Spannungsmoment für die Fans von Charakter B.

11 Bspw. erfährt der Rezipient von Oliver Twist in einem Binnencliff, dass der Protagonist eigentlich aus reichem Hause stammt und sein Vermögen irgendwo versteckt ist, um danach aus dem Bericht von Toby Crackit die Kenntnis zu erlangen, dass die Diebe seinen Körper einfach im Graben haben liegen lassen. Siehe: Kapitel V. 2.2 „Oliver Twist und der Binnencliff“, S. 207ff. Siehe außerdem den Binnencliff in der Seifenoper The Guiding Light (15.11.1989): Kapitel VIII. 4.1, S. 417. 12 Bspw. ist Jane in den Binnencliffs von Tarzan and the Jewels of Opar beziehungsweise Tarzan the Tiger häufig in Gefahr, ohne dass dieser Handlungsstrang gerade eine Bedeutung für das Geschehen bei Tarzan hat. In diesem Fall wird ein zusätzlicher Rezeptionsimpuls gesetzt. Siehe Kapitel: VII. 3.2.2, „Vergleich zwischen pulp- und Buchveröffentlichung: The Jewels of Opar“, S. 333.

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Der Cliffhanger als Erzählform befindet sich immer am Ende eines Mikrotextes.13 Nach ihm folgt keine Erzählung mehr, sondern der Paratext ‒ die Erzählunterbrechung definiert ihn. Die Aufhebung des Erzählstrangs findet erst in der nächsten Folge statt. Allein durch seine Position am Ende eines Mikrotextes wird der Cliffhanger betont. Es gibt, wie in Game of Thrones ersichtlich, Cliffhanger, bei denen eine Unterscheidung von Binnencliff und Cliffhanger nicht sinnvoll ist, weil die Erzählformen zu dicht beieinander gesetzt und daher in ihrer Aussage und Wirkung untrennbar sind. In allen anderen Fällen aber ist eine Unterscheidung wichtig, weil sie eine andere Gewichtung des jeweiligen Erzählstrangs innerhalb des Mikrotextes bedeutet. Bei Tarzan the Tiger ist beispielsweise die Hauptfigur immer Teil des Cliffhangers, während weniger wichtige Charaktere wie Jane oder Werper Gegenstand des Binnencliffs sind. Der Finalecliff ist beschränkt auf Werke, die in mehreren Staffeln produziert und veröffentlicht werden. Nach dem Finalecliff findet eine längere Erzählpause statt als beim Cliffhanger. Meist ist er deshalb besonders dramatisch und intensiv gestaltet, damit der Rezipient über die lange Erzählpause hinweg der Serie treu bleibt und bei deren Wiederaufnahme zur Rezeption zurückkehrt. Die Aufhebung findet erst in der nächsten Staffel statt. Für den Rezipienten bedeutet er einen lang andauernden Nachhall in den Alltag hinein ‒ nach der ausgedehnten Erzählpause, die auch eine Produktionspause ist, haben sich der Rezipient und die Figuren verändert. Der Finalecliff kann als einzige Cliffhangerform aus verschiedenen Formen zusammengesetzt sein: Mehrere Binnencliffs und ein Cliffhanger können zusammen einen Finalecliff ergeben. Diese Besonderheit kommt dadurch zustande, dass die lange Erzählpause nach der Finale-Folge für die Binnencliffs und den Cliffhanger dieses Mikrotextes von Bedeutung ist. Der Begriff ‚Finalecliff‘ fasst somit die Wirkung der verschiedenen unterbrochenen Spannungsmomente in der letzten Folge der Staffel zusammen. Die Kategorien ermöglichen es, die Bedeutung, Position und Art der Unterbrechung des jeweiligen Spannungsmoments mit einem genau passenden Begriff zu be-

13 Beim Begriff ‚Cliffhanger‘ herrscht eine Begriffspluralität, da er sowohl die Erzähltechnik, an einem spannenden Moment die Erzählung zu unterbrechen, beschreibt als auch streng genommen nur die Form am Ende eines Mikrotextes. Diese Begriffspluralität kommt durch den bisherigen unscharfen Gebrauch zustande. Für eine klarere Unterscheidung müsste man sonst bei der Form von ‚Endcliff‘ sprechen oder als Erzähltechnik einen neuen Begriff einführen ‒ beides würde jedoch gegen die bisher übliche Verwendung stehen und wird daher hier nicht unternommen. In dieser Studie wird stattdessen ausdrücklich darauf hingewiesen, wenn es sich allgemein um die ‚Erzähltechnik Cliffhanger‘ handelt.

S CHLUSSFOLGERUNGEN

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nennen. Durch die Unterscheidung dieser einzelnen Formen kann zudem das Zusammenwirken verschiedener unterbrochener Spannungsmomente erklärt und dabei die einzelne Erzählform von den anderen abgegrenzt werden.14 1.3

Erzähltypen

Aufgrund der in dieser Studie gewählten diachronen Arbeitsweise haben sich anhand des umfangreichen Materials an Primärwerken drei sehr verschiedene Typen von Cliffhangern herauskristallisiert. Sie werden ‚Erzähltypen‘ genannt, weil sie vornehmlich den Charakter eines Cliffhangers beschreiben. Die Beschaffenheit der Erzähltypen ergibt sich aus der Gestaltung der Cliffhanger auf der histoire-Ebene. Jeder Erzähltyp hat seine bevorzugte Spannbreite. Die Cliffhangermomente eines Erzähltyps werden hauptsächlich mit einer Art von diegetischer Fortsetzung aufgehoben. Da die Cliffhanger über sehr verschiedene Zeitspannen wirken, unterscheiden sie sich in ihrer Gewichtung für den jeweiligen Makrotext. 1.3.1 Der gefahrensituative Cliffhanger Deskription, Kategorisierung und Resümee Ob der König Yunan in 1001 Nacht vergiftet „schwankt und wankt“, Oliver Twist gerade angeschossen wurde, die Musketiere kurz davor sind, mit der Leibwache Richelieus zu fechten, Tarzan mit dem Löwen Numa ringt, die Polizisten in Braquo vor einer Granate in Deckung gehen, Sydney Bristow in Alias am Güterwagon hängt oder Sherlock Holmes von mehreren Scharfschützen ins Visier genommen wird ‒ immer liegt die Konzentration auf dem Augenblick der erzählten Zeit und der Erzählzeit. Ein Unheil, eine Gefahr ist im Anzug: Der Held hängt an der Klippe, er ist verletzt oder wird bedroht. Die Situation spitzt sich zu auf einen einzigen, übersteigerten Moment, der für den Protagonisten Leben oder Tod bedeuten kann. Die Auflösung beschränkt sich meist auf ein ‚binäres Lösungsschema‘: Der Held überlebt oder stirbt.15 Die Aufhebung findet meist direkt am Interruptionspunkt statt: Der Moment ist so brenzlig, dass er weder über eine längere Erzählzeit in der Schwebe gelassen wer-

14 Das Zusammenspiel der Formen macht einige Romane wie Oliver Twist und TV-Serien wie Sherlock so spannend. Bei Sherlock beispielswiese wird der Finalecliff der zweiten Staffel nicht nur selbstreflexiv und postmodern eingesetzt, sondern es treten verschiedene Erzählformen hinzu: ein Zusammenwirken von Mini- und Binnencliff sowie Cliffhanger. Das erklärt unter anderem die enorme Wirkung des Finalecliffs. 15 „[D]as Feld der Zukunftsprognosen [ist] bei abgebrochenen Extremsituationen auf ein binäres Lösungsschema eingeengt.“ Türschmann: „Spannung und serielles Erzählen“. In: Ackermann (Hg.): Gespannte Erwartungen, 2007, S. 207.

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den kann, noch es im Interesse der Erzählung wäre, die nächsten spannenden Augenblicke auszulassen. Der jeweilige Erzählstrang wird nicht nur unmittelbar nach der Erzählpause fortgesetzt, sondern die Spannung meist auch schnell wieder aufgelöst: Die Spannweite ist kurz. Ewig kann der Held nicht an der Klippe hängen. Auch für den Rezipienten muss nach dem extremen Höhepunkt wieder eine Entspannung folgen. Für den weiteren Handlungsverlauf ist die Relevanz der meisten gefahrensituativen Cliffhanger gering. Der gefahrensituative Cliffhanger wird in vielen Werken wie den Kinoserien in so hoher Frequenz gesetzt, dass er für den Makrotext kaum von Bedeutung sein kann. Meistens wird der Held am Anfang der nächsten Folge gerettet. Dann gerät der Vorfall beim Helden wie beim Rezipienten schnell in Vergessenheit. Die meisten Actionhelden sind gefahrerprobt, sodass eine derartige Situation für sie weniger traumatisch ist, als es dem Rezipienten erscheinen mag: Bei den Kinoserien beispielsweise ab den 1930er Jahren hängt der Held immer am Ende der Folge im wörtlichen oder übertragenen Sinne an einer Klippe. Dass die Gefahrensituation für alle Beteiligten zu einem einschneidenden Erlebnis wird, wie in A Pair of Blue Eyes, Spooks und zum Teil auch in Sherlock, ist eher die Ausnahme.16 In der Gestaltung der gefahrensituativen Cliffhanger werden sehr oft die Details der Bedrohung hervorgehoben. Es besteht meistens keine monokausale Gefährdung, sondern sie setzt sich aus verschiedenen Bestandteilen, den Umständen der jeweiligen Situation zusammen. Diese Einzelheiten der Gefahrensituation erhöhen die Spannung: Henry Knight in A Pair of Blue Eyes klammert sich nicht nur an eine Klippe, sondern starker Regen erschwert ihm das Festhalten und das nächste Haus, um Hilfe zu holen, ist zu weit entfernt; in Reichweite findet sich kein geeigneter Ast oder ähnliches, Elfride ist zu schwach und Henry Knight bereits zu tief abgerutscht, als dass sie ihn allein mit ihren Armen hochziehen könnte.17 Immer sind es die mit-

16 Nur bei weniger routinierten Helden kann auch dieser Cliffhangertyp eine Erkenntnis und damit einen Wendepunkt im Figurenverhalten bedeuten. In A Pair of Blue Eyes führt der lebensgefährliche Augenblick zu einer Emanzipierung der Heldin, einem geradezu plötzlichen Erwachsenwerden. Auch ihr bis dahin überlegen wirkender Verehrer Henry Knight ist danach bescheidener und bedächtiger. Im Finalecliff in Spooks erkennt das Liebespaar, dass es angesichts der ständigen Gefahr nicht zusammenzubleiben vermag, die Gefahr größer sein kann als die Liebe oder ihre Liebe doch nicht stark genug ist. Der gefahrensituative Finalecliff der zweiten Staffel von Sherlock ist so bedeutsam und wirkt so nachhaltig auf die Leben der Figuren ein, dass die erste Folge der dritten Staffel sich hauptsächlich um die Auflösung(en) und Nachwirkungen dieses Moments dreht. 17 The Phantom steckt nicht nur im Moor fest, sondern es nähert sich zudem ein Krokodil, der Held aber kommt wegen des Schlamms nicht an seinen Pistolengurt. Sydney Bristow hängt aus einem Gepäckwaggon, während der Zug eine tiefe Schlucht überquert, ihre Beine

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einander verwobenen Details der Situation, welche erst die Ausweglosigkeit und damit den Grad der Spannung ausmachen. Der gefahrensituative Cliffhanger wird überwiegend mit einem exklamatorischen Kommunikationsakt verbunden. Immer hat der letzte Satz oder der Inhalt der letzten Kameraeinstellung einen ausrufenden oder sogar aufschreienden Charakter, die Gefahr, die Ausweglosigkeit betonend.18 Der Erzähler eines gefahrensituativen Cliffhangers ist ganz nah am Geschehen. Er hängt quasi zusammen mit dem Helden an der Klippe, fühlt dessen Angst und Bedrohung. Er kann perspektivisch und zeitlich nur auf das aktuelle Geschehen blicken. Die Cliffhanger aus A Pair of Blue Eyes, aus den Kinoserien und der Binnencliff in Sherlock zeigen dies: Die Darstellung ist so nah, dass weder Henry Knight noch der Erzähler ‚sehen‘ können, wie Elfride oben auf dem Felsen ihr Kleid zerreißt, die Rettung für Jane in der Gestalt von Tarzan naht und Sherlock Holmes statt auf dem Asphalt auf einer Sprungmatte landet. Am häufigsten eingesetzt wurde der gefahrensituative Cliffhanger in den fortgesetzt erzählenden Kinoserien. Sie verwenden spätestens ab den 1930er Jahren ausschließlich diesen Erzähltyp ‒ und haben dieses Narrationsformat zu einem großen Teil geprägt. Während der gefahrensituative Cliffhanger in Buch-, Kino- und Fernsehserie und (soweit ersichtlich) auch im Comic oft vorkommt und ähnlich verwendet wird, scheint er im Hörspiel der 1930er bis 1950er Jahre sehr selten zu sein. Vermutlich ist es wesentlich schwieriger und aufwändiger, eine bedrohliche Situation nur mit Geräuschen, Musik, Dialogen oder einer Erzählerstimme darzustellen.19 In den späteren Kino- und TV-Serien wird der Ton intensiv genutzt zur Verdeutlichung der Gefahrensituation. Wie die Stummfilme beweisen, benötigt der Film den Ton für die Inszenierung einer Gefahrensituation aber nicht. Häufig jedoch suggeriert der Stummfilm eine auditive Information (zum Beispiel in Juve contre Fantômas). Der später hinzukommende Ton wird zusätzlich zur Verstärkung der Spannung und des Schocks verwendet: In Tarzan the Tiger intensiviert der auf Schallplatte aufgenommene Schrei Janes das Erschrecken ‒ die Serie wurde aber auch ohne Abspielen der begleitenden Schallplatte in den Kinos gezeigt. Die Musik kann mit einem Crescendo muss sie krampfhaft hochhalten, damit diese nicht auf den Boden oder zwischen die Räder kommen; ihr Widersacher ist gerade dabei, das letzte Band des Gepäcknetzes, an das sie sich klammert, zu durchschneiden. 18 In A Pair of Blue Eyes lautet der letzte Satz beispielsweise: „Knight felt himself in the presence of a personalized loneliness.“ Hardy: A Pair of Blue Eyes, 2009, S. 197. In Alias zeigt die letzte Einstellung Sydney verzweifelt am Gepäckwaggon hängend, ihr Gesicht verzerrt vor Hilflosigkeit und Anstrengung. 19 Aber auch bei Hörspielen für Kinder wie Lone Ranger, Dick Tracy etc. lassen sich nur wenige gefahrensituative Cliffhanger finden. Siehe Kapitel: VIII. 1.2.2 „Serielle Vorläufer der Seifenoper“, S. 383ff. Sicherlich mag dieser Verzicht in der Radio-Seifenoper auch mit dem geringen Budget zusammenhängen und dem damaligen Ziel-Publikum.

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und einer Tonfolge nach oben akustisch einen Höhepunkt markieren. Eine wirkliche Unterbrechung, eine akustische Aposiopese scheint hingegen zu gewollt, fremd und wurde in den Beispielen nie eingesetzt.20 Der gefahrensituative Cliffhanger wird vorwiegend über die systemischen Medien Schrift oder Bild inszeniert. Analyse, Bedeutung und Schlussfolgerung Beim gefahrensituativen Cliffhanger wird die Erzähltechnik des Cliffhangers am vordergründigsten, am offensichtlichsten und daher häufig am plakativsten eingesetzt. Moriarty sagt in Sherlock: „[S]taying alive. So boring, isn’t it?“21 und fragt damit indirekt, ob nicht auch der gefahrensituative Cliffhanger (inzwischen) langweilig sei. Sherlock und die Rezeptionswirkung dieses Cliffhangers ‒ für beide ist die Antwort ein eindeutiges ‚Nein‘. Hinter der Vordergründigkeit der Spannungsbildung verbergen sich vielschichtige, hintergründige Elemente: zum einen die komplexe Funktionsweise dieses Erzähltyps. Besonders das Bedrohungsszenario, das von der Diegese entwickelt wird, bedarf zu einer umfassenden Spannungsentfaltung der Mithilfe des Rezipienten. Erzählung und Inszenierung geben die Umstände vor ‒ aber das vollständige Bild, die Zusammensetzung aller Bedrohungs-Details zu einer umfassenden Gesamtsituation wird vom Rezipienten hergestellt. Im Sinne der Rezeptionsästhetik und neoformalistischen Filmtheorie lässt sich argumentieren, dass trotz der scheinbaren Simplizität dieses Cliffhanger-Typs der Rezipient gerade hier ein aus Puzzleteilen zusammengesetztes Gesamtbild produziert. Zudem hebt die Inszenierung die einzelnen Bestandteile meist in sehr kurz bemessener Spanne hervor. Immer ist die Zeit für den Helden und für den Rezipienten knapp kalkuliert: Beide müssen sich fokussieren; beide müssen unter Zeitdruck die Details der Bedrohung zu einem vollständigen Ereignis zusammensetzen, die Gefahrensituation in ganzem Umfang begreifen. Zum anderen ist der gefahrensituative Cliffhanger immer eine übersteigerte Auseinandersetzung mit dem Tod und den übergroßen, unüberwindbar erscheinenden Widerständen des Lebens ‒ Themen, die nie ihre narrative Kraft verlieren. ‚Tod der Erzählung‘, ‚ökonomischer Tod‘ und ‚Tod der Hauptfigur‘ spielen ineinander: 1. Jeder gefahrensituative Cliffhanger ist eine Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Todes der Hauptfigur. Je größer das Verständnis für sie ist oder je enger die Identifizierung mit ihr, umso mehr bangt der Rezipient. Zu Ende gedacht, 20 Es gibt einige wenige Filme, in denen eine akustische Aposiopese eingesetzt wird, wie bspw. in Once Upon a Time in the West (Italien/USA 1986). An zwei Stellen unterbricht der Protagonist seine Mundharmonika-Melodie, um sie wenig später wieder fortzusetzen. Hierbei handelt es sich aber nicht um ein serielles Werk und damit nicht um eine Kombination aus Cliffhanger und Aposiopese. 21 „The Reichenbach Fall“. In: Sherlock, S2E3, TC 01:08:27‒01:14:05.

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bedeutet dies: Kehrte der Rezipient nicht zur Rezeption zurück, ließe er den Protagonisten auf Dauer in Todesgefahr verharren ‒ ein sehr wirkungsmächtiger Impuls für eine Wiederaufnahme der Narration. Nicht nur an die Neugier des Rezipienten wird appelliert, sondern auch suggeriert, er dürfe den in (Lebens-)Gefahr Geratenen nicht im Stich lassen. Denn der Held überwindet den Tod nur, wenn der Rezipient die Rezeption fortsetzt; er allein kann die Figur am Leben erhalten, indem er die Geschichte weiter verfolgt. Deshalb findet fast immer die Rettung des Helden statt: Sie ist eine Art Belohnung für die Rückkehr des Rezipienten zur Narration. 2. Angesichts der positiven Auflösung fast aller gefahrensituativer Cliffhanger zeigt dieser Erzähltyp einen immer wiederkehrenden Sieg über die Widrigkeiten des Lebens. Die Gefahren müssen vom Helden (und Rezipienten) schnell erfasst werden ‒ auch damit er eine Lösung finden, reagieren kann. Beim Rezipienten schärft der gefahrensituative Cliffhanger letztendlich dadurch das schnelle Aufnahmevermögen für die zahlreichen Komponenten einer Bedrohung und festigt den Glauben daran, dass Schicksal, Glück oder schnelle Reaktion alle noch so übermächtigen Gefahren besiegen können. 3. Die höchste Form der Bewältigung der Widrigkeiten des Lebens ist erreicht, wenn der gefahrensituative Cliffhanger ‒ wie es häufig geschieht ‒ eine Überwindung des Todes oder sogar die Rückkehr aus dem (vermeintlichen) Tod behandelt. Das Sterben des Helden scheint in Fantômas, Lone Ranger und Sherlock nicht nur möglich, sondern wird bereits gezeigt beziehungsweise vorgetäuscht.22 Erstaunlich oft werden im Roman und im Film ein Nicht-Sehen-Können und das Fehlen von Licht als Suggestion des Sterbens und der Ausweglosigkeit eingesetzt. Mehrfach wird in A Pair of Blue Eyes die unter Knight lauernde Schwärze des Meeres betont. In Oliver Twist heißt es: „[A]nd a cold deadly feeling crept over the boyʼs heart; and he saw or heard no more.“23 In Flash Gordon und Braquo gibt es einen harten Schnitt zu einem schwarzen Bildschirm, der lange Zeit ohne extradiegetische Schrift auf den Rezipienten einwirkt. Das Hinausreißen aus der Diegese mittels Erzählunterbrechung, das ‚Abtöten‘ der diegetischen Welt mittels plötzlicher Dunkelheit führt zu einer Wirkungspotenzierung: Der Schock des vermeintlichen Todes verdoppelt sich mit dem Schock über die Finsternis als letztes Bild. Der ‚Tod der Narration‘ fördert die inhaltliche Suggestion, der Held sei ebenfalls gestorben. 22 Gefahrensituative Cliffhanger, bei denen bereits der Ausgang einer Gefahrensituation gezeigt wird, lassen sich mit dem Begriff ‚resultativer Cliffhanger‘ bezeichnen. Da diese aber sehr selten sind und nur eine Unterkategorie des gefahrensituativen bilden, wird hier nicht mehr ausführlich auf diesen Typ eingegangen. Siehe dafür: Kapitel VII. 4.4.3 „Kategorisierung und Analyse“, S. 357ff. 23 Dickens: Oliver Twist, 2008, S. 174.

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4. Der Tod der Hauptperson bedeutet auch ein Sterben der Narration, ihr ‚Ver-Enden‘. Denn wie könnte die Erzählung ohne den Helden weitergehen? Die Wiederkehr des wichtigsten Charakters bedeutet ebenso ein Wiederaufleben der Narration: Der Erzähler darf die Narration fortsetzen, ein ökonomisches Überleben ist gesichert. Durch die Todesthematik wird die Verflechtung von Ökonomie mit der Hauptfigur, dem Erzählen und der Struktur deutlich. Das Verharren der Figur in Todesnähe kann den Abbruch der Erzählung, den ökonomischen Tod des Werks und eine unvollendete serielle Struktur nach sich ziehen. Die Narrationsfortsetzung ermöglicht die Rettung des Helden und die ökonomische Rettung der Erzählung. Diese Rückkehr zum Leben spiegelt den Cliffhanger als Erzähltechnik: Auch er ist ein Ende, das kein Ende ist. Er beinhaltet den Tod der Narration und ihre Fortsetzung, die Spannung und ihre Auflösung. Die serielle Narration besitzt ein ihrer Struktur immanentes Wunschbild, das inhaltlich am Tod und an der Wiederkehr der Figur gespiegelt wird: Nur in der Narration sind Tod und die Wiederkehr vom Tod möglich. 1.3.2 Der enthüllende Cliffhanger Deskription, Kategorisierung und Resümee Dieser Cliffhanger-Typ wird durch eine unmittelbar stattfindende Enthüllung oder einen Wendepunkt gekennzeichnet: Der Rezipient erfährt in 1001 Nacht, dass König Yunan Buchseiten umgeblättert hat, die vergiftet sind, Oliver Twist ursprünglich einer guten und wohlhabenden Familie entstammt und sein Vermögen an einem geheimen Ort versteckt ist, die Woman in White aus einer Irrenanstalt entflohen ist, wo sie zu Unrecht festgehalten wurde, Mr. Dufay in Myrte and Marge noch immer in Marge verliebt ist und dass in 24 der Verräter im Weißen Haus Walt Cummings ist. Bei den meisten enthüllenden Cliffhangern gibt es infolge der Enthüllung einen Wendepunkt. Gelegentlich wird aber nicht etwas Verborgenes sichtbar, sondern unvermutet geschieht eine Veränderung, die zu einer Wende führen könnte. Wenn der bisher bewusstlose Bran unerwartet die Augen öffnet am Ende der zweiten Folge von Game of Thrones, ist dies eine durch die Aktion einer Figur herbeigeführte Richtungsänderung. Die beiden unterschiedlichen Sachverhalte können jedoch unter dem Typus des enthüllenden Cliffhangers zusammengefasst werden, da sowohl der Rezipient eine plötzliche Veränderung der bisherigen Entwicklung der story erfährt als auch eine Enthüllung stattfindet. Beim enthüllenden Cliffhanger kann ferner unterschieden werden, ob es sich nur für den Rezipienten um eine Enthüllung handelt (dramatische Ironie) oder auch für die Hauptpersonen. Bei einer Enthüllung nur für den Rezipienten erwächst ein Großteil der Spannung aus der Ungewissheit, wann der Akteur dieses Wissen erlangt und wieviel Unheil und Gefahr bis dahin aufgrund seines unzureichenden Wissensstandes

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haben entstehen können.24 Bei einer Enthüllung für die Hauptfiguren und den Rezipienten steht hingegen die Frage im Vordergrund, wie die Charaktere auf diese Enthüllung reagieren werden.25 Die diegetischen Fortsetzungskategorien sind beim enthüllenden Cliffhanger meist elliptische Interruptionspunkte oder verzögerte Interruptionsspannen ‒ was mit der Relevanz des Cliffhangers für den weiteren Handlungsverlauf korrespondiert: Im Gegensatz zum gefahrensituativen Cliffhanger sind nicht die nächsten Minuten erzählter Zeit von Bedeutung, sondern die Handlungsentwicklung an sich. Deshalb überspringt die Erzählzeit häufiger eine Zeitspanne, um unmittelbar erste Auswirkungen der jeweiligen Enthüllung anzuzeigen. Der vor allem bei der Seifenoper häufiger verwendete Interruptionspunkt oder die parallelisierte Interruptionsspanne eines enthüllenden Cliffhangers werden meist gewählt zur Darstellung der Reaktion auf die Enthüllung im Moment der Aufhebung.26 Der enthüllende Cliffhanger hat eine wesentlich größere Spannweite als der gefahrensituative: Enthüllung oder Wendepunkt sind für den weiteren Verlauf der Handlung zentral und über viele Folgen von Belang.27 Der Spannungsmoment wird nicht sofort wieder aufgelöst wie beim gefahrensituativen Erzähltyp ‒ manchmal gibt es sogar keine eindeutige Auflösung. Generell verhindert die Auswirkung der Enthüllung auf den plot eine häufige Setzung des enthüllenden Cliffhangers innerhalb eines Handlungsstrangs. Zu häufig innerhalb eines Handlungsstrangs gesetzte Cliffhanger enthüllender Art führen die Erzählung auf einen verwirrenden Zickzack-Kurs. Eine Aneinanderreihung enthüllender Cliffhanger, wie sie vor allem in den späteren Seifenopern vorkommt, ist vornehmlich infolge der Entwicklung zu immer strukturell komplexeren Narrativen möglich.

24 Beispielsweise wird dem Rezipienten bereits in der zweiten Folge der fünften Staffel von 24 enthüllt, dass Walt Cummings der Verräter im Weißen Haus ist, aber erst beim Cliffhanger der fünften Folge erfahren dies auch die Mitarbeiter der CTU. In der Zwischenzeit hat Cummings sehr gefährliche Entscheidungen getroffen. Siehe: Kapitel IX. 2.2 „Der enthüllende Cliffhanger: 24“, S. 478. 25 Christine Geraghty kommt zu einer ähnlichen Unterscheidung: Vgl. Geraghty: „The Continous Serial“. In: Television Monograph 13: Coronation Street, 1981, S. 15. 26 Als Beispiel für den Interruptionspunkt eines enthüllenden Cliffhangers siehe: Der Erzählstrang, der mit dem enthüllenden Minicliff von Eds Heiratsantrag an Maureen in Guiding Light (15.11.1989, TC: 48:08) endet, wird direkt nach der Werbeunterbrechung am Unterbrechungsmoment fortgesetzt. 27 In Les Trois Mousquetaires werden die für den weiteren Handlungsverlauf und den Konflikt mit Richelieu zentralen Enthüllungen mit Cliffhangern verbunden. Ebenso wird der wichtigste Wendepunkt der ersten Staffel von House of Cards mit einem enthüllenden Cliffhanger erzählt.

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Enthüllende Cliffhanger werden überwiegend vom Dialog getragen. Oft werden sie mit exklamatorischen, seltener mit interrogativen und kaum mit kommissiven Kommunikationsakten verbunden. Die interrogativen Kommunikationsakte sind entweder Teil der Enthüllung oder unmittelbare Reaktion auf sie. So vermag die Antwort zu einer Bestätigung dieser Enthüllung werden. Wenn Henry Dufay in Myrt and Marge der verheirateten Marge offenbart, er sei unvermindert in sie verliebt, erwidert sie: „Can you, won’t you be enough of a man to forget this foolishness?“28 Die Reaktion auf ihre fordernde Frage in der nächsten Folge wird die Dimension von Dufays Enthüllung aufzeigen. Wie beim gefahrensituativen Cliffhanger befindet sich die Erzählperspektive des enthüllenden Cliffhangers meist sehr dicht am Geschehen. Jedoch ist sie nicht festgelegt wie beim gefahrensituativen Cliffhanger, sondern springt von Figur zu Figur oder ändert sich anderweitig. Dieser Wechsel der Blickrichtung führt zu unterschiedlichem Wissen, gelegentlich sogar zu dramatischer Ironie. In den Beispielen von 1001 Nacht und Sherlock weiß der Rezipient mehr als die meisten handelnden Personen. Der Rezipient in 24 kennt bereits den Verräter, während der Held Jack Bauer ihn erst später entdeckt. Anders als Watson sieht der Zuschauer im Cliffhanger von Sherlock, dass der Protagonist überlebt hat. Das Geschehen wird zwar aus großer Nähe dargestellt, aber der Rezipient ist nicht auf eine Perspektive festgelegt. Da die Enthüllung weiterreichende Konsequenzen für den Handlungsverlauf hat, muss der Erzähler die Entwicklung zumindest grob geplant haben. Vor allem für das Genre der Seifenoper ist der enthüllende Cliffhanger charakteristisch. Der mediale Sprung der Seifenoper vom Rundfunk zum Fernsehen zeigt, wie gut der enthüllende Cliffhanger transmedial eingesetzt werden kann. Auch im Roman findet er sich ‒ beispielweise in den zahlreichen aufeinander aufbauenden Enthüllungen in Les Trois Mousquetaires. Der enthüllende Cliffhanger ist prädestiniert für das systemische Medium der Sprache ‒ aber auch über Bilder können Enthüllungen und Wendepunkte vermittelt werden. Es lässt sich bei diesem Erzähltyp keine Präferenz oder bessere Umsetzbarkeit in einem speziellen technischen Medium ausmachen. Besonders prägnant ‒ doch inzwischen durch allzu häufige Wiederholung recht abgenutzt ‒ ist die Inszenierung des enthüllenden Cliffhangers in der Seifenoper. In der Fernseh-Seifenoper wird die Enthüllungs-Montage von Zooms, Ranfahrten und Detailaufnahmen bestimmt. Während beim gefahrensituativen Cliffhanger meist Geräusche und Toncollagen einen Schock beim Rezipienten hervorrufen sollen, unterstreicht beim enthüllenden Erzähltypus die Musik die Veränderung: Bereits in der Radio-Version der Seifenoper wird die Hammond-Orgel eingesetzt, um durch disharmonische Klänge die angespannte, aus dem Gleichgewicht gebrachte und damit einen Wendepunkt markierende Situation hervorzuheben. Aber auch in der Fernseh-

28 Myrt and Marge vom 27.12.1937, TC 13:30.

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Seifenoper wird die Bedeutung der jeweiligen Enthüllung nicht nur von der Montage, sondern auch durch Geräusche oder musikalische Disharmonie herausgehoben. Analyse, Bedeutung und Schlussfolgerung Der enthüllende Cliffhanger zeichnet sich in seiner Wirkung dadurch aus, dass er den Impetus für die weitere Handlungsentwicklung gibt, aber offen lässt, wie sie von statten geht. Mit der Enthüllung scheint der Beginn einer neuen Phase möglich ‒ der Unterbrechungsmoment unterbindet jedoch die Darstellung erster Auswirkungen. Mit der Vorgabe einer eventuellen Richtung, in die sich die Handlung entwickeln könnte, wird eine vage gedankliche Weiterführung beim Rezipienten gefördert. Statt der ersten Reaktionen der Figuren und einer Fortsetzung reagiert zunächst stellvertretend der Rezipient auf die Enthüllung: bestürzt, überrascht, erleichtert, hoffend fühlt und denkt er voraus. Es steht kein „binäres Lösungsschema“ im Raum wie beim gefahrensituativen Cliffhanger, sondern eine Vielgestaltigkeit möglicher Entwicklungen und Konsequenzen. Die bei einigen enthüllenden Cliffhangern gezeigte Reaktion des Gegenübers kann zum Spiegelbild des Rezipienten werden, der ebenso erschrocken reagiert, sich in die Situation der Akteure versetzt, sich ihre Zukunft vorzustellen versucht. Der enthüllende Cliffhanger weist oft auf essentielle Wendepunkte in der gesamten Dramaturgie des jeweiligen Makrotextes hin. Selbst in Seifenopern, die jede Folge mit einem enthüllenden Cliffhanger beenden, ist die spezifische Enthüllung zumindest für die weitere Entwicklung des jeweiligen Handlungsstrangs zentral.29 Dieser Erzähltyp ist somit nicht nur ein Spannungsmoment an sich, sondern auch ein Höhepunkt im seriellen Text, der dank seiner charakteristischen Stelle am Ende einer Folge zusätzliches Gewicht erhält. Durch die danach eintretende Erzählpause ermöglicht er ein intensives Nachdenken über das eben Geschehene und eine vage Antizipation der weiteren Entwicklungen. Thematisch liegt der Schwerpunkt des enthüllenden Cliffhanger-Typus nicht auf einer Auseinandersetzung mit dem Tod, sondern auf den Überraschungen des Lebens, die meist mit Zwischenmenschlichem, mit Kommunikation und Intrige zusammenhängen. Der enthüllende Cliffhanger bereitet den Rezipienten somit in gewisser Weise auf die immer wiederkehrenden Unwägbarkeiten des Lebens vor und bietet ihm anschließend durch Verzicht auf weitere narrative Einwirkung die Möglichkeit, zunächst selbst Gründe für diese Entwicklung herzuleiten und mögliche Lösungen zu antizipieren.

29 Zwar ist dieser Erzähltyp für die jeweilige Seifenoper als Ganzes nicht entscheidend, da dieses Genre auf Endlosigkeit ausgelegt ist und damit keine nachträgliche Sinnstiftung oder Interpretation erfahren kann ‒ für den entsprechenden Erzählstrang aber ist der enthüllende Cliffhanger auch bei der Seifenoper zentral.

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1.3.3 Der vorausdeutende Cliffhanger Deskription, Kategorisierung und Resümee Während es bei den beiden anderen Erzähltypen um eine dringliche Enthüllung oder akute Gefahr geht, weist der vorausdeutende Cliffhanger vor allem auf etwas Zukünftiges hin. In Bleak House werden mit dem Unterbrechungsmoment ‒ Straßenkehrer Jo hat kurz zuvor, ehe er weiterzieht, ahnungslos wichtige Informationen ausgeplaudert ‒ die Verbindungen der vielen Figuren zueinander sowie Entwicklungen und Kernelemente der Narration angedeutet. In The Wire wird das Eintreten der Polizei markiert und damit auf die daraus resultierenden Veränderungen in der andersartigen, vielschichtigen Welt des Hafengeländes angespielt. In Deadwood wird auf anstehende schwierige Entscheidungen einzelner Figuren hingewiesen. In Sleeper Cell deutet die Frage, die der Terrorist unbeantwortet lässt, auf Gefahr für den Undercover-Agenten hin. Eddard Stark hört in Game of Thrones bereits Kampfgeschrei und Schwerterklirren, während seine Tochter nur spielerisch mit Holzdegen übt. Die Vorausdeutung besteht immer aus der Andeutung einer Gefahrensituation, eines Wendepunktes, einer Entscheidung, eines Konfliktes. Je nachdem, wie offen der Text ist und wie weit und klar bereits eine Entwicklung vorgezeichnet wird, erscheint der fragliche Moment oder Konflikt unabwendbar; diese vermeintliche Unabwendbarkeit produziert zusätzlich Spannung. Beispielsweise wird Mr. Pickwick am Ende der neunten Folge von The Pickwick Papers, als er nach Dingley Dell abreist, bewusst, dass ihm ein Prozess mit seiner Wirtschafterin droht. Er weiß, dass ihre Anwälte unnachgiebig und scharfzüngig agieren, dass er das Schicksal gegen sich hat. Die Leser ahnen somit: Es könnte zu einem Urteil gegen ihn kommen. Ähnlich ergeht es der Witwe Alma Garret in der Fernsehserie Deadwood. Ihr ist klar, dass sie eine Entscheidung treffen muss: Entweder den Goldclaim verkaufen, mit der Adoptivtochter wegziehen und damit in körperlicher Sicherheit, aber langfristig gesehen finanzieller Ungewissheit leben ‒ oder aber in Deadwood bleiben und damit körperlicher Gefahr ausgesetzt, aber finanziell versorgt sein.30 In keinem dieser Cliffhanger gibt es einen Wendepunkt, eine Enthüllung oder eine akute Gefahr, nur ‚dunkle Ahnungen‘ und damit wachsende Spannung. Der vorausdeutende Cliffhanger macht auf einschneidende Entwicklungen in der Narration oder tiefgreifende Entscheidungen der Hauptfiguren aufmerksam ‒ dementsprechend unwichtig sind die nächsten Minuten erzählte Zeit. Die diegetischen 30 Es muss hervorgehoben werden, dass es Unterschiede in den Elementen gibt, auf die vorausgedeutet wird: Während die beiden vorausdeutenden Cliffhanger aus Pickwick Papers und Deadwood eher auf einen Wendepunkt, eine Enthüllung weisen, bahnt sich bei Game of Thrones Unheil an: Lord Stark schaut seiner Tochter beim spielerischen Fechttraining zu, das dumpfe Schlagen von Holz an Holz verwandelt sich jedoch zu bedrohlichem Schwerterklirren.

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Fortsetzungskategorien sind meist in Form eines elliptischen Interruptionspunktes oder einer verzögerten Interruptionsspanne. Die durchschnittliche Spannbreite dieses Cliffhangertyps ist sehr lang. Infolge der immanenten Andeutungen dieses Erzähltypus besitzt er die größte Antizipationsbreite: Ob ‒ und wenn ja, wann und wie ‒ die Hinweise tatsächlich in einem Konflikt oder einem Wendepunkt enden, bleibt offen.31 Die Spannung des gefahrensituativen und enthüllenden Cliffhangers ist evident ‒ sie geht aus der Handlung unmittelbar hervor. Die Inszenierung betont diese immanente Spannung, steigert sie dadurch und fokussiert die Details der Situation beziehungsweise der Enthüllung. Beim vorausdeutenden Cliffhanger hingegen benötigt der Rezipient ein deiktisches Element, eine Art Fingerzeig. Die Inszenierung tritt in den Vordergrund und rückt ein Element, ein Objekt in den Fokus des Rezipienten ‒ sie deutet ihm damit an, dass es sich hierbei um etwas für die Zukunft Bedeutungsvolles handelt. Häufig ist dieses Objekt eine Metapher für eine Figur oder ein bestimmtes Thema der Narration.32 Im Film besteht diese Andeutung gelegentlich darin, dass sich zwischen auditiver und bildlicher Ebene eine Schere öffnet: Ein akustisches Element stört das friedliche Bild (Game of Thrones, S1E3); ein Geräusch (The Wire, S2E1) oder die Musik macht darauf aufmerksam, dass etwas Latentes lauert. Die Inszenierung weist den Rezipienten auf eine Allegorie oder Metapher hin, stiftet ihn an zum Vergleichen, zur ‚Sinnbildung‘, zur Antizipation und Deutung. Der vorausdeutende Cliffhanger hebt nicht wie der enthüllende Cliffhanger zentrale Momente hervor, sondern wichtige Themen und/oder Handlungsentwicklungen. Das liegt auch an der großen Spannweite der meisten vorausdeutenden Cliffhanger: Weil dieser Erzähltyp meistens über eine so lange Zeitspanne erzählter Zeit und Erzählzeit von Relevanz ist, nimmt er entsprechend viele Themen und Entwicklungen des seriellen Makrotexts in sich auf. Bereits Eugen Gerlötei weist in dem Aufsatz, in dem der Begriff der Vorausdeutung zum ersten Mal wissenschaftliche Verwendung findet, darauf hin, die Vorausdeutung könne „den verborgenen Sinn der Dichtung mit

31 Der analysierte Cliffhanger in Bleak House (siehe für die Analyse S. 212ff.) lässt bereits vermuten, das eben Vorgefallene werde Konsequenzen haben ‒ aber das Wann und das Wie bleiben offen. Diese Offenheit erhöht die Spannung zusätzlich. 32 Beispiele für Themen, die in vorausdeutenden Cliffhanger angesprochen werden: In Bleak House tritt der Erzähler deutlich aus seiner rein beschreibenden Haltung heraus und weist den Rezipienten hin auf das große goldene Kreuz als Sinnbild göttlicher Vorsehung, auf den Fluss als Metapher für das Leben, das Schicksal und das Fließen der Erzählung. In The Wire wird der Kameraschwenk unterbrochen. Das Bild verfolgt nicht mehr die Bewegung des Gewerkschaftsführers Sobotka: Stattdessen langes Verweilen auf einer vergilbten Fotografie von Dockarbeitern, die als Sinnbild für Sobotka und das metaphorische Sterben der Arbeiterschaft steht.

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einem Mal hervorholen und im Voraus zum Erlebnis vertiefen.“33 Wie die Vorausdeutung im ganzheitlichen Werk kann der vorausdeutende Cliffhanger im seriellen Makrotext eine Verdichtung der zentralen Themen und Motive sein. Aufgrund der weit in die Zukunft gerichteten Vorausdeutungen ist auf der discours-Ebene eine leichte Präferenz für den kommissiven Kommunikationsakt zu beobachten ‒ er weist ebenfalls auf Kommendes hin. Beim interrogativen Kommunikationsakt fordert besonders die offen gelassene Frage Antizipation und Deutung heraus (Sleeper Cell). Der vorausdeutende Cliffhanger verlangt den weitsichtigsten Erzähler. Er muss sich nicht nur im Klaren über die Themen und Motive des Makrotexts selbst sein, um darauf verweisen und diese andeuten zu können, er muss auch zeitlich vorausschauend und figurenunabhängig erzählen, um auf Entwicklungen, Entscheidungen und Themen in der Zukunft zu deuten. Die große Spannweite verlangt eine weite Erzählperspektive und eine vorauseilende Handlungsplanung. Nicht nur der nächsten Handlungsschritte, sondern vor allem der zentralen Themen und Motive muss sich dieser Erzähler bewusst sein ‒ womöglich hat er schon den Abschluss des Handlungsstrangs, eines bestimmten Abschnitts oder der ganzen Erzählung vor Augen. Der vorausdeutende Cliffhanger findet sich vor allem im Fortsetzungs-, im Feuilletonroman und der Pay-TV-Serie. Er wird vorwiegend in Formaten benutzt, die über Subskribierung bezogen werden. Die enge Verzahnung zwischen Ökonomie, Distributionsform und Art der Spannungsevozierung lässt sich besonders gut an diesem Erzähltyp ablesen: In den Formaten, in denen er vorkommt, muss nicht am Ende jeder Folge ein Cliffhanger gesetzt werden. Stattdessen besteht die Möglichkeit für Spannungsbögen, die langfristig anregen und Anteilnahme wecken. Analyse, Bedeutung und Schlussfolgerung Der vorausdeutende Cliffhanger weist überwiegend auf zentrale Themen und Entwicklungen hin. Er ist häufig für den gesamten Makrotext von Bedeutung, sodass er mehr noch als der enthüllende nicht in hoher Frequenz verwendet wird. Die innerhalb eines Makrotextes meist nur seltene Einfügung dieses Erzähltyps sowie die große Spannweite und Vorausdeutungsvielfalt lassen ihn auch wirken, wenn das serielle Werk später als Ganzes publiziert wird. Zahlreiche Fortsetzungs- und Feuilletonromane nutzen verstärkt den vorausdeutenden Cliffhanger. Das erklärt zum Teil ihr Fortleben und die breite Rezeption der ganzheitlichen Veröffentlichungen: Der Rezeptionsgenuss stellt sich nicht nur in einer Distributionsweise von Ausgabe zu Ausgabe ein, sondern wird dank der großen Erzählbögen auch im selbst bestimmtem Rezeptionsrhythmus erlebt. Diese Wirkweise macht die vorausdeutenden Cliffhanger zur idealen Erzähltechnik der neuen TV- und Webserien, die in sehr unterschiedlichen Rezeptionsrhythmen geschaut werden. Um der damit einhergehenden Vielfalt 33 Gerlötei: „Die Vorausdeutung in der Dichtung“. In: Helicon, 1939 (II), S. 68.

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der Rezeptionsweisen gerecht zu werden, bedarf es einer Vielfalt an Cliffhangertypen und -formen. Eberhard Lämmert hat bereits in seinem Werk Bauformen des Erzählens die Vorausdeutung als wichtiges Element des subtilen und kunstvollen Erzählens herausgestellt.34 Die „phasenbildende Kraft“35 der Vorausdeutung ist bei serieller Narration noch entscheidender als bei ganzheitlicher: Sie spannt einen Bogen über die aus Teilen (oder ‚Phasen‘) bestehende serielle Narration. Wenn die Vorausdeutung mit einer Erzählunterbrechung zusammenfällt, findet unmittelbar danach eine Erzählpause statt, in der die Andeutungen und Hinweise nachschwingen und interpretiert werden können. Die Vorausdeutung wird in der seriellen Narration nicht unmittelbar von der Weiterführung der Erzählung abgelöst, sondern dank der Unterbrechung hervorgehoben. Der Rezipient hat infolge der Erzählpause Zeit, über die Bedeutungsvielfalt und Spannbreite des vorausdeutenden Cliffhangers zu reflektieren und die weitere Handlung vorauszuahnen. Die Vorausdeutung in Kombination mit einer Erzählunterbrechung kann ein sehr großes, aktivierendes „Möglichkeitsfeld“36 schaffen, das den Rezipienten und die Narration in vielfacher Weise und über eine lange Distanz im doppelten Sinne, zeitlich und inhaltlich, ‚spannt‘. Statt auf Tod und plötzliche Lebensveränderungen richtet der vorausdeutende Cliffhanger seinen Fokus auf die Andeutung und Eventualität solcher Ereignisse. Damit thematisiert dieser Erzähltypus zunächst immer eine ‚Zukunftsbandbreite‘ an Möglichkeiten, steht für den Weiterfluss der Erzählung und des Lebens. Bei ihm richtet sich der Fokus auf die Figuren- und Themen-Konstellationen und auf die Entwicklung. Übergeordnet ist dies häufig eine implizite Auseinandersetzung mit dem Schicksal oder der Autonomie des menschlichen Handelns, eine Reflexion darüber, ob bestimmte Konflikte unvermeidbar sind oder der Mensch ihnen zuvorkommen oder sogar entgehen kann. Die in der Einleitung genannte Poesie der Unterbrechung kommt oft am besten im vorausdeutenden Cliffhanger zum Tragen. Die Analyse dieses Erzähltyps ist wichtig, weil an ihr besonders deutlich wird, dass der Cliffhanger nicht nur ökonomischen Interessen gehorcht, nicht nur nach diesen gestaltet sein muss, sondern eine ganz eigene Faszination in sich trägt. Häufig kann er eine bestimmte Qualität der seriellen Fortsetzungsnarration besonders hervorheben: Die Darstellung eines Prozesses, eines Werdens über eine Zeitspanne mit Pausen hin.37 Dieser Erzähltyp öffnet

34 Vgl. Lämmert: Bauformen des Erzählens, 2004, S. 192–194. 35 Ebd., S. 141. 36 Jurga: „Der Cliffhanger“. In: Willems u. a. (Hg.): Inszenierungsgesellschaft, 1998, S. 476. 37 Besonders gutes Beispiel für die Darstellung von Prozessen ist The Wire, da sich auch beim Rezipienten ein zusammenhängendes, komplexes Bild aus vielen Puzzlestücken ergibt: die Gründe und vielen Facetten des Drogenkriegs in einer US-amerikanischen Metropole. Für

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mehr noch als die anderen zwei die Sicht auf die Themen des Makrotextes und fördert die Reflexion über sie. Diesen Prozess des Entstehens setzt er in der Erzählpause fort: Er wirkt weiter, sogar über die Erzählpause hinaus. Der diegetische serielle Text wird vorläufig geschlossen ‒ doch intensiver und häufiger als beim gefahrensituativen und enthüllenden Erzähltyp wird in den letzten Momenten der Beginn einer Reflexion des Rezipierten in Bewegung gesetzt, die über die Erzählpause hinwegtragen kann bis zur Fortsetzung der Narration. 1.4 Erzählmittel und Erkenntnisse aus der transmedialen Vergleichsanalyse Die Erzähltypen, welche die Gestaltung auf der histoire-Ebene beschreiben, sind von den Erzählmitteln zu unterscheiden, mit denen die Cliffhangerformen auf der discours-Ebene vermittelt werden. Der Begriff der Aposiopese, der für eine Analyse der Unterbrechungsmomente in 1001 Nacht sehr hilfreich ist, hat sich für eine transmediale Analyse der Cliffhangertechnik nur selten als geeignet erwiesen. Dieser rhetorische Begriff scheint nur bei sprachlichen Aussagen ohne Einschränkungen einsetzbar zu sein. Ob ein geschriebener Satz unterbrochen wird, kann in der Regel eindeutig festgestellt werden. Besonders bei Dialogen oder Monologen, die in Soziolekten gesprochen werden, ist dies schwieriger, da sie nur begrenzt der allgemein verwendeten Grammatik entsprechen müssen und kein Satzzeichen das Ende des Satzes markiert. Bei Bilderfolgen lautet die Frage, an welcher Stelle sie enden: Eine Sequenz kann überall unterbrochen werden, ein Schnitt immer gesetzt werden, während ein Satz nur nach grammatikalischen Regeln oder durch ein Satzzeichen beendet wird. Eine Bildeinstellung ist eine Einheit in sich, sie kann nicht unterbrochen werden. Wenn eine Kamerafahrt von der Erzählunterbrechung vorläufig beendet und in der nächsten Folge genau in derselben Bewegung fortgesetzt würde, könnte man dies als eine filmische Aposiopese bezeichnen; ein Beispiel für solch eine Erzählunterbrechung wurde aber nicht gefunden.38 Rein bildliche oder rein klangliche Aposiopesen als

die Ermittler, vor allem aber für den Rezipienten ist es eine Aufdeckung, ein Erkenntnisvorgang: „All the pieces matter.“ Das Werden ist hier auch ein Bewusstwerden, ein Wachsen der eigenen Erkenntnis über einen Sachverhalt. Bei Deadwood ist es eine ‚Zivilisationswerdung‘ ‒ sie wird vorangetrieben von lauter einzelnen, sehr unterschiedlichen, mit zahlreichen Schwächen behafteten Individuen. Das Erstarken einer Gesellschaft ist Thema der Serie und der Cliffhanger. In Breaking Bad wird der Entwicklungsprozess des ‚BöseWerdens‘ in den Minicliffs und Cliffhangern beschrieben und teilweise vorweggenommen. 38 Ein unvermittelter, harter Schnitt zu einem schwarzen Bildschirm kann eine stark unterbrechende Wirkung haben ‒ so gesehen, ergäbe das Beispiel des gefahrensituativen Cliffhangers in Braquo eine Aposiopese. Aber in diesem Beispiel kann das Anhalten der Bil-

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Gestaltungsmöglichkeiten eines unterbrochenen Spannungsmoments sind sicherlich nicht unmöglich, sie sind aber nur unter den genannten sehr speziellen Parametern als solche zu bezeichnen. Obwohl diese Begrifflichkeit somit nur bedingt hilfreich in einer transmedialen Beschreibung der Cliffhangertechnik ist, lassen sich mit ihr Unterschiede in der Darstellungsweise von systemischen Medien gut herausarbeiten.39 Als hilfreiches transmediales Werkzeug haben sich hingegen die drei eingeführten Begriffe ‚exklamatorischer‘, ‚interrogativer‘ und ‚kommissiver Kommunikationsakt‘ erwiesen. Die gute Nutzbarkeit leitet sich daher ab, dass sie zwar aus der Rhetorik und der Sprechakttheorie stammen, aber anders als der Begriff der Aposiopese von diesen rein sprachbezogenen Theorien ein Stück weit entkoppelt wurden. Grundlage der Begriffseinführung ist die Beobachtung, dass alle narrativen Medien kommunizieren. Es geht also um eine sprachliche Mitteilung im übertragenen Sinne, um den Kommunikationsakt, der von welchem Medium auch immer vermittelt, eine Aussage haben kann. Anhand der Beispiele kann man drei Kommunikationsakte für eine Spannungserzeugung am Unterbrechungsmoment erkennen: 1. Exklamatorische Akte rufen etwas aus ‒ eine Tatsache, ein Ereignis, eine Gefahr. Der exklamatorische Akt unterstützt den unterbrochenen Spannungsmoment meistens durch die Vermittlung und Betonung eines neuen Sachverhalts. Die Spannung entsteht unter anderem dadurch, dass etwas von der Erzählung nachdrücklich als wichtig kommuniziert, ‚ausgerufen‘ wird: etwas Gegenwärtiges, das Auswirkungen hat auf die Zukunft.40 2. Interrogative Akte drücken eine Frage aus, die unbeantwortet am Unterbrechungsmoment stehen bleibt. Eine Frage fordert immer eine Antwort heraus und derfolge nur deshalb als Aposiopese bezeichnet werden, weil gleichzeitig der Ton fortgesetzt und damit die Bild-Sequenz als lediglich unterbrochen (nicht abgebrochen) markiert wird. Nur durch die auditive Ebene weiß der Rezipient, dass der Erzählfluss weitergeht. Einziges Beispiel für eine serielle Aposiopese ist der letzte unterbrochene Satz der ersten Staffel der Sitcom How I met Your Mother. Barney sagt: „Ted, my boy, it’s gonna be legend… ‒ wait for it.“ Die zweite Staffel beginnt direkt mit: „dary.“ Da dieser Satz („It’s gonna be legendary“) aber Barneys Lieblingssatz ist, entsteht keinerlei Spannung und damit ist dies kein Cliffhanger. (Siehe auch: Weber u. Junklewitz, die dieses Ende etwas mehr als Cliffhanger einordnen: „To Be Continued…“. In: Meteling u. a. (Hg.): „Previously on…“, 2009, S. 123.) Auch das finale Ende von Sopranos ist eine Aposiopese, aber kein Cliffhanger, sondern ein offenes Ende ‒ allerhöchstens wohl die Parodie eines Cliffhangers. 39 In ganzheitlichen Werken gibt es durchaus klangliche oder bildliche Aposiopesen, siehe Fußnote 20. In Analogie zu den anderen eingeführten Begriffen ist transmedial sicherlich besser verwendbar ‚unvollendeter Kommunikationsakt‘. 40 Siehe zur Einführung dieses Begriffs vor allem Seite 152f.

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damit Antizipation. Die Spannung entsteht durch die Antizipation, wie die Antwort lauten und was diese jeweils für die Entwicklung der Geschichte bedeuten könnte.41 3. Kommissive Akte weisen auf eine mögliche zukünftige Handlung hin, einen Plan, ein Vorhaben. Sie deuten etwas Zukünftiges an, das erst in der Fortsetzung geschehen könnte. Der kommissive Kommunikationsakt beinhaltet immer auch die Frage, ob eine Drohung wahr wird, die Ausführung des Plans gelingen kann oder sich doch alles anders entwickelt, der Protagonist scheitert oder gehindert wird.42 Mit diesen drei Begriffen lässt sich die discours-Ebene der Cliffhangertechnik, die letzte Aussage vor einem Unterbrechungsmoment beschreiben. Eine Unterscheidung zwischen den drei Arten von Akten ist sehr wichtig, da der Rezipient jeweils mit einer völlig anderen Aussage aus dem Mikrotext (beim Cliffhanger) beziehungsweise dem jeweiligen Handlungsstrang (beim Mini- und Binnencliff) entlassen wird, die Spannungserzeugung und mit ihr der jeweilige Cliffhangertyp somit sehr unterschiedlich gestaltet sind. Die drei Begriffe beschreiben Gemeinsamkeiten und Unterschiede von narrativen Medien. In allen in dieser Studie analysierten narrativen Medien konnten sie verwendet werden, immer halfen sie bei einer Einordnung. Die Eindeutigkeit der Kategorisierung unterscheidet sich jedoch von einem systemischen Medium zum anderen. Bei schriftlichen Texten ist eine Kategorisierung am einfachsten. Vor allem die Platzierung von Satzzeichen macht Aussagen eindeutig. Hingegen ist die Einordnung bei rein bildlichen letzten Kommunikationsakten schwieriger. Hier sind die exklamatorischen Aussagen noch am eindeutigsten, da sie für die gewünschte, betont ausrufende Aussage meist ebenso unzweideutig als betont ausrufend inszeniert werden.43 Kommissive und interrogative Bildeinstellungen sind hingegen schwerer zu unterscheiden. Ob das letzte Bild eine Frage aufwirft beziehungsweise impliziert, oder eher auf eine zukünftige Tat hinweist, kann zwar häufig beantwortet werden; die Kategorisierung ist aber graduell diffiziler als bei bildlich-exklamatorischen Akten oder sprachlichen Aussagen, denn die Einordnung ist deutlich mehr von der individuellen Rezeptionsweise abhängig als bei rein sprachlichen Aussagen. Häufig sind viele Elemente im letzten Bild einer Folge vorhanden, sodass nicht eindeutig ist, welches Element oder welche Elemente hier die Aussage bestimmen ‒ während in einem letzten 41 Siehe zur Einführung dieses Begriffs vor allem Seite 153f. 42 Siehe zur Einführung dieses Begriffs vor allem Seite 232f. 43 Als Beispiel für eine sehr eindeutig als exklamatorischer Kommunikationsakt zu beizeichnende Bildeinstellung dient die Explosion und ‚ausrufend-triumphierende‘ Körperhaltung von Fantômas in dem Stummfilm Juve contre Fantômas. Siehe Kapitel: VII. 2.2 „Französische Inspiration? – Juve contre Fantômas“, S. 308.

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Satz meistens nur der Sachverhalt ausgedrückt wird, der kommuniziert werden soll. Filmbilder, die nicht fokussiert oder reduziert auf bestimmte Elemente oder Objekte sind, haben angesichts ihres Detailreichtums eine größere Unbestimmtheit als rein sprachliche Aussagen.44 Erst die Hervorhebung eines einzelnen Objekts oder Elements in der Inszenierung, durch eine Kamerafahrt, einen Zoom, eine Ranfahrt, ein Geräusch, eine bestimme Musik etc. gibt dem Bild eine Aussage, die als exklamatorisch, interrogativ oder kommissiv gedeutet werden kann. Bei jeder transmedial verwendeten Begrifflichkeit müssen die Besonderheiten und Unterschiede der jeweiligen systemischen Medien bedacht werden. Aber die eingeführten Begriffe erlauben es auf Grundlage der Beobachtung, dass alle narrativen Medien Erzählungen kommunizieren, die letzten Kommunikationsakte mit einer Begrifflichkeit zu erfassen, die Vergleichbarkeit herstellt, ohne mediale Unterschiede auszublenden. Die Anwendung dieser Begriffe auf ein breites Spektrum an Beispielen hat erwiesen, dass die hier analysierten narrativen Medien in den letzten Aussagen von Handlungssträngen miteinander vergleichbar sind. In der Verwendung der Cliffhangertechnik machen sich ‒ je nach Medium ‒ nur kleine Unterschiede bemerkbar. Diese Unterschiede werden durch die hier verwendeten Bezeichnungen nicht in ein einheitliches Schema gezwängt und damit verdeckt, sondern mit Hilfe des neu eingeführten narratologischen Werkzeugs erst sichtbar gemacht. Es konnte nachgewiesen werden, dass der Cliffhanger eine Erzähltechnik ist, die transmedial und epochenübergreifend eingesetzt wird. Sämtliche Typen, Erzählmittel und Erzählformen wurden in allen technischen Medien vorgefunden. Es werden jedoch in einem technischen Medium bestimmte Erzählmittel und -formen häufiger eingesetzt als in einem anderen. Diese Präferenz wird von den systemischen Medien des jeweiligen technischen Mediums mitbestimmt. Die Unterschiede sind somit vornehmlich auf der discours- nicht auf der histoire-Ebene relevant. Der Einsatz hauptsächlich gefahrensituativer Cliffhanger in der Kinoserie und überwiegend enthüllender Cliffhanger in der Seifenoper hat nicht nur mediale Gründe ‒ er ist daher nicht als Ausdruck einer medienspezifischen Qualität oder Präferenz zu lesen, sondern als Ausdruck des zeitlichen, ökonomischen und kulturellen Kontextes.45

44 Bilder haben beim Zeigen von Objekten eine größere Bestimmtheit als Texte, die nur beschreiben können und dem Leser die Imagination überlassen. Doch sind Bilder bei der Aussage über Verläufe unbestimmter als Texte. Vgl. z. B. Bohnenkamp: „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Literaturverfilmungen, 2005, S31-33. 45 Die Präferenz bestimmter Cliffhangertypen als Ausdruck des zeitlichen, ökonomischen und kulturellen Kontextes zeigt sich unter anderem an folgendes Beispiel: Die Kinoserien der 1930er–1950er Jahre mit gefahrensituativen Cliffhangern zielten auf ein jugendliches Publikum, das an actiongeladenen Konflikten interessiert war. Die enthüllenden und vo-

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1.5 Resümee und Kategorisierungsübersicht Die Spannung zahlreicher Cliffhanger erwächst aus der großen Bedeutung dieses narrativen Moments für das gesamte Werk und der daran anschließenden, unmittelbaren Unterbrechung dieses Moments. Zum einen ist der Cliffhanger deshalb häufig ein Zugang zur Funktionsweise des bestimmten seriellen Textes, als erzählerischer Impuls, als eine Art Motor zur Aneinanderreihung der Teile. In 1001 Nacht ist der (diegetische) Cliffhanger die beherrschende, überlebenswichtige Narrationsweise der Erzählerin. Er gliedert den Text und beinhaltet die Motive ‚Erzählen gegen den Tod‘ und ‚Heilung durch Narration und das Vergehen der Zeit‘. Er treibt und bestimmt die Schachtelrahmenerzählung. Die Kinoserie wird ‚angefeuert‘ von den gefahrensituativen Cliffhangern. Sie sind so entscheidend, dass die späteren Kinoserien ‚Cliffhanger‘ genannt werden. Les Trois Mousquetaires und House of Cards können sich Zeit lassen für ihre Wendepunkte. Der Cliffhanger zeigt nicht nur die ökonomische Abhängigkeit von den Abonnements, sondern ebenso die seltenen Wendepunkte und die wenigen, aber weitreichenden Entwicklungen, die in diesen Werken im Vordergrund stehen. Zum anderen ist wegen des wichtigen Moments der Unterbrechung der Cliffhanger sogar häufig ein Schlüssel zu den Themen und Motiven des Werks. Abstrahiert kann das bereits bei der Wahl der Erzähltypen erkannt werden: In der Seifenoper geht es um Geheimnisse, um Enthüllungen, um das zwischenmenschliche Miteinander und häufig um die mangelnde, fehlgeleitete Kommunikation ‒ der Erzähltyp des enthüllenden Cliffhanger lebt vorwiegend von diesen Themen und Motiven. Die Kinoserien handeln überwiegend vom Überwinden ausweglos erscheinender Gefahren, von wilden Tieren, außerirdischen Wesen, abgrundtief bösen Menschen ‒ der gefahrensituative Cliffhanger komprimiert diesen Konflikt zu einem einzigen Augenblick. Der vorausdeutende Cliffhanger spielt vor allem eine Rolle in den Werken, die Entwicklungen und Entstehungen zum Thema haben und die Zusammenhänge sichtbar werden lassen. Der vorausdeutende Cliffhangertyp rückt diesen strukturellen und thematischen Gesichtspunkt in den Mittelpunkt, weil er nicht nur die zeitliche Dimension einer Entwicklung andeutet ‒ die Zeitspannen, Ellipsen, Unterbrechungen und Pausen ‒ sondern auch die Komplexität und Vielgliedrigkeit des jeweiligen Prozesses. Nicht nur die Cliffhangertypen spiegeln die Themen des jeweiligen Makrotextes wieder; auch Form und zeitliche Gestaltung des Cliffhangers tun es. Der proleptische Minicliff in Breaking Bad ist nicht nur eine Miniatur der Themen, sondern sogar auch des Erkenntnisweges des Protagonisten und Zuschauers; er zeigt zeitliche Zusammenhänge aus Ursache und Wirkung auf, die für das ganze Werk zentral sind. rausdeutenden Cliffhanger der ersten Fortsetzungs-Kinoserien, die noch ein breiter aufgestelltes Publikum anvisierten, haben aber bewiesen, dass diese dort ebenso eingesetzt werden können.

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Die Flexibilität und hier herausgearbeitete Vielgestalt der Cliffhangertechnik erweisen sich in der Struktur serieller Fortsetzungswerke als hilfreich. Moderne Fortsetzungserzählungen sind häufig gekennzeichnet von einer mehrfachen Serialität. Zumindest die Network-Fernsehserien haben nicht nur eine Folgenstruktur, sondern werden zusätzlich vom Vorspann und durch zahlreiche Werbeunterbrechungen geteilt. Der Cliffhanger ist die wichtigste Erzähltechnik, weil er auf die vielfachen Unterbrechungen reagieren, sie für den Rezipienten überbrücken kann. Der narrative Sog und die Spannung im weitesten Sinne sind eine Grundvoraussetzung für jeden seriellen Makrotext. Heutzutage sind Serien möglich, die sich gezielt an sehr eng gefasste Rezipientengruppen richten und sich nur über ganz bestimmte Distributionsformen rezipieren lassen. Diese Art von Serie muss die Marke und den Ruf ihres jeweiligen Herstellers wahren und profilieren. Die Cliffhangertypen erlauben eine Anpassung an diese Parameter ‒ sie können je nach ökonomischem Hintergrund des sozialen Mediums und dem spezifischen narrativen Stil der Serie ausgewählt und eingesetzt werden. Der Cliffhanger kann häufig oder selten, überdeutlich oder dezent auftreten, er kann über weite Strecken spannen oder nur für den unmittelbar nächsten Mikrotext Interesse wecken. Er steht ganz im Dienste des seriellen Texts und seiner Anforderungen. Diese Variabilität, diese Vielfalt und diese Flexibilität machen ihn zur wichtigsten Erzähltechnik der seriellen Fortsetzungsnarration. Bisher konnte der Begriff ‚Cliffhanger‘ nur undifferenziert für alle Formen und Typen benutzt werden. Diese Studie legt demgegenüber dar, dass ‚Cliffhanger‘ nicht gleich ‚Cliffhanger‘ ist: Der enthüllende Cliffhanger beispielsweise einer Seifenoper, der gefahrensituative einer Kinoserie und der vorausdeutende in einem Roman von Dickens haben grundsätzliche Gemeinsamkeiten. In der Erstveröffentlichung findet eine Erzählunterbrechung in einem besonderen, exponierten Moment statt, der die Spannung erhöht. Aber davon abgesehen sind diese drei Erzähltypen grundverschieden: Die zeitliche Relevanz, die Spannweite, die diegetischen Fortsetzungskategorien, die Darstellungsweise dieser Erzähltypen auf der discours-Ebene, die Inszenierung, das häufigste Vorkommen in einem Genre und einer bestimmten Zeit ‒ in all diesen Punkten unterscheiden sich die drei Erzähltypen und weisen doch eindeutig die Grundmerkmale der Erzähltechnik Cliffhanger auf. Die hier eingeführten Begrifflichkeiten kristallisieren die Komplexität, die Vielgestaltigkeit und die unterschiedliche Wirkung der verschiedenen unterbrochenen Spannungsmomente heraus und benennen sie. Die jeweilige Ausformung der Cliffhangertechnik kann aus fünf verschiedenen Gesichtspunkten beschrieben werden. Das daraus entstehende Bild ergibt eine differenzierte, vielgliedrige Einordnung des jeweiligen unterbrochenen Spannungsmoments.46 46 In Ergänzung dieses Diagramms empfiehlt sich außerdem das Kapitel: III. 3.2.3 „Die neuen Kategorisierungen“ (S. 125ff.). In diesem Kapitel werden die diegetischen und die außerdiegetischen Fortsetzungskategorien eingeführt, die bei der Beschreibung serieller Werke

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Übersicht 12: Finale Kategorisierung

Erzähltypen • gefahrensituativ • enthüllend • vorausdeutend

Erzählformen

Erzählmittel

• Minicliff • Binnencliff • Cliffhanger • (Finalecliff)

• exklamatorisch • interrogativ • kommissiv • (unterbrochen)

Die CliffhangerErzähltechnik

Fortsetzung • Interruptionspunkt • elliptischer Interruptionspunkt • verzögerte Interruptionsspanne • parallelisierte Interruptiosspanne

Spannweiten • kurz • mittel • lang

Kategorisierungs- und Beschreibungsmöglichkeiten der Cliffhanger-Erzähltechnik.

und unterbrochener Handlungsstränge hilfreich sind. Um Redundanzen zu vermeiden, werden sie hier nicht ausführlich wiederholt, auch wenn sie und ihre gute Nutzbarkeit Teil der Forschungsergebnisse sind. Eine alternative, weit weniger differenzierte und nur anhand der Racombole-Romane von Ponson du Terrail herausgearbeitete Kategorisierung von „Zäsuren“ bietet: Walter: Die Rocambole-Romane von Ponson du Terrail, 1986, S. 410. Alle im Diagramm in Klammern stehenden Begriffe wurden selten vorgefunden. Der Finalecliff ist bspw. auf in Staffeln publizierte serielle Werke beschränkt.

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2. … UND

DIE SERIELLE

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N ARRATION

2.1 Serielle Narration im ökonomischen Spannungsfeld zwischen Produktion, Distribution und Rezeption Serielle Narration wird von den drei Instanzen Produktion, Distribution und Rezeption geformt, weil sie aufgrund ihrer Teilung immer wieder an diese rückgebunden wird. Diese Instanzen beeinflussen unter anderem die jeweilige Erzählweise der Serie. Zwischen Produktion, Distribution und Rezeption ist der Cliffhanger das bestimmende Kommunikationsglied. Als Impuls vom Produzenten an den ‚Kunden‘ weckt er Neugier, ermuntert zur Treue, ermöglicht die Fortsetzung der Produktion. Der Rezipient wiederum erhält vom Cliffhanger wichtige Informationen, welche Entwicklungen die Handlung nehmen könnte und welche Themen im Vordergrund stehen. Außerdem animiert die Erzähltechnik des Cliffhangers zur Antizipation und zu einem Dialog mit der Produktion: Einige Rezipienten der Kinoserien nahmen teil an Preisausschreiben, wie die beste Auflösung des Cliffhangers aussehen könnte; an Dickens und Doyle schrieben sie Briefe ‒ heutzutage sind es E-Mails, Blogs, Forenbeiträge; die Fans hängten Poster in London auf und vermittelten so Zuschauern, Unbeteiligten und den Produzenten ihren ‚Glauben‘ an Sherlock Holmes („I believe in Sherlock“). Auf der Distributionsseite dagegen bedeutet der Cliffhanger einen diegetischen Hinweis für den Rezipienten: Diese Narration hat eine serielle Form, die Erzählung wird also fortgesetzt (meistens verbunden mit einem extradiegetischen Hinweis auf Zeitpunkt und Ort der Rezeptionsfortführung). Ein Cliffhanger ist in diesem Kontext immer ein deutlicher Hinweis auf einen Plan der Produktions- und Distributionsseite, die Erzählung fortzusetzen. Zu enden und zu unterbrechen ‒ beide Möglichkeiten bedeuten Macht. Diese nutzt der Produzent in der Erzählunterbrechung. Er teilt kurzzeitig seine Herrschaft mit dem Rezipienten, der durch den Kauf von Mikrotexten das Fundament für die Fortführung der Narration und ein (finales) Ende schafft. Jedes Wellenkapitel liefert einen in sich geschlossenen Überblick über Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen der jeweiligen seriellen Narrationswelle – diese Erkenntnisse können hier nicht wiederholt werden, sind aber für das entsprechende serielle Format wichtig und finden sich in den Fazits der Wellenkapitel. Im abschließenden Vergleich zeigt sich, dass historisch betrachtet in den seriellen Narrationswellen nicht allein die Rezipientenbindung im Vordergrund der Produktion stand. Auch finanzielle Erwägungen, technische Einschränkungen und/oder Vorteile in der Distribution verursachten eine Trennung in einzelne Teile: Die Romane des viktorianischen Zeitalters wurden zunächst aus Kostengründen aufgeteilt, die Kinoserien entstanden zunächst aus technischen Limitierungen. Ganzheitlich geplante und lediglich im Nachhinein geteilte Narration war häufig Beginn und Inspiration für

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die Herstellung wirklicher, also intendierter serieller Narrationsformate. Diese ökonomischen, technischen oder distributorischen Ursachen für eine Teilung der Narration spielen heutzutage keine wesentliche Rolle mehr. Angesichts der zahllosen technischen Möglichkeiten stellt die Distribution heute keine Schwierigkeit dar. Dementsprechend ist eine Verlagerung auf die größere Rezipientenbindung, die erzählerische Breite und Länge der seriellen Fortsetzungsnarration zu beobachten. Die serielle Erzählform wird weiterhin von den ökonomisch bedingten Produktions-, Distributionsund Rezeptionsweisen geprägt ‒ aber nicht mehr so stark durch technische und distributorische Einschränkungen. Moderne serielle Erzählungen können sich daher mehr auf die Vorzüge und Charakteristiken der seriellen Narration konzentrieren. Diese Freiheiten mögen auch Gründe für die narrative Potenz und Größe der gegenwärtigen seriellen Narrationswelle sein. Im diachronen Vergleich lässt sich außerdem feststellen, dass zu den genuinen Merkmalen der seriellen Narration gehört, dass sie meist ‚mehrere Leben‘ besitzt, mehrere Erscheinungsformen annimmt: seien es nun die Erzählungen der mündlich überlieferten Literatur, die dann in Handschriften umherwanderten und später als ganzheitliches Buch veröffentlicht wurden; die Feuilleton- und Fortsetzungsromane, die zum Teil als dreibändige Werke über Leihbibliotheken zirkulierten und schließlich zum ungeteilten Roman zusammengefügt wurden; oder die Fernsehserie, die inzwischen als DVD-Box große Erfolge feiert. Zudem konnte herausgearbeitet werden, dass der jeweilige Einsatz und die Wahl der Cliffhanger-Erzähltypen häufig ein Anzeichen für die Kompatibilität des seriellen Werks mit den Erfordernissen der Ganzheitlichkeit ist. Die seriellen Fortsetzungswerke lassen sich anhand der Cliffhanger in zwei grobe Kategorien unterteilen. Zur ersten Kategorie gehören Makrotexte, die wegen ihres betont segmentären Charakters nur unter Anpassung ihrer Mikrotexte oder ‒ wie im Falle der Seifenoper ‒ gar nicht erneut veröffentlicht wurden.47 Die für die ganzheitliche Publikation umgestalteten Makrotexte setzen fast an jeder Erzählunterbrechung Cliffhanger ein: Sie betonen ihre ‚Teilhaftigkeit‘ und das ökonomische Raster so sehr, dass sich häufig keine angenehm flüssige Narration in der späteren ganzheitlichen Publikation ergibt. Die in dieser Studie behandelten Kinoserien und Seifenopern sind nicht weniger

47 Serielle Werke, die in abgewandelter Version erneut veröffentlicht wurden, sind bspw.: Wilkie Collins überarbeitete die meisten seiner seriellen Werke für die Veröffentlichung als gebundenes Buch. Die pulps wurden ‒ wie am Beispiel von Tarzan and the Jewels of Opar gezeigt werden konnte ‒ sogar gelegentlich für die ganzheitliche Publikation verlängert. Die Kinoserien wurden teilweise als Filme veröffentlicht, aber in völlig anderer, kürzerer Version. Nur die Seifenoper scheint so spezifisch seriell zu sein, dass DVD-Veröffentlichungen eine Seltenheit sind.

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kunstvoll als die anderen Werke, sie setzen den Cliffhanger nicht weniger selbstreflexiv ein, als dies in einigen Fortsetzungsromanen oder Fernsehserien geschieht. Aber die Mehrzahl von ihnen verwendet nur einen Erzähltyp mit vornehmlich einem Erzählmittel. Die zeitliche Relevanz und die künstlerische Bandbreite sind eingeschränkter als in den anderen seriellen Wellen. Aktuelle TV-Serien wie Braquo oder Game of Thrones, die ebenfalls jede Folge mit einem Cliffhanger beenden, verwenden den Cliffhanger geschickter. Sie beschränken sich nicht auf eine einzige Art des Cliffhangers, sondern nutzen die komplette Bandbreite der Typen und Mittel. So gelingt es ihnen, trotz einer deutlichen Ausrichtung auf ökonomische Raster und trotz Teilung die Rezeption wesentlich abwechslungsreicher zu gestalten. Die zweite Kategorie besteht aus seriellen Texten, die meist in unveränderter Version als Ganzes veröffentlicht wurden. Viele dieser seriellen Erzählungen evozieren Spannung, ohne dass es einer Überarbeitung für die ganzheitliche Veröffentlichung bedürfte. Die Cliffhanger funktionieren weiterhin als Minicliffs beispielsweise am Kapitelende ‒ die frühere Publikationsform ist noch erkennbar, aber nur bei genauerer Betrachtung. Den seriellen Texten, die ganzheitlich funktionieren, genügen oft wenige Cliffhanger. Außerdem verwenden sie die ganze Bandbreite der Erzähltypen und Erzählmittel und stellen die serielle Teilung nicht überdeutlich aus. Der Reiz vieler Pay-TV-Serien lässt sich auch daher erklären, dass sie auf die Bandbreite aller Typen setzen und verstärkt vorausdeutende Cliffhanger verwenden. Im Gegensatz zu früheren seriellen Narrationswellen herrscht noch weniger eine Trennung der Rezeptionsweisen. Der heutige Rezipient wechselt immer wieder zwischen ganzheitlicher und serieller Rezeptionsweise ‒ die Setzung weniger Cliffhanger und unterschiedlicher Erzähltypen ergibt auch im steten Wechsel einen angenehmen Fluss. Die Darstellung des Spannungsverhältnisses zwischen Produktion, Distribution und Rezeption in dieser Studie verdeutlicht unter anderem eine sehr enge Verbindung zwischen Ökonomie und Narration. Die Herausarbeitung dieser Verbindung fällt vielleicht deshalb so ins Gewicht, weil diese gegenseitige Beeinflussung sonst häufig ausgeklammert wird. Weiter zu erzählen, weiter erzählen zu können, heißt für den Textproduzenten zu überleben und ist damit Grundlage jeder auf Veröffentlichung ausgelegten Narration. Eine partielle Befreiung von den Zwängen der Ökonomie ermöglicht einen selbstreflexiven und kunstvollen Einsatz des Cliffhangers. Eine Autonomisierung der Erzähltechnik führt zur eigenen Ästhetik und Poesie des Cliffhangers. Dennoch gehen Ökonomie und Erzählen ‒ zumindest aus der Perspektive der seriellen Narration und besonders des Cliffhangers ‒ eine Verbindung ein, die notwendig, untrennbar ist, aber keineswegs negativ zu betrachten. Eine Analyse des Cliffhangers zeigt, dass es zumindest bei dieser Erzähltechnik schwer ist zu trennen zwischen Ökonomie und Erzähltechnik, da eine Wechselwirkung zwischen Ökonomie und Narration stattfindet: Wirtschaftliche Bedingungen verursachen bestimmte

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Erzähleffekte, die auf den Inhalt wirken, der dann wiederum Vermarktung und Rezeption beeinflusst. Diese Verbindung ‒ auch das zeigt sich deutlich ‒ muss keineswegs den künstlerischen Anspruch eines Werks korrumpieren. Im Gegenteil: Der Cliffhanger als Erzähltechnik zeigt, dass auch ein starker wirtschaftlicher Hintergrund Spannung, Ästhetik und eine lange Erzähltradition zu begünstigen vermag. Die zugrunde liegende Ökonomie ist sogar historisch betrachtet unabdingbarer Impuls und wichtige Inspiration für die Gestaltung eines narrativen Rezeptionsanstoßes. Gleichzeitig wird deutlich, dass sich der Cliffhanger kunstvoller, vorausdeutender, in größerer Spannweite und in Variationen entfalten kann, wenn wirtschaftliche Zwänge ihn nicht zu sehr einengen. Serielle Makrotexte, die nicht abhängig sind von der Forderung nach einem Kaufimpuls von Mikrotext zu Mikrotext, sondern über Abonnements und Subskribierung bezogen werden, können den Cliffhanger autonomer und fantasievoller einsetzen; dank der Möglichkeit der langen Planung kann eine weite Perspektive genutzt werden. Die Abwechslung unterschiedlicher Cliffhangertypen und die Setzung nur an dramaturgisch wichtigen Stellen befreien den Cliffhanger von einer vor allem wirtschaftlich bestimmten Erzähltechnik: Er wird zu einem autonom und souverän eingesetzten Höhepunkt. Den seriellen Text gliedert er. 2.2 Serielle Narration und die Einführung von technischen Medien Ein unerwartet eindeutiges Ergebnis dieser Studie besteht darin, dass technische Medien häufig über die serielle Fortsetzungsnarration eingeführt worden sind. Damit lässt sich anhand der Geschichte der seriellen Narration auch ein Stück weit Mediengeschichte beobachten. Denn die Rezeption serieller Fortsetzungsnarration unterstützt eine Treue zur Serie, zum Produzenten und zum technischen Medium. Der Cliffhanger hat an dieser dreigliedrigen Treuefunktion erheblichen Anteil, weil er diese Verbundenheit narrativ unterstützt und die Erzählpause zwischen den Rezeptionen überbrückt. Da der Cliffhanger mitgeformt wird von den Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen der jeweiligen Zeit und in serieller Fortsetzungsnarration in den neuen technischen Medien Verwendung findet, um das Publikum an sie zu gewöhnen, lässt sich an dieser Erzähltechnik auch die Einführung und anfängliche Entwicklung eines technischen Mediums ablesen. Dickensʼ Fortsetzungsromane hatten unter anderem wegen ihres niedrigen Preises und der fortgesetzten Erzählweise Erfolg: Durch das verbesserte Schulsystem und den finanziellen Aufschwung der Industrialisierung war eine neue Leserschaft entstanden, die mit Dickensʼ Erzählungen (und davor mit den Paternoster-Rows und anderen seriellen Formaten) an das technische Medium des Buches und das systemische der Schrift herangeführt und gewöhnt wurde. Aufgrund des geringeren Abonnement-Preises konnten in Frankreich neue Leserschaften gelockt und mit den Feuilletonromanen gehal-

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ten werden. Die Kinoserie leitete nicht nur gut vom Kurz- zum Langfilm über, sondern schaffte es auch ‒ zum Beispiel in Kooperation mit Zeitungs- und ZeitschriftenErzählungen ‒ die Neugier der Zuschauer auf das neue technische Medium Film zu wecken. Die Seifenoper machte bei Hausfrauen das Radio und später das Fernsehen populär und führte sogar noch eine vierte Treuefunktion ein: zum Sponsor, der häufig ein neu eingeführtes Produkt mit der seriellen Narration bewarb. Der E-Book-Reader Kindle wird nicht mit einem exklusiven, ganzheitlichen Roman beworben, der ondemand-Service Netflix nicht mit einem Spielfilm, sondern mit serieller Fortsetzungsnarration. In dieser Abfolge von zunächst Heranführung, dann Gewöhnung und schließlich Treue zu einem technischen und sozialen Medium mittels Fortsetzungsnarration nimmt der Cliffhanger eine essentielle Rolle ein, weil er alle drei Schritte narrativ unterstützt. So wie Schahrasad mit ihren Erzählungen den König zur Treue verführt, will jedes dieser technischen, jedes dieser sozialen Medien und jede dieser Serien den Rezipienten zur Verbundenheit veranlassen. Sie stellt das (finanzielle) ‚Überleben‘ sicher: Ein Ende der Narration beziehungsweise ein vorzeitiges der Rezeption ist gleichbedeutend mit dem (ökonomischen) ‚Tod‘ der Erzählung und der Produktion. Aus der historischen Darlegung der verschiedenen seriellen Narrationswellen lässt sich somit auch die Erkenntnis gewinnen, welche große, bisher kaum berücksichtigte Bedeutung die serielle Fortsetzungsnarration bei der Einführung neuer technischer und sozialer Medien hatte – und noch immer hat. 2.3 Geschichte und Charakteristik der seriellen Narration und des Cliffhangers Es konnte nachgewiesen werden, dass die serielle Fortsetzungsnarration und die Erzähltechnik des Cliffhangers transmedial und epochenübergreifend eingesetzt werden. Der Cliffhanger ist für die serielle Fortsetzungsnarration essentiell: Er richtet die Spannung auf den nächsten Mikrotext und steigert dadurch das Interesse am gesamten Makrotext ‒ auf diese Weise unterstützt er dessen Spannungsbogen, den der seriellen Fortsetzungsnarration immanenten Wechsel zwischen Spannung und Entspannung und das ökonomische Überleben der jeweiligen seriellen Erzählung. Übertragen auf die serielle Fortsetzungsnarration bedeutet dies, dass auch sie spezifische Bestandteile hat, die transmedial erhalten bleiben: recaps, Cliffhanger, teaser und eine enge Verbindung zur Werbung finden sich in allen behandelten seriellen Narrationswellen – auch die Vorausdeutung und die Schwebeform spielen in ihnen eine bisher in der Forschung nicht beachtete Rolle. Lediglich die Gewichtung dieser Be-

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standteile ist in jedem technischen Medium (und teilweise in jeder Welle) unterschiedlich.48 Im Fernsehen werden diese Bestandteile am häufigsten eingesetzt ‒ vermutlich aufgrund des seriellen Charakters dieses Mediums durch den programmeflow und das channel-switching sowie der durch die Werbeunterbrechung herbeigeführten doppelten Serialität der TV-Erzählung: Fernsehen ist das seriellste technische Medium und hat darum die seriellsten Erzählungen.49 Grundsätzlich aber bleiben die Gesetzmäßigkeiten und Bestandteile der seriellen Fortsetzungsnarration erhalten ‒ sie sind so ausgeprägt, dass sie sich über alle Mediengrenzen hinweg in der Erzählung des jeweiligen technischen Mediums durchsetzen.50 Aufgrund der transmedial und epochenübergreifend erhaltenen Charakteristiken lässt sich der Forschungsbereich der seriellen Narration eindeutig und trennscharf bestimmen: Die serielle Narration ist eine Narrationsform sui generis – und der Cliffhanger eine Erzähltechnik ebenso eigener Art.51 Der historische Vergleich hat offengelegt, dass – abgesehen von der gegenwärtigen seriellen Narrationswelle, deren Werke eine wesentlich höhere kulturelle Wertschätzung erhalten – serielle Fortsetzungsnarration immer als Zeichen industrieller Fertigung und Massenproduktion gesehen wurde, als populäre Unterhaltung, narrativ und strukturell starken ökonomischen Zwängen unterworfen. In ihrer kulturellen Bewertung wurden Preis, Material und die soziale Klasse der Rezipienten nicht vom ‚narrativen Wert‘ getrennt. Weil serielle Fortsetzungsnarration häufig auf billigem Material veröffentlicht, zu niedrigen Preisen angeboten und von den unteren, wenig gebildeten sozialen Schichten rezipiert wurde, sah man die Texte meist auch als zweit- oder drittklassig an.52 Der Cliffhanger als zentrale Erzähltechnik der seriellen 48 Das cold open ist nur im Fernsehen mit seinem programme-flow möglich; der Prolog im Roman Game of Thrones zeigt jedoch, dass die Literatur vergleichbare, aber nicht gleiche Elemente besitzt. 49 Vgl. Hickethier: Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens, 1991; Williams u. a.: Television, 2003, S. 77–120. Der Fernsehwissenschaftler Stanley Cavell macht als dominante kulturelle Form, die das Medium des Fernsehens geprägt hat, die Serie aus. Vgl. Engell: Fernsehtheorie, 2012, S. 16. 50 Der transmediale Einsatz derselben Erzähltechniken ist etwas, das spezifisch und singulär ist für die serielle Fortsetzungsnarration und sich nicht auf ganzheitliche Narration übertragen lässt, beziehungsweise dort erneut überprüft werden müsste. 51 Die Unterscheidungskriterien ‚seriell geplant‘, ‚seriell veröffentlicht‘ oder ‚werkimmenente serielle Struktur‘ bilden die drei wichtigsten Bestimmungsparameter für die Bezeichnung eines Werkes als seriell und der Umfassung des Forschungsbereichs serielle Narration. Die hier gewählte Eingrenzung – Werke, die sowohl seriell geplant als auch seriell erstveröffentlicht wurden – zeichnet sich durch die größte Trennschärfe aus. 52 Serielle Fortsetzungsnarration wurde meist preiswerter angeboten als ganzheitliche und deshalb auf geringerwertigem Material veröffentlicht: Die shilling-numbers wurden nach

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Fortsetzungsnarration ist von diesen Vorurteilen mitbetroffen, weil je nach Typ, Erzählmittel und Positionierung im Makrotext dieser ökonomische Zwang bei ihm sehr deutlich wird. Diese Studie konnte jedoch zeigen: Die serielle Narration und der Cliffhanger bestehen aus vielen Facetten. Ökonomie und kunstvolle Narration müssen sich keineswegs widersprechen. Ein wirtschaftlicher Impuls kann in einen komplexen, aktivierenden, zu Antizipation und Reflexion animierenden narrativen Impuls verwandelt werden. Bisher wurde zudem nicht eindeutig die Qualität serieller Fortsetzungsnarration herausgestellt: Serielle Narration wird zu einem großen Teil bestimmt von den Unterbrechungen. Sie machen die Narration erst zu Narration aus Teilen, bestimmen also ihre Serialität. Aufgrund ihrer langen Publikationsspanne, ihrer ‚Folgenhaftigkeit‘, ihrer Pausen ist daher serielle Fortsetzungsnarration prädestiniert dazu, Entwicklung, Veränderung sowie inhaltliche und gedankliche Weiterführung offenbar zu machen. Die Cliffhanger haben dabei eine zentrale Funktion. Als wesentliches Element des Textes inspirieren sie dazu, einen zwischen zwei Publikationen stattfindenden zeitlichen Zwischenraum für eine Reflexion zu nutzen. Zudem ermöglichen die Unterbrechungen und Publikationsspannen nicht nur die Darstellung von Entwicklung und Weiterführung, sondern die Auslassungen und Zeitsprünge können auch das Vergehen der Zeit intensiver erfahrbar machen – von 1001 Nacht bis zu Breaking Bad wird diese Qualität häufig von Fortsetzungsserien genutzt. Nicht nur das Dargestellte, sondern auch das Nicht-Gezeigte zwischen Unterbrechungs- und Aufhebungsmoment ist Teil der story. Weitere ebenfalls zu beobachtende Charakteristik der seriellen Narration ist die Rückkopplung zwischen Diegese und Alltag, die einen wichtigen Hintergrund zu den vier beschriebenen Wirkungsmechanismen Antizipation, Einprägung, Aktivierung und Partizipation des Cliffhangers bildet. Die Erzählpause zwischen der Veröffentlichung der einzelnen Mikrotexte ermöglicht ein Vertrautwerden mit den Charakteren, den Themen und mit dem Stil der Erzählung.53 Die seriellen Fortsetzungswerke sind

ihrem niedrigen Preis benannt und auf billigem Papier publiziert, geheftet in grüne Umschläge. Die Feuilletonromane wurden in den kostengünstigeren Zeitungen und dementsprechend auf minderwertigem Zeitungspapier veröffentlicht. Die Kinoserien zeigte man anfangs in den günstigen Nickelodeons. Die pulps sind auf dem titelgebenden ‚billigem‘ Papier gedruckt. Die Seifenopern werden äußerst kosteneffizient produziert und sind ‚umsonst‘ rezipierbar. 53 Diese Wirkung ist auch vorhanden, wenn die seriellen Mikrotexte später ganzheitlich veröffentlicht werden, die serielle Struktur aber erhalten bleibt ‒ besonders bei längeren seriellen Texten, da die Rezeption aufgrund der Länge und Vielzahl an Mikrotexten aufgeteilt wird. Der Rezeptionsrhythmus ist dann selbst bestimmt, aber Rückkopplung und Gewöhnung an serielle Narration finden noch immer statt.

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dem Leben des Rezipienten daher näher als die ganzheitlichen, weil sich die diegetische Welt meist mit der Welt des Rezipienten verändert.54 Die Erzähltechnik des Cliffhangers ist die narrative Übersetzung eines wirtschaftlichen Gedankens. Zugleich ist dies nur ein Teil von ihm. Serielle Fortsetzungserzählungen beanspruchen eine andere Struktur als ganzheitliche. Der serielle Text muss aufgrund seiner Länge und Teilung häufiger als ein ganzheitlicher einen Wechsel von Höhepunkt und Entspannung enthalten, er muss feinteiliger strukturiert sein. Seine Form ist die sich immer wiederholende Schwebeform und nicht Freytags Pyramidenschema.55 Kunstvoll, autonom und zum Teil selbstreflexiv eingesetzte Cliffhanger gliedern den seriellen Text:56 Wie bei einem ganzheitlichen Werk werden Wendepunkte hervorgehoben, Konflikte dargelegt und Entwicklungen angedeutet. Das gelingt Kraft des Cliffhangers. Er ist die Markierung des Wendepunkts, des Konflikts, der Entwicklung in der Mitte des Makrotextes. Er fällt aber nur dann besonders auf und kennzeichnet inhaltlich wichtige Punkte, wenn nicht jede Erzählunterbrechung mit einem Cliffhanger verbunden wird. In diesem Fall wird die Erzähltechnik nicht finanziell zweckmäßig, sondern ‚erzählökonomisch‘ eingesetzt. Gewiss, der Cliffhanger ist Ausdruck eines wirtschaftlichen Kalküls ‒ zugleich ist er aber noch viel mehr: dem seriellen Fortsetzungstext innewohnender Bedeutungs- und Strukturgeber.

54 Die moderne serielle Narration passt besonders gut zum Lebensrhythmus der heutigen Zeit. Der einzelne Mikrotext ist kürzer als der ganzheitliche Film oder Roman und daher leichter mit dem Alltag des Rezipienten vereinbar, da weniger Zeit am Stück benötigt wird ‒ die Zusammenfügung aller Mikrotexte zu einem Makrotext ermöglicht gleichsam eine komplexere und längere Narration als die vieler ganzheitlicher Werke. Daher ist es gut möglich, dass die momentane serielle Narrationswelle vielleicht nicht mehr abgelöst wird wie die vorherigen, sondern das auf Dauer ein Nebeneinander von serieller und ganzheitlicher Narration herrscht. 55 Siehe zur Schwebeform: Kapitel II. 2.5.3 „Die Position des Cliffhangers im ‚Ganzen‘“, S. 76. 56 Siehe bspw.: Les Trois Mousquetaire, Deadwood oder zuletzt House of Cards.

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Ö FFNUNG „Each [d.i. The Sopranos und The Wire] uses the long form of the serial to allow itself a configuration of space, time, characterisation and performance which is not reducible to narrative causality, but which describes worlds and maps the connectedness and entanglements between them. Episodic time is not simply a narrative structure, a hook to bring the audience back week after week, but an experimental epistemology which sets in motion little dramas of connectedness, and asks viewers, in Caroline Levine’s terms, „to ready themselves for the potential failures of belief and tradition when set against the surprising, unconventional otherness of the world.“57 CAUGHIE: „TELEVISION AND SERIAL FICTIONS“. IN: GLOVER U. A. (HG.): THE CAMBRIDGE COMPANION TO POPULAR FICTION, 2012, S. 60.

Es ist wichtig, dass eine Neubewertung oder besser noch: eine wertfreie Analyse der seriellen Fortsetzungsnarration sich nicht allein auf die TV-Serie beschränkt. Wie eine Erzählung unterteilt und damit ‒ im übertragenen Sinne ‒, wie die in der Diegese gespiegelte Welt fragmentiert wird, ist immer auch Ausdruck einer Zeit und Kultur. Der Cliffhanger ist ein Anzeichen für diese vielfältigen Möglichkeiten der seriellen Fortsetzungsnarration, unsere komplexe und segmentierte Welt ebenso komplex und segmentiert dazustellen. Denn serielle Fortsetzungsnarration ist nicht zu steter Repetition verurteilt, ihre Rezeption verharrt nicht im sinnentleerten Ritual, sondern ihr Kennzeichen ist ‒ wie die Funktionsweise des Cliffhangers deutlich macht ‒ die Kombination von Wiedererkennbarkeit und Erneuerung, die Reproduktion als Innovation. Der Cliffhanger als Erzähltechnik zeigt dies auf der Mikroebene: Er zeichnet sich durch eine vielgestaltige Wiederkennbarkeit aus, die aus Unterbrechung und Spannung besteht. Gleichzeitig ist er immer auch ein Impuls zu Erneuerung und Veränderung. Der Cliffhanger stellt damit ein Vergleichsobjekt dar, das weit über sich selbst hinausweist: Er gibt Aufschluss über den jeweiligen Makrotext, die serielle Fortsetzungsnarration einer bestimmten Zeit und über Einführung und erste Entwicklung eines technischen Mediums ‒ immer führt er vom Klein- zum Großteiligen. Darüber hinaus ist der Cliffhanger Element einer der seriellen Narration immanenten Teilung und Zusammenfügung. 57 Das Sekundärzitat stammt aus: Levine, Caroline: The Serious Pleasures of Suspense: Victorian Realism and Narrative Doubt, 2003, S. 3.

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Wenn wir die gegenwärtige serielle Narration verstehen wollen, gilt es, die Geschichte und Tradition, die Strukturen und Techniken dieser Narrationsform aufzudecken. Diese Studie ist ein erster Schritt in diese Richtung.58 Sie zeigt, dass eine kulturhistorische Betrachtung der Erzähltechnik des Cliffhangers den Blick weitet für das Verständnis der seriellen Fortsetzungsnarration. Diese Art von Narration unterscheidet sich von ganzheitlichen Werken sowohl in den produktions- als auch rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten, in der Struktur ebenso wie in den Erzähltechniken. Sie hat spezifische, genuine Bestandteile und eine eigene Tradition und Geschichte. Nicht nur die Vielfalt und Vielgestaltigkeit des Cliffhangers konnte diese Studie aufzeigen, sondern auch die Möglichkeiten und Funktionsweisen der seriellen Fortsetzungsnarration. Infolge der Unterschiede dieser Art des Erzählens benötigt sie eigenständige Kategorien. Der Einsatz eines Cliffhangers darf nicht mit einer Ökonomisierung der Narration gleichgesetzt werden; man sollte ihn vielmehr als Anzeichen für ein Bewusstsein der Qualitäten und Charakteristiken des seriellen Fortsetzungsformats betrachten. Je vielgestaltiger, je mannigfaltiger der Einsatz der Erzähltechnik des Cliffhangers, desto selbstreflexiver der serielle Text, desto mehr ist sich der Schöpfer aller Möglichkeiten des Formats bewusst. Dickensʼ Werk kann stark vereinfacht als Miniatur der Geschichte der seriellen Fortsetzungsnarration gelesen werden: Am Anfang seines Schaffens in The Pickwick Papers ist er sich kaum klar über die seriellen Möglichkeiten. Aber mit der Zeit entdeckt Dickens sie und setzt sie schließlich in Bleak House und anderen späteren Romanen mit großem Weitblick und Gespür für die Beschaffenheit serieller Fortsetzungsnarration ein. Bereits in vielen Fortsetzungs- und Feuilletonromanen wurden die Qualitäten des seriell-fortgesetzten Erzählens entdeckt und genutzt. Die aktuelle Fernsehserie ist mit den damaligen Werken vergleichbar ‒ wie in zahlreichen Feuilletons behauptet wird59 ‒, weil sie ebenfalls die Chancen dieses Formats ergreift, selbstreflexiv das gesamte Instrumentarium an seriellen Möglichkeiten gebraucht. Auch der Cliffhanger wird in seiner ganzen Bandbreite verwendet ‒ und sogar noch erweitert: Es werden Typen kombiniert, die Position der Erzähltechnik wird verändert und es kommen Anachronien hinzu.

58 Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Zeit für eine Erforschung der seriellen Narration drängt. Teile gehen immer leichter verloren als ein Ganzes. Viele Materialien, auf denen serielle Narration veröffentlicht wurde, sind von minderer Qualität als die meisten ganzheitlichen Publikationen und darum schneller dem Verfall ausgeliefert. Und der schlechte Ruf der seriellen Narration als populär und seicht, als massenproduziert und von geringem kulturellen Wert trägt ebenso zu einer Vernachlässigung zahlreicher Mikrotexte bei. 59 Bspw. Kämmerlings: „Ein Balzac für unsere Zeit“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Mai 2010, S. 33.

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Abschließend bleibt die Frage: Was kann der Einsatz von Erzähltechniken über die Machart und den ästhetischen ‚Wert‘ eines Werks aussagen? Diese Studie zeigt deutlich: Wenn Struktur und Inhalt einander widerspiegeln, wenn Technik, Ästhetik und Inhalt sich ergänzen, Hand in Hand arbeiten für die Evozierung eines Gesamteindrucks, dann entsteht ein künstlerisch komplexes Werk. Wenn die Erzähltechnik ästhetisch und inhaltlich relevant eingesetzt wird, ist sie gleichfalls unverzichtbarer Teil des Werks und seiner Aussagen. Der Cliffhanger umschließt viele Möglichkeiten: Er vermag den ökonomischen Hintergrund, die Struktur und die Inhalte eines Werks zu vereinen und zu spiegeln. Immer ist er Impulsgeber für die weitere Rezeption, markiert zentrale Momente und Höhepunkte, prägt sich ein und aktiviert damit zur Rezeption, zur Partizipation, zur Antizipation und zur Fan-Kultur. Am Ende eines Mikrotextes bildet er die Brücke zwischen den Erzählpausen ‒ er ist der Schöpfer vielsagender, vielschichtiger, vorausdeutender Perspektiven.

XII. Quellenverzeichnis

1. Primärliteratur

101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums. Zürich, 2012. Balzac, Honoré de: „Les Paysans“. In: La Presse, 03.12.1844‒21.12.1844. Barbara, Charles: „Le Billet de Mille Francs“. In: Le Petit Journal, 6.2–7.2.1863. Burroughs, Edgar Rice: Tarzan and the Jewels of Opar. In: All-Story Weekly, 18.11.1916‒16.12.1916. Ders.: Tarzan and the Jewels of Opar. Chicago, 1918. Care, Henry: Poor Robin’s Memoirs. With his Life, Travels, and Adventures. London, 1677 - 1678. Collins, Wilkie: „The Poisened Meal“. In: Ders.: My Miscellanies. London, 1863, S. 114–172. Ders.: The Woman in White. Hg. von Matthew Sweet. London, New York, 2003. Ders.: „Autobiographical Fragment 1847“. In: Wall, Stephen (Hg.): Charles Dickens: a Critical Anthology. London, 1970, S. 37–43. Ders.: Bleak House. Hg. von Stephen Charles Gill. Oxford, 2008. Ders.: Oliver Twist. Hg. von Kathleen Tillotson und Stephen Charles Gill. Oxford, 2008. Ders.: The Old Curiosity Shop. Hg. von Elizabeth M. Brennan. Oxford, 2008. Ders.: The Pickwick Papers. Hg. von James Kinsley. Oxford, 2008. Ders.: „Une Assurance sur la Vie“. In: Le Petit Journal, 1.2.1863–5.2.1863. Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten. Übersetzt von Enno Littmann. Frankfurt am Main, 1976. Doyle, Sir Arthur Conan: The New Annotated Sherlock Holmes. The Complete Short Stories. Hg. von Leslie S. Klinger. New York, 2007. Ders.: „A Scandal in Bohemia“. In: Adventures of Sherlock Holmes. London, 1892, S. 3–28. Döblin, Alfred: Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende. Olten und Freiburg im Breisgau, 1977.

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Dumas, Alexandre: „Le Comte de Monte-Cristo“. In: Journal des débats, 29.11.1845. Ders.: „Les Trois Mousquetaires“. In: Le Siècle, 14. März bis 14. Juli 1844. Eliot, George: Romola. London, 1863. Ders.: The Mill on the Floss. Hg. von Gordon Sherman Haight. Oxford, 1980. Goddard, Charles: The Perils of Pauline. Teddington, Middlesex, 2006. Hardy, Thomas: A Pair of Blue Eyes. Hg. von Alan Manford. Oxford, 2009. King, Stephen: Misery. New York, 1988. Kitāb alf laila wa-laila (Band2). Transkribiert von Muhsin Mahdī. Leiden, 1984. Leblanc, Maurice: „La Vie extraordinaire d’Arsène Lupin“. In: Je sais tout, Juli 1905‒Januar 1906. Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. [Nachdr.] / 1. Aufl. Stuttgart, 1973/2012. MacGrath, Harold: The Adventures of Kathlyn. Fairfield, 2007. Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt am Main, 1989. Martin, George R. R.: A Game of Thrones. New York, 1996. Ders.: A Clash of Kings. Book Two of A Song of Ice and Fire. New York, 1998. Merruau, Paul : „Le Malheur d’avoir une dot“. In : Le Petit Journal, 9.2.1963. Montillon, Christian: Die Seele der Flotte. Perry Rhodan Nr. 2648. Köln: 2012. Pérez-Reverte, Arturo: Der Club Dumas. Berlin, 2005. Perrin, Marc: „L’Épreuve“. In: Le Petit Journal, 8.2.1953. Peterson, Andrew: Option to Kill. (e-book). www.amazon.de: September‒November 2012. Reeve, Arthur B.: The Exploits of Elaine. Teddington, Middlesex, 2007. Rondeau, Daniel: In Flammen. Ein Leben für die Revolution, Paris, 1968. Dt. Erstausg. Reinbek bei Hamburg, 1989. Schami, Rafik: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte. Oder wie ich zum Erzähler wurde. München, 2011. Simon, David: Homicide: A Year on the Killing Streets. Edinburgh, 2009. Ders./Burns, Edward: The Corner: A Year in the Life of an Inner-City Neighborhood. New York, 2013. Souvestre, Pierre: Fantômas. Paris, 1977. Ders.: Juve contre Fantômas. Paris, 1977. Sue, Eugène: „Les Mystères de Paris“. In: Journal des Débats, 19.06.1842‒ 15.10.1843. Tausendundeine Nacht. Übersetzt von Claudia Ott. München, 2004. Ward, Edward: The london-Spy compleat. in eighteen parts. 4. Aufl. London, 1703. „What happened to Mary? (1)“. In: The Ladiesʼ World, 08/1912, S. 3‒4; 31-32. „What happened to Mary? (2)“. In: The Ladiesʼ World, 09/1912, S. 12‒13; 34.

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2. Fernsehen und Webserien 24. 8 Staffeln. USA: Fox, 2001‒2010. Abschnitt 40. 5 Staffeln. Deutschland: RTL, 2001‒2006. Alias. 5 Staffeln. USA: ABC, 2001–2006. Another World. USA: Procter and Gamble/NBC, 1946‒1999. As the World Turns. Folge vom 29.03.1962. USA: CBS, 1956‒2010. Battlestar Galactica. 4 Staffeln. Sci-Fi, 2004‒2009. Between the Lions. 10 Staffeln. USA: PBS, 1999‒. Boardwalk Empire. 5 Staffeln. USA: HBO, 2010–. Borgen. 3 Staffeln. Dänemark: DR, 2010‒. Braquo. 3 Staffel. Frankreich: Canal+, 2009‒. Breaking Bad. 5 Staffeln. USA: AMC, 2008‒2013. Buffy the Vampire Slayer. 7 Staffeln. USA: WB, 1997‒2003. Cracker. 3 Staffeln. GB: ITV, 1993‒1996. Crime Story. 2 Staffeln. USA: NBC, 1986‒1988. CSI: Crime Scene Investigation. 14 Staffeln. USA: CBS, 2000‒. Dallas. 14 Staffeln. USA: CBS, 1978‒1991. Dick Tracy, 15 Folgen. USA: Republic, 1937. (DVD: Marengo, 2001.) Downton Abbey. 5 Staffeln. GB/USA: ITV, 2010‒. Dynasty. USA: ABC, 1981‒1989. East/West 101. 3 Staffeln. Australien: Knapman Wyld, 2007‒2011. Elementary. 3 Staffeln. USA: CBS, 2012‒. Engrenages. 4 Staffeln. Frankreich: Canal+, 2005‒2012. Falcon Crest. USA: CBS, 1981‒1990. Faraway Hill. USA: DuMont Television, 1946. Forbrydelsen. 3 Staffeln. Dänemark/Norwegen/Schweden/Deutschland: DR, 2007‒ 2012. Game of Thrones. 6 Staffeln. USA: HBO, 2011‒. General Hospital. USA: ABC, 1963‒. Heroes. 4 Staffeln. USA: NBC, 4 Staffeln. Hill Street Blues. 7 Staffeln. USA: NBC, 1981‒1987. Hit and Miss. 1 Staffel. GB: Abbott, 2012. Homicide: Life on the Street. 7 Staffeln. USA, NBC, 1993‒1999. House of Cards. 3 Staffeln. USA: Netflix, 2013‒. Jericho. 2 Staffeln. USA: CBS, 2006‒2008. Johan Falk: GSI - Gruppen för särskilda insatser. Justified. 6 Staffeln. USA: FX, 2010–. Knots Landing. USA: CBS, 1979‒1993. La Piovra. 6 Staffeln. Italien/Deutschland: Rai, 1986‒1992. Lilyhammer. 3 Staffeln. Norwegen/USA: Rubicon/Netflix, 2012‒. Lindenstraße. Deutschland: WDR, 1985‒.

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Lost. 6 Staffeln. USA: ABC, 2004‒2010. Love of Live. Folge vom 20.03.1953. USA: CBS, 1951‒1980. Luck. 1 Staffel. USA: HBO, 2011‒2012. Luther. 3 Staffeln. GB: BBC, 2010‒2013. Mad Men. 7 Staffeln. USA: AMC, 2007‒. Mafiosa. 5 Staffeln. Frankreich: Canal+, 2006‒. Maison close. 2 Staffeln. Frankreich: Canal+, 2010‒. Marienhof. Deutschland: ARD, 1992‒2011. Miami Vice. 5 Staffeln. USA: NBC, 1984‒1990. Misfits. 5 Staffeln. GB: Channel 4, 2009‒. Numb3rs. 6 Staffeln. USA: CBS, 2005‒2010. NYPD Blue. 12 Staffeln. USA: ABC, 1993‒2005. Orange is the New Black. 3 Staffeln. USA: Netflix, 2013‒. Ørnen: En krimi-odyssé. 3 Staffeln. Dänemark: DR, 2004‒2006. Oz. 6 Staffeln. USA: HBO, 1997‒2003. Penny Dreadful. 2 Staffeln. USA, UK, Irland: Showtime, 2014–. Rome. 2 Staffeln. USA: HBO, 2005‒2007. Search for Tomorrow. USA: Procter and Gamble, 1951‒1986. Sex and the City. 6 Staffeln. USA: HBO, 1998‒2004. Sherlock. 3 Staffeln. GB: BBC, 2010‒. Six Feet Under. 5 Staffeln. USA: HBO, 2001‒2005. Sleeper Cell. 2 Staffeln. USA: Showtime, 2005–2006. Sons of Anarchy. 7 Staffeln. USA: FX, 2008‒. Southland. 5 Staffeln. USA: NBC/TNT, 2009‒2013. Space: Above and Beyond. 1 Staffel. USA: Fox, 1995‒1996. Spooks. 10 Staffeln. GB: BBC, 2002–2011. The Americans. 3 Staffeln. USA: FX, 2013–. The Beauty and the Beast. 3 Staffeln. USA: CBS, 1987–1990. The Blacklist. 2 Staffeln. USA: NBC, 2013‒. The Bold and the Beautiful. USA: CBS, 1987‒. The Borgias. 3 Staffeln. Ungarn/Irland/Kanada: Showtime, 2011‒2013. The Edge of Night. USA: Procter and Gamble/CBS/ABC, 1956‒1984. The Following. 3 Staffeln. USA: Fox, 2013‒. The Good Wife. 6 Staffeln. USA: CBS, 2009‒. The Guiding Light. Folge vom 04.04.1953 und 15.11.1989. USA: CBS, 1952‒2009. The Killing. 4 Staffeln. USA: AMC, 2011‒. The Lone Ranger. 15 Folgen. USA: Republic, 1938. The Million Dollar Mystery. 23 Folgen. USA: Thanhouser, 1914. The Musketeers. 2 Staffeln. UK: BBC, 2014–. The Paradise. 2 Staffeln. GB: BBC, 2012‒. The Prisioner. 1 Staffel. GB: ITC, 1967‒1968. The Shield. 7 Staffeln. USA: FX, 2002‒2008.

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The Simpsons. 26 Staffeln. USA: Fox, 1989‒. The Sopranos. 6 Staffeln. USA: HBO, 1999‒2007. The West Wing. 7 Staffeln. USA: NBC, 1999‒2006. The X-Files. 9 Staffeln. USA: Fox, 1993‒2002. Treme. 4 Staffeln. USA: HBO, 2010‒. True Blood. 7 Staffeln. USA: HBO, 2008‒. Twin Peaks. 2 Staffeln. USA: ABC, 1990‒1991. Under the Dome. 2 Staffeln. USA: CBS, 2013‒. Verbotene Liebe. Deutschland: ARD, 1995‒. Vikings. 3 Staffeln. Irland/Kanada: History Channel, 2013‒ . 3. Filme, Kino- und Miniserien1 A Woman in Grey. 15 Folgen. USA: Serico, 1920. (DVD: Lost Serial Collection. The Serial Squadron, 2006.) Abrams, J. J.: Mission Impossible 3. USA/Deutschland/China: Paramount/Wagner, 2006. Abrams, J. J.: Star Trek. USA/Deutschland: Paramount/Bad Robot, 2009. Blackton, J. Stuart: Napoleon, the man of destiny. USA: Vitagraph, 1909. Blazing the Overland Trail. 15 Folgen. USA: Columbia, 1956. Campbell, Colin: The Coming of Columbus. USA: Selig, 1912. Campbell, Martin: Edge of Darkness. 6 Folgen. GB: BBC, 1985. Campion, Jane: Top of the Lake. 7 Folgen. GB/USA/Australien/Neuseeland: Sundance Channel, 2013. Fassbinder, Rainer Werner: Berlin Alexanderplatz. 14 Folgen. Deutschland/Italien: WDR/Rai, 1980 Feuillade, Louis: Juve contre Fantômas. Frankreich: Gaumont, 1913. (DVD: Artifical Eye, 2009.) Ders.: Le mort qui tue. Frankreich: Gaumont, 1913. (DVD: Artifical Eye, 2009.) Ders.: Les Vampires. Frankreich: Gaumont, 1915. (DVD: Artifical Eye, 2008.) Flash Gordon. 13 Folgen. USA: Universal, 1936. (DVD: Image, 2000.) Griffith, D.W.: The Birth of a Nation. USA: D. W. Griffith Corp., 1915. Haynes, Todd: Mildred Pierce. 5 Folgen. USA: HBO, 2011. Jones, Simon Cellan: Klondike. 6 Folgen. USA/Kanada: Discovery Channel, 2014. Kubrick, Stanley: Barry Lyndon. UK/USA: Warner, 1975. L’Épopée napoléonienne. Frankreich: Pathé, 1903–04. Leone, Sergio: C'era una volta il West. Italien/USA: Paramount, 1968. Lumière, Auguste und Louis: LʼArrivée dʼun train en gare de La Ciotat. Frankreich: 1896. 1

Die hier extra mit ihrer DVD-Veröffentlichung angegebenen Kinoserien wurden in dieser Form rezipiert. Alle weiteren wurden (soweit erhalten) in bzw. über Archive eingesehen.

622 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION

Marchal, Olivier: 36 Quai des Orfèvres. Frankreich: Gaumont, 2004. Ders.: Les Lyonnais. Frankreich/Belgien: Gaumont, 2011. Ders.: MR 73. Frankreich: Gaumont, 2008. Porter, Edwin S.: The Great Train Robbery. USA: Edison, 1903. Radar Men from the Moon. 12 Folgen. USA: Republic, 1952. Schweiger, Til: Keinohrhasen. Deutschland: barefoot films, 2007 Ders.: Zweiohrküken. Deutschland: barefoot films, 2013. Seed, Paul: House of Cards. 4 Folgen. GB: BBC, 1990. Tarzan the Tiger. 15 Folgen. USA: Universal, 1929‒1930. (DVD: Grapevine, 2012.) The Adventures of Kathlyn. 13 Folgen. USA: Selig, 1913. The Diamond from the Sky. 30 Folgen. USA: American Film Manufacturing Company, 1915. The Exploits of Elaine. 14 Folgen. Frankreich/USA: Pathé, 1914. The Flame Fighter. 10 Folgen. USA: Rayart, 1925. (DVD: Lost Serial Collection. The Serial Squadron, 2006.) The Girl From Frisco. 25 Folgen. USA: Kalem, 1916. The Hazards of Helen. 119 Folgen. USA: Kalem, 1914-1917. (DVD: Lost Serial Collection. The Serial Squadron, 2006.) The Indians Are Coming. 12 Folgen. USA: Universal, 1930. The Iron Claw. 20 Folgen. Frankreich/USA: Pathé, 1916. (DVD: Lost Serial Collection. The Serial Squadron, 2006.) The Perils of Pauline. 9 Folgen (ursprünglich 20). Frankreich: Pathé, 1914. (DVD: Grapevine, 2011.) The Phantom. 15 Folgen. USA: Columbia, 1943. The Ventures of Marguerite. 16 Folgen. USA: Kalem, 1915. 4. Musik, Hörspiele, Computerspiele und Comics Amos ʼnʼ Andy. Folgen vom 08.10.1943, 15.12.1944. USA: WMAQ/CBS Radio/ NBC Radio, 1928–1943. „Baby Blue“. In: Badfinger: Straight Up. Apple, 1971. Dick Tracy. USA: NBC Radio/ABC Radio, 1934‒1948. Felsenheimer, Dirk: „Bettmagnet“. In: Die Ärzte: Auch, Universal, 2012. Gould, Chester: The Complete Chester Gouldʼs Dick Tracy. Dailies & Sundays. 1931‒1933. Volume 1. Herausgegeben von Max Allan Collins. San Diego, 2006. Ma Perkins. USA: WLW/NBC Red Radio, 1933‒1960. Myrt and Marge. Folge vom 27.12.1937. USA: CBS Radio, 1932-1946. Painted Dreams. USA: WGN, 1930 ‒1943. Smith, Sidney: The Gumps. In: Chicago Tribune, 1917‒1959. „Stayin’ Alive“. In: Bee Gees: Saturday Night Fever. Warner, 1977. Tarzan of the Apes. USA: NBC Radio, 1932.

Q UELLENVERZEICHNIS

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XIII. Anhang

Segmentübersicht 1: Die Radio-Seifenoper der 1930er Jahre (15 Minuten) Ansager Hammondorgel Narrationssegmente Werbesegmente Titelsegmente N1

77%

N W T

23% Werbung

Narration

N2

N3

N4

T1 W1

N5

W2 T2

Recap

Szene 1

Szene 2

Myrt and Marge vom 27.12.1937.1

1

Es gibt zwei unterschiedliche Arten von Segmenten: die kleineren Blöcke stellen die Werbe-Segmente (W) dar, die größeren die narrativen (N). Die Titelsegmente (T) habe ich ‒ je nach Folge unterschiedlich ‒ W oder N in ihrer Größe zugeordnet. Dies kommt dadurch zustande, dass in früheren Folgen (1930er–1970er Jahre) der Sponsor in den Titelsegmenten sehr dominant auftritt und diese Segmente damit eher Werbung als Narration sind, während in den späteren Folgen (1970er‒1990er Jahre) kein Sponsor mehr vorhanden ist und die Titelsegmente deshalb der Narration zugeordnet werden.

664 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION

Segmentübersicht 2: Die TV-Seifenoper der 1950er Jahre (15 Minuten) Ansager Hammondorgel Narrationssegmente Werbesegmente Titelsegmente N1

27% Werbung

73% Narration

N W T N2

N3

T1 W1

W2

W3 T2

Sequenz 1

Sequenz 2

The Guiding Light vom 04.04.1953.

Segmentübersicht 3: Die TV-Seifenoper der 1960er Jahre (30 Minuten) Ansager Hammondorgel Narrationssegmente Werbesegmente Titelsegmente

20% N W T

N1

Narration

N2

T1

N3

80%

N4

Werbung

N5

T2

W1

W2

Sequenz 1

T3

W3

Sequenz 2

As the World Turns vom 29.03.1962.

W4

Sq 3

W5

Sq 4

Sq 5

A NHANG

| 665

Segmentübersicht 4: Die TV-Seifenoper der 1980er Jahre (60 Minuten) 28% Sequenzen Handlungsstränge Minicliffs N1

N2

1-21 I, II, III

Werbung

Narration 72%

N3

N4

N5

N6

N7 T2

T1

W1

W2

W3

W4

I

I II

I

II

II III

1 2

3 4 5

8

W6

I II

9 10 11

W7

I

II III

6 7

W5

III

12 13 14 15

16 17

III

II II III

18

192021

Guiding Light vom 15.11.1989.2

2

Die römischen Ziffern beziehen sich auf die in der Analyse auf S. 421ff. dargestellten Handlungsstränge. I. Der junge, bereits straffällig gewordene Dylan sitzt im Büro der Bewährungshelferin – ihm droht das Gefängnis wegen einer Bagatelle. II. Phillip Spaulding, wurde ins Krankenhaus eingeliefert, weil er sich der Polizei widersetzte und einige Ärzte sowie die Polizei davon überzeugt waren, er habe einen Nervenzusammenbruch. Phillips Abwesenheit bietet seinem Bruder Allan und der Mitinhaberin Vanessa die Gelegenheit, ihm die Firmenleitung ganz zu entreißen. III. Maureen Readon und Ed Bauer sind geschieden, aber haben in den letzten Wochen entdeckt, dass sie doch zusammengehören und ein neues Miteinander möglich wäre. Siehe ergänzend auch die Tabelle GL1 auf S. 426 und die Segmentübersicht mit Spannungskurve auf S. 427, die ebenfalls deutlich machen, wie konsequent die Handlungsstränge alternierend erzählt werden. Als Teil der Abwechslung haben die Handlungsstränge immer im Wechsel einen Minicliff vor einer Werbeunterbrechung (oben dargestellt durch die fett gedruckten Kästen

).

666 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION

Sequenzprotokoll Dallas: Die Zuspitzung zum Cliffhanger Segment 1.

2.

3.

Zähler 00:00 01:46 05:20 06:13 09:28 10:40

Sq-Beschreibung Vorspann Pressekonferenz Sue Ellen sieht Nachrichten Vaughn Leland Lucy mit Freund Kristin & Allan schmieden Komplott

Nr. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.5

12:33 16:00

2.1 2.2

17:15

Sue Ellen & Bobby wegen gestern J.R.s Ferngespräch: Kristins Komplott Sue Ellen: Bobby passt auf mich auf

17:59 20:50

Pam sucht das Haus ihrer Mutter J.R. versucht Kristin zu bestechen

2.4

22:02 22:36 24:14 26:50 28:04 29:32

Pam sucht Sterbeurkunde der Mutter Sue Ellen & J.R. streiten sich Cliff gehören Rechte an Bohrturm Bobby & Pam: ihre Mutter Lucy & Freund Sheriff hat Alan zu J.R. gebracht

2.6

31:04

Jock ergreift Partei für J.R. gegen Bobby Bobby & Pam: Bobby reicht’s

33:15 4.

34:22 39:11 40:02 41:32 42:05 43:02 44:02 45:22‒ 46:18

Bobby, Eltern, Sue & J.R.: Verabschiedung Sheriff droht Allan & Kristin: 24 Stunden J.R. veranlasst Einweisung & Vaughn droht Sue Ellen packt den Revolver ein Cliff schwört am Grab seines Vaters Rache Sue Ellen kümmert sich um sich selbst J.R. treffen zwei Kugeln Abspann

2.3

2.5

2.7 2.8 3.1 3.2

3.3 3.4

J.R.s Büro Southfork J.R.s Büro Park Kristins Wohnung Southfork J.R.s Büro Ellens Psychiater Strasse Kristins Wohnung Amt Southfork J.R.s Büro Southfork Büro J.R.s Büro Southfork

3.5 4.1

Southfork

4.2 4.3

Kristins Wohnung J.R.s Büro

4.4 4.5

Southfork Grab

4.6

Ellens Psychiater J.R.s Büro

4.7 4.8

Dallas, S3E25, 1980.3

3

Ort

Fett markierte Sequenzen haben mit dem Anschlag auf J.R zu tun.

Southfork

A NHANG

| 667

Sequenzprotokoll Sherlock: Der ganze fünfte Sq-Block als Cliffhanger mit Rahmen Sequenzblock

Zähler

Sq-Beschreibung

Nr.

Ort

0. cold open

00:00

Sherlock ist tot

1.

Psychiaterin

01:07

Vorspann

2.

01:39

Reichenbach-Gemälde

3.

Museum

02:06 02:30

Kidnapping-Fall Verbrecherjagd

4. 5.

Straße Revier

03:12

Presse & Berühmtheit

6.

Baker Str.

04:22 09:24

Einbruch Tower Öffnen Tresortür

7. 7.1

Tower Bank

10:15 10:30

Öffnen Gefängnistüren Festnahme, Gefängnis

7.2 8.

Gefängnis Gefängnis

12:45 15:22

Sherlock & Reporterin Sherlock sagt aus

9. 10.

Toilette Gericht

17:35 18:14

Sherlock in der Zelle S & W über Ms Pläne

10.1 11.

Gefängnis Baker Str.

18:57 20:52

M. keine Verteidigung S&M: Tee, Bach, the fall

12. 13.

Gericht Baker St.

22:50 23:10

Erpress. Geschworene Zurück

13.1 13.2

Hotel Baker Str.

30:58 32:08

Zeitsprung: W. und Myc. Verschwinden Kinder

14. 15.

Mycroft Baker Str.

32:45 35:32

Befragung Lehrerin Spurensuche innen

16. 17.

Schule Schule

35:45 40:20

S&W Überlegungen Molly,W,S Spurenanalyse

18. 19.

Taxi Krankenhaus

41:41 42:58

Suche nach Aufenthaltsort Aufenthaltsort der Kinder

20. 21.

Revier Fabrik

44:28

Befragung Kinder

22.

Revier

47:05

Video v. M / Zweifel an S

23.

Taxi / Revier

48:15 51:44

Attentäter rettet S. Finden der Kamera

24. 25.

Straße Baker Str.

52:41 54:31

Lestrade Ärger wegen S Verbr. Keks, Festnahme

26. 27.

Revier Baker Str.

57:53

Flucht

28.

Straße

1:01:30

Journalistin, S,W,M.

29.

Wohnung J.

1:03:11

S. bittet Molly um Hilfe

30.

Krankenhaus

1:06:04

W. & Mycrofts Mithilfe

31.

Mycroft

I. Berühmtheit

II. Tower und Gerichtsprozess

III. Kidnapping-Fall der Diplomatenkinder

IV. Zerstörung des Rufs

668 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION V. The Final Problem

1:07:14

W. fährt zu Hudson

32.

Krankenhaus

1:08:28

M. & S. auf dem Dach

33.

Dach

1:11:57 1:12:25

W. erkennt Ablenkung Zurück

33.1 33.2

Bakers St. Dach

1:23:24

Scharfschütze

34.

Treppenhaus

1:24:05

Mycroft liest von S. Tod

35.

Mycroft

1:24:27

W. trauert

36.

Bakers St.

1:24:50

W. soll S. verabschieden

37.

Psychiaterin

1:27:34 1:28:01‒ 1:28:28

W. und Hudson am Grab Abspann

38. 39.

Friedhof

Sherlock, S2E3, 2012.4

4

Fett markiert ist der proleptische Rahmen. Da die Sendungen der BBC keine Werbeunterbrechungen haben, weist dieses Sequenzprotokoll ‒ im Gegensatz zu den Segmentübersichten und dem anderen Sequenzprotokoll ‒ keine Segmenteinteilung auf. Stattdessen wird eine inhaltliche Zusammenfassung mehrerer Sequenzen zu Sequenzblöcken dargestellt.

And as the wide eyes of the Belgian looked on in rapt fascination the man’s expression at last acknowledged a tangible purpose in courting the society of the ape-man.

Clutched tightly in his hand was the sacrificial knife of the High Priestess of the Flaming God!

At first slowly, calling, „Lady!“ in a low whisper, and finally with almost frantic haste, until the truth presently dawned upon him—the hut was empty!

4. The Jewel Chamber

18.11.1916

5. At the Bungalow

6. Empty Tents

revenge! revenge! revenge! [sic]

6. Tantor the Terror

5. Condemned to Death

Tarzan reitet mit Tantor in den Sklavenmarkt ein.

Beyds Männer überwältigen Tarzan.

Tarzan wird an Baum festgebunden. Ein Eingeborener wirft seinen Speer auf ihn.

Werper stiehlt die Juwelen und beugt sich mit einem Messer über den schlafenden Tarzan.

Tarzan wird von herabfallenden Steinen im Tempel niedergeschlagen.

06.01.1930

6. The Arab Raid

La staggered forward, reeled, and fell across Werper in a swoon.

4. The Vengeance of La

3. The Altar of the Flaming God

2. The Road to Opar

Letzte Sequenz Tarzan kämpft mit Numa, Werper schaut zu.

30.12.1929

5. The Altar of the Flaming God

The one forgot even his greed in the panic of terror—the other was plunged into total forgetfulness of the past by a jagged fragment of rock which gashed a deep cut upon his head.

He […] raise his face to the moon and bay out a hideous cry that froze the ebbing blood in the veins of the witch-doctor.

[H]e craved the hot blood of a fresh kill and his muscles yearned to pit themselves against the savage jungle in the battle for existence that had been his sole birthright [sic] for the first twenty years of his life.

Folge 1. Call of the Jungle

23.12.1929

4. Prophecy and Fulfillment

3. The Call of the jungle

2. On the Road to Opar

Letzte Sätze At the head of this party Werper set out from camp.

16.12.1929

Revenge! Revenge! Revenge!

La staggered forward, reeled, and fell across Werper, in a swoon.

2. The Priests of Opar

Kapitel 1. Belgian and Arab

Kinoserie (09.12.1929–17.03.1930) 09.12.1929

3. The Coming of Achmet Zek

Letzte Sätze

At the head of this party Werper set out from camp.

Kapitel

(1918)

(18.11–16.12.1916)

1. The Renegade

Buch-Veröffentlichung

pulp-Veröffentlichung

A NHANG

25.11.1916

| 669

Vergleich des letzten (Kapitel- bzw. Folgen-)Inhalts von pulp-, Buch- und Kinoserien-Veröffentlichung (Tarzan and the Jewels of Opar bzw. Tarzan the Tiger) 13.01.1930

25.11.1916

02.12.1916 12. La Seeks Vengeance 13. Condemned To Torture and Death

Then he who had sent them away stole silently to the tent flap and untying the fastenings entered with the noiselessness of a disembodied spirit.

13. Out of the Frying Pan

13. A Human Sacrifice

Speere werden auf Tarzan gerichtet.

Werper und Tarzan stürzen von Felsvorsprung.

Tarzan und Jane werden von Affen bedroht.

Der Affe Chulk, der Bruder von Taglat, entführt Jane.

Jane und Tarzan werden erneut von einem Löwen angegriffen.

24.02.1930

Tantor, realizing that his prey had escaped him, set up once more his hideous trumpeting and followed at a rapid charge upon their trail.

12. The Jewels of Opar

11. The Jaws of Death

10. Prisoner of the Apes

9. The Flight of Werper

Werper beugt sich mit einem Messer über Tarzan.

Tarzan spürt Werper auf, der auf ihn zielt, gleichzeitig nähert sich ein Affe.

17.02.1930

12. Taglat and the Lion

It had been all in the dayʼs work ‒ something which you and I might talk about for a lifetime Tarzan dismissed from his mind the moment that the scene passed from his sight. Slowly they overcame him though there was scarce one of them that did not feel the weight of his mighty fist or the rending of his fangs.

At first slowly, calling, „Lady!“ in a low whisper, and finally with almost frantic haste, until the truth presently dawned upon him—the hut was empty!

Clutched tightly in his hand was the sacrificial knife of the High Priestess of the Flaming God!

8. The Loop of Death

7. In Deadly Peril

Letzte Sequenz

10.02.1930

11. Tarzan Becomes a Beast Again

[F]or instead of the glittering and scintillating gems which had first caught and held the attention of the ape-man, the pouch now contained but a collection of ordinary river pebbles. [H]e saw Jane Clayton drop lightly from a nearby tree and run forward with outstretched hands to congratulate him upon his victory.

11. The Pouch of Jewels

10. Achmet Zek Sees the Jewels

Tarzan passed within fifty yards of the tragedy that was being enacted in the glade, and the opportunity was gone beyond recall.

9. The Theft of the Jewels

Then the ape-man turned, and Werper recognized him as the man he had left for dead in the treasure room. [A]nd as the wide eyes of the Belgian looked on in rapt fascination, the man's expression at last acknowledged a tangible purpose in courting the society of the ape-man.

Folge

03.02.1930

10. Abducted Again

9. Three Beasts

7. The Jewel Room of Opar 8. The Escape from Opar

Letzte Sätze

27.01.1930

Within, Achmet Zek conversed with several of his lieutenants. Without, Tarzan listened.

Here he took up the spoor of the Belgian, followed it across the clearing, over the palisade, and out into the dark jungle. Werper terrified for the same reason, until his trembling fingers discovered the pouch still in its place beneath his shirt, and within it the hard outlines of its contents.

7. The Belgian’s Spor

Kapitel 20.01.1930

8. Escape

Letzte Sätze

Kapitel

670 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION

Vergleich des letzten (Kapitel- bzw. Folgen-)Inhalts von pulp-, Buch- und Kinoserien-Veröffentlichung (Tarzan and the Jewels of Opar bzw. Tarzan the Tiger) (Fortsetzung) 03.03.1930

09.12.1916

09.12.1916

„Not I, my friend, not I,“ and turning abruptly eastward, Albert Werper passed through the foliage of a hanging vine and out of the sight of his fellow-man—forever.

„Poor devil!“ said the ape-man, as he swung back into his saddle. „Even in death he has made restitution—let his sins lie with his bones.“

17. Reunion

And deep in the gloomy jungle, amid [sic] the darkening shadows of the falling night, a hairy, manlike creature swung swiftly southward upon some secret mission of his own.

15. Memories

16.12.1916 19. Jane Clayton and the Beasts of the Jungle

17. The Deadly Peril of Jane Clayton 18. The Flight For the Treasure

16. Tarzan Again Leads the Mangani

15. The Flight of Werper

14. A Priestess But Yet a Woman

Kapitel

[H]e saw Jane Clayton drop lightly from a nearby tree and run forward with outstretched hands to congratulate him upon his victory.

[F]or instead of the glittering and scintillating gems which had first caught and held the attention of the ape-man, the pouch now contained but a collection of ordinary river pebbles.

Tarzan passed within fifty yards of the tragedy that was being enacted in the glade, and the opportunity was gone beyond recall.

Within, Achmet Zek conversed with several of his lieutenants. Without, Tarzan listened.

Werper was terrified for the same reason, until his trembling fingers discovered the pouch still in its place beneath his shirt, and within it the hard outlines of its contents.

Here he took up the spoor of the Belgian, followed it across the clearing, over the palisade, and out into the dark jungle beyond.

Letzte Sätze

15. Tarzan’s Triumph

14. Tarzan’s Rage

Folge

Tarzan und Jane küssen sich.

Annersley sagt Tarzan, dass dieser nicht mehr Lord Greystoke ist, sondern jetzt Annersley diese Rolle einnimmt.

Letzte Sequenz 10.03.1930

16. Again the Jewels

The tree was empty—Jane Clayton had vanished during the silent watches of the jungle night.

Letzte Sätze

14. Into the Fire

Kapitel

A NHANG

| 671

Vergleich des letzten (Kapitel- bzw. Folgen-)Inhalts von pulp-, Buch- und Kinoserien-Veröffentlichung (Tarzan and the Jewels of Opar bzw. Tarzan the Tiger) (Fortsetzung) 17.03.1930

Kapitel

Letzte Sätze Then he who had sent them away stole silently to the tent flap and untying the fastenings entered with the noiselessness of a disembodied spirit. The tree was empty—Jane Clayton had vanished during the silent watches of the jungle night.

20. Jane Clayton Again a Prisoner

And deep in the gloomy jungle amidst the darkening shadows of the falling night a hairy, manlike creature swung swiftly southward upon some secret mission of his own. „Not I, my friend, not I,“ and turning abruptly eastward Albert Werper passed through the foliage of a hanging vine and out of the sight of his fellow-man—forever. „Poor devil!“ said the ape-man, as he swung back into his saddle. „Even in death he has made restitution—let his sins lie with his bones.“

22. Tarzan Recovers His Reason 23. A Night of Terror

24. Home

21. The Flight to the Jungle

Letzte Sätze

Kapitel

Folge

Letzte Sequenz

672 | D ER CLIFFHANGER UND DIE SERIELLE N ARRATION

Vergleich des letzten (Kapitel- bzw. Folgen-)Inhalts von pulp-, Buch- und Kinoserien-Veröffentlichung (Tarzan and the Jewels of Opar bzw. Tarzan the Tiger) (Fortsetzung)

Edition Medienwissenschaft Sarah Ertl Protest als Ereignis Zur medialen Inszenierung von Bürgerpartizipation Juni 2015, ca. 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 37,99 €, ISBN 978-3-8376-3067-1

Gundolf S. Freyermuth Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung März 2015, 280 Seiten, kart., 17,99 €, ISBN 978-3-8376-2982-8

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Oktober 2015, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,99 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Medienwissenschaft Stefan Greif, Nils Lehnert, Anna-Carina Meywirth (Hg.) Popkultur und Fernsehen Historische und ästhetische Berührungspunkte Juli 2015, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2903-3

Ramón Reichert Die Macht der Vielen Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung 2013, 216 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2127-3

Caroline Roth-Ebner Der effiziente Mensch Zur Dynamik von Raum und Zeit in mediatisierten Arbeitswelten Februar 2015, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2914-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de