Der Charakter Jesu Christi 9783111552484, 9783111182957

176 37 1MB

German Pages 31 [32] Year 1905

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der Charakter Jesu Christi
 9783111552484, 9783111182957

Table of contents :
DER CHARAKTER JESU CHRISTI

Citation preview

e

^ J. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung in Giessen

JESUS CHRISTUS UND

DIE

SOZIALE FRAGE VON

FRANCIS G. PEABODY DEUTSCHE ÜBERSETZUNG VON

Geh. S Mark

1903

E. M Ö L L E N H O F F

Geb. 6 Mark

D a s mit großem Fleiß und umfassender Kenntnis gearbeitete Buch von Peabody gibt zunächst einen trefflichen A b r i ß der Geschichte des christlichen Sozialismus und behandelt dann die einzelnen Fragen: Familie, Eigentum, Reichtum und Armut, die Organisation der Industrie, sehr geschickt die Beziehungen der Grundsätze Jesu zu den gegenwärtigen Problemen darlegend.

Es

führung in die ganze Frage.

eignet sich trefflich zur EinD a ß das Buch reich ist an

feinen, geistreichen Hinweisen und Bemerkungen braucht bei Peabody kaum betont zu werden.

V

r

\

= = = = J. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung in Giessen

FRANCIS G. PEABODY IN Ü B E R S E T Z U N G E N V O N E. M Ö L L E N H O F F :

DIE RELIGION EINES GEBILDETEN G e h . M. 1.50

S o e b e n erschienen!

G e b . M. 2.20

W e m es in Sachen der R e l i g i o n mehr auf das Praktische, die Charakterfragen,

ankommt

als

auf

erkenntnismäßige

A u s p r ä g u n g , wird dem V e r f a s s e r für manchen hellen L i c h t schein dankbar sein.

ABENDSTUNDEN RELIGIÖSE BETRACHTUNGEN Gr. 8 °

F e i n kartoniert M. 2.50

1902

E r g r i f f e n und erhoben von der göttlichen W a h r h e i t , wird der verständnisvolle L e s e r ihre wahrhaft erbauliche K r a f t erfahren, o b w o h l v o n der g e w ö h n l i c h e n Erbaulichkeit nichts zu finden ist.

v

j

DER C H A R A K T E R JESU CHRISTI VON*

FRANCIS G. PEABODY TROFESSOR

AN DER

HARVARD - UNIVERSITÄT

IN

CAMBRIDGE

AUTORISIERTE ÜBERSETZUNG

VON E. MÜLLENHOFF

J. RICKER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG (ALFRED TÖPELMANN) - GIESZEN - 1905

er hervorragendste Zug des zeitgenössischen, christlichen Denkens ist das neu erwachte Interesse des Volkes an dem Charakter Jesu Christi. Niemals kümmerten sich die gewöhnlichen Leute weniger um die metaphysische oder kirchliche Seite des Christentums. Millionen geschäftiger Männer und Frauen betrachten die Errichtung von Systemen und den Kampf um Glaubenssätze, die einst anscheinend der Mittelpunkt des Interesses waren, wenn nicht als Verhöhnung jetziger Probleme doch jedenfalls als das bloße Echo veralteter Streitfragen. Selbst die Kirchenversammlungen zeigen wenig Appetit zu Diskussionen, die ihnen einst das Brot des Lebens und der Wein der Erheiterung waren, und der Führer einer großen, christlichen Gemeinschaft ist kürzlich zu dem Ausspruch veranlaßt worden: „Zu welchem Ergebnis diese Diskussionen führen, ist von geringer Bedeutung; das einzig wirklich Wichtige ist, daß sie zu Ende kommen." Ange5

sichts dieser theologischen Übersättigung kehrt jedoch der Geist unserer Zeit mit neuem Interesse zurück zu der Betrachtung des Charakters Jesu Christi. Worte wie „zurück zu Jesu", „in seinem Namen", „was würde Jesus tun?" „die Art Jesu", die von einer Menge nicht von Sophisten angesteckter Leser aufgefangen werden, zeigen die Kraft und den Umfang der modernen Nachfolge Christi. Jesu folgen, selbst wenn man ihn nicht versteht, den Willen erfüllen, selbst wenn man die Lehre nicht gelernt hat; durch große Dunkelheit hindurch erkennen, daß das Leben das Licht der Menschen ist — das sind die Anzeichen des neuen Gehorsams. Fragen der Kritik, der Autorität, der Göttlichkeit mögen unlöslich sein; aber die Bergpredigt, die Gleichnisse, die Lehre, der Charakter Jesu sind geblieben, und der praktische Christus genügt, um ein praktisches Zeitalter zu befriedigen. Die Arbeiter-Bewegung unserer Tage zeigt dieselbe Anschauung von den Evangelien. Nichts ist bitterer als der Antagonismus der sozialen Agitatoren gegen die Institutionen und Methoden des organisierten Christentums. Sie werden als Bollwerk des kapitalistischen Systems betrachtet. „Wie alles andere, wollen sie uns auch eine Religion verschaffen," sagt Felix Holt, „und selbst den Nutzen davon haben aber wir wollen mit ihnen tauschen; wir könnten ihnen etwas von ihrem Himmel zurückgeben und dagegen für uns und unsere Kinder etwas in dieser Welt eintauschen." Allein diese maßlose Feind6

Seligkeit gegen Prediger und Kirchen wird großen Teils zur Ehrfurcht umgestimmt, angesichts des Charakters Jesu Christi. Einen übernatürlichen Heiligenschein um die Gestalt Christi dulden die sozialen Agitatoren nicht; aber hinter dem Wesen der Kirche, das sie als gönnerhaft und mittelalterlich ansehen, erkennen sie doch einen Charakter, der ihre Kritik in Schranken hält und ihre Treue fordert. Mögen sie alle verwirrenden Verbindungen mit dem organisierten Christentum ablehnen, es scheint ihnen dennoch, als wäre in dem Zimmermann von Nazareth, dem Freunde der Armen, dem Opfer der herrschenden Klasse das Ideal der Menschheit verkörpert: „Wir hielten Christus für eine Phantasiegestalt der Priester aber nun sehen wir, daß er im Grunde ein Mensch war wie wir — ein armer Arbeiter, der ein Herz für die Armen hatte — und nun wir dies erkannt haben, wissen wir, daß er der Mann für uns ist." Man wird uns darauf antworten, daß wir nicht den rechten Eindruck von der Mission Jesu empfangen, wenn wir so das sittliche Beispiel von dem religiösen Hintergrunde loslösen. Jesus war nicht in erster Linie ein Lehrer der Ethik sondern ein Offenbarer Gottes. Seine Ethik wurzelt in seiner Religion. Er war ein Seher, ein Mystiker, das bewußte Kind seines himmlischen Vaters. Hinter seiner Lehre stand sein Glaube. Die christliche Theologie aller Zeiten irrte nicht in der Annahme, daß sie den höchsten Trieben menschlicher Vernunft folge und sich am direk7

testen mit dem Hauptproblem der Evangelien beschäftigte, wenn sie versuchte, dieses innere Bewußtsein Jesu Christi zu deuten und durch sein Leben in das Geheimnis des göttlichen Lebens einzudringen, das ihm so einfach erschien. Solche Kritik ist vollkommen gerechtfertigt. Allein die Jetztzeit nähert sich Jesum am besten, wenn sie den Merkzeichen seines ethischen Charakters folgt. Hier in erster Stelle bezeugt sich der Geist unserer Zeit. Vielleicht gelangten wir zu einer vollkommeneren und schöneren Ubersicht der Evangelien, wenn wir zuerst das Feld der Theologie durchschritten; aber von der Temperatur der Jetztzeit zur Methode metaphysischer Deutung übergehen, hieße zum mindesten einen weiten Umweg machen. In der modernen Gedankenwelt ist das herrschende Interesse nun gerade human, industriell, sozial, ethisch. Die Methode, die die Aufmerksamkeit von den praktischen Ergebnissen des jetzigen Lebens abzuziehen scheint, kommt vielen momentan fernliegend und unwahr vor. Die Bestätigung christlicher Ethik aus den Lehrsätzen christlicher Theologie herleiten, wie es frühere Generationen getan haben, hieße das ordnungsgemäße Verfahren umkehren, in der der induktive Geist geschult ist, und deshalb sind die frühern Textbücher christlicher Ethik von den meisten Gelehrten aus der Reihe der „lebenden" Bücher entfernt und in die unbenutzten Fächer geschoben, die ihre „tote" Literatur enthalten. Der ethische Instinkt unserer Zeit wendet 8

sich unwiderruflich von dem System zu der Person, von der christlichen Ethik zu der Ethik Christi, und eine große Menge moderner Gelehrter empfindet die Freude einer neuen Entdeckung, wenn aus der Verworrenheit christlicher Lehre die Einfachheit des Charakters Jesu hervorgeht, und wenn sich ein neuer, wenn auch steiler und schmaler Weg eröffnet, der durch das Unterholz des Lebens zu einer weitern Aussicht führt und wenn die Stimme eines zuverlässigen Führers ruft: „Folge mir! Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." Das ist jedoch noch keine vollkommene Kennzeichnung der neuern, inneren Lage. Es ist nicht nur wahr, daß theologische Satzungen zum großen Teil ihre Kraft verloren haben, während der ethischen Forderung „Zurück zu Jesus" aufs Neue Gehorsam geleistet wird. Es ist ebenfalls wahr, daß gerade dies der Weg war, den ursprünglich die verfolgten, die tatsächlich Jesu Worten lauschten. Allmählig sollten sie in der Tat zu tieferer Erkenntnis seiner Natur geführt werden, wie sie uns das vierte Evangelium und die Theologie des Paulus berichten. Wenden wir uns jedoch von diesen Deutungen der Natur Jesu den Erzählungen der Synoptischen Evangelien zu, so ist der Wechsel der Atmosphäre geradezu ein klimatischer. Wir finden einen Lehrer, der anscheinend nicht in erster Linie theologisch oder metaphysisch, sondern persönlich und ethisch sein will. Wir fühlen die Ansteckung der Persönlichkeit, die Überzeugungskraft des Charak2

P e a b o d y , D e r Charakter J e s u Christi.

9

ters. Es gab niemals einen Lehrer, der sich weniger um Definitionen und Propositionen kümmerte, niemals einen, der der Systemmacherei seiner Zeit feindlicher gegenüberstand. Mochten andere seine Verheißungen sammeln und analysieren, wie der Botaniker die Blumen des Feldes sammelt und zerlegt, die Lehre Jesu grünte in spontanem und üppigem Wachstum und lud den Beschauer weniger ein, ihr System zu studieren als ihren Reiz zu empfinden. Es war der Charakter Jesu, der zuerst die Menschen zum Gehorsam führte. Er war ein Mensch, der in erster Linie persönliche Treue forderte. Dem Wachsen des Charakters galten seine Verheißungen. „Selig sind die Sanftmütigen, die geistlich Armen, die reines Herzens sind!" Sein höchstes Lob ward denen zu Teil, die die Prüfung ihres Charakters bestanden. „Kommt, Ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das Euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! — Was Ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt Ihr mir getan." Hingezogen zu der Persönlichkeit, die so lebte und lehrte, hingenommen von dem Charakter, den Jesus repräsentierte, wurden die erstenjünger durch den Gehorsam zur Erkenntnis, durch das Leben zum Glauben geführt. Dasselbe kann heutzutage geschehen. Jenseits dieses ersten Eindrucks von dem Charakter Jesu liegen zweifellos weitere Strahlen des Ewigen, die zu offenbaren seine Mission war; aber der Weg zu die10

sen Höhen der Unterscheidung mag für die Jetztzeit wie für die ersten Jünger durch die Erkenntnis seiner ethischen Autorität hindurchführen. Indem wir den Willen tun, können wir zur Erkenntnis der Lehre kommen. Kehren wir also zur Betrachtung von Jesu Charakter zurück, so wird dadurch nicht, wie einige meinen, eine dauernde Reaktion gegenüber dem theologischen Interesse oder eine dauernde Stellvertretung der Ethik für die Religion bedingt. Im Gegenteil, sie mag die natürliche Folge christlicher Überzeugung zeigen. Aus der neuen Schätzung der moralischen Führerschaft Jesu kann eine neue Ära theologischen Vertrauens hervorgehen. Eine Bewegung, die in der Zuneigung zu einem Charakter wurzelt, kann in reicheren, philosophischen Unterscheidungen und weiteren, religiösen Anschauungen endigen. Wahrscheinlich leitet sich sogar die christliche Theologie der Zukunft auf induktivem Wege aus dem Charakter Jesu her. Was war denn die Natur jenes Charakters, der seiner Zeit so unmittelbar den eigenen Stempel aufdrückte, und zu dem die Jetztzeit mit unvermindertem Interesse zurückkehrt? Ist nicht jene ethische Ehrfurcht möglicherweise so v a g e und unbestimmt wie ein großer Teil christlicher Metaphysik? Könnte nicht sogar bei Jesus eine Charakterart vorausgesetzt sein, die viele Geister zu einer verkehrten Jüngerschaft verleitet und manchen andern Geistern die Jüngerschaft unmöglich gemacht hat? Lassen wir für den 2*

ii

Augenblick die Forschungen außer Acht, die sich mit der inneren Natur Jesu beschäftigen und treten wir zu ihm wie einst das Volk auf den Hügeln Galiläas und wie der römische Statthalter in Jerusalem, welchen vorwiegenden Eindruck bekommen wir dann naturgemäß von seinem Charakter ? Es ist klar, daß dieser Eindruck variiert, während seine vielseitige Persönlichkeit den verschiedenen Temperamenten, Problemen und Bedürfnissen verschiedener Menschen begegnet. Jesus ist das Licht der Welt genannt worden; aber das Licht wurde gebrochen, als wenn es durch ein Prisma fiele, bis jede einzelne Farbe seines Spektrums Vielen als vollständige Ausstrahlung erschienen ist. Es ist verschiedentlich behauptet worden, daß er den Charakter eines Fanatikers, eines Anarchisten, eines Sozialisten, eines Träumers, eines Mystikers, eines Esseners hätte. Aus diesen mannigfachen Anschauungen über seinen Charakter sind jedoch zwei von ausnahmsweiser Dauer gewesen, von denen jede für viele Menschen die speziellen Züge seiner moralischen Persönlichkeit darstellt. Die eine Ansicht deutet seinen Charakter in Worten der Askese, die andere in Ausdrücken der Ästhetik. Die eine beschäftigt sich mit dem Leiden Jesu, die andere mit seiner Freude. Eines ist die Ansicht der Geistlichkeit, die andere die des Humanismus. Die erstere wird durch die Tradition fortgeführt, die zweite von der Phantasie willkommen geheisen. Zur einen Seite sehen wir die herrschende 12

Tradition, die Jesus mit den messianischen Prophezeiungen in Verbindung bringt. Wenn Jesaias im 53. Kapitel von dem Diener Gottes schreibt: „Er war der Allerverachteste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. — Er hatte keine Gestalt noch Schöne. — Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre," so fragen wir wohl, wen könnten diese Stellen im Voraus besser schildern als ihn, der ausdrücklich die messianische Verheißung erfüllen wollte? So wird der Charakter Jesu zur historischen Notwendigkeit. Der Typus des Neuen Testaments ist die Antwort auf die Forderung des Alten Testaments. Er war das Lamm Gottes, das geduldige, freiwillige Opfer. Deshalb kann der ethische Typus, der seinen Charakter wiederspiegeln soll, nur resigniert, selbst entsagend und asketisch sein. Der hellenische Charakter voll Harmonie, Symmetrie, Männlichkeit wird ersetzt durch den hebräischen Typus voll Geduld, Pathos und Leid. Der christliche Charakter, unhellenisch und überweltlich, äußert den Schmerzenslaut des leidenden Israel. Die Kirche hat schon früher diese Tradition über Jesu Charakter angenommen. Ein christliches Leben, — so lehrte man —• konnte in der Tat bis zu gewissem Grade schon in der Laienwelt geführt werden; aber die Vita Religiosa war ein Produkt des Asketentums der Klosterzelle. Man wollte, wie Strauß sagte, so scharf wie möglich den Kontrast zwischen der Gestalt Gottes und der Gestalt des Knechtes 13

hervortreten lassen. Das ist auch das Ideal, das in der mittelalterlichen, christlichen Kunst herrschte. Die großen Meister haben mit wenigen Ausnahmen Christus als den Mann der Schmerzen dargestellt, den Gott vernichten wollte, den er geschlagen hat für die Übertretungen seines Volkes. Einer der hervorragendsten, lebenden Philosophen Deutschlands hat diese Anschauung von dem Charakter Jesu im einzelnen erklärt. Professor Paulsen sagt, daß der christliche Charakter durch Weltverleugnung, der griechische Charakter durch Weltbejahung gekennzeichnet sei; der eine repräsentiert die Verachtung des Natürlichen, der andere seine Entwicklung. Die Griechen priesen intellektuelle Entwicklung, die Christen mißtrauten ihr. Den Griechen galt der Mut als Haupttugend; die Christen wurden gelehrt, keinen Widerstand zu leisten. Alle griechischen Tugenden waren deshalb, im Lichte des Christentums gesehen, „herrliche Laster". Der alte Mensch mußte sterben und ein neuer geboren werden, ehe ein Grieche Christ werden konnte. Darum ist der christliche, asketische, sich selbst vergessende Charakter, der im Gegensatz zur Natur steht, selbst wenn er einst bewundernswert schien, für einen gesund denkenden Menschen der modernen Welt unbrauchbar. Die andere Deutung, von der wir sprachen, behandelt den Charakter Jesu in Ausdrücken der Ästhetik als Typus der Freude, der Anmut, des geistigen Friedens und der Heiterkeit. Renan zufolge ist ein junger, galiläischer Landmann be14

geistert von der Vision des göttlichen Lebens und macht sich mit Entzücken daran, diese Vision zum Ausdruck zu bringen. „Eine ausgezeichnete Beobachtung der Natur ermöglichte ihm ausdrucksvolle Bilder." „Zartheit des Herzens war bei ihm umgewandelt in unendlichen Liebreiz, unbegrenzte Poesie, universale Anziehungskraft." Sein liebenswürdiger Charakter und ohne Zweifel ein hinreißendes Außere, wie wir es zuweilen in der jüdischen Rasse finden, schufen einen Zauberkreis um ihn her." In demselben Sinne bemerkt Strauß, daß Jesus als eine schöne Natur von Haus aus erschien, die sich nur zu entfalten und ihrer selbst bewußt zu werden brauchte. Es ist interessant, uns der vielen Einzelfälle in dem Leben Jesu zu erinnern, die dazu beitrugen, jede der beiden Anschauungen über seinen Charakter zu bestätigen. Es liegt dem Leben Jesu eine Selbst-Aufopferung zugrunde, die ihn von dem Hellenentum weit entfernt. Er hat eine Menge Tugenden — Demut, Selbstvergessenheit, das Tragen fremder Lasten, die in den griechischen Idealen des inneren Gleichmaßes und der Großmut keinen Platz finden. Ein Ausspruch wie: „der Größte unter Euch soll Euer Diener sein," würde den Griechen, wie einst Paulus vom gekreuzigten Christus sagte, „eine Torheit" sein. Andererseits hört man aus der Lehre Jesu heraus einen Ton, der von einer zugrunde liegenden, ruhigen und erhabenen Freude spricht. Er hat einen schnellen Blick für das Schöne in Natur und Charakter. Selbst in einem iS

unliebenswürdigen Leben entdeckt er liebenswerte Eigenschaften. In seiner Lehre begegnen sich die Triebe, die nach geistigen Grundgedanken und künstlerischem Ausdruck streben. Das Weltall ist seinem empfänglichen Geiste malerisch und beredt, und am Ende einer kurzen Laufbahn, die überreich an Mißdeutungen und Enttäuschungen war, dauert in ihm noch immer die frohe Mitteilung seiner geistigen Freude fort. „Nun aber komme ich zu Euch und rede solches in der Welt," spricht das vierte Evangelium, „auf daß sie in ihnen haben meine Freude vollkommen." Treten nun auch diese beiden Charakterzüge Jesu deutlich hervor, so ist es doch nicht wahrscheinlich, daß sie den tiefsten Grund seiner Seele berührt haben. Mag das Asketentum Jesu noch so unhellenisch, seine Freude am Leben noch so unmessianisch sein, so sind sie augenscheinlich nicht Ziele seiner Lehre sondern Zwischenfälle auf seinem Wege. Es sind Nebenprodukte, die in der Entwicklung seiner Laufbahn abgestreift werden. Das Problem des Charakters Jesu tritt uns erst vor Augen, wenn wir hinter seinen Leiden und seiner Freude jene Kraft des geistigen Lebens erkennen, die diese verschiedenen Erfahrungen so untergeordnet und stückweise erscheinen läßt, daß sie nur zum Rhythmus seiner Schritte werden, da er dem erhabenen Ziel seiner Sehnsucht standhaft entgegen schreitet. Die Ethik Jesu ist nicht die eines mittelalterlichen Heiligen, nicht die eines galiläischen Bauern; sie ist die Ethik eines Lehrers, dessen 16

Leiden und Freuden nur die Szenerie und Umgebung seiner Seele sind. Und was war der erste Eindruck, den der Meister machte, der seine Hörer mit so unwiderstehlicher Gewalt ergriff, daß die Menschen bei seinen Worten: „Folge mir nach!" alles zurückließen, um ihm zu folgen? Die Antwort auf jene Fragen nach dem ursprünglichen und allgemeinen Eindruck der Lehre Jesu scheint über allen Zweifel erhaben zu sein. Die unmittelbare Wirkung der Lehre Jesu war eine Wirkung der Kraft, der Autorität, der Meisterschaft, der alles beherrschenden Eindrücklichkeit eines Führers der Menschen. Es ist auffallend, wie oft im Neuen Testament das Wort „Kraft" in Hinsicht auf den Einfluß Jesu gebraucht wird. Matthäus sagt: „Das Volk pries Gott, der solche Macht den Menschen gegeben hat." „Daß sie sehen das Reich Gottes mit Kraft kommen" — sagt Marcus. „Seine Rede war gewaltig" sagt Lucas. „Gleich wie Du ihm Macht hast gegeben über alles Fleisch," sagt Johannes. „Wie Gott denselbigen Jesus von Nazareth gesalbet hat mit dem heiligen Geiste und Kraft" sagt die Apostelgeschichte. „Die Kraft unseres Herrn Jesu Christi" sagt Paulus. Das heißt, sein Wirken war in erster Linie dynamisch, herrschend, autoritativ. Als er zuerst die Grundgedanken seiner Lehre verkündete, machte nicht die Botschaft den größten Eindruck auf die Hörer, sondern, so wird uns erzählt, der, der die Botschaft brachte. Das Volk war weniger erstaunt über den Inhalt seiner Rede als über die 17

Kraft, mit der sie verkündet wurde. Der Prediger demonstrierte nicht, bat nicht, drohte nicht wie die Schriftgelehrten. Er riß die Menge hin durch seine persönliche Kraft. Dasselbe geschah während der ganzen Zeit seines Wirkens. Er rief die Menschen von ihren Schiffen, ihren Zollbuden, ihren Häusern, und sie blickten in sein Angesicht und gehorchten. Er lobt den Trieb des Soldaten, der den, unter ihm Stehenden Befehle gibt, weil er selbst Befehle von oben erhalten hat. Und welche Charaktereigenschaft kommt bei solchen Erlebnissen zum Ausdruck? Die Kraft. Das ist kein Asket, der die Welt verläßt, kein Träumer, kein fröhlicher Gefährte, der über die Welt in Entzücken gerät. Das ist das ruhige Bewußtsein der Meisterschaft, die Autorität des Führers, ein Vertrauen, das ihn in den Stand setzt zu erklären, daß ein auf sein Wort gegründetes Leben auf einen Felsen gebaut sei. Jesus ist kein sanfter Visionär, kein beschaulicher Heiliger, kein Lamm Gottes, ausgenommen in der Erfahrung des Leidens. Er ist eine Persönlichkeit, deren hervorragendster Zug Kraft ist; er treibt die Händler mit Geißeln zum Tempel hinaus; er trotzt den Pharisäern; er ist der Herrscher, der seine Worte mit gewaltiger Autorität spricht. Von welcher Seite wir uns auch dem Charakter Jesu nähern, überall tritt uns der Eindruck der Meisterschaft entgegen. W i r sehen einerseits die durchaus ethische Seite seiner Kraft. Mag man immerhin darüber streiten, ob das 18

religiöse Leben im Grunde ein Ausdruck des Denkens, Fühlens oder Wollens ist, — der Punkt, an dem Jesu Lehre zuerst das religiöse Gefühl berührt, ist über jeden Streit erhaben. Keinesfalls war es der Punkt intellektueller Befriedigung; denn Jesus erwählt zu seinen Jüngern Menschen, deren theologische Uberzeugung wenig modernen Kirchen genügen würde. „O Weib, Dein Glaube ist groß," sagt er zu der Kananiterin. „Solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden" sagt er von dem Hauptmann. Jesus will, wie Schleiermacher sagt, die Frömmigkeit augenscheinlich nicht mit dem Maß des Wissens gemessen haben. Auch an das Gemütsleben richtet Jesus seine Lehre nicht. Wohl erfährt er in seiner Laufbahn feierlich erhabene Stimmungen, schwere Versuchungen, Momente mystischen Entzückens. Sehen wir aber, welch geringe Rolle diese Gemütsbewegungen in der Religionsgeschichte gespielt haben, so empfangen wir einen tiefen Eindruck von der Gesundheit, Reserve, Ruhe und Standhaftigkeit des Charakters Jesu. Er ist kein Beispiel für die „zwiefach geborene Anschauung von Frömmigkeit," die uns kürzlich mit solcher Kraft und so großem Reiz nahe gebracht worden ist. Die Religion des „gesunden Sinnes" ist keine psychopatische Gefühlsschwärmerei, sondern ein normales, rationelles, ethisches Wachstum. Sie ist nicht extatisch, visionär und nervös erregt; sie gipfelt nicht in neurologischer Heiligkeit, sondern sie ist erzieherisch, verständig, wohl ver19

einbar mit einem weisen Dienst der Welt. Sie verträgt sich gut mit den unendlich verschiedenen Entscheidungen und Verpflichtungen, denen jeder ehrliche Mensch begegnen muß. Kurz, die Forderung Jesu gilt in erster Linie dem Willen. Er verlangt eine moralische Entscheidung. Er setzt die Fähigkeit zur Rechtlichkeit voraus und erwartet, daß sie moralisch die Initiative ergreifen. „Folge mir," sagte er wiederholt. „Verkaufe alles, was Du hast und komm und folge mir nach! Wer mir will nachfolgen, der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach! Meine Lehre ist nicht mein, sondern deß, der mich gesandt hat, so jemand will deß Willen tun Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter." Die Nachfolge, die er wünschte, ist nicht sentimental, rührselig, gelegentlich; sie ist rationell, ethisch; sie ist eine Form des Gehorsams, eine Richtung des Willens. Wenn er dieser Willensneigung gewiß ist, so heißt er selbst Menschen mit unsicherer Moral und den unvollkommensten Uberzeugungen willkommen; denn er erkennt in ihnen die Möglichkeit zum Wachstum. Sein uneingeschränkter Tadel gilt nicht den Sündern mit einem schwachen Willen, sondern den SelbstGerechten und Selbst-Zufriedenen, deren starker Wille in verkehrter Richtung vorwärtsstrebt. Die Willensentscheidung ist, wie das vierte Evangelium sagt, der Weg zur festen Uberzeugung. „So jemand will den Willen tun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei oder 20

ob ich von mir selbst rede." Intellektuelle Befriedigung soll durch ethische Treue erlangt werden. Das ist der Segen derer, die reines Herzens sind, daß sie Gott schauen sollen. Außer diesem speziell ethischen Ausdruck des Charakters Jesu müssen wir noch eine intellektuelle Seite jener Kraft beobachten, eine stark ausgeprägte Vernunft, einen Scharfsinn, eine Einsicht und geistige Regsamkeit, die sehr zu seiner Autorität beitragen. Man hat oft geglaubt, daß Jesus ein ununterrichteter Bauer gewesen sei, ein begeisterter Arbeiter, der einzig von seinen Hingebungen geleitet worden sei, und es ist zweifellos wahr, daß seine intellektuellen Gaben nicht in den Schulen der Rabbiner in wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit groß gezogen worden sind. „Wie kann dieser die Schrift, da er sie doch nicht gelernet hat?" fragten die Pharisäer, — gelernt, wie sie es auffaßten als Schüler von den Meistern des Gesetzes. Allein wir finden in den Evangelien beinahe auf jeder Seite Zeichen, die dafür sprechen, daß der neue Meister weder ungelehrt noch unerzogen, sondern daß er mit intellektueller wie geistiger Autorität ausgestattet war. Wenn Jesus im Beginn seines Wirkens durch die Versuchungen einer mißbrauchten Lehre gequält wurde, so trat er ihnen allen mit den Waffen des Gelehrten entgegen. Er stellt seinem Widersacher die Beweise der Schrift gegenüber und spricht zu ihm: „Es steht geschrieben, es steht geschrieben." Als die Zeit kommt, da er die Grundgedanken seiner 21

Lehre klarlegen soll, erklärt er sie durch ihren Gegensatz zu den Lehren der Vergangenheit. „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist ich aber sage Euch." Als er nach Nazareth, wo er aufgewachsen ist, zurückkehrt, wird ihm die Schrift zum lesen gegeben. An mehr als vierzig Evangelienstellen wird er Lehrer oder Meister genannt. Als seine Feinde ihn verwirren wollen, nehmen sie im voraus an, daß er mit der Literatur, die sie zitieren, vertraut ist, und er zögert seinerseits nicht, ihre eigenen Waffen der Dialektik gegen sie zu benutzen, so daß sie keine Fragen mehr an ihn zu richten wagen. War Jesus auch genügend ausgerüstet, um mit dem Wissen seiner Zeit konkurrieren zu können, so war es doch nicht seine scholastische Weisheit, die den tiefsten Eindruck machte. Die Hörer erkannten in ihm eine Einsicht, die anstatt mit dem Wissen der Gelehrten verwandt zu sein, sich deutlich davon unterschied und als eine besondere geistige Gabe angesehen wurde. Als der Jesusknabe den Weisen in Jerusalem begegnete, war es gerade diese ungelehrte Weisheit, die sie überraschte. Er blieb bei den Gelehrten zurück voller Eifer sie zu hören und zu fragen, und als seine Eltern ihn suchten, wandte er sich zu ihnen mit einem jener tiefen, seltsamen Aussprüche, mit denen auch andere Kinder ihre Eltern zuweilen verwirren, als lauschten sie einer anderen Stimme und hörten einen Befehl, den die Eltern nicht gegeben hatten. Von der Zeit an nahm Jesus, wie geschrieben steht, nicht nur an Wachs22

tum und Wohlgefallen sondern auch an Weisheit zu. Er war ein Lehrer; aber die Autorität seiner Lehre war nicht die der Schriftgelehrten. Seine Weisheit war nicht Gelehrsamkeit. Sie hinterließ nicht den Eindruck des wissenschaftlich Erworbenen, sondern den der durchdringenden Kraft, der Unterscheidung, der raschen Auffassung. Sie war ein Zug seiner Haupteigenschaft: der Kraft. Am sprechendsten wird diese intellektuelle Meisterschaft vielleicht durch eine gewisse Leichtigkeit der Berührung bewiesen, die Jesus oft in Wortkämpfen anwandte und die sich zuweilen dem Spiel des Humors, zuweilen der Ironie nähert. Seine Feinde fallen ihn mit Knütteln an, und er verteidigt sich mit einem Rapier. Nichts zeigt seine Herrschaft vollkommener als diese Fähigkeit, den Scherz als Waffe für die Vernunft zu gebrauchen. Jesus durchdringt die Schlauheit und Finsternis seiner Gegner mit solcher Feinheit und Geschicklichkeit, daß der Angreifer oft garnicht spürt, daß er getroffen ist. Anstatt eine direkte Antwort zu geben, wird die Frage pariert und das zugrunde liegende Motiv klar gelegt. Ihm wird eine Frage betreffs der Verteilung des Eigentums gestellt, und Jesus lehnt scheinbar zuerst den Richterspruch in dieser Angelegenheit ab. „Wer hat mich zum Richter oder Erbschichter über Euch gesetzt?" sagt er. Dann jedoch blickt er um sich in die Gesichter der Menge, die von ihm eine Sanktion für ihre Habgier suchen; er dringt ein in den Ge23

danken, den das wirtschaftliche Problem verhüllt hat und antwortet nicht auf ihre Frage sondern auf die Gedanken ihres Herzens. Ich sage Euch Allen, hütet Euch vor der Heuchelei! Seine Jünger fragen ihn nach der Belohnung für ihre Treue. „Siehe, wir haben alles verlassen und sind Dir nachgefolgt. Was wird uns dafür?" Und Jesus antwortet: „Es ist niemand, so er verläßt Haus oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kind oder Acker um meinetwillen und um des Evangeliums willen" . . . . und dann, gleichsam in dem scherzhaften Gefühl, wie wenig ihnen dies sagt im Vergleich zu dem, was geschehen wird, fährt er fort: „der nicht hundertfältig empfahe jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Acker mit Verfolgungen und in der zukünftigen Welt das ewige Leben." In der Synagoge öffnet er die Schrift, und mit der Vertrautheit dessen, der darin wohl belesen ist, wählt er die Textstelle aus, die sich in ihm erfüllt hat: „ E r hat mich gesalbt zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn." Aber während der Geist seiner Zuhörer zu dem nächsten Satze des Propheten übergeht, schlägt Jesus plötzlich mitten im Satz das Buch zu und gibt es dem Diener zurück — mögen die Versammelten es selbst erkennen, daß er die alte Drohung „und einen Tag der Rache unseres Gottes" nicht auf sich anwenden will. Hier paart sich intellektuelle Einsicht mit geistiger Autorität. Wir haben hier keinen Einsiedler, keinen 24

Bauern, keinen passiven Heiligen sondern einen intellektuellen wie moralischen Führer, der wohl verworfen aber nicht verachtet werden kann. Es ist der christlichen Kunst noch vorbehalten das Bild jenes historischen Jesus zu malen, das diesen Typus wiedergeben soll, nicht das Bild des bleichen Dulders, der von den Sünden dieser Welt geschlagen ist, sondern das Bild des ernsten, weisen Meisters, den man bei dem ersten Begegnen verehren, wenn nicht ihm gehorchen muß. Er mag wohl versucht worden sein, aber es waren die Versuchungen, die zur Macht führen. Man mag ihm Gelehrsamkeit gegenüber gestellt haben; aber sein waren auch die Waffen des Wissens. Die Reiche dieser Welt mögen seine Wege gekreuzt haben; aber er bleibt ein König im Reiche der Wahrheit. Er mußte Leiden ertragen, allein es waren die Leiden des Starken. Er stirbt, als wenn er besiegt wäre; aber seine Macht behauptet sich sieghaft, selbst als er gegangen ist, und gerade die Erinnerung hieran gewinnt seiner Sache Menschen, die seiner Lehre widerstehen konnten. Nicodemus, der Gelehrte, kehrt um und sorgt für den Leichnam Jesu, und Judas, der Verräter, erhängt sich aus Scham. Diese Haupt-Eigenschaft moralischer und intellektueller Kraft macht einen noch tiefern Eindruck auf uns, wenn wir die Lebensweise und Gewohnheiten beobachten, die ihr natürlicher Ausdruck sind. Auf zweierlei Arten enthüllt die Lebensweise Jesu uns einen Charakter, dessen 25

herrschender Zug die Kraft ist, und diese beiden Lebensgepflogenheiten vermehren das Pathos und den tiefen Eindruck, den ein solcher Charakter auf uns macht. Ich nenne erstens die verschwenderische Freigebigkeit der Sympathie Jesu, zweitens die Einsamkeit seiner Seele. Das erste Zeichen der Kraft ist, daß sie sich übertragen läßt. Sie gibt sich selbst verschwenderisch hin, weil sie soviel zu geben hat. Sie fühlt kein Bedürfnis zu sparen. Das macht uns in dem Verhalten Jesu den tiefen Eindruck. Er ist extravagant und verschwenderisch in seiner Lehre. Nur bei einer Gelegenheit scheint er eine Zuhörerschaft um sich zu sammeln und ihr seine Mission formell zu verkünden. Er verschwendet seine Lehre zum großen Teil an wenige, und selbst diese verpflichtet er zuweilen, keinem Menschen etwas von dem zu sagen, was er sie gelehrt hat. Drei Freunde nimmt er als Gefährten mit sich bei Seite und zeigt ihnen seine Herrlichkeit. Er schleudert seine Gleichnisse in die Welt, ohne sich um ihre Auslegung zu sorgen. Die, welche Ohren haben zu hören, mögen sie hören! Aber viele werden sie hören und nicht verstehen. Sein Lieblingssymbol ist das Gleichnis vom Säemann mit dem weiten, freien Schwung des Armes und der weithin verstreuten Saat. Was schadet es, wenn viel Same vergeudet wurde — wenn nur der, welcher auf guten Boden fiel, eine neu erzeugende Kraft besaß. Die gleiche Verschwendung zeigt sich in seinen Beziehungen zu den verschiedenen Menschentypen, die zu ihm 26

kamen. Man hat oft gefragt, ob Jesus mit Reformern oder Arbeitern, mit dem Proletariat oder den Armen in eine Klasse zu rechnen sei ? Tatsache ist jedoch, daß die gewöhnliche soziale Klassifikation auf ihn nicht angewandt werden kann. Jesus ist bei den verschiedensten Menschenarten gleicher Weise zu Hause. E r bewegt sich ebenso vertraut zwischen den Reichen wie den Armen, den Gelehrten wie den Unwissenden, den Glücklichen wie den Traurigen. Was bedeutet nun dieser freie Lauf seiner Sympathie, diese Verschwendung in seiner Methode? Man hat sie zuweilen als bloße Offenbarung eines empfänglichen und alle Dinge würdigenden Geistes hingestellt, und dieser Zug hat die ästhetische Deutung zu dem Charakter Jesu begünstigt. Jenes verschwenderische Hingeben, hat man gesagt, ist ein Zeichen seiner Lebensfreude. Allein die Lebensfreude wird ihrer Bedeutung beraubt, wenn sie keinen Hintergrund rationeller Berechtigung hat. Soll Sympathie wirksam sein, muß sie der Ausdruck der Kraft sein. Um geben zu können, muß man etwas haben. Will man sein Leben als Lösegeld für viele geben, so wird das nichts nützen, wenn das Lösegeld ungenügend ist. Wenn man sagt, des Menschen Sohn komme nicht, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen, so spricht man damit keine große Wahrheit aus, wenn nicht des Menschen Sohn die Fähigkeit hat zu dienen. E s ist keine weise Anlage, einen Kanal für die Wasserkraft einer Mühle zu graben, wenn der Strom spärlich fließt. Die 27

Sympathie Jesu ist der Kanal, durch den seine Kraft strömt, und der reiche Lauf des Stromes zeugt für die Kraft seiner Quelle. Ein zweites Merkzeichen des Lebens Jesu ist seine geistige Einsamkeit. Mag er sich selber in Wort und Tat andern verschwenderisch hingeben — in dem Kreise dieser Beziehungen bleibt doch eine Sphäre der Einsamkeit und Reserve. Ist er auch eifrig bemüht seine Botschaft zu verkünden, so hat diese doch Seiten, die, wie er selbst einsehen muß, nicht mitteilbar sind, sodaß seine Sprache zuweilen einen Ton von Hilflosigkeit annimmt. Die Menschen sehen wohl; aber sie verstehen nicht. „Ich habe viele Dinge zu Euch zu sagen; aber Ihr könnt sie jetzt nicht ertragen." Es liegt ein tiefes Pathos in dieser Einsamkeit Jesu. Gerade die Ideale, die er pflegt, entfremden ihn manchem Hörer. Die Menge, die ihn umdrängt, scheint seine Kraft versiegen zu lassen, und er sucht die Einsamkeit der Berge oder des Sees, um Gleichgewicht und Frieden wieder zu gewinnen. Das ist die Bedeutung jener passiven Tugenden, die den Evangelien den Ton von Asketentum zu geben scheinen. Sanftmut, Geduld, Nachsicht, Schweigen — sind nicht die Zeichen bloßer Selbsterniedrigung; sie sind die Zeichen der im Grunde ruhenden Kraft. Sie sind die Kennzeichen eines Menschen, der imstande ist zu warten, der voraussieht, daß er leiden wird, der nicht zu streiten braucht — und alles dies nicht, weil er einfach, sanftmütig und demütig, sondern weil er in gleichem Maße stark und 28

ruhig ist. Laßt uns z. B. an die Beziehungen Jesu zu seiner Familie denken! Die christliche Kunst hat das Gefühl der Frommen hier aufs neue irre geführt und die Mutter Jesu so geschildert, als sei sie sich beständig der tiefsten Hoffnungen ihres Sohnes bewußt gewesen, von seiner Knabenzeit an, wo sie diese Dinge in ihrem Herzen bewegte, bis zur Kreuzigung, da sie sich aufrecht hielt an dem Jünger, den Jesus lieb hatte. Tatsache ist jedoch, daß wir bei jedem Streiflicht, das auf die häuslichen Beziehungen Jesu fällt, erkennen, daß er dem befangenen, wenn nicht sogar ihm abgeneigten, Elternhause fern stand. Als die Eltern ihren Knaben im Tempel finden, bewahren sie seinen Ausspruch in der Tat in ihrem Herzen; aber ihr Geist erschließt sich diesem Ausspruch nicht. Es steht, im Gegenteil geschrieben: „Und sie verstanden das Wort nicht, das er mit ihnen redete." Selbst als seine Lehre viele andere Anhänger gewonnen, hatte seine eigene Verwandtschaft kein Ohr für seine Botschaft. Welch ein unendliches Pathos liegt in jener Szene in Capernaum, als das Volk sich um ihn drängt, so daß er und seine Freunde nicht Zeit finden zu essen, und seine Mutter und seine Brüder „konnten vor dem Volk nicht zu ihm kommen." Sie kommen augenscheinlich, um ihn den Gefahren, die ihn bedrängen, zu entreißen. Vielleicht erkennen sie die politische Gefahr, die ihn bedroht, vielleicht beklagen sie seinen Bruch mit dem geheiligten Gesetz, vielleicht bezweifeln sie sogar seine 29

gesunde Vernunft. Auf alle Fälle kommen sie nicht um zuzuhören sondern um abzuschrecken, und Jesus macht die bittere Erkenntnis, daß eines Menschen Feinde die eigenen Hausgenossen sind. Wenn er nun noch vorwärts geht, muß er's allein tun. Die ihn am besten kennen sollten, verstehen ihn am wenigsten. Mit einem Blick tiefen Schmerzes doch ungebrochenen Entschlusses wendet er sich von denen ab, die ihm die Liebsten sind und gibt sich jener größeren Sympathie hin, die gleichzeitig persönliche Einsamkeit bedeutet. Und er schaute auf die, welche um ihn saßen und sprach: „Siehe da, das ist meine Mutter und meine Brüder." „Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, derselbige ist mein Bruder, Schwester und Mutter." Hier liegt in der Tat das Pathos des Charakters Jesu; aber hier nähern wir uns auch der Quelle seiner Kraft. In dieser Loslösung von der Natur, dieser Isolierung des innern Lebens fand Jesus die Gemeinschaft mit dem Leben Gottes. An diesem Punkte verschmilzt seine Ethik in Religion. Die Menge drängt sich um ihn, und er dient ihr freudig, und dann scheint es, als wenn seine Natur nach Einsamkeit verlange zur Stärkung seines Glaubens. Die Flut des Geistes ebbt von ihm weg in der Menge, und wenn er in die Einsamkeit geht, ist er am wenigsten allein, weil der Vater bei ihm ist. S o bewegt sich der Rhythmus seiner Natur vom Sprechen zum Schweigen, vom Geben zum Empfangen, von der Gemeinsamkeit zur Einsamkeit, und die 3°

Kraft, die im Dienst hingegeben wird, erneut sich in der Einsamkeit. Er ist imstande, das Kreuz der Anderen zu tragen, weil er sein eigenes trägt. Er kann andern Menschen nützen, weil er ohne sie fertig werden kann. Er ist ethisch wirksam, weil er geistig frei ist. Er vermag zu retten, weil er Kraft genug hat zu leiden. Seine Sympathie und seine Einsamkeit sind in gleicher Weise Werkzeuge seiner Kraft. Der Charaktertypus, der sich direkt von ihm ableitet, — der christliche Charakter — ist kein Überbleibsel mönchischer oder sentimentaler Ideale, die für die Verhältnisse der modernen Welt unbrauchbar sind; er ist eine Form der Kraft, die durch die Stärke der Seele wirksam gemacht ist. Diese Kraft fließt gleich einem ungehemmten Strome durch die nutzbaren Gefilde des Lebens dahin, weil sie oben in den ewigen Hügeln gespeist wird. Sie hat ihre reiche Fülle und ihre Reserve, ihren Dienst und ihre Einsamkeit, und die Kraft, welche die geschäftigen Räder des Menschenlebens bewegt, wird genährt in den geheimen Tiefen von Gottes Leben.

3i

DRUCK VON W. DRUGULIN IN LEIPZIG.