Der Begriff der Jüdischen Kunst in der Kunstgeschichte: Versuch einer Definition 9783110693980, 9783110615067

At the end of the 19th and start of the 20th century, Jewish artists thought intensively about the influence of their he

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Der Begriff der Jüdischen Kunst in der Kunstgeschichte: Versuch einer Definition
 9783110693980, 9783110615067

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Der Begriff der Jüdischen Kunst in der Kunstgeschichte

Inna Goudz

DER BEGRIFF DER JÜDISCHEN KUNST IN DER ­KUNSTGESCHICHTE Versuch einer Definition

Die vorliegende Studie wurde als Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie (Dr. phil.) im April 2017 an der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf angenommen. Die Promotionsschrift wurde von Univ.-Prof. Dr. Andrea von Hülsen-Esch und Prof. Dr. Jürgen Wiener begutachtet. Für den Druck wurde die Studie geringfügig überarbeitet. Das dieser Publikation zugrunde liegende Forschungsvorhaben wurde von der Gerhard C. Starck Stiftung gefördert.

ISBN 978-3-11-061506-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069398-0

Library of Congress Control Number: 2020937174 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Covergestaltung: Alexander Smolianitski Satz: SatzBild GbR, Sabine Taube, Kieve Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com

INHALT

Dank  9 Einleitung: Was ist Jüdische Kunst?   11 Problemstellung: das Fehlen „jüdischer“ Kunstwerke   11 Die Bedeutung der Jüdischen Kunst für die Disziplin der Kunstgeschichte  15 Historische Einordnung  16 Zielsetzung der Untersuchung   17 Methode der Untersuchung – Kunstwerke und Künstlerbiografien   19 Ausblick auf die Untersuchungsergebnisse  20

Forschungsstand   22 Quellen  22 Betrachtungen einer Kunst der Juden im Deutschland des 19. Jahrhunderts   22 Jüdische Kulturpublizistik des beginnenden 20. Jahrhunderts   24 Martin Bubers Texte zur Jüdischen Kunst   25 Künstlermonografien  26 Überblickswerke   27 Ausstellungskataloge   29 Lexikonartikel  30

Suche nach dem „Jüdischen“ in der Kunst  32 Kulturzionismus   33 Martin Bubers Texte zur Kunst – Vortrag beim V. Zionistenkongress in Basel 1901 und Einleitung zu Jüdische Künstler 1903  36 Konstruktion einer neuen Geschichte – Einleitung zu Jüdische Künstler  37 Eine neue ästhetische Erziehung   40

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|     Inhalt

Das Konzept des „Kunstwollens“ und die Voraussetzungen für eine Jüdische Kunst   46 Die „Jüdische Renaissance“ als kunst- und kulturhistorische Epoche  48 Die Jüdische Kunst als eine nationale Kunst   51 Die Frage nach dem „jüdischen Stil“  53

Max Liebermann – der „jüdische Maler“ in Preußen  60 Juden in Preußen – eine kulturhistorische Entwicklung des 19. Jahrhunderts  60 Historische Faktenlage   60 Die Juden und die Aufklärung   63 Die Rolle der Wissenschaft des Judentums für die Betrachtung der Jüdischen Kunst   68 Das Kulturverständnis im Preußen des 19. Jahrhunderts   71 Max Liebermann als „jüdischer Künstler“  72 Der zwölfjährige Jesus im Tempel  76 Max Liebermann und Rembrandt – die Anfänge des „Jüdischen“ in der Kunst   85 Der „jüdische Jesus“ – Darstellung von Juden in der Kunst   91 „Judenbilder“  92 Der Weg zum Realismus   94

Jüdische Kunst in Osteuropa: Marc Chagall als „der“ jüdische Künstler  100 Juden in Osteuropa – Aufbruch in eine aufgeklärte Welt   101 Die Teilungen Polens als Basis für grundlegende Veränderungen   102 Entwicklungen auf dem Gebiet des zaristischen Russlands – Versuch einer ­kulturellen Integration   105 Der Weg zu den Pogromen von 1881 bis 1882   108 Möglichkeiten zur künstlerischen Ausbildung   110 Die Rolle unterschiedlicher religiöser und politischer Gruppen innerhalb der ­osteuropäischen jüdischen Gemeinschaft   111 Die Diaspora und die Suche nach einer eigenen Identität  113 Die Rolle der jiddischen Sprache   114 Gründung der Kultur-Lige   116 Das Stetl-Phänomen   133

Inhalt      |

Chagalls künstlerisches Selbstverständnis   136 Chagalls Vokabular  140

Schlussbetrachtung   151 Jüdische Kunst als politisches Instrument   152 Künstlerische Perspektiven   154 Kunsthistorische Definition  154

Anhang   157 Literaturverzeichnis  157 Bildnachweis   168 Personenregister  170

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DANK

Mein herzlicher Dank gilt an erster Stelle und im Besonderen Frau Prof. Dr. Andrea von Hülsen-Esch für ihre langjährige Unterstützung, den intensiven fachlichen Austausch, das Vertrauen und das Engagement, diesem komplexen Thema in der Forschung der Kunstgeschichte einen Platz einzuräumen. Herrn Prof. Dr. Jürgen Wiener möchte ich herzlich für das Begleiten der Arbeit danken sowie für produktive Gespräche und wichtige Hinweise. Ich danke von ganzem Herzen meinem Partner Tim Wichmann, der mich unermüdlich unterstützte, mir Kraft, Energie und Mut gab, nicht aufzugeben. Ich bin zutiefst dankbar, dass wir unseren Lebensweg gemeinsam gehen. Ich danke meinen Eltern, Anna und ­Iossif Goudz, für den Mut, vor 27 Jahren den Schritt gewagt zu haben, nach Deutschland zu gehen, ein neues Leben zu beginnen, und damit mir diesen Werdegang ermöglicht zu haben. Ich danke meiner gesamten Familie für die Liebe, Wärme, Zuversicht und den Rückhalt in allen Lebenslagen. Danken möchte ich außerdem meinen Freunden und Kommilitonen, die mich all die Jahre begleitet, mit mir gelitten und sich gefreut haben. Mein besonderer Dank gilt Friederike M. Jenderek für die Freundschaft, die gemeinsame Be­ geisterung für das Thema, die Inspiration, wichtige Hinweise und inhaltlichen Austausch. Die Fertigstellung dieses Buches erfolgte einige Zeit nach dem Abschluss der Forschungsarbeit. In der Zwischenzeit konnte ich die Erkenntnisse aus dieser Untersuchung auch auf das Verständnis der heutigen jüdischen Kultur in Deutschland anwenden. Ich bin sehr dankbar, auch diesen Weg nicht allein gegangen zu sein. In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem Alexander Smolianitski vom ganzen Herzen danken – für die tiefe Freundschaft, den leidenschaftlichen, gemeinsamen Einsatz für ein modernes und liebevolles Bild der jüdischen Religion und Kultur; aber auch für die unermess­liche Kreativität, tiefgreifendes Wissen und den gemeinsamen Diskurs, die seinerseits auch in dieses Buch mit eingeflossen sind. Für die redaktionelle Unterstützung und sehr viel Geduld möchte ich außerdem Dr. Katja Richter, Tanja Bokelmann und Maike Liess ­danken – dank ihnen hat dieses schöne Buch endlich das Licht der Welt erblickt. Ein ganz besonderer Dank gilt der Gerhard C. Starck Stiftung für die großzügige finanzielle Unterstützung. Ohne das Promotionsstipendium der Gerhard C. Starck Stiftung wäre die vorliegende Dissertation nicht möglich gewesen. Mülheim an der Ruhr, Mai 2020

EINLEITUNG: WAS IST JÜDISCHE KUNST?

Der Begriff „Jüdische Kunst“ gehört zum festen Vokabular der kunsthistorischen Forschungsliteratur. Untersuchungen einer Kunst der Juden reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Doch es sind insbesondere die Abhandlungen über die klassische Moderne und die avantgardistischen Bewegungen des beginnenden 20. Jahrhunderts, die diesen Terminus benutzen, um Künstler zu systematisieren und einzuordnen. Auf den ersten Blick mag der Ausdruck „Jüdische Kunst“ nichts Außergewöhnliches implizieren, bis man sich fragt, was genau eigentlich unter diesem Begriff zusammengefasst ist: Was genau soll Jüdische Kunst sein? Die vorliegende Arbeit versucht, dem Terminus auf den Grund zu gehen, und widmet sich dem Wandel der Definition und Bedeutung des Begriffs „Jüdische“ Kunst im kunsthistorischen Zusammenhang am Beispiel von zwei Künstlerbiografien.

Problemstellung: das Fehlen „jüdischer“ Kunstwerke Um sich dem Thema der Jüdischen Kunst zu nähern, ist die Betrachtung der Forschungsliteratur verschiedener Disziplinen unumgänglich. Obwohl es sich hierbei um eine Entwicklung in der bildenden Kunst handelt, bezeichnet der Begriff ein soziokulturelles Phänomen, das aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden muss. So wird die Bezeichnung aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft, Archäologie, Religionsund Sozialwissenschaft, Kulturwissenschaft, Judaistik und nicht zuletzt der Kunstgeschichte untersucht. Die sogenannten Jüdischen Studien oder Jewish Studies vereinen in sich oft alle diese Disziplinen und noch weitere mehr, wie z. B. Rechtswissenschaften, um der Vielschichtigkeit einer „Kultur der Juden“ gerecht zu werden.1 So stammt der Großteil der Forschung zu dem Begriff aus diesem letztgenannten Bereich. Da die Forschung selbst bereits seit langer Zeit im Gange ist, erfährt die Jüdische Kunst auch in ihrem 1

Christina von Braun ist der Meinung, dass die Jüdischen Studien mit der Vereinigung verschiedenster Disziplinen der Komplexität der „jüdischen Identität“ folgen, die sich im Zuge der Säkularisierung von einer reinen Religionsgemeinschaft zu einer „kulturellen Gemeinschaft“ wandelte, siehe von Braun, Christina, Vorwort: „Jüdische Identität“?, in: Sucker, Juliane; Wohl von Haselberg, Lea (Hg.), Bilder des Jüdischen. Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 1–9, hier S. 8.

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|     Einleitung: Was ist Jüdische Kunst?

Verständnis und in ihrer Interpretation je nach Epoche und Zeitgeist eine andere Definition. Anhand der Forschungsentwicklung wird auch der Wandel des Begriffs erkennbar. Als ein nationale Grenzen überschreitendes Phänomen wird der Diskurs durch Literatur in verschiedenen Sprachen bereichert, die jede für sich einen weiteren zu beleuchtenden geografischen Raum eröffnet. So findet man sich im Laufe der eigenen Untersuchung mit einer sehr großen Menge an Information konfrontiert, die auf unterschiedliche Art und Weise zu dem großen Puzzle der Jüdischen Kunst beiträgt. Kein Werk, kein Aufsatz, keine Datenbank scheint zu unbedeutend, um vernachlässigt werden zu können. Spätestens an dieser Stelle wird das generelle Problem des Themas deutlich: Das Vorhaben, die Jüdische Kunst in deren gesamtem Umfang beleuchten zu wollen, ist vergleichbar mit dem Versuch, eine künstlerische Epoche wie die Renaissance oder den Expressionismus mit allen dazugehörigen Ideen, Akteuren, Ausdrucksformen, Interpretationen und Auswirkungen zusammenzufassen. Man würde aufgrund der Vielfältigkeit der bereits in der Forschung untersuchten Fragestellungen ein dermaßen kleinteiliges Bild erhalten, dass eine übergeordnete, all diese Aspekte zusammenfassende These keinen Sinn ergäbe. Über dem Begriff der Jüdischen Kunst hängt außerdem stets der Zweifel an der Existenz derselbigen. Dabei würde niemand die Existenz des Expressionismus infrage stellen – immerhin beschäftigen sich die Kunst- und Literaturwissenschaften unter Berufung auf zahlreiche Ergebnisse der Geschichts- und Sozialwissenschaften seit nunmehr fast hundert Jahren unermüdlich mit dieser rastlosen und für die Kunst hoch fruchtbaren Zeit. Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen im Hinblick auf die kunsthistorische Forschung liegt darin, dass niemand die Existenz expressionistischer Werke in der Kunst anzweifelt; die Bezeichnung „expressionistisch“ ergab sich in ­erster Linie aus der Beschäftigung mit den vorhandenen literarischen und künstlerischen Werken. Eine Jüdische Kunst lässt allerdings eindeutig als solche zu identifizierende Kunstwerke vermissen. Oder etwa doch nicht? Von einem Kunstwerk ausgehend kann die kunsthistorische Forschung als einzige wissenschaftliche Disziplin das künstlerische Schaffen als solches bestimmen, entsprechend analysieren und solch starke Epochenbegriffe begründen. Dieser Herausforderung, eine Jüdische Kunst zu bestimmen, stellte sich die Kunstgeschichte bereits seit der Zeit ihrer Entstehung im 18. Jahrhundert. Eine Verbindung zwischen Künstler, Kunstwerk und Judentum nachzuweisen, konnte sie als Stilgeschichte allein allerdings nicht leisten. Dazu fehlten ihr schlichtweg die notwendigen Methoden. Die Jüdische Kunst entfernte sich zunehmend stärker von ihrem religiösen Bezug, je mehr sich die Juden von einer rein religiösen zu einer kulturellen Gemeinschaft entwickelten. Die Frage nach einer jüdischen Identität jenseits der Religion beschäftigt seitdem Wissenschaftler und Intellektuelle, Künstler und Philosophen, Juden und Nichtjuden gleichermaßen.2 Auch die Frage nach der Herkunft 2 Eine Zusammenstellung aktueller interdisziplinärer Perspektiven stellen Sucker und Wohl von Haselberg (2013) vor. Besonders zum Kontext von jüdischer Identität und modernem Kunstverständnis sei unter zahlreichen weiteren Werken auf Brechenmacher, Thomas (Hg.), Identität und

Problemstellung: das Fehlen „jüdischer“ Kunstwerke     |

des Künstlers zur Zuordnung seines Schaffens zur Jüdischen Kunst war für die Kunstgeschichte ungewöhnlich. Denn Nationalität, Religion oder geografische Herkunft eines Künstlers gehörten zu Beginn nicht zu den wesentlichen Interessen bei der Betrachtung künstlerischer Werke. Erst mit dem Wegfall kirchlicher und höfischer Auftraggeber und damit gesellschaftlicher Verflechtungen sowie materieller Absicherung für Künstler kam es parallel zu einer bürgerlichen „Emanzipation des Künstlers“.3 Die Abkopplung vom Adel und Klerus, die im 19. Jahrhundert begonnen hatte, resultierte im 20. Jahrhundert in einer kritischen, kämpferischen und fortschrittlichen Kunstbetrachtung, die den Künstler als Schöpfer, Individuum und Denker akzeptierte. In Verbindung mit dem nationalistischen Gedanken der Zeit spielte plötzlich auch der kulturelle „Background“ eine besondere Rolle für die Betrachtung der Kunstwerke. Zwangsläufig wurde dadurch der Künstler mehr in Augenschein genommen als das Werk selbst. Das Ergebnis waren verschiedentliche Selbst- und Fremdzuschreibungen über Bedeutung und Qualität der Kunst. Die jahrhundertelange christliche Prägung der Kunst machte Juden in der Kunst – egal, ob als Künstler, Kritiker oder Händler – stets zu einem sensiblen Thema, das meist zur Betonung bestimmter Eigenschaften oder als Argument zur Ablehnung überhaupt erst Erwähnung fand. Die Beschäftigung mit dem Künstler als Juden hatte also weniger mit der Kunst und den Kunstwerken zu tun als mit der kulturellen und gesellschaftlichen Einordnung seiner Person. Die kulturelle Zugehörigkeit des Künstlers war damit wichtig – und gelegentlich gar ausschlaggebend – für die Rezeption seiner Kunst. Die Betonung der nationalen Prägung eines Künstlers, die sich angeblich ungetrübt in dessen Werken niederschlage, war nicht nur jüdischen Künstlern vorbehalten. Die Unterschiede zwischen deutschen und französischen Impressionisten versuchte man ebenfalls kulturell-nationalistisch zu begründen. Noch knapp hundert Jahre nach der jüdischen Emanzipation wurden die Juden auch von Intelektuellen nicht unbedingt als zu einer Nation gehörig, sondern hauptsächlich als isolierte Religionsgemeinschaft wahrgenommen. Somit wurden Werke von kulturell als „jüdisch“ eingeordneten Künstlern auch als jüdische Kunstwerke verstanden. Der Nationalismus in der Kunst hatte dann die Aufgabe, eine künstlerische Tradition zu konstruieren, die bestimmte der jeweiligen Nation zugeschriebene Eigenschaften bestätigt. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts zogen Gelehrte in die Welt hinaus, um die übrig gebliebenen Kunstwerke antiker Völker zu sammeln, zu skizzieren, zu beschreiben und entsprechend zu sortieren. Auch für die Jüdische Kunst hat man diesen Versuch unternommen. Erinnerung. Schlüsselthemen deutsch-jüdischer Geschichte und Gegenwart, München 2009; Hödl, Klaus (Hg.), Der virtuelle Jude. Konstruktionen des Jüdischen, Innsbruck 2005; sowie auf die Standardwerke von Baigell, Matthew; Heyd, Milly (Hg.), Complex identities. Jewish consciousness and modern art, New Brunswick, NJ, [u. a.] 2001; und Soussloff, Catherine M., Jewish identity in mod­ ern art history, Berkeley 1999; verwiesen. 3 Müller-Jentsch, Walther, Die Kunst in der Gesellschaft, Wiesbaden 22012, S. 107.

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|     Einleitung: Was ist Jüdische Kunst?

Eine der frühesten Erwähnungen des Begriffs „Jüdische Kunst“ findet man in den Aufzeichnungen von Johann Joachim Winckelmann. In seinem Werk Geschichte der Kunst des Altertums zeichnete Winckelmann in den Jahren 1762–68 die Entwicklung der Kunst altertümlicher Völker anhand der noch erhaltenen Kunst- und Bauwerke nach. In dem Abschnitt „Die Kunst der Ägypter, Phönizier und Perser“ geht der Autor kurz auf die „Kunst unter den Juden“ ein.4 Darin stellt er fest, dass es eine Kunst der Juden gegeben haben müsse, da der babylonische König Nebukadnezar bei der Plünderung des Tempels in Jerusalem zahlreiche Kunstwerke mitgenommen haben soll.5 Zu der Zeit Winckelmanns war allerdings so gut wie nichts spezifisch „Jüdisches“ an Kunstwerken mehr in der Region übrig geblieben.6 So hält der Autor fest, dass die Juden womöglich durchaus einen Sinn für Ästhetik und Kunst gehabt hätten, dafür aber Fremde mit der Fertigung beauftragten.7 Nach nur wenigen Worten schließt Winckelmann seine Beobachtungen mit dem Hinweis auf das biblische Bilderverbot und folgert daraus, seiner Zeit entsprechend, dass die Juden selbst keine nennenswerte Kunst hergestellt haben dürften. Winckel­manns Zusammenfassung der Jüdischen Kunst ist so kurz wie bemerkenswert für die Kunstgeschichtsschreibung, da diese sich in ihren Grundzügen bis heute nicht verändert hat. Charakteristisch für die Betrachtung der Kunst der Juden ist: 1. der Blick auf das zweite Gebot „Du sollst dir kein Bild machen“ (2. Buch Mose 2,4–5; 5. Buch Mose 5,8–9) 2.  die Frage nach dem Auftraggeber bzw. Urheber der Kunst und 3. die Positionierung der Juden in einen ästhetischen und künstlerischen Zusammenhang mit anderen Völkern/Nationen/Gemeinschaften. Die oben genannten Kriterien gelten nicht für das Kunstwerk, sondern für den Künstler. Der Rückschluss vom Künstler/Urheber als Juden auf das Kunstwerk gestattete die Definition eines „jüdischen“ Kunstwerks. Dieser religiös konnotierte Ansatz erlaubte den Kunsthistorikern der ersten Stunde das Einbeziehen des Tempelbaus aus dem Alten Testament in den Werkekanon, obwohl der Bau selbst nicht mehr existierte. Ein literari-

4 Winckelmann, Johann Joachim, Geschichte der Kunst des Alterthums, Erster Theil, Dresden 1764, S. 72 f. (Online-Ausgabe, Heidelberger historische Bestände – digital: Quellen zur ­Geschichte der Kunstgeschichte, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/winckelmann1764/0122, Stand 17. 0 4. 2017). 5 2. Buch der Könige, 25,8–21., siehe Zunz, Leopold (Red.), Thora. Die vier und zwanzig [sic] Bücher der Heiligen Schrift. Nach dem masoretischen Texte, übers. v. Hermann Arnheim, Julius Fürst, M. Sachs, Berlin 1838, S. 373–374 (digitale Ausgabe der Österreichischen Nationalbibliothek, http://data.onb.ac.at/ABO/%2BZ20692270X, Stand 17. 0 4. 2017). 6 Edward Robinson identifizierte erstmals 1852 auf seinen Reisen durch Palästina einige ­Ruinen als Synagogen. Vgl. Robinson, Edward, Neuere biblische Forschungen in Palästina und angrenzenden Ländern. Tagebuch einer Reise 1852, Berlin 1857, S. 91 f. und 95 f. (Hathi Trust Digital Library, https://­babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=nnc1.0021772177;view=1up;seq=5, Stand 17. 04. 2017); Künzl, Hannelore, Jüdische Kunst. Von der biblischen Zeit bis in die Gegenwart, München 1992, S. 8. 7 Winckelmann (1764), S. 72.

Die Bedeutung der Jüdischen Kunst für die Disziplin der Kunstgeschichte     |

sches Werk, also das Alte Testament, konnte damit das älteste und wichtigste Werk der bildenden Kunst der Juden werden. Der gemeinsame und für die Einordnung wichtigste Nenner der nationalen Zugehörigkeit war damit erfüllt.

Die Bedeutung der Jüdischen Kunst für die Disziplin der Kunstgeschichte Die ursprünglich christlich geprägte Wissenschaft der europäischen Kunstgeschichte, die ihren Anfang in der Neuzeit nahm und sich erst im 19. Jahrhundert zu einer universitären Disziplin entwickelte, vernachlässigte zu Beginn den Begriff „Jüdische Kunst“, wie Winckelmann ihn prägte, da dieser sich ausschließlich auf die Kunst des Altertums, also auf wenige antike Synagogenbauten und eventuell auf Grabsteine, bezog. Für die Entwicklung der Disziplin waren diese Werke eher von geringer Bedeutung. Darüber hinaus unterstellte man den Juden grundsätzlich, aufgrund des zweiten Gebots keine Kunst zu schaffen. Daraus entwickelte sich rasch die Annahme, die Juden seien für Kunst nicht empfänglich und deshalb auch nicht in der Lage, künstlerisch tätig zu sein. Mit der Differenzierung der Geschichts- und Kunstgeschichtsschreibung wurden die Epochen­ periodisierung und der Stilbegriff im Lauf der Zeit immer weiter geschärft. Der Fokus lag auf der Systematisierung und Einordnung der Kunstwerke. Als solche wurden dabei vor allem seit der Frühen Neuzeit auch Erzeugnisse des Kunsthandwerks definiert. Einzelne Werke als antike Jüdische Kunst zu klassifizieren, fiel den Forschern leicht, da es sich dabei um alles handelte, was das jüdische, vor allem das religiöse jüdische Leben betraf. Durch die Isolation der Juden Europas als Gruppe war auch die sogenannte „Kunst der Juden“ in späteren Jahrhunderten vermeintlich leicht erkennbar. In erster Linie zählten dazu die Judaica, Sammlungen jüdischer religiöser Kultgeräte, Schriften und Dokumentationen über Synagogenbauten und Grabsteine aus vergangenen Jahrhunderten. Die Judaica nahmen den größten Teil der „jüdischen Kunstwerke“ ein, da Jüdische Kunst in einer Zeit vor nationalen Definitionen von Bevölkerungsgruppen vor allem religiös konnotiert war. Es ist interessant, dass die als ‚jüdisch‘ klassifizierten Kunstwerke trotz ihrer geringen Bedeutung für die allgemeine Kunstgeschichtsschreibung seit Winckelmann regelmäßig Erwähnung fanden. Die christlich-religiösen Wurzeln der Kunstgeschichte werden dafür einen Antrieb gegeben haben. Eine Betrachtung des Christentums ohne die Berücksichtigung des Judentums war schlicht unmöglich. Somit spielte das Judentum in kulturhistorischer Hinsicht zunehmend auch für Christen eine bedeutende Rolle, war jedoch von Grund auf abzulehnen. Hinter den Theorien und Fragen nach den künstlerischen Fähigkeiten der Juden steckten oftmals Versuche, die Juden als Gruppe zu definieren, zu isolieren und zu diffamieren. Und doch resultierte der Versuch, die Jüdische Kunst anhand ihres jüdischen Urhebers zu definieren, in einem gegenteiligen Effekt: Mit der Annahme eines jüdischen Künstlers als ‚Urheber‘ wurde die Unterstellung einer künstlerischen Unfähigkeit entkräftet. Und so drehte sich die Forschung um diesen Begriff immer wieder im Kreis. Diese Auseinandersetzungen fanden außerhalb der

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|     Einleitung: Was ist Jüdische Kunst?

­ blichen jüdischen Siedlungsgebiete in Ost- und Westeuropa und unter geringer Beteiliü gung jüdischer Gelehrter selbst statt. Das 19. Jahrhundert war dennoch entscheidend für die Kunst und Kultur der europäischen Juden. Seit dieser Zeit lassen sich Künstlerbiografien ausmachen, die sich nicht nur auf Zuschreibungen Dritter beziehen. Es existieren Quellen, in denen sich Künstler zu ihrer Kunst und ihrer Positionierung zur Jüdischen Kunst äußern. Die Auseinandersetzung der Künstler mit dem Einfluss ihrer Herkunft auf ihre Werke gilt als absolute Voraussetzung und Rechtfertigung für die Zulassung des Begriffs „Jüdische Kunst“ in der Kunstgeschichtsschreibung. Im 20. Jahrhundert fand diese Entwicklung unter dem Eindruck der europäischen Avantgarde ihren Höhepunkt.

Historische Einordnung Zur historischen Basis sei zunächst vorweggenommen, dass das 19. Jahrhundert sowohl für Europa im Allgemeinen als auch für die jüdische Bevölkerung Europas eine Zeit der Veränderung und der Modernisierung war. Sowohl die jüdische Aufklärung und die damit zusammenhängende Entstehung der jüdischen Emanzipation als auch der Zionismus fallen in diese Zeit. Das 19. Jahrhundert brachte notwendige Veränderungen innerhalb der Gesellschaft, Politik und Kultur mit sich, um den Juden die ersten Schritte aus der Isolation zu ermöglichen. Die besagte Emanzipation der Juden in Europa und besonders in Deutschland gab zahlreiche neue kulturelle Impulse innerhalb des Judentums, sodass es zu einer Modernisierung der sonst stark traditionalistischen und religiös geprägten jüdischen Gesellschaft kommen konnte. Es ging dabei weniger um eine Loslösung vom Judentum als Religion, sondern eher um eine inhaltliche Umorientierung. Während die Mehrheitsgesellschaft von den Juden meist Anpassung und Assimilation erwartete, zeigt die Geschichte deutlich, dass sich die Juden umso stärker mit ihrer Rolle innerhalb der Gesellschaft auseinandersetzten, je mehr sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben durften und sich in Kultur und Wissenschaft einbringen konnten. Gründungen von Organisationen wie dem Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden8 1819 in Berlin oder der Ethnographisch-historischen Gesellschaft9 1908 in Sankt Petersburg, um nur zwei zu nennen, sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Diese Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, Kultur und gesellschaftlichen Stellung beeinflusste 8 Vgl. Graetz, Michael, Renaissance des Judentums im 19. Jahrhundert – „Der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ von 1819 bis 1824, in: Jersch-Wenzel, Stefi; Awerbuch, Marianne, Bild und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik. Beiträge zu einer Tagung [die 1988 in Berlin stattfand, Anm. d. Verf.], Berlin 1992, S. 211–227, hier S. 215, 226 f. 9 Näheres zur Ethnographisch-historischen Gesellschaft und deren berühmtestem Mitglied S. ­A n-sky und seinen Ideen und Expeditionen in den Ansiedlungsrayon zur Sammlung folkloristischer Kunstgegenstände, fotografischer Dokumentationen der Lebensweise der osteuropäischen Juden sowie alter Denkmäler, Friedhöfe und Synagogen findet sich u. a. bei Safran, Gabriela; Zipper­ stein, ­Steven J. (Hg.), The Worlds of S. An-sky. A Russian Jewish Intellectual at the Turn of the Century, ­Stanford 2006; und Avrutin, Eugene M. et al. (Hg.), Photographing the Jewish Nation. Pictures from S. ­A n-sky’s Ethnographic Expeditions, Waltham 2009.

Zielsetzung der Untersuchung     |

auf direktem Wege das Verständnis für die Kunst. Die Gründung des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden legte den Grundstein für den Versuch einer Verbürgerlichung der Juden in Deutschland. Dieser Verein kümmerte sich hauptsächlich um die Aufarbeitung literarischer Quellen aus dem Hebräischen, die nun – erstmals nicht aus religiöser Sicht – als Kunstwerke definiert und untersucht wurden. Man bemühte sich um ein europäisches Kunstverständnis innerhalb des Judentums. Die Kunstwerke eines Maurycy Gottlieb, eines Max Liebermann, eines Marc Chagall, El Lissitzky oder Chaim Soutine wären ohne diese kulturellen Entwicklungen nicht möglich gewesen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit jüdischer Kultur und Kunst wurde nicht zuletzt als Folge der Schoah in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um eine emotionale Komponente ergänzt. Neben der Geschichtsschreibung, die zunächst eine deutliche Fokussierung auf die Aufarbeitung der Vernichtung der europäischen Juden unter Vernachlässigung der Erforschung ihrer jahrhundertelangen Lebensweise erlebte, erfuhr auch die Kunstgeschichte eine Wende. Die Disziplin der Kunstgeschichte wurde in den USA im 20. Jahrhundert besonders von Exil-Forschern aus Europa geprägt, von denen viele Deutschland, Österreich und Frankreich bereits Anfang der 1930er-Jahre verlassen hatten. Diese, oft selbst Juden, betrachteten sich in vielerlei Hinsicht als Erben der europäischen Intellektuellen, die dem Nazi-Regime zum Opfer gefallen oder knapp entkommen waren.10 Nach dem Zweiten Weltkrieg wandten sie sich in ihren Forschungen auch der sogenannten Jüdischen Kunst der Moderne zu. Nach einer Bestandsaufnahme der Kunstwerke, die den Zweiten Weltkrieg in Europa überstanden hatten, sowie ihrer Interpretation nahm sich auch die westeuropäische und israelische Forschung in Jüdischen Museen und Universitäten dieser Aufgabe an.11 Die Gründe für solch eine Hinwendung mögen unterschiedlich gewesen sein und zwischen dem Wunsch nach Konservierung einer verlorenen Welt und einer Suche nach den Gründen für das Geschehene variieren. Die Kunstgeschichte wurde dadurch jedenfalls genauso beeinflusst wie die Disziplin der Geschichte. Es gilt heute, diese Wendungen zu berücksichtigen und zu hinterfragen.

Zielsetzung der Untersuchung Neben der Untersuchung der Definition und Bedeutung des Begriffs „Jüdische Kunst“ im kunsthistorischen Kontext verfolgt die vorliegende Arbeit das Ziel, jene kulturellen Errungenschaften innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu beleuchten, die zur Entwicklung eines selbstbewussten, explizit jüdischen Künstlers beitrugen. An die Wissen­schaft des Judentums im 19. Jahrhundert schließt sich die Bewegung der ­Jüdischen ­Renaissance, angeführt von Martin Buber, zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, die die durchaus 10 Soussloff, Catherine M., Introducing Jewish Identity to Art History, in: Dies. (1999), S. 1–12, hier S. 2, 9 f. 11 Künzl (1992), S. 13.

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|     Einleitung: Was ist Jüdische Kunst?

schwierige politische und gesellschaftliche Lage der europäischen Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem fruchtbaren Boden für ein neues kulturelles Selbstverständnis machte. Dazu instrumentalisierte und knechtete Buber regelrecht Künstler und Werke der Vergangenheit und Gegenwart für einen politischen Zweck. Spätestens dann, wenn Kunst und Politik aufeinandertreffen, wird der Begriff „Jüdische Kunst“ mit einem weiteren, neuen, nämlich politisch wirksamen Sinn aufgeladen. Nicht zuletzt deswegen spielt dieser Terminus auch in der Auseinandersetzung der beiden politischen Lager des Zionismus und des Jiddischismus eine tragende Rolle. Beide Lager beanspruchten eine Jüdische Kunst zur Bildungsvermittlung und als kulturellen Ausdruck, eine Kunst, die die jüdische Gemeinschaft zur Weiterentwicklung und zum Überleben benötigte. Während die Zionisten jedoch einen eigenen nationalen Boden als Voraussetzung für die Existenz einer Jüdischen Kunst betrachteten, bestanden die Jiddischisten auf den Erhalt und die Pflege einer in der Diaspora gewachsenen Kultur. Den Kampf, den die beiden Lager um ihre Anhänger führten, lässt sich in den Werken der bildenden Kunst der Zeit und der beteiligten Künstler nicht verfolgen. Es war kein Diskurs um einen künstlerischen Stil, Ästhetik oder Formen, sondern eine politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung, die in der Kunst selbst eine nachrangige Rolle spielte. Auch die Kunstgeschichtsschreibung trug zur nationalen Bildung bei. Obwohl zahlreiche Überblickswerke über jüdische Künstler im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind, ist darin nur selten von moderner oder zeitgenössischer Jüdischer Kunst die Rede. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 wird der Begriff in der Beschreibung und Interpretation der Werke durch die Betrachtung im Zusammenhang mit einer neuen israelischen Kunst verdrängt. Man ist verleitet zu denken, dass hier im Buber’schen Sinne die alte, isolierte Jüdische Kunst durch eine neue, blühende und starke „Israelische Kunst“ ersetzt wird. Die Vernachlässigung des Begriffs „Jüdische Kunst“ in der Betrachtung der modernen Kunst israelischer Künstler ist jedoch weniger ein Zeichen einer zionistisch-nationalen Identität, sondern zeigt vielmehr die Schwäche des Begriffs für eine wissenschaftlich sinnvolle Kunstbetrachtung einer aufgeklärten modernen Gesellschaft auf. Bei der Untersuchung Jüdischer Kunst sind daher beide Seiten, die historische wie die moderne, in der Beziehung zwischen Künstler und Werk zu betrachten. Es ist nicht nur wichtig, nach einer ikonografischen und ikonologischen Interpretation, der thematischen Ausrichtung oder einem kulturellen Einfluss der jeweiligen Kunstwerke zu fragen. Es ist überdies nicht zu vernachlässigen, dass der Künstler auch einen Teil seiner Identität in den Werken abbildet. Künstlerbiografien, die in den Kanon der europäischen Kunstgeschichte aufgenommen wurden, bilden die Entwicklung und die Beziehung zu ihren nichtjüdischen Kollegen genau ab. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich daher auf die Suche nach dem „Jüdischen“ in der Kunst und stellt das eine Element, das die Kunst jüdischer Künstler vermeintlich von Werken, die nicht als solche eingeordnet werden, unterscheiden soll, infrage. Die These dieser Arbeit ist, dass Jüdische Kunst ein konstruierter Begriff der kunsthistorischen, aber auch geisteswissenschaftlichen Forschung ist,

Methode der Untersuchung – Kunstwerke und Künstlerbiografien     |

der dazu dient, von Juden geschaffene Kunstwerke vor allem im Zeitraum zwischen den 1880er- und 1930er-Jahren als solche zu klassifizieren. Der Begriff hat sich seit Johann Joachim Winckelmanns Untersuchungen antiker Kunstwerke nicht verändert. Doch der Inhalt und die übertragene Botschaft des Begriffs entwickelten sich weiter. Was früher zur Isolation und Ablehnung diente, wird im 20. Jahrhundert zur späten Anerkennung und Identitätsbildung benutzt. Der Methode und Systematik der Zuschreibung dieses Begriffs durch Dritte versucht diese Arbeit ebenfalls nachzuspüren.

Methode der Untersuchung – Kunstwerke und Künstlerbiografien Die Kunstgeschichtsschreibung der Jüdischen Kunst kennt zahlreiche Künstlerbiografien. Der Fokus der Monografien liegt vor allem auf europäischen – ost- und west­euro­ päischen gleichermaßen – Künstlern, die sich um die Entwicklung der modernen Kunstbewegungen Europas verdient gemacht haben. Während die meisten Überblickswerke eher einen Kanon der Juden in der Kunst seit der Antike bis heute eröffnen, ist es für eine wissenschaftliche Betrachtung des Themas notwendig, übergeordnete, inhaltliche oder methodische Thesen an bestimmten Beispielen zu belegen. Für die vorliegende Untersuchung bietet es sich an, den Rahmen anhand zweier herausragender Künstlerpersönlichkeiten zu definieren: Max Liebermann (1847–1935) und Marc ­Chagall (1887–1985). Beide gehören zu den wichtigsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Die Beschreibung und Untersuchung einzelner Werke der beiden Maler sollen hier exemplarisch aufzeigen, wie die Künstler selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihrer west- bzw. osteuropäisch-jüdischen Herkunft im Zusammenhang mit ihrem Kunstschaffen und ihrem Einfluss auf die Kunst der klassischen Moderne umgegangen sind und wie die moderne und zeitgenössische Kunstgeschichtsschreibung mit ihnen und ihrem Schaffen umging. Die beiden Künstler-Titanen gehörten, obwohl sie sich sogar einmal begegneten, zwei verschiedenen Generationen und unterschiedlichen Kulturkreisen von Künstlern an. Beide als Juden geboren, gingen sie sehr unterschiedlich mit ihrer Abstammung um. Doch haben sich beide auch mit dem Judentum in der Kunst auseinandergesetzt. Angesichts des Wissens um die Beschäftigung der Künstler mit ihrer jüdischen Identität liegt die Vermutung nahe, Chagall und Liebermann könnten deutlich lesbare Elemente in ihr künstlerisches Vokabular aufgenommen haben, die die Werke besonders jüdisch erscheinen lassen. Diese Erwartung wird in zahlreichen Publikationen, Besprechungen und Interpretationen der Œuvres jüdischer Künstler impliziert. Der Ansatz ist allerdings irreführend, da es nicht die künstlerisch-stilistischen Mittel sind, die das Jüdische in der Kunst ausmachen, sondern der größere Zusammenhang, in dem der Künstler eine Position zu seiner jüdischen Herkunft einnimmt. Das Verhältnis zwischen dem Künstler, seinem Werk und dessen öffentlicher Rezeption kann hier den entscheidenden Hinweis geben. Max Liebermanns säkulares und bürgerliches Selbstverständnis sowie seine Unkenntnis der jüdischen Tradition verwehrten ihm den einfühlsamen und beinah zärtlichen Ausdruck einer Synagogenszenerie eines Maurycy Gottlieb. Der Mangel

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|     Einleitung: Was ist Jüdische Kunst?

an emotionaler Verbundenheit führte zu formalen Fehlern in der Ikonografie. Nichts­ destotrotz wird Liebermann bereits zu Lebzeiten als jüdischer Künstler wahrgenommen. Dabei ist das Jüdische an ihm und vor allem an seinen wenigen biblischen Darstellungen einzig die fehlende christliche Prägung, die sich durch mangelnde Berührungsängste mit den Figuren und der Materie manifestierte. Marc Chagall dagegen scheint auf den ersten Blick einen ganzen Fundus an jüdischen Elementen in seinen Bildern zu be­­nutzen. Die Figuren, die Sterne, die Kleidung, die Kultgeräte und nicht zuletzt die hebräischen Buchstaben assoziiert der Betrachter bis heute mit einem jüdischen Städtchen, dem Stetl. Dabei sind es möglicherweise gar nicht die einzelnen Symbole, die in uns die Assoziation wecken. Chagall wiederholte die Motive vielfach und verband sie mit einer jüdischen, literarisch tradierten Geschichte. Er selbst war es, der die Erklärungen und die Lesart seines Œuvre in zahlreichen Schriften und Vorträgen prägte. Es ist also denkbar, dass unsere heute scheinbar logische Sehgewohnheit, die Chagalls Bilder in die Tradition Jüdischer Kunst einordnet, vom Künstler selbst entwickelt und durchgesetzt worden ist. Die Kunstwerke erscheinen vor dem Hintergrund der jüdischen Identität ihres Urhebers in einem anderen Licht. Diese Arbeit versucht daher, den spezifisch jüdischen Hintergrund der Jüdischen Kunst am Beispiel Max Liebermanns und Marc Chagalls heraus­zuarbeiten.

Ausblick auf die Untersuchungsergebnisse Die vorliegende Untersuchung wird aufzeigen, dass der Begriff „Jüdische Kunst“ kein Genre und keine künstlerische Gattung, sondern eher eine bestimmte zeitliche ­Epoche europäischer Kunstgeschichtsschreibung bezeichnet. Ihm ist auch keine bestimmte Ikonografie zuzuordnen, die sich nicht auch in Werken nichtjüdischer Künstler wiederfinden ließe. Es wird allerdings deutlich, dass der Terminus ein Erbe der europäischen Kultur­geschichte ist und die Auseinandersetzung der christlichen, später aufgeklärten und akademisch geprägten Gesellschaft mit dem Judentum im Allgemeinen wider­ spiegelt.12 Jüdische Kunst ist im klassischen kunsthistorischen Sinne ikonologisch: Ein Werk wird nur im Zusammenhang mit außenstehenden Elementen wie der Biografie eines Künstlers, einem Ausstellungsthema oder zum Zwecke einer historischen oder soziologischen Zuordnung dieser zugewiesen. Die Betrachtung einzelner Schlüsselwerke von Max Liebermann und Marc Chagall zeigt auf, dass zwei Blickrichtungen auf das Schaffen der Künstler existieren. Ein „innerer“ Blick aus der Perspektive des Künstlers und ­seiner Umgebung erlaubt unter Berücksichtigung biografischer Angaben, Werke der ­gleichen Schaffensperiode und Aussagen der Maler eine Einschätzung über 12 Catherine Soussloff schreibt in der Einleitung zu dem von ihr 1999 herausgegebenen Band Jewish Identity in Modern Art History, dass sie mit dem Werk auf der Suche nach der Position des jüdischen Themas in der Kunstgeschichte und dessen Manifestation im kunsthistorischen Diskurs sei, denn die jüdische Identität könne in der Kunstgeschichte gespiegelt worden sein, Soussloff (1999), S. 3.

Ausblick auf die Untersuchungsergebnisse     |

Vorkenntnisse, Motive und Einflüsse, die im Bild umgesetzt wurden. Berichterstattungen der zeitgenössischen Kritiker sowie die heutige Forschungsliteratur über die beiden Künstler und die Werke geben wiederum einen „äußeren“ Blick aus der Perspektive des Betrachters, eines Außenstehenden, auf die Werke und die Künstler wieder. Dort ­drücken sich bei einer Zuordnung zur Jüdischen Kunst oftmals Vermutungen und Konstruktionen über die Einflüsse der jüdischen Abstammung der Künstler aus, die die Forscher in den Kunstwerken zu sehen glauben. Nach einer Vorstellung des umfangreichen aktuellen Forschungsstands zum Thema widmet sich die Untersuchung zunächst der Entwicklungsgeschichte des Begriffs „Jüdische Kunst“. Die historische Faktenlage für Ost- und Westeuropa des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wird so weit angeschnitten, wie es für das Verständnis der sozialen, politischen und kulturellen Umstände der Zeit vonnöten ist. Die Entwicklungen in Ost und West vollzogen sich unterschiedlich und setzten damit verschiedene kulturelle und künstlerische Prozesse in Gang. Wie sich diese auf die Kunst jüdischer Künstler auf beiden Seiten auswirkten, wird besonders an den Beispielen von Max Liebermann und Marc Chagall gezeigt werden.

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FORSCHUNGSSTAND

Die für die vorliegende Untersuchung benutzte Literatur lässt sich grob in vier Typen unterteilen: Quellen, Überblickswerke, auf einzelne Themen wie die Geschichte der Juden in Europa und die jüdische Kultur eingehende Forschungsliteratur sowie Künstlermonografien. Zusätzlich stellen Ausstellungskataloge aktuelle wissenschaftliche Ergebnisse vor. Dabei sind die Grenzen der erwähnten Typen bei Ausstellungskatalogen eher fließend, da sie ebenfalls einen Überblick über den Begriff bieten oder darin Originalaufsätze von Künstlern abgedruckt werden.

Quellen Betrachtungen einer Kunst der Juden im Deutschland des 19. Jahrhunderts Die Geschichte des Begriffs „Jüdische Kunst“ ist eine Geschichte der Kunstgeschichtsschreibung und daher eigentlich eine Geschichte der Forschungsliteratur. Möchte man den Begriff der „Jüdischen Kunst“ weiter fassen, als es dessen Bedeutung im 20. Jahrhundert zuließ, und zählt man die kulturelle und religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Alten Testament hinzu, so wird man seit dem späten 18. Jahrhundert auf Untersuchungen über die antike Kunst sowie die Kunst aus biblischer Zeit und in den in der Bibel erwähnten Gebieten stoßen, die explizit Bezug auf „die Juden“ nehmen.1 Der Zusammenhang ergab sich u. a. durch zahlreiche archäologische Funde im Laufe des 19. Jahrhunderts,2 die sich bis in die biblische Zeit zurückdatieren ließen 1 Neben den Beschreibungen Winckelmanns in Winckelmann (1764) sei als Beispiel einer klassischen Betrachtung das Kapitel „Kunst der Israeliten“ im kunsthistorischen Standardwerk Franz Kuglers aus dem Jahr 1848 erwähnt, vgl. Kugler, Franz Dr., Handbuch der Kunstgeschichte, mit Zusätzen von Dr. Jac. Burckhardt, Stuttgart 21848 (Online-Ausgabe Universitätsbibliothek Paderborn, http://digital.ub.uni-paderborn.de/ihd/content/pageview/1224067, Stand 17. 0 4. 2017), S. 79–86. Darin beschrieb Kugler hauptsächlich und sehr ausführlich die Prachtbauten der jüdischen Könige Salomon und Herodes mit dem Fokus auf dem Tempel in Jerusalem. Als Quelle bediente er sich der biblischen Texte (1. Buch der Könige, Kap. 6,1–7,51, vgl. z. B. Zunz [1838], S. 319–322). 2 Jarassé, Dominique, Existe-t-il un art juif?, Paris 2006, S. 14. Als ein frühes Beispiel der Beschäftigung mit der antiken jüdischen Kunst auf der Grundlage archäologischer Funde sei z. B. der 1858 in Paris herausgegebene Band Histoîre de l’art judaïque. Tirée des textes sacrés et profanes des Archäologen und Numismatikers Félicien de Saulcy erwähnt; vgl. dazu Jarassé (2006), S. 29–38.

Quellen     |

und damit eine Beschäftigung mit der Bibel als historischer Quelle beanspruchten. Doch es kam auch ein anderes Phänomen hinzu. Im Zuge nationalistischer Bemühungen der Kunst- und Geschichtsschreibung, vor allem in Deutschland, um die Definition einer traditions­reichen, mächtigen, überlegenen Nation, suchte man diejenigen Völker der Menschheitsgeschichte auf ihr Wesen zu untersuchen, die als solche in die Geschichte eingegangen waren. Erst an dieser Stelle wurde eine Systematisierung der Kunst nach „ägyptischer“, „griechischer“ und „römischer“ Kunst usw. für die Forschung interessant.3 Die zahlreichen Überblickswerke der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts sind für das hier vorgestellte Thema wenig relevant, da sie die Kunstwerke meist gar nicht als Zeugnis einer kontinuierlichen jüdischen Kultur ansahen. Die Verbindung zu der jüdischen Gemeinschaft der eigenen Zeit wurde nicht hergestellt. Wenn man sich um einen Kontext bemühte, dann oftmals aus antisemitischer Perspektive. Dabei wurden zwei Argumente für die Nichtexistenz einer Kunst der Juden besonders vorgebracht: Zunächst wurde angeführt, dass die Juden aufgrund des zweiten Gebots „Du sollst dir kein Bild machen“ gar nicht zur Kunst fähig seien. Sie seien daher eher ein Volk des Buches, also der Literatur und Poesie, als des Bildes.4 Als Nächstes wurde darauf verwiesen, dass jüdische Kunstwerke und Architektur ein Sammelsurium von Elementen und Ornamenten benachbarter Völker aufgewiesen hätten.5 Die Übernahme von vorherrschenden ästhetischen Formen der Umgebung und der Nachbarn – in der Geschichte der Kunst im Allgemeinen eine natürliche Entwicklung – wurde in diesem Zusammenhang als ein Manko der künstlerischen Kreativität gewertet. Obwohl wenig bereichernd, ist die heutige Betrachtung dieser Forschungsliteratur dennoch wichtig, um die Methoden der Konstruktion einer kunsthistorischen Tradition zu erkennen. Die starke Verbindung der Disziplin der Kunstgeschichte mit dem Christentum erfordert zwangsläufig eine Auseinandersetzung der Forschung mit dem Judentum – auch wenn das Ziel die Abgrenzung und zugleich der Überlegenheitsbeweis auf allen Ebenen ist. Somit basiert die Beschäftigung mit der Kunst der Juden in der Antike nicht wie bei der Kunst der Griechen oder Römer auf den entdeckten Kunstwerken, sondern auf dem Wunsch, einerseits die Bibel als historische Quelle zu etablieren und andererseits Belege für die vorherrschenden Vorurteile über die Juden des 19. Jahrhunderts zu finden.

3 Eine detaillierte Entwicklung der deutschen Kunstgeschichtsschreibung im Zusammenhang mit den Bemühungen um eine nationale deutsche Kunstgeschichte lieferte Margaret Olin in ihrem Aufsatz „From Bezal’el to Max Liebermann“, in: Soussloff (1999), S. 19–40. 4 Olin (1999), S. 19 f. 5 Ebd., S. 26 f.

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Jüdische Kulturpublizistik des beginnenden 20. Jahrhunderts Basierend auf der jüdischen Emanzipationsbewegung des 19. Jahrhunderts, den Errungenschaften der Wissenschaft des Judentums sowie der sogenannten „Jüdischen Renaissance“ um 1900 entwickelte sich als Antwort auf die vorherrschende Kunstgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts auch ein reger Diskurs über eine neue jüdische Kultur und Kunst in der jüdischen Presse.6 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es vor allem jüdische Kulturzeitschriften, die aktuelle Tendenzen der jüdischen Kunst und ­Kultur präsentierten. Zu den bekanntesten und einflussreichsten Zeitschriften zählen vor allem das zweisprachige Rimon-Milgroim7 (hebräisch und jiddisch für „Granatapfel“), erschienen in Berlin in den Jahren 1922 bis 1924, das Texte sowohl auf Jiddisch als auch auf Hebräisch abdruckte. Darin präsentierten die Herausgeber, die Kunsthistorikerin Rachel Wischnitzer-Bernstein und ihr Ehemann Mark Wischnitzer, u. a. Berichte über die kulturhistorischen Expeditionen von Shlomo An-sky durch Osteuropa8, Stellungnahmen und theoretische Schriften zur Kunst von zeitgenössischen jüdischen Künstlern wie El Lissitzky, Henryk Berlewi oder Issachar Ber Ryback. Durch die Wahl der Sprachen suchten die Herausgeber und Autoren eine Annäherung zwischen den west- und osteuropäischen jüdischen Gemeinschaften. Eine weitere Zeitschrift, die viel Einfluss auf den Diskurs der jüdischen Ästhetik in den bildenden Künsten und der Literatur nahm, war Ost und West – Illustrierte Zeitschrift für das gesamte Judentum.9 Ebenfalls in Berlin zwischen 1901 und 1923 erschienen, bemühte sich die Publikation, die Beiträge zu den größten jüdischen Künstlern des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts wie Daniel Moritz Oppenheim (1800–1882), Samuel Hirszenberg (1865–1908), Maurycy Gottlieb (dort meist als Moritz bezeichnet) (1856–1879), Lesser Ury (1861–1931), Max Liebermann und vielen anderen veröffent6 Einen Überblick über den Diskurs einer neuen jüdischen Kultur in der Presse bietet Dmitrieva-­ Einhorn, Marina, Kunstdiskurs in der jüdischen Presse der Zwischenkriegszeit in Warschau, Kiev und Berin, in: Marten-Finnis, Susanne, Die jüdische Presse im europäischen Kontext 1686–1990, ­Bremen 2006, S. 247–266. 7 Rimon – Milgroim. A magazin of art and letters, hg. v. Rachel Wischnitzer-Bernstein u. Mark Wischnitzer, Berlin 1922–1924 (Online-Ausgabe im Rahmen des Digitalisierungsprojektes Compact Memory der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Gesamt­ bestand digital einsehbar und durchsuchbar unter http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/ periodical/­t itleinfo/4926100, Stand 17. 0 4. 2017). Siehe dazu außerdem u. a.; Hülsen-Esch, Andrea von; Aptroot, Marion, Jüdische Künstler in der Publizistik – Milgroym und Der Sturm, in: Dies., Jüdische Illustratoren aus Osteuropa in Berlin und Paris, Katalog zur Ausstellung 22. 09. –20. 10. 2008 in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, Düsseldorf 2008, S. 29–34. 8 Vgl. Avrutin (2009). 9 Ost und West. Illustrierte Zeitschrift für das gesamte Judentum, hg. v. Davis Trietsch u. Leo Winz, Berlin 1901–1923 (Online-Ausgabe im Rahmen des Digitalisierungsprojektes Compact Memory der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Gesamtbestand digital einsehbar und durchsuchbar unter http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/­ 2583875?query=ost%20und%20west, Stand 17. 0 4. 2017). Vgl. außerdem u. a. Herzog, Andreas, Ost und West. Jüdische Publizistik 1901–1928, Leipzig 1996.

Quellen     |

lichte, ein weltliches Verständnis für die Kultur der Juden in West- und Osteuropa zu fördern. Im Gegensatz zu Rimon erschien Ost und West ausschließlich auf Deutsch und zielte damit auch auf die nichtjüdische Leserschaft ab. Nach Ost und West stellte sich Menorah – jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur10 dieser Aufgabe. Das zwischen 1923 und 1932 in Wien erschienene Magazin war ebenfalls deutschsprachig und setzte sich für eine einheitliche jüdische Kultur ein, indem es u. a. Künstler wie Marc Chagall, Issachar Ber Ryback und Chaim Soutine beleuchtete. Die in den Zeitschriften erschienenen Beiträge stellen einen großen Teil der Quellen dar, die für ein besseres Verständnis der zeitgenössischen Sicht auf das Phänomen einer spezifisch jüdischen Kunst benötigt werden. Die Presse und die Kunstkritik bildeten nämlich nicht nur Tendenzen in der inhaltlichen und ästhetischen Breite ab, in der diese erschienen, sondern verfolgten mit der Auswahl der Themen, Künstler und Werke bestimmte Ziele, die zur Konstruktion einer jüdischen Kunsttradition, wie sie Martin Buber in seinem Werk Jüdische Renaissance begründete, beitrugen. Für die vorliegende Arbeit war die Presse nur dann interessant, wenn sie Kunstkritiken und Künstlerbiografien zu den hier zu besprechenden Künstlern oder Kunstwerken veröffentlichte. Wie sehr die Presse den Begriff „Jüdische Kunst“ prägte bzw. dessen Definition beeinflusste, wäre in einer separaten Untersuchung zu ergründen. Eines kann man aber sicherlich behaupten: Jüdische Kunst war im weitesten Sinne ein wichtiges Thema der Feuilletons der jüdischen Presse, die damit den Terminus bestärkte und verbreitete.11

Martin Bubers Texte zur Jüdischen Kunst Die vorliegende Arbeit untersucht die Entstehung und die Verwendung des Begriffs „Jüdische Kunst“ in der Kunstgeschichte. Zwei der wichtigsten theoretischen Texte zu diesem Thema sind Matin Bubers Vortrag beim V. Zionistenkongress in Basel 1901 und 10 Menorah – jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur, red. v. Friedrich ­Matzner, Wien 1923–1932 (Online-Ausgabe im Rahmen des Digitalisierungsprojektes Compact Memory der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Gesamtbestand digital einsehbar und durchsuchbar unter http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/­ titleinfo/­­2912821, Stand 17. 0 4. 2017); vgl. außerdem u. a. Gartner, Isabell, Menorah. Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur (1923–1932) – Materialien zur Geschichte einer Wiener zionistischen Zeitschrift, Würzburg 2009. 11 Einen Überblick über die Ziele der jüdischen Presse in Osteuropa bietet Susanne Marten-Finnis in ihrem Aufsatz „Die jüdische Presse in der osteuropäischen Diaspora: Eine Typologie“, in: Marten-­ Finnis, Susanne; Bauer, Markus (Hg.), Die jüdische Presse. Forschungsmethoden – Erfahrungen – Ergebnisse, unter Mitarbeit von Markus Winkler, Bremen 2007, S. 75–86. Darin zeigt sie auf, dass es bei der jüdischen Presse oft nicht nur um eine Zusammenstellung von Informationen für den Leser ging, sondern um einen Diskurs mit der Leserschaft sowie um Bildung und Erziehung. Darüber hinaus förderte die Presse durch die Sprachwahl eine nationale Identitätsbildung. All das spricht für einen feuilletonistischen Kontext, in dem auch Kunst eine Rolle gespielt haben kann.

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Bubers Einleitung zu der Publikation Jüdische Künstler von 1903. Beide Quellen stellen die Notwendigkeit heraus, eine neue jüdische Kultur zu bilden. Die Voraussetzung für diese neue, blühende Kultur war nach Buber ein eigener nationaler Boden. Ein eigener Staat und die Aufgabe der Diaspora seien unumgänglich, um eine neue jüdische Kreativität – ohne die Spuren und Narben der Verfolgung und Diskriminierung – entstehen zu lassen. Mit Martin Buber verbindet man auch den Begriff der „Jüdischen Renaissance“. In dem gleichnamigen Werk von 1900 schildert der Autor die Herausforderung, die Juden Europas in eine Zukunft zu führen, die frei von bitteren Erinnerungen ist. Erst wenn die Geschichte und das Ghetto hinter den Juden lägen, werde es möglich sein, das durch die Emanzipation des 18. und die Haskala des 19. Jahrhunderts entstandene Selbstverständnis der Juden in einer neuen Kultur, in einer modernen Nation aufgehen zu lassen. Der Aufbruch in eine neue Zeit sollte in der Tat eine Art Wiedergeburt des starken, stolzen antiken Juden nach modernen Maßstäben werden. Der Begriff „Renaissance“ war von Buber daher sorgfältig gewählt worden.

Künstlermonografien Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Jüdischen Kunst“ aus kunsthistorischer Perspektive erfordert die Beschäftigung mit ausgewählten Kunstwerken. Um dem Forschungsvorhaben gerecht zu werden, empfahl es sich, zwei signifikante Künstler hervorzuheben, die Vertreter verschiedener Kunstrichtungen und -verständnisse waren und gleichzeitig einen unterschiedlichen geografischen sowie kulturellen Background hatten. Über Max Liebermann und Marc Chagall wurde in den letzten hundert Jahren sehr viel geschrieben. Es wurden zahlreiche Künstlermonografien über beide Künstler zu ihren Lebzeiten und darüber hinaus verfasst. Außerdem waren sowohl Liebermann als auch Chagall in ihren Funktionen als Professoren und Akademieleiter sowie als politische Amtsträger selbst publizistisch tätig und haben sich mehrfach zur eigenen Kunst, zu modernen und abstrakten Kunstbewegungen sowie zu ihrem Verständnis von Kunst und Kultur geäußert. Diese Schriften sind wichtige Quellen für die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Œuvre. Zu den wichtigsten eigenen Werken zählt z. B. Max Liebermanns Aufsatz von 1916 Die Phantasie in der Malerei,12 in dem er die naturalistische Malerei über die aufkommende abstrakte stellte und als einzig wahre und als Grundlage für alle Kunst darstellte. Auch Marc Chagall hat zahlreiche Schriften und Briefe verfasst sowie Vorträge und Reden gehalten. Ein Werk, das bis heute zahlreiche Monografien über Chagall prägt, ist seine Autobiografie Ma vie aus dem Jahr 1922.13 Dabei handelt es sich um ein literarisches Werk zu Chagalls Leben, seiner Herkunft, Kindheit und Jugend sowie zu seiner Kunstentwicklung. Dieses Buch zeugt von Chagalls ­f rühem Bewusst12 Liebermann, Max, Die Phantasie in der Malerei. Schriften und Reden, hg. v. Günter Busch, Frankfurt a. M. 1978. 13 Chagall, Marc, Mein Leben, übers. v. Lothar Klünner, Stuttgart 1959.

Überblickswerke     |

sein um die besondere Darstellung seiner Künstlerpersönlichkeit, denn der Künstler war zu jenem Zeitpunkt gerade einmal 35 Jahre alt und erst vor kurzem einem breiteren Publikum bekannt geworden. Zahlreiche weitere Quellen der beiden Künstler sind in Künstler­monografien bzw. Werkbesprechungen und Ausstellungskatalogen erschienen. Dazu zählen insbesondere die von Franz Landsberger in Berlin herausgegebenen ­Siebzig Briefe Max Liebermanns aus dem Jahr 1937 und Benjamin Harshavs umfangreiche Quellensammlungen mit Chagalls Briefen und Reden in Marc Chagall on art and culture, including the first book on Chagall’s art by A. Efros and Ya. Tugendhold, Moscow 1918, erschienen in Stanford 2003, und Marc Chagall and his times. A documentary narrative aus dem Jahr 2004, ebenfalls in Standford erschienen. Auch wenn diese Zusammenstellungen nicht die vollständigen Dokumente und lediglich ausgewählte Schriften veröffentlichen, so geben sie doch einen tiefen Einblick in die Denkweise der Künstler sowie in ihre Auseinandersetzung mit ihrem Kunstschaffen und nicht zuletzt in ihre Künstlerpersönlichkeit.

Überblickswerke Die allgemeine Betrachtung der Jüdischen Kunst in einer chronologischen Abfolge hatte ihren Ursprung in den Bemühungen um die Sammlung und Konservierung jüdischer Kunstgegenstände in privaten und musealen Sammlungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Diese Zusammenstellungen von Architekturzeichnungen, Fotografien alter Grabsteine, aber auch von Originalkunstwerken wie Buchmalereien und Kultgeräten boten den Kunsthistorikern eine Grundausstattung an Werken, um einen Entwicklungsprozess verfolgen und beschreiben zu können. Zu den wichtigsten Überblickswerken zählten Ernst Cohn-Wieners 1929 in Berlin erschienene Zusammenstellung Die jüdische Kunst. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart sowie die 1935 ebenda verfasste Einführung in die jüdische Kunst von Franz Landsberger. Beide Autoren waren renommierte Kunsthistoriker und widmeten sich diesem Thema am Rande ihrer eigenen Forschungsschwerpunkte. Ein Beispiel für tonangebende Standardwerke zur Jüdischen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg ist die 1963/64 in Frankfurt am Main von Cecil Roth herausgegebene, zweibändige Schrift Die Kunst der Juden. Diese Monografien widmeten sich einer Geschichte der Jüdischen Kunst von der Antike bis zur Gegenwart, also bis ins 20. Jahrhundert. Mit ihnen wurde eine Tradition der Geschichtsschreibung der Jüdischen Kunst begründet, die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Bestand hatte, erkennbar beispielsweise an dem von Hannelore Künzl 1992 in ­München herausgegebenen Werk Jüdische Kunst. Von der biblischen Zeit bis in die Gegenwart. Diese Überblickswerke haben einen gemeinsamen Aufbau: Sie stellen eine vermeintlich einheitliche Jüdische Kunst von der Antike bis ins 20. Jahrhundert vor und betonen je nach Epoche unterschiedliche künstlerische Gattungen. In der Antike und im Mittelalter werden der Synagogenbau, die Friedhofsgestaltung sowie gelegentlich die Buchmalerei betrachtet. Die Frühe Neuzeit wird von der Porträtmalerei dominiert, und nach der Zeit

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der Emanzipation rücken auch einzelne Künstler und damit Malerei und Bildhauerei zunehmend in den Fokus der Untersuchung. Das Ziel ist stets, dem Leser vor Augen zu führen, dass Juden schon immer künstlerisch tätig waren und dass die Werke einen anerkannten Teil des europäischen Kunstgeschichtskanons darstellten. Das „jüdische“ Element in den Werken wurde betont, aber nicht weiter analysiert.14 Eine chronologische Abfolge von einem „Gestern“ zu einem „Heute“ suggerierte nicht nur eine künstlerische Tradition, sondern präsentierte eine Basis für ein künstlerisches „Morgen“ und damit einen Fortbestand einer jüdischen Kunst und Kultur. Die Begründung der Existenz einer Jüdischen Kunst erfolgt hier anhand von Vorstellungen „jüdischer“ Kunstwerke, was durchaus der klassischen Stilgeschichte entspricht. Die Definition der Werke als „jüdisch“ wurde allerdings hauptsächlich über die Zugehörigkeit des Werks zur jüdischen Alltagskultur (Synagogenbau, Grabsteine, Kultgeräte etc.) oder der Künstler zum Judentum bestimmt. Die Qualität der Kunstwerke war eher zweitrangig.15 Dennoch ist der Name hier Programm: Diese Überblickswerke begründeten eine Geschichtsschreibung der Jüdischen Kunst, die damit erst ihre Existenzberechtigung erhielt. Sie richtete sich besonders gegen die oben beschriebene Kunstgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und suchte die antisemitischen Behauptungen so eindeutig wie möglich zu widerlegen. Was Cohn-Wiener und Landsberger in ihren Schriften zur Jüdischen Kunst nicht erwähnten, waren die Kunstbewegungen und Auseinandersetzungen jüdischer Künstler mit diesem Thema in den 1920er- und 1930er-Jahren. Ihnen fehlte dazu wohl die für die Kunstgeschichte notwendige zeitliche Distanz. Deswegen spielt beispielsweise der Einfluss der Kultur-Lige in Osteuropa darin keine Rolle, und das, obwohl sie für zahlreiche Künstler, die zuvor noch eine „jüdische Form“ in der Kunst propagierten, von enormer Bedeutung war.16 Die Überblickswerke beschäftigten sich weniger mit dem Begriff der Jüdischen Kunst, denn dieser wurde darin nicht problematisiert. Auch wenn die Autoren meist zu Beginn der Werke durchaus die Frage nach der Existenz einer solchen Kunst stellten, sahen sie in der Fragestellung keinen Widerspruch zu der eigenen Unter­suchung. Unter „Überblickswerken“ sei an dieser Stelle die umfangreiche Forschungsliteratur aus dem Bereich der Jüdischen Studien zusammengefasst, die sich dem Begriff der 14 Alle erwähnten Autoren sprechen von Schwierigkeiten, eine genaue Definition für eine Jüdische Kunst zu finden, und verorten diese meist in einer bestimmten jüdischen Erfahrung, die im künstlerischen Schaffen offenbart wird. Siehe z. B. Landsberger, Franz, Einführung in die jüdische Kunst, Berlin 1935, S. 50 f. Cohn-Wiener, Ernst, Die jüdische Kunst. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1929, Neuausgabe mit einem Nachwort von Hannelore Künzl, Berlin 1995, S. 1–11; Roth, Cecil, Kunst der Juden. Jewish Art, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1963/64, Bd. 1, 1963, S.  13 f. 15 Ezra Mendelsohn, der mit zahlreichen anderen Forschern an einem jüdischen Literaturkanon gearbeitet hatte, sprach über eine Notwendigkeit eines solchen Kanons in der bildenden Kunst. Er empfand die Qualität der Kunstwerke ebenfalls als nachrangig und stellte die Reaktion der Kritiker und vor allem diejenige des Publikums als ausschlaggebend für die Aufnahme in den Kanon heraus, Mendelsohn, Ezra, On the Need for a Jewish Artistic Canon, in: IMAGES, Jg. 1, H. 1 (2007), S. 22 f. 16 Siehe dazu S. 116–132.

Ausstellungskataloge     |

Jüdischen Kunst aus der soziokulturellen und kunsthistorischen Perspektive zuwendet. Dazu zählen Standardwerke wie Richard I. Cohens Jewish icons. Art and Society in Modern Europe, Berkeley 1998, Matthew Baigells und Milly Heyds Complex identities. Jewish consciousness and modern art, erschienen in Brunswick, NJ 2001, Klaus Hödls Der virtuelle Jude. Konstruktionen des Jüdischen, erschienen in Innsbruck 2005, sowie Markus Helmut Lenharts Du sollst Dir ein Bild machen. Jüdische Kunst in Theorie und Praxis von David Kaufmann bis zur Kultur-Lige, erschienen in Innsbruck 2009, um nur einige zu nennen. Weitere Werke, die zur Grundlagenforschung zum Thema ge­­hören, sind ­Catherine M. Soussloffs Jewish identity in modern art history, erschienen in ­Berkeley 1999, Vivian B. Manns Jewish texts on the visual art, erschienen in ­Cambridge 2000, und Margaret Olins The nation without art. Examining modern discourses on Jewish art, erschienen in Lincoln 2001. Diese Liste ist nicht abschließend, denn die Forschung in Europa, in den USA und in Israel widmet sich seit Jahrzehnten unermüdlich der Beleuchtung der verschiedenen Facetten der Jüdischen Kunst von den Anfängen der Geschichtsschreibung bis heute.17 Die Grundtendenzen der Forschung flossen in die These und die Interpretationen der Kunstwerke der vorliegenden Arbeit mit ein und ermöglichten erst ihre Untersuchung.

Ausstellungskataloge Zahlreiche Ausstellungen zu einzelnen jüdischen Künstlern thematisieren die Problematik des Begriffs „Jüdische Kunst“ oder setzen den Künstler mit diesem Begriff in einen Kontext.18 Einige Ausstellungen widmen sich außerdem künstlerischen Bewegungen in Ost- oder Westeuropa, die von jüdischen Künstlern begründet und formuliert wurden. Kataloge zu diesen Ausstellungen präsentieren zusätzlich zu den ausgestellten Werken und Biografien zahlreiche Quellen in Form von Briefen, Manifesten und Artikeln. Hier seien einige besonders herausragende Kataloge erwähnt.19 Eines der wichtigsten Werke in diesem Zusammenhang ist der von Ruth Apter-Gabriel 1987 in Jerusalem herausgebrachte Katalog Tradition and Revolution. The Jewish Renaissance in Russian AvantGarde Art 1912–1928 zur gleichnamigen Ausstellung im Israel Museum im Juni 1987. Erstmals wurden darin englische Übersetzungen jiddischer Schriften von Künstlern wie Joseph Tchaikov und El Lissitzky veröffentlicht, die einen Einblick in die Selbstwahrnehmung jüdischer Künstler in und aus Osteuropa erlaubten. Ähnliches leisteten die Ausstellungskataloge Eine neue Kunst für ein altes Volk. Die jüdische Renaissance in ­Berlin 17 Siehe Literaturverzeichnis, S. 157 ff. 18 Z. B. beinhaltet der Katalog zur Ausstellung „Marc Chagall. Die russischen Jahre 1906–1922“ ein Kapitel Chagalls und das jüdische Kunstprogramm, Kasowski, Grigori (Hillel), Chagall und das jüdische Kunstprogramm, in: Vitali, Christoph (Hg.), Marc Chagall. Die russischen Jahre 1906–1922, Katalog zur Ausstellung, Frankfurt a. M. 1991, S. 53–59. 19 Bei der Zusammenstellung der Forschungsliteratur kann kein Anspruch auf Vollständigkeit er­hoben werden. Für eine ausführlichere Auflistung der relevanten Literatur siehe das Literaturverzeichnis.

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1900–1924, herausgegeben von Inka Bertz 1991 in Berlin, und The Berlin metropolis. Jews and the new culture, 1890–1918, herausgegeben von Emily D. Bilsky und Sigrid Bauschinger 1999 in Berkeley, für die Perspektive der Jüdischen Kunst aus westeuropäischer Sicht mit dem damaligen Kunstzentrum Berlin. Aber auch neuere Kataloge wie Das Recht des Bildes. Jüdische Perspektiven in der modernen Kunst anlässlich der Ausstellung im Kunstmuseum Bochum 2003, herausgegeben von Hans Günter Golinski und Sepp Hiekisch-Picard, und Die verborgene Spur. Jüdische Wege durch die Moderne, herausgegeben von Martin Roman Deppner 2008, stellen sich der Herausforderung, den Einfluss der jüdischen Kultur auf die Kunst der Moderne zu beleuchten. Durch ihre unmittelbare Anbindung an eine einem breiten Museumspublikum vorgestellte Ausstellung sind die Kataloge der letzten zehn Jahre ein Beleg für ein wachsendes Interesse der Museen, auch im Rahmen ihrer Vermittlungsarbeit das Thema „Jüdische Kunst“ und deren Einfluss auf die Moderne zu behandeln.

Lexikonartikel Die vorliegende Arbeit beleuchtet ausgewählte Kunstwerke von Künstlern jüdischer Abstammung. Der Frage, ob die religiös-kulturelle Herkunft des Künstlers allein das Wesen des Kunstwerks bestimmt, stellt sich die Forschungsliteratur seit fast hundert Jahren. Dabei wird meist pauschal von einer allgemeinen jüdischen Kultur ausgegangen, die offenbar alle jüdischen Künstler ungeachtet ihrer geografischen Herkunft, ihrer religiösen Frömmigkeit und ihres persönlichen Selbstverständnisses gemein haben sollen. Wie unterschiedlich ihre kulturelle Prägung je nach Herkunftsland und der Herrschaftsformen vor Ort war, wird an anderen Stellen dieser Arbeit beleuchtet. Es wurden allerdings Versuche unternommen, jüdische Traditionen für die Nachwelt festzuhalten. Um der Assimilationstendenz, die im Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts aufgrund von Verfolgung, Auswanderung und zunehmender Säkularisierung herrschte, entgegenzuwirken, widmeten sich zahlreiche zeitgenössische Wissenschaftler der Sammlung jüdischer Riten, Begriffe und Phänomene in Ost- und Westeuropa und fassten sie in Lexika, Überblickswerken und Handbüchern zusammen. Ein umfangreiches Lexikon kann dabei für die Arbeit des Kunsthistorikers eine wesentliche Hilfestellung zur ikonografischen Interpretation von Kunstwerken jüdischer Künstler geben. Als eine besonders wertvolle Quelle u. a. für die Interpretation des Werks Der zwölfjährige Jesus im Tempel (1879) von Max Liebermann erwies sich das mehrbändige Jüdische [...] Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, zwischen 1927 und 1930 herausgegeben vom „Jüdischen Verlag“ in Berlin. Die einzelnen dargestellten Elemente in der Kleidung und Architektur konnten im Jüdischen Lexikon nachgeschlagen werden und gaben Aufschluss darüber, welche Bedeutung sie zu Lebzeiten Liebermanns für die religiöse Szenerie des Bildes hatten. Man kann davon ausgehen, dass einem halbwegs frommen Menschen jüdischen Glaubens im Berlin der 1920er-Jahre die darin zusammengetragenen Definitionen bekannt waren. Bei Abweichungen der Darstellung

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von den Informationen im Lexikon kann man auf den Wissensstand des Künstlers über die religiösen Riten und Traditionen schließen. Dabei sind die Abweichungen bei Max Lieber­mann deutlich höher als beispielsweise bei Maurycy Gottlieb. Die Lexikonbeiträge erlauben dem Betrachter, den Künstler in seiner Sorgfalt gegenüber seinen Sujets genauer und objektiver einzuschätzen, als es die Künstler vermutlich durch eigene Zeugnisse getan hätten, und sind damit von unermesslichem Wert für eine wissenschaft­liche Auseinandersetzung mit dem Thema. Bei dieser Herangehensweise wird außerdem sichtbar, dass nicht alle Künstler jüdischer Abstammung per se den gleichen Wissensstand über die jüdische Religion und Kultur hatten. Es handelte sich eher um Kenntnisse, die man sich bei Interesse auch aneignen konnte. Die These, dass die kulturelle jüdische Abstammung des Künstlers dessen Kunstwerke zu „jüdischen“ Kunstwerken macht, wird durch diese Interpretationsweise immer weiter entkräftet. Eine weitere Zusammenstellung, die von besonderer Bedeutung für die vorliegende Arbeit war, ist die Sammlung jiddischer Sprichwörter von Ignaz Bernstein und ­Benjamin Segel Jüdische Sprichwörter und Redensarten, erschienen in Frankfurt am Main im Jahr 1908. Diese umfasst über 4000 jiddische Redewendungen aus Russland, Polen und ­Galizien, welche alphabetisch nach Schlagworten sortiert sind20 und damit die Suche nach bestimmten Gegenständen bzw. Elementen ermöglichen. In Ergänzung war auch Shirley Kumoves More words, more arrows. A further collection of Yiddish folk sayings, erschienen in Detroit 1999, sehr hilfreich. Diese wertvollen Lexika erlaubten besonders bei Werken von Marc Chagall ein besseres Verständnis von jüdischen literarischen Motiven sowie neue Interpretationsweisen von künstlerischen Sujets und ikonografischen Elementen. Dank dieser Quellensammlungen war es möglich, dem Begriff „Jüdische Kunst“ eine literarische Interpretationsebene hinzuzufügen.

20 Bernstein, Ignaz; Segel, Benjamin, Jüdische Sprichwörter und Redensarten, Frankfurt a. M. [u. a.] 1908 (Online-Ausgabe der Freimann-Sammlung der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/­t itleinfo/­­ 4014849, Stand 17. 0 4. 2017).

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SUCHE NACH DEM „JÜDISCHEN“ IN DER KUNST

Der Begriff der „Jüdischen Kunst“ ist komplex und nicht leicht zu definieren. Kunstwerke als „jüdisch“ zu bestimmen, erscheint für Kunsthistoriker als wenig zielführend, vor allem wenn es sich nicht um religiöse Kunst handelt. Aus religiöser Perspektive würden alle Werke mit alttestamentarischer Thematik als „jüdisch“ gelten müssen. Außerdem würden Gegenstände der jüdischen Liturgie und des jüdischen Alltags dazu zählen. Über diese Definitionskriterien hinaus gibt es kaum bestimmte kunstwissenschaftlich fundierte Merkmale, die solch eine Definition zuließen. Und dennoch ist der Begriff der Jüdischen Kunst im kunsthistorischen Kontext geläufig. Wie bereits angesprochen wurde, ist der Gesamtzusammenhang, in dem die Jüdische Kunst betrachtet werden muss, interdisziplinär und verfolgt das Ziel, die Geschichte und Kultur der Juden in Europa näher zu beleuchten und Antworten auf die Fragen zur Entwicklung einer bis heute kulturell komplexen Gemeinschaft zu finden. Nichtsdestotrotz ist der Anspruch an die Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin gegeben, ihren Beitrag bei der Suche zu leisten. Die Fragestellung, der sich die Kunstwissenschaft im Gesamtzusammenhang der Jüdischen Studien widmen kann, ist: Kann ein Kunstwerk „jüdisch“ sein oder als solches gelten? Die Antwort ist nicht einfach. Die Kunstgeschichte kennt schlicht keine Methode, um dies zu untersuchen. Die Suche nach einer eindeutigen Ikonografie läuft ins Leere, wenn der religiöse Zusammenhang entfällt. Um sich dieser Frage zu nähern, müsste also eine Definition des Jüdischen gesucht werden, die außerhalb der religiösen Zugehörigkeit liegt: Was ist das Jüdische im kunsttheoretischen und kulturell-säkularen Kontext? Verschiedene politische Bewegungen in Ost- und Westeuropa richteten im Rahmen der Suche nach einer jüdischen Identität in unterschiedlichen Phasen ihr Augenmerk auf Kunst und Kultur. Der Anspruch, eine gemeinsame Identität über die Kunst und kulturelle Tradition zu definieren, setzte eine überzeugende und massentaugliche Definition derselbigen voraus. Zwei Bewegungen widmeten sich besonders der Konstruktion kulturell-historischer Zusammenhänge zum Ziele einer gemeinschaft­ lichen Identitätsbildung: der Kulturzionismus und die Kultur-Lige. Beide Strömungen – in ihren politischen Grundsätzen sonst völlig gegensätzlich – setzten auf Bildung und kulturelle Erziehung als gesellschaftlichen Wert, den sie als Grundlage einer nationalen Gemeinschaft ansahen. Eine explizit jüdische Kunst bzw. „jüdische Form“ sollte dabei das entscheidende Instrument darstellen.

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Kulturzionismus Eine der wichtigsten Bewegungen für die Entwicklung des Begriffs der „Jüdischen Kunst“ im 20. Jahrhundert ist die sogenannte „Jüdische Renaissance“1. Diese Bewegung ging in die jüdische Geschichte als die größte und folgenreichste Entwicklung seit der Emanzipation der Juden ein und begründete in der Tat eine neue Epoche. Erst im Zuge dieser Bewegung bezeichnete Jüdische Kunst nicht mehr religiös bedingte Zeremonialkunst, sondern fasste die künstlerische Emanzipation und die Säkularisierung der europäischen Juden zusammen.2 „Jüdische Renaissance“ war eine kulturpolitische Idee im zionistischen Kontext. Sie sollte zur Konzeption einer politischen Bewegung beitragen, die die jüdische Kultur neu erfinden wollte. Unter dem Eindruck der nationalistischen Ideenentwicklungen des 19. Jahrhunderts in Deutschland, die zahlreiche Volksgruppen erfasste, wuchs auch unter den Juden Europas der Drang nach der eigenen nationalen Unabhängigkeit. Dieser Wunsch, in hohen intellektuellen Kreisen erblühend, setzte eine Änderung der Selbstwahrnehmung der Juden voraus. Das jahrtausendelang währende Selbstverständnis der Juden als eine vor allem Gott verpflichtete Gemeinschaft, deren Zusammenhalt in der Lehre der Thora und ihrer Bewahrung bestand, sollte nun säkularisiert werden. Die Juden sollten lernen, sich selbst als Volk und in letzter Konsequenz als Nation mit nationaler Selbstbestimmung zu empfinden. Jenes Selbstbewusstsein, gestärkt durch einen neuen Zusammenhalt, würde die lang ersehnte Abnabelung von den sogenannten „Wirtsvölkern“, unter denen die Juden in Europa so lange gelebt hatten, ermöglichen und eine noch nie da gewesene Kraft zur politischen Lösung der jüdischen Sehnsucht nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung durch die Gründung eines eigenen souveränen Staates auf dem Gebiet Palästinas freisetzen. So weit die hoch motivierte Ideologie des Zionismus. Das Kunstverständnis als Ausdrucksmittel des inneren Zustandes eines freien Menschen und der Gesellschaft, in der er lebt, sowie als Voraussetzung für ein schöpferisches Schaffen brachten die sogenannten Kulturzionisten auf den Plan. Als ein Zweig der zionistischen Bewegung mussten sie einige Überzeugungsarbeit leisten, warum ausgerechnet die F ­ örderung von 1 Heute verbindet man den Begriff „Jüdische Renaissance“ vor allem mit der politischen Tätigkeit ­Martin Bubers und der zionistischen Bewegung um Theodor Herzl um die Jahrhundertwende. Die Verbindung zwischen der Erneuerung des Judentums und einer säkularen Neudefinition der jüdischen Gemeinschaft im Zuge der jüdischen Emanzipation mit dem Verständnis einer „Wiedergeburt“ wird allerdings bereits von Aktivisten vor Buber hergestellt, siehe Kohn, Hans, Art. „­Renaissance, jüdische“, in: Herlitz, Georg; Elbogen, Ismar; Kirschner, Bruno (Hg.), Jüdisches Lexikon. Ein enzy­ klopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Königstein/Ts. 1987 (begründet von Georg Herlitz und Bruno Kirschner, red. von Ismar Elbogen [et al.], unter Mitarbeit von über 250 jüdi­schen Gelehrten u. Schriftstellern), Bd. 4,1 (Me–R) (Berlin 1930), Sp. 1418 f. (Online-­ Ausgabe der Freimann-Sammlung der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/pageview/365771, Stand 17. 04. 2017). 2 Lenhart, Markus Helmut, Du sollst Dir ein Bild machen. Jüdische Kunst in Theorie und Praxis von David Kaufmann bis zur Kultur-Lige, Innsbruck 2009, S. 81.

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Kunst und Kultur in dieser Anfangsphase nationaler Bestrebungen von so großer Bedeutung sein sollte.3 Um die Jahrhundertwende wurden zahlreiche Schriften zum Sinn und Zweck des jüdischen Nationalismus verfasst.4 Diese frühen zionistischen Texte vermittelten trotz verschiedener Definitionen und Vorstellungen, die insbesondere die Rolle und die Verbundenheit zur Religion unterschiedlich betrachteten, eine gemeinsame Aufbruchsstimmung. Die Rede war von einer „Wiedergeburt“ des jüdischen Volkes. Im Gegensatz zum politischen Zionismus, der die Umsiedlung der Juden in einen eigenen Staat zur endgültigen Beendigung der wirtschaftlichen Not und der gesellschaft­lichen Ablehnung voraussetzte, lehnte der Kulturzionismus dies zunächst ab. Abgesehen von den unüberwindbar erscheinenden logistischen und finanziellen Herausforderungen wurden hier vor allem die innere Versteifung der jüdischen Gemeinschaft und die Unterentwicklung ihrer allgemeinen Kultur als Probleme angesehen. Achad Ha’am,5 einer der Begründer des Kulturzionismus, sah den Untergang des Judentums voraus, solange ein geistiges jüdisches Zentrum in der Welt fehlte. Für ihn war das Problem der europäischen Juden kein ausschließlich wirtschaftliches, sondern eins des gesamten Judentums. Durch die erschwerten Lebensumstände in Europa, aber auch durch die Assimilation, die er wie viele Zionisten als eine Konsequenz der jüdischen Emanzipation ansah, wurde den Juden die Möglichkeit zum schöpferischen und gestalterischen Ausdruck kultureller Inhalte genommen. Achad Ha’am war zwar von einem bestimmten jüdischen künstlerischen Ausdruck überzeugt, den der jüdische Künstler gar nicht verhindern könnte, er wies jedoch gleichzeitig darauf hin, dass zu viele Inhalte aus dem Umfeld übernommen würden, was eine wahrhaft jüdische Kultur­schöpfung verhindere. Die Lösung Achad Ha’ams sah vor, die Einheit innerhalb des Judentums wieder zu stärken, und zwar durch die Förderung und Erziehung zu einer gemeinsamen jüdischen Kultur, die basierend auf den durch die Religion begründeten Traditionen und Werten entsprechend einem natio­nalen Gedanken weiterentwickelt werden sollte. Dafür wurde seiner Ansicht nach 3 Lenhart zeigt auf, dass für die meisten Zionisten vor allem die Lösung der wirtschaftlichen Umstände und die geografische Lage Vorrang hatten. Mit Kultur im Allgemeinen kamen sie bisher nur durch die Frage der Sprache in Berührung, Lenhart (2009), S. 81. Schmidt weist darauf hin, dass es aktiven Widerstand gegen die Aufnahme einer Kulturabteilung in das Programm des Zionismus durch die Weltweite Zionistische Organisation gab, da man den Ersatz der Rolle der Religion für das jüdische Volk durch den Aspekt der säkularen Kultur befürchtete (auch bei Lenhart [2009], S. 97 f.). Buber und Lilien argumentierten als Organisatoren der Kunstausstellung zum Kongress, dass es eine durch die umgebenden Einflüsse getränkte, „ungesunde“ jüdische Kultur bereits gäbe, und diese gälte es zu verändern, Schmidt, Gilya Gerda, The Art and Artists of the Zionist Congress, 1901. Herald of a New Age, New York 2003, S. 1. 4 Einer der führenden Denker des jüdischen Nationalismus war Simon Dubnow. In seinen Schriften ging er auf die Entwicklung von Stämmen über Völker zu Nationen und deren Bezug zu Spiritualität und territorialer Autonomie gleichermaßen ein. Dubnow, Simon, Nationalism and History. Essays on old and new Judaism, ed. with an introductory essay by Koppel S. Pinson, Philadelphia 1958. 5 Eigentlich Asher Ginzburg, geb. 1856 in Skvira, Ukraine, gestorben 1927 in Tel Aviv, siehe Zipper­ stein, Steven J., Art. „Ahad Ha-Am“, in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Online-­ Edition 27. Oktober 2010 (http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Ahad_Ha-Am, Stand 17. 0 4. 2017).

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ein geistiges Zentrum benötigt, das als geistige Autorität den Juden weltweit stets eine Orien­tierung bieten sollte, um den Verlust einer eigenen kulturellen Identität und damit der nationalen Verbundenheit zu vermeiden. Dieses Zentrum musste allerdings in ­Palästina sein.6 Der größte Widerspruch Achad Ha’ams gegenüber den politischen Zionisten war, dass er den Fortbestand der Diaspora befürwortete. So lehnte er einerseits die jiddische Sprache ab, erachtete deren Gebrauch für die Verbreitung des zionistischen Gedankenguts allerdings für notwendig. Das Umsiedeln der Juden nach Palästina hielt er dagegen für unwahrscheinlich. Daher forderte er, zumindest eine Richtung vorzugeben, um eine gemeinsame, über die Grenzen hinausgreifende jüdische Kultur zu formulieren. Seine wichtigsten Kampfmittel waren dabei Bildung, Erziehung und Hebraisierung.7 Trotz zahlreicher Diskussionen und Kritiken, die über die verschiedenen Richtungen und Ebenen des Zionismus geführt wurden, gab es eine Übereinkunft darüber, dass die Kultur für die jüdische Gemeinschaft Europas eine besondere Rolle spielen musste.8 Diese Einsicht war unumgänglich, wenn man bedenkt, dass die Gewichtung der Religion, die für Jahrtausende das Leben und den Zusammenhalt der Juden untereinander bestimmte, nun verlagert werden musste. Aus dem Umstand heraus, dass die Religion keinen Weg zum Erreichen politischer, sozialer und nationaler Ziele aufzeigen konnte, musste dieser elementare und bisher oft allgemeingültige Teil des jüdischen Lebens einen eigenen Platz innerhalb der jüdischen Gesellschaft zugewiesen bekommen. Moral und Werte, Bildung und Weltvorstellungen sowie das eigene schöpferische Potenzial sollten von nun an von der jüdischen Kultur vermittelt werden. Es war der zionistischen Bewegung somit gelungen, beide Lager – nämlich die politischen Zionisten und die Kultur­zionisten – zu vereinen. Das Ergebnis war der sogenannte „synthetische Zionismus“, der durch die Aufnahme der Grundidee des Kulturzionismus in das Programm der politischen zionistischen Bestrebungen entstanden war.9 Kultur und Kunst sollten von nun an als Erziehungsmittel eingesetzt werden, um ein nationales Selbstverständnis ohne Vernachlässigung der Religion zu stärken. Eine „Jüdische Renaissance“ beinhaltete damit nicht nur die Wiedergeburt eines antiken Volkes, sondern auch eine Neuentdeckung seiner Geschichte und seines seelischen Geistes zum Zwecke einer besseren Zukunft. Es ging allerdings weniger darum, an das Judentum der Antike anzuknüpfen oder gar zu den alten Zeiten zurückzukehren. Die Aufgabe bestand darin, die Menschen zu einer neuen schöpferischen Kraft zu führen. Sie sollten die Diaspora, die Vertreibungen, die Diskriminierung und Verfolgung, aber 6 Zu den wichtigsten Persönlichkeiten, ihren Ideen und ihrer Kritik aneinander siehe Holdheim, ­Gerhard; Preuss, Walter, Die theoretischen Grundlagen des Zionismus. Ein Leitfaden, Berlin 1919, S. 34; außerdem Lenhart (2009), S. 96 f. 7 Holdheim (1919), S. 35. 8 Lenhart (2009), S. 89. 9 Holdheim (1919), S. 36; Weltsch, Robert, Art. „Zionismus (Ideologie)“, in: Herlitz, Elbogen, ­K irschner ([1930] 1987), Bd. 4,2 (S–Z), Sp. 1577–1621, hier 1615 (Online-Ausgabe der Freimann-Sammlung der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, http://sammlungen. ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/pageview/366770, Stand 17. 0 4. 2017).

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auch die Emanzipation und die verkrustete Geistigkeit überwinden, um endlich wieder Freude und Beseeltheit als Bestandteil ihrer Kultur zu erleben. Der Religionsphilosoph Martin Buber, der mit dem Begriff der „Jüdischen Renaissance“ heute am meisten in Verbindung gebracht wird, formulierte es folgendermaßen: Die Bewegung, die in unserer Zeit anhebt, wird den Juden wieder dazu bringen, sich als Organismus zu fühlen und nach harmonischer Entfaltung seiner Kräfte zu streben, ins Gehen, Singen und Arbeiten so viel Seele zu legen wie in die Behandlung intellektueller Probleme, und eines gesunden und vollkommenen Leibes in Stolz und Liebe froh zu werden. Sie wird den Zwiespalt zwischen Denken und Tun, die Inkongruenz von Enthusiasmus und Energie, von Sehnsucht und Opfermut aufheben und die einheitliche Persönlichkeit, die aus e i n e r [Betonung des Autors] Willensglut heraus schafft, wiederherstellen. Sie wird Staub und Spinnweb des inneren Ghettos von unserer Volksseele abkehren und dem Juden den Blick ins Herz der Natur verleihen, ihn lehren, Bäume, Vögel und Sterne seine Geschwister zu nennen und an der Individualität aller Wesen seine eigene zu messen. Sie wird durch Erziehung eines lebendigen Schauens und durch Sammlung der schöpferischen Kräfte die Gabe jüdischen Malens und Meißelns entfalten und vor dem dunklen Tasten jungjüdischer Dichter die Feuersäule der Auferstehung einherwandeln lassen.10

Trotz der Aufbruchsstimmung in eine bessere Zeit scheint gerade das Leid eine Grundstimmung für die Kunst der neuen jüdischen Nation darzustellen.

Martin Bubers Texte zur Kunst – Vortrag beim V. Zionistenkongress in Basel 1901 und Einleitung zu Jüdische Künstler 1903 Martin Buber, in Wien geboren und bei seinen Großeltern in Lemberg aufgewachsen, war stark vom chassidischen Denken des 18. Jahrhunderts geprägt. Er erkannte besonders im Umbruch des orthodoxen Judentums durch den mystisch angehauchten, weniger dogmatischen, auf den ersten Blick menschenfreundlicheren und die steife Lehre durch einen lebensbejahenden Glauben ersetzenden Chassidismus den ersten Schritt in Richtung einer neuen jüdischen Kultur und den zarten Keim für das Potenzial einer eigenen Jüdischen Kunst. Die Betonung des Leides des jüdischen Volkes wurde trotz des Versuchs, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, zum Grundgedanken der Diskussion um die Gestaltung der jüdischen Zukunft. In seiner Rede auf dem V. Zionistenkongress in Basel im Jahre 1901 versuchte Buber, sein Anliegen einem breiten Publikum zu unterbreiten. Er erklärte, dass das Leben in der Diaspora, die er allgemein mit dem Begriff „Ghetto“ belegte, die Juden unempfänglich für kulturelle Impulse gemacht habe. Aufgrund der Isolation und der Unterdrückung ohne Möglichkeit zur eigenen kulturellen Entfaltung hätten sie verlernt, die Schönheit der Natur und des menschlichen Körpers zu erkennen. Man sei der Bildkunst gegenüber misstrauisch geworden. In seinen anfäng­ lichen Darstellungen und Beschreibungen bediente sich Buber eindeutiger Metaphern,

10 Buber, Martin, Jüdische Renaissance (1900), in: ders., Die jüdische Bewegung. Gesammelte Auf­ sätze und Ansprachen, Berlin 1920, S. 7–16, hier S. 15.

Martin Bubers Texte zur Kunst     |

die die jüdische Kultur mit einem ausgetrockneten Boden und einer verdorrten Landschaft verglichen.11

Konstruktion einer neuen Geschichte – Einleitung zu Jüdische Künstler In der Einleitung zu dem Buch Jüdische Künstler, das zwei Jahre nach dem oben erwähnten Kongress erschien und Passagen aus dem Manuskript des Vortrages von 1901 enthielt, beschrieb Buber zu Beginn den Juden des Altertums und dessen Bezug zur Kunst. Der Autor nannte darin den antiken Juden eher einen „Ohrenmensch als Augenmensch“12, der – bedingt durch seine wirtschaftliche, gesellschaftliche, aber auch klimatische Lage – die Anschauung des Gegenständlichen, der Natur vernachlässigte. Die Lebensbedingungen führten nach Buber zur Entstehung bestimmter „Rasseneigenschaften“, die jedoch keine fortwirkende Bedeutung hätten, sondern als Reaktion auf das gesellschaftliche Umfeld verstanden werden müssten.13 Dem folgten Ausführungen darüber, dass die Juden jener Zeit ein gegenstandsloses Auffassungssystem verinnerlicht hätten, das jegliche Beobachtung nicht als optische Wahrnehmung eines Dinges verarbeiten würde, sondern als Relation zur eigenen Existenz. Dadurch würde nicht nur der Gegenstand selbst negiert, sondern auch von seiner Form abstrahiert. Diese Indifferenz dem Gegenständlichen gegenüber sah Buber als Ursache für das fehlende Interesse an den bildenden Künsten: Durch die mangelnde Beschäftigung mit der Natur habe sich auch der Drang nach ihrer Nachahmung nicht entwickeln können. Die abstrakte Form der Kunstschöpfung, die unter diesen Bedingungen möglich und unabdingbar war, war seiner Ansicht nach die Lyrik. Gefühle konnten damit akustisch übermittelt werden, was eine Kultur ohne Anschauungserziehung nach sich zog. Gleichzeitig bescheinigte Buber dem Juden des Altertums eine ungebremste, impulsive Emotionalität, die keinen Reifeprozess zuließ und direkt habe geäußert werden müssen. Diese Impulsivität sah er als ein „Erbe des Wüsten­nomaden […], dessen Dasein aus einer Folge von Exaltationen und Abspannungen [bestand]“ an. Diese unmittelbare Art, starken Emotionen direkt und ohne Reflexion Ausdruck zu verleihen, sei, nach Buber, nicht mit bildender Kunst vereinbar.14 Damit schloss der Autor die Darstellung der antiken Zeit. Als Nächstes folgte ein längerer Abschnitt, der die Zeit der Diaspora zum Thema hatte. Darin beschrieb der Autor eine finstere Periode, geografisch und chronologisch unbestimmt, nämlich die Zeit des Mittelalters. Der Leser erfährt, dass es sich hier noch nicht um das „Ghetto“ handelte, das Buber sonst stets mit der gesamten Diaspora gleichsetzte, sondern um eine schwere Zeit der „Wanderschaft“, in der die Juden viel Leid erfuhren. Nichtsdestotrotz weckte 11 Buber, Martin, Jüdische Kunst, Vortrag, in: Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des V. Zionisten-Kongresses in Basel – 26.–30. Dezember 1901, Wien 1901, S. 152. 12 Buber, Martin (Hg.), Jüdische Künstler, Berlin 1903, S. 3. 13 Ebd., S. 3 f. 14 Ebd., S. 5 (einschließlich das voranstehende Zitat).

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seiner Ansicht nach genau jenes Zusammentreffen mit anderen Kulturen die Neugierde zur Betrachtung der eigenen Umwelt.15 Nur sehr wenige Begriffe lassen durchscheinen, an welchem chronologischen Punkt sich der Autor innerhalb der Geschichte der Juden befand. An einer Stelle schrieb er: [Die] Qual [des Juden der Diaspora] und seine Unsicherheit sind zu hart und zu ewig, als dass er lernen könnte, sich den Dingen hinzugeben. Die exklusive Geldwirtschaft, in die er gebannt ist, gestattet ihm nicht, aus seinem Relationsleben in ein Gegenstandsleben hinüberzugelangen; das Geld, das Symbol der unfruchtbarsten Relation, drückt allen Drang einer jungen Sehnsucht nieder.16

Das Geldgeschäft17 steht bei Buber stellvertretend für die Juden des europäischen Mittel­ alters. Auch hier ging der Autor weder genauer auf die historischen Fakten noch auf eine präzisere geografische bzw. zeitliche Beschreibung der Ereignisse ein. Vielmehr wurde dieser Begriff als Synonym für Unterdrückung, Ausgrenzung und daraus folgende Isolation der Juden verstanden. Aus dieser Zeit resultierte laut Buber eine Flucht in die Religion, die das religiöse Gesetz erst allgemeingültig mache. Diese habe weiter zu einer verstärkten Ablehnung des Anschaulichen sowie des Ästhetischen geführt.18 Trotz alledem gestand er gleichzeitig ein, dass eine geistige Entwicklung nicht aufzuhalten sei, womit er dem Leser einen weiteren Begriff zur chronologischen und kulturellen Orien­ tie­r ung gab, nämlich den des Chassidismus, den er als den wahren zarten Keim der jüdischen Kultur betrachtete: Aber das Neue wächst dennoch, unsichtbar und unbewusst, und es bricht durch. Im Chassidismus offenbart sich das unterirdisch Gewordene. Die heimlich erkeimten Kräfte sprossen auf. Der ­Chassidismus ist die Geburt des neuen Judentums. Der Menschenleib wird das Wunder der Welt, die Schönheit ein Ausfluss Gottes, das Schauen eine Vereinigung mit Gott.19

Dem chassidischen Gedanken folgend, räumte Buber dem Menschen ein, selbst schöpferisch sein zu dürfen, was als eine religiöse Legitimation für die Kunst ausgelegt werden könnte. Gott und dessen Liebe sollen als Inspiration für die neuen jüdischen Künstler wirken. Das Ergebnis betrachtete Buber als die wahre „jüdische Kunst“.20 Mit der Erwähnung des Chassidismus versetzte der Autor den Leser direkt in das 18. Jahrhundert, insbesondere nach Osteuropa. Umso mehr ist man verwirrt, wenn als Nächstes von der jüdischen Emanzipation die Rede ist, die sich erst im 19. Jahrhundert – und zwar in Westeuropa – vollzog. Da auch Buber die Emanzipation der Juden in Europa als eine Ursache für die Assimilation betrachtete, schwächte er ihre Bedeutung für das Judentum

15 Ebd., S. 6. 16 Ebd. 17 Zum Geldgeschäft in der jüdischen Geschichte siehe Cohen, Arthur, Art. „Geldhandel, Anteil der Juden am“, in: Herlitz, Elbogen, Kirschner ([1930] 1987), Bd. 2 (D–H), Sp. 947–949 (Online-­Ausgabe der Freimann-Sammlung der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/pageview/363678, Stand 17. 0 4. 2017). 18 Buber (1903), S. 6. 19 Ebd., S. 7. 20 Schmidt (2003), S. 31.

Martin Bubers Texte zur Kunst     |

eher ab21, räumte allerdings ein, dass für die kulturelle Entwicklung nur die emanzipatorische Bewegung den nötigen rechtlichen Raum habe schaffen können. An Martin Bubers Texten zur Kunst wird ersichtlich, dass es ihm weniger um eine differenzierte (Kunst-)Geschichtsschreibung ging. Als Kunsthistoriker und Schüler von Alois Riegl22 wäre er sicherlich zu einer kritischeren und tiefergehenden Analyse und Darstellung in der Lage gewesen. Bubers Beschreibung der antiken Zeit greift nicht nur in Bezug auf künstlerische Errungenschaften der Juden jener Zeit zu kurz. Er ließ z. B. zahlreiche Stationen der künstlerischen Entwicklung wie Synagogenbauten und antike Grabsteine völlig aus. Buber ließ auch den biblischen Tempelbau als literarisches Zeugnis eines kulturell und künstlerisch hoch entwickelten Potenzials außen vor, was vermutlich absichtlich geschah. Dieser imposante Bau war Gegenstand zahlreicher Unter­suchungen des 19. Jahrhunderts, in denen aufgezeigt werden konnte, dass darin verschiedene Ornament- und Bauformen diverser Volksgruppen verarbeitet wurden.23 Dass die jüdische Bildkunst eine Symbiose verschiedener künstlerischer Einflüsse sein sollte, widersprach Bubers Überzeugung einer ausschließlich jüdischen, nationalen Kunst, die aus dem Ausdruck einer jüdischen „Volksseele“24 resultiert. Er vernachlässigte außerdem die Entwicklungen in der Buchmalerei, in der Illumination von Haggadot (Erzählungen des Pessach-Festes) und Ketubot (verzierte Eheurkunden und -verträge), die durch das gesamte Mittelalter hindurch nachweisbar sind.25 Des Weiteren ließ er die sephardischen Hofmaler des 15. und 16. Jahrhunderts außer Acht, die bereits damals auch für jüdische Auftraggeber besonders die Porträtmalerei innerhalb der jüdischen Gemeinschaft verbreiteten.26 Auch wenn Martin Buber aufgrund der besonderen Situation der zionistischen Aufbruchsstimmung diese Prozesse nicht zur Jüdischen Kunst gezählt haben dürfte, tat er damit der jüdischen Geschichte in Europa unrecht, da er sie nicht zur Entwicklung der jüdischen Kultur hinzurechnete. Die dargestellte Kulturentwicklung zeugt von einer permanenten Auseinandersetzung mit Ästhetik und künstlerischem Ausdruck, auch im Rahmen einer religiösen Frömmigkeit.

21 Als Eintritt in die abendländische Gesellschaft betrachtet Buber nicht die Emanzipation, sondern die Haskala als jüdische Bewegung. Diese hatte allerdings die Assimilation zur Folge, was Buber als „Entartung“ bezeichnete, Buber (1901), S. 153. 22 Bertz, Inka, Eine neue Kunst für ein altes Volk. Die Jüdische Renaissance in Berlin 1900–1924, Berlin 1991, S. 8; Lenhart (2009), S. 82. 23 Diese Untersuchungen erfolgten im Zuge der Erforschungen der Kunst des Altertums, dem sich zahlreiche Kunsthistoriker seit Johann Joachim Winckelmann (Geschichte des Altertums, 2 Bde., Dresden 1764) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts widmeten. Siehe S. 11–21, bes. S. 14, Fußnote 5. 24 Buber (1901), S. 153. 25 Siehe dazu u. a. Cohn-Wiener (1929/1995), Kapitel „Goluss und Ghetto“, S. 134–229, hier S. 143 ff., S. 153 ff., S. 181 ff., 198 ff.; Cecil Roth (1963/1964), Bd. 1, Kapitel „Die jüdische Kunst vom Mittel­ alter bis zur Emanzipationszeit“, S. 111–234, hier insbesondere S. 180–234. 26 Cohn-Wiener (1929/1995), Kapitel „Goluss und Ghetto“, S. 134–229, hier S. 231 ff.; Cecil Roth (1963/1964), Bd. 2, Kapitel „Die jüdische Kunst von der Emanzipation bis zur Gegenwart“, S. 9–220, hier insbesondere S. 9–24.

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Die Texte Martin Bubers sind stark argumentativ und bedienen sich oft konstruierter Zusammenhänge. Es ging ihm nicht um wissenschaftliche Sorgfalt und Richtigstellung, sondern eher um die Erschaffung einer bestimmten Vorstellung von Geschichte zum Zwecke der Etablierung einer neuen Kontinuität. Die Geschichte, auf deren Basis die neue jüdische Nation eine Zukunft aufbauen sollte, musste noch geschrieben werden. Der Begriff der „Jüdischen Kunst“, wie Buber ihn formulierte, stand für eine ganz neue, nie da gewesene Bewegung. Eine Bewegung ohne Vergangenheit: Alles an Kunsterzeugnissen vorher in Erscheinung Getretene subsumierte Buber als Folklore und bewertete es gleichzeitig als naiv und primitiv.27 Er räumte diesem „urjüdischen Kunsthandwerk“ jedoch auch eine besondere Rolle ein, denn dieses sollte den zeitgenössischen jüdischen Künstlern das wahre jüdische Empfinden vermitteln. Dem verbreiteten Begriff des Primitivismus folgend war für ihn die Folklore-Kunst eine naive, unschuldige und vor allem unverfälschte Ausdrucksweise der Menschen ohne Einfluss hoher zivilisatorischer Heraus­forderungen.28

Eine neue ästhetische Erziehung Das Sammeln folkloristischer Kunsterzeugnisse zählte Buber zu den wichtigsten Punkten zur Erschaffung und Förderung sowie zur Inspiration einer wahren Jüdischen Kunst. Die anderen Aufgaben galten der Verbreitung jüdischer Künstler und ihrer Werke sowie der Vernetzung der Künstler untereinander. Außerdem sollte die ästhetische Erziehung der jungen Nation gefördert und die Jüdische Kunst dem jüdischen Publikum vermittelt werden.29 Zur Erziehung setzte Buber mit dem Band Jüdische Künstler an. Darin stellte er die seiner Ansicht nach erste Generation jüdischer Künstler vor. Es erschienen Beiträge von unterschiedlichen Autoren zum niederländischen Impressionisten Jozef Israëls (1827–1911), zu den deutschen Impressionisten Lesser Ury (1861–1931) und Max Lieber­mann, dem Jugendstil-Maler und Zionisten Ephraim Moses Lilien (1874–1925), dem englischen Präraffaeliten Solomon J. Solomon (1860–1927)30 und dem weißrussi27 Lenhart vergleicht Bubers Periodisierungskonzept mit denjenigen von Karl Schwarz (Die Juden in der Kunst, 1928) und Ernst Cohn-Wiener (Die jüdische Kunst. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1929), Lenhart (2009), S. 83 f. Der Vergleich ist allerdings unzutreffend, da Buber in seinen Texten die Existenz einer Jüdischen Kunst in der Vergangenheit negiert und im Gegensatz zu den anderen beiden Autoren keine Kunstwerke, die er in Stile und Epochen hätte einteilen können, bespricht. Der Schlussfolgerung Lenharts, alle drei Autoren versuchten, den Beitrag der jüdischen Kunst und Kultur zur weltlichen Kultur im Allgemeinen hervorzuheben, ist jedoch zuzustimmen. 28 Lenhart verweist darauf, dass Buber sich intensiv mit „primitiver“ und moderner Kunst ­beschäftigte, Lenhart (2009), S. 82. 29 Dies galt übrigens für alle Gattungen, siehe Buber (1901), S. 157, 164, 166; Lenhart (2009), S. 83. 30 Solomon J. Solomon war der erste Präsident des 1891 gegründeten Maccabeans Club in ­London, der sich der national-jüdischen Förderung verschrieben hatte. Die Ziele waren jedoch weniger politischen Inhalts. Die einzelnen Abteilungen, deren Etablierung der Club forcierte, setzten sich vor allem für Bildung und sportliche Ertüchtigung jüdischer Jugend ein. Theodor Herzl sprach 1895 erstmals vor den Mitgliedern des Clubs, um ihnen die Idee des jüdischen Staates zu vermitteln. Vgl.

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schen Maler Jehudo Epstein (1870–1945). Die Texte stellten in aller Kürze das künstlerische Œuvre des jeweiligen Künstlers dar sowie sein Engagement für bzw. Bezug zur jüdischen Gemeinschaft. Nach welchen Kriterien die Auswahl getroffen wurde, geht aus der Einleitung Bubers nicht hervor. Die besondere Bandbreite, die die vorgestellten Maler repräsentierten, sollte als Widerlegung des zu Anfang des Textes erwähnten Vorwurfs Richard Wagners, Juden wären nicht zur Schaffung von Kunst fähig,31 Goodman, Paul, Art. „Maccabeans, The (auch Maccabean-Club)“, in: Herlitz, Elbogen, Kirschner ([1928] 1987), Bd. 3 (Ib–Ma), Sp. 1274 f. (Online-Ausgabe der Freimann-Sammlung der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt. de/freimann/content/pageview/364844, Stand 17. 0 4. 2017). Solomon betrachtete die Jüdische Kunst aus der religiösen Perspektive und versuchte in seiner kunsttheoretischen Arbeit, die Bezüge zwischen der „hebräischen Kunst“ und der Kunst und Kultur der Christen, vor allem der Puritaner und Protestanten, nachzuzeichnen. Vgl. u. a. Solomon, Solomon J., Art and Judaism, in: The Jewish Quarterly Review, Bd. 13, Nr. 4 (Juli 1901), S. 553–566. 31 Buber (1903), S. 3. Die Wurzeln für die Überzeugung, Juden seien zur kreativen Schöpfung nicht ­f ähig, lagen in der philosophischen Wende des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Albert A. Bruer riss in seiner Abhandlung Geschichte der Juden in Preußen (1750–1820) die Abkehr von der trockenen Vernunft der Aufklärung des 18. Jahrhunderts an. Er stellte die neuen Tendenzen der Philosophie und ihrer großen Denker in Bezug auf das Judentum vor. Einer der vorgestellten Philosophen, der dem Judentum gegenüber besonders ablehnend eingestellt war und immer wieder im Zusammenhang mit der Forschung der Jüdischen Kunst Erwähnung findet, ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Er kritisierte die jüdische Religion als eine dogmatische Religion, von der sich ihre Anhänger freiwillig versklaven ließen, Bruer, Albert A., Geschichte der Juden in Preußen (1750–1820), New York 1991, S. 195. Er betrachtete die griechische Religion, den griechischen Geist als das Ergebnis eines freien Geistes und damit als Gegenteil zum jüdischen Wesen. Damit sprach er den Juden den für die kreative Schöpfung nötigen Geist ab. Ein Zitat weist eindrucksvoll in diese Richtung: „Das große Trauerspiel des jüdischen Volkes ist kein griechisches Trauerspiel, es kann nicht Furcht noch Mit­ leiden erwecken, denn beide entspringen nur aus dem Schicksal des notwendigen Fehltritts ­eines schönen Wesens; jenes kann nur Abscheu erwecken. Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Macbeth, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing und so in ihrem ­Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermorden, von seinen Göttern […] endlich verlassen und an seinem Wesen selbst zerschmettert werden mußte“, Hegel, Georg Wilhelm ­Friedrich, Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1797), in: Nohl, H. (Hg.), Hegels theologische Jugendschriften, Tübingen 1907, S. 243–260, hier S. 260, zit. nach Schoeps, Hans Joachim, Die ausserchristlichen [sic] Religionen bei Hegel, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Bd. 7, H. 1, 1955, S. 1–34, hier S. 28. Auch seine Schüler wie der Kunsthistoriker Carl Schnaase, der in seinem Werk Geschichte der bildenden Künste über mehrere Seiten auf die Bauwerke der Juden im Altertum eingeht und zum Schluss doch zum Ergebnis kommt, dass es dem jüdischen Charakter eigen sei, keine bildende Kunst schaffen zu können (vgl. Schnaase, Carl, Geschichte der bildenden Künste, Bd. 1,1: Die Völker des Orients, Düsseldorf 1843, S. 260 ff., Online-Ausgabe der Bayeri­ schen Staatsbibliothek digital, [http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/ bsb10258772_00006.html, Stand 17. 0 4. 2017]), folgen seinen Thesen. Er ist der Meinung, dass die Religion der Juden von Angst und Bewegung bzw. Flucht geprägt sei, was eine kunstfeindliche Situation vermittle. Trotzdem attestiert er den Juden eine besondere literarische Begabung. Schnaase besteht auf der Anknüpfung der Kunstgeschichte an das Christentum, was die Auseinandersetzung mit der Kunst der Antike und damit auch der jüdischen Kunst der Antike voraussetzt. Gleichzeitig ist die Ablehnung dieser bereits aus dieser Motivation heraus vorherzusehen, vgl. Olin (1999), S. 23. Die Kulturzionisten widmeten einen Großteil ihrer Arbeit dem Kampf gegen diese antisemitischen Auffassungen, die dem Zweck dienten, Juden aus den Reihen der Kulturschaffenden zu drängen, vgl. Bertz (1991), S. 8. Es entsteht zur gleichen Zeit aber auch ein entgegengesetztes Verständnis von Kunstschaffen. Franz Kugler und sein Schüler Jacob Burckhardt sind in ihrem Handbuch der Kunst-

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gelten.32 Alle erwähnten Maler beschäftigten sich mit Themen des Alten Testaments. Obwohl Buber stets behauptete, dass es ihm nicht nur um sogenannte „jüdische Motive“ ging33, sind diese als der einzige gemeinsame Nenner der besprochenen Künstler auszumachen. Bubers Versuch, das wirklich Jüdische in den Bildern der Künstler in der Form, Farbe und Komposition auszumachen, überzeugt nicht.34 Unser Blut, das so lange im besten Falle lebensfeinliche [sic] Gelehrte hervorbrachte, begann Künstler zu erzeugen. Und diese Künstler wandten sich, einer nach dem anderen, wie im Gefühle dieses Wunders, dem Mysterium ihres Blutes, dem Schicksale ihres Volkes zu. Aber nicht bloss äusserlich, nicht bloss in Stoffen und Motiven sprach aus ihren Schöpfungen die Seele unseres Stammes. Tief in Anschauung und Form dieser Werke war die jüdische Eigenart eingesenkt. [Sehen] Sie sich nur die Blätter an, die wir auf diesem Congresse als ein kleines Zeichen unserer grossen Kunst zusammengebracht haben. […] Betrachten Sie darauf die eigenthümliche Vertheilung von Licht und Schatten, das Spiel der Luft um die Körper, die Einbettung der Einzelwesen in die umgebende Natur, die weite flächenhafte Auffassung, die seltsam verinnerlichte Bewegung. Ueberall werden Sie Elemente jüdischer Anschauung und Gestaltung erkennen.35

Die Ausstellung, die begleitend zum Kongress im Jahre 1901 veranstaltet wurde, umfasste Bilder von u. a. Eduard Bendemann, Hermann Struck, Israëls, Lilien, Ury und Epstein.36 Insgesamt wurden elf Künstler ausgestellt. Die Gesamtanzahl war nicht zufällig ausgewählt, sondern lehnte sich an die Avantgarde-Bewegung der Berliner S ­ ezession und der von Max Liebermann gegründeten Künstlergruppe Vereinigung der XI an.37 Dem Besucher sollte eine gewisse Kontinuität geboten werden, die auch die Vorreiter der Jüdischen Kunst vorstellen sollte. Dazu gehörten vor allem der deutsche Maler Eduard Bende­ mann und der polnische Maler Maurycy Gottlieb. Bendemann, eine Größe der Düssel­ dorfer Schule, dessen Eltern bereits vor seiner Geburt zum Christentum konvertiert waren,38 und Gottlieb, ein genialer junger Maler mit tiefer Empathie und Verbundenheit zu Themen jüdischen Alltags, stellten eine Besonderheit der Ausstellung dar, denn beide waren zum Zeitpunkt des Kongresses nicht mehr am Leben. Ob die beiden ihre Werke in den Dienst des Zionismus gestellt hätten, wäre weder damals noch heute überprüfbar

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geschichte, das 1842 in Erstauflage erschien, aufgrund der Beschreibung des Tempels in der Bibel von einer besonderen kreativen Begabung der Juden überzeugt, vgl. Kugler, Franz, Handbuch der Kunstgeschichte, Stuttgart 1848, S. 79 f., Online-Ausgabe der Universitätsbibliothek Heidelberg, Heidelberger historische Bestände – digital (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kugler1842, Stand 17. 04. 2017); außerdem Olin (1999), S. 23. Von Alois Riegl und Hippolyte Taine wird das Kunstwerk als das Ergebnis der Umgebung, des Zeitgeistes und der kulturellen Prägung verstanden. Diese Sichtweise dient den Kulturzionisten als Basis für ihre Idee einer Jüdischen Kunst, vgl. Bertz (1991), S. 8. Vgl. dazu außerdem Schmidt (2003), S. 6. Bertz (1991), S. 9. Buber (1901), S. 164. Auch bei anderen Künstlern wird dies als Gemeinsamkeit angeführt, siehe ebd., S. 161–164. Bertz (1991), S. 9. Buber (1901), S. 160. Schmidt (2003), S. 14–31. Ebd., S. 7. Pracht-Jörns, Elfi, Jüdische Lebenswelten im Rheinland. Kommentierte Quellen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Köln 2011, S. 181.

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1  Eduard Bendemann, Die trauernden Juden im Exil (An den Wassern von Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten), 1832, Wallraff-Richartz-Museum, Köln

2  Eduard Bendemann, Jeremias auf den Trümmern Jerusalems, Original verbrannt, Kopie von Carl Wildt, 1835, Museum Kunstpalast, Düsseldorf

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gewesen. Verständlicherweise spielte gerade Bendemanns Werk Die trauern­den Juden im Exil (An den Wassern von Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion ge­dachten)39 (Abb. 1) aus dem Jahre 1832, das als Lithografie ausgestellt war, den Veranstaltern programmatisch bestens in die Karten. Auch Jeremias auf den ­Trümmern Jerusalems von 1835 (Abb. 2) erfüllte seinen thematischen Zweck. Von Maurycy ­Gottlieb war nur eine Fotografie seines Bildes Betende Juden (Juden in der Synagoge an Jom Kippur) von 1878 (Abb. 3) ausgestellt.40 Das Werk zeigt das Interieur einer Synagoge beim Gebet zu einem der hohen Feiertage und ist damit zur Genremalerei zu zählen. Man kann davon ausgehen, dass Buber mit diesem Werk die Diversität der jüdischen Malerei und insbesondere die Unterschiede bei einer gleichzeitig herausragenden Qualität der Jüdischen Kunst in Ost und West demonstrieren wollte. Der künstlerische gemeinsame Nenner mit den zeitgenössischen Künstlern bestand allerdings vermehrt in der Thematik des Alten Testaments und in einem besonderen Kolorismus, den die Veranstalter Buber und Lilien als charakteristisch für jüdische Künstler ansahen bzw. dazu erklärten. Die Gemeinsamkeit, die dem Betrachter suggeriert werden sollte, lässt sich als Darstellung des Leides des jüdischen Volkes zusammenfassen. Die Werkzeuge der Kunstwissenschaft, wie Bildbeschreibung, Analyse von Form, Komposition und Farbgestaltung, wurden von Buber instrumentalisiert, um einen Begriff der Jüdischen Kunst vermeintlich fundiert zu etablieren und gleichzeitig – und das ist das Entscheidende – den Betrachter eindeutig in seiner Wahrnehmung und Interpretation zu lenken. Indem den Bildern die Darstellung der Geschichte und des Leides des jüdischen Volkes nachgesagt wurde, sollte der Eindruck entstehen, die Künstler verarbeiteten dieselben Erlebnisse ihrer eigenen Geschichte wie der jüdische Betrachter selbst. Dadurch ent­ wickele sich ein unsichtbares Band, das die Künstler und das Publikum verbinde und ihre Werke zu den Werken der Betrachter mache.

39 Pracht-Jörns belegt mit Verweis auf die Dissertation von Guido Krey, Gefühl und Geschichte. ­Eduard Bendemann (1811–1889). Eine Studie zur Historienmalerei der Düsseldorfer Malerschule, Weimar 2003, dass Bendemanns wohl berühmtestes und populärstes Bild (S. 181) eine Allegorie des verlorenen alten Bundes von Judentum und Christentum darstellt: Aus dem Judentum erwächst das messianische Neue, das Christentum. Das Bild war zwischenzeitlich als Altarbild für St. ­Maria im Kapitol in Köln im Gespräch gewesen, Pracht-Jörns (2011), S. 182. Das zeigt die verstärkte Konstruktion der einzelnen kunsthistorischen Elemente durch Buber zum Zwecke der Etablierung ­einer Jüdischen Kunst unter einer kompromisslosen Unterschlagung der objektiven künstlerischen Inhalte sowie der biografischen Sorgfalt der einzelnen Künstler. 40 Liste der Werke nach dem Ausstellungskatalog, abgedruckt bei Schmidt (2003), S. 26. Schmidt weist allerdings darauf hin, dass man nicht mehr sagen kann, ob auch alle angeführten Werke tatsächlich ausgestellt waren.

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3  Maurycy Gottlieb, Betende Juden (Juden in der Synagoge an Jom Kippur), 1878, Tel Aviv Museum of Art, Tel Aviv/Israel

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Das Konzept des „Kunstwollens“ und die Voraussetzungen für eine Jüdische Kunst Die heutige Forschungsliteratur geht davon aus, dass Bubers Idee der Jüdischen Kunst das Konzept des „Kunstwollens“ von Alois Riegl zugrunde liegt.41 In den 1890er-­Jahren beschäftigte sich Riegl mit Stilentwicklungen und versuchte, der Frage nachzugehen, was den jeweiligen Wandel von Stilen im Laufe der Geschichte bedingt hatte. Er widersprach darin der bis dahin vorherrschenden Meinung, dass die Form der Kunst sich abhängig von Zweck, Technik und Material ändere, und betonte besonders den ideellen Wert der Kunst vor dem materiellen.42 Riegl war der Meinung, dass Stile sich weniger nach zeitlichen und geografischen Kriterien bestimmen ließen, sondern eher nach einem vorherrschenden Geist innerhalb einer bestimmten Gruppe. Der Wandel der Stile würde demnach dem Wandel des Geistes dieser Gruppe im Laufe der Zeit unterliegen. Dabei wäre die geografische Verankerung der Gruppe unerheblich, genauso wie die Existenz verschiedener Stile zur gleichen Zeit und auf gleichem Gebiet zulässig wäre.43 Hans ­Sedl­mayr wies in seiner Einleitung zu den gesammelten Aufsätzen von Alois Riegl im Jahre 1927 darauf hin, dass das Konzept des „Kunstwollens“ im Wesentlichen mit der Idee des „objektiven Geistes“, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand, übereinstimme. Das „Kunstwollen“ stelle eine reale Kraft dar, die dem künstlerischen „Gesamtwillen“ dieser Gruppe entspräche und von jedem einzelnen Gruppenmitglied als eine objektiv vorherrschende Neigung wahrgenommen werde.44 Riegl bot mit der Idee des „Kunstwollens“ und zahlreichen Betrachtungskriterien der Außenwelt, die ihrerseits die Kunstgestaltung beeinflussen könnten, eine Möglichkeit, mithilfe der vorhandenen Kunstwerke wiederum Rückschlüsse auf die Kultur sowie die vorherrschende Religion, Philosophie und Wissenschaft zu ziehen, aus der sie stammen könnten.45 Riegl war außerdem der Überzeugung, dass äußere und gesellschaftliche Aspekte wie Staat, Religion und Wissen­schaft einen bedeutenden Einfluss auf die Kunst nähmen, von der Kunstgeschichte allein jedoch nicht untersucht werden könnten. Er appellierte an die Wissenschaft der Kunstgeschichte, die Umwelteinflüsse ernst zu nehmen und neben der optischen Erscheinung der Werke „in Form und Farbe“ auch die geistig-­ kulturellen Zusammenhänge zu berücksichtigen. Nur so sei die inhaltliche Analyse eines Kunstwerks in Gänze möglich.46 Riegl gelang mit dem Konzept des „Kunstwollens“ die Eröffnung einer neuen Betrachtungsweise der Kunst, die im weitesten Sinne die Frage nach dem Kunstschaffen überhaupt zu ergründen vermochte. Man kann sich vorstellen, dass sich Martin Buber als junger Kunstgeschichtsstudent von Ideen dieser 41 U. a. Bertz (1991), S. 8; Lenhart (2009), S. 82. 42 Sedlmayr, Hans, Einleitung (1927), in: Riegl, Alois, Gesammelte Aufsätze, hg. v. Artur Rosenhauer, Wien 1996, S. xiii–xxxiv, hier S. xiv f. 43 Sedlmayer (1927), S. xviii. 44 Ebd., S. xix. 45 Ebd., S. xxiv. 46 Ebd., S. xxv.

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Art inspirieren ließ. Das Verständnis von einer bestimmten geografisch und zeitlich unabhängigen Gruppe, die eine auf einem gemeinsamen Geist basierende Kunst und Kultur aufweist, sprach ihm geradezu aus dem Herzen. Die Vorstellung, dass vorhandene Kunstwerke Abbilder einer existierenden Kultur sein könnten, erlaubte aber auch den Umkehrschluss, dass eine vorherrschende Kultur bestimmte, sozusagen eindeutig auf diese Kultur abgestimmte Kunstwerke erzeugen könne. Das Konzept des „Kunstwollens“ ermöglichte Buber die Vorstellung einer geschlossenen Gruppe, nämlich einer nicht assimilierten und nicht von der Orthodoxie abhängigen jüdischen Gemeinschaft, die nach einer eigenen Nation, eigenem nationalen Boden und einer eigenen, der vorherrschenden Kultur entsprechenden Kunst strebt. Auf Alois Riegl Bezug nehmend erhob Buber die Jüdische Kunst auf die Ebene eines eigenen Stils. Die Definition bzw. Eigenschaften dieses Stils fallen allerdings wie oben beschrieben eher dürftig und stark konstruiert aus. Bubers Skizze der jüdischen Kulturentwicklung stellt eine extreme Verkürzung der Geschichte der europäischen Juden dar. Die gesamte Diaspora wurde auf den Begriff „Ghetto“ reduziert, und damit wurden vor allem die Lebensumstände in Osteuropa konnotiert und abgelehnt. Das „wahre“ Judentum wurde demnach mit den im Ansiedlungsrayon gesammelten Erfahrungen verbunden. Buber nahm mit dieser Argumentation mehrfach eine Zäsur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft vor. Er schloss aus dem Kreis des neuen Judentums nicht nur die orthodoxe Lehre aus, sondern auch die intellektuelle, säkulare Schicht der vor allem in Westeuropa ansässigen Juden, denen er grundsätzlich die absolute Assimilierung unterstellte. In seinen Ausführungen malte Buber implizit Bilder von „Ostjuden“ und „Westjuden“, die er nach Belieben vermengte. Der gefühlsbetonte, chassidische Einschlag wirkte romantisierend und knüpfte an die Erzählungen über das Stetl-Leben an, welches ein osteuropäisches Phänomen war und an dieser Stelle auf alle Juden Europas übertragen wurde.47 Im Sinne der Zionisten war Buber um 1900 ebenfalls der Meinung, dass die osteuropäischen Juden aus ihrer Misere errettet werden müssten. Den Weg in die eigene nationale Identität und selbstbewusste kulturelle Entwicklung schrieb er allerdings der Begegnung der Juden mit der „abendländischen Civilisation“,48 also Westeuropa, zu.49 Martin Buber und seine kulturzionistischen Weggefährten richteten ihre Idee der „Jüdischen Renaissance“ vor allem auf das osteuropäische Judentum, das sie schlicht für authentisch hielten. Das Publikum, das sie allerdings gezielt ansprechen wollten, waren westeuropäische Juden. Der Rückgriff auf das osteuropäische Judentum sollte die kollektive Erinnerung an die gemeinsame Geschichte wiedererwecken, die nun an die Stelle der alle Juden untereinander verbindenden Religion treten sollte. Es sollte ein Gefühl der Gemeinschaftlichkeit erzeugt werden, das zu einem nationalen Bewusstsein führen sollte und nach Meinung der

47 Siehe dazu S. 133–135. 48 Buber (1901), S. 154. 49 Bertz (1991), S. 3.

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Zionisten besonders gut durch Künste vermittelt werden könne.50 Die Kultur­zionisten waren in ihrer Argumentation allerdings inkonsequent. Während sie durch solche Konstruktionen einer geschlossenen Gruppe eine Aufwertung des osteuropäischen Judentums vornahmen, lehnten sie es auf der anderen Seite aufgrund einer vermeintlichen Rückständigkeit und religiösen Abhängigkeit, bedingt durch immerwährende Isolation und Verfolgung durch die sie umgebende Gesellschaft, strikt ab. Trotz der starken Verbundenheit sowohl zu Ost- als auch zu Westeuropa machte Buber in seinen Texten unmissverständlich klar, dass dieser Teil der jüdischen Geschichte und Gegenwart auf Leid, Unterdrückung und Diskriminierung basiere und zu verändern sei. Damit lehnte er die kulturelle Existenzberechtigung des Diaspora-Judentums ab. Martin Buber war in letzter Konsequenz stets der Überzeugung gewesen, dass es für die Entstehung einer wahren jüdischen Kunst und Kultur nach westeuropäischem Vorbild zunächst eines eigenen nationalen Bodens ­bedürfe.51

Die „Jüdische Renaissance“ als kunst- und kulturhistorische Epoche Die „Jüdische Renaissance“ war keineswegs eine ausschließlich zionistische Bewegung. Sie war eher ein geistiges Konstrukt, das den Aufbruch einer ganzen Gemeinschaft bezeichnen sollte. Entgegen der heutigen Begriffstradition, die die jüdische Moderne bereits bei den Leistungen Moses Mendelssohns ansetzt, verstanden die Zeitgenossen Bubers ihre Epoche als „die Moderne“. Den Terminus „Jüdische Moderne“ begründete Nathan Birnbaum im Jahre 1896. Er bezog sich vor allem auf die Entwicklungen in der jüdischen Literatur in Wien, wo der Dichterkreis Jung-Juda, der später den Begriff „jungjüdisch“ prägen sollte, aktiv war.52 Die Wahl des Begriffs „Renaissance“ – und eben nicht einfach „Wiedergeburt“, „Moderne“ oder „Auferstehung“ – war also hier kein Zufall. Martin Buber war sich der Assoziation mit der kunst- und kulturhistorischen Epoche der Renaissance bewusst. In seinem gleichnamigen Text von 1900 ging er auf die ­Parallelen der italienischen Renaissance des Quattrocento und der „Jüdischen Renaissance“ ein. Die wichtigste Gemeinsamkeit, die der Autor anführte, lag in der gesellschaftlichen Entwicklung. Europa hatte durch die Renaissance den Weg aus dem dunklen Mittelalter gefunden und damit ein neues Menschen- und Weltbild hervorgebracht. Das Verständnis um die Freiheit des Einzelnen, seine Rolle in der Welt und die Wahrnehmung der Natur waren Resultate des neuen Zeitgeistes, der das schöpferische Potenzial in besonderem Maße förderte.53 Auch in diesem Text verkürzte Buber zum Zwecke einer stärkeren Argumentationsweise sowohl die historischen Fakten als auch die kulturellen Prozesse des Mittelalters. Epochen lassen sich bekanntermaßen nicht

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Lenhart (2009), S. 90. Buber (1901), S. 155; vgl. außerdem Schmidt (2003), S. 15 f. Bertz (1991), S. 5. Buber (1900), S. 11 f.

Die „Jüdische Renaissance“ als kunst- und kulturhistorische Epoche     |

auf eine exakt definierte Zeitspanne eingrenzen, die Entwicklungen vollzogen sich stets fließend. Somit ist die bereits im Mittelalter vorhandene Aufgeschlossenheit bestimmter Forschungsgebiete wie Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in Form von Literatur und Philosophie für die Epoche der Renaissance als Grundlage vorauszusetzen. Auch Italien erwachte nicht eines Morgens aus dem finsteren Mittelalter und begann, sich mit der Antike auseinanderzusetzen. Bereits Jacob Burckhardt stellte in seinem Standardwerk Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, das 1860 in Basel erschien, dar, wie das Altertum bereits im späten Mittelalter in der italienischen Kunst und Literatur rezipiert wurde.54 In einer anderen Sache waren sich Burckhardt und Buber allerdings einig, nämlich dass die Renaissance keine „Rückkehr“ (Buber)55 zu und keine „Nachahmung“ (Burckhardt)56 der antiken Kultur war, sondern ihre „Wiedergeburt“ (Burckhardt und Buber)57. Mit der Verwendung dieses großen Begriffs wollte Buber die herausragende Bedeutung dieser Zeit für die jüdische Gemeinschaft betonen. Er erzeugte nicht nur eine Aufwertung der Bewegung, damit wurde außerdem ihre Verflechtung mit der kulturellen Entfaltung der Menschheit im Allgemeinen hervorge­hoben.58 Buber sah darin den Beitrag der Juden innerhalb der „neuen Menschheits-Renaissance“, die prophetisch eine neue Ära ankündigte.59 Die Bezeichnung „Renaissance“ war also nicht nur zur Hervorhebung eines sprach­ lichen und inhaltlichen Pathos gewählt, sondern entsprach tatsächlich der geisteswissen­ schaftlichen Position zu den Grundlagen des Humanismus: ein neues, modernes Verständnis von der Welt, angefüttert durch Bildung und die Errungenschaften der Antike. In Martin Bubers Schrift Jüdische Renaissance klingt neben der kulturtheoretischen eine politische Note an. Buber war kein Nationalist und befürwortete nicht den „Besitzdrang und die territoriale Expansionskraft der Nationen“.60 Seine Aufmerksamkeit galt den individuellen kulturellen Entfaltungen, die er unter zahlreichen „nationalen Gruppen“61 jener Zeit zu beobachten meinte. Die Herausforderungen für die Juden sah er allerdings als besonders groß an. Durch die Zeit der Diaspora hätten die Juden auch ihren inneren Zusammenhalt verloren. Eine gemeinsame jüdische Identität, die er unter „natio­nal“ verstand, sei jedoch unabdingbar für die Wiedergeburt des jüdischen Volkes. Er setzte sich nicht mit den organisatorischen, logistischen oder finanziellen Möglichkeiten der Umsetzung der Erschaffung eines jüdischen Staates auseinander. Dies überließ er in der Tat den politischen Zionisten. Ihm ging es um die eine besondere Stimmung, einen Drang zu Aufbruch und Veränderung, der seinerzeit auch die

54 Burckhardt, Jacob, Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860, S. 172 ff. 55 Buber (1900), S. 12. 56 Burckhardt (1860), S. 175. 57 Buber (1900), S. 12; Burckhardt (1860), S. 175. 58 Lenhart (2009), S. 83. 59 Buber (1900), S. 11 f. 60 Ebd., S. 8. 61 Ebd.

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Italiener bewegt hatte. Erwin Panofsky wies in seiner Abhandlung Die Renaissancen der europäischen Kunst darauf hin, dass auch Francesco Petrarca, einer der führenden Denker der italienischen Renaissance, das Ideal der Renaissance aus politischer Per­spek­ tive betrachtete. In der Größe der antiken Errungenschaften in Form römischer Ruinen sah Petrarca nicht nur die künstlerischen Vorbilder für die neue Kunstbewegung. Er erkannte darin den Glanz jener Zeit und sehnte auch eine politische Erneuerung herbei: die Verbesserung der allgemeinen Bildung durch die Belebung des Lateinischen und Griechischen sowie eine Hinwendung zu den antiken Texten und Lehren.62 Martin Bubers wichtigster Ansatz für die Erneuerung des Judentums war Bildung und vor allem die Hebraisierung der Juden. Eine neue, moderne hebräische Sprache sollte den Juden die Möglichkeit zu einem eigenen Ausdruck geben.63 Ähnlich wie Buber teilte auch Petrarca die Weltgeschichte in nur zwei Teile ein. Die klassische Epoche reichte bis zum Einzug des Christentums in Rom. Die „neue“, die er als die „finstere“ Zeit bezeichnete, dauerte für ihn zur Zeit seiner Aufzeichnungen im Jahre 1338 noch immer an. Er sah ebenfalls prophetisch das Licht am Horizont aufgehen. Während Petrarca mit seiner Darstellung der Geschichte die Bezeichnung „das dunkle Zeitalter“ für das Mittelalter prägte, könnte man vermuten, dass Buber entsprechend seiner Bildlichkeit in der Jüdischen Renaissance für das „jüdische Mittelalter“ den Terminus „das trockene Zeitalter“ vorgeschlagen hätte. Petrarcas Wortwahl bezog sich auf die religiöse, insbesondere christliche Konnotation von Licht und Dunkelheit als Beschreibung für irdische Gegensätze des Guten und des Bösen.64 Buber verwendete für die Darstellung der schwierigen Lage der Juden in Europa des Mittel­a lters vor allem Begriffe, die auf Trockenheit, Dürre, Zerrissenheit, Leere, Verkrustung und Leid hindeuteten. Von der Zukunft sprach Buber buchstäblich umso blumiger. Sein Ansatz für die Begriffswahl lag in dem zionistisch geprägten Verlangen nach einer eigenen Landwirtschaft und eigener physischer Kraft, die zu realen Früchten und damit zur Unabhängigkeit der Juden führen sollte. Der physischen Erneuerung müsse eine spirituelle Renaissance vorausgehen.65 Der kurze Vergleich zeigt auf, dass der Begriff der „Jüdischen Renaissance“ durchaus passend war für die anstehende kulturelle, nationale Bewegung, die der jüdischen Kultur eine neue Richtung geben sollte. Dennoch gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen den beiden Renaissancen. Petrarca, obwohl von der Forschung zu Recht zu den spätmittelalterlichen Zeitgenossen gezählt, verarbeitete bereits stattfindende Impulse. Nach Giorgio Vasaris Einteilung der Renaissance in drei Teile befand sich Petrarca mitten in der ersten Entwicklungsphase. In seine Zeit fielen bedeutende Künstler, wie Cimabue (1240–1302) und Giotto (1276–1337) in der Malerei oder Niccolò Pisano (1207–1278) und sein Sohn Giovanni Pisano (1250–1314) in der Bildhauerei, die neue Gestaltungs-

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Panofsky, Erwin, Die Renaissancen der europäischen Kunst, Frankfurt a. M. 1979, S. 25. Buber (1900), S. 15. Panofsky (1979), S. 25, 50. Schmidt (2003), S. 2.

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weisen entsprechend den Sichtweisen der Renaissance entwickelten.66 Petrarca sinnierte demnach über kulturelle Prozesse, die bereits begonnen hatten und die man beobachten konnte. Martin Buber war zu Beginn des 20. Jahrhunderts derjenige, der solche Impulse erst in Gang setzen wollte. Er bediente sich der Terminologie der allgemeinen Geistesgeschichte, um nicht nur die Bedeutung der neuen nationalen jüdischen Bewegung auszudrücken, sondern auch ihren Part innerhalb der Zeit- und Menschheitsgeschichte zu unterstreichen. Als Gelehrter auf so zahlreichen Ebenen erkannte er, dass die Existenz einer eigenen Kultur und Kunst die Voraussetzung für eine vollwertige Gesellschaft ist. Die Idee einer Renaissance nach dem italienischen Vorbild ließ sich freilich nicht gänzlich auf die Situation der Juden übertragen. Schließlich hatten sie die Lehre der Antike durch die tradierte Religion nie vernachlässigt und mussten sie daher auch nicht erst wiederentdecken. Gleichzeitig mangelte es am Elementaren für den Vergleich mit Italien: Es fehlten schlicht die Kunstdenkmäler des Altertums, von denen man sich zu Neuem hätte inspirieren lassen können. Man befand sich nicht einmal auf demselben Gebiet, wo man vielleicht etwas hätte entdecken können, wie es bei Petrarca der Fall war. Martin Buber und die Mitarbeiter des von ihm gegründeten „Jüdischen Verlags“ machten es sich zur Aufgabe, diese Inspirationsquellen zu ergründen, zu bestimmen und ein festes Konstrukt einer national-jüdischen Kunst dem jüdischen Publikum zu vermitteln.

Die Jüdische Kunst als eine nationale Kunst Die Ergründung einer nationalen Kunstgeschichte ist, wie bereits angesprochen wurde, gerade in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert oft Gegenstand der Forschung gewesen. Die Ideen der Kulturzionisten und Martin Bubers entsprachen also dem Zeitgeist deutscher national gerichteter Wissenschaftsinteressen. Wie nah Bubers Ausführungen an denjenigen der Vertreter einer deutschen Kunstgeschichte waren, lässt sich am Beispiel des Kunsthistorikers Georg Dehio aufzeigen. Er schrieb im Vorwort zu seinem Werk Geschichte der deutschen Kunst, das 1919 erschien, dass die Kunstgeschichte eines bestimmten Volkes sich nicht aus der allgemeinen Kunstgeschichte herleiten ließe. Auf der anderen Seite seien Rückschlüsse auf die historische Entwicklung einer Nation durch die Kunstgeschichte möglich. So widmete sich Dehio in seinem Buch der Geschichte des deutschen Volkes. Während Kunst und Wissenschaft für ihn nicht in geografische Grenzen zu fassen sind, sei jedoch die Bildung eines Menschen untrennbar mit dem Boden verbunden, auf dem er lebe. Erziehung und Bildung prägten die Persönlichkeit, was sowohl für den Künstler als auch für den Betrachter gelte. So erkenne man als Deutscher in deutschen Werken sich selbst.

66 Panofsky (1979), S. 43.

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[Die deutsche Wissenschaft] soll […] wissen, daß keine andere Kunst sie näher angehen kann als die deutsche[, …] daß wir in ihr etwas finden, was keine fremde, auch die vollkommenste nicht, uns bieten kann: uns selbst. Hinter den Kunstwerken stehen die Menschen: die, die sie schufen, und die, für die sie geschaffen wurden. Deutsche Kunst in uns aufzunehmen, heißt: in Kontakt mit dem Seelenleben unserer Vorfahren treten. Deutsche Kunst verstehen, heißt: uns selbst verstehen, unsere angeborenen Anlagen und was das Schicksal aus ihnen gemacht hat, unser Selbstgeschaffenes und unser Erworbenes, unser Erreichtes und unser Versäumtes, unser Glück und unsere Verluste – alles in allem: die Kunst als etwas mit der Ganzheit des geschichtlichen Lebensprozesses unseres Volkes unlöslich Verbundenes.67

Dehio, der diese Zeilen 1915 zu Beginn des Ersten Weltkriegs verfasste, war der Überzeugung, dass der eigene Boden zu einer bestimmten nationalen Erziehung führe. Aus dieser „Bildung“ entstehe eine kulturelle Prägung, die ein gemeinsames Selbstverständnis erzeuge und dadurch zu einer kollektiven Sichtweise befähige. Dies entspricht den Zielen Bubers und seiner Anhänger, eine Verbindung zwischen der Kunst und den Betrachtern herzustellen, die auf suggerierten gemeinsamen Erfahrungen basiert. Ähnlich wie Buber war Dehio – im Gegensatz zu zahlreichen seiner Kollegen – nicht von nationalistischen Ideen beflügelt. Seine Ausführungen machen deutlich, dass er von künstlerischen Wechselwirkungen zwischen den Völkern überzeugt war und die Annahme einer Überlegenheit der deutschen Kunst deutlich ablehnte.68 Er versuchte mit der Zusammenstellung des deutschen Kunsterbes seit der Antike bis zum 13. Jahrhundert, dem „[g]ebildeten“69 Leser dessen Kulturentwicklung näherzubringen. Martin Buber war ebenfalls kein Nationalist im politischen Sinne. Auch er wollte seinen Volksgenossen die Geschichte und Kultur der Juden vermitteln. Ohne den eigenen Boden, den Dehio für unabdingbar für das Verständnis der eigenen Identität hielt, fehlte ihm allerdings ein elementarer Bestandteil eines nationalen Selbstverständnisses. Dehio schrieb zu diesem Ansatz: Die Wissenschaft ist nach ihrem Wesen übernational; Bildung entsteht nur auf dem Boden, in dem die Persönlichkeit ruht, dem Boden der Nation. Es gibt keine deutsche, französische oder englische Wissenschaft, wohl aber eine deutsche, französische oder englische Bildung. Die Bildung kann um ihr nationales Zentrum einen weiten, weltbürgerlichen Kreis beschreiben, aber ohne die Beziehung auf dies Zentrum verliert sie sich ins Leere.70

In den Ausführungen der Kulturzionisten zeigt sich eine Nähe zum vorherrschenden Kulturverständnis Deutschlands um die Jahrhundertwende.71 Wie bereits erwähnt 67 Dehio, Georg, Geschichte der deutschen Kunst, Berlin und Leipzig 1919, S. v. 68 Ebd., S. vi. 69 Ebd., S. v. 70 Ebd. 71 Ähnliches gilt auch allgemein für die Entstehung der jüdisch-nationalistischen Idee. ­Gavriel D. ­Rosenfeld sieht unter Verweis auf Forschungsergebnisse zahlreicher Wissenschaftler (u. a. ­Shulamit Volkov) die Bestrebungen nach der Nationalisierung der jüdischen Identität als Konsequenz der Assimilationserwartungen der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Rosenfeld, Gavriel D., Defining „Jewish Art“ in Ost und West, 1901–1908. A Study in the Nationalisation of Jewish Culture, in: Year book/Leo Baeck Institute of Jews from Germany 34 (1994), S. 83–110; Lenhart (2009), S. 81.

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wurde, sprach auch Achad Ha’am von einem nationalen „Zentrum“, das dem jüdischen Volk auch in einer „weiten, weltbürgerlichen“ Diaspora einen Halt geben sollte. Selbstverständlich nahm in der jüdischen Kulturentwicklung jener Zeit die Religion eine besondere Stellung ein, die in den Begriffen wie „Nation“ und „Volk“ stets mitschwang. Daher hätte sich die von den Kulturzionisten erwartete Bildung der jüdischen Nation inhaltlich wahrscheinlich von der Dehios unterschieden. Buber tat allerdings das Argument der Internationalität der Kunst ab. Er war davon überzeugt, dass die Errichtung eines eigenen jüdischen Staates auf die Künstler einen noch nie da gewesenen kreativen Einfluss nehmen würde. Der eigene Boden würde einen Schöpfungsdrang freisetzen, der im Rahmen der „Jüdischen Renaissance“ einen eigenen Beitrag zur allgemeinen Kulturentwicklung der gesamten Menschheit bilden würde.72 Die Bewegung der „Jüdischen Renaissance“ entstand nach den oben beschriebenen Beispielen nicht nur aus innerjüdischen Impulsen heraus, sondern war als Konzept wesentlich von der Kulturentwicklung Deutschlands seit der Aufklärung, insbesondere aber im 19. Jahrhundert geprägt. Die Juden sollten sich zum Anbruch des neuen Jahrhunderts aus den Zwängen einer Parallelgesellschaft zu einer vollwertigen Nation nach europäischem Vorbild mit eigenen Vorzeichen entwickeln. Und die Kunst sollte als Teil der weltlichen Bildung einen besonderen Platz innerhalb der neu definierten jüdischen Kultur einnehmen.

Die Frage nach dem „jüdischen Stil“ Die Frage nach einem gemeinsamen Stil der von den Zionisten propagierten Künstler bleibt allerdings offen. Von den bei der Kongress-Ausstellung und im Band Jüdische Künstler vorgestellten Künstlern lässt sich aus stilistischer Perspektive lediglich sagen, dass sie dem Naturalismus verhaftet sind. Selbst Israëls, Liebermann und Epstein, die dem Impressionismus zuzuordnen sind, sind im Vergleich zu der innovativen impressionistischen Malerei aus Frankreich um die Jahrhundertwende als sehr zurückhaltend und sogar in ihren Landschaften stark dem Gegenstand verhaftet anzusehen. Der bis heute am meisten mit dem Zionismus in Verbindung gebrachte Künstler ist der Maler und Grafiker Ephraim Moses Lilien, dem gar die Erfindung einer „Ikonografie des Zionismus“ nachgesagt wird.73 Lilien stellte mit seiner beeindruckenden Schwarz-Weiß-­Malerei besonders die Formensprache des Jugendstils in den Dienst der neuen jüdisch-nationalen Bewegung. Er selbst engagierte sich stark für die zionistische Idee und war Mitbegründer der „Demokratischen Fraktion“ innerhalb des politischen Zionismus, die sich vor allem für ein Ende der Vernachlässigung der Kultur als gesellschaft­liches Element ein­setzte.74 Als Illustrator war er für den SPD-Verlag „Vorwärts“ und das sozialdemo72 Buber (1901), S. 156. 73 Bertz (1991), S. 11. 74 Ebd.

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4  Ephraim Moses Lilien, Illustration Passah, in: Münchhausen, Börries Freiherr von, Juda, Goslar o. J. (um 1905)

kratische Satire­blatt Süddeutscher Postillon tätig. Die Funktion der Kunst innerhalb einer politischen, vor allem sozialistisch geprägten Bewegung war Lilien demnach nicht fremd.75 Als Zionist sah er seine Aufgabe in der Erschaffung eines neuen Bildes der Juden, vor allem für die Juden selbst (Abb. 4). Dabei eigneten sich eine stark kontrast­reiche Malerei und die floralen Gestaltungselemente des Jugendstils in besonderem Maße, die Polarisierung zwischen Hell und Dunkel sowie Dürre und Blüte hervorzuheben. Lilien illustrierte praktisch den literarischen Pathos eines Martin Buber oder auch Stefan Zweigs, der die Einleitung zum Werk Liliens verfasste, und machte ihre Worte sichtbar. ­Liliens Bilder waren eindeutig in ihrer Sprache. Ähnlich wie die zionistischen Ziele wiesen die Werke keine Grauschattierungen auf. Die Gegensätzlichkeit zwischen Schwarz und Weiß legte dem Betrachter die Alternativlosigkeit der zionistischen Errettung der Juden aus der Diaspora nahe. Auch die Figurengestaltung wusste Lilien zu thematischen ­Zwecken einzusetzen. Auf seinen Darstellungen lassen sich Protagonisten leicht von ‚Staffagefiguren‘ unterscheiden. So schuf er eine jüdische Physiognomie, eine Art vornehmes jüdisches Profil – im Gegensatz zu den verzerrten antisemitischen Karikaturen. Es unterschied sich stark von den griechisch und romantisch anmutenden weiblichen wie männlichen Figuren auf Liliens Illustrationen zu nichtjüdischen Werken und Themen. Die wesentlichen Merkmale, die durch Mimik zum Ausdruck kamen, waren die Darstellung von Trauer durch nach unten blickende, halb geschlossene Augen, manchmal sogar 75 Ebd., S. 12; Schmidt (2003), S. 152.

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5  Ephraim Moses Lilien, Vorsatzblatt, in: Rosenfeld, Morris, Lieder des Ghetto, Berlin 1902

mit einer Träne im Augenwinkel unterstrichen, sowie von Leid und physischem Elend.76 Die Stimmung war in den Bildern zum Greifen nah. Gleichzeitig wiesen seine Figuren, so ausgemergelt und halb verhungert sie auch oft dargestellt waren, eine deutliche Würde auf. Es ging nicht nur darum, eine naturgetreue Darstellung der Juden entgegen den sonstigen bildnerischen Verunglimpfungen zu etablieren, sondern durch Stilisierung der Gesichtszüge eine „Verschönerung“ vorzunehmen, die im Sinne der Idee des Ästhetizismus zur Aufwertung der gesamten Gemeinschaft beitragen sollte. Diese in England entstandene künstlerische Richtung der ästhetischen Erhebung über die realen Bedingungen war durchaus politisch gemeint und richtete sich gegen die bürger­lichen Erwartungen.77 Im Gegensatz zu anderen Künstlern des zionistischen Programms arbeitete Lilien außerdem verstärkt mit jüdischer Symbolik. Dies mag in der Natur des Jugendstils gelegen haben, da dieser sich stärkerer Stilisierung bediente als die naturalistische oder impressionistische Malerei. Lilien kannte sich sehr gut mit der jüdischen Religion und der traditionellen jüdischen Kultur aus, er beherrschte auch die hebräische Sprache, wie zahlreiche Unterschriften in seinen Bildern belegen. Für seine propagandistischen Werke suchte er allerdings Symbole aus, die sowohl im traditionell geprägten Osteuropa als auch im eher assimilierten Westeuropa eindeutig verstanden werden konnten. Vor allem der siebenarmige Leuchter und der Davidstern ­beherrschten sein 76 Bertz (1991), S. 16. 77 Ebd.

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6  Ephraim Moses Lilien, Illustration Nach unseren Jahren, in: Rosenfeld, Morris, Lieder des Ghetto, Berlin 1902

Bildvokabular. Auch wenn Lilien offenbar weitestgehend auf religiös konnotierte Symbole verzichtete78, benutzte er ausgerechnet für die Seitengestaltung des Werks ­Lieder des Ghetto das Symbol der segnenden Hände, platziert vor dem Davidstern (Abb. 5). Dieses Symbol ist den Priestern des Kohen-Stammes, den sogenannten Kohanim, die als Einzige den Segen aussprechen dürfen, und ihren Nachkommen vorbehalten. Dazu zählen Träger des Nachnamen Kohen oder dessen Abwandlungen wie u. a. Kohn, Kahn oder KaZ.79 Die segnenden Hände gehören zu den meistgebrauchten Namenssymbolen auf europäischen jüdischen Friedhöfen seit dem 17. Jahrhundert. Auch Lilien war sich dieser Bedeutung bewusst, wie man auf der Illustration Nach unseren Jahren (Abb. 6) aus dem Buch Lieder des Ghetto deutlich sehen kann. In diesem hochrechteckigen Bild ist ein aschkenasischer Friedhof zu sehen. In der unteren Hälfte erblickt man mittig drei Grabsteine. Der rechte Grabstein ist, wie die Inschrift verrät, für „Baruch ben Josef Feiwel“. Das ist der jüdische Name von Berthold Feiwel, dem Verleger des „Jüdischen Verlages“. Im oberen Feld der Stele ist ein umrandeter Davidstern platziert. Der mittlere Stein ist für „Moshe Ja’akov Rosenfeld“, also für Morris Rosenfeld, den Autor des Buches. Oberhalb der Inschrift ragt ein Kerzenleuchter als Symbol hervor. Links vom Betrachter aus erblickt man den Grabstein für „Efraim Moshe ben Ja’akov HaKohen Lilien“, was den Künstler selbst eindeutig als zum Priesterstamm der Kohanim zugehörig auszeichnet. Über der eigentlichen Inschrift, von der Namenszeile rund umrandet, ist das Symbol 78 Ebd., S. 14. 79 Vgl. Art. „Katz“, in: Menk, Lars, A Dictionary of German-Jewish Names, Bergenfield 2005, S. 415.

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der segnenden Hände vor einer aufgehenden Sonne angebracht. Dieses Beispiel zeigt, wie stark Lilien in der traditionellen aschkenasisch-jüdischen Kultur verwurzelt war. Trotz des Wunsches nach einer neuen nationalen Identität identifizierte sich der Künstler selbst vor allem mit seinen Wurzeln im osteuropäischen Judentum. Diese Wurzeln und das Wissen nicht nur um die Religion und Kultur der Juden, sondern auch um ihre schwierige Lebenslage liefern Liliens zionistischen Bildern die besondere Authentizität, die seine Werke für den Betrachter verständlich und zugänglich macht. Sie sind inhaltlich und kompositorisch überzeugend und waren daher bestens für erzieherische Zwecke geeignet. Wie bereits erwähnt, wird aus den Quellen nicht ersichtlich, wie Martin Buber und Efraim Moses Lilien die Auswahl der Künstler für die Kongress-Ausstellung getroffen hatten. Man achtete offensichtlich auf eine gewisse Internationalität der Beteiligten, um die Verstreuung und gleichzeitig die unumgängliche grenzübergreifende Entwicklung der jüdischen Kunst und Kultur zu demonstrieren. Der einzige Ansatz der Realisierung einer Kunst nach den kulturzionistischen Prinzipien erfolgte in der Errichtung der Kunstakademie Bezalel in Jerusalem durch den Bildhauer Boris Schatz im Jahre 1906. Die nach dem biblischen Künstler und Schöpfer der Stiftshütte benannte Bezalel School of Arts & Crafts war zu Beginn eine Kunstgewerbeschule, die sich das Ziel gesetzt hatte, eine von europäischen und orientalischen Einflüssen unabhängige israelisch-jüdische Kunst auf palästinensischem Boden zu etablieren. Dies sollte vor allem zur Bildung einer neuen Nation und Identität beitragen. Und in dieser Kunstgewerbeschule in der Art der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung des 19. Jahrhunderts sollten die Studenten auch als professionelle Handwerker ausgebildet werden, was nicht nur ihre künstlerische Ausbildung bereichern, sondern auch die Wirtschaft ankurbeln sollte.80 Im Sinne der Entwicklung der Kunstakademien im 19. Jahrhundert auch in Deutschland sollte damit die Künstlerausbildung den Absolven­ ten eine sichere Erwerbsmöglichkeit neben der künstlerischen Tätigkeit gewährleisten. Schatz setzte sich u. a. mit Liliens Hilfe besonders für die Erschaffung eines „hebräischen Stils“ ein, der im Zuge der „Palästinensischen Renaissance“ eine neue Kunstrichtung bilden sollte. Basierend auf ausschließlich ‚hebräischen‘ Vorbildern der Flora und ­ alästinas sollte eine neue Art nouveau mit hebräischem Hintergrund entstehen. Fauna P Es sollten Themen des Alltags verarbeitet werden. Auch die Arbeit mit dem hebräischen Alphabet und dessen Umformung zu dekorativen Zwecken sollte vorangetrieben werden. Für Schatz lag die Verbindung der Kunst zum Judentum in der Religion, was durch die Wahl des Namens der Kunstakademie besonders zum Ausdruck kam. Die Kunstakademie Bezalel entwickelte eine Kunstrichtung, die in einer Mischung aus östlichen Einflüssen und west­lichen Fantasien doch die Vorstellung des Orientalismus bediente. Palästina wurde darin zur jüdischen Heimat, und auf diesem Boden entstandene Kunst 80 Olin, Margaret, The nation without art. Examining modern discourses on Jewish art, Lincoln 2001, S. 40.

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s­ ymbolisierte z­ umindest eine jüdische Identität nach den Vorstellungen der zionistischen Bewegung. Die Ausstellungen der Werke der Studenten bei den zionistischen Veranstaltungen galten für Schatz als Beweis dafür, dass die Juden sehr wohl in der Lage waren, Kunst zu schaffen.81 Trotz all der Mühe, sich von den europäischen Einflüssen zu lösen, beweist gerade diese Einstellung Schatz’ die Abhängigkeit der eigenen Definition von den Vorstellungen der europäischen Kunstgeschichte. Die Bezalel bediente zu Beginn ihrer ­E xistenz die in Europa seit dem 19. Jahrhundert vorherrschende Vorstellung der Juden als Exoten und Orientalen. Zahlreiche jüdische Autoren, wie Else Lasker-­Schüler, die sich in Deutschland mit ihrer jüdischen Herkunft auseinandersetzten, erfanden sich selbst in einer fiktiv orientalischen Tradition neu.82 Boris Schatz, der als Leiter der Bezalel-­Schule ausschließlich antik anmutende Kleidung, das heißt lange, weiße Gewänder, trug und die Schule in einem Gebäude eröffnete, das an längst vergangene Zeiten erinnerte, hatte bei seiner Vision offenbar genau diese fiktiv-­fantastische Sicht des europäischen Orientalismus vor Augen und verstärkte damit den europäischen Einfluss auf die neue, vermeintlich national-jüdische Kunst umso mehr. Die Bezalel School of Arts & Crafts wurde bald aus finanziellen Gründen geschlossen und erst im Jahre 1935 als Bezalel HaChadash („Die neue Bezalel“) wiedereröffnet. Ihr neuer Direktor wurde Joseph Budko, der zusammen mit Hermann Struck in Berlin studiert hatte. Es schlug die Stunde der Bauhaus-Exilanten in Jerusalem. Budko und sein Nachfolger Mordechai Ardon, bekannt als Max Bronstein, konnten mit dem religiösen Ansatz des Konzepts der Jüdischen Kunst nichts anfangen. Sie hatten sich als Flüchtlinge aus Deutschland die Errettung der vom Nationalsozialismus bedrohten Moderne auf die Fahnen geschrieben. Sie wollten in Israel dort weitermachen, wo sie in Deutschland stehen geblieben waren. Sie sprachen Deutsch, kaum Hebräisch, bestellten Material in Deutschland und unterrichteten instru­mentale Grafik für Druck und Werbung. Sie brachten neue, moderne Impulse, die die israelische Gesellschaft aus der orien­talisch verklärten Fantasie in die moderne urbane Realität bewegen sollten. Es ist nur allzu logisch, dass es dabei zu Konflikten zwischen den Vertretern der einen und der anderen Fraktion kommen musste. Im Grunde sahen allerdings beide Lager unabhängig von­einander den Untergang ihrer Kultur voraus, obwohl sie sich beide – die einen folkloristisch-­naturalistisch, die anderen hochkomplex und abstrakt – intensiv mit der jüdischen und israelischen Identität auseinandersetzten. Der Nachfolger von Budko und Bronstein, Bezalel Narkiss, widmete sich verstärkt auch der wissenschaftlichen Erforschung der Jüdischen Kunst und gründete das Center for Jewish Art sowie das Journal of Jewish Art. Er suchte den gemeinsamen Nenner zwar immer noch in der Religion, sah allerdings ein, dass zu einer umfassenden Ausbildung und Erziehung auch die profane und nichtjüdische Kultur gehörte.83 Die

81 Ebd., S. 50. 82 Wiener, Meir, Else Lasker-Schüler, in: Krojanker, Gustav (Hg.), Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller, Berlin 1922, S. 179–192, hier S. 180 f. 83 Olin (2001), S. 68.

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Entwicklung der Bezalel-Schule, die bis heute existiert, beweist vor allem die bedeutende Rolle, die die Kunst innerhalb der jüdischen Kultur seit Martin Buber eingenommen hat. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es trotz großer Anstrengungen nicht gelungen war, einen besonderen zionistischen Stil zu etablieren. Die Konstruktion einer Jüdischen Kunst kam nicht über das theoretische Konzept hinaus. Der Grund dafür war vor allem der Irrglaube, dass Kunst über eine bestimmte Ikonografie hinaus inhaltlich lesbar wäre. Die Zionisten suchten nicht nur in einer Symbolik, sondern vor allem in einer abstrak­ten Stimmung der Bilder eine nationale Gemeinsamkeit. Dabei fanden eine Instru­mentalisierung der Kunst und eine Manipulation des Betrachters statt, die die eigentliche Autonomie der Kunst sehr einschränkte und keine geeignete Basis für eine Kulturentwicklung frei von allen Zwängen bieten konnte. Möglicherweise wäre Buber mit Schatz bezüglich einzelner künstlerischer Elemente gar nicht einer Meinung gewesen. Immerhin sah er die Folklore vergangener Zeiten zwar als wichtige Inspira­ tions­quelle für kommende Künstlergenerationen an, er hielt diese allerdings für minder­ wertige Kunst. Doch angesichts der weitreichenden theoretischen und gesellschaftlichen Prozesse in der Kunstentwicklung Palästinas zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum heutigen Israel hätte Buber Schatz und seinen Nachfolgern womöglich doch recht gegeben. Sie haben im Gegensatz zu den Kulturzionisten den praktischen Versuch unternommen, eine neue national-jüdische Kunst auf eigenem Boden zu etablieren. Dies ändert allerdings nichts daran, dass ein national-jüdisches Konzept weder stilistisch noch kunsttheoretisch eine wirkliche Realisierung erfuhr.

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Juden in Preußen – eine kulturhistorische Entwicklung des 19. Jahrhunderts Zum besseren Verständnis einer kulturellen Entwicklung ist eine Betrachtung des gesellschaftlichen Prozesses, der die Kultur bedingt, unverzichtbar. Einflüsse, denen jüdische Kunst- und Kulturschaffende im neuzeitlichen Europa ausgesetzt waren, gestalteten sich sehr vielfältig und brachten stets eine Reihe neuer Elemente ein, die die Identitätsbestimmung stärker differenzierten. Die Einflüsse waren mehrschichtig: geografisch, rechtlich, bildungstechnisch und einem gewissen Zeitgeist entsprechend. Die Volksgemeinschaft der Juden war nie eine so homogene, wie es die Verwendung des Begriffs oftmals suggeriert. Wenn man die alttestamentarischen Quellen als historische Quellen akzeptiert, dann kann man behaupten, dass sich die Juden seit dem babylonischen Exil stets in zwei Gruppen teilen ließen: die Juden, die im Heiligen Land lebten, und diejenigen, die sich in der Diaspora ein neues Leben aufbauten. Die Emigration aus dem Nahen Osten Richtung Europa ist bereits seit dem Mittelalter durch histo­ rische Quellen, wie Grabsteine und Urkunden, belegt. Man kann sich also vorstellen, dass die Geschichte der Juden und damit ihre kulturelle Entwicklung nie homogen verlief. Sie war immer von geografischen und jeweiligen herrschaftsbedingten Unterschieden geprägt. Die Geschichte der Juden in Europa ist unmittelbar an diejenige Europas gebunden, und auch diese verlief an unterschiedlichen Orten verschieden. Die jüdische Kultur war besonders in der Zeit der Aufklärung beispielsweise in England eine andere als auf dem europäischen Festland, in Westeuropa anders als in Mitteleuropa und gewiss anders als in Osteuropa und dort besonders Russland.

Historische Faktenlage Einer historisch-politischen geht oftmals eine ideologische Entwicklung voraus, in diesem Fall die europäische Aufklärung, die nicht nur den Juden den Weg aus ihrer Isolation ebnete, sondern auch eine Neugewichtung von Kultur forderte. Europa verstand sich selbst im 18. und 19. Jahrhundert als die Wiege der Moderne. In jener Zeit entstanden hier der Imperialismus, die Menschenrechte, der Nationalismus und das Verständnis für die Notwendigkeit der Wissenschaft für das Begreifen der Welt. Europa war von einer

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7  Romeyn de Hooghe, Portugiesische Synagoge – Esnagoga (angefertigt anlässlich der Einweihung der Synagoge), 1675, De Snoge – Portugees-Israëlietische Synagoge, Amsterdam/Niederlande

Welle von Neuerungen erfasst, die ausnahmslos jeden betraf. Es ging nicht mehr nur um Ideen, die in Salons und Elitekreisen diskutiert wurden, ohne die Menschen auf der Straße zu berühren. Es ging um die Herausbildung von Gesellschaften, um Arbeitskraft, Militärstrategien und Grenzaufteilung. Es ging um die Veränderung des Blicks auf den Menschen an sich, unabhängig von seiner Herkunft und seinem Stand. Nicht immer war dies von Vorteil für alle Menschen, noch seltener wurden Dinge verändert, um die Lebenslage des Einzelnen zu verbessern. Dennoch war dies vermutlich die ideenreichste und umbruchsstärkste Zeit in der Geschichte Europas der Neuzeit. Die Institutionalisierung der Kunst und Kultur führte zu einer gesellschaftlichen und bildungsorientierten Aufwertung dieser Bereiche und machte sie zum Bestandteil der bürgerlichen Bildung. Es ist naheliegend, dass Juden seit dem 18. Jahrhundert besonders in Deutschland grundsätzlich für die Bestrebungen des Aufstiegs aus einfacheren Verhältnissen in das Bildungsbürgertum empfänglich waren. Ermöglicht wurde ihnen dies nicht durch das aufgeklärte Wohlwollen der Gesellschaft, sondern durch weitgreifende preußische Reformen, die nicht nur das bürokratische System vereinfachen, sondern vor allem unter

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8  Anonym, Fotografie der Synagoge in Wolpa, 18. Jahrhundert, Grodno/Weißrussland

dem Eindruck der Französischen Revolution die Lage der unteren Gesellschaftsschichten durch Bildung und Erziehung verbessern sollten.1 Die ästhetische und kulturelle Verbundenheit mit der nichtjüdischen Gesellschaft Europas entwickelte sich nur langsam. Durch ihre jahrhundertelange Offenheit der christlichen Mehrheitsgesellschaft gegenüber entwickelten die sephardischen Juden als Erste ein bestimmtes ästhetisches Verständnis für künstlerische Repräsentanz, w ­ elches sie meist den künstlerischen Errungenschaften ihrer Heimatländer wie Italien und Spanien und deren Adelsschichten entlehnten. Besonders stark äußerte sich dieses in der Gestaltung der sephardischen Grabstätten, was man bis heute auf den Friedhöfen in Hamburg-Altona und Amsterdam nachvollziehen kann.2 Am eindrucksvollsten sind die Unterschiede des aschkenasischen und sephardischen ästhetischen Verständnisses in der neuzeitlichen Tradition des Synagogenbaus im gesamten Europa. Auch hier gab vor allem das Recht auf Ausübung der eigenen religiösen Gebräuche besonders seit 1 Lässig, Simone, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, hg. v. Manfred Hettling u. Paul Nolte, Göttingen 2004, S. 66, 68. 2 Leider steht der Vergleich der aschkenasischen und der sephardischen Friedhöfe noch aus; auch der Einfluss sephardischen Kunstverständnisses auf das aschkenasische ist zwar naheliegend, wäre allerdings noch zu untersuchen. Dass die sephardische Kultur – besonders auf dem Gebiet der ­Literatur – durch die Wissenschaft des Judentums der aschkenasischen vorgezogen wird, schreibt Schorsch, Ismar, Das erste Jahrhundert der Wissenschaft des Judentums (1818–1919), in: ­Brenner, Michael; Rohrbacher, Stefan (Hg.), Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem ­Holocaust, Göttingen 2000,S. 11–24, hier S. 18.

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dem 18. Jahrhundert den wichtigen Impuls, aus kleinen Gebetsstuben in Anlehnung an die christliche Bautradition große Synagogen zu gestalten. In Bezug auf die kulturelle Integra­tion entwickelte sich die Architektur entsprechend den Bauweisen der jeweiligen Länder. Während in den Niederlanden prächtige, mehrschiffige Hallensynagogen im Rokoko-Stil entstanden, baute man in Deutschland und Osteuropa große Holz­ synagogen im Stile der Stabkirchen (Abb. 7 und 8).3 Der christlichen Bevölkerung blieben diese feinen Unterschiede verborgen.

Die Juden und die Aufklärung Die Emanzipation der Juden sollte diese im Zuge der Aufklärung auch in die sie um­­ gebende Gesellschaft integrieren. Die ersten Schritte zur Annäherung an die Mehrheitsgesellschaft wurden bereits im 18. Jahrhundert unternommen. Die dafür notwendige Basis wurde im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durch Moses Mendelssohn und die von ihm angestrebte „jüdische Aufklärung“ – die Haskala – gelegt. Er propagierte die Annäherung der jüdischen und der christlichen Kultur und appellierte dabei an beide Gruppen. Als Voraussetzung für jegliche Akkulturation sah er die Bildung an. Neben zahlreichen Publikationen und seinem Wirken in den Philosophenkreisen übersetzte Mendelssohn 1778/79 zusammen mit Salomo Dubno, Hartwig Wessely und Naftali Herz Homberg erstmalig den Pentateuch in die deutsche Sprache. Damit sollten auf der einen Seite das Bildungsniveau und die deutschen Sprachkenntnisse der Juden gesteigert und auf der anderen die jüdischen Glaubensvorstellungen den Christen nähergebracht werden.4 Mendelssohns Übersetzungen wurden nach ihrer Publikation im Jahre 1783 zum Grundstock pädagogischer Arbeit, besonders in liberalen jüdischen Gemeinden, und trugen zweifelsohne zur Öffnung des aschkenasischen Judentums gegenüber der Mehrheitsgesellschaft bei.5 Moses Mendelssohn engagierte sich innerhalb der gesamten Emanzipationsbewegung weniger für die jüdische Religion als vielmehr für die Aufwertung der jüdischen Kultur und der Menschen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Die sogenannten „Schutzjuden“ sollten als Bürger den Status bürgerlicher Freiheit und Gleichheit genießen. Die Problematik unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und Herkunft der Juden spielte bei den preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die die Erneuerung des politischen, militärischen, aber auch des sozial-gesellschaftlichen Systems Preußens

3 Vgl. Cohn-Wiener (1929), S. 238 ff.; Roth (1963), S. 113–139; Künzl (1992), S. 81–106; darüber hinaus Schwarz, Hans-Peter; Hammer-Schenk, Harold (Hg.), Die Architektur der Synagoge, Stuttgart 1988. 4 Battenberg, Friedrich, Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, 2 Bde., Darmstadt 1990, hier Bd. II, S. 75. 5 Braese, Stephan, Eine europäische Sprache. Deutsche Sprachkultur von Juden 1760–1930, Göttingen 2010, S. 15.

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nach der Niederlage gegen Napoleon 1806 durchsetzen sollten6, kaum eine Rolle. Die Juden wurden in die Masse der Unterschicht eingegliedert, der zur Aussicht gestellt wurde, nach Erfüllung bestimmter Kriterien zum Bürgertum aufsteigen zu können. Der wichtigste Aspekt für die sogenannte „bürgerliche Verbesserung“ war allerdings die Allgemeinbildung und die damit zusammenhängende kulturelle Anpassung. Basierend auf der Aufklärung ging es darum, jeglichen Aberglauben zu bekämpfen, eine gemeinsame Sprache zu sprechen, eine dem öffentlichen Raum angemessene Ästhetik und einen entsprechenden Auftritt zu formulieren sowie eine auf gleichen Werten fußende bürger­ liche Gesellschaft zu formen. Das Westjiddische, das auch von intellektuellen Juden abgelehnt wurde, sollte durch die deutsche Sprache ersetzt werden. Außerdem sollte jegliche Rechtsprechung von Vernunft und Nützlichkeit und nicht von den religiösen Vorschriften der Thora oder des Talmuds bestimmt werden. Alle diese Aspekte wurden bereits 1781 vom preußischen Regierungsrat Christian Wilhelm Dohm, einem Anhänger der Aufklärung sowie einem guten Freund Mendelssohns, in seiner programmatischen Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden formuliert.7 1812 fand jeder dieser Punkte seinen Platz im Preußischen Emanzipationsedikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden im Preußischen Staate vom 11. März 1812.8 Dies war der erste Schritt zur jüdischen Emanzipation, die erst mit der Reichsgründung 1871 durch die komplette rechtliche Gleichstellung der Juden in der Verfassung verankert wurde.9 Es reichte allerdings nicht aus, sich am säkularen Leben zu beteiligen und die Mehrheitsgesellschaft zu akzeptieren. Akkulturation war oft nicht genug: Als aufgeklärter Bürger sollte man sich assimilieren. Dies bedeutete im Wesentlichen, dass durch die Aufklärung die Anforderungen an die Juden nicht sonderlich gemindert wurden, sie hatten sich lediglich verändert. Die Aufklärer erwarteten eine absolute Angleichung der jüdischen und christlichen Lebensformen bei gleichzeitiger Aufgabe eigener Traditio-

6 Vgl. u. a. Büsch, Otto, Handbuch der preußischen Geschichte, 2 Bde., Berlin 1992, hier Bd. 1, S. 24. 7 Eliav, Mordechai, Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und der Emanzipation, Münster 2001, S. 7; vgl. außerdem Dohm, Christian Wilhelm, Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Mit Königl. Preußischem Privilegio, neu hg. v. Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung und vom Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, Netzpublikation nach der Ausg. Berlin und Stettin 1781, Duisburg 2009 (http://www. deutsch-juedische-publizistik.de/pdf/1781_dohm_verbesserung1_1983.pdf, Stand 17. 0 4. 2017). Die Beweggründe sich für die Verbesserung der Lebensumstände der Juden auszusprechen, waren allerdings nicht nur von Nächstenliebe getrieben, sondern zielten auch insgesamt auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Preußens ab. Brammer wies in ihrer Disserta­t ion Judenpolitik und Judengesetzgebung von 1812 bis 1847 darauf hin, dass Dohm auch explizit die wirtschaftliche Kraft der Juden betonte, die dem Staat entgehe, wenn man die Mehrheit von ihnen ein Leben im Elend führen lasse. Siehe Brammer, Annegret Helene, Judenpolitik und Judengesetz­ gebung von 1812 bis 1847, Berlin 1987, S. 20 f. ­ 8 Vgl. Gesetzsammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1810–1918 (Hathi Trust Digital ­Library, https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=uc1.b3094006;view=1up;seq=427, Stand 17. 04. 2017). 9 Reinke, Andreas, Geschichte der Juden in Deutschland 1781–1933, Darmstadt 2007, S. 71.

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nen, und zwar in besonderem Maße der jüdischen.10 Eine Taufe bedeutete stets einen Schritt in die Richtung der bürgerlichen Gesellschaft. Jedoch waren es nur wenige, die bereit waren, diesen Schritt zu vollziehen. Es wuchs erneut das Misstrauen auf beiden Seiten.11 Diese Entwicklung basierte nicht zuletzt auf der Tatsache, dass die Emanzipation der Juden eine von oben entschiedene und durch Behörden auferlegte Regelung und keine durch einen gesellschaftlichen Prozess entstandene Überzeugung war. Die Juden waren zwar durchaus empfänglich für die Ideen der Aufklärung, sie mussten allerdings bald feststellen, dass sie weiterhin von der Gnade der Herrscher bzw. der Verwaltung o. Ä. abhängig waren.12 Drei wesentliche Aspekte der deutschen Aufklärung machten nach Mordechai Eliav die neuen Verhältnisse aus, die den Weg der Juden in das Bürgertum ebnen sollten: die Aufgeklärtheit des Absolutismus, die Errungenschaften der Philosophie und die religiöse Toleranz.13 Nicht zu unterschätzen ist selbstverständlich die Komponente der Wirtschaft, die für den Wohlstand des Staates nicht unerheblich war. Die Gesellschaft war darauf angewiesen, jede Arbeitskraft zu nutzen, um einen bestimmten ökonomischen Standard zu erreichen und diesen zu halten. Das Wohl des Staates wurde über das Wohl des Einzelnen gestellt und wurde auch von den Aufklärern als das Instrument der Durchsetzung der Aufklärung angesehen und gefordert.14 Die Juden waren als eine in Europa lebende Gemeinschaft bereits seit dem 18. Jahrhundert sehr empfänglich für vernunftbezogene Ideen. Die Enttäuschung über den Untergang der sabbatianischen Bewegung15 hinterließ eine klaffende Lücke, in dem über Jahrhunderte hinweg verfestigten jüdischen Selbstverständnis als das auserwählte Volk, das auf die Erlösung durch das Kommen des Messias wartete. Es fand eine grundlegende Umorientierung innerhalb der jüdischen Gesellschaft statt. Im Zuge der Aufklärung wurden die Hauptelemente des jüdischen Glaubens säkularisiert und neu ausgerichtet. 10 Schubert, Kurt, Die Geschichte des österreichischen Judentums, Wien 2008, S. 62 f. Schubert macht hier auf die Zweideutigkeit von Dohms Konzeption aufmerksam, Dohm lehne damit die bisher vorherrschenden Strukturen der jüdischen Gemeinschaft, die seiner Ansicht nach allerdings durch die christlichen „Wirtsvölker“ (S. 62) den Juden aufgezwungen wurden, als gesellschaftlich ungeeignet ab. Vgl. dazu außerdem Volkov, Shulamit, Zur Einführung, in: Dies.; Müller-Luckner, Elisabeth (Hg.), Deutsche Juden und die Moderne, München 1994, S. vii-xxiii, hier S. ix. 11 Battenberg (1990), Bd. II, S. 23. 12 Ebd., Bd. II, S. 27. 13 Eliav (2001), S. 1. 14 Ebd., S. 1 f. 15 Ein gewisser Schabbatai Zwi erklärte 1626 sich selbst zum Messias und versprach die Erlösung der osteuropäischen Juden aus ihrem Elend durch den Auszug in das Heilige Land. Nach seinen Aktivitäten in Ägypten, Syrien und Palästina wurde er verhaftet und vom türkischen Sultan Mehmed IV., der zu dem Zeitpunkt über das Land herrschte, vor die Wahl gestellt, entweder als vermeintlicher jüdischer Messias sofort getötet zu werden oder zum Islam überzutreten und am Leben zu bleiben. Schabbatai Zwi entschied sich für die Konversion und stürzte damit das weltweite Judentum in Verzweiflung. Vgl. u. a. Scholem, Gershom, Sabbatai Sevi. The Mystical Messiah – 1626–1676, ­Princeton, New Jersey, 1973; hier insbesondere zur Auswirkung seiner Konversion auf die Anhänger des Sabbatianismus S. 687–693.

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Auch wenn die Hoffnung auf das Kommen des Messias bei vielen erloschen war, blieb das Gefühl des Auserwähltseins bestehen. Es machte sich eine Überzeugung breit, die mit Zion als dem örtlichen Ziel der Erlösung brach und damit das Augenmerk mehr auf die Länder, in denen man lebte, lenkte.16 Durch die preußischen Reformen, die bedingt durch die Teilungen Polens und die damit zusammenhängende Expansion Preußens auch andere deutsche Ländereien ergriffen,17 wurde den Juden die Möglichkeit gegeben, sich geografisch zu verankern, um nicht zuletzt ein Bindungsgefühl zu dem jeweiligen Land zu forcieren sowie die Produktivierung18 zu steigern und eventuelle Unruhen gegen die Regierung zu verhindern. In manchen Gemeinden wurden sogar die Gebete verändert, um das Heilige Land als die ersehnte Heimat im jüdischen Bewusstsein zu schwächen. Was nun geschah, war eine Übertragung religiöser Werte auf säkulare Umstände; es fand eine Veränderung der Denkweise innerhalb der Gemeinschaft statt. Die Juden empfan­ den ihren Erfahrungsschatz als Werte, von denen die europäische Mehrheitsgesellschaft profitieren könne. Der jüdische Monotheismus und die sittlichen Prinzipien wurden als bereichernde Elemente zur Weiterentwicklung der europäischen Gesellschaft wahrgenommen. Innerhalb der jüdischen Kultur übertrug man also die messianische Idee auf die allgemeine Erlösungsidee aller Menschen. Juden engagierten sich mehr in politischen und sozialen Kreisen, waren für neue und radikalere Ideen auf diesen Gebieten stets offen und stellten einen quasi religiösen Anspruch an sich selbst, Benachteiligten und Unterdrückten zu helfen.19 Der innere Umbruch traf nun auf die staatliche Bildungsreform und forderte damit einen neuen Umgang mit Bildung und Ausbildung innerhalb der jüdischen Gesellschaft. Die Juden wurden als eine geschlossene Gruppe angesehen, die keinen Zugang zur Mehrheitsgesellschaft kannte. Als Grund für die Isolation sah man die religiöse Gebundenheit an. Es herrschte die Überzeugung, dass den Juden eine neue, aufgeklärte Lebensweise beigebracht werden müsse, die ihrerseits den Verzicht auf die Einhaltung strenger religiöser Gesetze und damit eine höhere Assimilationsbereitschaft gegenüber der Mehrheitsgesellschaft bedeuten sollte.20 Durch die starke Bewegung der sogenannten Maskilim – jüdische Aufklärer, die die Ideale der deutschen Aufklärung mit der jüdischen Kultur zu verbinden suchten – wurde eine noch nie da gewesene Auseinandersetzung mit der Schulbildung jüdischer Kinder und deren Erziehung im Sinne einer neuen Weltanschauung losgetreten. Für die ­Maskilim des 19. Jahrhunderts spielte die Religion, wie für die Aufklärer allgemein, eine geringere Rolle. Sie forderten immer radikaler eine Abwendung der Juden von den 16 Battenberg (1990), Bd. II, S. 20. 17 Brammer (1987), S. 19 f., 29–33. 18 Simon, Ernst A., Der pädagogische Philanthropinismus und die jüdische Erziehung, in: Behm, ­Britta L.; Lohmann, Uta; Lohmann, Ingrid (Hg.), Jüdische Erziehung und aufklärerische Schul­ reform. Analysen zum späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, Münster 2002, S. 13–65, hier S. 53. 19 Battenberg (1990), Bd. II, S. 20 f, 30; vgl. außerdem Bartal, Israel, Geschichte der Juden im östlichen Europa 1772–1881, Göttingen 2010, S. 11, hier wird der Antisemitismus als ausschlaggebend angeführt. 20 Eliav (2001), S. 8.

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gewohnten Lebensweisen zugunsten eines bürgerlichen, säkularen Verhaltens. Sie propagierten eine strenge Trennung zwischen religiöser Zugehörigkeit und der Staatsbürgerschaft. Sie forderten den Weg vom sogenannten „Schutzjuden“ zum deutschen Bürger mosaischen Glaubens.21 Religiosität wurde grundsätzlich als nicht zeitgemäß betrachtet und sollte eher in ein Moralgefühl umgewandelt werden. Für die neu gegründeten jüdischen Schulen bedeutete dies im Wesentlichen einen Unterricht, der nicht mehr so tiefreligiös war: Statt Talmud und Thora zu studieren, wurde lediglich die Bibel ge­­ lesen, und das immer öfter auf Deutsch statt in der hebräischen Originalsprache. Damit waren die wichtigsten Bereiche der Bildung abgedeckt, nämlich die Sprach- und Moral­ erziehung.22 Die Bedenken der Eltern gegenüber diesen Schulen waren groß, auch wenn sich die Ausprägung der Vernachlässigung der religiösen Studien von Ort zu Ort unterschied.23 Die Maskilim lehnten diese Einstellung ab und machten die Familien – unter Betonung ihrer Wichtigkeit – für die religiöse Erziehung ihrer Kinder verantwortlich. Die Eltern waren jedoch zunehmend nicht mehr in der Lage, ihren Kindern eine tiefgründige religiöse Erziehung zukommen zu lassen, da auch sie sich mit der Zeit dem gesellschaftlichen Zwang beugten, sich bürgerlich zu verhalten. Durch die Verein­ fachung der religiösen Gesetze und vor allem durch einen lockereren Umgang mit der Religion an sich entwickelte sich langsam eine Reform des Judentums innerhalb der neuen Schulen. Das Reformjudentum erleichterte den Juden den Zugang zur Religion, da es weniger Kenntnisse verlangte und auch die liturgischen Umgangsformen vereinfachte. Es wurden reformierte Gebetshäuser bzw. -räume eingerichtet, in denen man gemeinsam mit Eltern und Gästen z. B. eine auf Deutsch gehaltene Andacht samt Chorund Orgelmusik24 ­feierte. Ziel war es, die Gemeinsamkeiten zwischen dem Judentum und dem Christentum zu fördern und sich von den Eigenheiten der jüdischen Glaubenspraxis abzuwenden.25 Trotz eines sehr starken Engagements wurden die neuen jüdischen Schulen eher wenig in Anspruch genommen. Da auch sie im Sinne der staatlichen Reformen viel Wert auf die handwerkliche Ausbildung legten, wurden die Schulen zunehmend von ärmeren Schülern besucht.26 Nichtsdestotrotz rückten die Diskussionen um die neue Erziehung der jüdischen Kinder auch ein Themenfeld ins Visier der jüdischen Aufklärer, das vorher in der jüdischen Bildung und Erziehung eher eine untergeordnete Rolle spielte, nämlich die in der Aufklärung wichtige Frage nach der ästhetischen Erziehung. Bereits im 18. Jahrhundert wurden Themen wie Schönheit, Liebe und Natur in

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Ebd., S. 12. Ebd., S. 210. Ebd., S. 13 ff., 211. So geschehen in Hamburg, wo die „Freischule“ zum „Tempel“ wurde. Eliav (2001), S. 213. Am ­Philanthropin in Frankfurt durfte man sogar ohne Kopfbedeckung an der Andacht und am Reli­ gions­u nterricht teilnehmen, ebd. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 215, 221, 224, 366.

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der jüdisch-­aufklärerischen Zeitschrift Ha-Meassef 27 besprochen und betont. Es wurden auch zahlreiche Gedichte dazu veröffentlicht, und es wurde die Betonung des Schönen in der Synagoge und in der Sprache, insbesondere in Form der Kritik an der jiddischen Sprache, angesprochen.28 Die Hervorhebung der Sprache, aber auch des Handwerks29 in der schulischen Ausbildung wird für das ästhetische Verständnis der Schüler förderlich gewesen sein. Tatsache ist dennoch, dass diese Schulen von nur wenigen Schülern besucht wurden.30 Die Eltern legten zunehmend Wert auf eine gute weltliche Ausbildung ihrer Kinder, auf Lese- und Schreibfähigkeit sowie auf das Erlernen der französischen Sprache.31 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts schickten jüdische Eltern ihre Kinder vermehrt auf christliche Schulen ohne jüdischen Religionsunterricht. In dem Zeitraum zwischen 1839 und 1867 verringerte sich die Zahl der Schüler in den jüdischen Schulen Berlins um mehr als die Hälfte, von 55 % auf 25 %.32 An dieser Stelle spricht die Fachliteratur zur Geschichte der Juden in Deutschland von einer sich verbreitenden Assimilation der Juden, was eine Abkehr der Juden vom Judentum impliziert.33 Dagegen spricht allerdings die Tatsache, dass nie zuvor in einem solchen Maße zur Geschichte und Kultur der Juden geforscht und geschrieben wurde wie im 19. Jahrhundert.34

Die Rolle der Wissenschaft des Judentums für die Betrachtung der jüdischen Kunst Eine besondere Rolle spielt hier die neu begründete Wissenschaft des Judentums. Diese Bewegung, der solch bekannte Persönlichkeiten wie Leopold Zunz (1794–1886), ­Abraham Geiger (1810–1874), Heinrich Graetz (1817–1891) und später Leo Baeck (1873–1956) sowie Franz Rosenzweig (1886–1929) u. a. angehörten, führte erstmals eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Judentum.35 Dabei ging es weniger 27 Hebräische Zeitschrift gegründet von Isaac Euchel 1783 in Königsberg, ab 1787 in Berlin, mit z. T. mehrjährigen Pausen bis 1811 erschienen (Die komplette digitalisierte Sammlung sämtlicher Ausgaben findet sich im gemeinsamen Projekt Historical Jewish Press der Israelischen Nationalbibliothek der Hebräischen Universität in Jerusalem und der Universität Tel Aviv, http://jpress.org.il/ Olive/APA/NLI_heb/?action=tab&tab=browse&pub=HAA#panel=document, Stand 17. 0 4. 2017). 28 Eliav (2011), S. 11; Simon (2002), S. 44. 29 Eliav (2011), S. 221. 30 Simon (2002), S. 27, bezieht sich auch auf das 18. Jahrhundert. 31 Eliav (2001), S. 216. 32 Ebd., S. 415. 33 Vgl. die Darstellung der Problematik dieser Begriffe bei Brechenmacher, Thomas, Zwischen Assimilation und jüdischer Renaissance. Orientierungen der Berliner Juden zwischen 1860 und 1938, in: ders. (Hg.), Identität und Erinnerung. Schlüsselthemen deutsch-jüdischer Geschichte und Gegenwart, München 2009, S. 57–89, besonders S. 62 f. und Fußnoten 18–20. 34 Siehe dazu als Beispiel die umfassende Geschichte der Juden von Heinrich Graetz; Graetz, Heinrich, Geschichte der Juden, 11 Bde., Berlin/Leipzig/Magdeburg, 1853–1875. 35 Immanuel Wolf schrieb in der ersten Ausgabe der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1822/23 über die Ziele der Strömung, dass es darum gehe, die „gesammten [sic] Verhältnisse, Eigen­ thümlichkeiten [sic], und Leistungen der Juden, in Beziehung auf Religion, Philosophie, Geschichte, Rechtswesen, Litteratur [sic] überhaupt, Bürgerleben und alle menschlichen Angelegenheiten; – nicht aber in jenem beschränkten Sinne, in welchem es nur die Religion der Juden bedeutet“, zu

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um eine religiöse oder theologische Richtung als um eine historische, philosophische und kulturelle Beschäftigung mit dem Phänomen „Judentum“. Seit der Gründung des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden 1819 setzte sich die daraus entstandene akademische Bewegung der Wissenschaft des Judentums gegen eine ausschließlich christlich geprägte Betrachtung des Judentums ein. Man wollte gegen die Annahme angehen, das Judentum habe schlicht nicht genug Wichtiges hervorgebracht, um berücksichtigt und studiert zu werden. Ausschlaggebend war hier der Entschluss, die Erforschung des antiken Judentums nicht zu den Schwerpunkten der Altertumswissenschaften zu zählen.36 Die neu entwickelte Wissenschaft des Judentums arbeitete also in zwei Richtungen: Zum einen versuchte man, durch Aufarbeitung historischer Quellen und einer daraus entwickelten Geschichte der Juden die außenstehende akademische Welt davon zu überzeugen, dass das Judentum mehr war als das, was die christlich geprägten Disziplinen daraus gemacht hatten. Außerdem wollte man die starren Strukturen des rabbinischen Judentums, welches das Studium nichtjüdischer Quellen ausschloss, aufbrechen, indem man die sogenannte „jüdische Literatur“ aufzuwerten gedachte. Es wurde ein deutlicher Unterschied zwischen biblischer und rabbinischer Literatur formuliert, und Erstere zugunsten der Zweiteren fallen gelassen.37 Die Beschäftigung mit der Literatur zeugte von der Suche nach einer Gemeinsamkeit mit der übrigen akademischen Welt. Die Befürworter der Wissenschaft des Judentums hatten allesamt neben ihrer religiösen auch eine weltliche Ausbildung genossen und konnten in anderen säkularen Disziplinen durchaus Professoren werden.38 Man kann sich daher vorstellen, dass es für sie von großem Interesse war, dem Judentum eine respektable, den wissenschaftlichen Maßstäben gerechte Sicht zu verleihen. Kunst als Thema gehörte nicht zu den diskutierten und untersuchten Gebieten der Wissenschaft des Judentums. Dies lag offensichtlich und hauptsächlich daran, dass sich unter den Wissenschaftlern kein Kunsthistoriker befand. Dies ist nur verständlich, betrachtet man die Tatsache, dass der erste Lehrstuhl für Kunstgeschichte erst 1844 in Berlin gegründet und durch seine Bindung an die preußische Regentschaft nicht nur institutionalisiert, sondern auch im Namen des Nationalismus instrumentalisiert wurde.39 Die Ausrichtung des Faches Kunstgeschichte in der allgemeinen akademischen Forschung entsprach jedenfalls nicht den Hauptinteressen der Wissenschaft des Judentums, was ihre Beschäftigung mit der Geschichte der Jüdischen Kunst obsolet machte. Ihr wesentlicher Beitrag zu dem hier zu untersuchenden Themenfeld liegt jedoch in der Förderung der Betrachtung ästhetischen Ausdrucks als

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untersuchen, Wolf, Immanuel, Über den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums, in: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums, hg. v. Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden, Berlin 1823, S. 1–24, hier S. 1 (Online-Ausgabe im Rahmen des Digitalisierungsprojektes Compact Mem­ ory der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, http://sammlungen. ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2969118, Stand 17. 0 4. 2017). Schorsch (2000), S. 12. Ebd., S. 16 f. Künzl (2000), S. 182; Olin (2001), S. 79. Olin (1999), S. 21.

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Beweis für eine lebendige ­k ünstlerische Kraft innerhalb der jüdischen Erfahrung. Ihre Auseinandersetzung mit der hebräischen Literatur unterschiedlicher historischer Epochen und verschiedener geografischer Verortung ist vergleichbar mit dem Anspruch, der an die vorliegende Arbeit gestellt wird. Die Wissenschaft des Judentums betrachtete die Literatur als Beweis für ein weltliches Judentum, dessen Inhalt nicht ausschließlich biblisch und damit nicht nur an biblische Themen gebunden war. Daraus resultierte für sie eine lebendige jüdische Kultur, die auch in der Gegenwart wahrzunehmen war.40 ­Leopold Zunz selbst war der Überzeugung, dass eine Kultur durch die Betrachtung ihres Kerns und ihrer Ausdrucksformen verstanden werden sollte.41 Diese Betrachtung kann als Basis für die Beschäftigung der Wissenschaft des Judentums mit der Volkskunde gesehen werden. Durch ihre Aufarbeitung historischer Quellen des aschkenasischen Judentums und die damit zusammenhängende Hinwendung zu volkstümlichen Traditionen und Gegebenheiten des osteuropäischen Judentums ebneten sie den Weg für die ethnografischen Untersuchungen jüdischer Kunstdenkmäler durch jüdische Künstler Osteuropas im Rahmen der Expeditionen der 1908 gegründeten Russisch-Jüdischen Ethnographischen Gesellschaft.42 In Deutschland folgte der Wissenschaft des Judentums aufgrund der konsequenten Nichtberücksichtigung der Jüdischen Kunst als Themenfeld eine Welle von Abhandlungen, die sich umso mehr den jüdischen Kunst- und Kulturdenkmälern, wie Synagogenbauten, Kultgeräten und Schriftensammlungen, widmeten. Mit Dokumentationen dieser Art beschäftigten sich meist Laien, allenfalls Kunstlieb­ haber ohne wissenschaftlichen Hintergrund. Diese Publikationen gingen Hand in Hand mit zahlreichen Gründungen von Judaica-Sammlungen und Gesellschaften wie der Gesellschaft für Sammlung und Conservirung von Kunst- und historischen Denk­mälern des Judenthums u. v. m. Auch hier beschäftigten sich meist nicht Kunsthistoriker, sondern jüdische Intellektuelle mit Kunstinteresse, wie z. B. Kunstsammler, mit dem Thema, was zu zahlreichen Überinterpretationen und Fehleinschätzungen der Werke führte.43 Die jüdische Identität erfuhr frei nach Mendelssohn, wie bereits beschrieben, eine neue Definition, wurde jedoch nie gänzlich von der Religion getrennt.44 Auch wenn es viele Jahre dauerte, bis die Juden tatsächlich ihre Lebensgewohnheiten änderten,45 wurde durch die Aufklärung und die daraus resultierenden Entwicklungen ein Prozess losgetreten, der laut Peter Gay einem der zwei fundamentalen Merkmale der Moderne entspricht: der Selbsterforschung.46 Bereits in der Antike ist ein tiefer Drang nach der Erkundung der menschlichen Natur verwurzelt. Der zweite Aspekt, den Gay 40 41 42 43 44

Schorsch (2000), S. 13. Ebd., S. 15. Siehe S. 24, Fußnote 9. Olin (2001), S. 82, 88. Kassow, Samuel, Introduction, in: Katz, Steven T. (Hg.), The Shtetl. New Evaluations, New York 2007, S. 1–28, hier S. 12; Reinke (2007), S. 69 f; Schorsch (2000), S. 14; vgl. auch Lenhart (2009), S. 39, außerdem Olin (2001), S. 76. 45 Simon (2002), S. 55. 46 Gay (2007), S. 24.

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nennt, ist die Häresie, die er als eine Auflehnung gegen gegebene Strukturen, besonders gegen die Bourgeoisie, das Bürgertum, definiert. Im Falle der jüdischen Kultur stünde allerdings anstelle des Bürgertums die Religion als Stellvertreter für verkrustete, ver­ altete Strukturen, die es aufzubrechen gälte.

Das Kulturverständnis im Preußen des 19. Jahrhunderts Der preußische Staats- und Verwaltungsapparat wirkte im 19. Jahrhundert in alle Lebensbereiche der Gesellschaft hinein. Als Teil dieser Entwicklung ist auch die Gründung des Kultusministeriums im Jahre 1817 zu zählen. Das neu gegründete Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten vereinte zunächst – mangels einer eindeutigen staatlichen Position zum Verständnis von Kultur – die Bereiche von Kultur und Kultus und sah ihren Hauptaufgabenbereich in der evangelischen und katholischen Kirchenverwaltung sowie in der Bildungs-, Wissenschafts- und Gesundheits­ politik. Eine Involvierung des Ministeriums in Angelegenheiten des Kunstbetriebes war zunächst nicht angedacht. Den Bereich der Künste sah man immer noch als dem Hofe und dem Adel vorbehalten. Dennoch herrschte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bei den Verantwortlichen die Meinung vor, man habe im internationalen Vergleich die Kunst vernachlässigt, sodass Sammlungsgründungen und -erweiterungen gefördert wurden. Die Eröffnung des ersten Kunstmuseums in Berlin, nämlich des Alten ­Museums im Berliner Lustgarten, im Jahre 1830 war einer gemeinsamen Anstrengung von Hof, hochrangigen Beamten und Kunstexperten geschuldet. Dieser „Tempel der Kunst“ sollte nicht wie in den Jahrhunderten zuvor die Kunst durch die Ausstellung aufwerten und für die Künstler als Ausbildungsort dienen, sondern der Besucher sollte durch die Kunst im Sinne der bürgerlichen Verbesserung als Mensch beeinflusst werden. Tatsache ist, dass die Entstehung eines öffentlichen Kunstmuseums kein Ergebnis der preußischen Reformen war, sondern eine Reaktion auf ein Bedürfnis der Gesellschaft darstellte. Die Bedeutung und Funktion von Kunst wurden zum Bestandteil des öffentlichen Diskurses, und Kunst gehörte damit zum pädagogischen Kanon. Das Museum orientierte sich an den bereits seit dem 18. Jahrhundert in Europa etablierten Kriterien der Museumskultur, nämlich Gemeinnützigkeit, Wissenschaftlichkeit und allgemeine Zugänglichkeit. Bereits zur Mitte des Jahrhunderts wurde das Kultusministerium in seinem Gesamtumfang zum drittgrößten Ministerium der Staatsverwaltung. Trotz einer anfänglichen Konzeption bereits in den 1840er-Jahren wurde bildende Kunst erst 1907 zu einem ausgewiesenen Bereich des Kultusministeriums. Dieser neue Bereich wurde allerdings nicht aus verwaltungstechnischen Gründen eingerichtet, sondern vor allem als Instrumentarium zur staatlichen Kontrolle vor allem moderner künstlerischer Bewegungen.47 Kunst und Kultur wurden zu einem wichtigen Bestandteil der Gesellschaft. 47 Holtz, Bärbel, Preußens Kulturstaatlichkeit im langen 19. Jahrhundert im Fokus seines Kultusministeriums, in: Neugebauer, Wolfgang; Holtz, Bärbel (Hg.), Kulturstaat und Bürgergesellschaft.

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Diese galt es, vonseiten des Staates zu kontrollieren. Die Kunst bekam die im Sinne des Nationalismus wichtige Aufgabe, die Bildung der Menschen in Preußen in die richtige Bahn zu lenken. Neuerungen in künstlerischen Techniken und Motiven sollten demnach von den kaisertreuen Kunstakademien kontrolliert und am besten diktiert werden. Abweichungen von den vom Staat vorgegebenen Bewegungsräumen wurden als potenzielle revolutionäre Gefahrenherde gesehen, die es zu unterdrücken galt. Diese zu erkennen und zu bestimmen, war unterdessen die Aufgabe der Presse und der Kunstkritik. Demnach entwickelten sich neue künstlerische Richtungen schnell zu Streitpunkten zwischen Progressiven und Gegnern der Moderne.

Max Liebermann als „jüdischer Künstler“ Geriet man als Künstler, Kulturschaffender oder Akademiker jüdischer Herkunft zwischen die Fronten, ließen antisemitische Anfeindungen ohne jeglichen künstlerischen Bezug nicht lange auf sich warten. Dieser Aspekt lässt sich eindrucksvoll am Werdegang des Malers Max Liebermann nachvollziehen. Er wurde 1847 geboren und stammte aus einer wohlhabenden, assimilierten jüdischen Familie, die von dem Emanzipationsedikt von 1812 stark profitiert hatte. Robert Fleck schreibt in dem 2011 erschienenen Katalog zur Ausstellung „Max Liebermann. Wegbereiter der Moderne“, dass es in der Zeit der europäischen Industrialisierung typisch für solch eine Unternehmerdynastie gewesen sei, dass sich die dritte Generation nicht der Industrie widmete.48 Obgleich er nicht die Unternehmerlaufbahn einschlug, war Liebermanns Erfolg nicht minder groß. Er vertrat die Schicht des Berliner Großbürgertums, aus der er stammte. Durch die finanzielle Unabhängigkeit seiner Familie und deren Einfluss als Industrielle war Liebermann vonseiten der Regierung unangreifbar. Sein ganzes Interesse galt der Kunst der Moderne, die er auf seinen Reisen und zahlreichen Auslandsaufenthalten in Paris und den Niederlanden kennengelernt hatte. Die Entwicklung dieser Kunst sah er allerdings ausschließlich in unabhängigen Organisationen verankert. Er war Gründungsmitglied der allerersten Künstlervereinigung jener Zeit in Preußen – der Vereinigung der XI. Eine unabhängige Kunstentwicklung, die womöglich eine eigene, durch die Künstlergruppe definierte Wertigkeit in Kunst und Kultur bestimmen könnte, wurde als illoyal dem Kaiser gegenüber angesehen. Liebermanns Vorteil bestand darin, dass er zu dieser Zeit bereits berühmt war und seine Bilder reißenden Absatz fanden. Vonseiten der Behörden wurde daher eine Taktik ergriffen, die gerne in der Politik eingesetzt wurde: Da er aufgrund seines hohen Bekanntheitsgrades nicht bekämpft werden konnte, wurde ­Liebermann besonders in die Akademie eingebunden. Man glaubte, ihn damit jener Kontrolle unterwerfen zu

Preußen, Deutschland und Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Berlin 2010, S. 55–77, hier besonders S. 62–65, 68 f. 48 Fleck, Robert, Wegbereiter der Moderne, in: ders., Max Liebermann. Wegbereiter der Moderne, Katalog zur Ausstellung, Köln 2011, S. 35–86, hier S. 38.

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können, die die kulturelle Staatsräson darstellte.49 Erwartet wurde nun eine internatio­ nal und national verträgliche Kunstvorstellung. Die Gründung der Berliner Sezession 1899 sollte die Konsequenz darstellen, die ein solches Diktat künstlerischer Vorgaben bei Liebermann als Künstler bewirkte. Er war grundsätzlich für eine strikte Trennung von Kunst und Politik, denn seiner Ansicht nach „[…] kennt die Kunst weder religiöse noch politische Grenzen“.50 Max Liebermann zog im Laufe seines Schaffens den Unmut zahlreicher Personen aus regierungsnahen und konservativen Kreisen auf sich.51 Zunächst wurde seine Weigerung, sich dem Staatsdiktat zu fügen, im weitesten Sinne als eine Bedrohung der be­ stehenden Verhältnisse angesehen. Man versuchte nun, mit allen Mitteln seine Stellung zu demontieren. Nicht nur dem Staatsbürger Liebermann wurde mangelnde Loyalität vorgeworfen, auch seine Person als Künstler wurde angegriffen. Dies resultierte unter anderem aus dem Anspruch an die zeitgenössische Kunstgeschichtsschreibung, als akademische Disziplin zum nationalen Selbstverständnis der Gesellschaft beizutragen. In der Zeit der Neuerschaffung einer nationalen Geschichte wurden alle Wissenschaften in diesem Sinne beansprucht. Die Kunstgeschichte stellte diesbezüglich keine Ausnahme dar. Die Einteilung der Kunst in nationale Einflüsse und Gebiete seit der Antike sollte eine national-deutsche Kunst legitimieren.52 Aus dieser Perspektive wurde Liebermann besonders seine starke Verbindung zu Frankreich und vor allem zum französischen Impressionismus vorgeworfen. Infolge des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 war das ohnehin schlechte Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland besonders angeschlagen. Auf der Suche nach geeigneten Angriffsflächen wurden nationalistisch orientierte Kritiker schnell auf die jüdische Herkunft Liebermanns, die er nie versteckt, aber auch nicht gelebt hatte, aufmerksam. Der antisemitische Vorwurf war wie so oft sehr einfach gestrickt: Da die Wissenschaft auf allen Ebenen daran arbeitete, eine deutsche Nation durch die Erfindung einer neuen Geschichte und Tradition zu formen, wurden Künstler wie Liebermann, deren Kunst niederländische und französische Einflüsse aufwies, als „undeutsch“ diffamiert.53 Vor diesem Hintergrund spielte es auch keine Rolle, dass Liebermann auch in Frankreich eher ausgegrenzt war. Für die Franzosen war Max Liebermann kein jüdischer Künstler, sondern in erster Linie ein Deutscher. Ihm wurde vermehrt der Kontakt zu französischen Künstlern verwehrt, wodurch ihm 49 Ebd., 46 ff. 50 So schrieb Liebermann 1931 in einem Brief an Meir Dizengoff, zit. nach Frübis, Hildegard, Bilder und Facetten – der Maler Max Liebermann und seine Rezeption, in: Hödl (2005), S. 133–143, hier S. 140. 51 Fleck (2011), S. 35 f, Max Liebermann wurde in jener Zeit aufgrund der von ihm gewählten Motive von Arbeiterinnen und Genreszenen des Alltags eine Nähe zum Sozialismus vorgeworfen, die Kunstkritik bezeichnete ihn als „Dreckmaler“ sowie als „Apostel der Hässlichkeit“ und seine Malerei als „Rinnsteinkunst“ und „Armeleutemalerei“ (ebd., S. 43). Siehe dazu besonders die Reaktionen zu Der zwölfjährige Jesus im Tempel weiter unten, besonders Fußnote 196. 52 Olin (1999), S. 20. 53 Olin (1999), S. 28 f.

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zahlreiche wichtige Kontakte und Impulse entgingen, wie die in den Salons von 1872 und 1874 ausgestellten Werke von Édouard Manet oder die erste Impressionistenausstellung 1874, die viel Kritik hervorrief.54 Liebermanns Kreis pflegte eher den Umgang mit ausländischen Künstlern, u. a. mit dem ungarischen Maler Mihály Munkáczy (1844–1900), der ihn stark beeinflusste. Man kann daher sagen, dass der französische Einfluss – zumindest im künstlerischen Sinne –, dem der Maler in Paris ausgesetzt war, um einiges schwächer ausfiel, als seine Gegner behaupteten.55 Aber ihnen ging es im Kern auch nicht um die Sorgfalt ihres Arguments, die künstlerische Qualität oder die Interpretation seines Œuvre, sondern um die Diffamierung seiner Person. Trotz des Drucks und obwohl es zeitweise mit Sicherheit Vorteile mit sich gebracht hätte, hatte sich Liebermann im Gegensatz zu zahlreichen anderen Kulturschaffenden jüdischer Abstammung nicht taufen lassen. Er vertrat die Ansicht: „Ich bin als Jude geboren, ich werde als Jude sterben.“56 Die Ausgrenzung eines Künstlers als nicht zur deutschen Nation gehörig sollte ­Liebermann der Berechtigung berauben, die deutsche Kultur mitzugestalten. Außerdem sollte sie das Publikum, das die staatlichen Vorgaben mittragen sollte, auf­schrecken. Um die Jahrhundertwende taten antisemitische Angriffe Max Liebermanns Beliebtheit allerdings keinen Abbruch. Sie waren ihm auch seit dem Debakel um sein Bild Der zwölfjährige Jesus im Tempel aus dem Jahre 1879, das dazu geführt hatte, dass sich Liebermann von biblischen Szenen abwandte, schmerzlich bekannt.57 Anfang des 20. Jahrhunderts war der Maler eine respektierte Persönlichkeit, der in erster Linie als deutscher Bürger und erfolgreicher Künstler, als Begründer der Berliner Sezession, Ehrenpräsi­ dent der Freien Sezession, Mitglied der Akademie der Künste sowie als „Vorbild der Nation“ angesehen wurde. Er ebnete durch seinen Einsatz den Weg für eine neue, junge Künstlergeneration und gab ihr das Selbstbewusstsein, für die eigenen Überzeugungen einzustehen, selbst wenn er sie nicht teilte, wie man am Beispiel des alsbald aufkommenden Expressionismus sehen konnte.58 Dennoch zeigten Anfeindungen dieser Art die anfängliche Stimmung, die sich in den darauffolgenden Jahren stark aufheizen sollte. Der Antisemitismus definierte hier die Bezeichnung „jüdischer Künstler“ als eine Abwertung, die vor allem den Vorwurf des fehlenden Patriotismus und des Kosmopo-

54 Strauss, Heinrich, On Jews and German Art (The Problem of Max Liebermann), in: Year book/Leo Baeck Institute of Jews from Germany 2 (1957), Nr. 1, S. 255–269, hier, S. 262. 55 Ebd., S. 262 f. 56 Ebd., S. 264. 57 Frübis (2005), S. 139, und Fußnote 23. 58 So ergriff Oskar Kokoschka in der Frankfurter Zeitung Partei für Liebermann, nachdem sich dieser am 8. Mai 1933 mit einem offiziellen Brief an die deutsche Presse gewandt und darin seinen Rücktritt vom Amt des Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste aus aktuellen politischen Gründen bekannt gegeben hatte. Fleck (2011), S. 82; die Aussage Kokoschkas ist zit. nach Wulf, Joseph, Kultur im Dritten Reich, 5 Bde., hier Bd. 3: Die bildenden Künste im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1989, S. 82–88.

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litismus beinhaltete.59 Es war auch der Antisemitismus, der Liebermann den Zionisten näherbrachte, gegen die er sich zu Beginn des Jahrhunderts noch stark gewehrt hatte. Bei einer erstarkenden deutsch-jüdischen Gemeinschaft um die Jahrhundertwende und dem Aufkommen des Zionismus stellt sich die Frage, wie denn Max Liebermann als Künstler und als Jude innerhalb dieser Gemeinschaft einzuordnen ist. Aus der Biografie des Malers wissen wir, dass sich seine Familie – obgleich eher säkular und bürgerlich – sehr stark in der jüdischen Gemeinde engagiert hatte.60 Auch Max Liebermann war zeit seines Lebens Mitglied der jüdischen Gemeinde in Berlin,61 was auch seine Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee bestätigt. Damit sind aber schon die persönlichen Fakten über Max Liebermann, die auf seine Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft hinweisen, ausgeschöpft. Dennoch beschäftigte diese Frage die Forschung sowie die Kunstkritik bereits zu Liebermanns Lebzeiten. Daraus resultierten im Laufe eines gesamten Jahrhunderts zahlreiche Interpretationen und Thesen, welche das Innere Liebermanns zu beleuchten versuchten, um wiederum eigene Erwartungen, Hoffnungen oder Befürchtungen bestätigt zu sehen. Chana C. Schütz führt in ihrem Aufsatz „Max Liebermann as a ‚Jewish‘ Painter: The Artist’s Reception in His Time“ drei Sichtweisen an, aus denen man sich der Abstammung des Malers näherte: die antisemitische, die kulturzionistische und die kunstkritische.62 Die antisemitischen Anfeindungen waren immer gleich und basierten im Wesentlichen auf den gängigen, verbreiteten Vorurteilen, die auf seinen vermeintlichen Einfluss innerhalb des Kunstbetriebs, seine Nähe zur modernen Kunst sowie zum französischen und niederländischen Impressionismus anspielten.63 Naturgemäß konnten diese nicht auf das Kunstschaffen des Künstlers angewandt oder übertragen werden. Antisemitisch motivierte Kritik zielte darauf ab, Liebermann als öffentliche Person und Amtsträger innerhalb des Kunstbetriebs anzugreifen und als Autorität zu demontieren. Eine fundierte ablehnende Meinung konnte nur durch eine tiefgreifende Kunstkritik geliefert werden, die sich zwar nicht auf dem Niveau der antisemitischen Ressentiments bewegte, doch von Antisemiten übernommen wurde.64

59 Frübis sieht in den antisemitischen Anfeindungen einen Beleg dafür, dass Liebermann ein „In- und Outsider“ in der deutschen Kultur war, Frübis (2005), S. 139. 60 Besonders Max Liebermanns Großmutter väterlicherseits engagierte sich für die Armenpflege in ihrer Gemeinde, Hancke, Erich, Max Liebermann. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1914, S. 12; außerdem Bilski, Emily D.; Bauschinger, Sigrid (Hg.), The Berlin metropolis. Jews and the new ­c ulture, 1890–1918, Berkeley 1999, S. 148. 61 Dettmer, Frauke; Schütte, Margret; Guratzsch, Herwig (Hg.), Max Liebermann 1847–1935, „Ich bin doch nur ein Maler“; Katalog zur Ausstellung, Rendsburg Jüdisches Museum [Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloß Gottorf; 2003], Halle an der Saale 2002, S. 13. 62 Schütz, Chana, Max Liebermann vor Gericht. Ein Essay im Berliner Börsen-Courier, in: Faass, ­Martin; Wandrey, Petra; Bertz, Inka (Hg.), Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik, Berlin 2009, S. 79–82; Bilski (1999), S. 152. 63 Bilski (1999), S. 153. 64 Ebd.

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Die freie intellektuelle Kunstkritik, d. h. eine, die keinem staatlichen Diktat folgte, begegnete also Liebermann ebenfalls zuweilen ablehnend. Der Grund dafür war jedoch nicht seine Abstammung, sondern die Ablehnung der von Liebermann und der Berliner Sezession formulierten Definition der „modernen Kunst“. Vielen Kritikern waren seine Theorien zur „neuen“ Kunst nicht radikal genug. Man warf ihm vor, immer noch zu sehr der Akademie verhaftet und den modernen Strömungen gegenüber zu verschlossen zu sein. Für Liebermann basierte die moderne Kunst vor allem auf dem Impressionismus, während um die 1910er-Jahre die neuen Bewegungen des Expressionismus, Futurismus und Kubismus sich ihren Weg in den Kunstbetrieb bahnten. Die Nachahmung der Natur und das Festhalten an der Form waren für die Anhänger der abstrakten Kunst, trotz abstrahierender impressionistischer Technik, diejenigen Elemente, die die moderne Kunst eines Liebermann zu konservativ erscheinen ließen.65 Der Maler Liebermann hatte demnach an zwei künstlerischen Fronten zu kämpfen: auf der einen Seite gegen das wilhelminische, akademische und politisierte Verständnis von Kunst und auf der anderen gegen eine radikale, die Form verneinende und kompromisslos neue Strömungen fordernde Kunst, die für ihn nicht greifbar schien. Die Position zwischen den streng Konservativen und Modernen nahm Liebermann auch innerhalb der jüdischen Kulturentwicklung in Deutschland ein.

Der zwölfjährige Jesus im Tempel Max Liebermann leugnete seine jüdische Abstammung nie, wichtig wurde sie ihm aber erst mit den steigenden Anfeindungen. Liebermann begegnete dem Thema „Judentum“ mit der Zeit zunehmend sensibler und thematisierte es in Diskussionen offenbar öfter, als es seinen Freunden und Kollegen lieb war. So beschrieb Karl Scheffler z. B. 65 Wie nah allerdings die kunsttheoretischen Anschauungen von Max Liebermann und dabei vor ­a llem seine Ansicht, die Kunst sei keine reine Naturnachahmung, sondern werde durch den Künstler neu erfunden, an denjenigen seiner mehr Offenheit zur Abstraktion fordernden Kritiker lag, lässt sich gut an folgendem Ausschnitt eines Aufsatzes eines Kritikers aus der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm nachvollziehen: „Ich richte mich […] nicht gegen die Meisterwerke der Impressionisten, die wie jede Kunst jenseits aller Werturteile stehen, sondern gegen das ästhetische Dogma. Zwischen Natur und schöpferischer Kraft können die vielfältigsten Beziehungen neben der gepredigten sklavischen Anklammerung bestehen. In früheren Epochen konzipierte man aus dem einzelnen Gegenstand mit Abstraktion aufs Lineare. Der Impressionismus verzichtete darauf, weil er das Objekt in Relation zu Luft und Licht darstellen wollte. Warum sollte es nicht auch noch jenseits dieser Möglichkeiten neue Formen geben? […] Man hat Glauben [sic] machen wollen, – auch der sonst so nüchterne, posenfreie Liebermann in seinem phrasenreichen Epilog – die ganze neue Bewegung sei nur eine genialische Gebärde von jungen Leuten, die nichts können. Und die Tages­ kritik hat in einer Unverschämtheit, die nur höchster Impotenz eigen ist, eine erschreckende Verständnislosigkeit offenbart. Man ist wieder einmal mit allen Formeln der Aesthetik bankerott [sic] gegangen und erklärt in verblüffend unverschämter Trägheit die jungen Künstler für Idioten. Völlig unfähig, Kunstwerke als Ausdruck eines vollen, starken Energiestromes künstlerischer Gestaltungsfähigkeit zu betrachten, verkennt man den Ernst und das mühsame und arbeitsreiche Streben der Künstler“, Schönlank, A. R., Die neue Malerei. Neue Sezession, in: Der Sturm. Wochenschrift für Kultur und die Künste, Jg. 2, Nr. 58, 8. April 1911, S. 463–464, hier S. 463 f.

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eine Unter­haltung mit Liebermann aus dem Jahre 1910, in der der Maler mit zitternder Stimme über das Judentum sprach und Scheffler sich damit an das Motiv des „ewigen Juden“ er­­innert fühlte. Scheffler schien diese Art des Philosophierens unangenehm gewesen zu sein, es erinnerte ihn allzu sehr an Rassentheorien. Er sah Liebermanns Verhalten diesem Thema gegenüber als wenig förderlich für Kunst und Künstler an.66 Es bleibt allerdings offen, ob sich seine Auseinandersetzung mit dem Judentum auch in seiner Kunst widerspiegelte. Als der Maler 1879 das Gemälde Der zwölfjährige Jesus unter den Schriftgelehrten (Abb. 9) schuf, stellte er den jungen Jesus als einen echten jüdischen Jungen dar. Die in der Mitte des hochrechteckigen, großformatigen Bildes platzierte Figur des Kindes ist in der ursprünglichen Skizze (Abb. 10) mit kurzen wilden Haaren dargestellt. Der Junge trägt ein unordentlich gebundenes, antik anmutendes Gewand, das hinten kürzer ist als vorne und damit das linke Bein des Kindes bis übers Knie entblößt, und keine Schuhe. Seine Augen scheinen dunkel und die Augenbrauen tief ins Gesicht gezogen. Er hat eine für ein Kind recht große Nase mit einer leicht nach unten gezogenen Spitze und ein spitzes Kinn. Die Figur steht in einem ­g roßen Ausfallschritt zu seinen um ihn herum versammelten Zuhörern und fast mit dem Rücken zum Betrachter gewandt. Voller Elan scheint das Kind zu argumentieren, da es mit den Händen eine ausdrucksstarke Gestik suggeriert. Die gesamte Szene spielt sich in einem Synagogenraum ab. Dem Betrachter wird ein in die Höhe ragender Raum zwischen den Gebetsbänken und der Bima, dem Lesepult des Rabbiners oder des Vor­ beters, eröffnet. Im Hintergrund erstreckt sich eine schwere, dunkle Wendeltreppe aus Holz, die offensichtlich zur Frauenempore führt. Die prunkvolle Holzausstattung sowie die angedeutete Deckenhöhe und die im Hintergrund dargestellten Gitterfenster weisen auf eine Synagogenarchitektur hin, die für sephardische Synagogenbauten in den

66 Strauss (1957), S. 264; in der kürzeren Version dieses Aufsatzes, die 1972 in Strauss’ Buch Die Kunst der Juden im Wandel der Zeit und Umwelt. Das Judenproblem im Spiegel der Kunst erschienen war, weist der Autor in einer Fußnote darauf hin, dass in der 4. Bearbeitung der Liebermann-Monografie von Scheffler von 1953 dieses Gespräch keine Erwähnung findet. Scheffler, zu diesem Zeitpunkt bereits über 80 Jahre alt, behauptet darin sogar, dass Liebermann niemals aufgrund seiner Herkunft benachteiligt worden wäre. Vgl. Strauss, Heinrich, Die Kunst der Juden im Wandel der Zeit und Umwelt. Das Judenproblem im Spiegel der Kunst, Tübingen 1972, S. 93, Fußnote 137. „Die jüdische Abstammung hat Liebermann kaum benachteiligt, wenn man von den letzten Lebens­jahren absieht. Sie förderte ihn dagegen durch intellektuelle Sicherheit, kritische Unbefangenheit und klare Erkenntnis des in einem höheren Sinne Zeitgemäßen. Ganz abgesehen kann von dieser Herkunft nicht werden, doch verführt jede Übertreibung zu schiefen Urteilen. Der Maler selbst hat aus Wider­standsgefühl, seine Abstammung zuweilen überbetont. […] Gewisse Züge der Persönlichkeit und des Talents, die auf die jüdische Herkunft hinweisen, sind der deutschen Malerei zweifellos zugute gekommen.“ Scheffler nennt keine konkreten Eigenschaften, die er als „jüdisch“ wahrgenommen hätte, es wird aber ersichtlich, dass er damit einen Sinn für das „Übernationale“ meinte, der Liebermann befähigt hatte, die deutsche Malerei durch die französische zu befruchten, zit. und wiedergegeben nach Scheffler, Karl, Max Liebermann, Wiesbaden 1953, S. 8 f. Strauss widerspricht auch hier; seiner Ansicht nach gelang es Liebermann gerade nicht, durch den französischen Impressionismus einen neuen Weg für die deutsche Kunst zu weisen, er schreibt diesen Erneuerungsprozess dem Leibl-Kreis zu, Strauss (1957), S. 263.

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9  Max Liebermann, Der zwölfjährige Jesus unter den Schriftgelehrten, 1879, Kunsthalle, Hamburg

Nieder­landen, besonders in Amsterdam, charakteristisch war.67 Diese orientierten sich seit dem 18. Jahrhundert ganz bewusst an der Kirchen­architektur ihrer Umgebung und ließen zahlreiche Elemente, wie Säulen, die den Raum in mehrere Schiffe unterteilten,

67 Zu sephardischen Synagogenbauten siehe u. a. Künzl, Hannelore, Europäischer Synagogenbau vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Schwarz (1988), S. 89–114, hier S. 99. Hancke beschreibt außerdem, dass die Raumdarstellung in diesem Bild einige Elemente der Amsterdamer Synagoge (Gesamtraum) und derjenigen in Venedig (Treppe) beinhalte, Hancke (1914), S. 132.

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10  Max Liebermann, Jesus unter den Schriftgelehrten (Skizze), 1879, Kupferstich­kabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin

oder für die Umgebung typische Fenster, in die ­Synagogen einbauen. Die Diskussion zwischen dem Jesusknaben und den Gelehrten stellt das Hauptthema des Bildes dar. Dieses wird durch die Komposition hervorge­hoben. In der Mitte des Werks sind die drei Hauptfiguren, nämlich Jesus und zwei Gelehrte in Gebetsmänteln (Tallit), gruppiert. Die helle Farbe der Kleidung und der Tallit sowie die räumliche Nähe lassen die Figuren als zusammengehörig erscheinen. Weitere männ­liche Figuren flankieren das Haupt­ motiv. Die Figuren um den kleinen Jesus sind parallel zu den Bänken und damit quer in den Raum hinein platziert und verweisen klassisch durch ihre Körperhaltung bzw.

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Arm-, Kopf- und Handhaltung aufeinander, sodass die letzte männliche Figur im Inneren des Bildes die auf der Treppe stehende Frau in das Geschehen miteinbezieht. Helmut Leppien geht davon aus, dass die beiden Figuren im Hintergrund Maria und Joseph darstellen sollen.68 Bis auf den ikonografischen Hinweis gibt es allerdings keine Anzeichen im Bild selbst, die diese Figuren als die Eltern des jungen Jesus auszeichnen könnten. Sowohl durch ihre Platzierung im leicht abgedunkelten Hintergrund des Geschehens als auch ihre Vernachlässigung in den Skizzen, die dem Werk vorausgingen, ist anzunehmen, dass dieser Aspekt der Geschichte für Liebermann eine eher geringe Rolle spielte. Interessant für die Darstellung sowohl in der Skizze als auch im fertigen Bild ist die Kleidung der anwesenden Figuren. Besonders hervorzuheben sind die vom Betrachter aus ganz rechts außen stehende Figur sowie der Mann, dessen Kopf hinter dem ganz links außen platzierten Horchenden hervorragt. Die Kleidung dieser beiden Männer, das heißt der schwarze Mantel sowie die hohe Pelzmütze, ist als eindeutig osteuropäische, d. h. traditionelle aschkenasische Kleidung, einzuordnen.69 Die Männer im Vorder- und Mittelgrund tragen zeitgenössische Kleidung, an der sogar der gesellschaftliche Stand der Träger zu erahnen ist. Die beiden Figuren unmittelbar vor Jesus tragen jeweils einen Tallit, einen Gebetsmantel, darunter werden Anzughosen und Mäntel sichtbar. Einer der beiden trägt nicht einmal einen Bart, wie er jüdischen Männern nach religiösem Gebot vorgeschrieben ist, wodurch diese Figur als bürgerlich ausgezeichnet wird. Die anderen männlichen Figuren sind ärmlicher und dennoch deutlich zeitgenössisch gekleidet. Die gesamte Szene findet in einer Synagoge statt. Die beiden Männer im Tallit sowie zwei weitere Männer hinter dem Kind tragen allerdings keine Kopfbedeckung, was sogar für Besucher einer Synagoge außerhalb der Gebets­zeiten unzulässig ist. Der Ausschnitt der Szenerie zeigt außerdem nicht genug Männer, um ein Gebet abhalten zu können, denn dafür muss ein Minjan, also eine Gruppe von zehn Männern, anwesend sein. Sicherlich können weitere Männer außerhalb des Bildrandes vermutet werden. Allerdings wissen wir von anderen Beispielen wie Maurycy Gottliebs Die betenden Juden (Abb. 3), dass Künstler mit frommem jüdischen Hintergrund bei der Komposition besonderen Wert auf die religiöse Richtigkeit ihrer Sujets legten. Anna Sophie Howoldt vermutet daher unter Bezugnahme auf den Aufsatz von Katrin Boskamp „Die ursprüngliche Fassung von Max Liebermanns ‚Der zwölfjährige Jesus im Tempel‘. Ein christliches Thema aus jüdischer Sicht“ aus dem Jahre 1993 hinter den liturgischen bzw. rituellen Abweichungen in Lieber­manns Bild weniger die Unkenntnis oder die Unbekümmertheit des Künstlers diesem Aspekt gegenüber, sondern eine Illustration des assimilierten deutschen Judentums des 19. Jahrhunderts, das sich von den Traditio­nen abwendet.70 Ein Statement 68 Leppien, Helmut R., Der zwölfjährige Jesus im Tempel von Max Liebermann, hg. v. Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1989, S. 8. 69 Howoldt, Anna Sophie, Komposition und Bedeutung der Bekleidung im Gemälde „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“ von Max Liebermann, in: Faass, et al. (2009), S. 26. 70 Boskamp, Katrin, Die ursprüngliche Fassung von Max Liebermanns „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“. Ein christliches Thema aus jüdischer Sicht, in: Das Münster. Zeitschrift für Christliche

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dieser Art würde eine Auseinandersetzung des Malers mit dem Thema der religiösen Assimilation sowie die Kenntnisse über die ursprüng­lichen, traditionellen Verhältnisse und Bräuche des Judentums, deren Veränderungen das Bild dann en détail zum Ausdruck brächte, voraussetzen. Liebermanns Biografie zeigt jedoch auf, dass er sich nur begrenzt und meist reaktionär mit dem Judentum auseinandergesetzt hat. Er genoss keine religiöse Bildung und wurde auch sonst bürgerlich und eher säkular erzogen.71 Die Identifikation mit seiner Herkunft beschränkte sich darauf, dass er es bewusst akzeptierte, aus einer bürgerlichen jüdischen Familie abzustammen.72 Liebermann folgte bei der Ausführung des Bildes strikt der ikonografischen Vorgabe, in der es heißt, dass Maria und Joseph den nach dem Besuch Jerusalems zum Pessachfest verloren gegangenen Jesus „nach drei Tagen […] im Tempel [fanden]; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen“.73 Gleichzeitig versetzt er die Szenerie ins 19. Jahrhundert und suggeriert durch die Gebetsschals offensichtlich eine Gebetssituation,74 womit er einen inhaltlich unstimmigen Bruch erzeugt. Das Bild scheint mehrere Einzelelemente zu vereinen, die Liebermann bis zu diesem Zeitpunkt anhand von Beobachtungen und Skizzen gesammelt haben könnte. Der zwölfjährige Jesus im Tempel entstand in München, wohin Liebermann nach seinen Aufenthalten in Paris und Amsterdam reiste, was darauf hinweist, dass er das Sujet aus dem Kopf malte. In Amsterdam entstanden u. a. zahlreiche Skizzen des Judenviertels, denen die Figuren und vor allem die Architektur in dem vorliegenden Bild entlehnt sind. Während seiner ersten Reise nach Amsterdam im Jahre 1876 malte er die Synagoge in Amsterdam (Abb. 11), das ihm eindeutig als Vorlage für Der zwölfjährige Jesus im Tempel diente. Trotz leichter kompo-

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Kunst und Kunstwissenschaft, Jg. 46., H. 1 (1993), S. 29–36, hier S. 32, rezipiert bei Howoldt (2009), S. 25–28, hier S. 27 und Fußnote 7. Erich Hancke erwähnt zwar, dass die Kinder der Liebermanns neben dem normalen Schulunterricht auch Stunden in Religion, Französisch und Musik erteilt bekamen, Hancke (1914), S. 18. Allerdings geht der Autor nicht genauer darauf ein, was im Religionsunterricht behandelt wurde. Es ist naheliegend, dass es sich hier eher um einen allgemeinen Bibelunterricht handelte als um die Einweisung in die jüdische Religion, ihr Verständnis oder die Liturgie. Strauss (1957), S. 267. Lukas 2, 41–52, hier 46, zit. nach http://www.bibleserver.com/text/EU/Lukas2 (Stand 17. 0 4. 2017). Die grundsätzliche Benutzung des Tallit stand seit dem Altertum eng mit dem praktischen Gebet, vor allem dem Morgengebet, in Verbindung. Dies war auch zu Liebermanns Zeiten der Fall, wie der Artikel „Zizit“ im Jüdischen Lexikon, das 1930 in Berlin erschien, belegt. Der Gebetsmantel, dessen Gebrauch sich aus den sogenannten Zizit – kleinen Fäden, die unter der Kleidung getragen werden und den Mann an die Moral und die Gebote im Alltag erinnern sollen – ergeben hatte, war ausschließlich religiös konnotiert und sollte auch ausschließlich bei „religiösen Verrichtungen“ angelegt werden, Josef, Max, Art. „Zizit“, in: Herlitz, Elbogen, Kirschner ([1930] 1987), Bd. 4,2 (S–Z), Sp. 1629–1631, hier 1629 f. (Online-Ausgabe der Freimann-Sammlung der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/ content/pageview/366796, Stand 17. 0 4. 2017). Anna Sophie Howoldt weist darauf hin, dass der Tallit während des Gebets über den Kopf gelegt wird. Das Ablegen der Gebetsschals auf den Schultern im „Jesus-Bild“ von Liebermann versteht Howoldt als ein Zeichen dafür, dass das Gespräch mit dem jungen Jesus nach dem Gebet oder während einer Unterbrechung des Gebets stattfindet, ­Howoldt (2009), S. 26. Leider macht die Autorin hier keine Angaben zur Herkunft dieser Information.

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11  Max Liebermann, Synagoge in Amsterdam, 1876, Standort unbekannt

12  Max Liebermann, Inneres der Synagoge in Venedig, 1878, verschollen

sitorischer Abwandlung im Gemälde von 1879 sind einzelne Elemente in beiden Bildern vorhanden: die Raumaufteilung, die räumliche Verortung des Betrachters, nämlich zwischen den Gebetsbänken und der Bima, sowie der vom Betrachter aus nach rechts sich öffnende Synagogenraum mit seinen hellen Wänden und einem Gitterfenster und die im Hintergrund anwesenden Personen, die nicht zur Erzählung gehören, sondern den freien Raum der großen Synagoge füllen.75 Die große hölzerne Wendeltreppe ist einer anderen sephardischen Synagoge entnommen, nämlich der in Venedig, die Liebermann aus der gleichen Perspektive im Jahre 1878 malte (Abb. 12).76 Liebermann selbst erkannte im „Jesus-Bild“ keine inhaltlichen Unstimmigkeiten, die nur einem religiösen Juden auf­ fallen würden. Er füllte lediglich die ikonografische Vorgabe mit visuellem Inhalt, was 75 Cahn, Walter, Max Liebermann and the Amsterdam Jewish Quarter, in: Kirshenblatt-Gimblett, Barbara; Karp, Jonathan (Hg.), The art of being Jewish in modern times, Philadelphia 2008, S. 208– 227, hier S. 211. 76 Das an den Skizzen offensichtlich zu Erkennende wird durch eine Aussage Liebermanns in einem Brief an Alfred Lichtwark vom 5. Juni 1911 bestätigt: „[…] Die Idee zum Bilde reicht bis 1876 zurück, wie zahlreiche Zeichnungen in meinen Skizzenbüchern beweisen […]. Dann malte ich 1877 die ­Studie in der Synagoge zu Amsterdam […] und während meines Aufenthaltes in Venedig die dortige Synagoge aus dem XVI. Jahrh. [sic] – auf dem Bilde an der Treppe erkenntlich“, Cassirer, Else (Hg.), Kuenstlerbriefe aus dem neunzehnten Jahrhundert, Berlin 1919, S. 407 f., zit. nach ­Leppien (1989), S. 24.

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das Bild nach den einzelnen Figuren und Elementen zerstückelt erscheinen lässt und damit ein Historienbild in seiner narrativen Gewichtung allerdings einschränkt und einem Genrebild näherbringt.77 Abgesehen von der desaströsen Kritik, die die ursprüngliche Version dieses Bildes aufgrund der unwürdigen Darstellung des Gottessohnes hervorrief,78 kann der Grund für Liebermanns Aufgabe biblischer Motive79 auch in seiner

77 Ähnlich sieht es auch Karl Scheffler, als er über das Bild schreibt: „Das Bild hält etwa die ­M itte von Historie und Genre. Weder Pathos noch Sentimentalität sind beteiligt. Doch ist der Hergang auch nicht stillebenhaft zuständlich [sic] gesehen, im Sinne Courbets oder Leibls, denn das Werk ist durchwaltet von einer wissenden Geistigkeit“, Scheffler (1953), S. 37–39, zit. nach Leppien (1989), S. 32. Auch die starke Zerteilung des Bildes nach den jeweiligen einzeln beobachteten und studierten Elementen wird sowohl von Zeitgenossen wie auch von späteren Forschern unterstrichen. So schreibt Gustav Pauli 1911: „In dem Christus im Tempel sehen wir ihn mehr im Sinne Menzels als im Sinne seiner eigenen Anfänge sich dem Genrebilde nähern. Die geistreich beobachtete Einzel­ heit gefährdet die Einheit des Ganzen“, Pauli, Gustav, Max Liebermann. Des Meisters Gemälde in 304 Abbildungen, Stuttgart 1911, S. XXVIII, zit. nach Leppien (1989), S. 27. Max J. Friedländer schrieb 1924 ähnlich: „Mit Fug hat er später die Kraft der Phantasie für sich in Anspruch genommen […], aber der Christus im Tempel lebte nicht von seiner Phantasie, wenigstens nicht als Ganzes. Deshalb überzeugen die Teile, nicht aber die Beziehungen zwischen den Teilen, nicht – was die Darstellung zu einem Historienbild, einem religiösen Bild zu machen bestimmt war“, Friedländer, Max J., Max Liebermann, Berlin 1924, S. 55–60, zit. nach Leppien (1989), S. 31. 78 Leppien beschreibt die Münchner Ausstellung und geht auf die Reaktionen folgendermaßen ein: „Als […] Prinz Luitpold am 20. Juli die Ausstellung eröffnete, nahm er am ‚Jesus im Tempel‘ Anstoß und ließ das Bild in ein Nebenkabinett hängen. So begann ein Skandal: Empörung beim Publikum, Entrüstung bei der Presse, weit über München hinaus, Unmut im Landtag. […] Auf der Sitzung des bayerischen Landtages vom 15. Januar 1880 meldeten sich drei Abgeordnete über Liebermanns umstrittenes Bild zu Wort; sie waren sich in der Verurteilung des Bildes einig. Dr. Daller [Dr. Balthasar Ritter von Daller war katholischer Theologe und Mitglied der Patriotenpartei, die er ab 1871 im Landtag vertrat; ab 1891 wurde er zum Vorsitzenden der parlamentarischen Vertretung des bayerischen Katholizismus ernannt; vgl. Maurer, Marion, Art. „Daller, Balthasar Ritter von“, in: Bosl, Karl (Hg.); Bosl, Erika (Red.), Bosls bayerische Biographie. 8000 Persönlichkeiten aus 15 Jahrhunderten, Regensburg 1983–1988, hier der Ergänzungsband 1000 Persönlichkeiten aus 15 Jahrhunderten, 2 Bde., Regensburg 1988, Bd. 1, S. 127; Anm. d. Verf.] stellte fest, ,daß der erhaben göttliche Gegenstand dieses Bildes in einer so gemeinen und niedrigen Weise dargestellt ist, daß jeder positiv gläubige Christ sich durch dieses blasphemische Bild aufs Tiefste beleidigt fühlen mußte.‘ Recht drohten sie der Ausstellungsleitung […] in Zukunft kein Geld mehr zu bewilligen […]. Hinter fast allen empörten Äußerungen brachen antisemitische Affekte unverhüllt hervor. Dies ging Liebermann am meisten nahe“, Leppien (1989), S. 20 f. 79 „Ich hatte ein paar Wochen nach meiner Ankunft [in München, Anm. d. Verf.] den ‚Zwölfjährigen Christus im Tempel‘ angefangen. 1879 schickte ich dieses Bild auf eine Ausstellung von München und hatte den Schmerz, das Bild als ‚tendenziös‘ bezeichnet zu finden, daneben aber die Freude, Männer wie Lenbach, Gedon, Wagmüller für mein Bild aufs Wärmste Partei nehmen zu sehen. Aber die misslichen Erfahrungen, die ich bei dieser Gelegenheit zu machen hatte, waren mir so zuwider, dass ich seitdem kein religiöses Bild mehr gemalt habe“, Liebermann (1978), S. 13; außerdem Hancke (1914), S. 139. Stückelberger weist richtigerweise darauf hin, dass diese Aussage nicht ganz zutrifft, denn Liebermann malte auch später noch biblische Motive, wie z. B. das bei Frübis erwähnte Die Heimkehr des Tobias von 1934 (Frübis [2005], S. 138), verlor aber offensichtlich weitestgehend das Interesse an dieser Gattung, vgl. Boskamp (1993), S. 35, Fußnote 7; genannt und zu dem oben erwähnten Fazit gebracht bei Stückelberger, Johannes, Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900, München 1996, S. 82, Fußnote 3.

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Verbundenheit zum Genrehaften, Visuellen und Bildhaften liegen.80 Die Empörung des konservativen Publikums fußte auf einem bestimmten, im 19. Jahrhundert vorherrschenden Verständnis der Historienmalerei. Diese hatte zur Aufgabe, heroische Motive und Ereignisse, oft mit einem implizierten aktuellen Bezug, in großformatigen Gemälden in allen Ehren abzubilden. Damit stellte die Historienmalerei die höchste akademische Disziplin dar. Durch die Wahl des Formats machte Liebermann die Absicht, ein Historienbild abzuliefern, unmissverständlich klar. Doch die Verbindung eines großen Formats mit einer genrehaften Darstellung eines christlichen Themas war mehr, als der vorherrschende Geschmack verkraften konnte.81 Max Liebermann beugte sich schließlich der Kritik und übermalte die Figur des jungen Jesus. Er gab ihm längeres goldenes Haar, ein längeres Gewand und Schuhe. Außerdem bekam das Kind ein italienisches Profil und eine deutlich bescheidenere Gestik: Die Arme näherte er dem Körper an, und die Hände und Finger bekamen eine entspanntere Haltung. Dieses Werk lässt erkennen, dass sich Liebermann solch einem Motiv mit dem gleichen Wissensstand näherte, wie sich ihm ein nichtjüdischer, aber gleichzeitig auch ein nicht christlich geprägter Maler genähert hätte. Er brachte keine eigene Erfahrung, die man als spezifisch jüdisch oder gar religiös bezeichnen könnte, in das Bild ein. Max Liebermann erlaubte sich, allerdings vor allem in der ursprünglichen Version dieses Werks, die Figur des Jesus so darzustellen, wie die biblische Quelle ihn beschreibt, nämlich als einen jüdischen Jungen aus sehr einfachen Verhältnissen. Damit griff der Maler eine Tendenz auf, die im letzten ­Viertel des 18. Jahrhunderts einsetzte, nämlich die Erforschung der historischen Figur Jesus ­Christus.82

80 Cahn scheint sich über die Wahl des Sujets durch Liebermann zu wundern, denn er stellt fest, dass es nicht ganz klar ist, warum sich der Künstler daran gewagt hatte. Der Autor versucht, es mit der Annahme zu erklären, dass der Künstler damit seine Fähigkeiten in der höchsten akademischen Disziplin – der Historienmalerei – unter Beweis stellen wollte. Vgl. Cahn (2008), S. 213. Erich Hancke sieht den Grund für die Motivwahl entgegen der Aussage des Malers, ihn habe der anwachsende Antisemitismus zu dem Bild angeregt, eher als einen „malerische[n]“ (S. 131) und schreibt in seiner Liebermann-Biografie, dass Liebermann durch August Allébé, den damaligen Direktor der Amsterdamer Kunstakademie, den Hancke als „Freund jüdischen Wesens und begeistert für die eigenartige Schönheit des Amsterdamer Ghettos“ beschreibt, zu Jesus im Tempel angeregt worden sei. Durch den Besuch der großen Amsterdamer Synagoge schwebte Liebermann auch diese als Ort des Geschehens vor, Hancke (1914), S. 120; zit. auch bei Leppien (1989), S. 11; Wagner, Anna, Max Liebermann in Holland, Bonn 1973, S. 11. Ob Hanckes Vermutung, es handle sich um ein unbewusstes Interesse an dem Sujet, bei dem „viel Historisches […], das Gedenken an die Geschichte dieses Ortes und der Rasse, die ihn bewohnt, an die Tragik des ‚alten Volkes‘“ eine Rolle spielt, was Cahn mit dem Verweis auf Hancke sich ebenfalls vorstellen kann (Cahn [2008], S. 225), bliebe zu untersuchen, Hancke (1914), S. 500. Auf der Grundlage der vorliegenden Forschung besteht noch immer die Möglichkeit, dass die Identifikation Liebermanns mit dem jüdischen Volk im Allgemeinen eine Zuschreibung Dritter war. Heinrich Strauss spricht Liebermann eine innere Verbindung zum Judentum ab, Strauss (1957), S. 267. 81 Faass, Martin; Mund, Henrike, Sturm der Entrüstung. Kunstkritik, Presse und öffentliche Diskussion, in: ders. et al. (2009), S. 59–78, hier S. 66. 82 Amishai-Maisels, Ziva, Origins of the Jewish Jesus, in: Baigell et al. (2001), S. 51–86, hier S. 51 f.

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Max Liebermann und Rembrandt – die Anfänge des „Jüdischen“ in der Kunst Die Forschung ist sich nicht einig, warum sich Liebermann an das Sujet des jungen Jesus wagte. Es ist allerdings naheliegend, dass dies seiner Verehrung Rembrandts (1606– 1669) geschuldet war.83 So ist das jüdische Viertel Amsterdams, das Liebermann als Vorbild für sein Werk nutzte, derselbe Stadtteil, in dem Rembrandt beinahe zwei Jahrzehnte lebte. Rembrandt setzte sich viel mit der Darstellungsform seiner jüdischen Figuren auseinander. Vor allem durch die Porträtmalerei angetrieben wandte er sich im Laufe seiner künstlerischen Laufbahn immer mehr von der Typisierung der Juden durch äußerliche Merkmale ab und mehr dem Inneren seiner Protagonisten zu. Erwin Panofsky analysierte in seinem 1920 verfassten Vortrag „Rembrandt und das Judentum“, wie sich ­Rembrandts künstlerische Entwicklung im Einzelnen vollzog. In Rembrandts Auseinandersetzung mit der Porträtmalerei „tritt“, wie Panofsky es formuliert, „[der Jude] in dieser Zeit hinter dem Menschen zurück – nicht in dem Sinne, daß die Juden jetzt aufhörten Juden zu sein, sondern in dem Sinne, daß das Jüdische in ihnen jetzt völlig individuell geworden ist“.84 Er widmete sich verstärkt dem Inneren des Porträtierten und nicht nur dessen Abbildung, samt seiner äußeren Erscheinung und möglicher gesellschaftlicher Attribute. Er entledigte sich der gängigen Charakteristika, die das Erkennen und Einordnen der Figur im Bild erleichtern sollen, und versuchte stattdessen, den Betrachter durch die Identifikation mit der dargestellten Person in das Bild hineinzuziehen.85 Mit dem Versuch der Individualisierung der jüdischer Figuren im Bild war Rembrandt in den 1640er-Jahren seiner Zeit weit voraus. Auch Rembrandt erkannte hierin die Möglichkeit zu einer neuen Darstellungsweise religiöser Bilder. Um die Einflüsse Rembrandts auf Liebermann herauszuarbeiten, ist es von besonderem Interesse, dessen Darstellungen der Jesus-Figur und Werke zum Thema „Jesus im Tempel“ heranzuziehen. Rembrandt fertigte um 1650 zwei Radierungen zu diesem Thema an.86 Kompositorisch folgen beide

83 Wagner weist darauf hin, dass eine Auseinandersetzung mit den Alten Meistern des 17. Jahrhunderts im Holland der 1870er-Jahre üblich war. In ihrer Tradition wurde eine erdfarbene Grundierung für die Bilder verwendet, für die die dunkelbraune Kasseler Erdfarbe benutzt wurde. Diese war jedoch von viel schlechterer Qualität als zu Zeiten Rembrandts und rief Risse hervor bzw. wurde bei Wärme weich. Diese Malweise lässt sich zur gleichen Zeit in den Werken Liebermanns nachvoll­ ziehen, Wagner (1973), S. 6 f. 84 Panofsky, Erwin, Rembrandt und das Judentum (1920), in: ders., Deutschsprachige Aufsätze, hg. v. Karen Michels, 2 Bde., Berlin 1998, Bd. 2, S. 971–1008, hier S. 988. 85 Ebd. 86 Stückelberger weist darauf hin, dass Rembrandt sich genau genommen in drei Radierungen und mehreren Zeichnungen dem Thema des „zwölfjährigen Jesus im Tempel“ widmete; außerdem waren ein Rembrandt zugeschriebenes Gemälde – 1884 als eine Arbeit von Salomon Koninck bestätigt – sowie ein Werk von Matthias Stomer (1640er-Jahre, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek) mit demselben Thema zur Zeit des Aufenthaltes Liebermanns in ­München in der Alten Pinakothek zu sehen, sodass man davon ausgehen kann, dass Liebermann beide Gemälde bekannt waren, Stückelberger (1996), S. 87, Fußnote 2, 3.

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13  Rembrandt Harmenszoon van Rijn, Der Knabe Jesus inmitten der Schriftgelehrten stehend (Skizze), 1652, Rijksmuseum, Amsterdam/Niederlande

dem ­sogenannten „niederländischen Typus“.87 Dieser Typus der Darstellung des „Jesus im Tempel“, der im Übrigen der laut Johannes Stückelberger für Rembrandt typischen „Dialog­situation“ entspricht,88 ist an einer zentralen, hervorgehobenen Gelehrtenfigur sowie an dem in der Mitte der Lehrszene platzierten, sitzenden oder stehenden Jesus­ knaben zu erkennen. Eine der beiden Radierungen wird auf das Jahr 1652 (Abb. 13) datiert und zeigt den kleinen Jesus in der Mitte einer Menschenmenge. Die Szene spielt in einem undefinierten Raum. Trotz der schnell gesetzten Strichführung, die kaum präzise Einzelheiten darzustellen vermag, erkennt man eine Fokussierung des Malers auf die detailgetreue Darstellung der Kleidung und Gestik der Anwesenden. Die Christus-­ Figur ist in ein antikisiertes Gewand gekleidet, das mehrere Schichten aufweist. Die Gelehrten sowie die Zuhörer, die den Raum rings um Jesus füllen, weisen individuelle Gesichtszüge und vielfältige Kopfbedeckungen auf. Die Figuren tragen keine symbol­ haften Attribute und werden nicht negativ konnotiert.89 Die besonders gekennzeichnete Figur, die den „niederländischen Typus“ der Komposition unterstreicht, ist die vom Betrachter aus rechts stehende und ihm den Rücken zukehrende männliche Figur, die Jesus beim Argumentieren direkt anspricht. Die Kleidung der Figuren deutet eine 87 Osteneck, V., Art. „Zwölfjähriger Jesus im Tempel“, in: Kirschbaum, Engelbert; Braunfels, Wolfgang (Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, 8 Bde., Rom [Sonderausg.] 1994, Bd. 4 (1972), Sp. 583–590, hier Sp. 587 f. 88 Stückelberger (1996), S. 87. 89 Ebd.

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14  Rembrandt Harmenszoon van Rijn, Jesus als Knabe unter den Schriftgelehrten, 1654, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin

Mischung aus fantastisch-­orientalisierten Elementen und der zeitgenössischen niederländischen Kleidung des 17. Jahrhunderts an, was besonders an den flachen Hüten, wie sie auch die zweite Figur von links trägt, und den großen, nach hinten geneigten Baretten wie bei der männlichen Figur auf der Empore über der Jesus-Figur deutlich wird. Die zweite Radierung zum Thema entstand ebenfalls ca. 1654 (Abb. 14). Die Komposition folgt hier zwar ebenfalls dem „niederländischen Typus“, setzt diesen jedoch anders um. Die Figur des kleinen Jesus sitzt nun nach links von der Mitte versetzt in einer Reihe mit den Gelehrten. In beiden Werken ist Jesus ähnlich wie bei Liebermann als einfaches Kind dargestellt, das eher mit seiner kindlichen Offenheit und Natürlichkeit als mit den Kenntnissen der Thora zu überzeugen scheint.90 Kleidung und Mimik der Figuren entsprechen weitest­gehend denen der anderen Version. Augenfällig ist jedoch ein kompositorischer Trick: Eine vor der Reihe der Gelehrten stehende, vergleichsweise junge männliche Figur schneidet das rechte Drittel des Bildes regelrecht ab. Diese Person wirkt auf Anhieb störend, da sie sich mitten im Bildvordergrund befindet und dem Betrachter den Rücken zukehrt. Die Szene wird durch ihn auch inhaltlich in die an der Diskussion beteiligten Figuren links von dem stehenden Mann und dem zuhörenden Publikum zu seiner Rechten geteilt. Im Gegensatz zu den anderen Figuren im Bild, deren Kleidung nur angedeutet ist, trägt dieser Mann schwere Stiefel, Hosen und einen kurzen Mantel, die eindeutig aus der Zeit des 17. Jahrhunderts stammen. Besonders hervorzuheben ist die­ ­Tatsache, dass 90 Ebd., S. 87.

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an seinem rechten Bein die Klinge eines Degens zu erkennen ist. Dadurch wird die Figur als eine profane, gar bürger­liche und wohlhabende Persönlichkeit eines gehobeneren gesellschaftlichen ­Standes dargestellt. Die Haartracht, der Bart und die angedeuteten Schläfenlocken91 des Mannes weisen ihn gleichzeitig als religiösen Juden aus. Diese männliche Figur ist von besonderer Bedeutung für das Jesus-Bild von Max Liebermann. In der Liebermann’schen Darstellung erkennen wir diese Figur in dem vom Betrachter aus am rechten Rand platzierten Mann wieder. Kompositorisch stimmen die beiden Figuren überein. Die Stellung mit dem Rücken zum Betrachter und vor allem die Aus­arbeitung des Kopfes, des Bartes und der Kopfbedeckung sind ganz offensichtlich an die Darstellung Rembrandts angelehnt. Das Publikum Rembrandts, das hinter der Rückenfigur ­platziert ist, verbannt Lieber­mann in das Innere der prächtigen Synagoge, womit er gleichzeitig das Bild beschneidet und für den Betrachter in die Tiefe öffnet. Abgesehen von der Bedeutung dieser Figur für die Komposition der beiden Bilder gibt sie einen weiteren Einblick in die Wahrnehmung der Bevölkerung des jüdischen Viertels durch die beiden Künstler wieder. Man könnte vermuten, dass diese unbequem für den Betrachter platzierte Figur jeweils das verbreitete Aussehen der Juden der jeweiligen Zeit darstellt. Obwohl Liebermann Rembrandt an denselben Ort folgte, hatte das jüdische Viertel von Amsterdam in den 1870er-Jahren nur noch sehr wenig mit dem zur Mitte des 17. Jahrhunderts gemeinsam. Zu Zeiten Rembrandts war das Viertel von vornehmen, reichen Handelsleuten bewohnt, die vor der spanischen Inquisition fliehend in den Niederlanden eine neue Heimat fanden. Die sephardischen Juden nannten Holland das „neue ­Jerusalem“.92 Im 19. Jahrhundert war das Bild des jüdischen Viertels an der Jodenbreestraat von aschkena­sischen Juden aus Deutschland sowie Mittel- und Osteuropa geprägt. Sie hatten keinen besonderen gesellschaftlichen Status und genossen kein so hohes Ansehen wie die Sepharden. Das Viertel war zu Zeiten Liebermanns viel ärmer, was man den Anwohnern auch ansah. Die Figur am rechten Rand trägt die typische osteuropäische Kleidung, die Liebermann womöglich öfter in dem Viertel vorfand. Anna Sophie Howoldt weist richtigerweise darauf hin, dass der schwarze Kaftan mit einem schmalen Kragen, wie er an dieser Figur besonders gut zu erkennen ist, bereits im berühmten Zyklus Bilder aus dem altjüdischen Familienleben von Moritz Daniel Oppenheim, der in mehreren Teilen zwischen 1869 und 1880 erschienen war, vorkam (Abb. 15 und 16).93 Der Pelzhut, ob 91 Die Bildtradition des 19. Jahrhunderts prägte die Gewohnheit, dass Schläfenlocken nur von ost­ europäischen Juden getragen würden. Das Jüdische Lexikon weist darauf hin, dass auch sephardische Juden Schläfenlocken trugen, auch wenn diese – vor allem im Vergleich zu den Anhängern der aschkenasisch-chassidischen Tradition, die ihre Schläfenlocken manchmal sogar bis zur ­Hüfte wachsen ließen – meist nur sehr kurz waren. Rappaport, Samuel, Art. „Pe’ot“, in: Herlitz et al. ([1930] 1987), Bd. 4,1 (Me–R), Sp. 848–850, hier Sp. 849 (Online-Ausgabe der Freimann-Sammlung der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, http://sammlungen. ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/pageview/365434, Stand 17. 0 4. 2017). 92 Panofsky (1998), S. 972. 93 Z. B. in den Bildern Freitag-Abend, Bar-Mitzwa-Vortrag und Der Segen des Rabbi (alle von 1869) ist eine männliche Figur in solch einer Kleidung zu erkennen. In den Beschreibungen der Bilder, die auf der ursprünglichen Kommentierung durch Hanaus Rabbiner Leopold Stein basieren, wird diese

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15  Moritz Daniel Oppenheim, Freitag-Abend, 1867, Sarah & Julian House, Phoenix/USA

16  Moritz Daniel Oppenheim, Der Segen des Rabbi, 1871, Privatbesitz, Seattle (Washington)/ USA

hoch oder flach, gehörte zu den üblichen Kleidungsstücken der osteuropäischen, besonders der chassidisch geprägten Juden.94 Und als Letztes sei auf den besonderen Stoff­g ürtel der Figur verwiesen. Der Gürtel wurde über dem Kaftan getragen und war meist schwarz. Je nach Stand der Person konnte er auch Verzierungen tragen. Der Gürtel teilte den ­Körper symbolisch in eine spirituelle und eine irdische Hälfte.95 Damit entspricht die Darstellung dieses religiösen Mannes in ihrem Gehalt der Figur ­Rembrandts. Die Bedeutung Rembrandts für Max Liebermann ergibt sich aus den kunsttheoretischen Ansichten Liebermanns. Er definierte Kunst als eine Symbiose zwischen dem dargestellten Gegenstand und dem Künstler selbst.96 Demnach war für ihn das Malen nach der Natur keine bloße Naturnachahmung, sondern die Neuschöpfung einer Welt, wie der Künstler sie sieht. Weder in der Landschaftsmalerei noch bei Porträts ging es männliche Figur als „polnischer“ oder „polnisch-jüdischer“ Gast beschrieben, was die Bezeichnung der Kleidung als „aschkenasisch“ bestätigt, Eisermann, Frank, Der Zyklus, in: Dröse, Ruth; Eisermann, Frank; Kingreen, Monica; Merk, Anton, Der Zyklus „Bilder aus dem altjüdischen Familienleben“ und sein Maler Moritz Daniel Oppenheim, Hanau 1996, S. 55–95, hier besonders S. 60 f., S. 64 f., S. 70 f. 94 Howoldt (2009), S. 26. 95 Goldberg-Mulkiewicz, Olga, Art. „Dress“, in: YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Online-Edition 5. August 2010 (http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Dress, Stand 17. 0 4. 2017). 96 Liebermann (1978), S. 207; vgl. auch Stückelberger (1996), S. 77.

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Liebermann um das reine Abbilden des Sichtbaren, sondern stets um das Herausarbeiten des Inneren. Damit definierte er auch den Begriff der Fantasie, die für ihn die Wiedergabe einer Erscheinung war, die dem Künstler auf der Basis der Anschauung in den Sinn kommt: „Wie er, der Künstler, die Welt anschaut, mit seinen inneren und äußeren Sinnen – das nenne ich Phantasie – die Gestaltung dieser seiner Phantasie ist seine Kunst.“97 Er machte dabei keinen Unterschied zwischen dem erdachten oder tatsächlich vorhandenen Motiv, denn für Liebermann stellte es dasselbe dar. Er verstand den Künstler und damit auch sich selbst als eine Art Filter, durch den die Natur eine individuelle Note erhielt, nämlich die des Künstlers.98 Um dies umzusetzen, bedurfte es allerdings nach Liebermann auch der richtigen Technik. Diese war für ihn ausschließlich in der impressionistischen Malweise gegeben. Auch hierin sieht er die Impressionisten als die Erben Rembrandts. Ähnlich wie bei dem Alten Meister spielten Licht, Schatten und Reflexionen für den Maler Liebermann bei der Darstellung eines Objektes eine größere Rolle als das Motiv selbst. Ebenso sah er in der Skizzenhaftigkeit die Freiheit des Künstlers, den Punkt der Vollendung eines Werkes selbst zu bestimmen.99 Den reinen Realismus, der danach strebte, jedes Detail des abzubildenden Motivs haargenau im Bild einzufangen, lehnte Liebermann ab. Er sah darin keine künstlerische Qualität, sondern die Annäherung an die Fotografie, die die absolute Abbildung ohnehin perfekt umsetzte.100 Gleichzeitig wandte sich der Maler gegen jedwede Abkehr vom Gegenstand und gegen die reine Empfindungsmalerei, namentlich den Expressionismus. Die Betrachtung der Natur war für Liebermann der wesentliche Kern der Kunst: „Das Wesen aller bildenden Kunst, alter oder moderner, ist Augenkunst.“101 Genau diese Aspekte seiner Kunsttheorie sah Liebermann in der Kunst Rembrandts umgesetzt: Aus der Anschauung entspringt die Idee oder präziser: Idee und Anschauung ist eines in der Kunst. Die Anschauung des Gegenstandes ist dem Künstler die Gelegenheit, uns seine Seele zu offenbaren. Weil Rembrandts Werk das seelenvollste ist, deshalb erscheint er uns als der größte Künstler: Rembrandts Kunst ist die Kunst schlechthin.102

Besonders wichtig war für Liebermann, dass Rembrandt in seinen Bildern der Welt sehr mitfühlend begegnete. Er schaffte es, seinen Figuren die menschliche Würde zurückzugeben, die ihnen in der Realität oftmals versagt blieb. Das berührte Liebermann sehr und machte Rembrandt für ihn zu einem modernen Künstler.103   97 Ebd. (beides).   98 „Der Maler […] sieht nicht anders als andere Leute auch, zwischen Auge und Hand bildet sich die Auffassung“, so Liebermanns Kunstverständnis, zit. nach Hancke (1914), S. 433.   99 Dazu schrieb Liebermann: „Die Wogen des Lichtes, die seine Bilder durchfluten, ergeben und bestimmen die Komposition.“ Und an einer anderen Stelle: „Die moderne Malerei sucht nicht den Gegenstand wiederzugeben, sondern die Reflexe der Luft und des Lichtes auf die Gegenstände.“ Liebermann (1978), S. 51, 81, beides zit. nach Stückelberger (1996), S. 79. 100 Stückelberger (1996), S. 86. 101 Liebermann (1987), S. 206; zit. nach Stückelberger (1996), S. 76. 102 Ebd., S. 275, zit. nach Stückelberger (1996), S. 78. 103 Stückelberger (1996), S. 75.

Der „jüdische Jesus“ – Darstellung von Juden in der Kunst     |

Auch bei Der zwölfjährige Jesus im Tempel wird Liebermann Rembrandt im Kopf gehabt haben. Er setzte sich stark mit den Darstellungen der Juden in den Werken ­Rembrandts, die auf Studien im Amsterdamer Judenviertel basierten, auseinander. ­Rembrandt versuchte stets, das Wesen jedes einzelnen Menschen in den Bildern einzufangen, und entfernte sich für seine Zeit so stark von den gängigen Darstellungen der Juden und symbolhaften Anspielungen, dass Liebermann gar zunächst zu der Fehleinschätzung gelangte, Rembrandt müsste ausschließlich mit christlichen Modellen gearbeitet haben. Die Gesichter der Figuren hatten so wenig Karikaturenhaftes an sich – was Liebermann nach eigener Aussage meist in jüdischen Modellen vorzufinden meinte –, dass der Maler annahm, Rembrandt habe den ‚schönen‘ jüdischen Geist darstellen wollen: „Rembrandt malte den Geist der Juden, während Menzel ihr Äußerliches wiedergab[.]“104 Im Jahre 1925 gestand er in einem Brief an Franz Landsberger Rembrandt zwar doch zu, mit jüdischen Modellen gearbeitet zu haben, dies jedoch nur aus dem Grund, dass man an den Juden aufgrund ihrer Mimik und Gestik stärker das innere Wesen ablesen könne.105 Liebermann schien in den 1920er-Jahren immer stärker nach dem „Jüdischen“ in der Kunst zu suchen, was Auseinandersetzungen dieser Art mit bereits bekannten und geliebten Werken Rembrandts erklären würde. Das Interesse war allerdings eher malerischer als inhaltlicher Natur, denn es galt nicht dem Wesen des jüdischen Geistes, der jüdischen Geschichte oder gar der Religion. Liebermanns Suche galt vor allem der besonderen Darstellungsweise Rembrandts, die die abgebildeten Figuren so menschlich und würdevoll erscheinen ließ.106 Die Fähigkeit, Empathie und Empfindsamkeit auszudrücken, ohne dabei ins Sentimentale und Mitleidige abzugleiten, faszinierten Liebermann – vielleicht gar unbewusst – sowohl an Rembrandt als auch an Israëls. Während Liebermann den Arbeiterfiguren in seinen Bildern durch besondere Farbigkeit, Licht und Distanz Würde verlieh, gelang den Holländern dieser Effekt gerade durch die Verkürzung bzw. gewissermaßen Auflösung der Distanz des Künstlers – und damit des Betrachters – zur Figur.

Der „jüdische Jesus“ – Darstellung von Juden in der Kunst Die Aufklärung stieß eine bedeutende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der christlichen Religion und ihren Wurzeln an. Nichtjüdische Bibelkritiker und Gelehrte wie Hermann Samuel Reimarus oder David Friedrich Strauss veröffentlichten zahlreiche Texte, in denen Jesus als eine menschliche Figur beschrieben wurde, die als frommer Jude lebte und ihre reformatorischen Gedanken vor allem an ihre Glaubensgenossen richtete. Die Errichtung einer neuen Religion, nämlich des Christentums, erfolgte den

104 Liebermann, Max, Siebzig Briefe, hg. v. Franz Landsberger, Berlin 1937, S. 50–51, zit. nach ­Stückel­berger (1996), S. 86. 105 Ebd. (beides), Fußnote 1. 106 Liebermann (1978), S. 189; vgl. auch Stückelberger (1996), S. 78.

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Autoren nach erst durch die Jünger Jesu Christi nach dessen Tod.107 Unterstützt wurde die Diskussion durch jüdische Gelehrte und Philosophen wie Moses Mendelssohn und später Heinrich Graetz und Abraham Geiger. Ihnen ging es vor allem um den richtigen Zusammenhang, in dem Jesus als historische Figur betrachtet werden sollte. Da er Jude gewesen sei, sei Jesus auch innerhalb der jüdischen Geschichte und Gemeinschaft zu verorten. Von christlicher Seite gab es für diese Betrachtungsweise wenig Verständnis: Allein die Annahme, Jesus sei ein Mensch und nicht der Sohn Gottes gewesen, wurde als Blasphemie abgelehnt. In der Argumentation der christlichen Religionswissenschaftler vermischten sich schnell wissenschaftliche Thesen mit gängigen antisemitischen Vorurteilen. Während die jüdische Seite die Evangelisten und die Jünger Jesu für den Bruch mit dem Judentum verantwortlich machte, lehnten die christlichen Gelehrten dies vehement ab und suchten nach dem Moment, als Jesus selbst das Judentum ablehnte, um Christ zu werden.108 Für die Künstler des 19. Jahrhunderts eröffnete diese Sicht neue Darstellungsmöglichkeiten. Maler jüdischer und nichtjüdischer Abstammung bemühten sich um eine realistischere Darstellung biblischer Figuren, indem sie Skizzen jüdischer Viertel anfertigten und deren Bewohner als Modelle für ihre Bilder engagierten.

„Judenbilder“ In der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Malerei herrschte eine bestimmte Darstellungsweise der Juden im Bild vor. Sogenannte „Judenbilder“ wiesen eine Ansammlung stereotyper Elemente auf, die einer rein antijudaistischen Einstellung entsprangen. In einem christlichen Zusammenhang spielten die Juden in der Malerei meistens in den Szenen der Kreuztragung bzw. der Kreuzigung selbst eine Rolle. Ihre negative Konnotation war damit ikonografisch vorgegeben. Ihre Gesichter wurden verzerrt dargestellt, mit Hakennasen und wilden Augen, was den gängigen Vorurteilen über die Juden entsprach. Neben zahlreichen anderen Beispielen lässt sich dies besonders deutlich am Werke von Hieronymus Bosch Die Kreuztragung Christi von 1515/16 (Abb. 17) nachvollziehen. Die Figur des kreuztragenden Jesus in der Mitte des Bildes ist bis auf die heilige Viktoria in der vom Betrachter aus linken Ecke des Bildes von einer homogen wirkenden Menschenmasse umgeben, die das gesamte Bildfeld füllt. Die Figuren sind leicht als bösartige Wesen zu identifizieren, da der Künstler sie mit verzerrten Gesichtern, weit aufgerissenen oder zusammengekniffenen Augen sowie mit offenen bzw. lachenden, zahnlosen Mündern darstellt, die offensichtlich laute Rufe und das Auslachen des Gekreuzigten suggerieren sollen. Die großen Nasen vollenden das antisemitische Bild. In Albrecht Dürers Der zwölfjährige Jesus unter den Schriftgelehrten (Abb. 18) aus dem Jahre 1506 107 Reimarus, Hermann Samuel, Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger (1778); Strauß, David ­Friedrich, Das Leben Jesu (1835/36), beide Texte sowie eine Zusammenstellung weiterer zur historischen Figur Jesus Christus siehe z. B. Baumotte, Manfred (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus. Texte aus drei Jahrhunderten, Gütersloh 1984, S. 11–21, 61–69. 108 Amishai-Maisels (2001), S. 52.

Der „jüdische Jesus“ – Darstellung von Juden in der Kunst     |

17  Hieronymus Bosch, Die Kreuztragung Christi, 1515/16, Musée des Beaux-Arts, Gent/Belgien

18  Albrecht Dürer, Der zwölfjährige Jesus unter den Schriftgelehrten, 1506, ­Sammlung Thyssen-Bornemisza, Lugano-Castagnola/Schweiz

bediente sich der Maler der gleichen Darstellungsweise. Ähnlich wie Bosch gruppierte Dürer die Gelehrten um den jungen Jesus herum, ohne den Raum genauer zu definieren. Auch hier sind die Gesichter der Juden zu Grimassen verzerrt. Das Inkarnat der Figuren variiert von bleich bis dunkel und weicht stark von dem des Jesusknaben ab. Zu den üblichen Übertreibungen der äußeren Erscheinung kommt ein weiteres Element, nämlich das der verstärkten Gestik, hinzu. Das Reden mit dem Körper war ein ebenso gängiges Klischee über das Wesen der Juden wie der Vorwurf eines bestimmten Dialekts oder der ausschließlichen Betätigung im Geldgeschäft, also etwas, was sich über Jahrhunderte

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als Vorurteil manifestiert hatte. Dürer machte das Gestikulieren zum zentralen Punkt des Bildes und verbildlichte damit den Gegenstand der Diskussion. Die zur Jesus’ ­Linken dargestellte männliche Figur ist im Profil zu sehen und weist eine besonders über­ zogene Mimik sowie körperliche Beschaffenheit auf. Eine große Nase, wulstige Lippen, ein zahnloser Mund und eine vernarbte, hängende Gesichtshaut entsprechen in ihrer Darstellung der eines „Judenbildes“. Dieser Mann blickt über Jesus hinweg und scheint ihn in seinem Redefluss zu unterbrechen, was besonders dadurch unterstrichen wird, dass er den Arm des jungen Jesus mit seiner linken Hand berührt. Die rechte Hand des Gelehrten ist in der Luft und scheint sein Argument zu verstärken. Dürer illustrierte mit dieser kleinen Detaildarstellung den gesamten Gesprächsverlauf sowie das Verhalten der Beteiligten, wie er es sich als Maler eben vorstellte. Von den insgesamt sechs Gelehrten, die Jesus in Dürers Bild umgeben, sind fünf eher als skeptische Zuhörer dargestellt. Dafür sprechen die geöffneten Bücher sowie die von Jesus abgewandten Blicke. Doch mit einer Figur ist der junge Jesus durch seinen Blick verbunden. Die männliche Figur im Vordergrund an dem vom Betrachter aus linken Rand richtet seinen Blick nach oben zu Jesus. Sein Buch, in dem er wie die anderen Anwesenden die Lehren Jesu mit dem Wort Gottes abgleichen und überprüfen könnte, ist verschlossen. Damit transportiert Dürer die ursprüngliche Botschaft des Bildes und kennzeichnet außerdem die zur Bekehrung bereiten Juden positiver als diejenigen, die die Lehren des jungen Jesus ablehnen.

Der Weg zum Realismus Ikonografisch ist die Gruppe der jüdischen Gelehrten in dem Sujet des zwölfjährigen Jesus im Tempel nicht negativ behaftet. Dennoch werden die einzelnen Figuren mithilfe von Attributen als Juden und damit negativ kenntlich gemacht. Verzerrte Gesichter, große Hakennasen und dunkle Haut sowie sogenannte „Judenhüte“109 sind besonders in der Malerei des hohen Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu finden. Anders als in der mittelalterlichen Malerei hatten Studien im 19. Jahrhundert nicht den Zweck der Bestätigung solcher „Judenbilder“. Die Künstler verfolgten das Ziel, eine möglichst authen­tische Szenerie zu entwickeln, die den Inhalt der biblischen Geschichte dem Betrachter im Sinne eines Historienbildes näherbringen kann. Allerdings muss die Vorstellung, was nun als authentisch gelten könnte, durch Vorurteile begründet worden sein. Im Deutschland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das osteuropäische Judentum als der Prototyp des religiösen, traditionsverhafteten Judentums wahrgenommen. Die jüdischen Viertel in den Großstädten Westeuropas wiesen vergleichbare Elemente der Armut, Verwahr­ losung, orthodoxer Uniformierung und Religiosität auf. Walter Cahn bringt in seinem

109 Kober, Adolf, Art. „Judenabzeichen“, in: Herlitz et al. ([1927] 1987), Bd. 3 (Ib–Ma), Sp. 412–416, hier Sp. 413 f. (Online-Ausgabe der Freimann-Sammlung der Universitätsbibliothek der Goethe-­ Universität Frankfurt am Main, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/­ pageview/364379, Stand 17. 0 4. 2017).

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19  William Holman Hunt, Jesus im Tempel, 1854/55, Birmingham Museums and Art Gallery, Birmingham/UK

Aufsatz über Liebermanns Aufenthalte im Amsterdamer Judenviertel zwei Vergleichsbilder an, die den Umgang mit den Figuren gut illustrieren.110 Das eine Gemälde stammt von William Holman Hunt (1827–1910), ist etwa um 1854 entstanden und zeigt das ­gleiche Thema, nämlich Jesus im Tempel (Abb. 19). Hunt als einer der Begründer der Präraffae­ liten bietet in seinem fantastisch leuchtenden Gemälde kaum zum Vergleich geeignete Elemente. Die Komposition, der bis ins kleinste Detail ausgeführte Hintergrund sowie die minutiös ausgearbeiteten, antik anmutenden Gewänder der anwesenden Figuren und die leuchtenden Farben bieten ein gänzlich anderes Bild als bei Liebermann. Der wesentliche Tenor des Bildes ist das Orientalische, das der Künstler in erster Linie mit dem biblischen Thema verbindet. Auch bzw. gerade Hunt ist extrem um eine realistische Darstellung bemüht und verarbeitet daher so viele vermeintlich orien­ta­lische Elemente in dem Werk wie nur möglich, sodass der Betrachter von der Figur des jungen Jesus direkt in das Bild und damit in die biblische Szenerie hineingezogen wird. Die Figuren der Gelehrten weisen individuelle Gesichtszüge auf. Hunt verarbeitete hier in der Tat zahlreiche Beobachtungen, die er auf seinen Reisen durch ­Palästina gemacht ­hatte.111 Durch den Anspruch des Realismus ent­ledigt sich Hunt jeglicher Vorurteile, Stereo­t ypen und ­Verallgemeinerungen. Und obwohl die Bilder von Hunt und Liebermann auf den ­ersten 110 Cahn (2008), S. 213. 111 Ebd. und Fußnote 17.

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20  Adolph Friedrich Erdmann Menzel, Der zwölfjährige Jesus im Tempel, 1851, Kunsthalle, Hamburg

Blick wenig gemeinsam zu haben scheinen, ist der Grundgedanke der beiden Künstler der gleiche: Sie beanspruchen eine Authentizität der Szenerie und eine realistische Darstellung der Figuren. Hunt gelingt die Authentizität durch das kompromisslose Befolgen der ikonografischen Vorgaben bis ins kleinste Detail, während Liebermann durch das Versetzen des Geschehens in die moderne Zeit die Aktuali­tät der Erzählung unterstreicht.112 Beide gehören unterschied­lichen, wenn nicht gar entgegengesetzten Strömungen der Kunst des 19. Jahrhunderts an, und dennoch schaffen es beide auf ihre Weise, dem Sujet greifbaren Realismus zu verleihen. Ähnlich sieht es mit Adolph ­Friedrich Erdmann ­Menzels (1815–1905) Der zwölfjährige Jesus im Tempel von 1851 (Abb. 20) aus, das Cahn als zweites Vergleichsbild anführt. Menzel wurde von ­Liebermann sehr geschätzt, sie teilten auch die impressionistischen Ansätze in ihren Werken. Adolph Menzel gruppiert die Figuren der Gelehrten um den jungen Jesus. Die Szene versetzt er, wie Cahn richtigerweise betont, in eine zeitun­spezifische und geografisch nicht einschätzbare Umgebung, wodurch die Fokussierung auf die inhaltliche Aussage verstärkt werden soll. Durch die impressio­nistische Malweise und die kompositionsbedingte Entfernung der einzelnen Figuren entfällt das Porträthafte der Gesichter. Der Maler ist hier noch stark der 112 Ähnlich sieht es auch Howoldt (2009), S. 25; außerdem Stückelberger (1996), S. 83.

Der „jüdische Jesus“ – Darstellung von Juden in der Kunst     |

21  Max Liebermann, Judengasse in Amsterdam, 1907, Privatbesitz

Dramatik verhaftet, indem er den Juden weit aufgerissene Augen und eine starke Gestik verleiht. Cahn weist darauf hin, dass Menzel sich bei seiner Darstellung an den ost­euro­ päischen Juden orientierte und ihnen vermeintlich typische Attribute zuwies.113 Diese Herangehensweise, die unvoreingenommene Betrachtung der Juden in ihrer Umgebung in den Werken zu verarbeiten, zeigt eine deutliche Veränderung in der gesellschaft­ lichen und kulturellen Wahrnehmung der Juden im Allgemeinen. Sie werden Mitte des 19. Jahrhunderts zwar immer noch als eine isolierte Gruppe wahrgenommen und sind mit bestimmten Assoziationen behaftet, werden nun aber erstmalig wertfrei als Individuen in die Kultur aufgenommen. Liebermann selbst arbeitete für sein „Jesus-Bild“ mit nichtjüdischen Modellen. Dazu schrieb er in einem Brief an Alfred Lichtwark: Die Modelle nahm ich aus den christlichen Münchener Spitälern. Da Juden sehr wenig posieren, und auch aus einem anderen Grunde, der mir bei der Wahl der Modelle Zeitlebens [sic] von Jugend an maßgebend geblieben ist. Die Juden schienen mir zu karakteristisch [sic]; sie verleiten zur Karikatur – in welchen Fehler mir Menzel verfallen zu sein scheint … Der Jesus ist nach einem italienischen Modell gemalt.114 113 Cahn (2008), S. 213. 114 Brief an Alfred Lichtwark vom 5. Juni 1911, Cassirer (1919), S. 407 f., zit. nach Leppien (1989), S. 24.

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22  Rembrandt Harmenszoon van Rijn, Christus, um 1645/55, Museum Bredius, Den Haag/ Niederlande

Liebermann studierte das jüdische Viertel Amsterdams bis ins kleinste Detail, jedoch porträtierte er die Menschen dort nicht. Bei seinen Studien war er gezwungen, sich für viel Geld ein Zimmer zum Arbeiten in einem der Häuser zu mieten, da sich die Leute aus religiösen Gründen nicht auf der Straße malen lassen wollten. Dieses Zimmer befand sich im Obergeschoss. So entstand auch die erhöhte Perspektive, die in diesen Werken zu erkennen ist (Abb. 21).115 Auch Liebermann wollte sich somit von den gängigen Vorurteilen und althergebrachten Darstellungsweisen lösen. Zu jener Zeit hatten die Erfolge der jüdischen Emanzipation und die Offenheit der Umwelt allerdings auch ihre Grenzen. Der klassische Antijudaismus war noch immer nicht überwunden, wodurch die Darstellungsfreiheit jüdischstämmiger Künstler stark eingeschränkt war. Die Verarbeitung christlicher Themen wäre als Blasphemie betrachtet worden. Zwar durften jüdische Künstler seit jeher an Jesus-Motiven und neutestamentarischen Sujets arbeiten, für Eigeninterpretationen gab es allerdings wenig Raum und noch weniger Verständnis.116 So kann man an den oben angeführten Beispielen sehen, dass sich außer Liebermann kein weiterer Künstler an die abweichende Darstellung des jungen Jesus heranwagte. 115 Cahn (2008), S. 217. 116 Amishai-Maisels (2001), S. 78.

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Ausgerechnet der Impressionist und Jude Liebermann übertrumpfte im Realismus den Präraffaeliten Hunt, indem er den Gottessohn als einen armen jüdischen Jungen malte. Aber auch hier wird die Hand Liebermanns nicht ausschließlich durch seine Gedanken und Überzeugungen, sondern von Meister Rembrandt geführt worden sein. Auch er malte im Jahre 1650 einen „menschlichen“ Jesus – ein Porträt des Gottessohnes, das nach einem jüdischen Modell entstand (Abb. 22). Als Büstenporträt ist die Darstellung ganz auf Jesus’ reines Menschsein reduziert. Den Kopf in ein Dreiviertelprofil gedreht, blickt Christus versunken in den nicht weiter definierten Raum. Rembrandt vermenschlichte den Gottessohn, indem er ihn aus der mit ihm untrennbar durch die Religion und den Glauben verbundenen Historie herausgriff. Die Darstellung des Jesusknaben im Lieber­ mann’schen Bild erregte die Gemüter auch aus einem anderen Grund. Sie entledigte die heilige Figur des Jesus Christus der Vorgaben, durch die eine bestimmte Vorstellung von ihm vorherrschte. Seine in der Bibel beschriebenen Taten und das Martyrium definierten die Figur des Jesus. Diese im Bild unerwähnt zu lassen, bedeutet ihn damit des einzigen legitimen Kontextes, der sein Wesen ausmachte und seine Existenz für die Gläubigen begründete, zu berauben. Für gläubige Christen, insbesondere zur empfind­lichen Zeit des Kulturkampfes in Deutschland, war Jesus Christus kein Mensch. Er durfte als solcher auch nicht betrachtet werden, da damit die über Jahrhunderte gewachsenen Säulen des Glaubens erschüttert würden. Liebermann ging es allerdings keineswegs darum, irgendjemanden mit seinem Werk anzugreifen oder zu beleidigen. Wenn dieses Bild überhaupt eine Botschaft enthalten sollte, dann sicherlich eine gegenteilige. Doch das Hauptanliegen bestand höchstwahrscheinlich eher in der eigenen künstlerischen Weiter­entwicklung.

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JÜDISCHE KUNST IN OSTEUROPA: MARC CHAGALL ALS „DER“ JÜDISCHE KÜNSTLER

Marc Chagall ist zweifelsohne einer der berühmtesten Künstler des 20. Jahrhunderts. Von den fast 90 Jahren seines künstlerischen Schaffens1 war er über 70 Jahre lang weltberühmt. Seine erste Autobiografie erschien bereits 1922, als der Maler gerade einmal 35 Jahre alt war.2 Es ist unmöglich, die Geschichte der europäischen modernen Kunst ohne Chagall zu erzählen. Kubismus, Expressionismus, Kolorismus – in alles war er involviert, nichts hat ihn festgehalten. Seit Chagalls erster Einzelausstellung in der Berliner Galerie Der Sturm im Jahr 1914 wird bis heute unermüdlich über ihn geschrieben und sein Schaffen erforscht – eine solch konstante Aufmerksamkeit wurde kaum einem anderen Künstler des 20. Jahrhunderts in gleichem Maße zuteil. Aus gutem Grund: Marc Chagall war, ist und bleibt konkurrenzlos. Stets mit Sorgfalt und Bedacht auf seine Person konzentriert, ließ er das Kunstuniversum um sich kreisen.3 Er ließ sich keiner Kunstrichtung dauerhaft zuordnen und arbeitete fieberhaft an der eigenen künstleri-

1 Harshav, Benjamin, Marc Chagall and his times. A documentary narrative (with translations from Russian, Yiddish, French, German, and Hebrew by Benjamin and Barbara Harshav), Stanford 2004, S. 169. 2 Chagall (1959), S. 177. 3 Aus den Darstellungen Harshavs wird ersichtlich, dass Chagall den Einfluss seiner durchaus hochgeschätzten Lehrer Yehuda Pen und Leon Bakst auf seine Kunstentwicklung herunterspielte, indem er die Dauer seiner Ausbildung bei ihnen in seinen Erzählungen verkürzte, Harshav (2004), S. 173. Harshav widmet ein ganzes Unterkapitel Chagalls Verständnis und Wahrnehmung von Zeit in seinen Texten und Kunstwerken („Dates and Memory: the Perception of Time, Space, and Logic“, S. 57–59). Er weist darauf hin, dass in der jüdischen Religionsphilosophie und auch in der jiddischen Literatur die Zeit oft nicht chronologisch verläuft, sondern sich an bestimmten Ereignissen orientiert, die auch parallel stattfinden können. Ähnlich sind biografische Erzählungen Chagalls oft Ereignisse, die parallel stattgefunden haben. Die Angabe falscher Daten lässt sich auch bei der Datierung von Chagalls Bildern feststellen. Harshav weist zwar darauf hin, dass das Vordatieren der Werke ein geläufiges Mittel von Künstlern war, um sich nachträglich an den Anfang einer künstlerischen Entwicklung zu stellen. Das Durcheinanderbringen der Daten sei bei Chagall allerdings weniger systematisch erfolgt und sei bei ihm an verschiedenen Stellen anzutreffen (S. 57). Siehe dazu auch Vincent, Hélène, Chagall à Paris 1911–1914, in: Chagall et l’avant-garde russe, hg. v. ­Centre Pompidou Paris, Paris 2011, S. 59–63. Wie viel Absicht oder Zufall nun in seinen Darstellungen letztendlich wirklich steckte, wird wohl für immer Chagalls Geheimnis bleiben. Tatsache bleibt, dass all diese Kleinigkeiten Chagalls „Branding“ eines außergewöhnlichen Künstlers nachhaltig stärkten.

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schen Entwicklung.4 Der kleine, schüchterne Mann verfolgte seine künstlerischen Ziele mit einer unbeirrbaren Durchsetzungskraft. Chagall ist jedem halbwegs an Kunst interessierten Menschen ein Begriff, ob durch seine über die Dörfer fliegenden Figuren, die Bibelillustrationen oder die Fensterbilder. Was seine Biografie betrifft, so ist den meisten bekannt, dass Marc Chagall Jude war. Dass ausgerechnet dieser Teil seiner Biografie besonders prominent ist, ist kein Zufall. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Künstlern jüdischer Herkunft seiner Generation hat Chagall sein Judentum nie verheimlicht.5 Er hat es zu seiner größten Inspiration kultiviert.

Juden in Osteuropa – Aufbruch in eine aufgeklärte Welt Das Judentum, das Marc Chagall geprägt hatte und das er in seine Motive einfließen ließ, war das Judentum im Osteuropa des 19. Jahrhunderts. Für das Verständnis seiner Kunst lohnt sich ein kurzer Blick auf die Kultur des osteuropäischen Judentums, in die Chagall hineingeboren wurde. Die Betrachtung der Lebensumstände osteuropäischer Juden im 18. und 19. Jahrhundert führt schnell vor Augen, dass auch sie – wie der gesamte Kontinent – zur Zeit der Emanzipation und der Aufklärung vor dem Eintritt in das Zeitalter der Moderne standen. Die Juden Osteuropas wurden in dieser Zeit vor die Herausforderung gestellt, ihre eigene, gemeinsame Identität, die stark auf die Probe gestellt wurde, neu zu definieren. Für die jüdische Gemeinschaft der Diaspora war Anpassung an äußere Verhältnisse nichts Neues, allerdings musste man sich seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts innerjüdischen Herausforderungen stellen, die einen kulturellen Modernisierungsprozess verlangten. Wie sich dieser jedoch im Einzelnen vollzog, ist komplex. Israel ­Bartal beschreibt in seinem 2010 erschienen Buch Geschichte der Juden im östlichen Europa 1772–1881 das heutige Verständnis der Lebensverhältnisse der Juden in Osteuropa als eine Zusammenfassung unterschiedlicher Gruppengedächtnisse vor allem des 20. Jahrhunderts. Der Grund dafür sei die Migration der Juden im Zuge moderner politischer und vor allem nationaler Entwicklungen nach Israel und in die USA. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges und der quälenden Frage nach den Ursachen für die systematische Vernichtung der europäischen Juden widmete sich die Wissenschaft verstärkt der Ergründung der miserablen und bedrohlichen Lage, der die Juden über Jahrhunderte in Europa ausgesetzt waren. Die Erinnerung an den jüdischen Alltag geriet in den Hintergrund. Erst mit der Öffnung der Archive seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion

4 Harshav, Benjamin (Hg.), Marc Chagall on art and culture, including the first book on Chagall’s art by A. Efros and Ya. Tugendhold, Moscow 1918, Stanford 2003, S. 22. 5 Wie Harshav richtig darstellt, liegen uns kaum Fakten über Chagalls Kindheit und Jugend vor. ­A lles, was dazu bekannt ist, stammte von Chagall selbst, der sehr sorgsam sein Image eines Stetl-Jungen pflegte. Er ist zwar in einem solchen geboren, lebte allerdings seit seiner frühesten Kindheit in ­Witebsk, das in den 1890er-Jahren bereits eine größere Stadt war, Harshav (2004), S. 41 ff., 48 f.

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bekamen die Forscher tieferen Einblick in die historischen Quellen und damit in die fast vergessene Welt der osteuropäischen Juden.6 Der Großteil aller europäischen Juden lebte bereits Mitte des 17. Jahrhunderts im Osten, was auf zahlreiche Migrationswellen aus Deutschland nach Polen auf der Suche nach besseren Lebensumständen zurückzuführen war.7 Damit machten die polnischen Juden auch später den größeren Teil des osteuropäischen Judentums aus.8 Als polnische Juden siedelten sie sich aber nicht nur in Polen an, sondern auch im russischen Zarenreich, was durch die zahlreichen Grenzverschiebungen im Europa des 18. Jahrhunderts bedingt war. Bartal wählt deswegen als Beginn des Zeitzrahmens seiner Untersuchung die erste Teilung Polnes , nämlich das Jahr 1772, das der Autor gleichzeitg als den Beginn der Moderne für das osteuropäische Judentum definiert.9 In ihrer eigenen Siedlungsform der sogenannten Stetl, die mit Kleinstädten vergleichbar waren, stellten die Juden im 18. Jahrhundert die Hälfte der urbanen Bevölkerung Polen-Litauens dar.10 Eine stark ausgeprägte Selbstorganisation, ein demografisches Wachstum, gemeinschaftlicher Zusammenhalt und organisiertes Städteleben zeugten von Modernität und Fortschritt der jüdischen Gemeinschaft jener Zeit. Der Fortschritt schützte die Juden bekanntermaßen nicht vor Verfolgung und gesetzlicher Unterdrückung der späteren Jahrhunderte.

Die Teilungen Polens als Basis für grundlegende Veränderungen Um die Geschichte der kulturellen Prägung der osteuropäischen Juden nachvollziehen zu können, muss man sich vor Augen führen, dass Osteuropa zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss großer Reiche und mächtiger Herrscher stand. Der Nationengedanke einzelner Völker, der als Basis für den Wunsch nach einer unabhängigen Staaten­ gründung verstanden werden muss, entwickelte sich nur langsam, und die Menschen akzeptierten weitestgehend ihr Schicksal als Untertanen bestimmter Monarchien. Es gab in der Geschichte Europas gar eine Zeit, in der Polen als Staat offiziell nicht existierte, sondern durch die insgesamt drei Teilungen zwischenzeitlich komplett unter Preußen, dem russischen Zarenreich und der österreichischen Habsburger-Monarchie aufgeteilt war. Dies war seit der dritten und letzten Teilung Polens 1795 bis zur Gründung des sogenannten Kongresspolen auf dem Wiener Kongress 1815 der Fall.11 Und auch das unterstand der russischen Herrschaft. Damit waren Polen und seine Bürger in der Zeit

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Bartal (2010), S. 20 f.  Ebd., S. 23, 50. Kassow (2007), S. 15. Bartal (2010), S. 9 f. Hundert, Gershon David, The Importance of Demography and Patterns of Settlement for an Understanding of the Jewish Experience in East-Central Europe, in: Katz (2007), S. 29–38, hier S. 35. 11 Bartal (2010), S. 42.

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der Revolutionen und der napoleonischen Ära ein Spielball der Großmächte Europas. Dies war für polnische Juden eine ebenso schwierige Situation wie für alle Polen.12 Doch hatten die Juden den traurigen Vorteil, dass sie an willkürliche Machtwechsel und neue Gesetzesbeschlüsse durch die Regierung gewohnt waren und sich deswegen als Gemeinschaft seit mehreren Jahrhunderten in einer Art jüdischer Autonomie organisiert hatten. Diese Autonomie wurde durch einen eigenen Ältestenrat, den sogenannten Kahal13, im Rat der vier Länder vertreten und stand so mit dem polnischen Adel in Verbindung. Die Verbindung zum Adel bestand durch eine beiderseitige Abhängigkeit. Bereits seit dem 16. Jahrhundert pachteten die Juden, die in Polen nicht in Städten siedeln durften, das Land der Großgrundbesitzer und übernahmen damit für sie die Verwaltung ihrer Güter. Dies war praktisch für die Landbesitzer und eine Einnahmequelle und Siedlungsmöglichkeit für die Juden.14 Unter den Bauern schürte dieser Umstand starke Ressentiments gegen die Juden, da die Auseinandersetzung der Bauern mit den eigentlichen Großgrundbesitzern auf die Juden projiziert wurde. Die schlimmste Konsequenz aus diesem Konflikt war der Kosaken-Aufstand von 1648 unter der Führung ­Bogdan ­Chmelnyzkyjs, dem Gründer der Ukraine, bei dem etwa 100.000 Juden ermordet w ­ urden.15 Durch die Teilungen Polens und damit die Schwächung des polnischen Adels stand die jüdische Autonomie vor der Heraus­forderung, in den jeweiligen Ländern, zu denen die Juden nun gehörten, die Selbstverwaltung beizubehalten. Im Grunde bedeutete das Ende von Polen-Litauen, welches mit der ersten Teilung Polens im Jahre 1772 zusammenfiel, gleichzeitig den Untergang der organisierten osteuropäischen jüdischen Gemeinschaft.16 Ab hier müssen die unterschiedlichen Länder genauer betrachtet werden. Preußens Grenzen reichten bei der dritten Teilung Polens bis an Westgalizien und schlossen u. a. Białystok und Warschau ein. Zu Österreich-Ungarn gehörten ganz ­Galizien samt Westgalizien seit 1795 und die Bukowina – ein kleineres Gebiet im Nordwesten B ­ essarabiens, das ansonsten zum Osmanischen Reich gehörte. Das Russische Reich erweiterte bis 1795 seine Grenzen in den Nordwesten bis an die Grenzen zu Ost- und Neuostpreußen, an Galizien im Westen und an das Osmanische Reich im Süden. Außerdem hatte es Zugang zur Ostsee im weitesten Norden und zum Schwarzen Meer ganz im Süden.17 Den Eintritt in das moderne Zeitalter sieht Bartal in der unvermeidlichen Auseinandersetzung der jüdischen Autonomie Polens mit der zentralistischen Staatsmacht, der sie innerhalb der Grenzen der jeweiligen Reiche ausgesetzt war.18 Zur Zeit des Nationalismus waren die Juden Osteuropas mit 12 Kassow (2007), S. 5. 13 Stanislawski, Michael, Art. „Kahal“, in: YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Online-­ Edition 17. August 2010 (http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Kahal, Stand 17. 0 4. 2017). 14 Kassow (2007), S. 3. 15 Battenberg (1990), Bd. II, S. 34–36. 16 Bartal (2010), S. 33.­ 17 Vgl. zu den Teilungen Polens Bömelburg, Hans-Jürgen; Gestrich, Andreas; Schnabel-Schüle, ­Helga (Hg.), Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen, Göttingen 2013, hier insbesondere die Karte auf S. 396. 18 Bartal (2010), S. 9.

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Fragen ­konfrontiert, die sich dieser isolierten, stark traditionalistischen und durch Religion geprägten Minderheit vorher nie gestellt hatten. Durch das Wegfallen der gewohnten politischen und organisatorischen Strukturen wurde der bisherigen Koexistenz zwischen Juden und Polen die Grundlage genommen. Die Juden mussten sich erstmals als eine Gruppe definieren, die in den neu gegründeten Staaten eine Rolle spielen würde. Je nachdem, wo sie sich befanden, mussten sie sich gegenüber der jeweiligen Nation bzw. der Staatsreligion positionieren.19 Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein änderte sich an der Lebensweise – sofern sie nicht zwangsläufig durch Verordnungen oder Umsiedlungen verändert wurde – sehr wenig. Die vormals in Polen-Litauen lebenden Juden nannten sich selbst „polnische Juden“, sprachen Ostjiddisch und blieben unter sich.20 Laut Bartal lässt sich der gesellschaftliche Umbruch der polnischen Juden in zwei Etappen zusammenfassen: zunächst von den Teilungen Polens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und von 1850 bis 1880, also bis zu den Massenauswanderungen nach den großen Pogromwellen von 1881 und 1882. Der Schnitt erfolgte nach dem Aufkommen der Idee des Sozialismus, die innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu neuen Vorstellungen der eigenen Identität führte.21 Dennoch waren die Juden unterschiedlichen Kräften ausgesetzt. Im Großen und Ganzen erfüllten Preußen und Österreich-Ungarn die drei von Mordechai Eliav formulierten Faktoren: aufgeklärter Absolutismus, Bildung und religiöse Toleranz. Das zaristi­ sche Russland strebte zumindest danach. Diese Faktoren ebneten zuvor in ­Preußen den Juden den Weg in die Emanzipation.22 Die Russen zählten sich zum aufgeklärten Absolutismus und arbeiteten an philosophischen Errungenschaften, wie die Bemühungen um eine höhere Bildung der Gesellschaft zeigten.23 Der Aspekt der religiösen Toleranz war für alle drei europäischen Reiche ein schwieriges Unterfangen. Als Bestandteil des allgemeinen Aufklärungsgedankens gehörte die Akzeptanz unterschiedlicher Religionen zum Pflichtprogramm. Dennoch scheint sich nur Preußen tatsächlich ernsthaft dieser Herausforderung gestellt zu haben, dies allerdings auch eher mit Schwierigkeiten. Möglicherweise spielte hier die zunehmende Trennung von Staat und Kirche, die sich in der Zeit zwischen Napoleon und Bismarcks Kulturkampf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmähich vollzog, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Auch in Österreich und Russland wurden im Laufe des beginnenden 19. Jahrhunderts zahlreiche Edikte und speziell für Juden erarbeitete Gesetze erlassen. Doch war in beiden Staaten die Verbundenheit mit dem Katholizismus bzw. der russisch-orthodoxen Kirche viel stärker.

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Ebd., S. 10. Ebd., S. 9, 11. Ebd., S. 47. Battenberg (1990), Bd. II, S. 23. Bartal (2010), S. 73 f.; hier wird dargestellt, wie der russische Zar Nikolaus I. zur Mitte des 19. Jahrhunderts in die jüdische Kultur eingreift, indem er u. a. die Bildungsreform zur „Umerziehung“ der Juden benutzte; S. 85 f. stellt dar, dass in Österreich die Juden bereits seit 1806 mit der Abschaffung der jüdischen Schulen in das allgemeine Bildungswesen integriert wurden.

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Entwicklungen auf dem Gebiet des zaristischen Russlands – Versuch einer kulturellen Integration Vor 1772 war es Juden untersagt, sich auf dem Gebiet des zaristischen Russlands anzusiedeln. Seit den Teilungen Polens annektierte Russland nebst Land auch die aus Hunderttausenden von Menschen bestehende, jüdische Bevölkerung des ehemaligen Polen-Litauens. Die Aufgaben, vor die sich die Herrschenden gestellt sahen, bezogen sich vor allem auf die Integration der Juden in das zentralistische Verwaltungssystem und die Steuerung ihres Handeltreibens zugunsten des Staates.24 Die Einstellung der russischen Monarchie den Juden gegenüber war seit der ersten Teilung Polens bis zum Niedergang des russischen Imperiums 1917 von Widerspruch gekennzeichnet. Sowohl die Elemente des aufgeklärten Absolutismus als auch der Wunsch nach der Kanalisierung der durch Juden betriebenen Wirtschaft setzten die Religionstoleranz der Herrschaft voraus. In der Tat sicherten die sogenannten Juden­ edikte auf dem Papier den Juden stets die Freiheit der Religionsausübung zu.25 Die Diskrepanz lag allerdings darin, dass der Monarch – im Jahre 1772 war es die Zarin Katharina II. – zur selben Zeit Herrscher/in über das Reich und das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche war. Es herrschte die christlich-byzantinische Tradition, die Juden als eine feindliche Gruppierung betrachtete. Unter der Bevölkerung schlug sich dies in der üblichen Ausgrenzung der Juden nieder, unterstützt durch das vor 1772 herrschende Verbot für die Juden, das Russische Reich zu betreten oder sich dort niederzulassen.26 Mit der Erweiterung der russischen Grenzen nach Westen wurde den Juden Ende des 18. Jahrhunderts die Erlaubnis erteilt, in Weißrussland und damit auch an der Schwarzmeerküste zu siedeln. Damit gingen zwei Aspekte einher: Zum einen wurden jüdische Händler davon abgehalten, den russischen im Inneren Russlands Konkurrenz zu machen, zum anderen sollte damit die Wirtschaft in den weniger ertragreichen 24 Ebd., S. 67. 25 Im Jahre der ersten Teilung Polens standen die Juden unter dem Schutz der Zarin Katharina II., ihnen wurde zugesichert, alle vorherigen Rechte blieben in Kraft, vgl. Bartal (2010), S. 67. Das Edikt von 1804 sicherte den Juden außerdem die Unantastbarkeit ihres Besitzes und freie Religions­ ausübung zu (Übers. d. Verf.), siehe Полное собрание законов Российской империи. Собрание первое. Том 28. 1804–1805 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. ­Erste Sammlung, Bd. 28, 1804–1805, S. 736, § 44) (Online-Veröffentlichung im Rahmen des Digitalisierungsprojektes der Russischen Nationalbibliothek http://www.nlr.ru/e-res/law_r/search. php [in Russisch], Suche nach Zeitraum 1649–1825, Gesetzesnummer 21547, § 44, S. 736, Stand 17. 04. 2017). Im Edikt von 1835 wurde den Juden von Nikolaus I. die Freiheit auf Eigentum und dessen Erwerb gestattet sowie eine „Belohnung“ bei erfolgreichem Betreiben von Produk­t ion, Handel und Handwerk in Aussicht gestellt. Außerdem wurden die allgemeinen Regelungen von 1804 verlängert (Übers. d. Verf.), Полное собрание законов Российской империи. Собрание второе. Том 10. Отделение первое. 1835 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Zweite Sammlung, Bd. 10, 1835, S. 309, § 2). (http://www.nlr.ru/e-res/law_r/search.php, Suche nach Zeitraum 1825–1881, Gesetzesnummer 8054, S. 309, § 2, Stand 17. 0 4. 2017); außerdem Bartal (2010), S. 71. 26 Bartal (2010), S. 68 f.

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Gebieten angekurbelt werden.27 Dies war der Moment der Festlegung des sogenannten Ansiedlungsrayons, der auf dem Gebiet des russischen Imperiums das Siedlungsgebiet der Juden bis weit in die Sowjetzeit bezeichnete.28 Eine weitere Entwicklung in der Geschichte der Juden Russlands stellte das sogenannte „Jüdische Statut“ Alexanders I. im Jahre 1804 dar. Der Zar begann seine Amtszeit mit zahlreichen Reformen und trieb damit den aufgeklärten Absolutismus nach preußischem Vorbild immer weiter voran. Das Ziel des Edikts zur rechtlichen Stellung der Juden im Zarenreich war neben der üblichen Eingliederung in das Verwaltungssystem und der Steigerung der Wirtschaftsleistung vor allem die „Verbesserung“ ihrer gesellschaftlichen Stellung. Ähnlich wie in Preußen sollte der Weg zur Verbürgerlichung über die allgemeine Bildung führen. Grundschulen, Gymnasien und Universitäten wurden den Juden zugänglich gemacht.29 Der erste Block der neuen Gesetze unter der Überschrift „Über die Aufklärung“ widmete sich in sieben von zehn Paragrafen der Ausbildung von Kindern. Jüdische Kinder erhielten die Möglichkeit, an allgemeinen Volksschulen zu lernen, und durften von niemandem und unter keinen Umständen von ihrer Religion abgehalten werden. Am Gymnasium hatten sie sich an die Kleiderordnung zu halten. Im vierten Paragrafen wurde jüdischen Kindern der Besuch der Sankt Petersburger Kunstakademie erlaubt, was sie dazu verpflichtete, „deutsche“ Kleidung zu tragen. Ähnlich den Vorstellungen Christian Wilhelm Dohms in Preußen schrieb auch Alexanders I. Gesetzgebung den Juden vor, sich der Umgebung angepasst zu kleiden und in absehbarer Zeit eine der akzeptierten Sprachen, nämlich Russisch, Polnisch oder Deutsch, zu erlernen. Die Juden sollten einen festen Familiennamen annehmen und ordentliche Papiere führen.30 Nach der napoleonischen Ära verstärkte sich die Beziehung der russischen Herrschaft zum Christentum. Die Ideen der Aufklärung wurden – zumindest in den Augen der russischen Monarchie – durch die Französische Revolution und ihre Folgen geschwächt, und die Kirche gewann wieder an Macht. Alexander I. unterstützte zum Ende seiner Regentschaft vermehrt missionarische Ziele. Die einzige Möglichkeit der Integration und der gesellschaftlichen „Verbesserung“ lag für die Juden nun in der Konversion zum Christentum.31 Diese Situation verschlimmerte sich mit der Besteigung des Throns durch Nikolaus I. 1835 brachte er eine neue Verordnung heraus, die u. a. die Aufenthaltsmöglichkeiten und die Bewegungsfreiheit der Juden weiter einschränkte. Die Juden durften nicht mehr in größeren Städten und Dörfern der jeweils zugewiesenen Sied27 Raisin, Jacob S., The Haskalah Movement in Russia, Charleston (1913) 2010, S. 73. 28 Bartal (2010), S. 70. 29 Ebd. 30 Высочайше утвержденное 9 декабря 1804 года, Положение. О устройстве Евреев (Bestimmung vom 9. Dezember 1804, Umstand. Über die Verfassung der Juden [Übers. d. Verf.]), Полное собрание законов Российской империи. Собрание первое. Том 28. 1804–1805 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Erste Sammlung, Band 28, 1804–1805, S. 734, § 32) (http:// www.nlr.ru/e-res/law_r/search.php, Suche nach Zeitraum 1649–1825, Gesetzesnummer 21547, § 32, S. 734, Stand 17. 0 4. 2017); Raisin ([1913] 2010), S. 74. 31 Bartal (2010), S. 71; Raisin ([1913] 2010), S. 84 f.

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lungsgebiete wohnen, dementsprechend wurde auch die wirtschaftliche Tätigkeit stark beschnitten.32 Die übrig gebliebene, schwache jüdische Autonomieverwaltung wurde zum Mittelsmann zwischen der jüdischen Bevölkerung und der Regierung erklärt, was diese faktisch zu einer Instanz zur Kontrolle der Gesetzestreue und der Steuereintreibung für die Regierung machte. Die latente Abneigung gegen die Juden als Gruppe, aber auch der starke Antijudaismus Nikolaus’ I. wurden besonders durch die Einmischung in die jüdische Kultur sichtbar. Der Zar und seine Regierung waren der Überzeugung, dass das Talmudstudium die Juden daran hindere, sich in die russische Gesellschaft zu integrieren. Sie erklärten die rabbinische Literatur und den Talmud zu Hassschriften, die zu Fremdenfeindlichkeit und Andersartigkeit führten. Seit den 1840er-Jahren setzte sich die Überzeugung durch, dass eine „Umerziehung“ der Juden nur durch Bildungsreformen durchzusetzen sei. Es sollten im Ansiedlungsrayon jüdische Schulen in russischer Sprache eröffnet werden, in denen Wissenschaft, Fremdsprachen und Ideen der Aufklärung verbreitet werden sollten. Die Reaktionen unter den Juden auf solch ein eingreifendes Verhalten der Obrigkeit waren wie auch in Deutschland sehr unterschiedlich. Die einen fühlten sich durch neue Ideen angezogen, andere zogen sich eher zurück. Im Endeffekt änderten diese Maßnahmen an den Charakteristika der jüdischen Gemeinschaft wenig. Als Gegenreaktion wurde allerdings die Orthodoxie zusehends gestärkt. Erst in den darauffolgenden Jahren entwickelte sich ein neues Eigenverständnis, das neue Errungenschaften akzeptierte, indem es diese der traditionellen jüdischen Identität anzupassen versuchte.33 Die Geschichte Russlands ist geprägt durch die Persönlichkeiten seiner Herrscher. So ist es nicht verwunderlich, dass auch bei der Thronbesteigung Alexanders II., des Sohnes Nikolaus I., im Jahre 1855 abermals ein neuer Wind wehte. Alexanders II. Regentschaft war gekennzeichnet durch zahlreiche Reformen. Die Niederlage im Krimkrieg (1853–1856) offenbarte Russlands Schwächen gleich auf mehreren Ebenen. Sowohl politisch und ökonomisch als auch letztendlich militärisch war Russland den westeuropäischen Staaten weit unterlegen. Alexander II. begann nun den Weg in die Modernisierung der Staatsorganisation und in die Industrialisierung. Der wohl wesentlichste Aspekt im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung war die Abschaffung der Leibeigenschaft der Bauern im Jahre 1861.34 Das Ende des Feudalsystems bedeutete für die Juden einen großen Einschnitt in die üblichen ökonomischen Grundlagen des Stetl. Im Ansiedlungsrayon waren im Rahmen der Pachtwirtschaft im Laufe der Jahre

32 Полное собрание законов Российской империи. Собрание второе. Том 10. Отделение первое. 1835. СПб., 1836 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Zweite Sammlung, Band 10, Erster Teil, 1835–1836, S. 309, § 3–5 [Übers. d. Verf.]) (http://www.nlr.ru/e-res/ law_r/search.php, Suche nach Zeitraum 1825–1881, Gesetzesnummer 8054, S. 309, § 3–5, Stand 17. 04. 2017); Raisin ([1913] 2010), S. 103. 33 Bartal (2010), S. 73–78. 34 Stökl, Günther, Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, mit einem Nachtrag, einer Zeittafel und einer aktuellen Bibliographie von Manfred Alexander, Stuttgart 61997, S. 537.

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zahlreiche dörfliche Manufakturen entstanden, die den Juden einen bestimmten Platz in der ständischen Wirtschaft sicherten. Mit dem Wegfall der Leibeigenschaft mussten sich Hunderttausende nun beruflich umorientieren. Die endgültige Auflösung der jüdischen Autonomieverwaltung förderte die stetig voranschreitende Eingliederung der Juden in das russische Verwaltungssystem. Dies gewährte ihnen u. a. den Zugang zur akademischen Ausbildung und zu freien Berufen. Wer sich also von den innerjüdischen Kräften lösen konnte und solch einen akademischen und neuen beruflichen Weg ging, erhielt die Möglichkeit, sich auf dem gesamten Gebiet Russlands frei zu bewegen. Diese Veränderungen förderten die Aufteilung der jüdischen Gemeinschaft in unterschied­ liche Gesellschaftsschichten. Es entwickelte sich erstmals eine jüdische Bourgeoisie, die aus einer Wirtschaftselite bestand. Einige davon durften sich ab 1859 sogar außerhalb des Ansiedlungsrayons niederlassen.35 Die Mobilität diente zweierlei Absichten: Das Wirtschaftstreiben der jüdischen Kreise sollte stärker unterstützt werden, außerdem hoffte man damit auf die Verbreitung russischer Kultur auf dem Gebiet des westlichen Zarenreiches. Es handelte sich dabei um den Beginn der sogenannten Russifizierung, die besonders nach den Polenaufständen von 1863 an Bedeutung gewann und auch in der Sowjetunion eine Rolle spielte.

Der Weg zu den Pogromen von 1881bis 1882 Bereits in den 1870er-Jahren begann das Verhältnis zwischen der russischen Bevölkerung und den Juden stark abzukühlen. Für einige Reformen Alexanders II. war die russische Gesellschaft nicht bereit. Den größten Schatten auf seine Regentschaft warf die Bauernbefreiung. Die neue Gesetzgebung, die den Bauern ihre Freiheit garantieren sollte, brachte de facto ihre Ausbeutung mit sich. Die Lebensverhältnisse der ­Bauern, die nun das ihnen überlassene Land an den Staat nebst den üblichen Steuer­abgaben bezahlen mussten, verschlechterten sich rapide, was zahlreiche Unruhen mit sich brachte.36 Gleichzeitig stieg der Unmut über die angebliche wirtschaftliche Position der Juden. Mit dem Kollektivsingular „des Juden“ wurden nun quer durch alle politischen Lager vermehrt Stimmen gegen Juden laut. Ihnen wurde vorgeworfen, Nichtjuden in allen, auch in agrarwirtschaftlichen Bereichen auszunutzen und das komplette russische Finanz­wesen an sich reißen zu wollen.37 Man plädierte für den Verweis der Juden aus dem Gebiet des russischen Reiches, zurück in den Ansiedlungsrayon.38 Gepaart mit einem neu aufblühenden religiösen Antijudaismus ergab diese Stimmung eine gefähr­ liche Mischung.39 Der Unterschied zum Vorabend des Kosakenaufstandes im Jahre 1648, an den sich die Juden zwangsläufig erinnert fühlten, lag in den massiv antisemitischen 35 36 37 38 39

Bartal (2010), S. 114 ff. Stökl (1997), S. 542 f. Klier, John, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, Cambridge 2011, S. 38. Ebd., S. 40. Bartal (2010), S. 149, 146.

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Presse­erzeugnissen, die in den 1870er-Jahren in Vorbereitung der Pogromwellen von 1881 bis 1882 in Umlauf waren. Die Rede- und Pressefreiheit gehörten zu den Reformen, deren modernem Geist nach westlichem Vorbild die russische Gesellschaft nicht gewachsen war. Es wurden Verunglimpfungen jeglicher Couleur veröffentlicht. Die Juden wurden als „Deutsche“ und „Franzosen“, als westliche Spione beschimpft, die Russland unterwanderten und von innen vernichten wollten. Sie wurden einer internationalen jüdischen Verschwörung beschuldigt. Auch die intellektuelle Schicht wurde von dieser Welle erfasst. Es wurden nun Stimmen laut, es gäbe überproportional viele Juden an Gymnasien und Universitäten. Dies wäre zu korrigieren. Obwohl die Quoten offensichtlich erst viel später eingeführt wurden, ist anzunehmen, dass steigende Ressentiments den Anteil jüdischer Absolventen höherer Bildungsstätten schon vorher eingedämmt hatten. Dem Antisemitismus der Presse waren keine Grenzen gesetzt. Da die russische Presse trotz der vermeintlichen Pressefreiheit stets der Zensur unterworfen war, ist davon auszugehen, dass diese Stimmung in der Tat von der Regierung geteilt, wenn nicht gar angeheizt wurde. Das jüdische Verlagswesen reagierte mit einer Schockstarre. Jüdische Herausgeber waren verunsichert, ob Übersetzungen jüdischer Schriften überhaupt gedruckt werden sollten. Diese wurden nämlich vermehrt zum Anlass genommen, um innerhalb der jüdischen Gemeinschaft nach angeblichen Beweisen jüdischer Verschwörungstätigkeit zu suchen. Zeitungen, die Reaktionen jüdischer Autoren druckten, wurden geschlossen. Die Maskilim, die jüdischen Aufklärer, die ursprünglich auf die An­­ näherung an die russische bürgerliche Gesellschaft hofften, waren von der zaristischen Regierung schwer enttäuscht.40 Die Stimmung heizte sich knapp über ein Jahrzehnt auf, bis sie sich in unermesslicher Gewalt auf mehreren Ebenen entlud. Das Jahr 1881 war ein Schicksalsjahr für die Juden Osteuropas. Mit der Ermordung Alexanders II. am 1. März 1881 wandte sich erneut das politische Blatt des Zarenreichs. Die Unruhen gewannen immer mehr an Brisanz und brachten die schlimmsten Pogromwellen jener Zeit mit sich. Diese zogen sich über ein Jahr hin und waren geografisch außergewöhnlich weit über den Ansiedlungsrayon bis nach Warschau verteilt.41 Auch wenn Pogrome im Grunde traurige Realität für Juden waren, gab es zum Ende des 19. Jahrhunderts einige Veränderungen, die die Ausschreitungen besonders bitter erscheinen lassen. Die Entwicklung der Mehrschichtigkeit der jüdischen Gemeinschaft, die mit dem Aufklärungsgedanken und zuletzt den Reformen Alexanders II. eingeleitet wurde, ließ die Juden in der Tat an eine gesellschaftliche Annäherung an die Russen glauben. Die neue junge Generation der breitesten Schicht der Juden, der armen Handwerker und Hausierer, entwickelte neue, noch nie da gewesene Ideen und Vorstellungen von der jüdischen Identität. Diese trug zumeist dem Zeitgeist entsprechend einen sozialistischen bzw. nationalistischen Anstrich.42 Die Pogrome führten den Juden als 40 Ebd., S. 146 ff., 151–153. 41 Ebd., S. 155 ff. 42 Ebd., S. 161.

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Gesamtheit nun aber vor Augen, dass die durch die Maskilim propagierte und geforderte Akkulturation gescheitert war.43 Die russische Regierung unter Alexander III., der den Antisemitismus politisch legitimiert hatte, ließ Überfälle und Morde geschehen, ohne wesentlich einzugreifen.44 Die russische Presse verbreitete die Ansicht, die Juden seien durch ihre wirtschaftliche Tätigkeit selbst an den Ausschreitungen schuld.45 Die Mehrheit der Juden fühlte sich insbesondere durch die Orthodoxie und die reiche bürgerliche jüdische Schicht verraten und im Stich gelassen, denn auch sie unternahmen kaum etwas zum Schutz der Juden im Ansiedlungsrayon. Das Jahr 1881 löste eine Massenauswanderung der Juden gen Westen aus. Ziele waren sowohl die Hauptstädte der west­euro­ päischen Industrieländer als auch – und das hauptsächlich – die Vereinigten Staaten von Amerika.46

Möglichkeiten zur künstlerischen Ausbildung Nichtsdestotrotz wurde Bildung im 19. Jahrhundert nun auch zum ökonomischen Faktor für russische Juden. Die Zahl jüdischer Schüler und Studenten stieg in kurzer Zeit enorm und war bald prozentual höher als der Bevölkerungsanteil.47 Als Reaktion darauf wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts strikte und von Gebiet zu Gebiet variierende Quoten eingeführt.48 Die Ausbildung im künstlerischen und kunsthandwerklichen Bereich 43 Klier (2011), S. 45. 44 Klier beschreibt sehr detailliert die militärische, polizeiliche und behördliche Verteilung, die dafür eingesetzt wurde, mögliche Ausschreitungen, die jährlich zur Osterzeit ausbrachen (S. 25), zu verhindern. Er macht auch auf die starke Unterbesetzung der Polizei in den ländlichen Gebieten aufmerksam, die ein Verhindern der Pogrome so gut wie unmöglich machte (S. 23, 41), vgl. Klier (2011), S. 17–58. 45 Ebd., S. 47. 46 Bartal (2010), S. 156 ff., 162 f. 47 Bartal (2010), S. 116. 48 Jüdischen Kindern wird 1835 die Erlaubnis erteilt, ohne Unterschied zu anderen Kindern allgemeine Bildungsstätten und private Schulen an den ihren Vätern zugewiesenen Orten zu besuchen (Übers. d. Verf.), Полное собрание законов Российской империи. Собрание второе. Том 10. Отделение первое. 1835. СПб., 1836 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Impe­ riums. Zweite Sammlung, Bd. 10, Erster Teil, 1835–1836, S. 321, § 104) (http://www.nlr.ru/e-res/ law_r/search.php, Suche nach Zeitraum 1825–1881, Gesetzesnummer 8054, S. 321, § 104, Stand 17. 04. 2017). 1908 und 1909 wurde diese Gesetzgebung durch Quoten ergänzt (Übers. d. Verf.), Полное собрание законов Российской империи. Собрание третье. Том 28. Отделение первое. 1908 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Dritte Sammlung, Bd. 28, Erster Teil, 1908, S. 720, Erlass 31008, Punkt 1) (http://www.nlr.ru/e-res/law_r/search.php, Suche nach Zeitraum 1881–1913, Gesetzesnummer 31008, Punkt 1, S. 720, Stand 17. 0 4. 2017). Dies galt allerdings nicht für Kunsthochschulen. Im Erlass 32504 von 1909 wird bestätigt, dass Juden ohne Beschränkungen Bildungsstätten besuchen dürfen. Unter Punkt fünf werden Kunsthochschulen explizit erwähnt (Übers. d. Verf.), Полное собрание законов Российской империи. Собрание третье. Том 29. Отделение первое. 1909 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Dritte Sammlung, Bd. 29, Erster Teil, 1909, S. 724, Erlass 32501, Punkt 5) (http://www. nlr.ru/e-res/law_r/search.php, Suche nach Zeitraum 1881–1913, Gesetzesnummer 32501, Punkt 5, S. 724, Stand 17. 0 4. 2017). Dies kann als ein Indiz für einen eher überschaubaren Besuch jüdischer Studenten gedeutet werden.

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stand jüdischen Kindern bereits seit 1804 ausdrücklich offen.49 Die Bewegungsfreiheit auf dem russischen Gebiet wurde zu Zwecken einer künstlerischen Weiterbildung 1835 gelockert.50 Mit der Abschaffung der jüdischen Autonomie wurde 1844 die Zulassung u. a. zu Kunsthochschulen bestätigt, welche 1909 unter Nikolaus II. noch einmal bekräftigt wurde.51 Es versteht sich von selbst, dass eine Ausbildung an einer Universität in Kiew oder Moskau oder an der Kunstakademie in Sankt Petersburg nicht nur einer rechtmäßigen Erlaubnis, sondern auch finanzieller Mittel und Unterstützer bedurfte. Somit verwundert es nicht, dass die neue intellektuelle Schicht osteuropäischer Juden prozentual gesehen nur aus einigen Zehntausenden Menschen bestand. Diese Schicht brachte allerdings Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller hervor, die später die moderne jüdische Identität begründeten und damit den Weg zu einem eigenen Kulturverständnis ebneten, der als Voraussetzung für solch eine Idee wie der Jüdischen Kunst gelten muss.

Die Rolle unterschiedlicher religiöser und politischer Gruppen innerhalb der osteuropäischen jüdischen Gemeinschaft Neben dem Einfluss der europäischen Aufklärung und dem politischen Einwirken der drei Großmächte machte vor allen Dingen der innerjüdische Diskurs um die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Osteuropa den Modernisierungsprozess aus. Der im 18. Jahrhundert aufkommende mystische Zweig des Chassidismus, die Orthodoxie, die jüdischen Aufklärer der Haskala, die jüdischen Nationalisten und die Zionisten – sie alle versuchten, die Massen der osteuropäischen Juden in die eine oder andere Richtung zu bewegen. Alle Gruppierungen pflegten mehr oder minder starke Kontakte zu Obrigkeiten wie auch zur Aristokratie, und alle waren im öffentlichen Bewusstsein der Menschen präsent und prägten sie in ihrer kulturellen Wahrnehmung. Henry A ­ bramson sieht die Ermordung Alexanders II. als den entscheidenden Moment, ab dem sich Osteuropäer insgesamt der Suche nach ihrer jeweiligen nationalen Identität widmeten. Die Viel­völker­staaten Russland und Österreich-Ungarn wurden in ihren Grundsätzen von der eigenen Bevölkerung infrage gestellt. Für die jüdische Bevölkerung fiel der Tod des Zaren mit einer Pogromwelle zusammen, die über Monate andauerte. Die brodelnde Stimmung und der Wunsch nach Veränderungen, die ihren Höhepunkt in den Russischen Revolutionen von 1905 und 1917 fanden, mobilisierten auch die Juden. Abramson unterteilt die jüdische 49 Siehe Bartal (2010), S. 68 f.; jüdische Kinder konnten sogar ausdrücklich die Sankt Petersburger Kunsthochschule besuchen (Übers. d. Verf.), Полное собрание законов Российской империи. Собрание первое. Том 28. 1804–1805 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. ­Erste Sammlung, Bd. 28, 1804–1805, S. 731, § 4) (http://www.nlr.ru/e-res/law_r/search. php, Suche nach Zeitraum 1649–1825, Gesetzesnummer 21547, § 4, S. 731, Stand 17. 0 4. 2017). 50 Полное собрание законов Российской империи. Собрание второе. Том 10. Отделение первое. 1835 СПб., 1836 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Zweite Sammlung, Bd. 10, Erster Teil, 1835, S. 309 f, § 7 [Übers. d. Verf.]) (http://www.nlr.ru/e-res/law_r/search.­ php, Suche nach Zeitraum 1825–1881, Gesetzesnummer 8054, S. 309, § 7, Stand 17. 0 4. 2017). 51 Siehe Fußnote 49.

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Reaktion auf den herrschenden Zeitgeist in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in fünf Kategorien. Die erste Reaktion war gewohnheitsgemäß die Flucht. Die Emigration gen Westen, der Abramson offensichtlich mehr Gewicht verleihen möchte, indem er dieses Phänomen wie eine gesellschaftliche Einstellung, nämlich als „Emigrationism“ betitelt, führte in diesen Jahren viele Menschen in die Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA wurden zum verklärten Auswanderungsziel. In den Jahren zwischen 1881 und 1917 wanderten nicht nur Juden aus Osteuropa aus, doch keine Gruppe war so groß wie die der Juden. Amerika wurde zum verheißenen Land, in dem man sich bessere Lebensverhältnisse erhoffte. Interessanterweise betrachtet Abramson die Emigration aufgrund von Verfolgung und akuter Lebensbedrohung als ein „vormodernes“ Phänomen.52 Demzufolge wäre die Auseinandersetzung mit den Ereignissen auf politischer und kultureller Ebene vor Ort abermals ein Beweis für eine Neuerung und einen inneren Modernisierungsprozess der jüdischen europäischen Gemeinschaft gewesen.53 Als die wichtigste politische innerjüdische Bewegung nennt Abramson den Zionismus.54 Erstmalig in der Geschichte der jüdischen Gemeinschaft definierte sich diese als Nation und entsprach damit dem vorherrschenden Zeitgeist des Nationalismus. Der klassischen Definition von Nationalismus entsprechend beanspruchten die Zionisten ein gemeinsames Kulturverständnis, eine gemeinsame Sprache sowie ein eigenes Siedlungsgebiet zwecks Gründung eines souveränen Staates. Auch die Zionisten drängten Menschen zur Auswanderung, nämlich nach Palästina. Der Unterschied zur bloßen Emigration lag allerdings in der Entscheidung, nicht in ein fremdes Land zu gehen, sondern ein eigenes aufzubauen. Der Zionismus war keine reine Ideologie, über die man in gehobenen Kreisen philosophierte. Er stellte die erste eigenständige politische Richtung dar, die sich ausschließlich mit den Belangen der jüdischen Gemeinschaft beschäftigte und konkrete Lösungsvorschläge lieferte. Zionisten waren vor allem in Osteuropa eine politisch aktive Kraft. Die restlichen drei Bewegungen, die Abramson in seiner Zusammenstellung nennt, sind der Jüdische Sozialismus, der Autonomismus und ein erneuerter Traditionalismus. Sie bezogen sich hauptsächlich auf die Juden auf dem Gebiet des russischen Zarenreichs und waren nicht überall gleichermaßen verbreitet, spiegelten allerdings gleichzeitig sehr gut die innere Zerrissenheit und politische Vielschichtigkeit der jüdischen Gemeinschaft um die Jahrhundertwende wider. Als Jüdischen Sozialismus beschreibt Abramson eine politische Richtung, die versuchte, den Sozialismus mit der jüdischen Identität zu verbinden. Sie wurde frei nach Karl Marx durch die Trennung jüdischer Kultur von jüdischer Religion definiert, um eine Basis für eine jüdisch-­sozialistische Gesellschaft zu schaffen, die in der Lage wäre, mit den anderen Völkern des Russischen Reiches zusammen in einer 52 Abramson, Henry, Two Jews, Three Opinions. Politics in the Shtetl at the Turn of the Twentieth Century, in: Katz (2007), S. 85–101, hier S. 86–89. 53 Vgl. Zieliński, Konrad, The Shtetl in Poland, 1914–1918, in: Katz (2007), S. 102–120, auf S. 111 wird beschrieben, dass trotz des Kriegs besonders in den Jahren 1914 bis 1918 eine kulturelle und politische Neuorientierung und Aktivität zu beobachten war. 54 Abramson (2007), S. 91.

Die Diaspora und die Suche nach einer eigenen Identität      | 113

Einheit ohne Klassenunterschiede und nationale Konflikte zu leben.55 Die sogenannten Autonomisten waren eine kleine, nicht besonders erfolgreiche Partei um Simon Dubnow. Sie strebten eine jüdische Autonomie innerhalb des russischen Staates mit russischer Staatsangehörigkeit und einem eigenen jüdischen Parlament an, das sie auch der Obrigkeit gegenüber vertreten sollte. Als Vorbild für dieses eigenständige Verwaltungssystem diente Dubnow der Kahal, der bereits erwähnte frühere Rat der vier Länder, der in Polen seit dem 16. Jahrhundert bis etwa 1765 die Juden gegenüber der polnischen Herrschaft vertrat. Die politische Positionierung der Autonomisten erlaubte ihnen einen Zusammenschluss sowohl mit den Zionisten als auch mit den religiösen Gruppen.56 Dieser tatsächliche Rückgriff auf die Vormoderne ist jedoch eher als ein ideologischer Versuch zu werten, die Juden abermals durch die Isolation als Gruppe zu definieren. Es ist daher nur allzu verständlich, dass die Autonomisten keine politische Zukunft hatten und alsbald in sozialistischen Gruppen aufgingen. Als letzten politischen Einfluss nennt Abramson die Neuen Traditionalisten. Diese Bewegung hatte im Grunde keine politische Basis, sie sah mit zahlreichen Parteien eine Basis für eine Zusammenarbeit. Die Neuen Traditiona­ listen teilten die Einstellung der Orthodoxen, die jede moderne Aktivität, sei sie politisch oder kulturell, als genauso gefährlich für den jüdischen Zusammenhalt ansahen wie die Assimilation.57 Bei dieser Partei handelte es sich also eher um eine religiöse Kontroll­ instanz, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die religiöse Verbundenheit der jüdischen Politik zu beaufsichtigen.58 Auch wenn die meisten von den beschriebenen Richtungen in größeren politischen Bewegungen wie dem Zionismus und dem jüdischen Sozialismus aufgingen, sind sie dennoch beachtenswerte historische Fakten. Sie dokumentieren einen Prozess zur Bildung eines jüdischen Selbstverständnisses, der auch in Kunst und Kultur zahlreiche Spuren hinterließ.

Die Diaspora und die Suche nach einer eigenen Identität Der wichtigste Einfluss jener Zeit ist in der Tatsache zu sehen, dass sich in der innerjüdischen Gemeinschaft eine kulturelle Entwicklung vollzog. Eine tatkräftige, junge Generation identifizierte sich nun weniger mit chassidischen Führern oder orthodoxen Rabbinern, die ihnen den richtigen Lebensweg aufzeigen wollten. Sie übertrug ­a ktuelle kulturelle Modernisierungsprozesse auf ihre eigene Existenz und Selbstwahrnehmung. Ihre neuen Sprachmöglichkeiten erlaubten es ihr, sich in der russischen Presse über zeitgenössische Errungenschaften zu informieren. Es kam zur Entstehung eines jüdischen Nationalismus, der nicht mit dem Zionismus in Verbindung stand. Bei dem in Ost­europa entstandenen Nationalismus des jüdischen Volkes ging es um die Definition einer

55 56 57 58

Ebd., S. 95. Ebd., S. 96. Zieliński (2007), S. 112. Abramson (2007), S. 97.

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Gruppe, die sich nicht mehr „nur“ als eine Ethnie auf dem Gebiet eines fremden Nationalstaates verstand. Es entwickelte sich zum ersten Mal ein eigenes Nationenverständnis. Und der erste und wichtigste Anspruch einer Nation war Autonomie. Im Gegensatz zum Zionismus beanspruchten die osteuropäischen jüdischen Nationalisten lediglich eine autonome Selbstorganisation. Im Zuge der Pogrome entstanden im gesamten Ansiedlungsrayon zahlreiche Hilfsvereinigungen, die Verletzten halfen, Geld für diejenigen sammelten, die alles verloren hatten, und die Ereignisse zwecks Bekanntmachung in der internationalen Öffentlichkeit dokumentierten. Dort entstanden auch Diskussions­ zentren, wo versucht wurde, die Situation realistisch einzuschätzen. Innerhalb weniger Monate entwickelten sich diese Organisationen zu Auswanderungszentren. Die Suche nach einer neuen Heimat wurde heiß diskutiert und abgewogen. Zur Auswahl standen außer westeuropäischen Hauptstädten, die ohnehin oft als Zwischenstation angesteuert wurden, Palästina und die USA.59 Im Gegensatz zu den Zionisten, die aus ideologischen Gründen das Heilige Land anvisierten, sah der jüdische Nationalismus kein bestimmtes Land als Heimat vor, sondern eine gewisse Lebensweise. Eine auch in der russischen Gesellschaft glorifizierte Agrarwirtschaft, die den Bauern und seine Familie ernährt, gehörte zu den Idealvorstellungen. Dies bedeutete auch, dass man die jiddische Sprache nicht ablehnte und die osteuropäische jüdische Kultur bewahren wollte. Um die Jahrhundertwende erlebte die jiddische Literatur eine Blütezeit. Schriftsteller, Künstler und die Bildungselite der neuen Generation entwickelten das Konzept des Jiddischismus und damit eine Bewegung explizit zur Erhaltung der jiddischen Sprache, Tradition und Kultur. Sie zielte sehr bewusst auf die Bemühungen der Zionisten ab, das Jiddische aus der jüdischen Kultur zu verbannen und an seiner statt das Hebräische und eine neue jüdische Gesellschaft und Nation auf dem Boden eines eigenen Staates zu etablieren.

Die Rolle der jiddischen Sprache Ein wichtiger Aspekt auf dem Weg zu einer neuen jüdischen Identität in Osteuropa war die zunehmend wachsende kulturelle Rolle der jiddischen Sprache. Trotz der Angst um die steigende Assimilation aufgrund der Öffnung der russischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Juden Russlands nahm die Verwendung des Jiddischen als Kommunika­ tionssprache im 19. Jahrhundert zu. Jiddisch galt als die Sprache, in der die Juden am meisten unter sich kommunizierten. Durch den im Laufe des 18. Jahrhunderts aufkommenden Chassidismus erfuhr die Sprache erstmals eine religiöse Verwendung. Im 19. Jahrhundert wurde das Jiddische vermehrt für säkulare und bildungstechnische Inhalte verwendet. Diese Zeit galt außerdem als die Blütezeit der jiddischen Presse. Die jüdische Presse stellte seit dem 18. Jahrhundert ein Kommunikationsnetzwerk dar, das dazu diente, insbesondere die Ideen der Haskala europaweit zu verbreiten. Auch im Osten wurden hebräischsprachige Zeitungen aus Deutschland abonniert und 59 Ebd., S. 160.

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auch k ­ ritisch betrachtet. Nun waren die Maskilim, die die jiddische Sprache als eine degenerierte Sprache ablehnten, in Osteuropa gezwungen, das Jiddische zur Verbreitung ihrer aufklärerischen Ideen zu nutzen, da ihnen sonst keine Sprache zur Verfügung stand, um die Masse der Juden zu erreichen.60 Doch die jüdische Presse Russlands sollte nicht nur ein Instrumentarium der Haskala werden. Sie wurde zum Sprachrohr der Moderne. Die neue Presse adressierte eine neue Zielgruppe. Ihre Leserschaft war nicht mehr nur religiösen und traditionellen Fragen zugewandt, sondern interessierte sich für weltliche und politische Themen. Es erschienen populärwissenschaftliche und wirtschaftliche Artikel. Außerdem wurden von den Autoren verstärkt die aktuellen politischen Ereignisse diskutiert. Es entwickelte sich eine neue Art der sogenannten „jüdischen Themen“. Man befasste sich darin mit jüdischer Geschichte, Kultur und Literatur. Hierbei orientierte man sich an den Betätigungsfeldern der deutschen Wissenschaft des Judentums, von deren Tätigkeiten man auch in Russland Kenntnis hatte. Parallel zur jiddischen ent­w ickelte sich die jüdische Presse in russischer Sprache. Dies hing u. a. mit der verstärkten Akkulturation der russischen Juden zusammen, die sich zwar der russischen Gesellschaft zugewandt hatten, die jüdische Kultur aber weiterhin fördern wollten. Darin wurden z. B. Literaturbeiträge jüdischer Autoren veröffentlicht, die in russischer Sprache schrieben. Die Wahl der russischen Sprache als Kommunikationsmittel unter den Juden war außerdem ein Schritt zur Selbstpositionierung in der Entscheidung zwischen der polnischen und der russischen Gesellschaft. Trotz der – wenn auch nur marginalen61 – Unterstützung des polnischen Aufstandes durch die Juden im Jahre 1863 war die Identifikation der Juden mit der polnischen Nation nur sehr schwach. Dies war u. a. der Tatsache geschuldet, dass die Polen selbst die Juden seit den Teilungen Polens aus ihrem Nationenverständnis ausschlossen.62 Polen war zu schwach und im Vergleich zu den es umgebenden Staaten aufgrund der Umstände zu rückständig, um Menschen, die nach einer wirklichen Perspektive für ihre Existenz suchten, eine erwähnenswerte Alternative zu bieten. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft entwickelte sich ein Selbstverständnis, das sich nicht mehr nach den kulturellen Wesenszügen Polens des 18. Jahrhunderts und nach dem polnischen Adel zurücksehnte. Die jüdische Presse in Russland spiegelte seit den 1860er-Jahren die neuen sozialen Gegebenheiten und kulturellen Interessen wider und übernahm den Anspruch der ehemaligen jüdischen Autonomie zur Prägung der jüdischen Identität Osteuropas.63 Die Juden suchten nach einer gesellschaftlichen Verortung der jüdischen Gemeinschaft, die sich kulturell als „jüdisch“ verstand. Es entstand eine kulturelle Identität, die die religiösen, traditionellen, modernen und politischen Ebenen in sich vereinte.

60 Shneer, David, Yiddish and the creation of Soviet-Jewish culture 1918–1930, Cambridge 2004, S. 35. 61 Bartal (2010), S. 43. 62 Ebd., S. 41. 63 Ebd., S. 121.

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Gründung der Kultur-Lige64 1908 fand die erste jiddische Sprachkonferenz in Czernowitz statt, deren Ziel es war, die jiddische Sprache als die offizielle nationale Sprache der Juden in der Diaspora anzuerkennen.65 Über den Einfluss der Konferenz auf die vorherrschende Akzeptanz und Verbreitung des Jiddischen innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinschaften Osteuropas streitet die Wissenschaft.66 Einerseits wurde das große Ziel, das Jiddische als „die“ Sprache des jüdischen Volkes festzulegen, verfehlt. Auch die Bildung einer Insti­t u­ tion infolge der Konferenz zur Planung und Weiterentwicklung der Sprache sowie zur Publikation von Regelwerken und bildungsrelevanten Schriften ist nicht gelungen. Auf der anderen Seite erfuhr die Bewegung eine mediale Aufmerksamkeit in der europäischen jüdischen Presse und bereitete den Boden u. a. für spätere Institutionen, die sich der Bewahrung der jiddischen Sprache und Kultur widmeten. Der Jiddischismus war im Gegensatz zum Zionismus keine politische Bewegung per se.67 Die Aktivisten wie Yitskhok Leybush Peretz (1852–1915), Nathan Birnbaum (1864–1937) und viele andere waren Literaten und nicht daran interessiert, das Jiddische gegen das Hebräische auszuspielen. Es ist daher nachvollziehbar, dass die Ideen der Jiddischisten im politischen Trubel Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dem lauten Getöse der Zionisten 64 Das folgende Kapitel basiert in Grundzügen auf meinem 2008 anlässlich der Ausstellung „Jüdische Illustratoren aus Osteuropa in Berlin und Paris“ erschienenen Aufsatz und wurde im Zuge der vorliegenden Forschungsarbeit überarbeitet, aktualisiert und erweitert. Vgl. Goudz, Inna, Auf dem Weg zu einer neuen Kultur – Die Kultur-Lige, in: Von Hülsen-Esch, Aptroot (2008), S. 19–29. 65 Vgl. zur Ersten Jiddischen Sprachkonferenz Goldsmith, Emanuel S., Modern Yiddish Culture – The Story of the Yiddish Language Movement, New York 1987, hier insbesondere die genaue Beschreibung des Ablaufs der Konferenz und damit der Entwicklung der Ergebnisse S. 183–221; zu späteren Entwicklungen als Ergebnis der Konferenz vgl. u. a. Katz, Dovid, Yiddish and Power, New York 2015, hier S. 234–245; Peltz, Rakhmiel, The Success of the Czernowitz Yiddish Conference: Setting the Agenda for Yiddish Language Planning in the Twentieth Century, in: Weiser, Kalman; Fogel, Josha A. (Hg.), Czernowitz at 100. The First Yiddish Language Conference in Historical Perspective, Plymouth 2010, S. 139–150. 66 Zur Frage nach dem kurz- und langfristigen Erfolg der Konferenz siehe u. a. Fishman, Joshua, Was the Original Czernowitz Conference of 1908 a Success? What is there Left to Be Said about a 100 Year Old Event? Keynote Address on the 100th Anniversary of the Czernowitz Conference (for delivery at the opening session on August 18, 2008), in: Moskovich, Wolf (Hg.), Yiddish – A Jewish National Language at 100. Proceedings of Czernowitz Yiddish Language 2008 International Centenary Conference, Jews and Slavs, Bd. 22, Kiew 2010, S. 13–20, hier S. 16 f. Estraikh, Gennady, The Kultur-Lige in Warsaw: A Stopover in the Yiddishists’ Journey between Kiev and Paris, in: Dynner, Glenn; Guesnet, Francois (Hg.), Warsaw. The Jewish Metropolis, Essays in Honor of the 75th Birthday of Professor Antony Polonsky, Leiden/Boston 2015, S. 323–346, hier S. 325. 67 Estraikh weist darauf hin, dass der Jiddischismus durchaus die Bildung einer modernen jüdischen Nation zum Ziel hatte. Die Mittel dazu waren vor allen anderen die jiddische Kultur und Sprache, Estraikh (2015), S. 323. Die Kultur-Lige dagegen stand zwar nie explizit einer politischen Partei nahe, war jedoch durch ihre Mitglieder und verschiedene vertretene Lager je nach Ort stark politisiert: Die Kiewer Kultur-Lige wurde eher unfreiwillig von Bolschewiki übernommen und in Moskau direkt als solche gegründet (ebd., S. 328); in Warschau war die Kultur-Lige von Bundisten (Angehörigen des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes, einer sozialistischen Partei) beeinflusst, die zahlreiche Zweigstellen wie den Verlag leiteten (ebd., S. 338).

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untergingen. Es ist auch strittig, inwiefern diese Bemühungen von der breiten Masse, die ja selbst Jiddisch sprach, mitgetragen wurden. Immerhin war es die Zeit großer Auswanderungswellen und politischer Unruhen. Doch für den Begriff der Jüdischen Kunst war diese Entwicklung entscheidend. Sie zeigte einen neuen Definitionsansatz, der über die kunsthistorische und kulturzionistische Definition hinausging. Diesen Ansatz mit Inhalt zu füllen, wurde zur Aufgabe der Kultur-Lige. Die Kultur-Lige war eine Organisation, die sich für die Entwicklung einer jüdischen Kultur in der Diaspora einsetzte und zwischen 1918 und 1922 in Kiew, Warschau und Moskau aktiv war. In ihren Grundlagen fußte die Arbeit der Gründer darauf, dass eine nationale Kultur eine eigene Geschichte und Sprache habe. Tradition, Folklore und eine gemeinsame Sprache sollten nach ihrer Bestimmung durch einzelne zuständige Abteilungen der Kultur-Lige auf dem Weg der Bildung an Erwachsene und Kinder weitergegeben werden. Daher war das wesentliche Instrument der Kultur-Lige die Literatur und ihre Illustration und damit die bildende Kunst. Würde man den Einfluss der Kultur-Lige auf die Entwicklung der osteuropäisch-jüdischen Kultur mit dem der zionistischen Bewegung in ganz Europa vergleichen, erschiene die Kultur-Lige als eher unbedeutend. Doch gerade die Abteilung für bildende Kunst der Kiewer Kultur-Lige glänzte mit heute sehr prominenten Namen in ihren Rängen, wie u. a. El Lissitzky (1890–1941), Issachar Ber Ryback (1897–1935), Boris Aronson (1898–1980), Joseph Tchaikov (1888–1979) und Henryk Berlewi (1894–1967). Die Werke dieser Maler und Bildhauer sind heute in Museen der ganzen Welt zu sehen. Sie gelten als Vertreter des Konstruktivismus, der Op-Art, des Kubismus und des Futurismus. Im Rahmen ihrer Arbeit in der Kultur-Lige entwickelten sie eine Kunst, die national unabhängig, empathisch, modern und abstrakt war. Das Jüdische in ihrer Kunst definierten sie weniger politisch-national als kulturell-historisch und sprachen damit Juden in ganz Osteuropa an. Künstler wie die oben Erwähnten, ebenso wie Marc Chagall, fanden sich in den 1910er-Jahren in Paris, an der Wiege der Moderne, wieder. In der Pariser Künstlersiedlung La Ruche sprachen sie darüber, ob eine moderne Jüdische Kunst eine Geschichte habe, indem sie den Einfluss älterer jüdischer Künstler wie Mark Antokolsky (Abb. 23) auf die Kunstentwicklung diskutierten.68 Zurückgeworfen auf ihre gemeinsame jiddische Sprache stellte sich für viele dieser jungen Künstler die Frage, welche Rolle ihre Herkunft und jüdische Zugehörigkeit für ihre Kunst spielte. Es ergaben sich Diskus­ sions­r un­den, in denen die jungen Künstler die Bedeutung ihres einzigen nationalen Identitätsmerkmals, der jüdischen Wurzeln, für ihr künstlerisches Schaffen besprachen. Es entwickelte sich ein regelrechter Nationalismus unter den Künstlern, der immer verbissener vorangetrieben wurde. In seinem Artikel „The National Element of Jewish Art“ (Das nationale Element in der jüdischen Kunst) beschrieb Marek Szwarc (1892–1958) 1925 das forcierte Interesse an einer national geprägten Jüdischen Kunst als ein Gefühl von Minderwertigkeit, das man mit der Erkenntnis seiner Vergangenheit und Herkunft 68 Siehe dazu S. 137, Fußnote 131.

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23  Mark Antokolsky, Ecce homo: Christus vor den Menschen, nach 1892, Russisches Staats­ museum, Sankt Petersburg/Russland

zu überwinden versuchte.69 In seinen Augen war es die Auseinandersetzung mit der traditionellen jüdischen, nicht zuletzt orientalisierten Folklore und mit dem Verständnis der modernen Form, die den Künstlern eine Basis für die Erschaffung einer modernen Jüdischen Kunst ermöglichen sollte.70 Mit der Entdeckung jüdischer Goldschmiede­ arbeiten, Buchmalerei und anderer Erzeugnisse jüdischen Kunsthandwerks, die bis ins 13. Jahrhundert zurückreichten, erschufen die modernen jüdischen Künstler eine jüdische Kunstgeschichte (Abb. 24). In diesem Zusammenhang entstand 1912 in Paris die erste jüdische Kunstzeitschrift, die u. a. von Joseph Tchaikov und Marek Szwarc herausgegeben wurde. Das Blatt mit dem Titel Makhmadim (Die Wertvollen) zeichnete sich dadurch aus, dass es ausschließlich von den Künstlern selbst hergestellt und veröffent69 Szwarc, Marek, The National Element in Jewish Art, in: Literarishe Bleter (Warschau), 3. April 1925, I, 48, S. 1, veröffentlicht in: Wolitz, Seth L., The Jewish National Art Renaissance in Russia, in: Apter-Gabriel, Ruth, Tradition and revolution. The Jewish Renaissance in Russian avant-garde art 1912–1928, Jerusalem 1987, S. 21–42, hier S. 26 f. 70 Wolitz (1987), S. 27.

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24  Issachar Ber Ryback, Composition on a Jewish folklore theme, 1916 (?), Ryback Museum, Bat-Yam/Israel

licht wurde. Die Gruppe hatte keinerlei Manifest, und auch die Zeitschrift enthielt keine Texte, denn ihrer Ansicht nach war die Zeit gekommen, jüdische Kunst zu zeigen und nicht mehr darüber zu reden.71 Sie deklarierten sich selbst als die neue Generation jüdischer Künstler, die sich von den älteren Malern des 19. Jahrhunderts gänzlich trennte. Die Zeitschrift sollte einen neuen Umgang mit der folkloristischen jüdischen Motivpalette und modernen Kunstformen zeigen. Dieses Ziel erfüllten Tchaikov, Szwarc und andere jedoch nicht, da ihre Illustrationen und Bilder deutliche Parallelen zu Ephraim Moses Lilien und anderen Künstlern der älteren Generation zeigten. Sie behandelten biblische Motive und verarbeiteten oft Ornamente und florale Ausstattungen des Jugendstils. Von den geplanten sieben Ausgaben der Zeitschrift sind laut Leo Koenig, einem Kunst- und Kulturkritiker und Mitglied der Gruppe Makhmadim, etwa drei oder vier erschienen.72 Im Vergleich zur künstlerischen Entwicklung von Marc Chagall, Amedeo Modigliani und vielen anderen, die sich in ihrer unmittelbarer Nähe befanden und arbeiteten, waren die Makhmadim in ihren Errungenschaften deutlich rückständig. Erst in den kommenden Jahren, nach seiner Rückkehr nach Kiew, würde sich Tchaikov dem Kubismus und 71 Ebd., S. 27 f. 72 Ebd., S. 28.

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Futurismus zuwenden und ein entschiedener Konstruktivist werden. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs hinderte die Künstler daran, der Frage nach der Jüdischen Kunst weiter in Paris und Berlin nachzugehen.73 Nach dem Krieg und der Revolution von 1917 eröffneten sich zunächst für viele Künstler vermeintlich neue Möglichkeiten in dem neu zu schaffenden sowjetischen Staat. Die Gründung der Kiewer Kultur-Lige im Jahre 1918 ist das Beispiel einer Organisation, die sich dem Ziel verschrieben hatte, eine national-jüdische kulturelle Tradition und Identität zu bestimmen, und innerhalb ihrer Struktur eine moderne osteuropäisch-jüdische Kunst und Kultur propagierte, die durch einzelne Organe entwickelt und durch ihre Mitglieder und Schüler am Leben erhalten werden sollte.74 Im zaristischen Russland der Jahrhundertwende war die Stellung der Juden in der Vielvölkergesellschaft, wie weiter oben beschrieben wurde, schwierig. Ein Leben in einer russischen Großstadt war nur sehr selten möglich. Wenn man dabei auch noch Künstler werden wollte, brauchte man viel Geduld, die richtigen Unterstützer und nicht zuletzt Geld. Die von Seth L. Wolitz in seinen Schriften „erste Generation“ genannte Gruppe der jüdischen Künstler, die um 1860 Geborenen, musste eine Menge Barrieren überwinden, um überhaupt eine Ausbildung genießen zu können.75 Sie kamen meist aus den den Juden zugewiesenen kleinen Ortschaften im Ansiedlungsrayon, aus traditionellen jüdischen Familien und mussten sich, sofern sie in die großen Städte einreisen durften, zunächst an einiges gewöhnen. Zu diesen sozialen Hindernissen gehörten u. a. die russische Sprache, die viele jiddischsprachige Juden nicht genügend beherrschten oder nur mit Akzent sprachen, sodass sie schnell als Fremde in der Stadt erkannt wurden, sowie die Kultur und zahlreiche Vorurteile und staatliche Restriktionen. Im Laufe ihrer Karrieren verinnerlichten viele Künstler die typisch russischen, durchaus patriotischen Themen und Motive, die als solche in der Akademie gelehrt wurden, und bewegten sich im Bereich der russischen Kunst und Kultur. Diese Künstler, wie z. B. Mark Antokolsky (1843–1902), Isaak Levitan (1861–1900), Leonid Pasternak (1862–1945) oder Léon Bakst (1866–1924) gelten noch heute als explizit zu „russische“ Künstler.76 Ihre jüdi73 Das Schicksal der jüdischen Künstler der École de Paris war unterschiedlich: Chagall und Marek Szwarc besuchten unabhängig voneinander zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Kriegs ihre Heimatorte in Russland und Polen und konnten nicht mehr nach Frankreich zurückkehren. Chaim Soutine und Amedeo Modigliani u. a. blieben in Frankreich und engagierten sich bei Möglichkeit im Militär. Andere wie z. B. Jules Pascin emigrierten in die Schweiz oder in die USA, vgl. dazu Nieszawer, Nadine, Peintres juifs à Paris. 1905–1939 École de Paris, Paris 2000, Chagall: S. 86–91, Szwarc: S. 325–327, Soutine: S. 313–318, Pascin: S. 279–283, oder Apter-Gabriel (1987), S. 239–244. 74 Kazovskyj, Hilel, Chudožniki Kul’tur-Ligi. The artists of the Kultur-Lige, Jerusalem/Moskau 2003, S. 10. 75 Wolitz (1987), S. 22. 76 Wolitz weist darauf hin, dass gerade zwischen Antokolsky und den anderen genannten Künstlern ein wesentlicher Unterschied bestand. Antokolsky war ein herausragender Maler und Bildhauer, der von der Politik Alexanders II. profitierte. Nach einer Reihe von Werken zur jüdischen Geschichte widmete sich Antokolsky vor allem russischen Themen. Dennoch erfuhr Antokolsky antisemitische Anfeindungen und verließ letztendlich deswegen das Russische Reich Richtung Frankreich. Seine erwähnten Künstlerkollegen waren deutlich assimilierter als Antokolsky, der aus einem tra-

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sche Herkunft hatte scheinbar keinen Einfluss auf ihr Schaffen bzw. ihre Rezeption und stellte für sie keine künstlerische Inspiration dar. Die spätere Generation der in den 1880ern und 1890ern Geborenen, wie Marc ­Chagall, El Lissitzky und viele weitere, fand sich in einer anderen Situation wieder. Der Zutritt zur Russischen Kunstakademie in Sankt Petersburg wurde Juden immer noch verwehrt, doch das Streben, ausgerechnet diese Hochschule der bildenden Künste zu besuchen, nahm ab. Es reichte den angehenden Malern und Bildhauern, ihre technischen Fertigkeiten in den weniger angesehenen Schulen von Moskau, Odessa, Minsk, Wilna und Witebsk zu schulen, denn eigentlich zog es die jungen Menschen nach Europa und ganz besonders nach Paris. Sie empfanden die Petersburger Kunstakademie als zu konservativ, zu akademisch, beinahe provinziell. Sie fühlten sich von den Strömungen des Fin de Siècle in Westeuropa angezogen und versuchten stets, bei der erstbesten Gelegenheit nach Paris und Berlin zu gelangen.77 In den Arbeiten der jüdischen Künstler in der Zeit zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917 lässt sich eine Distanzierung vom sogenannten Stetl und dem traditionellen Leben der Juden Osteuropas beobachten.78 Obwohl es eine große Anstrengung und nicht zuletzt eine schwere Entscheidung war, die Heimat zu verlassen, blieb kaum ein jüdischer Künstler seitdem für immer im Westen. Die Russische Revolution von 1917 stellte für viele die Veränderung dar, die den jüdischen Künstlern in Russland neue Möglichkeiten zu ihrer eigenen Entfaltung zu bieten schien. Zahlreich kehrten sie in die Länder des ehemaligen Russischen Reiches zurück und waren bereit, im Zuge der sozialistischen Idee an der Entwicklung eines neuen kulturellen Lebens mitzuwirken.79 Kiew war bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein kulturelles Zentrum jüdischen Lebens. Anfang des 20. Jahrhunderts war Kiew eine der wenigen Großstädte des Zarenreiches, in denen sich Juden niederlassen durften. Dort stellten sie bis Ende des Krieges etwa 25 % der Bevölkerung dar. Anders als in Moskau und Sankt Petersburg, wo ausschließlich jüdische Geschäftsleute und Freiberufler eine Aufenthaltserlaubnis bekamen, hatten in der ukrainischen Metropole und ihrer Umgebung die Juden freie Berufswahl. Zahlreiche jiddische Autoren und ein Großteil der sogenannten jiddischen Intelligenzija lebten und

ditionell jüdischen Milieu stammte, und adressierten in ihren Werken keinerlei sogenannte jüdische Themen, Wolitz (1987), S. 22. 77 Ebd., S. 23. 78 Ebd. 79 Dazu zählten u. a. David Shterenberg, der die Jüdische Kunst hinter sich ließ und von ­A natolij ­Lunatscharskij zum Volkskommissar für Kunst und Wissenschaft in Moskau ernannt wurde, Kampf (1978), S. 68; Wolitz (1987), S. 39; Nathan Altman, der vor allem für das Staatliche Jüdische Theater GOSET in Moskau zahlreiche Bühnenbilder schuf, aber nie als sowjetischer Künstler Anerkennung fand, Kampf (1978), S. 68; Amishai-Maisels, Ziva, The Jewish Awakening: A Search for National Identity, in: Tumarkin Goodman, Susan, Russian Jewish Artists in a Century of Change, New York 1995, S. 54–70, S. 64; Joseph Tchaikov, der sich vom Jüdischen Künstler zum Künstler des Sozialistischen Realismus und im Zuge dessen zum Professor für Bildhauerei und sogar Dekan an der Moskauer Universität entwickelte, Wolitz (1987), S. 39.

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arbeiteten dort.80 In Kiew war jede Richtung innerhalb des Judentums vertreten. Eine gewisse Akzeptanz der Säkularität im alltäglichen Leben war dort jedoch besonders zu spüren. Die Leute empfanden die Freiheit, ihre Überzeugungen auszuleben.81 Damit war diese Stadt der geeignete Nährboden für die Entwicklung der Idee einer nationalen jüdischen Kunst. Nach der Februarrevolution von 1917 in Russland erlebte Kiew eine Welle des Natio­ na­lis­mus, der zunächst darin Ausdruck fand, dass Zeitungen und Zeitschriften in den ehemals verbotenen Sprachen wie Ukrainisch und Jiddisch veröffentlicht wurden. Bereits im März 1917 wurde ein nationales ukrainisches Parlament gebildet, das mit Moskau über die Unabhängigkeit der Ukraine verhandelte. In dieser sogenannten Ukrainischen „Zentralna Rada“ waren ab Juli 1917 auch jüdische Parteien aufgenommen. Jiddisch wurde als eine offizielle Sprache anerkannt, und Mitglieder jüdischer Parteien waren in kürzester Zeit auch in den neu gegründeten Ministerrängen vertreten. Die ukrainischen Juden erlangten auf diese Weise eine nationale Autonomie und genossen erstmals Bürger­rechte und kulturelle Unabhängigkeit.82 Nach der Oktoberrevolution 1917 veränderte sich die Lage in der Ukraine dramatisch. Nach ihrer Machtergreifung in Moskau besetzten die Bolschewiki die Ukraine. Die Besetzung hatte einen Bürgerkrieg zur Folge, der über zwei Jahre dauerte, drei unterschiedliche Regime mit sich brachte und furchtbare Pogrome im ganzen Land auslöste. Anfang 1920 fiel die Ukraine endgültig an die Bolschewiki, und 1922 wurde sie offiziell in die Sowjetunion integriert. Paradoxerweise blühte die jüdische Kultur- und Kunstentwicklung gerade in den Regierungszeiten der Bolschewiki, die auch während des Bürgerkrieges kurzzeitig an die Macht kamen, auf.83 In Kiew konzentrierten sich in dieser Zeit alle schöpferischen Kräfte der jiddischen Kultur. Zu diesen Kräften zählte u. a. die sogenannte Kiewer Gruppe. Diese bestand aus Autoren, Dichtern, Literaturkritikern, Verlegern und anderen Literaten. Intellektuelle wie die Mitglieder der Kiewer Gruppe und einige sozialistische und antizionistische Politiker jüdischer Parteien empfanden die Verpflichtung, eine jüdische Kulturförderung zu etablieren.84 Die Gründung einer Organisation, die sich dieser Aufgabe annahm, war charakteristisch für einen Demokratisierungsprozess der russischen bzw. sowjetischen Gesellschaft nach der Februarrevolution 1917. Zwar gehörten Kultur und Politik in der jüdischen Gesellschaft bereits seit der Entwicklung der jüdischen Aufklärung in Westeuropa im 18. Jahrhundert zusammen, jetzt bekam diese Verbindung jedoch eine legale

80 Kazovskyj (2003), S. 18; Fishman, David E., The Rise of Modern Yiddish Culture, Pittsburgh 2005, S. 83. 81 Meir, Natan M., Kiev – Jewish Metropolis. A History, 1859–1914, Bloomington 2010, S. 177–186; Wolitz (1987), S. 34. 82 Kazovskyj (2003), S. 20, außerdem ebd. Fußnote 5; Wolitz (1987), S. 34; Estraikh (2015), S. 326 f. 83 Kazovskyj (2003), S. 44, S. 46; Wolitz (1987), S. 34. 84 Wolitz (1987), S. 34; Lenhart (2009), S. 158 f.

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Basis für die Bildung von Organisationen wie der Kultur-Lige, die sich einer breiten Förderung der jüdischen Kultur widmeten.85 Die Kultur-Lige wurde im April 1918 in Kiew gegründet. Ihre Gründer erhofften sich eine Vereinigung der jüdischen Intelligenzija zur Errichtung einer neuen jüdischen Kultur. Die Grundpfeiler dieser neuen Kultur sollten vor allem das Jiddische und demokratische Werte sein.86 Damit stellte die Kultur-Lige, ihrem politischen Bildungsauftrag folgend, ein Gegengewicht zu sowohl religiös geprägten, traditionellen als auch zu der zionistischen Kultur, die das Hebräische dem Jiddischen gegenüber bevorzugte, dar. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Osteuropa erstmals eine zunächst literarisch-linguistische Bewegung, die für die Anerkennung des kulturellen Erbes der jiddischen Sprache einstand. Eine Bedrohung dieser Sparche war bereits seit dem 18. Jahrhundert gegeben. Mit dem Aufkommen der Haskala – der jüdischen Aufklärung – wurde von den jüdischen Aufklärern die Meinung vertreten, das Jiddische sei die Sprache der Diaspora und damit nicht erhaltenswert. Die wirkliche Sprache der Juden sei das Hebräische, weswegen auch sehr viel Kraft aufgewendet wurde, gerade diese ­Sprache zu modernisieren und zu etablieren. Ihrer Meinung nach war Jiddisch keine eigene Sprache, sondern nur ein Dialekt, ein „kaputtes Deutsch“, und verhinderte durch seine Minderwertigkeit die kulturelle Integration des jüdischen Volkes und begünstigte seine nationale Isolation.87 Der Jiddischismus entwickelte sich somit im 19. Jahrhundert als eine Reaktion auf die Haskala-Bewegung. 1908 wurde auf der ersten „Konferenz für die jiddische Sprache“ in Czernowitz die jiddische Sprache dem Hebräischen gegenüber für gleichwertig erklärt, was den Anfang der Bemühungen um die jiddische Kultur be­­ zeichnete.88 Die Kultur-Lige entstand in genau diesem politisch-kulturellen Zusammenhang. Es ging dabei um die Erschaffung einer Massenkultur, mit der sich das gesamte jüdische Volk und nicht nur die Religiösen oder die Zionisten identifizieren konnten und die ihre Basis in der Diaspora hatte.89 In diesem Zusammenhang verfolgte die Kultur-Lige drei Hauptziele: die Errichtung eines jüdischen Bildungswesens, das u. a. durch Herausgabe von Kinder- und Schulbüchern gewährleistet werden sollte, die Förderung der Literatur in jiddischer Sprache sowie die Begriffsbestimmung und Entwicklung einer Jüdischen Kunst.90 Eine praktische Umsetzung dieser Ziele sollte durch eine Organisationsstruktur gewährleistet werden, die aus mehreren Sektionen bestand. Im Herbst 1918 nahmen bereits Sektionen für Bildungswesen, Verlagswesen, Bibliothekwesen, Musik, Theater, Literatur sowie bildende Kunst ihre Arbeit auf. Anfang 1919 wurden die Abteilung für 85 Lehnhart (2009), S. 159. 86 Kazovskyj (2003), S. 34. 87 Aptroot, Marion; Gruschka, Roland, Jiddisch – Geschichte und Kultur einer Weltsprache, München 2010, S. 125. 88 Kazovskyj (2003), S. 30, 32; Aptroot, Gruschka (2010), S. 127. 89 Kazovskyj (2003), S. 34, 36 f. 90 Ebd., S. 58; Wolitz (1987), S. 34.

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Statistik jüdischer Demografie sowie ein Archiv errichtet. In Kiew wurden außerdem eine Universität, ein jüdisches Gymnasium, ein Seminar für Lehrerausbildung sowie Förderkurse für angehende jüdische Lehrer und der Verlag „Kultur-Lige“ eröffnet, der vor allem Bücher auf dem Land vertrieb.91 In den Jahren des Bürgerkrieges 1919/20 wurde die Arbeit der Kultur-Lige gerade auf dem Land besonders erschwert. Ohne sich davon jedoch abschrecken zu lassen, setzte die Organisation ihre Arbeit unter schwersten Bedingungen fort. In ländlichen Gebieten wurden über hundert Stellen der Kultur-Lige errichtet, die zahlreiche jüdische Bibliotheken, Grundschulen und Kindergärten eröffneten, in denen Jiddisch ge­­sprochen und gelehrt wurde. Diese Einrichtungen betrieben außerdem Sozialarbeit für die jüdische Bevölkerung. Sie halfen Pogromopfern und organisierten Unterkünfte für verwaiste Kinder.92 Die Kultur-Lige war zwischen 1918 und 1920 die einzige Organisation, die sich um die kulturellen Belange der Juden in jiddischer Sprache kümmerte. Nach dem Zusammenbruch der Ukrainischen Zentralna Rada im Jahre 1917 wurde sie zur letzten Vereinigung für die Anliegen der Juden im Land und erlangte damit einen Behördenstatus, ohne politische Ambitionen zu haben oder gar eine Partei zu sein.93 Man kann jedoch sagen, dass die Kultur-Lige allein durch ihre Unterstützer und Mitbegründer aus der Politik und die starke Orientierung auf eine explizit jiddische Kultur in Abgrenzung zum Zionismus eine politische Positionierung einnahm, die als sozialistisch bezeichnet werden kann. Nach der Etablierung der Sowjetmacht in der Ukraine änderte sich der Status der Lige. 1920 wurde die Kultur-Lige in die Organisationsstrukturen der neuen kommunistischen Regierung eingegliedert.94 Das Zentralkomitee, das zuvor an der Spitze der Organisation gestanden hatte, wurde aufgelöst, und an seiner Stelle wurde ein Organisationskomitee eingesetzt, das aus kommunistischen Funktionären und einigen Vertretern jüdischer Parteien bestand. Mitte 1920 wurde auch in Moskau ein Zentral­ büro der Kultur-Lige eröffnet, das die Arbeit in Russland und Weißrussland koordinierte. Auch diese Dependance der ursprünglich Kiewer Kultur-Lige war in der neuen Weise kommunistisch organisiert. Die neue Regierung war gegen eine unabhängige Tätigkeit der Organisation und suchte diese im Rahmen einer sowjetischen Kulturpolitik im jüdischen Umfeld zu instrumentalisieren.95 91 92 93 94 95

Kazovskyj (2003), S. 22. Wolitz (1987), S. 35, Fußnote 60. Kazovskyj (2003), S. 24. Wolitz (1987), S. 35. Kazovskyj (2003), S. 25. Die sowjetische Regierung machte klar, dass ihre Unterstützung ausschließlich den jiddischen Kulturinstitutionen galt und nicht der Struktur einer nationalen Autonomie, Estraikh (2015), S. 327. Ganz im Gegenteil verfolgten die Anführer der frisch gegründeten Sowjetunion das Ziel, die verschiedenen Völker zu sowjetischen Bürgern umzuerziehen und damit jedwedes nationale Selbstverständnis – auch in Form von Sprache – zu unterdrücken. So sagte Vladimir Lenin, kurze Zeit nachdem er sich für die jiddische Sprache als „die wahre Sprache der jüdischen Arbeiter“ ausgesprochen hatte, dass die internationale sozialistische, durch das Proletariat geschaffene Kultur keine nationalen Besonderheiten kenne, da sie vorrangig demokratisch und sozialistisch sei, Estraikh (2015), S. 328; Pyshnovskaya, Z. S. (Hg.), Vzaimosvyazi russkogo i

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In den Jahren 1918/19 wurden auch in Polen, u. a. in Warschau und Białystok, Zweigstellen der Kultur-Lige eröffnet. Die Sektion für bildende Kunst organisierte 1919 eine Ausstellung ihrer Mitglieder. Es wurden u. a. Werke von Jankel Adler (1895–1949), Henryk Berlewi und Marek Szwarc ausgestellt. 1921 kamen die Mitglieder des zu der Zeit bereits aufgelösten Zentralkomitees der Kiewer Kultur-Lige nach Polen. Sie verließen Kiew, weil sie sich weigerten, die Linie der Kommunistischen Partei und damit auch ihre Kulturpolitik zu unterstützen. In Polen setzten sie ihre Erfahrungen ein, um die im Osten Polens erfolgreich arbeitenden Stellen der Kultur-Lige auf das ganze Land auszuweiten. Noch im selben Jahr wurde nach Kiew und Moskau in Warschau eine weitere Zentrale der Kultur-Lige errichtet. Auch in Polen gelang es, auf dem Land neue Stellen zu eröffnen, in Warschau ein Verlagshaus zu errichten, das Mitte der 1920er-Jahre zum Zentrum der weltweit vertriebenen jiddischen Literatur wurde. Außerdem gründete man jüdische Musikgruppen sowie Theaterensembles.96 Die Sektion für bildende Kunst der Kultur-Lige in Kiew wurde im Januar 1919 gegründet. Der Gründung ging eine Initiative des Zentralkomitees voraus, die einige Künstler, Mitglieder der Lige wie Issachar Ber Ryback, Boris Arnoson, Mark Epstein (1897–1949) und andere zu einem Arbeitsaufenthalt über den Sommer 1918 in einer Datscha in der Krim brachte. Diese Gruppe wurde zum Hauptkern der Sektion. ­Später stießen noch weitere Maler und Bildhauer wie El Lissitzky und Joseph Tchaikov hinzu, die aus Moskau und Sankt Petersburg anreisten, um sich an den Entwicklungen der neuen Organisation zu beteiligen. Der Vorsitzende der Abteilung wurde Jeheskiel (­Yekhezkl) Dobruschin (1881–1953), und zu seinen Vertretern wurden Tchaikov und Aronson gewählt.97 Kunst und ihre Förderung gehörten zu den Grundpfeilern der Kultur-Lige, darum verwundert es nicht, dass eine Sektion ausschließlich für Angelegenheiten der bildenden Künste geschaffen wurde. Die Abteilung überstand die wechselnden Regime und war – den Ereignissen zum Trotz – in den Jahren des Bürgerkrieges in der Ukraine bis zur endgültigen Errichtung der Sowjetmacht 1921 am produktivsten. 1918 erschien in Kiew das Manifest der Kultur-Lige Di grunt-oyfgabn fun der Kultur-­ Lige (Die Grundaufgaben der Kultur-Lige), in dem die Hauptziele der Organisation und ihrer Abteilungen dargestellt wurden. Die Begründer der Sektion für bildende Kunst beschrieben sich selbst als eine Vereinigung von Künstlern, die sich der Jüdischen Kunst verschrieben hatten, und hielten fest, dass ihre eigenen schöpferischen Fähigkeiten eng mit der Kreativität des jüdischen Volkes verbunden seien.98 Die Voraussetzung für eine fruchtbare Entwicklung dieser besonderen nationalen Kreativität seien vor allen Dingen sovetskogo iskusstva i nemetskoy khudozhestvennoy kul’tury [Wechselbeziehungen zwischen der russischen und sowjetischen Kunst und der deutschen künstlerischen Kultur], Moskau 1980, erste Innenseite. 96 Kazovskyj (2003), S. 26 f, 28. 97 Ebd., S. 42; Wolitz (1987), S. 35. 98 Kazovskyj (2003), S. 56.

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25  Anonym, Lubok zum Lied „Ihr werdet nicht für immer jung sein …“, 1894, Nachlass Nina Kandinsky, Centre Pompidou, Paris/Frankreich

akzeptable Lebensbedingungen, die zu dem Zeitpunkt eindeutig nicht gegeben waren. Ein Ziel, das sich die Kultur-Lige also stellte, sah vor, genau diese Atmosphäre der Ruhe und Freiheit zu schaffen, die die jüdische Kunst zum Gedeihen brauchte. Den Weg dorthin sah man besonders in den übergreifenden kulturellen Tätigkeiten der jüdischen Künstler, die sich auf allen Ebenen einsetzten.99 In den Augen der Künstler der Sektion konnte eine neue Jüdische Kunst zunächst nur aus einer Synthese von Formen jüdischer Volkskunst und modernen Kunstformen entstehen. Damit folgten jüdische Künstler dem allgemein vorherrschenden Interesse der ukrainischen und russischen Künstlerkollegen an der Folklore ihrer Heimatregionen. Künstler wie Natalja Gontscharowa (1881–1962), Alexandra Exter (1882–1949) und Michail Larionow (1881–1964) entwickelten im Zuge der russischen Avantgarde den Neoprimitivismus und setzten sich intensiv mit der traditionellen Palette des russischen 99 Ebd., S. 58.

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26  Natan Altman, Logo der Jüdischen Gesellschaft zur Förderung der Künste, 1916, VAGA, New York/USA

27  El Lissitzky, Illustration aus Chad Gadya, 1919, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin

Lubok auseinander (Abb. 25).100 Dabei waren die Künstler darum bemüht, die Bildtradition Russlands mit den Kunstmitteln der europäischen Avantgarde zu verbinden.101 Im Hinblick auf die Definition eines besonderen jüdischen Stils waren sich die Künstler einig, dass dieser zunächst durch die Erforschung der nationalen Folklore zu bestimmen sei.102 Viele von ihnen unternahmen Reisen zu den Orten in Osteuropa, die in ihren Stetln viele Schätze mittelalterlicher und neuzeitlicher Kunst als Zeugnis einer jüdischen Kultur beherbergten. Sie untersuchten und zeichneten traditionelle Kultgeräte, 100 Estraikh, Gennady, The Yiddish Kultur-Lige, in: Makaryk, Irena R.; Tkacz, Virlana, Modernism in Kyiv – Kiev / Київ / Киев / Kijów / ‫קיעוו‬. Jubilant Experimentation, Toronto 2010, S. 197–217, hier S. 201. Mirjam Rajner beschreibt, dass Chagall zunächst über russische Symbolisten und die zeitgenössischen russischen Künstler wie Nikolai Roerich (ab 1906 Direktor und Reformator der Sankt Petersburger Kunstakademie) mit der Rolle der Volkskunst für die moderne Kunst und dem Primitivismus in Berührung kam. Grundlage für diese Entwicklung waren auch für russische Künstler die Werke Cézannes und Gauguins. Ab 1908 waren die Einflüsse des Neoprimitivismus in Form einer grellen neuen Farbpalette zu beobachten. Nach Chagalls Rückkehr nach Witebsk entstanden Werke, die eine Mischung aus modernen Formen und jüdischer Folklore darstellten, Rajner, Mirjam, Les sources du néoprimitivisme de Chagall, in: Chagall, Centre Pompidou (2011), S. 23–29. 101 Vincent (2011), S. 59. 102 „[…] When a jewish artist sets out to reflect his national material, he must absorb the cultural value of his people amassed over the generations“, formulierten es Issachar Ber Ryback und Boris Aronson in ihrem Artikel „Di vegn fun der yidisher moleray (Die Wege der jüdischen Malerei)“ 1919, erschienen in: Oyfgang, Kiev 1919, S. 99–124, zit. nach: Apter-Gabriel (1987), S. 229. Außerdem Kazovskyj (2003), S. 70.

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Grabsteine und alte Synagogen samt ihrem Dekor, ihren Inschriften und Ornamenten. Später verarbeiteten sie die Ornamentausstattungen alter jüdischer Gräber in ihren Bildern und Illustrationen (Abb. 26 und 27).103 Boris Aronson beschrieb das Interesse jüdischer Künstler an der Folklore als die Suche nach der Bestimmung eines jüdischen Stils, einer eigenen Form, die über die Programmatik der mit jüdischen Symbolen besetzten Ikonografie hinausgeht. Das ursprünglich ethnografische Interesse entwickelte sich also zur Erforschung eines ästhetischen Bedürfnisses. In diesem Zusammenhang veröffentlichte Aronson gemeinsam mit Issachar Ber Ryback in der Zeitschrift der Kultur-Lige Oyfgang (Aufgang) 1919 ein Traktat mit dem Titel „Di vegn fun der yidisher moleray“ (Die Wege der jiddischen Malerei)104. Darin betonten sie die Wichtigkeit jüdischer Volkskunst. Sie hoben sie besonders im Gegensatz zu jüdischen Genrebildern, die eher das jüdische Alltagsleben zum Thema hatten, hervor. Damit unterstützten die Autoren die Linie, der sich die Kultur-Lige seit ihrer Gründung verschrieben hatte, nämlich die Aufwertung osteuropäischer jiddischer Kultur der Diaspora als eigenständiges, erhaltenswertes Erbe. In ihren Augen äußerte sich gerade das ethnisch-nationale Wesen eines Künstlers durch die Verwendung der abstrakten Form: „Long live abstract form, the incarnation of specific matter, for – it is national!“105 Diese stellten sich Aronson und Ryback als die reine Form vor, die frei sei von realistischer Darstellung und ikonografischen Hinweisen. Die Herausarbeitung dieser Form stand für die Autoren in der Entwicklung der jüdischen Avantgarde an oberster Stelle. Die auf dieser Basis fußende neue Jüdische Kunst müsse dann zwangsläufig das eigene, in jedem jüdischen Künstler vorhandene nationale Vokabular wecken, das ihn als solchen auszeichnen würde. Denn das Wesen des Künstlers würde immer auf seine Erfahrungen im Leben zurückgreifen, die er durch seine Umwelt verinnerlicht habe. Die Außenwelt forme also die nationale Kultur eines Künstlers, die sich in seinen abstrakten Werken auch ohne seine Absicht äußere. Diese kulturelle, nationale Prägung dränge auf die Leinwand oder in die Skulptur durch die abstrakte, reine Form. Um dieses assoziative Vokabular jedoch in sich zu wecken, müsse sich der jüdische Künstler auf seine Wurzeln besinnen und die künstlerischen Entwicklungen innerhalb der jüdischen Tradition der vergangenen Jahrhunderte studieren.106 Im Laufe der von den Künstlern und ihren Schülern innerhalb der Kultur-Lige durchgeführten Studien an der modernen Kunstentwicklung änderte sich die allgemein verbreitete Ansicht über die Verschmelzung von jüdischer Folklore und avantgardistischer Kunst zu einer neuen Form eines jüdischen Stils. Nicht alle stimmten Ryback und Aronson zu. Joseph Tchaikov schrieb in seiner Abhandlung Skulptur von 1921 anders als neun Jahre zuvor in der Zeit der Makhmadim, dass die Jüdische Kunst 103 Kazovskyj (2003), S. 72. 104 Aronson, Boris; Ryback, Issachar Ber, „Di vegn fun der yidisher moleray (Rayoynes fun kinstler)“, in: Oyfgang. Ershter zamlbukh, Kiew 1919, Kazovskyj (2003), S. 88 und Fußnote 100. 105 Ebd., zit. nach Kazovskyj (2003), S. 88. 106 Kazovskyj (2003), S. 90.

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keine Geschichte habe, aus der man die nötigen Inspirationen für eine neue Kunst hätte schöpfen ­können. ­Tchaikov erklärte die neu erwachte jüdische Kultur zum Ergebnis der Errungen­schaften des noch jungen 20. Jahrhunderts. Dazu zählte er die Nutzung von Elektrizität, ­in­dustrielle Technologie und die Verwendung von Eisen und Zement in der Architektur. Diese Neuerungen sprengten die Dogmen alter Zeiten und eröffneten neue Möglichkeiten auch für die Entfaltung von Kultur und Kunst. Es gab seiner Ansicht nach einen deut­lichen Bruch mit der Vergangenheit, der keinen Blick zurück mehr erlaubte. Damit sei alle von jüdischen Künstlern Ende des 19. Jahrhunderts geschaffene Kunst keine Jüdische Kunst in diesem neuen Verständnis, denn sie orientiere sich an vergangenen Vorbildern und Maßstäben. Eine nationale Kunst äußere sich nicht in ethnografisch lesbarer Ikonografie, die ein Werk als eindeutig von einem jüdischen Künstler auszeichnet, sondern durch die Auswahl des Werkstoffs, der die Form der Skulptur bestimmt, die ihrerseits den Künstler definiert. Damit sei die reine plastische Form das, was das Natio­ nale eines Künstlers ausmache, und nicht die Verbindung von folkloristischer Kunst und modernen künstlerischen Tendenzen.107 Da Sprache und Bild in der jüdischen Kultur schon immer eng verbunden waren, ist es nicht verwunderlich, dass diese Tendenzen auch ihren Eingang in die Buchillustration fanden. Dies sollte dazu dienen, die künstlerischen Errungenschaften der jüdischen Kultur der breiten Masse zugänglich zu machen. Dem Bildungsauftrag der Kultur-Lige folgend, arbeiteten zahlreiche Künstler der Sektion für bildende Kunst an Illustrationen für Kinderbücher (Abb. 28). Dafür verwendete man besonders gerne folkloristische Motive. Jeheskiel Dobruschin, der Vorsitzende der Kunstabteilung der Lige, schrieb in seinem Artikel „Yidisher kunst-primitiv un dos kunst-bukh far kinder“ (Jüdischer Kunstprimitivismus und das illustrierte Buch für Kinder) von 1919, dass sich gerade diese Form der Darstellung für ein jüdisches Kind besonders eigne.108 Ein Kind sei ein Kollektivwesen, das noch keine individuelle Differenzierung bzw. Assoziationsgabe entwickelt habe, deswegen sei es in seinem Inneren besonders empfänglich für die Wahrnehmung nationaler Folkloreelemente. Damit würden Kindern die von Ryback und Aronson propagierten Kenntnisse der Geschichte und der Tradition der Gemeinschaft vermittelt, zu der sie gehörten, und nicht zuletzt eine Vorstellung von künstlerischer Darstellung, die die Kinder auch als Erwachsene mit ihrer Kindheit und ihrer Umgebung verbinden würden. Die von Grabsteinen und Kultgeräten entlehnten Ornamente und Symbole würde man immer wieder auch in anderen Zusammenhängen als solche erkennen und damit eine Verbindung zur jüdischen Kultur herstellen.109 Ende 1920, mit der Übernahme der Kultur-Lige durch die Jevsektia (die jüdische Sektion der kommunistischen Partei), zersplitterte die ursprüngliche Führungsriege der 107 Tchaikov, Joseph, Sculpture, Kiew 1921, Auszug, erschienen bei Apter-Gabriel (1987), S. 231. 108 Dobruschin, Jeheskiel, Yidisher kunst-primitiv un dos kunst-bukh far kinder (Jüdischer Kunstprimitivismus und das illustrierte Buch für Kinder), Nr. 4–5, August 1919, S. 16–23 (Jiddisch), Kazovskyj (2003), S. 76. 109 Kazovskyj (2003), S. 76, 78.

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28  Joseph Tchaikov, Illustration zu Der galaganer hon von Perets Markisch, 1922, Bayerische Staatsbibliothek, München

Organisation. Einige gingen nach Warschau, Jeheskiel Dobruschin und weitere Literaten blieben zunächst in Kiew und arbeiteten mit der neuen Regierung zusammen. Andere Kunstschaffende wie Issachar Ber Ryback110 gingen nach Berlin und veröffentlichten ihre Arbeiten dort. Doch bereits im Jahre 1921 war niemand mehr von ihnen in Kiew vor Ort, und die Bemühungen um die Etablierung einer neuen jüdischen Kultur in der Ukraine fanden ihr Ende. Die russische, durch die Bolschewiki geprägte Kultur-Lige in Moskau veranstaltete 1922 die letzte Ausstellung jüdischer Künstler. Darin wurden Werke Marc Chagalls, Nathan Altmans und David Shterenbergs ausgestellt. Alle drei waren als Juden geboren, zeitweise in der Kultur-Lige tätig und konnten als aktive Mitglieder aktueller Regierungsgremien als konform mit der politischen Linie der Moskauer Kultur-Lige betrachtet werden. Dennoch war dies die letzte explizit Jüdischer Kunst gewidmete Ausstellung während der gesamten Existenz der Sowjetunion.111 Keines der Zentren der Kultur-Lige bestand über die 1920er-Jahre hinaus. Dies hing zweifelsohne mit dem Sowjetregime und dem verschärften Umgang mit den Juden in 110 1924 unternahm Ryback in Zusammenarbeit mit der Berliner Verlags- und Buchvertriebsgesellschaft „Gescher“ den Versuch, eine Ausstellung und eine Zeitschrift zum Thema „Jüdische Kunst“‘ zu organiseiren. Dazu veröffentlichte der Maler einen „Aufruf an alle jüdischen Künstler“ in der Zeitschrift Menorah, um das Netzwerk der Künstler zu erweitern und zu stärken, Ryback, Issachar Ber, Aufruf an alle jüdischen Künstler, in: Menorah, Heft 3, März 1924 (Online-Ausgabe im Rahmen des Digitalisierungsprojektes Compact Memory der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/ pageview/2913936, Stand 17. 0 4. 2017). 111 Kazovskyj (2003), S. 52, 54; Wolitz (1987), S. 39.

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ganz Europa zusammen. Während in Westeuropa die Lebensbedingungen für die jüdische Bevölkerung mit jedem Tag schwieriger wurden, erlebten die Juden in der Sowjet­ union zunächst eine weitgehende Akkulturation. Das Interesse an jüdischer Kunst schwand jedoch auch aus einem anderen Grund. Spätestens seit 1919 brach sich die Idee einer die Form auflösenden Abstraktion immer mehr Bahn. Futurismus, Kubismus und Expressionismus waren Vorstufen auf dem Weg zur absoluten Abstraktion des Supre­matismus. An dieser Stelle wirkten alle Kunstrichtungen, die an einer figurativen Darstellung festhielten – sei sie auch noch so abstrakt –, veraltet, akademisch und provinziell.112 Die Kunstvorstellungen der Künstler osteuropäisch-jüdischer Abstammung waren erwartungsgemäß nicht homogen. Und nach einer intensiven Zeit der „Jüdischen Renaissance“ in Osteuropa verstreuten sich die Künstler um 1920 und schlossen sich je nach Vorstellung verschiedenen Bewegungen an. Moderne jüdische Künstler wie El Lissitzky, Joseph Tchaikov und Nathan Altman, die spätestens nach 1922 Zugang zu der sowjetischen Kultur bekamen, sahen keinen Bedarf mehr nach einer explizit Jüdischen Kunst. Die sowjetischen Künstler beschäftigten sich in dieser Zeit verstärkt mit der ­abstrakten Form, die stets eine Basisforderung junger jüdischer Künstler in Bezug auf ihre nationale Kunst war. Als sie die Chance bekamen, an ihren künstlerischen Schwerpunkten in einer Umgebung zu arbeiten, in der die Frage nach ihrer Herkunft keine Rolle mehr spielte, verwarfen auch sie diese Frage und wandten sich ausschließlich der Entwicklung anderer, neuer künstlerischen Formen zu.113 Sie stellten sich einer neuen Aufgabe, nämlich der Formation einer Kultur mit dem Anspruch einer noch nie da gewesenen, übernationalen sowjetischen Kunst. Sowohl die Erforschung einer Jüdischen Kunst als auch die Hinwendung zur abstrakten und dann zu einer sowjetischen Kunst müssen als verschiedene Entwicklungsphasen professioneller Künstler gesehen werden, die stets nach neuen Inspirationen und Denkanstößen suchten.114 Die Kultur-Lige war eine Organisation, die sich für den Erhalt einer jüdischen Kultur einsetzte. Da diese nach ihrer Definition eng mit der jiddischen Sprache verbunden war, stellte sie sich gegen das vorherrschende zionistische und auch traditionell religiöse 112 So schrieben Issakhar Ber Ryback und Boris Aronson in ihrem Artikel „Di vegn fun der yidisher moleray (Die Wege der jüdischen Malerei)“ 1919, S. 124, dass ein moderner jüdischer Künstler mittels reiner Abstraktion in der Malerei keine lebendigen Emotionen übermitteln könne, zit. bei Wolitz (1987), S. 35. 113 An El Lissitzkys Aussagen in seinen Erinnerungen an die Mohilver Synagoge, die er auf der An-sky-Expedition kennengelernt hatte, erkennt man, dass er im Zuge der politischen Entwicklungen und der damit einhergehenden neuen Freiheit für die Juden in der Sowjetunion keine Notwendigkeit für eine geschichtsbewusste, traditionelle und folkloristische Auseinandersetzung mit einer nationalen Jüdischen Kunst mehr sah. „At present, […] when printed literature, newspapers, journals, one’s own theatre, painting, music, etc., serve as symbols of cultured folk, we too, have it all; we too, are a cultured people. Only a brilliant genealogical chart is lacking. If, however, this compels one to begin to creep back towards antiquity and if it is only with this intention one shows an interest in ‚folk‘ creativity then this type of culture is surely not necessary“, El Lissitzky, ­Memoirs concerning the Mohilev Synagogue, in: Rimon/Milgroim, Nr. 3, 1923, S. 9–13 (Original in Jiddisch), englische Übersetzung zit. nach Apter-Gabriel (1987), S. 234; Kampf (1978), S. 74 f. 114 Wolitz (1987), S. 40.

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Selbstverständnis der Juden in Osteuropa. Ihre Mitglieder erklärten die jiddische Kultur erstmals für erhaltenswert, gerade weil sie auf einer in der Diaspora entstandenen Tradition basierte und nicht mehr an die Werte der biblischen Zeit anknüpfen konnte. Dank der Kultur-Lige bekamen junge jüdische Künstler die Möglichkeit, ihr Bedürfnis nach einer nationalen Identität in Form von Kunst auszuleben und sich zumindest für eine Zeit als wichtige Mitglieder der kulturellen Gesellschaft zu fühlen. Trotz ihres Engagements war die Kultur-Lige nicht in der Lage, die kommenden Ereignisse zu überstehen. Ihre Ziele fanden weitestgehend keine Erfüllung, doch nicht zuletzt der Bekanntheitsgrad ihrer Mitglieder zeugt von der Wichtigkeit der Kultur-Lige sowohl für die Ent­ stehung einer modernen jüdischen Kultur sowie für die Entwicklung der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts. Der Ansatz der Kultur-Lige lag durch den angenommenen Zusammenhang zwischen der Umwelt und der eigenen kulturellen Entwicklung als Gruppe nah an der Riegl’schen Idee des „Kunstwollens“ und war damit näher an den zionistischen Ideen Martin Bubers, als es der Lige vermutlich lieb war. Durch das starke Engagement aktiver Künstler in der Kultur-Lige war die Abteilung für bildende Kunst allerdings deutlich weiter und differenzierter in ihren Definitionsversuchen der Jüdischen Kunst als Buber. Die Künstler versuchten, die abstrakten kulturpolitischen Ideen in die Welt der Kunst einzupflanzen. Die Künstler lieferten eine klare Definition der Jüdischen Kunst gemäß zweier Kriterien: Jüdische Kunst müsse abstrakt und von Juden hergestellt sein. Ähnlich wie Buber sahen auch sie in der dunklen Farbpalette eine besonders jüdische Darstellungsform.115 Darüber hinaus zählten sie ornamentales Design, eine sogar in der Skulptur verbreitete Flächigkeit, Symmetrie, die Tendenz zur Abstraktion und eine starke Verbindung zu hebräischer Typografie zu jüdischen Elementen.116 Buber konnte allerdings solch eine Definition für die zeitgenössische Kunst nicht liefern, denn sein wichtigstes Kriterium besagte, dass eine neue Jüdische Kunst nur auf einem eigenen nationalen Boden ent­ stehen konnte. Wie fragil die Ideen der Künstler waren, erkennt man daran, wie schnell sie wieder verworfen wurden bzw. wie wenig Nachhall sie in der Kunstentwicklung im Allgemeinen hatten. Obwohl sowohl die Kultur-Lige als auch Martin Bubers kultur­ zionistische Entwürfe unermüdlich bemüht waren, eine ungebrochene Kontinuität der Jüdischen Kunst nachzuweisen, waren es ausgerechnet Künstler, die diese Ideen zugunsten einer multinationalen sozialistischen Kunst hinter sich ließen.117 Sowohl die 115 „The distinguishing Jewish colour is black velvet, violet, gray and a pale gold, like an echo of an often told legend“, Dorbuschin (1919), englische Übersetzung zit. nach Kampf, Avram, In Quest of the Jewish Style in the Era of the Russian Revolution (dort angegeben mit „Dorbuschin, Yekhezkel [sic], Kunst Primitiv und Kunst Buch für Kinder [sic]“), in: Journal of Jewish Art 5, 1978, S. 48–75, hier S. 62. Vgl. Amishai-Maisels (1995), S. 54–70, hier S. 61. 116 Kampf (1978), S. 61; Amishai-Maisels (1995), S. 61. 117 Für Wolitz ist die „wahre Tragödie“ („real tragedy“) der russisch-jüdischen Avantgarde die Verpflichtung zum Sozialistischen Realismus, der sowohl die Bewegung der jüdischen nationalen Kunst erstickt, als auch mit der Ablehnung der Abstraktion die Künstler insgesamt künstlerisch isoliert hatte, Wolitz (1987), S. 40.

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I­ nstitution der Kultur-Lige als auch ihre Entwürfe gerieten in Vergessenheit, denn niemand sprach bei den späteren Werken von El Lissitzky noch über die abstrakte jüdische Form, die sich in den Proun-Werken manifestiert hätte.118 Damit war die vermeintlich historisch geprägte Entwicklung der Jüdischen Kunst in der Diaspora wie auch im Zionismus im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts an ihrem Ende angekommen.

Das Stetl-Phänomen Das Kunst- und Kulturverständnis jüdischer Künstler in Osteuropa war maßgeblich von ihrer Lebenswelt und historisch geprägten Lebensweise beeinflusst. Ein Phänomen in der jüdischen Geschichte Europas, das einen Einblick in das kulturelle Selbstverständnis der Juden gewährt, ist die reale und literarische Welt des Stetl. Diese besondere Siedlungsweise der Juden auf dem Gebiet Osteuropas wurde im 19. und 20. Jahrhundert charakteristisch für die Lebensweise osteuropäischer Juden. Die Ortschaften, die sogenannten Stetl, zeichneten sich dadurch aus, dass die Mehrheit ihrer Bewohner Juden und die meistgesprochene Sprache Jiddisch war. Über die Größe, Einwohnerzahl und geografische Verteilung der Stetl ist sich die Forschung nicht einig. Mit der Absicht, das Gedenken an das Stetl, das ein Synonym für das osteuropäische Judentum wurde, aufrechtzuerhalten, wandten sich zahlreiche Disziplinen wie Geschichte, Judaistik, Epigrafik und Sozialwissenschaften der Erforschung dieses Phänomens zu. Ausschlaggebend für das verstärkte Interesse war die endgültige Vernichtung dieser Siedlungsform durch die Nationalsozialisten im Verlauf des Zweiten Weltkriegs.119 Das Stetl war besonders um die Jahrhundertwende Dreh- und Angelpunkt der Selbstreflexion jüdisch-aschkenasischer Kultur.120 Durch den hohen jüdischen Bevölkerungsanteil war hier nur die Ausprägung der jüdischen Lebensweise möglich. In der kollektiven Wahrnehmung der Juden war das Stetl allerdings ein stark verklärter Ort. Davon zeugt vor allem die jiddische Literatur. Die Beschreibung der Stetl in literarischer Form hat ihre Ursprünge in der maskilischen Literatur der jüdischen Aufklärer. Die Maskilim beschrieben die Lebensumstände der osteuropäischen Juden, um ihre Kritik an der Lebensweise und den Organisationsstrukturen innerhalb der jüdischen Siedlungen zu untermauern. Die moderne jiddische Literatur rückte das Stetl in ein romantisierendes, positives Licht. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich besonders bei denjenigen, die die Möglichkeit bekamen, das Stetl zu verlassen und in Großstädte

118 Ziva Amishai-Maisels betont, dass El Lissitzkys Bruch mit der Jüdischen Kunst bei seiner Rückkehr nach Russland 1925 vor allem eine politische Entscheidung für den Kommunismus war. Amishai-Maisels (1995), S. 64 und Fußnote 132. Die Idee des sowjetischen Staates vertrug sich nicht mit einer nationalen Jüdischen Kunst. 119 Kassow (2007), S. 4, 6. 120 Elie Wiesel nannte das Stetl ein aschkenasisches Phänomen („The fact is that the shtetl belongs to the Ashkenazi world of Eastern Europe […]“),Wiesel, Elie, The World of the Shtetl, in: Katz (2007), S. 290–306, S. 291.

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zu ziehen, ein Nostalgiegefühl gegenüber einer behüteten Umgebung, in der das Leben überschaubarer schien. Nun wurde beinahe jedes Element, das die Maskilim in ihren Schriften als reformbedürftig anprangerten, wie die Bauweise der Häuser, die scheinbar fehlende Stadtplanung u. Ä., verklärt und glorifiziert. Im besten Falle waren diese jiddischen Erzählungen eine Mischung aus Fiktion und Realität.121 Die Juden stellten zwar stets die Mehrheit in den Stetl, doch waren diese Siedlungen nie ausschließlich jüdischen Bewohnern vorbehalten. Hier lebten Christen und Juden selbstverständlich zusammen, wovon die Tatsache zeugt, dass es keine Teilungen in jüdische und nichtjüdische Stadtteile gab. Synagogen und Kirchen wurden nebeneinander gebaut.122 Eine weitere Unstimmigkeit, die sich in jiddischer Literatur jener Zeit findet, betrifft die angeblich planlose Entstehung der Stetl. Die zeitgenössischen Autoren stellen die Siedlung als ein natürlich gewachsenes Phänomen dar, ohne Plan, gerade Straßen oder Bauregeln. Dies entspricht ebenfalls nicht der Wahrheit. Sowohl die polnischen Großgrund­besitzer als auch später die russische Herrschaft gaben einen zumindest vereinfachten Plan für die Siedlungsweise vor: So gab es zumindest eine Hauptstraße, die von Häusern flan­k iert wurde, sowie einen Marktplatz in der Mitte der Siedlung.123 Bartal sieht drei wesent­ liche Beweggründe, die diese Art Darstellungen erklären. Zunächst sollte die polnische Geschichte des Stetl aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. Das schwierige Verhältnis zwischen Juden und Polen im 19. Jahrhundert – besonders nach der Niederschlagung des polnischen Aufstandes durch die russische Herrschaft im Jahre 1863 – führte dazu, dass das Stetl-Phänomen ein geschichtsloses Konzept sein sollte. Man wollte es als ein von sich aus entstandenes, nicht geografisch nachvollziehbar gewachsenes, jüdisches Gebilde verstanden wissen.124 Das nächste Anliegen der Literatur war die Verwischung von Groß- und Kleinstadt. Da es in der Tat schwierig war, das Stetl diesen Kategorien eindeutig zuzuordnen, benutzten Autoren unterschiedliche Bezeichnungen. Es gibt allerdings eine Tendenz zur Benutzung von Begriffen für kleinere Städte und Dörfer. Die Verkleinerung erleichterte vor allem die Verklärung der Siedlung. Es war einfacher, das Stetl als ein Beispiel für einen starken Zusammenhalt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft darzustellen, wenn alle lebensnotwendigen Einrichtungen auf dem Markplatz bzw. an der Hauptstraße zu finden waren. Die Abgrenzung von einer historisch tief verwurzelten, anonymen und heterogenen Großstadt unterstützte die nostalgische Vorstellung des Stetl.125 Der Sinn des Stetl-Phänomens lag in der Selbstidentifikation. Es ging um die Bestimmung einer Gruppenidentität, ohne dabei auf religiöse oder politische Inhalte einzugehen. Elie Wiesel beschrieb in seinem Beitrag „The World of the Shtetl“, dass die ­Menschen 121 Bartal, Israel, Imagined Geography. The Shtetl, Myth, and Reality, in: Katz (2007), S. 179–192, hier S. 180. 122 Bartal (2007), S. 183. 123 Ebd., S. 184. 124 Ebd., S. 186 f. 125 Ebd., S. 188 f.

Die Diaspora und die Suche nach einer eigenen Identität      | 135

des Stetl nur eine einzige Sache verband: „their Jewishness“.126 Damit war nicht etwa die Religion gemeint, sondern unausgesprochene, allgemeingültige Verständnis- und Verhaltensregeln. Er war der Überzeugung, dass sich jeder Jude in dem literarischen Stetl wiederfände. Denn genau hier lebten die Menschen nach den Regeln, die man – egal, wo man als Jude aufwuchs – von seinen Eltern anerzogen bekam. So wachse jeder Jude in dem Bewusstsein auf, ein Erbe mitbekommen zu haben, das man zu pflegen und weiterzugeben hat. Außerdem trage man als Jude für alle Juden eine Verantwortung. Die ursprünglich von Antisemiten auferlegte Kollektivschuld wuchs in der jüdischen Verinnerlichung zu einer bedingungslosen Loyalität unter den Juden. Wiesel bestritt nicht, dass es auch im Stetl Kriminalität gab und nicht alle Menschen nur gut waren.127 Doch in seiner Beschreibung der Verbrecher, an deren Beispiel er das Phänomen der jiddischen Spitznamen erklärte, klang auch dieser Umstand beinahe verniedlicht und romantisch. Wiesel beschönigte außerdem die Verbreitung des Chassidismus, religiöse Traditionen sowie die Schulbildung im Cheder, von der man heute weiß, dass sie mehr als zu wünschen übrig ließ.128 Man kann zusammenfassend sagen, dass die Darstellung des Stetl in der jiddischen Literatur nationale Aspekte aufweist: In den Geschichten geht es um eine geschlossene Gruppe von Menschen, die gemeinsame Werte und Vorstellungen teilen, eine gemeinsame Sprache sprechen und ein gemeinsames Siedlungsgebiet haben. Die Geschichtslosigkeit wird durch eine Neuerschaffung der Folklore aufgefangen. Das literarische Stetl und seine Bewohner knüpfen an vormoderne Zeiten an, als die Lehnsherrschaft abgeschafft wurde. Damit wird eine Zeit vor dem historischen Punkt der Zivilisierung definiert, nach der man sich zurücksehnt. Hier setzt das Interesse an der Folklore ein. Ähnlich wie beim Grundgedanken des Primitivismus geht es hier darum, das Natürliche, Organische, „Primitive“, kurz Vormoderne herauszustellen und zu glorifizieren. Die modernen Veränderungen sind damit etwas Unnatürliches und Artifizielles, das dieser Gemeinschaft in ihren Wurzeln nicht entspricht. In diesem letzten Element wäre die grundlegende religiös-orthodoxe Haltung des Stetl – Ablehnung des Modernisierungsprozesses als Gefährdung der Gemeinschaft – zu erkennen. Das fiktive Stetl war damit zu einem Kollektivgewissen europäischer Juden gewachsen, das vor dem Verlust der eigenen Identität warnte und gleichzeitig ein geistiges Zuhause gegen das Vergessen darstellte.

126 Wiesel (2007), S. 293. 127 Ebd., S. 294 f. 128 Ebd., S. 297–300.

136 |     Jüdische Kunst in Osteuropa: Marc Chagall als „der“ jüdische Künstler

Chagalls künstlerisches Selbstverständnis Marc Chagall hielt trotz seiner starken Verbundenheit zur jüdischen Kultur grundsätzlich nicht viel von der sogenannten Jüdischen Kunst. An den Diskussionen seiner Künstlerkollegen in La Ruche, ob es eine Jüdische Kunst gäbe und welche Künstler in Ost und West in dieser Tradition stehen könnten, hatte er sich nicht beteiligt.129 Eine national geprägte Kunst entsprach nicht Chagalls Kunstverständnis. Für ihn war Kunst eine geschichtslose, stets vorwärts gewandte Bewegung im Hier und Jetzt. Dieses Verständnis verband ihn mit Herwarth Walden, dem Vater des Begriffs „Expressionismus“. Beide lehnten eine historisch gewachsene Kunsttradition ab und sprachen sich für neue Wege in der Kunst aus.130 Vor allem eine Instrumentalisierung der Kunst für politische Zwecke lag Chagall fern, ob von zionistischer, jiddischistischer oder kommunistischer Seite. Und obwohl er sich gegen eine nationale Kunst wehrte und aus dieser Perspektive eine explizit jüdische Kunst ablehnte, setzte er sich gleichzeitig für die Gründung eines Museums für Jüdische Kunst ein. Dies erscheint zunächst paradox, da Chagall keine eigene, national ungebundene Definition für eine mögliche Jüdische Kunst vorschlug, die für solch ein Museum die richtigen Werke und Künstler oder zumindest Richtung und Tendenzen vorgegeben hätte. Die Bestimmung einer solchen Kunstrichtung scheint auch nicht sein Ziel gewesen zu sein. Während andere jüdische Künstler wie El ­Lissitzky und Boris Aronson sich für eine neue, moderne Form der Jüdischen Kunst ein129 Die jiddische Zeitschrift Shtrom bat Chagall 1922 darum, seine Einstellung zur Jüdischen Kunst in einem Artikel zu formulieren. Er schrieb u. a. Folgendes: „Once in Paris, back in my LaRuche [sic] room, where I worked, I heard through the Spanish screen the quarrel of two Jewish emigré voices: ‚So what do you think, after all, Antokolsky wasn’t a Jewish artist, or Israels [sic], or Liebermann!‘ The lamp was dim and lit my painting standing upside down […] and finally, when the Paris sky began to dawn, I laughed at the idle thoughts of my neighbors about the lot of ‚Jewish art‘: ‚OK, you talk – and I will work.‘“; und weiter Bezug nehmend auf seinen angeblichen Vorfahren Chaim Segal (Verwandtschaft mit Chagall unklar [siehe Harshav (2003), S. 40, Fußnote 9], den Maler der Mohilever Synagoge: „The difference is only that he [Segal] took orders for signs and I studied in Paris, about which he also heard something. And yet. Both and he and others (there are such) are not yet Jewish art as a whole. Why not speak the truth. Where would it come from? God forbid it should have to come from some fiat! […] There was Japanese art, Egyptian, Persian, Greek. Beginning with the Renaissance, national arts began to decline. Boundaries are blurred. Artists come – individuals, citizens of this or that state, born here or there (blessed be my Vitebsk), and one would need a good registration or even a passport specialist (for the Jewish desk) to be able to ‚nationalize‘ all the artists“, Original erschienen in Jiddish in Shtrom, Nr. 1, Moskau 1922, hier zit. nach: Harshav (2003), S. 39 f. 130 „All the talk about ‚naturalism‘ and ‚populism‘ is premature. The old did not produce the new. The life of the new is always different, that is, the new moves forward. Hence, the treasures of museums and burial caves can serve us only as an example of wonderment, but not as model of imitation“, Chagall, Marc, On Modern Art, Vortrag am HaBimah Theater am 23. März 1931, veröffentlicht in Moznaim, Nr. 46–47 (31. März 1931) und Nr. 48 (16. April 1931), übersetzt aus dem Hebräischen, da das jiddische Original nicht mehr erhalten ist, zit. nach Harshav (2003), S. 43 und Fußnote 3. Vgl. auch Waldens Ansichten in u. a. Walden, Herwarth, Zur Geschichte der neuen Kunst, in: ders., Einblick in Kunst, Berlin 1924 [Nachdruck 1973], S. 96–98, hier S. 96; Das Sehen der Kunst, in: ebd., S. 68–72, hier S. 69.

Chagalls künstlerisches Selbstverständnis     | 137

setzten, indem sie sich organisierten und programmatische Schriften verfassten, blieb Chagall bewusst ein einsamer Kämpfer.131 Er nahm die Position eines Ideengebers ein und wandte sich an andere, um sich um eine praktische Umsetzung zu bemühen. Die Zurückhaltung im Hinblick auf ein aktives Engagement führte er auf seine Erfahrungen in der Sowjetunion zurück.132 Nach der Oktoberrevolution wurde Chagall 1918 infolge seines Vorschlags an Anatolij Lunatscharskij, den Kommissar für Volksaufklärung, zur Gründung einer Kunsthochschule und eines Museums in Witebsk zum Bevollmächtigten für Kunstangelegenheiten (Kommissar für die schönen Künste) im Gouvernement Witebsk ernannt. Da die totalitäre Überwachung aller Tätigkeiten der staatlichen Einrichtungen erst mit der Gründung der Sowjetunion ab 1921 einsetzte, konnte Chagall diesen hohen Posten zunächst ausfüllen, wie er es für richtig hielt. Und auch wenn er in den Statuten der Hochschule ihre Bedeutung für die Volkserziehung im Sinne der Revolution betonte, gab er doch im Wesentlichen in allen Angelegenheiten selbst den Ton an. Der Widerstand, den er gegen den aufkommenden Suprematismus verspürte, war nicht politischer, ­sondern rein künstlerischer Natur. Bereits nach zwei Jahren gab Chagall den Posten wieder auf, als die durch ihn an die Kunsthochschule berufenen Künstler ­Kasimir Malewitsch und El Lissitzky eine eigene nonfigurative Kunstströmung propagierten und damit gegen die Grundsätze des Chagall’schen Kunstverständnisses verstießen. Er fühlte sich ausgegrenzt.133 Man kann nur ahnen, wie seine Reaktion nur wenige Monate spä131 In keinem seiner offiziellen Briefe und Reden werden andere Namen von Künstlern oder Verbündeten erwähnt. Chagall inszenierte sich als Übervater, der sich für die neue Generation der Künstler sowie für die Jüdische Kunst nach neuen Maßstäben einsetzte. Dabei war die Idee eines Museums für Jüdische Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch bei anderen Künstlern vorhanden, wie z. B. bei Jankel Adler, der zur gleichen Zeit versuchte, Ausstellungen und ein Museum in Polen zu gründen; vgl. Von Hülsen-Esch, Aptroot (2008), S. 16. Bartelik beschreibt vor allem die zahlreichen Ausstellungen der Gruppe Yung Yiddish, Bartelik, Marek, Early Polish Modern Art. Unity in Multiplicity, Manchester/New York 2005, S. 126–159, hier S. 140 ff. Man kann nur mutmaßen, warum Chagall sich nicht mit anderen verband. Dies scheint aber ein Charakterzug gewesen zu sein, der ihn auf künstlerischer, politischer und persönlicher Ebene begleitet hat. 132 Im Zusammenhang mit der Einladung Meir Dizengoffs, des ersten Bürgermeisters der Stadt Tel Aviv, an Chagall, nach Palästina zu kommen, erzählte der Maler in einem Interview mit Neta Weinstein, erschienen am 15. März 1931 in Jerusalem in der Zeitschrift Doar HaYom (Bd. XIII, Nr. 134), dass, obwohl er sich noch in Russland entschlossen hatte, keine öffentlichen Ämter zu bekleiden, er von der Idee Dizengoffs, ein Museum in Tel Aviv zu eröffnen, sehr angetan war und deswegen die Einladung angenommen hatte; vgl. Harshav (2004), S. 363 f. und Fußnote 2. 133 Bowlt, John E., From the Pale of Settlement to the Reconstruction of the World, in: Apter-Gabriel (1987), S. 43–60, hier S. 55. Zahlreiche jüdische Kunststudenten folgten Malewitsch und Lissitzky und dem Suprematismus und gehörten dem UNOVIS („Утвердители нового искусства“ = Befürworter der Neuen Kunst [Übers. d. Verf.]) an. Diese Kunstrichtung überwand die folkloristische Tradition in der Kunst und war nicht zuletzt deswegen für junge Künstler besonders ansprechend, Bowlt (1987), S. 53. Die inspirierende Kraft der Jüdischen Kunst wurde von den neuen internationalen und zukunftsgewandten Bewegungen abgelöst und spielte immer weniger eine Rolle. Nichtsdestotrotz sei der Einfluss jüdischstämmiger Künstler und der Idee der Jüdischen Kunst auf die russische Avantgarde damit unbestritten; Bowlt (1987), S. 55 f. Die strikt non-figurative Kunst des Suprematismus empfanden zahlreiche Studenten Malewitschs bereits Ende der 1920er-­ Jahre als überholt. Kunststudenten, die einst Chagall verlassen hatten, wandten sich nun der Kunst von Robert Falk zu, der Naturdarstellungen in impressionistischer Manier verarbeitete. Obwohl

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ter auf die staatliche Anordnung zur Förderung ausschließlich zu Propaganda­zwecken nützlicher Kunst ausgefallen wäre.134 Dennoch war es gerade der künstlerische Affront, den Chagall nicht ertragen konnte. Als seine Bitte um Entlassung im April 1919 von den zentralen Behörden abgelehnt wurde, reiste Chagall im Juni 1920 mit seiner Frau und Tochter nach Moskau und kehrte nicht mehr nach Witebsk zurück. 1922 verließ er Russland endgültig und reiste über Berlin nach Paris. Doch die Idee der Gründung eines Museums ließ ihn auch dort nicht los. In den 1920er-Jahren wandte sich Chagall an das 1925 gegründete Yidisher visnshaftlekher institut (YIVO)135 in Wilna mit der Aufforderung, dass das YIVO, dessen Arbeit der jüdischen Kultur gewidmet war, eine Sektion für bildende Künste einrichten und sich um ein Museum für Jüdische Kunst bemühen solle. Die frisch gegründete, erste moderne jüdische Stadt Tel Aviv wiederum wandte sich in der Person ihres ersten Bürgermeisters Meir Dizengoff an Chagall. Man lud den Maler nach Tel Aviv ein, an der Kommission zur Gründung eines Museums teilzunehmen, wozu sich Chagall zunächst gerne bereit erklärte. Die Gründung des Museums in Tel Aviv 1933 ging letztlich ohne Chagall vonstatten136. Das YIVO eröffnete schließlich 1935 in Wilna ein Museum für Jüdische Kunst.137 In Briefen und öffentlichen Reden betonte der Maler seine Absichten: Während sich die Förderung einer neuen jüdischen Kultur vor allem auf Literatur und Theater stützte, vermisste Chagall den Einsatz von Institutionen wie dem YIVO für die Entwicklung der jüdischen bildenden Kunst. Im Gegensatz zur Arbeit der Zionisten in Palästina und der Kultur-Lige in Osteuropa ging es ihm aber nicht um eine nationale Erziehung der „neuen Juden“, sondern um eine intellektuelle Weiterentwicklung der Kultur. Chagall bedauerte den „schlechten Geschmack“ unter den Juden, die sich seiner Ansicht nach schnell mit Kitsch138 zufriedengäben, und wollte im Grunde eine neue Kultur des Sammelns unter den Juden fördern. Das Besondere an Chagalls Ansichten war, dass er als Einziger den Begriff der Jüdischen Kunst tatsächlich aus der Perspektive der Kunst betrachtete und ihm damit eigentlich erst eine Existenzberechtigung verlieh. Er setzte sich für eine europäisch geprägte jüdische Kultur ein, die für keine politischen Zwecke instrumentalisiert werden sollte

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sie sich erneut der figurativen Malerei widmeten, blieb die Frage nach der Jüdischen Kunst für die jungen Künstler uninteressant. Sie hatten den Gedanken der Revolution so weit verinnerlicht, dass sie internationale Strömungen als fortschrittlich und nationale als rückschrittlich ansahen, Shatskikh, Alexandra, Jewish Artists in the Russian Avant-Garde, in: Tumarkin Goodman (1995), S. 71–80, hier S. 76. Zur Forderung der neuen Staatsmacht siehe „Kunstprogramm des Kommissariats für Volksaufklärung in Russland“, Steneberg, Eberhard, Russische Kunst in Berlin 1919–1932, Berlin 1969, S. 9. Zur Geschichte des YIVO siehe Kuznitz, Cecil Esther, YIVO and the Making of Modern Yiddish Culture. Scholarship for the Yiddish Nation, New York 2014. Die Vorstellungen von Dizengoff und Chagall über die Qualität der auszustellenden Werke gingen weit auseinander; vgl. Briefe von Chagall und Dizengoff zu dem Thema bei Harshav (2004), S. 377–386. Harshav (2003), S. 54 f. Für Chagall stand vor allem die Bezalel-Schule für Kitsch und Ethnografie. In einem Brief an Leo Kenig 1931 schrieb er über die Gründung des neuen Museums und fügte unter „PS“ hinzu: „We have to ‚kill‘ Bezalel once and for all“, zit. nach Harshav (2004), S. 384.

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bzw. konnte. Während seiner Tätigkeit in Witebsk als Kommissar für die schönen Künste hatte er gar die Politik für die Zwecke der Kunst instrumentalisiert. Und obwohl er das Traditionsverständnis in der Kunst ablehnte, implizierte er in seinen Auslegungen eine klare Definition einer Jüdischen Kunst, die auf den Entwicklungen der modernen französischen Malerei fußte. Damit man ihn bloß richtig verstand, schloss er dabei gleich alle Kunstrichtungen als Inspiration aus, die sich rein theoretisch bzw. technisch mit der Weiterentwicklung der bildenden Künste auseinandersetzten. Ob Impressionismus, Kubismus oder Naturalismus – alle waren Chagall inhaltlich viel zu flach und konnten damit seiner Ansicht nach trotz ihrer Errungenschaften gar nichts zu einer neuen Jüdischen Kunst beitragen.139 Nur diejenige Kunst, die den inneren Zustand eines Künstlers auszudrücken vermochte, war für Chagall wertvoll. Damit wäre er grundsätzlich auf der Wellenlänge der Kiewer Kultur-Lige gewesen, die ebenfalls programmatisch nur in der abstrakten Kunst jüdischer Künstler die neue Jüdische Kunst zu erkennen meinte. Mit der Ablehnung einer künstlerischen Tradition stand er auch den Expressionisten nahe. Doch wie so oft distanzierte sich Chagall auch hier von den bestehenden Bewegungen. Er lehnte eine nonfigurative und theoretisierte Kunst ab.140 Marc Chagall zeichnete damit – bewusst oder unbewusst – eine Kunstrichtung vor, zu der man zu seiner Zeit nur einen Künstler uneingeschränkt hätte zählen können: Chagall selbst. In seinem Aufsatz für Shtrom drückte er, trotz seiner Ablehnung des Begriffs der Jüdischen Kunst, seine Zuneigung dem jüdischen Volk gegenüber aus und erklärte, dass diese Gemeinschaft zu vielem fähig sei: It’s not small matter what this little nation has achieved! When it wanted – it showed Christ and Christianity. When it wished – it gave Marx and Socialism. Can it be that it won’t show the world some art? It will!141

Beim Lesen dieser Zeilen drängt sich das Gefühl auf, es handle sich um einen abgebrochenen Dreiklang. Man möchte vervollständigen: Es fehlt das dritte Beispiel, dessen Formulierung sich zum Schluss des Aufsatzes beinahe selbstständig im Kopf des Lesers manifestiert: Wenn sie [die Juden] wollen – geben sie der Welt Marc Chagall und die Jüdische Kunst. 139 In seinem Vortrag über die moderne Kunst sagte Chagall: „This movement [Kubismus; Anm. d. Verf.], with all its theories, like the movements of Impressionism and Naturalism that preceded it, did not provide an outlet for our inner world or for the essence of things. What would I have to do with the external aspect? I am not an aesthetician to be excited about it. Of course, art pleases the eye, but art itself has no eyes“, Chagall, Marc, On Modern Art, zit. nach Harshav (2003), S. 48. 140 „And I ask: what aspects of the human ‚I‘ require experimental art or purely abstract art? Art goes parallel to science and the discoveries of the scientists. But I cannot believe that the evil in man fulfilled a larger function than the good in him. Man is capable of evil – shown by the last war, which swept over us with no rhyme or reason. You might conclude from this that art, in its own way, is linked to life, and the dissonance is revealed to the eye as soon as the heart actually stops participating in it [in the art]. To be sure, as soon as we abandon what our heart tells us, the age will punish us and our work will turn it back a long way“, Chagall, Marc, On Modern Art, zit. nach Harshav (2003), S. 48. 141 Chagall, Marc, On Jewish Art, in: Harshav (2003), S. 40.

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Chagalls Vokabular Marc Chagall bekannte sich stets zu seiner Herkunft aus der Stadt Witebsk und dem jüdischen Milieu. Insbesondere vor jüdischem Publikum betonte er gerne seine Zugehörigkeit, auch wenn diese Betonung eher Symbolcharakter hatte.142 Wie so oft malte er Bilder nicht nur mit Farbe und Pinsel, sondern auch mit Worten. In seinen oft poetisch angehauchten Reden und Briefen wurde das Stetl verklärt und kindlich-unschuldig beschrieben. ­Verschiedene Erfahrungen der Juden in geografisch unterschiedlichen Regionen Osteuropas existierten für Chagall allerdings nicht. Eine allgemein für alle Juden geltende, aus einer gemeinsamen Leidensgeschichte resultierende ‚jüdische Erfahrung‘ wurde vorausgesetzt. Diese Herangehensweise an die eigene Identität basierte nicht etwa auf akkuraten historischen und geografischen Fakten, die Chagall studiert hätte, oder gar auf einer nationalen Zusammengehörigkeit. Sie ist das Ergebnis einer mündlich und schriftlich überlieferten Kultur, die an die jiddische Sprache und Literatur gebunden ist. Die häufig im Stetl spielenden Geschichten und literarischen Werke sind ein gemeinsamer Nenner der in zahlreichen Ländern und Staatsformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstreuten Juden Osteuropas. Bei den Reden Chagalls, in denen es um die jüdische Kultur ging, sprach der Künstler daher in Bildern, die jedem Anwesenden bis zu einem gewissen Grad bekannt und vertraut waren. Ähnlich den Kulturzionisten, die – zwar mit einem anderen Ziel im Sinn – an die gemeinsame Leidensgeschichte der Juden weltweit appellierten, schaffte Chagall damit ein Vertrauensverhältnis zum Publikum, das seiner tatsächlichen Forderung dadurch mehr Gehör schenkte. Und diese lautete: Förderung einer Jüdischen Kunst auf der Grundlage der modernen europäischen – also russischen und französischen – Kultur. In Wahrheit war Chagall nicht der einzige Kämpfer für eine moderne Jüdische Kunst ohne national-politischen Bezug. Künstler wie Henryk Berlewi, Jankel Adler, Issachar Ber Ryback, Boris Aronson und Marek ­Szwarc, die sich in Künstlerverbünden wie Yung-Yiddish143 und der Kultur-Lige 142 Bei seiner Rede auf der World Conference of the Yiddish Scientific Institute (Estraikh spricht vom World Yiddish Cultural Congress [YKUF], Estraikh [2015], S. 342) anlässlich des zehnten Jahrestages der Gründung des YIVO 1935 in Wilna sagte Chagall zu Beginn, dass er die kleinen Häuser und Zäune dieser Stadt auswendig kenne und das Gebäude des YIVO äußerlich so ärmlich aus­sähe, dass es aus einem seiner Gemälde stammen könne („I have known these little huts and fences around you by heart for a long time. But your house, the house of the Institute, though it seems to be poor as a hut in one of my paintings, is nevertheless as rich as Solomon’s Temple“, zit. nach Harshav [2003], S. 56.). Diese Bemerkung ist metaphorisch gemeint und bezeichnet symbolisch die gemeinsame „jüdische Erfahrung“, die Chagall mit allen Juden Osteuropas zu teilen meinte. Am Rande des Kongresses wurde von internationalen Intellektuellen die Yiddish Culture Front ausgerufen, die sich in der Tradition der Kiewer Kultur-Lige der Erhaltung und Pflege des Jiddischen widmen wollte. Das dabei verfasste Manifest wurde (ohne eine Unterstützung seitens des YIVO) von mehreren Duzend Kulturschaffenden – auch von Chagall! – unterzeichnet, Estraikh (2015), S. 342. 143 Yung-Yiddish war eine 1918 in Łódź gegründete Künstlergruppe, zu deren Gründungsmitgliedern u. a. Jankel Adler (1895–1949), Marek Szwarc (1892–1958) und Henryk Berlewi (1894–1967) gehörten, siehe „The Young Yiddish group“, in: Bartelik (2005), S. 126–159. Ähnlich wie die Kunst-

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engagierten, verfolgten sehr ähnliche Ziele wie Chagall. Sie beriefen sich auch auf ihn als einen der größten jüdischen Künstler.144 Doch Marc Chagall schien andere Mitstreiter nicht zu kennen. Juden oder jüdische Künstler aus anderen Ländern als Russland und Weißrussland oder anderen Gegenden, die Chagall fremd waren, fanden in seinen Reden, Aufsätzen oder Korrespondenzen kaum Erwähnung. Ein möglicher Grund dafür könnte seine Ablehnung einer traditionell entwickelten Kunst, die den Ideen der beiden erwähnten Gruppen zugrunde liegt, gewesen sein. Die Erforschung der jüdischen Kunsttradition alter Synagogenmalerei oder mittelalterlicher Friedhöfe in Osteuropa war für die Kultur-Lige genauso wichtig wie für Yung-Yiddish. Chagall war dagegen der Meinung, dass sich die Juden von dem Traditionsgedanken lösen müssten, um in der Lage zu sein, Kunst zu erschaffen. Damit sprach er jüdischen Künstlern nicht im Hegel’schen Sinne eine künstlerische Fähigkeit ab, sondern definierte sein Verständnis des Kunstbegriffs. Der ­Chagall’sche jüdische Kunstbegriff ist modern, geschichts- und theorielos in der Darstellung und jiddisch-literarisch im Inhalt. Zur besseren Beschreibung des konservativ-akademischen Alten und des emotional-modernen Neuen benutzte Chagall Begriffe jüdischer Religionsgeschichte. Er teilte die Generationen der jüdischen Künstler in „­Misnagdim“ und „Chassidim“ ein.145 Mitnagdim waren die konservativen Gegner der sektion der Kultur-Lige verfolgte Yung-Yiddish das Ziel, eine Jüdische Kunst zu definieren, die Geschichte und Gegenwart, Folklore und moderne Kunst (hier insbesondere den Expressionismus, ohne dessen explizite Erwähnung, S. 133) zu vereinen, um eine moderne jüdische Kultur und Identität zu definieren (S. 131 f.). 144 In ihrem Aufsatz „Di vegn fun der yidisher moleray (Die Wege der jüdischen Malerei)“ 1919 schrieben Aronson und Ryback über Chagall: „[…] Of all Jewish artists, Chagall is the only one to have understood, appreciated and partially created, poetically, the Jewish plastic folk-trait. To the question, how has Chagall demonstrated his picturesque material, we may respond: being a product of Jewish culture, Chagall has also demonstrated his national form. That is the great merit, and he’s thus the first one entitled to bear the name ‚Jewish artist‘“, zit. nach Apter-Gabriel (1987), S. 229. Auch Jeheskiel Dobruschin, der Leiter der Kunstsektion der Kultur-Lige, war dieser Meinung: „Chagall is the great child of our people, absorbed the Jewish artistic primitives, he drew from the form, color and content of his radiant works based on legends […]“, Dobruschin (1919), S. 18, englische Übersetzung zit. nach Wolitz (1987), S. 36. Jankel Adler, den Chagall 1922 in Berlin traf (Roditi, Edouard, Dialoge über Kunst, Wiesbaden 1960, S. 51) widmete in der dritten und letzten November/Dezember-Ausgabe der Zeitschrift Yung-Yidish 1919 einen Artikel der Kunst von Marc Chagall, in dem er ihn „neuer Jude – mit blondsilberigen Locken altertümlicher Propheten“ nennt. Adler war der Meinung, dass Chagall die chassidische Tradition auf ein höheres Niveau gehoben habe, Adler, Jankel, Marc Chagall, in: Yung-Yidish, 4–6 (1919), S. 20, zit. nach der erstmaligen deutschen Übersetzung des Artikels bei Heibel, Annemarie, Jankel Adler (1895–1949), 2 Bde., Münster 2016, hier Bd. 1: Monographie, S. 482 f. 145 Chagall, Marc, My meeting with Max Liebermann, in: Harshav (2004), S. 358. Die Beschreibung von Künstlern als Konservative oder Moderne unter Zuhilfenahme der Begriffe „Misnagdim“ (auch Mitnagdim genannt) und „Chassidim“ war für Autoren jüdischer Abstammung offenbar naheliegend. So beschrieb auch Leo Kenig Jankel Adler als einen „kritischen Chassid, einen ratio­ nalen Mystiker, der den Verstand ­eines ‚Missnaged‘ […] besitzt und sich mit dem Herzen nach Mystik sehnt“, Kenig, Leo, Juden in der modernen Kunst, Tel Aviv 1962 (Original in Hebräisch), S. 147, zit. nach Guralnik, Nehama, Jankel Adler, ein europäischer Künstler auf der Suche nach einem jüdischen Stil, in: Jankel ­Adler. 1895–1949, Katalog zur Ausstellung, Düsseldorf/Köln/Tel Aviv/Łódź 1985, S. 202–232, hier S. 228.

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Chassidim nach der Entstehung des Chassidismus im Osteuropa des 18. Jahrhunderts. Sie lehnten vor allem die propagierte Abwendung der Chassidim vom Thorastudium, das ein wesentlicher Bestandteil der jüdischen Religion aus orthodoxer Sicht war, ab sowie das Beten zu verschiedenen Tageszeiten entgegen den festen Vorgaben dazu in der Halakhah. Die mystische Note der Kabbala sowie ein Bruch mit Traditionen waren für die orthodoxen Mitnagdim inakzeptabel, was zum Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts zu brutalen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gruppen führte.146 Ein wichtiger geografischer Punkt für den Chassidismus war u. a. Weißrussland, sodass Chagall sicherlich die Geschichte dieses „Kulturkampfes“ aus überlieferten Erzählungen ausreichend vertraut war, um den Vergleich auf die Künstler des 20. Jahrhunderts übertragen zu können. Nachdem er Max Liebermann 1929 in Berlin in dessen Haus am Brandenburger Tor besucht hatte, fasste er die Kunst Liebermanns und seiner Generation als die der „Misnagdim“ zusammen. Demgegenüber stand die neue Kunst der Juden – die der „Chassidim“.147 Als charakteristisch für diese konservative, streng an der Lehre orientierte Richtung sah er am Beispiel von Liebermann die Tatsache an, dass dieser „den Fehler begangen habe“, anstatt nach Paris nach Holland gegangen zu sein.148 Damit ordnete Chagall die Tradition von Rembrandt bis Israëls in ihrem Einfluss auf die moderne jüdische Kunst derjenigen der französischen Impressionisten nach. Er kam zum Ergebnis, dass Max Liebermann der größte deutsche Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts sei, was gleichzeitig bedeute, dass es für Paris und die wahre Kunst nicht gereicht habe.149 Erneut betonte Chagall in seinem Kommentar zu Liebermann, dass die neue Jüdische Kunst in seinen Augen eine ekstatisch-emotionale, von Vorgaben und Gesetzen gelöste Kunst sein müsse, die ohne Furcht vor dem Bruch mit den Traditionalisten eine neue Sichtweise auf die jüdische Kultur gäbe – ganz so wie die Chassidim sich dem Diktat der strengen Mitnagdim entgegenstellten und damit ein neues Judentum begründeten. Das Gleichnis Marc Chagalls von alten und jungen jüdischen Künstlern und ­Mitnagdim und Chassidim rührte entgegen möglicher Annahme weniger aus Chagalls Religiosität her. Chagall hatte wohl Grundzüge jüdischer Bildung genossen, konnte mit Religion an sich sowohl wegen seiner fehlenden Hebräischkenntnisse als auch – und vor allem – aufgrund eines fehlenden Interesses aber nur wenig anfangen.150 Seine chassidisch-kulturelle Prägung kam von seiner Leidenschaft zur Literatur im Allgemeinen und 146 Nadler, Allan, Art. „Misnagdim“, in: YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Online-­Edition 27. Oktober 2010. (http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Misnagdim, Stand 17. 04. 2017). 147 Harshav (2004), S. 358. 148 Ebd., S. 359. 149 „[…] I see his major role in German art. In Germany, there was no greater than him in the nineteenth and twentieth centuries. But he made a mistake, rare for a Jew but natural for a German: he went to study art not in Paris but in Holland. Hence, both Paris and Art took vengeance on him, Liebermann’s art assumed the specifically Dutch grayness of Israels [sic] and did not place him on the same level as the French Impressionists Monet, Renoir, Pissarro, Sisley“, Harshav (2004), S. 359. 150 Ebd., S. 29 f.

Chagalls Vokabular     | 143

der jiddischen Literatur im Besonderen. Sabine Koller, die in ihrer 2012 erschienenen Untersuchung Marc Chagall – Grenzgänge zwischen Literatur und Malerei sehr detailliert und eindringlich Chagalls Bezug zur jiddischen Literatur nachzeichnet, stellt fest, dass der Maler eine starke Verbindung zu Sprachen, Schriften und ihren visuellen Formen hatte.151 Während Benjamin Harshav den Leser seines 2004 erschienenen, umfangreichen Werkes zu Chagalls Leben und Schaffen über die tatsächlichen Sprachkenntnisse des Künstlers aufklärt und damit deutlich wird, dass Chagall weitaus weniger polyglott war, als seine zahlreichen Korrespondenzen mit französischen, deutschen, russischen, jiddischen, israelischen und amerikanischen Literaten und Künstlern suggerieren152, betont Koller, dass Chagalls Verwendung der lateinischen, kyrillischen und hebräischen Schriften u. a. zum Signieren der Bilder seine mehrfache Identität offenbaren. Chagall bewegte sich „zwischen der (ost)jüdisch-russischen und der westeuropäisch-französischen Kultur“.153 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass für Chagall weniger der durch Sprache verbal überlieferte Inhalt zählte. Für ihn stand die Sprache in ihrer visuellen Wahrnehmung stellvertretend für ganze Kulturen. Das Russische verband er mit seinen Erfahrungen in der Kindheit bis hin zu seinem Engagement in der Sowjetunion, das Lateinische mit der Schönheit von Paris und der französischen modernen Malerei und das Hebräische mit der jiddischen Literatur, seiner ewigen Erinnerung an die Heimat Witebsk. „Bild, Sprache und Identität verschmelzen zu einer (ästhetischen) Einheit“154, so Koller. Die jiddische Literatur diente Chagall als ein gewaltiger Fundus an Motiven, Symbolen und Metaphern. Er bediente sich jiddischer Redewendungen, um Themen und Assoziationen in Szene zu setzen. Es überrascht nicht, dass Marc Chagall, wie Koller anmerkt, die bewusste und systematische Verwendung von Redewendungen in seinen Bildern bestritt.155 Es hätte den Zauber und den Mythos um seine Motive sicherlich getrübt. Man muss ihm allerdings soweit recht geben, dass er anders als Pieter ­Bruegel der Ältere in der niederländischen Malerei des 16. Jahrhunderts oder Wladimir Majakowskij in der futuristischen Literatur und Poesie der russischen Avantgarde der

151 Koller, Sabine, Marc Chagall – Grenzgänge zwischen Literatur und Malerei, Köln 2012, S. 88 f. 152 Harshav beschreibt, dass Chagall in all den Ländern, in denen er gelebt hatte, meistens auf Jiddisch – und damit nur in bestimmten Kreisen – kommunizierte. Russisch und Jiddisch waren die Sprachen, die er vermutlich am besten beherrschte. Er hatte das Jiddische lediglich als gesprochene Sprache seines Elternhauses kennengelernt und verschriftlichte die Worte nach Gehör. Das Russische allerdings verlor er mit den Jahren des Exils immer mehr. Er sprach laut Harshav kaum Englisch und beherrschte Französisch nur rudimentär, Harshav (2004), S. 12 f. Ähnlich sieht es auch Aaron Rosen, der Chagalls Aufenthalt in New York als ein weiteres Exil für den Künstler beschreibt, der aufgrund der schlechten Englischkenntnisse verstärkt den Kontakt zu europäisch-­ jüdischen Flüchtlingen suchte und pflegte, Rosen, Aaron, Imagining Jewish art. Encounters with the masters in Chagall, Guston, and Kitaj, London 2009, S. 29. 153 Koller (2012), S. 89. 154 Ebd., S. 94. 155 Ebd., Fußnote 258.

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29  Marc Chagall, Russland, den Eseln und den anderen, 1911, Centre Pompidou, Musée national d’art moderne, Paris/Frankreich

Chagalls Vokabular     | 145

1920er-Jahre keine alltäglichen Sprüche zum expliziten Gegenstand der Kunst machte.156 Vielmehr kontextualisierte er einzelne Elemente und nutzte sie zum besseren Ausdruck seiner künstlerischen Ideen. Marc Chagall gebrauchte in den 1910er- und 1920er-Jahren verstärkt Redewendungen als Motive in seiner Kunst.157 Einzelne Elemente ziehen sich entsprechend durch seine Werkphasen in Paris, Witebsk und Berlin. Ein Werk, das zu den komplexeren seines frühen Œuvres gehört, soll an dieser Stelle exemplarisch genauer betrachtet werden. Das Bild Russland, den Eseln und den anderen entstand 1911 (Abb. 29) und gehörte zu den drei beim „Ersten Deutschen Herbstsalon“ 1913 in der Galerie Der Sturm von ­Herwarth ­Walden ausgestellten Werken des Künstlers. Es ist nicht nur eins der berühmtesten Werke Chagalls, es gehört auch zu denjenigen Bildern, die sich nicht plakativ einer gewissen Chagall’schen Stetl-Symbolik bedienen und keinerlei leicht erkennbare, vermeintlich „jüdische“ Symbole enthalten. In seinen ersten Pariser Jahren zwischen 1911158 und 1914 kam Chagall mit zahlreichen französischen Künstlern und aktuellen Kunstbewegungen der Zeit in Berührung. Er besuchte zahlreiche Museen und Galerien, um die europäische Kunsttradition besser zu verstehen. Einflüsse von Künstlerkollegen wie Robert Delaunay und Pablo Picasso sind in den Werken dieser Jahre deutlich zu erkennen. Neben den sich in Frankreich manifestierenden Entwicklungen des Kubismus und Kolorismus ist auch der Neoprimitivismus der russischen Avantgarde, begründet durch Natalja Gontscharowa und Michail Larionow, für Chagall eine Inspirationsquelle.159 Vor dem Hintergrund verschiedener Einflüsse sticht das Werk Russland, den Eseln und den anderen besonders hervor, da diese nicht eindeutig festzuhalten sind. Anders als in Ich und das Dorf (Abb. 30) von 1911 und Hommage an Apollinaire (Abb. 31) ebenfalls von 1911 sind hier die kubistischen, koloristischen und fauvistischen Elemente subtiler. Auf dem hochrechteckigen, in dunklen Farben gehaltenen Bild erkennt der Betrachter eine Kuh und eine sich zum Melken schwebend nähernde weibliche Figur mit abgetrenntem Kopf. Die gesamte Komposition ist über den Dächern eines im unteren Viertel des Bildes dargestellten nächtlichen Dorfes angesiedelt. Während die Figuren in ihrer Größe, Farbgebung und Bewegung den physikalischen Gesetzen und damit einem möglichen Naturalismus entgegenstehen, scheint die Stadt unter ihnen umso realistischer. Dächer, Fenster und vor allem die runde Kuppel einer Kirche, die an ihrem Scheitelpunkt ein großes Kreuz trägt, sind leicht zu identifizieren. Durch die Anordnung der Gebäude und die Farbgebung der Figuren und der Bauten ist das Bild vertikal in zwei Teile gegliedert: Über dem linken Haus mit dem Giebeldach befindet sich die Kuh, und über der Kirche 156 Ebd., S. 95. 157 Ebd., S. 97. 158 Nach Chagalls Autobiografie kam er 1910 in Paris an. Vincent verweist allerdings darauf, dass sich Chagall erst seit dem Frühjahr 1911 in Paris aufhielt und dass die Datumsabweichung insbesondere für die Datierung von Chagalls Werken aus dieser Zeit nicht unwichtig ist, Vincent (2011), S. 59 f.; Wullschlager, Jackie, Chagall. A Biography, New York 2008, S. 123. 159 Vincent (2011), S. 59 f.

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30  Marc Chagall, Ich und das Dorf, 1911, Museum of Modern Art, New York/USA

31  Marc Chagall, Hommage an Apollinaire, 1911, Stedelijk Van Abbemuseum, Eindhoven/ Niederlande

Chagalls Vokabular     | 147

schwebt die Frau mit dem Melkeimer.160 Der linke Teil des Werks, der etwa zwei Drittel des Bildes einnimmt, wird dominiert von der in Rot- und Weißtönen dargestellten Kuh. Das Tier nährt ein Kalb und ein Kind gleichermaßen, die beide unter ihrem Bauch an ihrem Euter zu saugen scheinen. Sabine Koller macht bei diesem Werk gleich auf zwei jiddische Sprichwörter aufmerksam: Das eine lautet: „A ku iz ibern dach gefloygn un hot an ey geleygt“ (eine Kuh flog über das Dach und legte ein Ei). Eine weitere Version desselben Sprichworts lautet: „A kuh is über’n dach geflojgen, un hot an ej ferlojren.“ Ignaz Bernstein und Benjamin Segel weisen darauf hin, dass diese Redewendung als Antwort an jemanden gerichtet wird, der eine unglaubliche Geschichte erzählt.161 Ein weiterer Spruch, den Koller erwähnt, ist: „Kolzman di beheyme lozt zikh melkn, firt men zi nit zum shoykhet“ (solange sich das Vieh melken lässt, führt man es nicht zum Schächter).162 Eindeutige Elemente lassen die Assoziation mit diesen beiden Redewendungen zu. Der Bauch der roten Kuh ist weiß und eiförmig. Die Tatsache, dass sie sowohl ein Kalb als auch ein Kind nährt und darüber hinaus noch mehr Milch abgeben soll, spricht für ihren großen Nutzen. Um die Nützlichkeit des Tieres geht es auch, wenn man die zweite von Sabine Koller angesprochene Redewendung verwendet.163 Die Darstellung einer roten Kuh ist außerdem meist biblisch konnotiert. Darauf nimmt auch das Sprichwort Bezug: „Ejn rojte kuh ist du auf der welt?“ (Eine rote Kuh gibt es auf der Welt?) Hierbei handelt es sich um eine ironische Frage, die man jemandem stellt, der etwas Gewöhnliches für einzigartig ausgibt.164 Man ist versucht, einen Zusammenhang zwischen der roten Kuh, dem „Sündopfer“165 aus der jüdischen Heiligen Schrift, und der darunter dargestellten Kirche herzustellen. Gerade bei möglichen Anspielungen der erwähnten Redewendungen auf die Unglaubwürdigkeit der Religionen entsteht beinahe eine heimliche humoristische Atmosphäre, die sich nur einem Betrachter mit fundierten Kenntnissen der jiddischen Sprache und Literatur erschließt. Die Darstellung des Dorfes im Vordergrund des Bildes ist an die kubistische Malweise angelehnt. Die Dächer der Häuser und der Kirche sowie die angedeuteten Fensterrahmen bestehen aus zusammengesetzten ­geometrisierten 160 Vincent führt die Verwendung von geometrischen Farbflächen auf den Einfluss Delaunays zurück, wobei Chagall diese nutzte, um die Symbolik im Bild hervorzuheben, ebd., S. 62. 161 Bernstein (1908), S. 233 (Online-Ausgabe der Freimann-Sammlung der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/ content/pageview/4015331, Stand 17. 0 4. 2017). 162 Koller (2012), S. 97. 163 Shirley Kumove, die nach dem Holocaust durch Umfragen unter jüdischen Migranten aus Osteuropa in den USA eine umfangreiche Sammlung jiddischer Sprüche und Redewendungen zusammenstellen konnte, wählte für ihre Sammlung die Sortierung nach Deutungsschlagworten. Das Sprichwort zum Melken der Kuh ist unter dem Stichwort „Necessity“ zu finden, vgl. Kumove, Shirley, More words, more arrows. A further collection of Yiddish folk sayings, Detroit, 1999, S. 12, 221 f. 164 Bernstein et al. (1908), S. 233. 165 Wiener, Max, Art. „Opfer“, in: Herlitz, Elbogen, Kirschner ([1930] 1987), Bd. 4,1 (Me-R), Sp. 578– 581, hier besonders Sp. 581 (Online-Ausgabe der Freimann-Sammlung der Universitätsbibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/ content/pageview/365285, Stand 17. 0 4. 2017).

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Farbflächen mit wechselnder Perspektive. Je weiter der Blick des Betrachters über das Bild nach oben wandert, desto abstrakter wird die Darstellung. Selbst die Figuren, die Kuh und die Frau, sind ansatzweise in geometrische Formen unterteilt. In der oberen Hälfte des Bildes platzierte Chagall am linken und oberen Rand zwei konturlose Farbflächen in Dunkelgrün, Blau, Gelb und Dunkelrot. Die Farben korrespondieren mit der Darstellung darunter und greifen die Farbgebung des Melkeimers, des Kindes und des Kalbs unter der Kuh sowie der Kuh selbst auf. Was die Aufmerksamkeit des Betrachters allerdings besonders auf sich zieht, ist der von der weiblichen Figur abgetrennte Kopf, der schräg rechts über ihrem Körper in der rechten oberen Ecke des Bildes schwebt. Die Komposition gibt die Lesrichtung des Bildes vor: Der Blick des Betrachters wird geführt vom Trog, dem Kopf und dem Körper der Kuh über die hoch zum Euter gereckten Köpfe des Kalbs und des Kindes zum Melkeimer, der linken Hand der Frau, zu ihrem rechten Unterarm und der offenen rechten Hand, über einen zwischen Hand und offenem Mund des Kopfes befindlichen farbigen Strahl und über die weit geöffneten Augen der Figur zu den Farbflächen in der Mitte des oberen Randes.166 In dieser Reihenfolge geben die einzelnen Elemente die Steigerung der Abstraktion wieder. Über die genaue Aussage des Bildes rätseln Kunstkritik und Wissenschaft bis heute.167 Chagall selbst betonte stets, dass ihm die formale Lesart seiner Bilder wichtiger war als die symbolische. Dazu sagte 166 Meyer erkennt in der Komposition ein „geometrisches Liniennetz“, dem die einzelnen Bildelemente folgen. Dieses ursprünglich angelegte Netz wurde allerdings von Chagall wieder aufgehoben, indem er den konstruktiven Formen der Elemente folgte. Die Verwendung eines geometri­ schen Rasters führt Meyer auf den Einfluss von Albert Gleizes (1881–1953) und Jean Metzinger (1893–1956) zurück, die sich ebenfalls mit einer geometrischen „Ordnung im Bilde“ beschäftigten, Meyer, Franz, Marc Chagall. Leben und Werk, Köln 1961, S. 153. 167 Franz Meyer betonte zwar, dass das Lesen der Symbole im Bild nicht in Chagalls Sinne war. Gleichzeitig gab er gleich zwei mögliche Lesarten des Bildes vor: eine symbolische und eine formale. Nach der oben erwähnten formalen stellt Meyer die symbolische Interpretation vor, die eine recht mystische ist und von Heinz Demisch stammte. Er meinte, darin die Darstellung der „Himmelssehnsucht und himmlischer Speisung“ zu erkennen, also eine Hinwendung zu den oberen, überirdischen Kräften, Demisch, Heinz, Vision und Mythos in der Modernen [sic] Kunst, Stuttgart 1959, S. 72 ff.; vgl. Meyer (1961), S. 153, Fußnote 6. Danièle Giraudy und Jean-Paul Rioux sehen in dem mystischen Bild biografische Elemente Chagalls, die sie mit Zitaten aus Ma vie von Marc Chagall zu belegen versuchen. So erwähnt Chagall in seiner Autobiografie die Sterne von Witebsk, die ihn in seiner Kindheit überall hin begleiteten. In der Darstellung des Sternenhimmels, aber auch des Trogs („Was mir zuerst in die Augen sprang, war der Trog. Einfach, wuchtig, halb hohl, halb oval. Ein Trog vom Trödelmarkt. Einmal drin, füllte ich ihn ganz aus“, Chagall [1959], S. 5; „Zu jener Zeit gab es noch kein Kino. Man ging nach Haus oder in den Laden. Das ist die nächste Erinnerung an meinen Trog. Ich sage nichts vom Himmel, von den Sternen der Kindheit. Das sind meine Sterne, die sanften: sie begleiten mich zur Schule und warten auf mich auf der Straße, bis ich wiederkomme. Ihr Armen, verzeiht mir. Ich habe euch allein gelassen in so schwindelnder Höhe!“, ebd., S. 6. In der Kuh (Meyer [1961], S. 145, 153), dem Kalb, dem Melkeimer und der Kirche (ebd., S. 110), die alle einzeln auf verschiedene biografische Erinnerungen Chagalls hindeuten, sehen die Autoren einen Versuch des Künstlers, seine Kindheit wiederzugeben (ebd., S. 13), vgl. Giraudy, Danièle; Rioux, Jean-Paul, „À la Russie, aux ânes et aux autres“. Une histoire d’éclipse, in: À la Russie, aux ânes et aux autres. Un chef-d’œuvre de Marc Chagall, Nizza 1997, S. 22–36, hier S. 33. Sabine Koller fragt sich gar, ob Chagall hier auf die Remus-und-Romulus-Sage Bezug nahm, ­Koller (2012), S. 97.

Chagalls Vokabular     | 149

er 1944 in einem Interview mit dem Kurator James Johnson Sweeney anlässlich seiner Retrospektive im Museum of Modern Art in New York im April 1946: Just as before the war of 1914, I constantly had the word literature, or „literary painting“ thrown at me, now I am constantly said to be a maker of fairy-tales and of fantasies. As a matter of fact, my first aim is to construct my picture architecturally, just as in their day the impressionists did, and cubists did – along the same formal paths. The impressionists filled their canvases with spots of light and shadow. The cubists with cubic, triangular, and round shapes, I try to fill canvases in some fashion with objects and figures employed as forms – sonorous forms like noises – passion-­ forms which should give a supplementary dimension impossible to achieve through the bare geo­ metry of the cubists’ lines or with the spots of the impressionists. I am against the terms „fantasy“ and „symbolism“ in themselves. All our interior world is reality – and perhaps more so than our apparent world. To call everything that appears illogical, „fantasy“, fairy-tale, or chimera – would be practically to admit not understanding nature. […] [P]lease defend me against people who speak of „anecdote“ and „fairy tales“ in my work. A cow and a woman to me are the same – in a picture both are merely elements of composition. In painting, the images of a woman or of a cow have different values in plasticity, – but not different poetic values. As far as literature goes, I feel myself more „abstract“ than Mondrian or Kandinsky in my use of pictorial elements. „Abstract“ is not in the sense that my painting does not recall reality. […] What I mean by „abstract“ is something which comes to life spontaneously through a gamut of contrasts, plastic at the same time as psychic, and pervades both the picture and the eye of the spectator with conceptions of new and unfamiliar elements.168

Meyer zitiert Chagall – ebenfalls aus dem oben erwähnten Interview mit Sweeney – sogar mit den Worten „Man darf kein Bild mit Symbolen machen. […] Man soll nicht mit den Symbolen anfangen, sondern zum Symbol kommen – der Symbolismus ist unvermeidbar“.169 Zu der Verwendung einzelner wiederkehrender Bildelemente, die das Basisvokabular Chagalls bestimmten, sagte der Maler: The fact that I made use of cows, milkmaids, roosters and provincial Russian architecture as my source of forms is because they are part of the environment from which I sprang and which undoubtedly left the deepest impression on my visual memory of the experiences I have. Every painter is born somewhere. And even though he may later respond to the influences of other atmospheres, a certain essence – a certain „aroma“ of his birthplace clings to his work. But do not misunderstand me: the important thing here is not „subject“ in the sense of the pictorial „subjects“ that were painted by the old academicians. The vital mark these early influences leave is, as it were, on the handwriting of the artist. […] This is the manner in which I hope I have preserved the influences of my childhood not merely in subject matter.170

Der Titel des Bildes gibt keinen Hinweis auf den Inhalt. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn es ist bekannt, dass Chagall seinen Bildern selten selbst Titel gab. Und auch dieses Werk erhielt seinen Titel von Blaise Cendrars.171 Unklar bleibt, ob die Bedeutung der verbildlichten Redewendungen dem Betrachter Näheres über die Darstellung verrät. Zum abgetrennten Kopf der Hauptfigur des Bildes sagte Chagall: „In the case of the decapitated woman with milk pails, I was first let to separating her head from her body 168 Sweeney, James Johnson, An Interview with Marc Chagall, in: Partisan Review II, New York, Bd. 11, Nr. 1 Winter 1944, S. 88–93, zit. nach Harshav (2003), S. 79–87, hier S. 82 f. 169 Sweeney (1944), S. 89, zit. nach Meyer (1961), S. 14. 170 Harshav (2003), S. 83. 171 Schulmann, Didier, À la Russie, aux lâmes et aux autres …, in: À la Russie (1997), S. 18–21, hier S.  18 f.

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merely because I needed [to fill in] [Ergänzung von Harshav, Anm. d. Verf.] an empty space there. […] Whatever else may have grown out of these compositional arrangements is secondary.“172 Tatsache ist jedoch – und das macht das Bild als Beispiel so bedeutend –, dass ein des Jiddischen mächtiger Betrachter des Bildes das Werk anders sieht und versteht als jemand, der die Sprache und die Redewendungen nicht kennt. Damit erreichte Chagall den höchsten Grad an Jüdischer Kunst in einem abstrakten Bild, mehr als jeder andere vor und auch nach ihm, inklusive herausragender abstrakter Maler wie El Lissitzky und Issachar Ber Ryback. Marc Chagall ist der einzige Künstler, dem es gelungen ist, in ein abstraktes Kunstwerk eine als jüdisch zu lesende Metaphorik zu implementieren. Selbst wenn dies auch einem nichtjüdischen Künstler hätte gelingen können, muss man Chagall zugutehalten, dass er die Idee der Jüdischen Kunst tatsächlich in ein Bild tradiert hat und damit einen wesentlichen Schritt weiter gegangen ist als zahlreiche seiner Zeitgenossen ­gleichen Backgrounds.173 Die Brücke zur jüdischen Stetl-Literatur des 19. Jahrhunderts war dem Betrachter der Bilder geläufiger als die auf mittelalterlichen Friedhöfen gesammelten Symbole und Verzierungen der Kultur-Lige-Künstler. Außerdem bot das mystisch-fantastische Genre dem Maler genügend Freiheit zur künstlerischen Abstraktion, um weit über das Figürliche einer Geschichte hinauszugehen. Der abgetrennte Kopf der weib­ lichen Figur bildet – als sei dem Betrachter durch Magie der Kopf verdreht – den Höhepunkt des Abstrakten, Nichtfassbaren in der Welt von Marc Chagall und öffnet dem Betrachter wie in chassidischer Trance die Augen für eine unwirklich reale Welt des jüdischen Osteuropas.

172 Harshav (2003), S. 83. Der verdrehte oder abgetrennte Kopf ist ein wiederkehrendes Motiv in ­C hagalls Bildern dieser Zeit. Neben Russland, den Eseln und den anderen sei in dieser Reihe auch das Werk Der Trinker von 1911 erwähnt. Auch hier kann man davon ausgehen, dass die Abtrennung hauptsächlich auf kompositorische Gründe zurückzuführen ist, auch wenn Meyer nach ­einer ausführlichen formalen Bildanalyse eine symbolische Deutung vorschlägt. Meyer meint in der Darstellung des vom Rupf abgetrennten Kopfes, der sich der Flasche nähert, eine Mahnung zu lesen: „Wer den Kopf verloren hat, sucht sich einen fiktiven Körper in der primitiven Lustbefriedigung“, Meyer (1961), S. 139. Die Darstellung des verdrehten Kopfes wie z. B. in Der heilige Droschkenkutscher kann, wie Koller am Beispiel eines späteren Bildnisses Chagalls aufzuzeigen versucht, ebenfalls auf ein jiddisches Sprichwort zurückgeführt werden. Wenn etwas eine große Gefühls­regung in einem weckt, dann spricht man von „fardreyt dem kop“ (den Kopf verdreht), Koller (2012), S. 96. 173 Dies erkannten durchaus auch Chagalls Zeitgenossen. Laut Wolitz basierte die Faszination jüdischer Künstlerkollegen wie Aronson und Ryback darauf, dass Chagall in ihren Augen das jüdische Alltagsleben allgemein verständlich wiedergeben konnte und damit das Jüdische in das Vokabular der universellen Sprache integrierte, Wolitz (1987), S. 36.

SCHLUSSBETRACHTUNG

„Gibt es eine Jüdische Kunst?“ – Mit dieser Frage beginnen zahlreiche Bücher und Aufsätze, die sich Kunstwerken und Lebenswegen von Künstlern jüdischer Abstammung widmen. Nicht immer wird das Judentum in den Werken jener Künstler thematisiert. Auf der Suche nach einer besseren und oftmals simpleren Deutung der Kunstwerke aber spielt für Betrachter, Wissenschaftler und Kunstkritiker die Biografie des Künstlers oft eine entscheidende Rolle. Je mehr Leid und Trauer in der Biografie zu finden ist, desto mehr meinen wir als Betrachter, diese Trauer in den Bildern zu erkennen, selbst wenn diese voller leuchtender Farben und schönster Motive sind. Sollte man an dieser Stelle herausgefunden haben, dass der besagte Künstler jüdischer Abstammung war, öffnet sich eine bestimmte Interpretationsschublade, die nur sehr schwierig wieder zu schließen ist. Jüdische Künstler des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts hatten historisch bedingt in ihren Biografien oft von viel Leid zu berichten, somit scheint das Jüdischsein eines Künstlers bis heute, zumindest auf populärwissenschaftlicher, pädagogischer Ebene der Museumsausstellungen, zwangsläufig ausschlaggebend für die Interpretation seines künstlerischen Ausdrucks und seines Œuvres zu sein. Dieser Interpretations­ ansatz ist zu einfach und greift schlicht zu kurz, um der Tragweite der Kunst der klassischen Moderne gerecht zu werden. Und dennoch hängt das Phänomen der Bestimmung der Herkunft des Künstlers mit dem Begriff der Jüdischen Kunst zusammen. Diese Zuordnung eines Menschen zu einer mit bestimmten Attributen und Erfahrungen versehenen Gemeinschaft ist genauso ein Relikt der Vergangenheit wie die Bestimmung einer Jüdischen Kunst. Die Frage nach der Existenz der Jüdischen Kunst kann durchaus mit „Ja!“ beantwortet werden – sofern man diese als einen Terminus technicus für eine bestimmte kunsthistorische Bewegung definiert. Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die Definition der Jüdischen Kunst aus kunsthistorischer Perspektive zu untersuchen. Dies setzt zunächst die Akzeptanz dieses Begriffs voraus. Die Existenz des Begriffs infrage zu stellen ist paradox, hat er doch in der Forschungsliteratur einen festen Platz und wird immer näher definiert und geschärft. Entgegen der Erwartung, eine Jüdische Kunst in den eindeutig zuzuordnenden Kunstwerken in Geschichte und Gegenwart vorzufinden, wird durch Untersuchungen von Werken anhand kunstwissenschaftlicher Methoden deutlich, dass dieser Begriff

152 |     Schlussbetrachtung

keine künstlerische Qualität benennt, sondern ein historisches Phänomen der Kunstgeschichtsschreibung widerspiegelt.

Jüdische Kunst als politisches Instrument Die Manifestation des Begriffs „Jüdische Kunst“ begann im ausgehenden 19. Jahrhundert. In Anlehnung an die nationalen Bewegungen europäischer Völker war auch die jüdische Gemeinschaft darum bemüht, eine säkulare, nationale Kultur aufzubauen. Die historischen Begebenheiten und politischen Entwicklungen in unterschiedlichen europäischen Regionen, die in der vorliegenden Arbeit im Hinblick auf die kulturellen Umwälzungen der Gesellschaften ausführlich beleuchtet wurden, spielten dabei eine große Rolle. Die Juden Europas waren im Zeitraum zwischen 1880 und 1920 gleichermaßen physischer Bedrohung wie intellektuellem Umbruch ausgesetzt. Die jüdische Gesellschaft, vormals stark traditionalistisch, nun modern politisch, drohte unter diesem Druck zu zerreißen. Diese Aufbruchsstimmung herrschte in ganz Europa um die Jahrhundertwende, und diese Zeit war nicht nur für jüdische Künstler eine Zeit des Wandels und großer politischer Veränderungen. Der Kulturzionismus orientierte sich stark an der nationalen Bewegung Deutschlands und spielte besonders für die Definition des Selbstverständnisses der Juden Europas eine starke Rolle. Ein wesentlicher Unterschied zum deutschen Nationalismus war allerdings, dass die Juden keine Überlegenheit über andere Völker für sich beanspruchten. Ihnen ging es vielmehr um das bisher nicht vorhandene eigene Land. Kunst und Kultur ersetzten dabei den Überlegenheitsgedanken durch das Alleinstellungsmerkmal, das die Juden als eine zusammengehörige Gemeinschaft definieren sollte. Der moralische rote Faden unter allen Juden sollte dabei die besondere jüdische Erfahrung darstellen, die insbesondere durch die fehlende Selbstbestimmung und Verfolgung geprägt war. Martin Buber beschäftigte sich mit Kunst in diesem Zusammenhang nur insofern, als es die Konzeption einer neuen, unabhängigen, starken, selbstständigen und wehrhaften jüdischen Gesellschaft erforderte. Er ging politisch vor und argumentierte für eine Jüdische Kunst, die ausschließlich auf eigenem Boden entstehen könne. Damit existierte für ihn eine Jüdische Kunst nach der Vertreibung der Juden aus dem Heiligen Land, sprich in der Diaspora, nicht. Nichtsdestotrotz sprach er ganz bewusst über die Jüdische Kunst, die als Resultat einer neuen jüdischen Gesellschaft an die Lebendigkeit der antiken jüdischen Kultur anknüpfen könnte. Buber war von einer Kontinuität der jüdischen Kultur und damit der Kunst überzeugt. Doch war sie für ihn zu seiner Zeit nur bedingt existent. Denn trotz seiner Argumentation gegen eine existente Jüdische Kunst zeigte er beim Zionistenkongress in Basel eine Ausstellung von Künstlern des 19. Jahrhunderts. Den Widerspruch kaschierte er als gekonnter Redner, indem er in die ausgestellten Werke das besondere Leid der Diaspora hineindichtete. Diese Kunst sprach zwar für die künstlerische Fähigkeit, wäre aber nach Buber in einem eigenen Land wesentlich freier und expressiver gewesen.

Jüdische Kunst als politisches Instrument     | 153

Auch wenn die Zionisten die Idee einer neu geborenen Kultur in einem eigenen Staat propagierten, hatten sie doch nie für die gesamte Gemeinschaft sprechen können. Es waren gerade die zeitgenössischen Künstler der Diaspora, die ihnen widersprachen und für die Akzeptanz der Diaspora-Kultur einstanden. Sie widersprachen der Ablehnung des Jiddischen und der Einführung des Hebräischen als der einzigen Sprache der Juden. Sie suchten zu belegen, dass die Kunst auch in der Diaspora durchgehend unter den Juden blühte und diese Kultur zu schützen sei. Während die Künstler jüdischer Abstammung in Westeuropa und Deutschland sich eher selten mit den Zionisten auseinandersetzten (siehe Liebermann), waren es in Osteuropa gerade Künstler, die sich der Entwicklung einer neuen Gesellschaft und Kultur verschrieben. Ob die Aktivisten der Kultur-Lige wie El Lissitzky und Joseph Tchaikov oder Künstler der sowjetischen Anfänge wie Marc Chagall und David Shterenberg, sie alle waren Künstler, die sich der Politik zuwandten, um diese für die Kunst zu nutzen. Die Künstler der Kultur-Lige sahen in der Kunst ein pädagogisches Vehikel auf dem Weg zu einer neuen Gesellschaft. Sie wollten durch Erziehung und Bildung der Juden Osteuropas eine Identität stiften, die ihrer Meinung nach ohnehin in ihnen verwurzelt war. Die politische Realität holte sie allerdings mitten in ihrer Arbeit ein, sodass sie zur stärksten Wohlfahrtsorganisation für die Juden Osteuropas wurde. Mit der Errichtung der Sowjetunion war kein Platz mehr für nationale Identitätsstiftung. Es offenbarte sich der wahre Kern des Strebens: Künstler wie El Lissitzky und Josepf Tchaikov sahen als sowjetische Staatsbürger keinen Grund mehr zu einem nationalen Kampf. Die Aufbruchsstimmung verhieß Gleichheit und Gemeinschaftssinn unter allen sowjetischen Bürgern. Ihr Ziel war von Beginn an die Akzeptanz ihres Daseins und ihrer Kunst. Sie gingen in der neuen Idee auf, widmeten sich dem großen Ziel der Bildung einer neuen Gesellschaft und ließen die Kultur-Lige mit ihren leicht provinziellen Belangen hinter sich. Marc Chagall erkannte in dem Umbruch ebenfalls eine Möglichkeit der Durchsetzung eigener künstlerischer Vorhaben. Doch ging es ihm offenbar neben der Kunst noch um Macht und absolute Freiheit. Er instrumentalisierte als einer der wenigen Künstler die Politik für die Kunst und übernahm so lange hohe Posten in der sowjetischen Kulturpolitik, bis er auf Widerstand und Widerspruch stieß, den er offenbar grundsätzlich nicht gerne hatte. Er verließ die Sowjetunion, als er keinen Nutzen mehr darin sah zu bleiben. Die Frage nach der Jüdischen Kunst spielte für Chagall erst später wieder eine Rolle; in seinen ersten Tagen in La Ruche lehnte er sie noch ab. Die Beschäftigung mit der Definition einer national oder kulturell geprägten Kunst war für die meisten Künstler besonders spannend, weil sie ihnen die Möglichkeit zur völlig freien Entfaltung bot, ohne Vorgaben und akademische Kontrolle. Sie betrachteten es als Chance zur Neugestaltung und hatten ein Gefühl von Bedeutung. Damit ist die Jüdische Kunst in der Definition jener Künstler des Kulturzionismus und der Kultur-Lige ein Zeugnis für eine noch nie da gewesene Kraft der jüdischen Gemeinschaft zum Selbstverständnis und zur Selbstbestimmung auf kultureller und politischer Ebene.

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Künstlerische Perspektiven Die Bestimmung des Begriffs „Jüdische Kunst“ durch jüdische Künstler ist unabdingbar für den Diskurs über dessen Legitimation. Hätte es die Schriften der Künstler wie El ­Lissitzky, Joseph Tchaikov, Jankel Adler oder Marc Chagall nicht gegeben, wäre es ein rein artifizieller Begriff der zeitgenössischen Politik und der Wissenschaft. Daraus lassen sich zwei mögliche Vorstellungen ausmachen, was die Jüdische Kunst ist. Die erste und die gängigste Definition der Jüdischen Kunst durch Zeitgenossen war diejenige, die sie als eine historisch gewachsene Kunst definierte. Kunsthistoriker und Künstler sprachen von einer Tradition der Jüdischen Kunst, die es ja schon immer gegeben hätte, indem sie zum Beweis bis in die Zeit des Tempelbaus zurückgingen. Der Griff in die Geschichte bedingte die weitere Suche nach Beweisen einer Jüdischen Kunst bis in die Gegenwart hinein. So entstanden die Überblickswerke über jüdische Kunstwerke von Ernst Cohn-Wiener, Franz Landsberger u. v. m. Zur Förderung des Fortbestehens der jüdischen Kunsttradition empfahlen die Vertreter das Studium der jüdischen Folk­ lore, die in Osteuropa an zahlreichen Orten zu finden war. Das Verinnerlichen alter Symbole und Darstellungsweisen würde eine neue Kunstrichtung der Jüdischen Kunst hervorbringen. Diese Vorstellung wurde weniger von zeitgenössischen Künstlern als von politischen Aktivisten sowohl in Ost- als auch in Westeuropa vertreten, die zu Übertreibungen und zur Konstruktion von Zusammenhängen neigten. Die zweite, eher künstlerische Sicht der Jüdischen Kunst hatte einen modernen Zugang und lehnte die historische Herleitung dieser Kunst ab. Künstler, die sich in den zeitgenössischen Künstlerkreisen bewegten und sich immer stärker der Abstraktion und dem aufkommenden Expressionismus und Konstruktivismus zuwandten, hatten grundsätzlich ein geschichtsloses Verständnis von moderner Kunst – einer Kunst, die keine Geschichte hat und wahrhaftig neu ist. Diese Künstler lehnten die Folklore sowie das akademische Studium gänzlich ab und plädierten für eine noch nie da gewesene Kunst, gespeist durch die aufkommenden modernen Kunstrichtungen der klassischen Moderne Europas. Für sie war Politik zweitrangig und das Jüdische in der Kunst lediglich ein Vorteil, eine den anderen europäischen Künstlern unbekannte Sprache, die ihnen besondere Entwicklungsmöglichkeiten verschaffte.

Kunsthistorische Definition Max Liebermann und Marc Chagall hatten beide kaum Berührung mit dem Begriff der Jüdischen Kunst. Beide hatten zu verschiedenen Zeiten und unter unterschiedlichen Umständen auf den Begriff reagiert und sich positioniert. Beide Künstler tauchen aber in den Überblickswerken zur Jüdischen Kunst als Beispiele für diese auf. Dies ist nicht zuletzt der Kunstgeschichtsschreibung geschuldet, zu der die besagten Überblickswerke zu rechnen sind. Doch nicht nur Kunstwissenschaftler und -historiker zu Anfang des 20. Jahrhunderts auch diejenigen des ausgehenden 20. Jahrhunderts versuchten, den

Kunsthistorische Definition     | 155

Zusammenhang unter den Künstlern auf der Grundlage ihrer jüdischen Herkunft herzustellen. Dies ist, wie einleitend angedeutet, dem Versuch zuzuschreiben, den Beitrag jüdischstämmiger Künstler für die europäische Kultur hervorzuheben. Eine nationalistisch geprägte Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts sprach den Juden nicht nur ihre Kunstfähigkeit ab, sie duldete sie auf dem Weg zum Nationalsozialismus auch nicht in ihren Reihen. Nach der Schoah und den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs stellte sich auch die Kunstwissenschaft neuen Aufgaben. Die Disziplin der Geschichte – später gemeinsam mit den Jüdischen Studien – sah es als ihre Pflicht, die Propaganda des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts zu entwirren. Unter zahlreichen weiteren Themen spielte auch das Schicksal von Künstlern und Intellektuellen jüdischer Abstammung zunehmend eine Rolle. So erlebte der Begriff „Jüdische Kunst“ eine Renaissance, die Herangehensweise der Überblickswerke wurde fortgesetzt und ergänzt um die Künstler des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, für die den Zeitgenossen der zeitliche Abstand fehlte. Es entwickelte sich ein zusammenfassender Terminus, der künstlerische Tendenzen explizit jüdischstämmiger Künstler besonders in Deutschland und Ost­euro­pa des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis etwa zur Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 zusammenfasste. Damit bezeichnet der Begriff „Jüdische Kunst“ in der Kunstgeschichte eine Künstlergruppe in einer bestimmten zeitlichen Epoche, auf einem bestimmten geografischen Gebiet. Selten spricht die Forschungsliteratur von „religiöser jüdischer Kunst“, denn diese wird seit jeher als „Judaica“ bezeichnet. Von einer „modernen jüdischen Kunst“ ohne religiösen Bezug spricht man heute kaum. Im Juli 2013 wurde vom Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in Zusammenarbeit mit dem Seminar für Kunstgeschichte der Universität Basel eine Tagung zum Thema „Memory and Journey – Dimensions of Jewish and Israeli Art“ veranstaltet. Zahlreiche renommierte Wissenschaftler aus den USA, Israel, Deutschland und anderen Ländern, wie Dr. Inka Bertz (Jüdisches Museum Berlin), Prof. Richard I. Cohen (Hebrew University, Jerusalem, Israel), Prof. Steven Fine (­Yeshiva University, New York City, USA), Prof. Milly Heyd (Hebrew University, Jerusalem, Israel), Prof. Margaret Olin (Yale University, New Haven, CT, USA), Prof. Mirjam ­Rajner (­Bar-Ilan University, Ramat-Gan, Israel), Prof. Dr. Annette Weber (Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg) und viele mehr, nahmen an der Konferenz teil und stellten sich erstmals der Frage, ob ein Zusammenhang zwischen den Begriffen „Jüdische Kunst“ und „Israelische Kunst“ besteht. Die Erkenntnis nach drei Tagen und vielen intensiven Diskussionen war vor allem, dass die Wissenschaftler für ihre jeweiligen Forschungsbereiche von unterschiedlichen Definitionen des Begriffs „Jüdische Kunst“ ausgehen und damit eine Grundlage für die Diskussion noch nicht geschaffen ist. Der Begriff der „Israelischen Kunst“ bereitete weniger Schwierigkeiten, da damit die moderne und zeitgenössische Kunst aus Israel bezeichnet wird und so besonders im Bereich des Kunsthandels schneller eine Zuordnung findet. Und obwohl die Künstler, die auch nach der üblichen, weiter oben beschriebenen kunsthistorischen Herangehensweise als Vertreter der Jüdischen Kunst und der klassischen Moderne gelten und in Israel in den Museen

156 |     Schlussbetrachtung

stark verbreitet sind, und auch der israelische Kunstmarkt die Zuordnung „Jewish Art“ kennt, wird der Zusammenhang zwischen diesen Künstlern und der zeitgenössischen Kunst – ob „jüdisch“ oder „israelisch“ – offenbar nicht hergestellt. Diese Entwicklung spricht für ein zeitliches Ende der erwähnten Epoche noch vor der Schoah. Die israelischen Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schufen zwar eine Kunst, die auf der Kunst der klassischen Moderne aufbaute, griffen ähnlich wie europäische jüdische Künstler auf das Bildvokabular der hebräischen Sprache und bestimmte Motive aus dem jüdischen Alltag zurück, sie hatten dabei allerdings deutlich weniger Einfluss auf die europäische Kunstentwicklung als die Künstler der Kultur-­ Lige oder auch der kulturzionistischen Sympathisanten. Damit wird auch der Einfluss der jüdischstämmigen europäischen Künstler auf die Kunstentwicklung Europas im 20. Jahrhundert besonders deutlich. Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass Max Liebermann als ein „jüdischer Künstler“ gelten kann, weil er keine explizit christliche Erfahrung in seinen Werken verarbeitete. Jeder andere, ähnlich gebildete Künstler jener Zeit wäre zwangsläufig christlich geprägt gewesen. Dies macht Liebermanns Kunst dennoch nicht zu Jüdischer Kunst. Dies erfolgt nur durch die Zuschreibung Dritter, die seine Kunst in einen thematischen Kanon hineinkonstruieren. Die Auseinandersetzung mit Marc Chagall hat darlegen können, dass die heute gängige Markenbildung eines Künstlers bereits im frühen 20. Jahrhundert existierte. Das Alleinstellungsmerkmal Chagalls als „jüdischer Künstler“ brachte ihm ewigen Ruhm ein und machte ihn konkurrenzlos. Auch sein Kampf für die Gründung Jüdischer Museen, in denen seine Werke weltweit stets zum Grundprogramm der Sammlungen gehören, hat seine Kunst unsterblich gemacht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Begriff „Jüdische Kunst“ zwar mittler­ weile allein durch dessen Verwendung in der kunsthistorischen Forschung eine Berechtigung erlangt hat. Er hält aber weiterhin keiner kunsthistorischen Analyse von Kunstwerken stand. Keine kunsthistorische Methode kann das Jüdische eines Kunstwerkes bestimmen, und keine Kategorie erlaubt die Bestimmung eines Kunstwerkes als „jüdisch“. Das ist auch gut so.

ANHANG

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Gesetze und Edikte Online-Ausgaben Sammlung der Gesetze und Erlasse des Russischen Imperiums sind im Rahmen des Digitalisierungsprojektes der Russischen Nationalbibliothek online abrufbar und durchsuchbar. Der Link ruft jeweils die Suchfunktion auf, die bei der Eingabe des gesuchten Paragrafen zur gescannten Seite der Gesetzessammlung führt. Полное собрание законов Российской империи. Собрание первое. Том 28. 1804–1805 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Erste Sammlung, Band 28 [Übers. d. Verf.]), 1804–1805, S. 731, § 4 (http://www.nlr.ru/e-res/law_r/search.php [in Russisch], Suche nach Zeitraum 1649–1825, Gesetzesnummer 21547, § 4, S. 731, Stand 17. 0 4. 2017). Высочайше утвержденное 9 декабря 1804 года, Положение. О устройстве Евреев, Полное собрание законов Российской империи. Собрание первое. Том 28. 1804–1805 (Bestimmung vom 9. Dezember 1804, Umstand. Über die Verfassung der Juden, Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Erste Sammlung, Band 28 [Übers. d. Verf.]), 1804–1805, S. 734, § 32 (http:// www.nlr.ru/e-res/law_r/search.php [in Russisch], Suche nach Zeitraum 1649–1825, Gesetzesnummer 21547, § 32, S. 734, Stand 17. 0 4. 2017). Полное собрание законов Российской империи. Собрание первое. Том 28. 1804–1805 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Erste Sammlung, Band 28 [Übers. d. Verf.]), 1804–1805, S. 736, §44 (http://www.nlr.ru/e-res/law_r/search.php [in Russisch], Suche nach Zeitraum 1649–1825, Gesetzesnummer 21547, § 44, S. 736, Stand 17. 0 4. 2017). Полное собрание законов Российской империи. Собрание второе. Том 10. Отделение первое. 1835 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Zweite Sammlung, Band 10 [Übers. d. Verf.]), 1835, S. 309, § 2 (http://www.nlr.ru/e-res/law_r/search.php [in Russisch], Suche nach Zeitraum 1825–1881, Gesetzesnummer 8054, S. 309, § 2, Stand 17. 0 4. 2017). Полное собрание законов Российской империи. Собрание второе. Том 10. Отделение первое. 1835. СПб., 1836 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Zweite Sammlung, Band 10, Erster Teil [Übers. d. Verf.]), 1835–36, S. 309, § 3–5 (http://www.nlr.ru/e-res/law_r/­ search.php [in Russisch], Suche nach Zeitraum 1825–1881, Gesetzesnummer 8054, S. 309, § 3–5, Stand 17. 04. 2017). Полное собрание законов Российской империи. Собрание второе. Том 10. Отделение первое. 1835 СПб., 1836 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Zweite Sammlung, Band 10, Erster Teil [Übers. d. Verf.]), 1835, S. 309 f., § 7 (http://www.nlr.ru/e-res/law_r/search.php [in Russisch], Suche nach Zeitraum 1825–1881, Gesetzesnummer 8054, S. 309, § 7, Stand 17. 0 4. 2017). Полное собрание законов Российской империи. Собрание второе. Том 10. Отделение первое. 1835. СПб., 1836 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Zweite Sammlung, Band 10, Erster Teil [Übers. d. Verf.]), 1835–36, S. 321, § 104 (http://www.nlr.ru/e-res/law_r/­ search.php [in Russisch], Suche nach Zeitraum 1825–1881, Gesetzesnummer 8054, S. 321, § 104, Stand 17. 04. 2017). Полное собрание законов Российской империи. Собрание третье. Том 28. Отделение первое. 1908 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Dritte Sammlung, Band 28, ­Erster Teil [Übers. d. Verf.]), 1908, S. 720, Erlass 31008, Punkt 1 (http://www.nlr.ru/e-res/law_r/ search.php [in Russisch], Suche nach Zeitraum 1881–1913, Gesetzesnummer 31008, Punkt 1, S. 720, Stand 17. 0 4. 2017). Полное собрание законов Российской империи. Собрание третье. Том 29. Отделение первое. 1909 (Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Imperiums. Dritte Sammlung, Band 29, Erster

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168 |     Anhang

Bildnachweis Abb. 1 aus: Wallraf-Richartz-Museum Köln, Von Stefan Lochner bis Paul Cézanne. 120 Meisterwerke der Gemäldesammlung, Köln/Mailand 1986, S. 221. Abb. 2 aus: Krey, Guido, Gefühl und Geschichte. Eduard Bendemann (1811–1889). Eine Studie zur Historienmalerei der Düsseldorfer Malerschule, Weimar 2003, S. 260. Abb. 3 aus: Soussloff, Catherine M., Jewish identity in modern art history, Berkeley 1999, S. 99, Fig. 12. Abb. 4 aus: Gold, Alfred, E. M. Lilien, in: Buber, Martin, Juedische Künstler, Berlin 1903, S. 86. Abb. 5 aus: Rosenfeld, Morris, Lieder des Ghetto, Berlin 1902, Vorsatzblatt. Abb. 6 aus: Rosenfeld, Morris, Lieder des Ghetto, Berlin 1902, o. S. (S. 142). Abb. 7 aus: Meek, Harold, The Synagogue, London 1995, S. 136. Abb. 8 aus: Meek, Harold, The Synagogue, London 1995, S. 164. Abb. 9 aus: Eberle, Matthias, Max Liebermann, 1847–1935, Werkverzeichnis der Gemälde und Öl­studien, 2 Bde., Band 1: 1865–1899, München 1995, S. 161. Abb. 10 aus: Göres, Ruth, Die Handzeichnungen Max Liebermanns. Ihr Verhältnis zu seiner Malerei, ihr Beitrag zum Realismus, Berlin, 1971, Abb. 10. Abb. 11 aus: Busch, Günther, Max Liebermann. Maler Zeichner, Graphiker, Frankfurt a. M. 1986, S. 161. Abb. 12 aus: Eberle, Matthias, Max Liebermann, 1847–1935, Werkverzeichnis der Gemälde und Öl­ studien, 2 Bde., Band 1: 1865–1899, München 1995, S. 156, Nr. 1878/22. Abb. 13 aus: o. A., Rembrandt Harmensz van Rijn, Sämtliche Radierungen in Originalgröße, Stuttgart 1977, B 65. Abb. 14 aus: Faass, Martin (Hg.), Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik, Berlin, 2009, S. 126, Abb. 78, Kat.-Nr. 21. Abb. 15 aus: Heuberger, Georg; Merk, Anton (Hg.), Moritz Daniel Oppenheim. Die Entdeckung des ­jüdischen Selbstbewußtseins in der Kunst, Köln, 1999, S. 289, Taf. VI. 22. Abb. 16 aus: Heuberger, Georg; Merk, Anton (Hg.), Moritz Daniel Oppenheim. Die Entdeckung des jüdischen Selbstbewußtseins in der Kunst, Köln, 1999, S. 282. Abb. 17 aus: Screpel, Henri, Hieronymus Bosch, Stuttgart 1977, S. 53. Abb. 18 aus: Strieder, Peter, Dürer, Königsstein/Taunus 1981, S. 127, Abb. 143. Abb. 19 aus: Renan, Ernest, Christus in der Kunst, New York 2010, S. 88. Abb. 20 aus: Faass, Martin (Hg.), Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik, Berlin, 2009, S. 105, Abb. 71, Kat.-Nr. 22. Abb. 21 Lithografie zum Original aus: Menorah. Jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur, Heft 8 (August 1927), S. 472. Abb. 22 aus: Schwartz, Gary, Rembrandt. Sämtliche Gemälde in Farbe, Stuttgart 1987, S. 284, Abb. 316. Abb. 23 aus: Guggenheim Museum Publications (Hg.), Russia! Nine Hundred Years Of Masterpieces and Master Collections, New York, 2005, S. 221. Abb. 24 aus: Kazovsky, Hillel, Khudozhniki Kul’tur-ligi. The Artists of the Kultur-Lige, Jerusalem/­ Moskau 2003, S. 231, Abb. 100.

Bildnachweis     | 169

Abb. 25 aus: o. A., Chagall et l’avant-garde russe, Katalog zur Ausstellung, Centre Pompidou, Paris 2011, S. 57/b. Abb. 26 aus: Tumarkin Goodman, Susan, Russian Jewish Artists in a Century of Change, New York 1995, S. 46. Abb. 27 aus: Kazovsky, Hillel, Khudozhniki Kul’tur-ligi. The Artists of the Kultur-Lige, Jerusalem/­ Moskau 2003, S. 196, Abb. 63. Abb. 28 aus: Markisch, Peretz, Der galaganer hon, Berlin 1922, S. 19. Abb. 29 aus: Guerico, Antonia del, Russische Avantgarde von Marc Chagall bis Kasimir Malewitsch, Herrsching 1988, Taf. 12. Abb. 30 aus: Guerico, Antonia del, Russische Avantgarde von Marc Chagall bis Kasimir Malewitsch, Herrsching 1988, Taf. 13. Abb. 31 aus: Meyer, Franz, Marc Chagall. Leben und Werk, Köln 1961, S. 155.

170 |     Anhang

Personenregister Achad Ha’am  34, 35, 53, Adler, Jankel  125, 140, 154 Alexander I.  106 Alexander II.  107, 108, 109, 111 Alexander III.  110 Altman, Nathan  131 An-sky, Shlomo  24 Antokolsky, Mark  117, 120 Aronson, Boris  117, 125, 128, 129, 136, 140 Baeck, Leo  68 Bakst, Léon  120 Bendemann, Eduard  42, 44 Berlewi, Henryk  24, 117, 125, 140 Birnbaum, Nathan  48, 116 Bosch, Hieronymus  92, 93 Bronstein, Max  58 Bruegel, Pieter  143 Buber, Martin  17, 18, 25, 26, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 44, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 57, 59, 132, 152 Budko, Josef  58 Burckhardt, Jacob  49 Cendrars, Blaise  149 Cimabue 50  Chagall, Marc  17, 19, 20, 21, 25, 26, 27, 31, 100, 101, 117, 119, 121, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 145, 148, 149, 150, 153, 154, 156  Cohn-Wiener, Ernst  27, 28, 154 Dehio, Georg  51, 52, 53 Delaunay, Robert  145 Dizengoff, Meir  138 Dobruschin, Jeheskiel  125, 129, 130 Dürer, Albrecht  93, 94 Epstein, Jehudo   41, 42, 53 Epstein, Mark  125 Exter, Alexandra  126 Feiwel, Berthold  56 Geiger, Abraham  68, 92 Giotto 50 Gontscharowa, Natalja  126, 145 Gottlieb, Maurycy  17, 19, 24, 31, 42, 44, 80 Graetz, Heinrich  68, 92

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  141 Hirszenberg, Samuel  24 Hunt, William Holman  95, 96, 99 Israëls, Jozef  40, 42, 53, 91, 142   Koenig, Leo  119 Künzl, Hannelore  27 Landsberger, Franz  27, 28, 91, 154 Larionow, Michail  126, 145 Lasker-Schüler, Else  58 Levitan, Isaak  120 Liebermann, Max  17, 19, 20, 21, 24, 26, 27, 30, 31, 40, 42, 53, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 88, 89, 90, 91, 95, 96, 97, 98, 99, 142, 153, 154, 156 Lilien, Ephraim Moses  40, 42, 44, 53, 54, 55, 56, 57, 119 Lissitzky, El  17, 24, 29, 117, 121, 125, 131, 133, 136, 137, 150, 153, 154  Lunatscharskij, Anatolij  137 Majakowskij, Wladimir  143 Malewitsch, Kasimir  137 Marx, Karl  112, 139 Menzel, Adolph Friedrich Erdmann  91, 96, 97 Modigliani, Amedeo  119 Narkiss, Bezalel  58 Nikolaus I.  106, 107 Nikolaus II.  111 Oppenheim, Daniel Moritz  24, 88f. Panofsky, Erwin  50, 85 Pasternak, Leonid  120 Peretz, Yitskhok Leybush  116 Petrarca, Francisco  50, 51 Picasso, Pablo  145 Pisano, Giovanni  50 Pisano, Niccolò  50 Reimarus, Hermann Samuel  91 van Rijn, Rembrandt Harmenszoon  85, 86, 88, 90, 91, 99, 142 Riegl, Alois  39, 46, 47 Rosenfeld, Morris  56 Rosenzweig, Franz  68 Roth, Cecil  27

Personenregister     | 171

Ryback, Issachar Ber  24, 25, 117, 125, 128, 129, 140, 150 Schatz, Boris  57, 58, 59 Scheffler, Karl  76, 77 Shterenberg, David  153 Solomon, Solomon J.  40 Soutine, Chaim  17, 25 Strauss, David Friedrich  91 Struck, Hermann  42, 58 Szwarc, Marek  117, 118, 119, 125, 140 Tchaikov, Joseph  29, 117, 118, 119, 125, 128, 129, 131, 153, 154

Ury, Lesser  24, 40 Wagner, Richard  41 Walden, Herwardt  136, 145 Wiesel, Elie  134, 135 Wischnitzer, Mark  24 Wischnitzer-Bernstein, Rachel  24 Winckelmann, Johann Joachim  14, 15 Zunz, Leopold  68, 70 Zweig, Stefan  54