Der andere Aufbruch: Die Lutherrenaissance, Ursprünge, Aporien und Wege. Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann 1910-1935. Diss. 3525562799, 9783525562796

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Der andere Aufbruch: Die Lutherrenaissance, Ursprünge, Aporien und Wege. Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann 1910-1935. Diss.
 3525562799, 9783525562796

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V&R

HEINRICH ASSEL

Der andere Aufbruch Die Lutherrenaissance — Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann

(1910-1935)

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Wolfhart Pannenberg und Reinhard Slenczka Band 72

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufiiahme Assel, Heinrich: Der andere Aufbruch: die Lutherrenaissance - Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910-1935) / Heinrich Assel. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1994 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie; Bd. 72) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-525-56279-9 NE: GT

© 1994 Vandenhoeck & Ruprecht, 37070 Göttingen. Printed in Germany. — Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen.

Beatrix

Dank

Die Sache der Lutherrenaissance ist nicht nur aktuell, sie ist strittig. Umso mehr danke ich jenen, die mir Zugang zu unveröffentlichten oder verborgen gehaltenen Quellen der Lutherrenaissance gaben: Prof. D. Dr. Robert Stupperich, Münster, überließ mir großzügig Kopien seiner umfangreichen Sammlung der Briefe Karl Holls. Der ehemalige Lektor des Christian-Kaiser-Verlages und Bonhoeffer-Forscher Ulrich Rabitz, München, wies mich auf die Briefe Emanuel Hirschs an Wilhelm Stapel und Hans Grimm hin, die unentdeckt im Deutschen Literaturarchiv Marbach/Neckar lagen. In Marbach fand ich mit Herrn Dr. Jochen Meyer einen ebenso kenntnisreichen wie verständnisvollen Ansprechpartner in der nicht ganz leichten Angelegenheit der Hirsch-Briefe. Frau Dr. Holle Grimm, Lippoldsberg, die Tochter des Schriftstellers Hans Grimm, erteilte freundlich die Erlaubnis, aus Briefen ihres Vaters zu zitieren. Großes Entgegenkommen fand ich auch bei den Verwandten und Schülern Rudolf Hermanns. Dr. Arnold Wiebel, Münster, der Neffe und Rechtsnachfolger Rudolf Hermanns, stimmte nicht nur von Beginn an vorbehaltlos einer Einsicht in den Nachlaß Hermanns zu, sondern begleitete die Entstehung des Textes mit vielfältiger Hilfe und lebendigem Interesse. Prof. Dr. Horst Eduard Beintker, Ulfborg, überließ mir aus seiner Arbeit am Nachlaß Rudolf Hermanns eine Reihe wertvoller Transkriptionen, unter anderem der Wissenschaftlichen Tagebücher Rudolf Hermanns. Er weckte damit mein Interesse an Rudolf Hermann. Prof. Dr. Rudolf Mau, Berlin, der in den Jahren der D D R Rudolf Hermanns Nachlaß verwahrte, gab mir, zusammen mit seiner Frau, nach dem Fall der Mauer auf außerordentlich liebenswürdige Weise Gelegenheit zur genauen Einsicht in diesen Nachlaß. Frau Prof. Dr. Luise Stange, Göttingen, überließ mir wichtige Teile des Nachlasses ihres Vaters Carl Stange. Herr Peter Sänger, Beienrode, vermittelte zum Hans-Joachim-Iwand-Archiv. Allen Genannten bin ich zu tiefem Dank verpflichtet. Ich hoffe, ihr Vertrauen nicht zu enttäuschen. Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1993 an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen/Nürnberg als Dissertation eingereicht. Für die Drucklegung wurde die Arbeit, deren Text ich im April 1993 abschloß, in den Anmerkungen gekürzt. Meinem Lehrer Prof. Dr. Friedrich Mildenberger, der das Referat für die Promotion erstellte, danke ich sehr für die Jahre der Zusammenarbeit. Sie brachten mich und meine Arbeit mehr als alles andere theologisch voran. Prof. Dr. Hans G. Ulrich gilt mein Dank für ein nicht nur genaues, sondern - wie stets 7

anregendes Korreferat zur Promotion. Besonderen Dank schulde ich auch Herrn Prof. Dr. Reinhard Slenczka zusammen mit Herrn Prof. Dr. Wolfhart Pannenberg DD für die Aufnahme dieser Arbeit in die .Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie'. Ein Zuschuß der ZantnerBusch-Stiftung/Erlangen, vermittelt durch Herrn Prof. Dr. Manfred Seitz, erleichterte die Drucklegung dankenswert. Den Freunden Christoph Strohm und Harald Seubert, stellvertretend auch für den weiteren Kreis, sage ich Dank für die glückliche Erfahrung des Gesprächs, nicht allein zu zeitgeschichtlichen, theologischen oder philosophischen Fragen. Arne Manzeschke und Alexander Deeg lasen Korrektur, Markus Rausch verifizierte die Zitate. Herr Dr. Arndt Ruprecht und Frau Renate Hartog betreuten die Drucklegung sorgfältig und freundlich. Dafür bin ich ihnen dankbar. Ich widme das Buch jener Frau, die mir zur ,Schwester' geworden ist. Erlangen, im Juni 1994

8

H.A.

Inhalt Einleitung I.

II.

III.

Der andere Aufbruch: Die .Lutherrenaissance' als neue theologische Position

17

1. .Lutherrenaissance' als theologiegeschichtliches Phänomen 2. Die .ZSyTh' als Organ der .Lutherrenaissance' 3. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands

17 22 31

Das Programm der Lutherrenaissance und seine Aporie

33

1. Das Geleitwort der ZSyTh als Programm der Lutherrenaissance . . . 2. .Erlebnis' als aporetischer Grundbegriff im Programm der ZSyTh . . 3. Leitperspektive und Leitthemen der Interpretation

34 38 41

Vorläufige Verständigung über strittige Begriffe der Interpretation: Sprache, Handeln und Subjektkonstitution

42

1. Die Aporie von .Erlebnis' als Ausgangspunkt subjektivitätstheoretischer und sprachphilosophischer Neuansätze 2. Sprache, Handeln und Subjektkonstitution. Ein problemorientierter Blick auf Dieter Henrichs Subjektivitätsphilosophie und Jürgen Habermas' Sprachpragmatik 3. Subjektivitäts- bzw. sprachphilosophische Kategorien der Interpretation

42

45 58

1. Kapitel: Ursprünge Karl Holls ,Luther' als ambivalentes Programm Einleitung: Karl Holls Theologie zwischen 1906 und 1926. Explikation der Fragen EXKURS: Gewissenserlebnis, Heiliger Geist, Wort Gottes. Die frühe Auseinandersetzung zwischen Karl Barth, Karl Holl und Emanuel Hirsch

59

62

A.

Die offene Frage: Heiliger Geist und äußeres Wort

65

I. II.

Erahnen, Verstehen und Vernehmen Die Schwachen und der Starke

66 73

9

Β.

Der Durchbruch zu Luther: Heilsgewißheit als selbstlose Willensgemeinschaft

81

I. Aporie persönlicher Religion - Glaube als Wagnis und als Werkzeugbewußtsein EXKURS: ZU

81

den Wurzeln von Holls früher Rechtfertigungslehre

86

II. Der Durchbruch

89

Zur Wirkung des Aufsatzes über Luthers Römerbriefvorlesung EXKURS:

100

III. Rechtfertigung und Gemeinschaft C.

101

Krieg und Revolution: Gericht über Deutschland, Emstfall der Rechtfertigung

112

I. Krieg gegen England als Motiv deutscher Kirchenreform II. Deutschland - unbrauchbar in Gottes Plan? 1. Kriegsniederlage und Revolution als Gericht E X K U R S : Die Novemberrevolution 1 9 1 8 und ihre Folgen in den Briefen Karl Holls 2. Zerfall des Kulturprotestantismus und theologische Neuformation 3. Volkskirchliche Erneuerung

112 118 118

.

119 124 127

III. .Neubau der Sittlichkeit'

132

Gewissen und Gott

140

D.

I. Im Zirkel des Gewissens 1. Luthers Rechtfertigungserlebnis als Typos der Gewissensreligion 2. Gottes Alleinwirksamkeit 3. Anfechtung als Aporie des Gewissens

II. Christusmystik und Gewissensreligion

142 . .

142 149 152

158

2. Kapitel: Aporien Emanuel Hirschs subjektivitätstheologische Durchführung des Programms der Lutherrenaissance

A.

Einleitung: Emanuel Hirschs Denkweg bis 1935. Explikation der Fragen

164

Ambivalenz ethischer Subjektivität. Zur Genese sprach- und geschichtstheologischer Grundbegriffe Emanuel Hirschs aus der Kritik an Fichte

174

I. Das Ich der intellektualen Anschauung 10

176

II.

III.

IV.

V.

B. I. II.

Der antinomische Anstoß und das Andere

180

1. Antinomie als notwendige Mitteilungsform ursprünglicher Anschauung 2. Aufhebung der Antinomie im ,Ich als Idee'? 3. Die Ambivalenz des Anderen im Anstoß 4. Versuchter Modellwechsel: das Andere im Anstoß als Du

180 183 184 186

Gefühl, Geist, Genius - und ihre dezisionistische Uberbietung .

190

1. 2. 3. 4.

190 193 195 198

Gefühl und schöpferischer Geist Geist und Genius Entscheidung als Konstituens unableitbar individueller Subjektivität Geschichte und Zeit als Implikat von Entscheidung

Kultur, Staat, Reich Gottes Bedingungen ethisch-religiöser Intersubjektivität

202

1. 2. 3. 4.

203 205 206 207

Integration der Kulturphilosophie in die Gewissensethik .Staat' als Problem Die Ambivalenz der teleologischen Synthesis der Geister .Gemeinschaft der Gewissen' als .Herz' der Geschichte

G o t t und Gemeinschaft

211

1. Gott als Grenzbegriff 2. Gott im Gefühl EXKURS: Zur Dialektik von Denken und Leben 3. Gott als das Andere im Anstoß?

212 213 213 217

Gott im Volk als Grund und Grenze der Subjektivität. Fichtes Religionsphilosophie als Horizont völkischer Theologie . . . .

219

Probleme ethisch-religiöser Intersubjektivität V o m .Ich' zum .individuellen Konzentrationspunkt'

219 223

1. Gleichursprünglichkeit von Reflexion und Kommunikation 224 2. Gleichursprünglichkeit von Individuation und Verallgemeinerung . . 225 3. Ursprung und Vollendung sittlicher Gemeinschaft 226 III.

IV.

G o t t als G r u n d und Grenze im Geheimnis

227

1. 2. 3. 4.

Gott als absolutes Sein eines absoluten Wissens Erhebung des Individuums zu seiner Pflicht: Fügung und Ruf . . . . Das Geheimnis der Offenbarung Negation der absoluten, sich wissenden Freiheit

230 232 235 237

Kritik an Fichte als Erneuerung von Luthers Gesetzes-Begriff . . 1. Der Verlust des Individuums bei Fichte 2. Christologie und Rechtfertigung im System der W.L

239 239 243 11

Von der Herrschaft der wissenschaftlichen Elite im nationalen Erziehungsstaat zum völkischen Führerstaat 1. Totaler Rechtsstaat und nationaler Erziehungsstaat 2. Gelehrtenaristokratie und völkische Gemeinschaft 3. Hirschs Wende zum Nationalsozialismus. Ein Desiderat EXKURS:

C. I.

247 248 251 255

Gesetz und Evangelium als Existentialdialektik der ,Rede Gottes im Herzen '

264

Gewissen als oratio mentalis und Gebet. Die Dialektik von Unmittelbarkeit und Reflexivität als Aporie

266

1. Antinomische Konstitution des Selbst als Geschöpf und Sünder . . . 266 2. Synteresis und oratio mentalis 268 3. Im Zirkel des Gewissens: die Aporie des Ubergangs von Unmittelbarkeit zu Reflexivität 270 II.

III.

Gewissen in der Antinomie von Gesetz und Evangelium

277

1. Gesetz als negationsdialektische Verinnerlichung

279

2. Evangelium als Aufhebung des Gesetzes

282

Gottes Rede im Gesetz als Geheimnis in der Begegnung

287

1. Gewissen als .Schweben' in der Antinomie von Fügung und Ruf . . 289 2. Neuzeitliche Vernunft und Gottes Gesetz 294 3. Mitteilung des Gesetzes als Aporie 298

3. Kapitel: Gangbare Wege Rudolf Hermanns sprachtheologische Durchführung des Programms der Lutherrenaissance

A. I. II.

12

Einleitung: Rudolf Hermanns Denkweg bis 1935. Explikation der Fragen

305

Unterwegs zur Sprache: Lutherrenaissance im Horizont Schleiermachers

313

Das .schmerzlich gesuchte Individuelle' Gefühl, Anschauung und Zeitlichkeit

313 320

1. Gefühl, Zeitmoment und Zeithorizont 2. Anschauung und .geschichtliche' Totalität 3. Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl und geschaffene Zeit

322 325 327

III. Gefühl, Sprache und Mitteilung

IV.

B.

332

1. Sprechebenen und Denkweisen · 2. Die Sprachlichkeit des Gefühls 3. Vom individuellen Symbolisieren zum assertorischen Erzählen . . . EXKURS: Leib und Zeit

333 334 339 341

Gottes Offenbarung als Schlüssel religiöser Rede

351

1. 2. 3. 4.

352 357 362 368

.Übergeschichtlichkeit' Jesu und Sprachgestalt der Gewißheit . . . . Ausblick: ,simul iustus et peccator' als Regel christlicher Gewißheit Verheißung und christliche Lebensgestalt Ausblick: .Mein Handeln ist mein Werden' als ethische Urteilsregel

Rechtfertigungstheologie zwischen

als Logik des

Gesprächs

Gott und Mensch

373

I. Zur Logik des Gebets

377

1. deus promittens - homo orans

377

EXKURS: Verheißung, nicht .Rechtfertigung von oben'.

Kritik an Karl Holl 2. Zur Logik der Buße 3. Gebet als Einheit von Wort und Werk

383 385 387

4. Präsenz des dreieinen Gottes als

Aufhebung der Selbstvergegenwärtigung II. Simul iustus et peccator

391 395

1. Evangelium und Gesetz a. Ein einziges, in sich gegliedertes Handeln Gottes im Wort b. Der .rechte Knoten' des Gesetzes 2. Handeln (operari) als Werden im Werk a. Person und Werk unter dem Zorn Gottes b. Ein evangelischer Begriff von consensus 3. Befreiung aus der .Verdinglichung' von Selbst und Welt a. Verdinglichung und Konkreatürlichkeit b. transformado in Christum C. Religionsphilosophie

als Sprach• und Erkenntniskritik

....

des Glaubens

I. Sprach- und Erkenntniskritik des Glaubens II. Schöpfung als Offenbarung Gottes 1. „Gleichniswürdige menschliche Verhältnisse" 2. Wirklichkeit als Anrede des Schöpfers 3. „Creatum est capax creatoris" - Schöpfung und Abendmahl

396 396 401 407 408 411 416 416 422 427 427 434 434 443 448

13

III. Cogito quatenus sum Komplementarität von Wissen und Glauben? 1. Reine Symbolisation und normalsprachliche Intersubjektivität . . . . 2. Entäußerung zeitlichen Seins als Habe 3. Herrschaftsfreie Uberlieferung und Verständigung?

452 452 457 462

Zusammenfassung Karl Holl: Ursprünge Emanuel Hirsch: Aporien Rudolf Hermann: Gangbare Wege Anhang: Autoren der ZSyTh zwischen

14

469 476 482 1923 und 1943

490

Liste der Sigel

491

Quellen und Literatur

493

Karl Holl: Unveröffentlichte und gedruckte Quellen Emanuel Hirsch: Unveröffentlichte und gedruckte Quellen . . . Rudolf Hermann: Unveröffentlichte und gedruckte Quellen . . . Weitere unveröffentlichte Quellen Andere Literatur

493 495 498 500 500

Namenregister

513

Sachregister

518

Einleitung Die These dieser Untersuchung, auf ihre allgemeinste Form gebracht, lautet, daß die in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts einsetzende und bis heute nicht abgeschlossene Neubesinnung auf den reformatorischen Rechtfertigungsglauben nur dann Aussicht auf eine sach- und zeitgemäße Durchführung hat, wenn sie die Einsicht in die prinzipielle und genuine Sprachlichkeit des Rechtfertigungsgeschehens zu ihrem Ausgangspunkt macht. Umgekehrt gerät sie in außerordentlich folgenreiche Aporien, wo sie diese Einsicht mißachten zu können glaubt. Diese These wird in den nachfolgenden Interpretationen am Beispiel der sog.,Lutherrenaissance' exemplifiziert, also an jener theologischen Bewegung, die wie keine andere das Rechtfertigungserlebnis des jungen Luther in den Mittelpunkt ihres Programms stellte. In diesem Sinne steht .Lutherrenaissance' im folgenden für die andere, große theologische Aufbruchsbewegung des frühen 20. Jahrhunderts neben der Dialektischen Theologie. Dieser Aufbruch hat seinen Ursprung noch vor dem Ersten Weltkrieg. Als fest umrissene theologische Position formiert er sich nach 1918. Für eine begrenzte Zeit finden dabei eine Reihe von Theologen verschiedener Herkunft unter dem gemeinsamen Programm einer Erneuerung des ursprünglichen Sinns von Rechtfertigung zusammen, der zugleich als der allein zeitgemäße gilt. In der Durchführung dieses gemeinsamen Programms, das wesentlich durch Karl Holls Luther-Deutung inspiriert ist, kommt es allerdings schon während der Weimarer Zeit zu signifikanten Unterschieden. Im Kirchenkampf schließlich auch dies vereint sie mit der Dialektischen Theologie - spaltet sich die .Lutherrenaissance' und zerbricht als einheitliche theologische Richtung. Eingebettet in die theologiegeschichtliche .Achsenzeit' von 1910 bis 1933 lassen sich an der .Lutherrenaissance' theologische Grundentscheidungen studieren, die für die weitere theologische Entwicklung im 20. Jahrhundert maßgeblich blieben. Die nachfolgende Darstellung der theologischen Entwicklung Karl Holls, Emanuel Hirschs und Rudolf Hermanns - sie stehen exemplarisch für das Entstehen, für die Aporien und für die Chancen der .Lutherrenaissance' - verbindet in diesem Sinne zwei unterschiedliche Intentionen: Es geht zum einen um einen theologiegeschichtlichen Beitrag zur Erhellung jener Vorgänge, in denen sich am Beginn unseres Jahrhunderts jener andere Aufbruch formierte, der - später als ,Lutherrenaissance' gekennzeichnet - in der Weimarer Zeit ein neues theologisches Programm entfaltete und im Kirchenkampf unübersehbare, allerdings keineswegs eindeutige Folgen zeitigte. Es 15

geht zum anderen um die systematisch-theologische Frage nach den theologischen Kernproblemen, von denen die ,Lutherrenaissance' ausging und in deren Bearbeitung sie sich schon in den zwanziger Jahren in zwei Flügel trennte. Karl Holls Rechtfertigungstheologie und ihre offen gebliebenen Probleme werden bei Emanuel Hirsch unter subjektivitätstheologischem Vorzeichen weiter bearbeitet. Doch mündet dieser Versuch in theologische Aporien. Rudolf Hermann hingegen formt Holls Lutherdeutung wort· und sprachtheologisch um. Seine Rechtfertigungstheologie - entwickelt als .Logik des Gesprächs zwischen Gott und Mensch' und dabei sprach- und erkenntniskritisch ausgewiesen - zeigt die Orientierungskraft, die die reformatorische Rechtfertigungstheologie auch im 20. Jahrhundert haben kann. Zugleich stehen Emanuel Hirsch und Rudolf Hermann für die deutschchristliche bzw. die bekenntniskirchliche Option, die nach 1933 aus den Reihen der .Lutherrenaissance' heraus möglich war. Der subjektivitätstheologische bzw. sprachtheologische Grundansatz ihrer Theologien ist dabei keineswegs die Ursache der unterschiedlichen kirchenpolitischen und politischen Entscheidungen. Vielmehr wird im folgenden stets die kontingente und komplexe Vorgeschichte dieser späteren kirchenpolitischen und politischen Entscheidungen zu würdigen sein. Andererseits bleibt das deutschchristliche bzw. bekenntniskirchliche Engagement der beiden Theologen unverstanden, wo ihre konträren theologischen Entscheidungen abgeblendet werden. Es wird darauf ankommen zu differenzieren: theologische Entscheidungen, politische und kirchenpolitische Optionen und das persönliche, zeitgeschichtliche Erleben der Jahre zwischen 1910 und 1933 verweisen jeweils aufeinander, sie bestärken oder korrigieren sich, sie affirmieren oder revolutionieren persönliche Vorprägungen. Versucht die folgende Darstellung also - nicht zuletzt auf der Basis einer reichen Briefkorrespondenz - dem individuellen Profil ihrer Protagonisten, der Kontingenz ihrer persönlichen Entwicklung und dem Geflecht ihrer Beziehungen untereinander nacherzählend gerecht zu werden, so verfolgt sie doch stets auch ihr systematisch-theologisches Anliegen: zu zeigen, wie die in der ,Lutherrenaissance' exemplarische Neubesinnung auf das ursprüngliche Rechtfertigungserleben Luthers dort Aussicht auf eine sach- und zeitgemäße Durchführung hatte, wo sie nicht auf die aporetischen Denkfiguren der Subjektivitätstheologie zurückgriff, sondern die Einsicht in die prinzipielle und genuine Sprachlichkeit dieser Rechtfertigungserfahrung zum Ausgangspunkt einer sprachtheologisch reflektierten Rechtfertigungstheologie nahm.

16

I. Der andere Aufbruch: Die .Lutherrenaissance' als neue theologische Position 1. ,Lutherrenaissance' als theologiegeschichtliches

Phänomen

Im Gegensatz zur sog. Dialektischen Theologie bleibt die sog. .Lutherrenaissance' in der Theologiegeschichtsschreibung ein diffuses Phänomen. Während sich jene Theologen, die der Dialektischen Theologie zugerechnet werden, auf Anhieb durch den Hinweis auf den „Kreis um die Zeitschrift .Zwischen den Zeiten'" identifizieren lassen1, schwankt schon die Aufzählung jener, die der .Lutherrenaissance' zuzurechnen wären, erheblich - ganz zu schweigen vom jeweils gezeichneten Profil dieser Bewegung. Ist die .Lutherrenaissance' etwa ein primär histonographisches Phänomen, ausgelöst durch die Herausgabe der Weimarer Lutherausgabe seit 1883, seitdem vorangetrieben von Kirchengeschichtlern wie Julius Köstlin (1826-1902), Gustav Kawerau (1847-1918), Johannes Ficker (1861-1944), Walther Köhler (1870-1946), Heinrich Boehmer (1869-1927), Otto Scheel (1876-1954) und vor allem Karl Holl (1866-1926) und erst seit den zwanziger Jahren durch systematisch-theologische Beiträge erweitert, mit denen sich etwa die Namen Emanuel Hirsch (1888-1972), Paul Althaus (1888-1966), Rudolf Hermann (1887-1962), Hans Joachim Iwand (1899-1960), Friedrich Gogarten (1887-1967) und Werner Eiert (1885-1954) verbinden2? Oder handelt es sich bei der ,Lutherrenaissance' eher um eine theologische Schule nach dem Ersten Weltkrieg, deren Initiator und „Lehrmeister" der Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl mit seinem Aufsatzband .Luther' war3 und die sich nach Holls frühem Tod - unterstützt von Hans Lietzmann (1875-1942) - in seinen Schülern fortsetzte, also etwa bei Emanuel Hirsch, Hermann Wolfgang Beyer (1898-1942), Heinrich Bornkamm (1901 -1977), Hanns Rückert (1901-1974), Hans Georg Opitz (1905-1941), Erich Vogelsang (1904-1944) und Fritz Blanke (1900-1967)4? Oder aber gehören zur ,Lutherrenaissance' jene Theologen, die sich im Gefolge des Ersten Weltkriegs zu Luther hinwandten, um auf eine Wiedergeburt der kriegs- und revolutions-

1

J. WALLMANN, Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, U T B 1355, 2.A.,

Tübingen

1985, 267. Ahnlich etwa die grundlegende Monographie zur

Dialektischen

Theologie von Chr. GESTRICH, Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie. Zur Frage der natürlichen Theologie, B H T h 52, Tübingen 1977, 1. 2

So etwa J. ROGGE, Der junge Luther

1483-1521. Der junge Zwingli

1484-1523,

Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen Π / 3 und 4, 2.A., Berlin 1985, 3 9 - 4 1 . 3

1. Auflage Tübingen 1921; 2. und 3. Auflage 1923; 4. und 5. Auflage 1927.

4

So etwa K. HEUSSI, Kompendium der Kirchengeschichte, 15.A., Tübingen 1979, 522; vgl.

auch: K. ALAND, in: Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutsche Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892-1942), B e r l i n / N e w Y o r k 1979, 90f. Eine Reihe weiterer Belege (auch für die erstgenannte Ansicht) bei: J. WALLMANN, Karl Holl und seine Schule, in: Z T h K Beiheft 4. Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 1978, 1-33, 2f Anm.6.

17

zerstörten deutschen Nation aus dem Geist des jungen Luther hinzuarbeiten? Dann würde die ,Lutherrenaissance' mit dem, was Emanuel Hirsch 1934 Junges nationales Luthertum' nannte5, koinzidieren und neben Holl und Hirsch vor allem Paul Althaus, Friedrich Gogarten und Werner Eiert umfassen.' Diese drei Beispiele zeigen, daß schon die Frage, wie überhaupt ,Lutherrenaissance' zu bestimmen und wer zu ihr zu rechnen sei, in der gegenwärtigen Theologiegeschichtsschreibung höchst unterschiedlich beantwortet wird. Vollends verwirrend wird die Lage, wenn zwei Umstände ins Kalkül gezogen werden, die bei diesen Einordnungsversuchen nicht berücksichtigt sind. Fragt man nämlich, wer eigentlich das Stichwort .Lutherrenaissance' eingeführt und popularisiert habe, so zeigt sich, daß es Karl Holl kein einziges Mal zur Selbstcharakterisierung seiner Theologie verwandte. Auch in seiner Schule wurde es „mit Bedacht vermieden" 7 . Stattdessen findet sich die Bezeichnung ,Lutherrenaissance' als positionelle Kategorie am frühesten bzw. am wirkungsmächtigsten bei deren Gegenspielern: bei Erich Seeberg und in der Dialektischen Theologie. D i e früheste Verwendung für .Lutherrenaissance' als Kennzeichnung einer neuen theologischen Positionalität, die wesentlich durch Karl Holl ausgelöst wurde und der man sich selbst zurechnet, findet sich bei vormals modern-positiven Theologen (R. Seeberg; Erich Seeberg) bzw. bei positiven Theologen, die eher der Schule Martin Kählers zuzurechnen sind (R. Hermann; H . E . Weber), etwa seit Karl H o l l s T o d 1926. Forciert wurde diese Verwendung vor allem durch den Nachfolger Karl Holls auf dem Berliner Lehrstuhl Erich Seeberg', obgleich (oder vielleicht gerade weil)

5 GGL, 114. ' So etwa H. FISCHER, Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20. Jahrhundert, Grundkurs Theologie 6, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 54-67. Zuvor bereits H. FISCHER, Systematische Theologie, in: Theologie im 20. Jahrhundert. Stand und Aufgaben, hg.v. G. STRECKER, U T B 1238, Tübingen 1983, 309-322. 7 WALLMANN, 1978, 2f Anm.6, der diese Beobachtung erstmals aussprach, ist darin nur zuzustimmen. 8 WALLMANN, 1978, 2f Anm.6 nennt als Beleg für das erste, noch ungeprägte Vorkommen von .Lutherrenaissance' E. SEEBERGs Nachruf auf Karl Holl (Karl Holl in memoriam, in: ThBl 5 (1926), 165-169, 165). Weitere Belege für Erich SEEBERGs Funktion als Multiplikator dieses Begriffs: E. SEEBERG, Das Problem des Protestantismus (Vortrag vom 13.1.1929), später in: ders., Menschwerdung und Geschichte. Aufsätze, Stuttgart 1938, 78-97, 95; ders., Rez. zu H.J. Iwand, Rechtfertigungslehre und Christusglaube (1930), in: D L Z N . F . l (1930), Sp.1971-1973, 1973; ders., Luthers Theologie Bd. Π. Christus. Wirklichkeit und Urbild, Stuttgart 1937, VÏÏI; ders., Grundzüge der Theologie Luthers, Stuttgart 1940, 3 (jetzt eindeutig als positioneile Kategorie). Für den anfangs noch ungeprägten Gebrauch bei SEEBERG sprechen analoge Formulierungen SEEBERGs, z.B. „Renaissance der Mystik", in: Menschwerdung und Geschichte, 106 (1921), vgl. auch ThLZ 14 (1926), 372; oder: „Renaissance des Idealismus", in: Menschwerdung und Geschichte, 184 (1932). Nahezu ebenso früh wie bei Erich SEEBERG findet sich das Stichwort .Lutherrenaissance' bei dem SEEBERG befreundeten Rudolf HERMANN. In Hermanns Bewerbungsvortrag für den Greifswalder Lehrstuhl vom August 1926 (R. HERMANN, Die Bekenntnisfrage als theologisches Problem,

18

Seeberg mit den eigentlichen Schülern Holls - Emanuel Hirsch und Hans Lietzmann - in heftige, persönliche Kontroversen verwickelt war'. Der Streit u m Holls E r b e in der Berliner Fakultät nach 1927, in dem sich Erich Seeberg unter dem Stichwort einer von H o l l ausgelösten ,Lutherrenaissance' als nicht nur formeller Nachfolger H o l l s stilisierte - eine Berufung, die angesichts des auch nach 1918 reservierten Verhältnisses Karl Holls zu Reinhold und Erich Seeberg k a u m persönlichen Anhalt hat 10 - , würde auch erklären, w a r u m die eigentlichen Schüler Holls diese Selbstkennzeichnung gerade vermieden. 1 1 D i e breitere Bewegung positiver und ehemals liberaler Theologen, die zunächst noch ganz unspezifisch .Luther-Renaissance' genannt wurde, erhielt sodann wesentlich durch Kritiker aus den Reihen der Dialektischen Theologie positioneile Signatur. Schon 1929 greift etwa Karl Barth Karl H o l l s Lutherbuch als

in: Christentum und Wissenschaft 3 (1927), 49-60) heißt es am Ende (60): „Wo die Bekenntnisschriften lebendig geblieben sind, ist übrigens auch die heutige Luther-Renaissance nicht als etwas so durchweg Neues empfunden worden" (in der handschriftlichen Erstfassung des Vortrage vom Februar 1925 fehlt das Stichwort noch). In bestimmten Kreisen positiver Theologen wurde also seit 1926 .Luther-Renaissance' geläufig (Belege etwa für R. SEEBERG oder auch H.E. WEBER bei WALLMANN, 1978, 2f Anm.6). Auch ein so unverdächtiger Zeuge wie der Hermann- und Seeberg-Schüler Jochen KLEPPER spricht bereits 1934 ganz selbstverständlich von .Lutherrenaissance' als theologischer Richtung (vgl. J. KLEPPER, Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932-1942, Stuttgart 1983, 215, 29.11.1934). 9 Zur Feindschaft zwischen Erich SEEBERG, Hans LIETZMANN und Emanuel Hirsch, vgl. ALAND, a.a.O., 86.120-125.126.136-139 und die dort gegebenen Hinweise auf die LietzmannKorrespondenz. 10 Karl Holls Beziehung zu Reinhold SEEBERG war vor 1914 kühl (es existieren nur wenige Karten an R. SEEBERG, 18.9.1908; undat. 1908/09; 24.11.1909; 27.2.1911; 29.5.1912; vgl. die Absage an den in Wissenschaft und v.a. Kirche aufsteigenden .Geist' der Modern-Positiven im Brief an P. GENNRICH, 12.1.1908). Obwohl hier der Weltkrieg durch den Beitritt Holls zu SEEBERGS .Vaterlandspartei' eine gewisse Annäherung bringt, bleibt der Ton der Korrespondenz auch nach 1918 freundlich, aber reserviert (eine Einladung auf SEEBERGs Ostseegut Ahrenshoop lehnte Holl noch am 13.9.1920 höflich ab). Es finden sich keine Anzeichen dafür, daß Holl nach 1918 etwa auf die Linie Reinhold SEEBERGs eingeschwenkt wäre. Ausschlaggebend dafür dürfte sein, daß R. SEEBERG 1911/12 - übrigens nicht ohne gewichtige Schützenhilfe v. HARNACKS - die von Holl dringlich ersehnte Wegberufung von Berlin nach Marburg (heraus aus dem Schatten v. HARNACKS) vereitelte, vgl. Holls Briefe an JÜLICHER vom 22.5., 29.5. und 11.8.1912 und vom 25.8.1925 (zu v. HARNACKs Beteiligung) und Jülichers Protestschrift: A. JÜLICHER, Die Entmündigung einer preußisch theologischen Fakultät im zeitgeschichtlichen Zusammenhang, 1913. In dieselbe Zeit fiel eine äußerst kritische Stellungnahme Karl Holls zur Licentiaten-Arbeit Erich SEEBERGs, die er zwar nolens volens („ich habe beim Lesen geradezu körperliche Qualen ausgestanden", an JÜLICHER, 25.5.1912) der Fakultät zur Annahme empfahl, von deren Veröffentlichung er intern jedoch dringend abriet (an R. SEEBERG, 29.5.1912). 11

Vgl. zur Auseinandersetzung zwischen E. SEEBERG und LIETZMANN/HIRSCH schon

zwischen 1927 und 1933 nur SEEBERG an Hermann, 9.7.1928: „Hier hat die Hollclique (Rückert) - irgendwie wird auch Lietzmann dahinter sein - unter den Studenten verbreitet 1) ich sei unverständlich 2) ich hätte die falsche Methode ... Recht häßlich ist solch ... Klatsch". Vgl. auch LiBr Nr. 687, 620 (Hirsch an LIETZMANN 7.12.1930); Nr. 695, 626 (LIETZMANN an Hirsch 4.1.1931).

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jene Lutherdarstellung an, „die man als die Eröffnung einer sogen. Luther-Renaissance zu feiern pflegt"12. Vor allem aber hat Ernst Wolf nach 1945 .Lutherrenaissance' als jene theologische Richtung schärfstens kritisiert - und in der Kritik zugleich etabliert -, in der „seit dem ersten Weltkrieg der ,junge Luther' in die Mitte gerückt worden war" und in der „unter Berufung auf ihn eine .politische Theologie' entwickelt wurde, die die Ideologie des Nationalsozialismus oder besser das .Erlebnis' des sogenannten völkischen Aufbruchs kräftig zu legitimieren sich bestrebte"13. Die Rede des ehemaligen Holl-Schülers Ernst Wolf - gehalten am 17. Februar 1946 an der Stätte ehemaliger Wirksamkeit Friedrich Gogartens und Emanuel Hirschs - ist eine polemische, aber an Belegen reiche Fundamentalkritik am nationalsozialistischen Engagement lutherischer Theologen14. Von Interesse ist sie auch deshalb, weil sie Karl Holl und Erich Seeberg als die beiden Inauguratoren der inkriminierten .Lutherrenaissance' einführt15. Dabei weiß Wolf allerdings durchaus, zwischen Karl Holl und seiner Wirkung bei Erich Seeberg zu unterscheiden16. Die Lage ist unübersichtlich: Einerseits ist .Lutherrenaissance' eine eingeführte theologiegeschichtliche Kategorie, die allerdings sehr unterschiedlich definiert und verwendet wird. Einzig die zentrale Bedeutung Karl Holls für die ,Lutherrenaissance' scheint relativ unstrittig, und dies, obgleich Holl und seine Schule sich einer derartigen Kategorialisierung entzogen. Q u e r zur in sich variablen theologiegeschichtlichen Funktion des Begriffes steht andererseits seine Entstehung, die sich vor allem theologiepolitischen Zielen Erich Seebergs und Ernst Wolfs verdankt. Auch diese sind dabei in sich sehr verschieden. Die heterogenen Verwendungsweisen stehen unverbunden nebeneinander. Wie der Sammelname ,Dialektische Theologie', so ist also auch ,Lutherrenaissance' eine kontingente, aber mittlerweile eingeführte Kennzeichnung. N u r bleibt das positionelle Profil jener anderen Aufbruchsbewegung neben der Dialektischen Theologie bis heute diffus. - Allerdings würde nun eine entscheidende Einsicht Karl Holls, die die wie auch immer näher zu bestimmende Aufbruchsbewegung nach 1918 mit auslöste, verloren gehen, wenn man die skizzierte Lage zum Anlaß nähme, auf Positionalität als theologie- und kirchenbestimmenden Faktor überhaupt zu verzichten. 17 In seinem in vieler Hinsicht noch unüberholten Aufsatz ,Die Bedeutung der

K. BARTH/H. BARTH, Zur Lehre vom Heiligen Geist, Beih 1 ZdZ, München 1930, 61. E. WOLF, Zur Selbstkritik des Luthertums (1947). und: Luthers Erbe? (1946), in: Peregrinatio II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, 82-103 bzw. 52-81; Zitat: 83; vgl. 52f.62.94 u.ö. 14 Der erzürnte Emanuel Hirsch berichtet am 22.3.1946 an W. STAPEL, daß F. GOGARTEN ihn anläßlich von WOLFs Rede besucht und erklärte habe, daß er nun begriffen hätte, wie anständig es in der Göttinger Theologischen Fakultät 1935 bis 1945 trotz der scharfen Gegensätze hergegangen sei. 15 A.a.O., 62-66. 16 Vgl. etwa a.a.O., 64. 17 So der Vorschlag von D. RÖSSLER, Positionelle und kritische Theologie, in: ZThK 67 (1970), 215-231. 12 13

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großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus' aus dem Jahre 1917 gelangt Holl nämlich zu folgender Erkenntnis: „Die Kriege (sc. der Dreißigjährige Krieg und die Befreiungskriege) haben die bestehenden theologischen Gegensätze nie aufgehoben, sondern eher vertieft und zu den vorhandenen neue hinzugefügt. Das war nicht in jeder Hinsicht ein Schade. Die nachfolgende Entwicklung zeigt regelmäßig, daß keine der verschiedenen Richtungen an ihrer Stelle fehlen durfte, wenn nicht ein Stück des Christentums verloren gehen sollte." 18 In dieser dialektisch geschärften historischen Diagnose Holls - nicht umsonst empfand Holl sich als posthumer Schüler Ferdinand Christian Baurs - ist vorweggenommen, was nach 1918 Wirklichkeit wurde: in der bereits vor 1914 konstitutiv positioneil bestimmten, theologischen und kirchlichen Öffentlichkeit 19 löste der Erste Weltkrieg einen positioneilen ,Schub' aus. Die Gestaltung der neugewonnenen kirchlichen Selbständigkeit und die Sorge um den religiös-sittlichen Zerfall des deutschen Volks, bewegten auch den stets sehr eigenständigen Liberalen Karl Holl, sich nach 1918 neu und dezidiert positionell zu orientieren. 20 Die facettenreiche Wirkung seiner Luther-Deutung in der ,Lutherrenaissance' läßt sich dementsprechend nur dann angemessen verstehen, wenn der Blick nicht auf seine Schule begrenzt bleibt, sondern die daran anschließende neue theologische Gesamtbewegung im Auge hat21. Diese speiste sich aber nicht nur aus der Holl-Schule, sondern ebenso sehr aus positiven Theologen, die vor allem durch die nicht-konfessionalistische, aber reformatorisch und biblisch orientierte Theologie Martin Kählers geprägt waren. In diesem Kreis positiver Theologen hatte der Göttinger Systematiker und Kähler-Schüler Carl Stange die Funktion eines organisatorischen, wenn auch nicht unbedingt theologischen Mittelpunkts 22 .

Karl HOLL, G A ΙΠ, 383. " Vgl. dazu nur WALLMANN, 1985, 220-237 (konservative: konfessionell bzw. biblisch orientierte Theologie; liberale: historisch-kritische Exegese, seit 1890 religionsgeschichtliche Schule; Vermittlungstheologie, seit 1870 Ritschlsche Schule); und neuerdings F.W. GRAF, Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreichs, in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus 2 / 1 , hg.v. F.W. GRAF, Gütersloh 1992, 12-117, v.a. 77-94 (konservatives Kulturluthertum; Ritschlianer; Religionsgeschichtliche Schule). 20 Vgl. dazu u.S.112-118. 21 Dabei nehmen wir die Anregung Johannes WALLMANNs auf, der nicht nur eine schärfere Differenzierung zwischen Holl und Holl-Schule einerseits, ,Lutherrenaissance' andererseits fordert, sondern auch erste Hinweise für diese notwendige Unterscheidung gibt, WALLMANN, 1978, 2f A n m . 6 und 31-33. 22 Einige ältere dieser positiven Theologen fanden sich vor 1920 in der sog. .Goslaer Konferenz' zusammen, die einmal jährlich im Herbst tagte und in der Carl STANGE bereits eine gewisse Leitungsfunktion innehatte. Z u ihnen gehörten etwa (wie R. H e r m a n n am 18.9.1917 in einem Brief an seine Mutter berichtet) aus Göttingen neben Carl STANGE: Johannes MEYER, Nathanael BONWETSCH; aus Greifswald: O t t o PROCKSCH; aus Rostock: Johannes HERRMANN; aus Breslau: Wilhelm CASPARI; aus Kiel: Julius KÖGEL; aus Königs18

21

Es sind diese beiden Flügel, die - versammelt um das Programm einer gemeinsamen Rückbesinnung auf den jungen Reformator - zwischen 1918 und 1933 eine labile Koalition eingingen. Die gemeinsame Abgrenzung gegen die Theologie Ritschis und die Konkurrenz mit der religionsgeschichtlichen Schule und der Dialektischen Theologie verliehen der Gruppierung zusätzlichen Zusammenhalt.

2. Die ,ZSyTh' als Organ

der,Lutherrenaissance'

Läßt sich jene heterogene, theologische Aufbruchsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg, die später aus höchst verschiedenen Interessen als .Lutherrenaissance' gekennzeichnet wurde, personell und programmatisch schärfer als bisher umgrenzen? Dazu sei ein weiteres Mal an Ferdinand Christian Baur, genauer an eine methodische Eigenart seiner ,Kirchengeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts' erinnert23. Baur schließt in seiner Darstellung der Kirchengeschichte von 1800 bis etwa 1850 jeden Einzelabschnitt mit einem Uberblick über die theologische und kirchliche Zeitschriften-Literatur des jeweiligen Zeitraums ab, „da sich besonders auch in ihr das Verhältniss der verschiedenen Richtungen und Parteien zu erkennen gibt." 24 Dieses methodische Verfahren bewährt sich nicht nur für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch die Theologie der Kaiserzeit (1870-1918) mit ihrer „Fundamentalpolitisierung der innertheologischen Auseinandersetzungen"25 entwickelte eine posi-

berg: Alfred UCKELEY; aus Halle: Paul FEINE. - Jüngere Theologen, die Stange nahestanden, wie Rudolf HERMANN, Kurt DEISSNER und Erich SEEBERG stießen zu diesem Kreis schon v o r 1920 gelegentlich hinzu. Weitere Schüler Carl Stanges, die in den zwanziger Jahren Bedeutung erlangten, waren etwa Georg WEHRUNG, Paul ALTHAUS, Renatus HUPFELD und Ernst SOMMERLATH, anfangs auch H . J . IWAND. Selbst so völlig eigenständige Theologen wie E r i k PETERSON waren STANGE Anfang der zwanziger Jahre loyal verbunden (noch zum 60. Geburtstag STANGEs steuerte PETERSON im Jubiläumsheft der Z S y T h einen Aufsatz bei, vgl. E . PETERSON, D i e Einholung des Kyrios, in: Z S y T h 7 (1929/1930), 682-702), weil er sie protegierte („er wird einer unserer besten Theologen werden", STANGE an

Hermann,

4.3.1922) und in der N o t der ersten Nachkriegszeit nicht zuletzt für ein finanzielles A u s k o m m e n sorgte (so gab etwa R . Hermann vermittelt über STANGE 1920 bis

1922

mehrmals namhafte Teile seines Gehalts als Inspektor des Breslauer Johanneums

an

PETERSON weiter, vgl. STANGE an Hermann, 4.3.1922). Schließlich hatten in den zwanziger und dreißiger Jahren auch selbständige Schüler KÄHLERs wie Hans E m i l WEBER regelmäßigen Kontakt zum Stange-Kreis. - D i e zentrale Funktion, die Carl STANGE Mitte der zwanziger Jahre in der positiven Theologie hatte, zeigt sich auch darin, daß er 1 9 2 7 / 2 8 wenn auch vergeblich - als Nachfolger Reinhold SEEBERGs nach Berlin berufen wurde. 23

F . C . BAUR, Kirchengeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts, hg.v. E . ZELLER, Tübin-

gen 1862. 24

A . a . O . , 424; vgl. 107 (Zeitraum 1800-1815); 2 2 4 - 2 3 1 (1815-1830); 389f (zur Geschichte

der .Deutschen Jahrbücher' der Linkshegelianer 1842); 4 2 4 - 4 3 0 , 4 5 4 - 4 5 8 (1830-1850). 25

22

GRAF, 77.

tionell reich differenzierte, theologische und kirchliche Zeitschriftenliteratur26. Für den gesamten Zeitraum von 1820 bis 1945 hat schließlich die Theologiegeschichte von Friedrich Mildenberger die Einsicht Baurs aufgenommen und die theologischen Richtungen jeweils von ihren wissenschaftlichen Publikationsorganen her erfaßt27. Folgt man in unserer Frage dem methodischen Fingerzeig Ferdinand Christian Baurs, so stößt man auf die im Mai 1923 erstmals erschienene Zeitschrift für Systematische Theologie' als jenes Organ, in dem die Mehrzahl der gemeinhin zur,Lutherrenaissance' gerechneten Theologen regelmäßiger publizierte. Ließe sich also die Zeitschrift für Systematische Theologie' als Organ der ,Lutherrenaissance' verstehen? Könnte man der Verlegenheit einer personellen und programmatischen Profilierung dadurch entgehen, daß man auf den ,Kreis um die Zeitschrift für Systematische Theologie' verwiese - im selben Sinne, in dem man schon längst auf den Kreis von .Zwischen den Zeiten' oder auf den (sehr viel größeren) .Verein der Freunde der Christlichen Welt' verweist, um die Dialektische Theologie oder den Kulturprotestantismus zu erfassen?28 In der Tat repräsentieren die Herausgeber der ZSyTh Carl Stange (als Hauptherausgeber), Emanuel Hirsch, Paul Althaus und Georg Wehrung (als Mitherausgeber) die ältere und jüngere Schule Martin Kählers und die Schule Karl Holls. Zudem zeigen jetzt die Briefe Karl Holls an Carl Stange aus der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, daß auch Karl Holl selbst „die Zeitschrift für systematische Theologie für die theologische Zeitschrift" hielt und deshalb nach 1923 bis zu seinem frühen Tod 1926 bewußt in ihr publizierte29. Darüberhinaus empfehlen aber eine Reihe weiterer Umstände ein genaueres Augenmerk auf die .Zeitschrift für Systematische Theologie': (1) Schon die Gründungsgeschichte der ZSyTh ist auf das engste mit der Auseinandersetzung zwischen Carl Stange, Emanuel Hirsch und Karl Barth im Göttingen der frühen zwanziger Jahre verknüpft. Das nahezu gleichzeitige erstmalige Erscheinen von .Zwischen den Zeiten' und der ZSyTh ist denn auch keinesfalls zufällig. Karl Barths Vermutung, daß es sich bei der ZSyTh wahrscheinlich um einen Feind handle, „mit dem wir (sc. mit .Zwischen den Zeiten') noch zusammenstoßen werden, wenn er nicht, wie vermutet wird, eigens zu diesem Zweck errichtet ist"30, engt die anti-liberalen Gründungsab-

26 Vgl. GRAF, 78.84.85f. Vgl. auch: Programme Evangelischer Kirchenzeitungen im 19. Jahrhundert, hg.v. G . MEHNERT, Witten 1972. 27 F . MILDENBERGER, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, Theologische Wissenschaft 10. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1981, 239-285. 28 Vgl. dazu o.S. 17 A n m . l und GRAF, 85f, vgl. J. RATHJE, Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte. Dargestellt am Leben und Werk von Martin Rade, Stuttgart 1952. 29 HOLL an STANGE, 3.10.1925, vgl. u.S.l26f. 30 Barth-ThBr 11,172 (29.5.1923).

23

sichten, die Carl Stange und Emanuel Hirsch als die Hauptinitiatoren mit der ZSyTh hegten, zwar allzu sehr ein31. Doch ist die Tatsache, daß Barth schon am Beginn solche Verdrängungsabsichten vermuten konnte, bezeichnend. Es würde den Rahmen dieser Einleitung sprengen, wollte man die Göttinger Vorgeschichte der beiden Zeitschriftengründungen erzählen, die streckenweise Züge einer chronique scandaleuse annimmt. 3 2 N u r weniges sei erwähnt: Karl Barth und Emanuel Hirsch traten gleichzeitig z u m Wintersemester 1921/22 ihre Göttinger Lehrtätigkeit an. Hier trafen Sie auf den älteren Carl Stange, einen erklärten Gegner der Ritschlschen Theologie. Stange, der beständig gegen die Göttinger Ritschl-Tradition anging, regte schon Ende N o v e m b e r 1921 eine dementsprechende Koalition mit den Neuberufenen an. 33 In der Tat k a m es im Wintersemester 1921/22 zu regelmäßigen sonntagabendlichen .Kränzchen' zwischen Stange, Hirsch und Barth 3 4 . N a c h anfänglichem Abtasten setzen schon i m Frühjahr 1922 die ersten Irritationen ein. 35 Zwischen Stange und Barth k o m m t es bereits im Mai 1922 zur Entfremdung. Der Anlaß ist zugleich überraschend und für unseren Zusammenhang symptomatisch: Stange hielt am 8. Mai anläßlich des 100. Geburtstags von Albrecht Ritsehl die Gedenkrede der Fakultätsfeier. 3 6 Diese Rede, die Stange schon bald als Erläuterung

51 STANGE als Hauptherausgeber hatte eine eigene Zeitschrift schon 1921 - also vor den entscheidenden Zusammenstößen mit Barth und vor der Gründung von .Zwischen den Zeiten' (im August/September 1922) - geplant. 32 Vgl. W. TRILLHAAS, Emanuel Hirsch in Göttingen, in: ZThK 81 (1984), 220-240. 33 Vgl. BARTH an THURNEYSEN, Barth-ThBr 11,15 (27.11.1921): „Heute Abend sind wir bei Stange mit Pipers zusammen. Er will ihn (sc. Otto Piper), Hirsch und mich in einer Art Kränzchen um sich scharen unter der Flagge ,Wir Jüngeren'!!!, wahrscheinlich ist er ein Fuchs; ich habe aber nicht im Sinn, mich ... der Sache einfach zu entziehen, sondern will den Anlaß benützen, einmal in die Geschichte hineinzusehen." 34 27.11.1921 (Barth-ThBr 11,15); 11.12.1921 (STANGE über den Entwicklungsbegriff in der Religionsgeschichte, Barth-ThBr 11,31); 8.1.1922 (BARTH über die Kirche, Postkarte an A.K. Barth vom 11.1.1922); 22.1.1922 (HIRSCH über den Begriff des historischen Verstehens; Barth-ThBr 11,31); 5.2.1922 (drei Kurzreferate von BARTH, HIRSCH und STANGE über ihr Verhältnis zu FEUERBACH, Barth-ThBr 11,31.36); 12.2.1922 (Gespräch über das Problem der christlichen Kunst, Postkarte an A.K. Barth vom 17.2.1922); 26.2.1922 (STANGE über Leib und Seele, Barth-ThBr II,50f); zum letzten Mal im Sommersemester 1922 am 21.5.1922 (BARTH über Zwingli, Barth-ThBr 11,79). Für Hinweise dazu danke ich meinem Kollegen M. FREUDENBERG. 35 Vgl. BARTH an THURNEYSEN, 27.2.1922 (11,50). STANGE an R. Hermann, 4.3.1922: „Ich habe im letzten Winter alle 14 Tage mit Barth und Hirsch ... ein theol. Kränzchen gehabt, welches sehr angeregt verlief. B[arth] hat allerdings nach anfänglich großer Begeisterung bei den Studenten ... zum Teil heftige Opposition geerntet. Er ist noch ganz im Werden. Das Buch von Brunner (sc. Erlebnis, Erkenntnis und Glaube, Tübingen 1921, das Barth Stange geliehen hatte, vgl. Barth-ThBr 11,23) zeigt am deutlichsten auch B.s Position: Übernahme der Idee der Transzendenz aus der Identitätsphilosophie; eingekleidet in religiöses] Pathos. Gogarten hat neulich hier gesprochen (sc. über Offenbarung und Zeit, Barth-ThBr II,46f) und bot < e i n > doppeltes Bild: wildeste Dialektik im Gewände des Propheten." Vgl. demgegenüber Hermanns außerordentlich positives Urteil über den frühen Barth, u.S. 310. 36 Vgl. C. STANGE, Albrecht Ritsehl: Die geschichtliche Stellung seiner Theologie, Leipzig 1922.

24

zum Programm der ZSyTh verstand und die auch Karl Holls Zustimmung erhielt37, erntete bei Barth heftigste Ablehnung und ein ausnehmend positives Bekenntnis ausgerechnet zu Ritschis Liberalismus: „Stange hielt seinen Vortrag, eine schlaue Sache, bei deren Anhörung man es, wo er Ritsehl lobte, entschieden mit dessen Gegnern (z.B. F. Chr. Baur), und wo er ihn tadelte, entschieden mit Ritsehl halten mußte. Uberhaupt: Front nach rechts! besonders gegen das moderne Rechts. Was sich dort regt, ist schlimmste Schieber theologie."™ Komplexer noch ist das Verhältnis Barths zu Emanuel Hirsch, mit dem sich Barth anfangs sogar wöchentlich traf und der etwa in den Konflikten Barths mit der Fakultät durchaus zu vermitteln suchte39. Freilich zeigt sich schon im Februar 1922 der theologische Dissens zwischen Barth und Hirsch in aller Deutlichkeit: Nachdem sie vom 25. auf den 26. Februar eine Nacht lang über hermeneutische Grundsatzfragen in These und Gegenthese „gehörnt" hatten, schickte Barth Hirschs Thesen mit den eigenen Gegenthesen an Thurneysen40. Schon damals bemerkte Barth, wie die völkische Bindung bei Hirsch zur Verstehensbedingung der Schrift avancierte: „Gefährlicher ist, daß im Vordergrund unserer scheinbar so weitab gelegenen Diskussionen die politische Frage spukt, die er (sc. Hirsch) mit unheimlicher Leidenschaft behandelt, die Worte .Schuldlüge', .Schmachfriede', .Feindbund' etc. beständig die Luft durchbrausen, und daß das die .konkrete Situation' (sc. des Verstehens der Schrift) ist, an der ihm so gelegen ist und für die er in der Bibel durchaus ein .gutes Gewissen' sucht ..."41. Schon knapp ein Jahr später wurde die implizite politische Relevanz der Auseinandersetzungen mit Hirsch, aber auch mit Stange explizit. Im Januar 1923 brachte die französische Ruhrbesetzung die nationalistische Erregung auf einen Höhepunkt. In Göttingen spitzte sie sich zum Fall Piper zu.42 Otto Piper, systematisch-theologischer Privatdozent in Göttingen hielt nämlich zusammen mit einem Kreis von Studenten Kontakt zu französischen Theologiestudenten im Rahmen des .Christlichen Versöhnungsbundes'. Noch im Januar 1923 fand daraufhin eine große Fakultätsversammlung statt, in der Stange und Hirsch für einen Abbruch der Beziehung votierten und Piper unter Druck setzten, während Barth mit Piper bald auch unterstützt von Martin Rade - für ein Aufrechthalten des Kontaktes ein-

Vgl. U.S.127 A n m . 7 4 . Barth-ThBr 11,73 (9.5.1922, Kursive z.T HA). - Bereits eine Woche später beginnt die innerfakultäre Auseinandersetzung zwischen STANGE und BARTH (vgl. Barth-ThBr 11,86. 213f.217.221.250, auch Barth-Rade, 198f). 39 Vgl. dazu die Darstellung des Hirsch-Schülers W . BUFF, Karl Barth und Emanuel Hirsch. Anmerkungen zu einem Briefwechsel, in: Christliche Wahrheit und neuzeitliches Denken. Zu Emanuel Hirschs Leben und Werk, hg.v. H.M. MÜLLER, Tübingen/Goslar 1984, 15-36. 40 Barth-ThBr Π,41-46 (Rundbrief, 26.2.1922). Vgl. zur Interpretation u.S.63f. 41 Barth-ThBr 11,46. 42 Vgl. zur Zuspitzung dieses Falles im Juli 1923 und zur rechtswidrigen Verhaftung PIPERS wegen .Beherbergung feindlicher Spione', Barth-Rade, 186.187f und v.a. 1 9 0 - 1 9 3 . - Als sich übrigens im November 1933 der völkisch-nationale Schriftsteller Hans GRIMM bei Hirsch für Otto PIPER einsetzte, der v o n der Zwangsentlassung bedroht war, und Hirsch um Mithilfe beim Kultusministerium bat, antwortete Hirsch ablehnend: Grimm dürfe sich mit dem Fall nicht befassen, ohne sich zu kompromittieren. Die Franzosengeschichte, die Identifizierung mit Dehn und die jüdische Ehefrau Pipers, diese drei Dinge hätten zusammengewirkt, um Piper den Hals zu brechen (Hirsch an GRIMM 1.11.1933). 37 38

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trat 43 . Zwei Monate später k a m es über diesen theologischen und politischen Differenzen z u m ersten Bruch zwischen Barth und Hirsch. M Parallel zu den Göttinger Ereignissen wurden seit dem Sommer 1922 die beiden Zeitschriften .Zwischen den Zeiten' und .Zeitschrift für Systematische Theologie' ins Leben gerufen 45 . Sie erschienen erstmals i m Januar 1923 bzw. im Mai 1923.

Die Gründung der ZSyTh war nicht allein, aber auch ein Akt der positioneilen Abgrenzung einer sich formierenden, neuen theologischen Bewegung gegen die sich ebenfalls organisierende Dialektische Theologie. In den Folgejahren kam es zu einer Reihe öffentlicher Kontroversen zwischen Autoren der beiden Zeitschriften 46 . Dabei zeigt ein Vergleich der Auflagenhöhen fünf Jahre nach der Gründung, daß die ZSyTh (1.100 Exemplare) die traditionsreiche, liberale .Zeitschrift für Theologie und Kirche' (500 Exemplare) weit hinter sich gelassen hatte, aber ihrerseits von .Zwischen den Zeiten' (2.200 Exemplare) ebenso deutlich übertroffen wurde. 47 D e r gewählte methodische Ansatz bewährt sich auch darin, daß sich der Zerfall der Dialektischen Theologie wie die Spaltung der .Lutherrenaissance' u m 1933 parallel vollziehen und sich in zwei neuen Zeitschriftengründungen manifestieren: I m selben

45 Hochinteressant sind die verschiedenen Eindrücke von dieser Versammlung, auch wenn sie - aus sehr verschiedenen Zeiten stammend - nur bedingt vergleichbar sind: BARTH schreibt am 23.1.1923: „Den Stange halte ich auf Grund seiner Rede zunächst bis auf weiteres für einen gänzlichen Unchristen. Man sah überhaupt in Abgründe. Die deutschen Professoren sind wirklich wahre Meister darin, Brutalitäten geistreich, sittlich und christlich zu begründen. Nicht umzubringen! Auch Hirsch war schlimm, redete von der una sancta (des deutschen Volkes) und natürlich wieder einmal vom .Gewissen' ... und von ,Herz', drohte aber handkehrum, mit keinem Studenten, der unterschreibe (sc. also weiterhin Kontakt mit den Franzosen halte), fernerhin .Gemeinschaft' haben zu wollen" (Barth-ThBr 11,131). Hirsch berichtet zwanzig Jahre später, am 28.6.1944, an Wilhelm STAPEL von derselben Versammlung: Er sei aufgestanden, habe um's Wort gebeten und habe sehr kalt und ruhig nichts weiter als das gesagt: .Ein Student, der sich an einem Brief an die Franzosen beteilige, sei für ihn erledigt; er wünsche ihn nicht mehr im Kolleg zu sehen. Denn er selbst (Hirsch) sei Professor für junge deutsche Männer'. Darauf Totenstille im Saal, plötzliches tosendes Beifallsgetrampel, und die ganze Angelegenheit sei erledigt gewesen. Man könne sich denken, daß Barth ihn daraufhin haßte. 44 Vgl. BUFF, 25f. Barth-ThBr 11,157 (31.3.1923); 163f (18.5.1923); 171 (29.5.1923). Der entscheidende Abbruch der Beziehung fällt in den April/ Mai 1932 und steht im Zusammenhang des Falles DEHN, vgl. - unter Vorbehalt - BUFF, 33-35. 45 So berichtet BARTH am 14.9.1922 an Georg MERZ inmitten eines Briefes, der die eben beschlossene Gründung von .Zwischen den Zeiten' bespricht, von einem Zusammenstoß Eduard THURNEYSENS mit Carl STANGE und fährt fort: „Hirsch hat mit Althaus und Schmidt-Bonn (sc. Johann Wilhelm Schmidt-Japing) auch so eine Art Kriegsrat gegen uns gehalten, behauptet aber nach wie vor, er suche .Gemeinschaft' mit mir" (Barth-ThBr 11,98). 46 Vgl. u.S. 126 Anm.68; 155 Anm.39 und 268 Anm.16. 47 G. KAUFMANN/ A. HINDERER, Handbuch der Evangelischen Presse, Leipzig 1929, 233. Einige weitere Vergleichszahlen: Theologische Blätter 1.850 Exemplare; Neue Kirchliche Zeitung 1.110 Exemplare; Christentum und Wissenschaft 1.000 Exemplare.

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Brief vom 28. Dezember 1933, in dem Emanuel Hirsch Wilhelm Stapel das Ende von .Zwischen den Zeiten' berichtet, kündigt er die Neugründung einer Zeitschrift mit einem .eigenartig zusammengesetzten' Herausgeberkreis an: der späteren .Deutschen Theologie'48. Um diese Zeitschrift versammelte sich jene Gruppierung von HollSchülern (Beyer; Rückert; H. Bornkamm; Hirsch) und ehemals Dialektischen Theologen (Gogarten), die nach der .Machtergreifung' Hitlers für eine Neuordnung der Deutschen Evangelischen Kirche im Sinne nationalsozialistischer Kirchenpolitik und für eine „kirchlich verantwortliche, wirklichkeitsnahe und volksverbundene evangelische Theologie" eintraten49. Der Kreis ehemals der Dialektischen Theologie zugehöriger Theologen, der sich in der Bekennenden Kirche um Karl Barth scharte, gründete dagegen die - schon in der Namensgebung bewußt den Gegensatz pointierende - ,Evangelische Theologie'50. Die organisatorische Spaltung der .Lutherrenaissance' bahnte sich seit 1930 an. Zwar waren die Beziehungen zwischen Hirsch und Stange Ende 1931 „nach wie vor die einer Vernunftehe mit wechselnder Intensität der Gefühle"51, doch publizierte Hirsch seit diesem Jahr nicht mehr in der ZSyTh. Anfang 1934 war dann das Verhältnis Stanges zu Hirsch wegen dessen deutschchristlicher Aktivitäten endgültig „völlig zerbrochen"52. Nicht zuletzt durch die Spaltung der sie tragenden Gruppierung geriet die ZSyTh an den Rand des Ruins53. Nur durch einen Verlagswechsel und eine veränderte Konzeption (als Organ vornehmlich positiver, gemäßigt bekenntniskirchlicher und konfessionalistischer Theologen) konnte sie sich bis 1943 halten. Schon aus diesem Grund legt es sich nahe, die Jahre zwischen 1933 und 1935 als Zäsur in der äußeren Entwicklung der ,Lutherrenaissance' anzusetzen. Durch die Ereignisse zwischen 1933 und 1935 wurde für die ,Lutherrenaissance' und parallel dazu für die ZSyTh auch die andere Stütze ihrer vormaligen positionellen Macht brüchig: ihre enge Einbindung ins ökumenische, vor allem ins skandinavische Luthertum.

48

Hirsch an STAPEL, 28.12.1933.

4'

So das Programm der D T h , erstmals im Luthersonderheft vom November 1933, danach

jeweils auf der Umschlaginnenseite wieder abgedruckt. Auch Theologen wie Johannes HEMPEL, die vor 1933 in der ZSyTh publiziert hatten, gingen zur D T h über (vgl. Anhang). 50

F ü r diese Information danke ich K. ACHTELSTETTER und verweise auf ihre im Entstehen

begriffene Erlanger Dissertation über die Geschichte der .Evangelischen Theologie'. 51

So der STANGE wie Hirsch gleichermaßen nahestehende Göttinger Alttestamentler

Johannes HEMPEL an R. Hermann, 1.11.1931. Die Korrespondenz zwischen C. Stange und E. Hirsch zwischen 1920 und 1930 (Stange-Nachlaß/Göttingen: 13 Briefe, 5 Karten) bestätigt diesen Eindruck: Thema sind v.a. technische Fragen (Publikations-, Vortragsformalitäten etc.) Die Gratulation Hirschs zu Stanges 60. Geburtstag (vom 7.3.1930) blieb freundlich reserviert. 52

STANGE an Hermann, 25.1.1934.

53

Der Ubergabevertrag v o m 11.2.1936, mit dem die ZSyTh vom Bertelsmann-Verlag zum

Verlag Alfred Töpelmann überging, zeigt, daß die Abonnentenzahl unter 400 gesunken war und die Zeitschrift jährlich einen Zuschuß von 3.000 R M benötigte (vgl. § 6 des Vertrags). Vgl. zu weiteren Gründen des Absinkens (STANGEs Ubergewicht!) auch den Brief LlETZMANNs an ALTHAUS, 29.5.1935, LiBr Nr.917, 818.

27

(2) Von Beginn an verstand es Carl Stange zusammen mit Emanuel Hirsch und Paul Althaus, die ZSyTh mit dem deutschen Luthertum (in Gestalt der Evangelisch-Lutherischen Kirchenkonferenz) und mit dem sich in den zwanziger Jahren herausbildenden ökumenisch orientierten Luthertum (in Gestalt des Lutherischen Weltkonvents) zu verbinden. Damit trug die ZSyTh wesentlich dazu bei, daß die ,Lutherrenaissance' nicht nur ein deutsches Phänomen blieb. Eine Reihe namhafter skandinavischer Theologen, vor allem die Lunder Systematiker Gustav Aulen (1879-1977) und Anders Nygren (1890-1978)54, aber auch die schwedischen und dänischen Kierkegaard-Forscher Torsten Bohlin (1889-1950) und Eduard Geismar (1871-1939) oder Systematiker wie Arvid Runestam (1887-1862, Uppsala) und Christian Ihlen (1868-1958, Oslo), die regelmäßig in der ZSyTh publizierten, sorgten dafür, daß die .Lutherrenaissance' eine internationale, theologische Bewegung wurde55. Zugleich war diese Bewegung in das deutsche und skandinavische kirchliche Luthertum fest eingebunden. Vor allem Carl Stange hielt dauernden persönlichen Kontakt mit mächtigen Kirchenmännern wie Ludwig Ihmels (1858-1933)56, aber auch Alfred Th. Jorgensen (1874-1954) und Nathan Söderblom (1866-1931)57. Wichtiger noch war die institutionelle Verankerung der ZSyTh im Apologetischen Seminar Wernigerode, aus dem 1932 als ,Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft und des geistigen Lebens im Rahmen lutherischer Okumenizität' die Luther-Akademie Sondershausen hervorging. Die Nachzeichnung der vielfältigen Vernetzung der .Lutherrenaissance' der zwanziger Jahre u n d des sich zur selben Zeit konstituierenden, internationalen Luthertums (erstmalige Tagung des Lutherischen W e l t k o n v e n t s 1923 in Eisenach; 1929 in Kopenhagen) - wesentlich ein W e r k Carl Stanges u n d Ludwig Ihmels - w ä r e Thema einer eigenen Arbeit 5 8 . N u r wenige Eckpunkte seien genannt: 1920 w u r d e Carl Stange Leiter des 1908 gegründeten Apologetischen Seminars Wernigerode. 1923 ü b e r n a h m L u d w i g Ihmels den V o r s i t z v o n dessen Trägerverein, des .Bundes f ü r christliche Weltanschauung'. Binnen kurzer Zeit gelang es Stange, die ursprüngliche

54 Vor allem Anders NYGREN, 1947-1952 der erste Präsident des Lutherischen Weltbunds, stand STANGE schon Anfang der zwanziger Jahre nahe und war bereits 1924 Mitglied des Bundes für christliche Weltanschauung. Die lebenslange Verbindung zeigt vielleicht am eindrücklichsten der Nachruf NYGRENS auf STANGE: Carl Stange als theologischer Bahnbrecher, in: NZSyTh 2 (1960), 123-128. 55 Vgl. zur Publikationshäufigkeit und zu weiteren skandinavischen Theologen, die hier zu nennen wären, die Autorenliste der ZSyTh im Anhang. 56 Vgl. C.M. HAUFE, Art. Ihmels, Ludwig (1858-1933), in: TRE 16, 1987, 55-59. 57

V g l . z u r B e d e u t u n g u n d z u r K o o p e r a t i o n IHMELS', j0RGENSENs u n d SÖDERBLOMs in

der ersten Hälfte der zwanziger Jahre: H. KERNER, Luthertum und Ökumenische Bewegung für Praktisches Christentum 1919-1926, Die Lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten 5, Gütersloh 1983, 99-116.142-145.147-151. 58 Der reiche Nachlaß Carl STANGEs ist noch in Privatbesitz. Uns lag bei Ausarbeitung dieser Dissertation daraus der größte Teil der Korrespondenz STANGEs zum Apologetischen Seminar Wernigerode, zur Vorgeschichte der Luther-Akademie und zur ZSyTh vor.

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Zielsetzung des Seminars, das jedes Jahr im Herbst apologetische Laienkurse in Wernigerode durchführte, zu verändern. Aus den Wernigeroder Herbsttagungen wurden, ab 1923 ins größere und kostengünstigere Helmstedt verlegt, .Helmstedter Hochschulwochen', die (mit jeweils prominenter Besetzung und mehrtägigen thematischen Vorträgen) immer mehr zu einem theologischen Kristallisationspunkt der frühen ,Lutherrenaissance' wurden59. Zugleich gab Stange die Studien des apologetischen Seminars Wernigerode heraus, in denen wichtige Vorträge der Hochschulwochen, bisweilen ausgearbeitet zu Monographien, erschienen. .Klassiker' der .Lutherrenaissance' wie Anders Nygrens .Eros und Agape'60 und zuvor schon seine frühe religionsphilosophische Arbeit: .Die Gültigkeit der religiösen Erfahrung'61, Paul Althaus' .Die letzten Dinge' 62 , Karl Holls .Urchristentum und Religionsgeschichte'63, Emanuel Hirschs ,Die idealistische Philosophie und das Christentum' und seine monumentalen ,Kierkegaard-Studien'64, Rudolf Hermanns ,Das Verhältnis von Rechtfertigung und Gebet nach Luthers Auslegung von Rom. 3 in der Römerbriefvorlesung'65 erschienen erstmals in dieser Reihe. Ein Meilenstein in der internationalen Zusammenarbeit war der - wiederum maßgeblich von Stange organisierte - erste schwedischdeutsche Theologenkonvent in Uppsala vom 21. bis 31. August 1928, auf dem u.a. A. Nygren (Eros und Agape), A. Runestam, Einar Billing, C. Stange, P. Althaus und R. Hermann vortrugen66. Die bis zum Ende der zwanziger Jahre reich geknüpften Beziehungen zur skandinavischen Theologie67 machten es Stange möglich, die von A. j0rgensen 1929 bei der Zusammenkunft des Lutherischen Weltkonvents in Kopenha-

59

Einige Beispiele seien genannt: während der Tagung im September 1923 sprachen u.a. E.

HIRSCH, P. ALTHAUS, der Staatsrechtler R. STAMMLER (schon vor Stange Mitglied des .Bundes', vgl. zu seiner Rolle auch u.S.126f), der Mediziner Rudolf EHRENBERG, C. STANGE und L. IHMELS; im September 1924 u.a. L. IHMELS, K. HOLL, P. ALTHAUS, E. HIRSCH, C. STANGE, R. STAMMLER und F . BRUNSTÄD; im Oktober 1925 u.a. R. HERMANN, der Psychosomatiker Victor v. WEIZSÄCKER und R. SEEBERG; im Oktober 1926 u.a. L. IHMELS; H . E . WEBER; C . STANGE; P. ALTHAUS; E. HIRSCH; vgl. Mitteilungen für die Teilnehmer des Apologetischen Seminars in Wernigerode N r . 1 4 (1923), 8f; N r . 16 (1924), lf; N r . 2 1 (1926), 12f. 60

Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe 1, aus dem Schwed. iis.v. I.

NYGREN, Studien des apologetischen Seminars Wernigerode 30, Gütersloh 1930. 61

Heft 8, Gütersloh 1922.

62

Heft 9, Gütersloh 1922 (Die letzten Dinge. Entwurf einer christlichen Eschatologie, I.A.

1922). 63

Heft 10, Gütersloh 1925.

M

Heft 14, Gütersloh 1926 bzw. Hefte 29.31.32.36, Gütersloh 1930 (Bd.l). Dann weiter:

1931 (Bd.3.1) 1933 (Bd.2., 3.2, 3.3). 65

Heft 15, Gütersloh 1925.

66

Von Königsberg aus reiste dazu H.J. IWAND mit zwanzig Studenten nach Uppsala (vgl.

STANGE an Hermann, 25.7.1928). - Einige Vorträge der Tagung sind im 4. Heft der ZSyTh 6 (1928/29) veröffentlicht. 67

Vgl. zur Partnerschaft der theologischen Fakultäten Göttingens und Kopenhagens und

zur Verbindung E. GEISMARS nicht nur mit E. Hirsch, sondern auch mit C. STANGE: J. H . SCHJ0RRING, Theologische Gewissensethik und politische Wirklichkeit. Das Beispiel Eduard Geismars und Emanuel Hirschs, A K Z Reihe B, Bd.7, aus dem Dan. v. E. HARBSMEIER, Göttingen 1979, 9 0 - 9 2 . 2 2 0 .

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gen geäußerte Idee einer internationalen Luther-Fakultät aufzunehmen und im Sinne einer praktikableren Lösung zu konkretisieren: Die Ferienkurse des Wernigeroder Seminars sollten ausgeweitet und künftig als .Luther-Akademie' durch das internationale Luthertum finanziert werden. Dazu konnte Stange mit einem Angebot der Thüringer Staatsregierung aufwarten, die dazu einen Teil des Schlosses Sondershausen kostengünstig bereitstellte68. Auch mit diesem Vorschlag setzte Stange sich durch, so daß 1932 die Luther-Akademie in Sondershausen gegründet wurde, deren wissenschaftlicher Leiter Stange war6'. Von Beginn an wurde die ZSyTh das Forum des Apologetischen Seminars: „Es ist klär: ohne daß die syst. Zeitschrift ausdrücklich unser Organ ist, bilden wir in besonderem Sinn ihre Lehrgemeinde."70 Die Mehrzahl der Vortrage der von Stange organisierten Tagungen erschienen folgerichtig in der ZSyTh (bisweilen gleichzeitig in den Studien des Apologetischen Seminars). Diese Hinweise mögen zeigen, wie eng die ZSyTh über ihre Herausgeber Emanuel Hirsch und Paul Althaus, vor allem aber über Carl Stange, mit der werdenden internationalen ,Lutherrenaissance' verknüpft war. Der methodische Zugang zur positioneilen Bestimmung der ,Lutherrenaissance' über ihr Publikationsorgan bewährt sich auch darin, daß ein auf Deutschland eingeengter Blickwinkel unmöglich wird. Neben der innerdeutschen Abgrenzung gegen die Dialektische Theologie hatte die ZSyTh von Beginn an auch das Ziel einer Verbindung mit der skandinavischen ,Lutherrenaissance'71. Nimmt man das Autorenspektrum der ZSyTh zwischen 1923 und 1933 als Maßstab, so wird deutlich, daß in diesen Jahren die ,Lutherrenaissance' eine deutschskandinavische Bewegung war72. Allerdings bedeutete auch hier das Jahr 1933 eine deutliche Zäsur. Es kommt bisweilen zu definitiven Brüchen, zumindest aber zu einer Reihe heftiger Irritationen zwischen deutschen und skandinavischen Theologen73. Jens Holger Schj0rring, der zur Aufhellung dieses komplexen Zusammenhangs zwischen deutscher und skandinavischer .Lutherrenaissance' eine detaillierte Einzelstudie vorgelegt hat, ist zuzustimmen, wenn er resümiert: „man wird aus skandinavischer Sicht sagen dürfen, daß sich auch auf dem Boden einer lutherischen Tradition sehr wohl eine Alternative zu dem national-konservativen Luthertum in Deutschland in den dreißiger

68 Sämtliche Angaben entstammen einer Denkschrift von STANGEs Hand: ,Die LutherAkademie in Sondershausen' (undatiert, wohl Sommer 1931), mit der STANGE im internationalen Luthertum für seine Idee warb, die aber auch in ihrer anti-kommunistischen und antiliberalen Krisenstimmung von Interesse ist. " Vgl. E. WOLF, Art. Luther-Akademie, R G G IV, 3.A., 1960, Sp. 520. - Die Entstehungsgeschichte der Luther-Akademie ist noch nicht geschrieben. 70 Mitteilungen des Apologetischen Seminars, Nr.15 (1924), 10. Vgl. Nr.14 (1923), 6f. 71 Vgl. den bei SCHJ0RRING, 123f, wiedergegebenen Brief E. Hirschs an E. GEISMAR vom 7.11.1924, der eben diese beiden Ziele der ZSyTh nennt. 72 Vgl. Anhang. 75 Vgl. SCHJ0RRING, 224-265: die enge Arbeitsgemeinschaft zwischen Hirsch und GEISMAR zerbricht; zu Irritationen kommt es etwa zwischen F. TORM (damals im Vorstand der

L u t h e r - A k a d e m i e ) , A . NYGREN u n d C . STANGE (vgl. 2 1 9 - 2 2 1 ; 2 3 5 i ) .

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Jahren entwickeln ließ; nicht zuletzt in der schwedischen ,Lundenser Theologie' trat dies zum Vorschein."74 Mit dieser Einsicht stellt sich allerdings für unsere Arbeit ein methodisches Grundproblem: „Die wechselseitigen Beziehungen zwischen der deutschen und der skandinavischen Lutherrenaissance lassen sich nicht auf eine Formel bringen. Die Wirkungsgeschichte des Luthertums in der gesellschaftlichen Krise der Jahre zwischen den beiden Weltkriegen verlief in Deutschland und in Skandinavien ganz verschieden."75 In der Tat ist der Autorenkreis der ZSyTh nicht nur sehr viel größer als etwa jener von .Zwischen den Zeiten'. In ihm überkreuzen sich auch deutsche Schulunterschiede, etwa zwischen der Schule Karl Holls und den von Martin Kahler herkommenden Theologen, mit - wenn auch weniger scharf ausgebildeten - skandinavischen Eigenheiten, etwa den Unterschieden einer dänischen, von Kierkegaard geprägten ,Lutherrenaissance' um Eduard Geismar zu der von Kant und Schleiermacher ausgehenden Lunder Schule76. Schließlich nimmt die .Lutherrenaissance' in Deutschland durch den bestimmenden Einfluß des Ersten Weltkriegs, durch die politischen Antagonismen der Weimarer Zeit und durch den Kirchenkampf eine andere Entwicklung als in Skandinavien. Um zu einer Darstellung des mittlerweile klarer faßbaren, aber auch komplexeren Phänomens ,Lutherrenaissance' zu kommen, sind deshalb eine Reihe methodischer Eingrenzungen nötig. 3. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands (1) Wir beschränken uns zunächst bewußt auf die deutschsprachige .Lutherrenaissance'. Dabei ist terminus ad quem der Untersuchung der frühe Kirchenkampf, also die Jahre von 1933 bis 1935. (2) Unter dieser Voraussetzung ist eine Darstellung ohne eine umfassende Würdigung der Luther-Interpretation Karl Holls undenkbar; denn sie markiert in Deutschland den eigentlichen Durchbruch zu jener Aufbruchsbewegung, die den Namen ,Lutherrenaissance' erhielt. Von ihr hat die Interpretation auszugehen. (3) Auf der Basis dieser Eingrenzung bietet sich ein doppelter Weg: eine eher zeitgeschichtlich und kommunikationstheoretisch orientierte Untersuchung müßte die Entwicklung der ZSyTh als Organ der ,Lutherrenaissance' im einzelnen nachzeichnen und dabei nach Leitthemen der publizierten Aufsätze, nach signifikanten Konflikten - etwa mit .Zwischen den Zeiten' - , nach dem Einfluß des Hauptherausgebers Carl Stange, der mit 71 Publikationen

74

SCHJ0RRING, 316. SCHJ0RRING, ebd. 76 Vgl. zu Einzelheiten nur die Berichte von G. HORNIG, Systematische Theologie in Dänemark und Schweden, in: NZSyTh 1 (1959), 81-110; und v.a. zur Lunder Schule: ders., Offenbarungstheologie und Motivforschung in Schweden, in: NZSyTh 16 (1974), 146-174. 75

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zwischen 1923 und 1943 (1923-1933: 47) das Profil der Zeitschrift bisweilen allzusehr bestimmte, und schließlich nach der Funktion von Zeitschriften in der positionell-theologischen Öffentlichkeit überhaupt fragen. Wir wählen hingegen eine primär systematisch-theologische und theologiegeschichtliche Zugangsweise: Neben Karl Holl werden zwei deutschsprachige Theologen zum Gegenstand der Untersuchung, die einerseits das Profil der ZSyTh nach Inhalt und Zahl der Publikationen signifikant prägten und die untereinander so verschieden sind, daß ihre Theologien nicht nur paradigmatisch für die unterschiedlichen Wurzeln und das Spektrum der .Lutherrenaissance' stehen können, sondern auch die Spaltung dieser Bewegung im Jahre 1933 und ihre Vorgeschichte verstehbar machen. Es sind dies der Göttinger Kirchengeschichtler und spätere Systematiker Emanuel Hirsch und der Breslauer und spätere Greifswalder Systematiker Rudolf Hermann. Eine Reihe von Gründen motiviert diese Wahl: Hirsch und Hermann waren - abgesehen von Paul Althaus - jene Autoren, die zwischen 1923 und 1933 am häufigsten in der ZSyTh publizierten und beide den Status regelmäßiger Mitarbeiter innehatten77. Sie repräsentieren wie wenige andere die Traditionen der Hollschen bzw. der Kählerschen Theologie und führen deren Problemstellungen in jeweils origineller Weise weiter. Sie gehören beide zu den wirkungsvollsten Theologen der ,Lutherrenaissance', wenn nicht nur die theologische, sondern auch die kirchliche Wirkung Rudolf Hermanns als Lehrer Hans Joachim Iwands und Jochen Kleppers beachtet wird78. Beide stehen für denkbar gegensätzliche Optionen im Kirchenkampf: Hirsch als Vordenker der Deutschen Christen und engster theologischer Berater des Reichsbischofs Müller, Hermann als Mitglied der Barmer und Dahlemer Bekenntnissynode, dabei eine zeitlang führend tätig in der bekenntniskirchlichen Hochschulpolitik. Vor allem aber - und dies ist entscheidend - sie vertreten zwei exemplarisch verschiedene, systematisch-theologische Durchführungen des Programms der ,Lutherrenaissance': Hirsch bietet eine hochreflektierte subjektivitätstheologische Explikation der Hollschen Luther-Deutung. Hermann stellt dem eine nicht weniger philosophisch ausgewiesene sprachtheologische Durchführung des Programms der ,Lutherrenaissance' entgegen. Ohne eigentlich Schüler Holls zu sein, führt Hermann wesentliche Einsichten Holls eigenständig weiter.

77 Hirsch verzeichnete von 1923-1931 13 Aufsätze, Hermann von 1923-1933 14 Aufsätze, insgesamt von 1923-1942 23 Aufsätze; vgl. zu den Vergleichszahlen der anderen Autoren den Anhang. - Der Status eines .regelmäßigen Mitarbeiters', den Stange neben den Herausgebern Hirsch, Althaus und Wehrung auch Hermann verlieh (STANGE an Hermann, 8.5. und 10.5.1927), hatte u.a. eine höhere Bezahlung pro Druckbogen zur Folge. 78 U.a. dem Nachweis dieser Wirkung des zu Unrecht im Westen Deutschlands weithin vergessenen Rudolf Hermann diente die Publikation des Briefwechsels zwischen Hermann und Klepper, vgl. Der du die Zeit in Händen hast. Briefwechsel zwischen Rudolf Hermann und Jochen Klepper 1925-1942, unter Mitarbeit von A . WlEBEL hg.v. H. ASSEL, BEvTh 113, München 1992. Vgl. nun neuerdings auch FISCHER, 1992, 73-75.

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Es sei zudem darauf hingewiesen, daß die Darstellung der .Lutherrenaissance' am Beispiel Emanuel Hirschs und Rudolf Hermanns Anknüpfungspunkte bieten könnte, um die skandinavische .Lutherrenaissance' in ihren Affinitäten und Differenzen zur deutschen Entwicklung zu analysieren. Für Hirsch ist dies bereits vorbildlich durch Jens Holger Schjerring geschehen. Von Rudolf Hermanns Religionsphilosophie liessen sich hingegen interessante Beziehungen zur Lunder Schule aufweisen, vor allem zu jener späten sprachanalytischen Transformation, die Anders Nygren seiner Religionsphilosophie und Motivforschung gegeben hat79. Schon in den zwanziger Jahren vertrat Rudolf Hermann eine Sprachtheologie, die - unabhängig von der angelsächsischen sprachanalytischen Philosophie, aber auch von der kontinentalen Existentialphilosophie- eine Linie sprachphilosophischerund sprachtheologischer Tradition im Gefolge Cassirers und Hönigswalds repräsentiert, die im Dritten Reich abbrach. Die Erinnerung an diese verschüttete Tradition früher Sprachtheologie im 20. Jahrhundert ist eines der Anliegen dieser Untersuchung. Die Entscheidung, die subjektivitäts- bzw. sprachtheologische Durchführung des Programms der .Lutherrenaissance' zur Leitperspektive der Interpretation zu machen, hat aber nicht nur historiographische, sondern auch systematischtheologische Gründe. Dies zeigt eine zweite einleitende Überlegung.

II. D a s P r o g r a m m der Lutherrenaissance u n d seine A p o r i e So weitmaschig das Geleitwort zur ersten N u m m e r der ZSyTh entworfen ist, um das Spektrum möglicher Mitarbeiter breit zu halten, so deutlich gibt es doch der neu sich formierenden theologischen Richtung ein Profil 80 . Das Programm der neugegründeten Zeitschrift - auch dies eine methodische Hypothese - trifft Grundentscheidungen, die es erlauben, dem nun in Ansätzen sichtbaren Phänomen ,Lutherrenaissance' 81 weitere sachliche Konturen zu

79 Vgl. A. NYGREN, Sinn und Methode. Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Religionsphilosophie und einer wissenschaftlichen Theologie, aus dem Schwedischen v. G. KLOSE. Vorwort von U . ASENDORF, Göttingen 1979 (engl. A. NYGREN, Meaning and Method, 1972); vgl. dazu, auch zur Prägung NYGRENS durch STANGE: HORNIG, 1974,

153-158. 80 Ursprünglich wohl von Carl STANGE verfaßt, wurde dieses Geleitwort von Emanuel Hirsch wie von den anderen Herausgebern unterschrieben. Rudolf Hermann begrüßte es ausdrücklich: „Das Programm hat mich sehr gefreut. Ich halte es für sehr richtig und der geistesgeschichtlichen Zeitlage für entsprechend.... Hoffentlich lassen sich Ihre Bitte um rege Mitarbeit allerseits und das entwickelte Programm gleichzeitig halten" (Hermann an STANGE, 20.4.1923). - O. BAYER, seit 1986 Herausgeber der .Neuen Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie', würdigte 1990 dem Geleitwort von 1923 eine eingehende Interpretation (O. BAYER, Theologie und Philosophie in produktivem Konflikt, in: N Z S y T h 32 (1990), 226-236). Er stellt dabei die N Z S y T h - auch nach ihrer Namensänderung 1963 - ausdrücklich in die Kontinuität zum ursprünglichen Programm von 1923, vgl. 227f. 81 Künfig deshalb Lutherrenaissance nicht mehr in Anführungszeichen.

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geben. Zugleich enthält es eine latente Aporie. Gelingt es, diese latente Aporie zu markieren, so erlaubt dies ein erstes Verständnis der Gründe, die zur subjektivitäts- und sprachtheologischen Verzweigung der Lutherrenaissance führten. Diese beiden Hypothesen gilt es zu erläutern. Dazu wird zunächst das Geleitwort der ZSyTh etwas ausführlicher zitiert und auf seine Grundstruktur hin interpretiert. Daran schließt sich eine systematisch-theologische Problemanalyse an.

1. Das Geleitwort

der ZSyTh als Programm

der

Lutherrenaissance

„Die Fragen der Religion und der Weltanschauung sind unter dem Einfluß der Weltereignisse in überraschender Weise in den Vordergrund gerückt worden. In der Theologie hat das zur Folge gehabt, daß sich die systematische Theologie und die Geistesgeschichte einer Beachtung erfreuen, die ihnen seit langen nicht mehr zu teil geworden ist. ... Es ist das Verhängnis unserer modernen Kultur, daß sie als Erbe der Aufklärung die grundsätzliche Geringschätzung und Gegnerschaft gegenüber dem Christentum beibehalten hat. ... Im Zusammenhang dieser Erwägungen will die Aufgabe verstanden sein, die sich die Zeitschrift für systematische Theologie gestellt hat. Die Erneuerung und Vertiefung des Lebens, deren unsere Zeit bedarf, kann nur gewonnen werden, wenn das Vorurteil überwunden wird, als ob ein Verständnis der Welt und des Menschen ohne die Religion möglich sei. Solange noch darüber gestritten wird, ob der Religionsunterricht ein Bestandteil des Schulunterrichts bleiben soll und ob die Theologie in den Rahmen der Universitätswissenschaft gehört..., so lange haben wir die Schranken der Aufklärung noch nicht überwunden. Das Verständnis der Religion aber, welches für die Kultur der Gegenwart allein in Betracht kommen kann, ist das Verständnis der Religion, welches wir der Reformation zu verdanken haben."82 Mit dieser Eröffnung stellt Carl Stange die neugegründete Zeitschrift mitten in die .politisch-weltanschauliche Auseinandersetzung'83 der frühen Weimarer Jahre. Zugleich empfiehlt schon der Einleitungssatz eine neue systematischtheologische Richtung, die den eben erst vollzogenen Zusammenschluß der deutschen, evangelischen Landeskirchen zum ,Deutschen Evangelischen Kirchenbund' in dem Ziel nahesteht, „die religiös-sittliche Weltanschauung der deutschen Reformation"84 gegenüber einem säkular gewordenen Staat und ZSyTh 1 (1923), 3 bzw. 4f (Kursive teilweise HA). G. M E H N E R T , Evangelische Kirche und Politik 1 9 1 7 - 1 9 1 9 . Die politischen Strömungen im deutschen Protestantismus von der Julikrise 1917 bis zum Herbst 1919, Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 16, Düsseldorf 1 9 5 9 , 1 8 3 - 1 8 7 . 84 So der § 1 der Verfassung des .Deutschen Evangelischen Kirchenbundes', der ein Jahr zuvor, am 25. Mai 1922, mit dem Bundeszweck gegründet wurde, „zur Wahrung und Vertretung der gemeinsamen Interessen der deutschen evangelischen Landeskirchen einen engen und dauernden Zusammenschluß derselben herbeizuführen, das Gesamtbewußtsein des deutschen Protestantismus zu pflegen und für die religiös-sittliche Weltanschauung der 82

83

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einer christentumskritischen Kultur apologetisch zu vertreten. Diese apologetische Applikation der reformatorischen Religiosität (und Weltanschauung) empfiehlt die ZSyTh einer Kirche, die nach einer Phase verfassungsrechtlichen Neuaufbaus und einsetzender kirchlicher Konsolidierung „gewissermaßen eine neue landeskirchliche Ideologie" suchte - eine Empfehlung, die, wie sich bereits zeigte, durchaus Resonanz fand 85 . Für die systematisch-theologische Fragestellung unserer Untersuchung wichtiger noch ist allerdings die religionsphilosophische Basis dieses apologetischen Programms. Hier akzentuiert das Geleitwort - in impliziter Abgrenzung gegen die zeitgenössische historistische, v.a. religionsgeschichtliche Interpretation des jüdischen und urchristlichen Glaubens - , „daß das Christentum unter allen Umständen eine Lebensgröße von eigentümlicher Art ist, deren Wesen und Bedeutung nur in der persönlichen Aneignung wissenschaftlich verstanden werden kann ... das Objekt der Theologie ist ... das Christentum selbst, das Christentum als persönliche Uberzeugung, als Lebensbestimmtheit, als persönliches Verhältnis zu Gott. ... Das Verständnis der Geschichte hängt immer von dem Maße ab, in dem wir selbst in lebendiger Berührung mit dem geschichtlichen Leben stehen. Man kann der einzelnen geschichtlichen Erscheinung ihren Platz in der zeitlichen Ordnung der Ereignisse nur dann anweisen, wenn man ihre innere Bedeutung für den Zusammenhang des menschlichen Erlebens begreift."86 Die Stichworte der eigentümlichen Lebensbestimmtheit' des christlichen Glaubens und der prinzipiellen ,Erlebnisbedingtheit' geschichtlichen Verstehens setzen Signale. Mit ihnen wird das religionsphilosophische Programm der Lutherrenaissance gegen die Ritschlsche Theologie abgegrenzt. Allerdings stehen diese Stichworte - für sich allein genommen - noch in einer breiteren religionsphilosophischen Bewegung, die etwa zwischen 1910 und 1925 in der evangelischen Theologie dominierte. Denn im „Unterschied zu W. Herrmann, der im Anschluß an Ritsehl das Wesen des Christentums in eine an Kant gebildete formale Theorie des sittlichen Subjekts" einzeichnete, entwer-

deutschen Reformation die zusammengefaßten Kräfte der deutschen Reformationskirchen einzusetzen ...", zitiert nach K. SCHOLDER, Die Kirchen und das Dritte Reich 1. Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934, Frankfurt/M/Berlin 1986, 37f. - Zum damals in der religionsphilosophischen Diskussion (G. WOBBERMIN, H. SCHOLZ) gängigen ,Weltanschauungsbegriff' und seinen DlLTHEYschen Wurzeln, G. PFLEIDERER, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, BHTh 82, Tübingen 1992, 80f.157-159.234f. Vgl. damit: C. STANGE, Christentum und moderne Weltanschauung, Leipzig 1911, vor allem 1-17.82. 101-103. 85 SCHOLDER, 1986, 42. Scholder verweist auf das Kulturprogramm in Otto DlBELIUS' 1926 erstmals erschienenem Buch: Das Jahrhundert der Kirche. Geschichte, Betrachtung, Umschau und Ziele, 3.A., Berlin 1927, 223-231 (dazu SCHOLDER, 1986, 42-44). DlBELIUS beruft sich in seinem Vorwort (unpag.) explizit auf Holl! 86 A.a.O., 3f (Kursive HA).

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fen zur selben Zeit auch Autoren wie Ernst Troeltsch, Rudolf Otto, Heinrich Scholz, Georg Wobbermin und Max Scheler eine Religionsphilosophie, „die Religion im Vollzug der Selbstwahrnehmung konkreter Subjektivität zu verorten unternimmt und zwar so, daß das Wesen der Religion aus der Struktur dieses Vollzuges selbst abgeleitet werden kann."87 Auch darin stimmt das religionsphilosophische Programm der ZSyTh noch mit dieser Bewegung überein, daß hier der Vollzug konkreter Subjektivität als Leben und seine ihm genuine Weise der Selbstwahrnehmung als Erleben begriffen wird.88 Erst der nun folgende Abschnitt bringt auch dieser Bewegung gegenüber das Proprium der Lutherrenaissance zum Ausdruck: „Der Begriff des menschlichen Lehens aber, der die Voraussetzung für die Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts bildet, ist durch die Philosophie des deutschen Idealismus geprägt worden. Nun bezeichnet allerdings der deutsche Idealismus eine Vertiefung der Selbstbesinnung, wie sie in der Geschichte des menschlichen Geisteslebens nur ganz selten erreicht worden ist. ... Aber mit der Bereitwilligkeit dieser Anerkennung verbindet sich zugleich die wachsende Einsicht, daß die Motive der Lebensdeutung, denen der deutsche Idealismus Ausdruck gegeben hat, ihre geschichtlichen Wurzeln haben in der nach ihrer Wirkung auf das geistige Schicksal der Menschheit noch gewaltigeren und auf dem Wege der Vertiefung der Lebenswerte noch erfolgreicheren Bewegung der Reformation. Der geschichtliche Zusammenhang des deutschen Idealismus mit der Reformation ist in vielen Einzelheiten bereits aufgedeckt worden. Aber es handelt sich um mehr als das. Es gilt, das Erlebnis der Reformation zum kritischen Maßstab des deutschen Idealismus zu machen."^

Die entscheidende philosophische Explikation des Lebensbegriffs wird hier nicht etwa in der ,Lebensphilosophie' der Jahrhundertwende gesucht90, sondern im Rückgriff auf die idealistischen Philosophen, vor allem Fichte und Schleiermacher, weniger Hegel und Schelling, die übrigens damals erst unter dem ,anti-westlichen' Begriff eines .deutschen' Idealismus zusammengefaßt wurden91. Der für die zeitgenössischen theologischen Verhältnisse noch nicht

87 Dies die Grundthese bei PFLEIDERER, 21, vgl. 225-240. Vgl. zur anti-ritschlschen Spitze, 16-23. 88 Vgl. zur „Beförderung des Begriffs des Erlebnisses zur subjektivitätstheoretischen Fundamentalkategorie" (PFLEIDERER, 235) die Religionsphilosophie E. TROELTSCHS, die einen v.a. von DILTHEY geprägten Erlebnis-Begriff ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt, PFLEIDERER, 52-58. 5 8 - 6 4 und 225f. 89 A.a.O., 4 (Kursive HA). BAYER, 1990, 227: „Dies ist zweifellos der Kernsatz des ersten Programms." 90 Vgl. G. PFLUG, Art. Lebensphilosophie, in: H W P h 5, 1980, 135-140, v.a,139f; und: U . DIERSE/ K. ROTHE, Art. Leben. V. 18.Jh. bis Gegenwart, in: H W P h 5, 1980, 71-97, v.a. 85-90. 51 Vgl. H . ZELTNER, Art. Idealismus, Deutscher, H W P h 4, 1976, 35-37. Zur zeitgenössischen ,Schleiermacher-Renaissance' vgl. GESTRICH, 25 und PFLEIDERER, 16 Anm. 69; zum .Neufichteanismus' (H. Rickert, H . Münsterberg, F . Medicus, F . Gogarten, auch W . Stapel

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selbstverständliche, programmatische Rückgriff auf den deutschen Idealismus samt seiner historischen Herleitung aus der Reformation ist bereits ein spezifisches Kennzeichen des Programms der ZSyTh. 9 2 Die Pointe ist jedoch, daß ,das Erlebnis der Reformation' und d.h. genauer: das Rechtfertigungserlebnis des jungen Luther zum Maßstab des deutschen Idealismus erklärt wird. Wird dabei der Akzent auf das Rechtfertigungser/e¿>nis gelegt, so enthält diese Formulierung auch eine Abgrenzung gegen benachbarte theologische Bemühungen: Es geht keineswegs nur um eine historische Aufhellung oder eine konfessionsmorphologische Entfaltung eines reformatorischen ,Urerlebnisses', das von der Person Luthers im Sinne einer tradierbaren Lehre ablösbar wäre 93 . Luthers Rechtfertigungserlebnis ist vielmehr Ausdruck eines originären christlichen Lebens, das begrifflich nur inadäquat einholbar ist. Dies Erleben ist deshalb Maßstab jeder Reflexion auf seine Wahrheit. „Der deutsche Idealismus ist der erste Versuch, die neue Lebensstufe, als welche sich die Reformation darstellt, für das wissenschaftliche Verständnis des Menschen und der Welt fruchtbar zu machen. In dem Glauben Luthers ist die Idee einer endgültigen Wahrheit durch die beiden Pole des geschichtlichen Bewußtseins und der Innerlichkeit des persönlichen Lebens bestimmt. Dementsprechend hat sich der deutsche Idealismus die Aufgabe gestellt, ein höchstes Wissen zu erreichen, dessen Maßstäbe Geschichte und Ethik sind. Aber was bei Luther in der Gewißheit des christlichen Glaubens als eine Einheit verbunden war, ist im deutschen Idealismus von der Peripherie her aufgefaßt worden und infolgedessen der Zersplitterung verfallen. Die verschiedenartige Bewertung des religiösen Bewußtseins, des Christentums, ist der tiefste Grund für den Abstand der beiden Epochen voneinander.'"4

und das Organ der 1916 gegr. Fichte-Gesellschaft .Deutsches Volkstum') H. LÜBBE, Art. Neufichteanismus, in: RGG IV, 3.A., 1960, 1410f. 52 Ebenso BAYER, 1990, 229. 93 Vgl. einerseits Heinrich BOEHMER, Der junge Luther, Die deutschen Führer I, 2.A., Gotha 1929, 108-112; andererseits Werner ELERTS Projekt, die Morphologie des Luthertums ausgehend vom reformatorischen .Urerlebnis' darzustellen: „Entsprechend den in der Einleitung aufgestellten Grundsätzen handelt es sich hier vielmehr um das Urerlebnis des .Luthertums', wobei Luther nur soweit in Frage kommt, als er der Anfänger des späteren Luthertums gewesen ist." (W. ELERT, Morphologie des Luthertums 1. Theologie und Weltanschauung des Luthertums (1931), 2.A., München 1952, 15 Anm. 1, vgl. die Abgrenzung gegen den Rekurs auf den jungen Luther als kritischen Maßstab auch des Luthertums, 7f). - Selbstverständlich hat die Lutherrenaissance u.a. auch rein lutherphilologische Motive und bringt in dieser Hinsicht - wie zu zeigen sein wird - reichen Ertrag, vgl. dazu den kenntnisreichen Überblick: K.-H. ZUR MÜHLEN, Zur Erforschung des .jungen Luther' seit 1876, in: Lutherjahrbuch 50 (1983), 48-125. 94 Geleitwort ZSyTh, a.a. O.. 4 (Kursive HA). BAYER, 1990, 228, weist auf den SCHLEIERMACHERschen Religionsbegriff hin, der hier zugrundeliegt. 37

So pauschal hier die idealistische Explikation des .reformatorischen Erlebnisses' für defizitär erklärt wird, - es wird sich zeigen, daß in diesem abschließenden Passus in der Tat theologische Brennpunkte der Lutherrenaissance benannt sind: In den folgenden Durchführungen des Programms der Lutherrenaissance steht (1) jeweils eine an den Quellen selbsterarbeitete Interpretation des Rechtfertigungserlebens des jungen Luther im Zentrum. Mit ihr ist jeweils (2) ein mehr oder minder expliziter, religionsphilosophischer Begriff von den Bedingungen letztgültiger, religiöser Gewißheit verbunden, der sich - zumindest bei Hirsch und Hermann - in kritischer Auseinandersetzung mit dem Idealismus herausbildet. Impliziert ist dabei (3) eine spezifische Hermeneutik geschichtlichen Verstehens, da die Gewißheit des Rechtfertigungsglaubens an die wie auch immer biblisch vermittelte und geschichtlich fundierte Begegnung mit Gott in Jesus Christus verwiesen ist. Schließlich entwickeln Holl, Hirsch und Hermann (4) jeweils eigenständige Konzepte eines Handelns aus Glauben, die zugleich eigenständige Begriffe von der Sozialität des Glaubens (,Ethik') formulieren. Damit sind erste Leitthemen markiert. Sie werden in den folgenden Einzelinterpretationen unter je verschiedenem Blickwinkel wiederkehren. Die analoge Thematik erlaubt aber, die verschiedenen Entwürfe aufeinander zu beziehen und zu vergleichen.

2. ,Erlebnis' als aporetischer Grundbegriff im Programm der ZSyTh Mit der Kategorie des,Erlebnisses' greift Carl Stange auf einen „Grundbegriff der Lebens- und Weltanschauungsphilosophie des ersten Drittels des 20. J(ahr)h(underts)" zurück95, um das Programm der neugegründeten Zeitschrift zu umreißen. Doch gerade diese Zentralfunktion des ,Rechtfertigungserlebnisses' im Programm der ZSyTh ist für die Lutherrenaissance repräsentativ. Denn .Erlebnis' ist die entscheidende hermeneutische Kategorie, mittels derer Karl Holl Luthers Gewissensreligion deutet96. In seinem Gefolge stehen an diesem Punkt auch Emanuel Hirsch und zunächst auch Rudolf Hermann. Zugleich liegt die entscheidende Differenz nicht nur zum älteren Liberalismus, sondern auch zur zeitgenössischen Religionsphilosophie Ernst Troeltschs darin, daß das grundlegende religiöse Erlebnis in der Lutherrenaissance als antinomisches Rechtfertigungserlebnis im Gewissen bestimmt wird: als Erlebnis des liebenden, den Sünder zur Gemeinschaft mit sich bestimmenden Gottes im Widerfahrnis seines Zornes.

K. CRAMER, Art. Erleben, Erlebnis, H W P h 2, 1972, 702-711, 708. " Die zentrale Funktion von .Erlebnis' bei Karl Holl betonen bereits drei so verschiedene Zeitgenossen Holls wie H. RÜCKERT, Karl Holl. Ein Nachruf, in: Luther 8 (1926), 34-43, hier: 35¡ H.J. IWAND, N W 6, 120f (Brief an Hermann vom 20.9.1926); und E. WOLF, 1965, 83.90.95 (= Vortrag 1947). Vgl. zur Frage ausführlich u.S.96-99.154-157. 95

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Und doch: Mit dem hermeneutischen Grundbegriff ,Erlebnis' wandern in das Programm der neuen Bewegung Probleme von kaum zu überschätzender Reichweite ein. So sehr nämlich dieser Begriff die Unmittelbarkeit und Lebensbestimmtheit des christlichen Glaubens gewährleisten soll, dessen Wirklichkeit sich einer Vermittlung und dadurch Bedingung durch das Vernunftmögliche entzieht97, so aporetisch ist dieses Programm. Das zeigen etwa die kritischen Analysen Konrad Cramers, der als Aporie der „in der nachhegelschen kontinentalen Tradition entwickelten E(rlebnis)-Theorien" konstatiert, daß diese „insgesamt keine oder doch nur unzureichende, nämlich zirkuläre bzw. tautologische Antworten auf die Grundfrage anbieten, wie das erlebende Subjekt von seinem Erleben wissen kann"9'. Die behauptete Unmittelbarkeit des Erlebens scheitert an jenem kritischen Punkt, an dem Erleben reflexiv werden muß, um von sich zu .wissen'. Cramer diskutiert zwei Varianten dieser Aporie. Entweder die Selbstbezüglichkeit des Erlebens wird reflexions theoretisch, d.h. als eine Subjekt-Objekt-Relation gedeutet." In diesem Falle führt ein Erleben, das sich auf sich selbst als einen im Akt des Erlebens erst konstituierten Gehalt zurückwendet, in einen - mit Kant zu reden „beständigen Zirkel ..., indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen"100. Oder aber die Selbstbezüglichkeit des Erlebens wird als ein präreflexives Erleben des Erlebens gedeutet, etwa - wie bei Dilthey - als ein .Innesein', in dem Innesein und Gehalt des Inneseins unmittelbar identisch sind. Erleben gilt als eine nicht-objektivierbare Beziehungs- und Ganzheitserkenntnis: Erlebnis und Erlebniszusammenhang bestimmen sich wechselseitig im Sinne einer „Immanenz der Bedeutung in dem, dessen Bedeutung es ist"101. In diesem Sinne wäre Erleben Teil eines (subjektlosen) Lebensprozesses, der (gleichsam als Horizont des Erlebens) wiederum nur selbst erlebbar wird, sofern er im einzelnen Erleben erscheint102. Allerdings sieht Cramer damit die Zirkularität des Selbstverhältnisses erst recht zum Prinzip erhoben: „Stellt man nämlich die Frage, wie man diese Einheit von Sein und Erlebtsein des Erlebnisses zu begreifen habe, so sieht man sich von Dilthey stets auf diese Einheit selbst zurückverwiesen: Diese legt sich eben

97

Vgl. K. CRAMER, .Erlebnis'. Thesen zu Hegels Theorie des Selbstbewußtseins mit

Rücksicht auf die Aporien eines Grundbegriffs nachhegelscher Philosophie, in: Hegel-Studien Beiheft 11, hg.v. F . NlCOLIN und O. PÖGGELER, Bonn 1974, 537-603. " CRAMER, 1972, 709 (Kursive H A ) ; vgl. CRAMER, 1974, 537-592. " Vgl. CRAMER, 1974, 548-567. 1 0 0 1.

KANT, Kritik der reinen Vernunft. Zweiter Teil, I. Kant. Werke in zehn Bänden,

hg.v. W . WEISCHEDEL, Bd. 4, Darmstadt 1981, 344 ( = Β 404; A 346). Dabei kann KANT der sich hier auf die synthetische Apperzeption apriori bezieht - die Unvermeidlichkeit dieses .unbequemen' Zirkels erklären sofern „das Bewußtsein an sich nicht sowohl eine Vorstellung ist, die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern eine F o r m derselben überhaupt, so fern sie Erkenntnis genannt werden soll; denn von der allein kann ich sagen, daß ich dadurch irgend etwas denke." Vgl. ebd., 355 (= Β 423). 101

W . DILTHEY, Fragmente zur Poetik ( 1 9 0 7 / 0 8 ) , in: ders., Gesammelte Schriften VI. Die

Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens 2, Berlin/Leipzig 1924, 319. 102

Vgl. CRAMER, 1972, 707f bzw. CRAMER, 1974, 590.

39

selbst aus, und zwar so, daß ihre Selbstauslegung die Unmöglichkeit impliziert, hinter sie noch zurückfragen zu können."103 Inzwischen hat Georg Pfleiderer Cramers These von der theoretischen Zirkularität des .Erlebnisses' aufgegriffen und in seiner Untersuchung der religionsphilosophischen Entwürfe von Troeltsch, Wobbermin, Otto, Scholz und Scheler bestätigt: wird die religiöse Erfahrung in gleichsam metakritischer Absicht als nicht reduzierbares Wirklichkeitserleben schlechthin ausgelegt, so wird die damit gewonnene Immunität gegenüber der Vernunftkritik erkauft mit einer Aporie im Erleben selbst, das sich nicht mehr Rechenschaft darüber geben kann, wie die erlebte Wirklichkeit für es bewußt wird: „.Erlebnis' ist die theoretisch unaufhellbare Weise, wie die Wirklichkeit für das Bewußtsein ist. Im Erlebnis ist das Subjekt der Wirklichkeit paradoxer Weise inne als des ,ganz anderen'."104 Die Analyse eines Erlebnisses, das in Korrelation mit einem vorgeblich allgemein-anthropologischen religiösen Apriori generalisiert wird105, affirmiert in Wirklichkeit ein immer schon vorausgesetztes bestimmtes (wie auch immer näher als christlich expliziertes) Erleben. So ist die Zirkularität von .Erleben' - eingesetzt als Grundbegriff für die Beschreibung von Religion - nicht nur theoretisch, sondern auch faktisch in der steten Gefahr, unaufgeklärte Vorurteile in einer Weise zu affirmieren, die keine kritische Rückfrage mehr zuläßt.106 Es erhebt sich also die Frage, ob mit der religionsphilosophischen und rechtfertigungstheologischen Zentralstellung des Erlebnis-Begriffes im Programm der Lutherrenaissance nicht wiederum das Problem einer zirkulären, kritisch nicht mehr hinterfragbaren Schein-Unmittelbarkeit importiert wird, das in strukturell analoge Aporien wie in den zeitgenössischen Religionsphilosophien führen muß. Diese Frage stellt sich umso nachdrücklicher, als die Anfälligkeit von Erleben für religiöse und politische Vorurteile zumindest ein, wenn nicht der entscheidende Punkt ist, an dem seit 1914 Karl Barths Kritik an der liberalen Theologie seiner Lehrer Herrmann und Rade ansetzte107. Nach 1921 wird die Zentralstellung des Rechtfertigungserlebnisses bei Karl Holl der entscheidende Punkt, an dem Barths Kritik ansetzt108.

103

CRAMER, 1974, 591.

104

PFLEIDERER, 235. - Die diskutierten religionsphilosophischen Erlebnisbegriffe sind dabei

im wesentlichen von DlLTHEYs Erlebnisbegriff bestimmt, vgl. 58f.85.152.177-184.201Í. 105

Vgl. zur Debatte um ein .religiöses Apriori', wiederum von TROELTSCH inauguriert,

PFLEIDERER, 6 4 - 6 8 (TROELTSCH), 1 3 5 - 1 3 7 (OTTO), 236f (aporetisches Ergebnis). 106

Vgl. dazu PFLEIDERER, 234f.239f.

107

Vgl. BARTH an RADE, 23.11.1914, Barth-RadeBr, 120f; noch prinzipieller ist BARTHS

Anfrage an Wilhelm HERRMANN v o m 4.11.1914, Barth-RadeBr, 115. Vgl. zur Analyse dieser entscheidenden Briefstellen: die Einleitung Christoph SCHWÖBELs in: Barth-RadeBr, 2 7 - 3 5 ; H . ANZINGER, Glaube und kommunikative Praxis. Eine Studie zur Theologie Karl Barths, B E v T h 110, München 1991, 101-113. 108

40

Vgl. dazu u.S.62-64 Exkurs.

.vordialektischen'

3. Leitperspektive und Leitthemen der Interpretation Für unsere Interpretation ergeben sich aus diesen Überlegungen nicht nur Leitthemen, sondern auch eine Leitperspektive: Es wird die eine Hauptaufgabe der nachfolgenden Untersuchung sein, zu fragen, ob nicht die begrifflichen Zirkel und politischen Untiefen des Erlebnisbegriffes auch in der Lutherrenaissance virulent wurden. Diese Leitfrage wird an die Rechtfertigungstheologie, an das Verständnis von Gewißheit, an die Hermeneutik und an den Handlungs- und Gemeinschaftsbegriff - also an die genannten Leitthemen zu stellen sein. Vor allem bei der im ersten Teil der Untersuchung analysierten Theologie Karl Holls wird sie im Mittelpunkt stehen. Die andere Hauptaufgabe resultiert aus der Tatsache, daß die Aporie der Rede vom Rechtfertigungserlebnis zumindest in jenen Entwürfen der Lutherrenaissance, die Luthers Gewissenserlebnis mit einer ausgearbeiteten religionsphilosophischen Begrifflichkeit explizierten, nicht verborgen blieb. Sowohl Emanuel Hirschs als auch Rudolf Hermanns Rechtfertigungstheologie kennzeichnet es, daß sie Karl Holls bahnbrechende Luther-Interpretation im Sinne einer Klärung des zugrundeliegenden Gewissenserlebnisses Luthers fortführen. Dabei greift Emanuel Hirsch auf die Reflexionsfiguren Fichtescher Subjektivitätstheologie zurück, später in spezifischer Synthese mit den Denkmustern Kierkegaardscher Existentialdialektik. Rudolf Hermann hingegen geht aus von Schleiermachers Religionsphilosophie, deren schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl er zunächst in Begriffen Diltheyscher Lebensphilosophie interpretiert. Nach seiner sprachtheologischen Wende aber steht nicht mehr ein vorgeblich unmittelbares religiöses Erleben, sondern die genuine Sprechform assertorischen Redens im Mittelpunkt seiner Religionsphilosophie und Rechtfertigungstheologie. Auch darin erweist sich also die Lutherrenaissance als Neuaufbruch, daß hier die ungeklärten Probleme des zeitgenössischen Erlebnis-Begriffes in der Theologie zumindest in den Blick kommen. Damit gehen die Entwürfe Hirschs wie Hermanns einen entscheidenden Schritt über die ihnen vorangehende Theologie hinaus. In ihren Rechtfertigungstheologien prafigurìeren sich am Anfang des 20. Jahrhunderts subjektivitäts- und sprachtheologische Grundentscheidungen von unverminderter Aktualität. Der gemeinsame Ausgangspunkt (Karl Holl) und die in entscheidenden Fragen analoge Problemkonstellation erlauben es, in einem Vergleich des Vergleichbaren die Frage nach der Tragfähigkeit der jeweiligen Grundentscheidung zu stellen.

41

III. Vorläufige Verständigung über strittige Begriffe der Interpretation: Sprache, Handeln und Subjektkonstitution Die folgenden Überlegungen führen zunächst vom eigentlichen Thema ab und stellen gleichsam einen großen Exkurs dar. Doch erweist es sich im Sinne einer vorläufigen Verständigung über erwartbare Probleme als hilfreich, wenigstens einen Blick auf einige der philosophischen Argumente zu werfen, die gegenwärtig in der Diskussion zwischen Subjektivitätsphilosophie und Sprachphilosophie gewechselt werden. Unsere Interpretation kann dadurch an Begriffsschärfe nur gewinnen. Zugleich lassen sich die Eigenart der Subjektivitätstheologie Emanuel Hirschs und der Sprachtbeologie Rudolf Hermanns vor diesem Problemhorizont schärfer profilieren.

1. Die Aporie von ,Erlebnis' als Ausgangspunkt subjektivitätstheoretischer sprachphilosophischer Neuansätze

und

Zwei philosophische Richtungen beerben die mit dem Erlebnis-Begriff verbundenen Problemkonstellationen im 20. Jahrhundert. Beide haben das Ziel, die Zirkularität von ,Erlebnis' hinter sich zu lassen. Auf der einen Seite stehen die subjektivitätsphilosophischen Arbeiten der sog. Heidelberger Schule109: Hier wird eine „nicht-redundante Beschreibung und Aufklärung dieses (des unmittelbar gewissen, weil erlebten) Wissens ... in formalen Theorien des Selbstbewußtseins vermittels einer differenzierten Analyse der Struktur von Bewußtsein angestrebt"uo. In diese Linie, die auf die idealistische Subjektivitätsphilosophie zurückgreift, um die Zirkel von Erleben bzw. von Selbstbewußtsein als eines unmittelbaren Vertrautseins mit sich selbst aufzuklären, reiht sich auch Cramer ein111. Ertragreicher für unsere Frage nach den hier erwartbaren Problemen sind allerdings einige subjektivitätstheoretische Arbeiten des Münchener Philosophen Dieter Henrich. Denn zum einen ist Henrich im Aufweis der Aporien der herkömmlichen Subjektivitätstheorie schärfer als Cramer. Vor allem auf Henrich ist das Diktum Ernst Tugendhats gemünzt, daß sich hier „die traditionelle Selbstbewußtseinstheorie selbst ad absurdum" führe112. Zum andern nehmen seine Arbeiten ihren Ausgang von Fichtes ursprünglicher Einsicht in die spezifische Konstitutionsproblematik von Subjektivität, so daß sich von Henrich unmittelbar ein sachlicher Bezug zu Emanuel Hirschs Subjektivitätstheologie herstellen läßt.

109 In diesem Sinne hat E. TUGENDHAT, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, stw 221, 4.A., Frankfurt/M 1989, die Arbeiten D. HENRICHS, K. CRAMERS, U . POTHASTS kategorialisiert (10, vgl. v.a. 50-67). 1,0 CRAMER, 1972, 709 (Kursive HA). 111 Vgl. CRAMER, 1974, 592-603. 112 E. TUGENDHAT, 1989, 54.

42

Neben diese subjektivitätstheoretische Beerbung der Erlebnistheorie tritt „die sprachanalytische Reduktion der theoretischen Behandlung des mit E(rlebnis) bezeichneten Sachverhalts (sc. nämlich einer unmittelbaren, inneren Selbstgewißheit) durch L. Wittgenstein".113 Vor allem Ernst Tugendhat hat eine sprachanalytische Interpretation des erlebnistheoretischen Zirkels vorgelegt, die im Anschluß an Wittgenstein in eine völlig andere Richtung weist.114 Er versteht jene ungegenständlichen und unmittelbar gewissen Bewußtseinsweisen, die gemeinhin als .innere Erlebnisse' bezeichnet werden und durch einen ,bewußt darauf gerichteten Reflexionsakt' zu Bewußtsein kommen sollen, nicht mehr signifikationshermeneutisch: „Wittgenstein hat in seinen Philosophischen Untersuchungen darauf aufmerksam gemacht, daß eine Betrachtungsweise wie diejenige Husserls die Aussagen über Inneres zu Unrecht an die Aussagen über Äußeres assimiliert. Wenn wir eine Aussage machen, in der ein .Erlebnis' zum Ausdruck kommt, gründet sie offenbar nicht auf einer äußeren Beobachtung. Daraus folgern Philosophen wie Husserl, daß sie auf innerer Beobachtung gründe. Muß aber eine Aussage immer auf etwas gründen? ... Daß eine Aussage auf nichts gründet, erscheint uns ungewohnt, aber doch wohl nur, weil wir unwillkürlich alle Aussagen einander angleichen und sie dann nach dem Schema der Beobachtungsaussagen auffassen. Wenn wir nachsehen, wie es sich wirklich verhält, stellen wir fest, daß die Aussage in diesem Fall seihst ein letztes ¿5t."115 Anstatt bei ,erlebnishaften', d.h. unmittelbar gewissen Aussagen nach dem zugrundeliegenden inneren Erlebnis und der Ermöglichung seines Reflexwerdens zu suchen, geht es dieser sprachanalytischen Zugangsweise darum, auf die genuine Verwendungsweise von .Erlebnisausdrücken' zu achten und Regeln ihrer Verwendung zu bestimmen.116 Zugleich liegt hier ein gänzlich anderes Verständnis innerer Gewißheit zugrunde: erlebnishafte Gewißheit ist kein

113

CRAMER, 1972, 710.

114

Vgl. E . TUGENDHAT, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie,

stw 45, 4.A., F r a n k f u r t / M 1987, 9 2 - 1 0 6 ( = 6. Vorlesung). D i e Thesen der genannten 6. Vorlesung TuGENDHATs sind im übrigen in TUGENDHAT, 1989, 1 3 - 2 3 . 6 8 - 1 3 6 ausführlich expliziert. 115

TUGENDHAT, 1987, 95 (Kursive H A ) , mit Verweis auf: L. WITTGENSTEIN, Philosophi-

sche Untersuchungen, Tractatus logico-philosophicus.Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe 1, stw 501, 8.A., F r a n k f u r t / M 1992, 2 2 5 - 5 8 0 , §§ 244ff (S.533ff). Bekanntlich setzen die Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins mit einer kritischen Bemerkung zu Augustins Signifikationshermeneutik ein, die ein simplifizierendes Modell der Funktionsweise von Sprache suggerierte. N a c h diesem Modell soll gelten: „Die W ö r t e r der Sprache benennen

Gegenstände -

Sätze sind Verbindungen von

solchen

Benennungen. - In diesem Bild von der Sprache finden wir die Wurzeln der Idee: Jedes W o r t hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem W o r t zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das W o r t steht." (§ 1, 237) Dieses Modell wird bei Erlebnisausdrücken

also

gleichsam nach innen gewandt: sprachliche Expressionen müssen für psychische Erlebnisse stehen. 116

Vgl. TUGENDHAT, 1987, 95 und TUGENDHAT, 1989, 89.

43

positiver innerer Sachverhalt, sondern vor allem ex negativo dadurch gekennzeichnet, daß „der Ausdruck der Ungewißheit sinnlos ist" 117 . Erlebnisworte dürfen also in ihrer Verwendung nicht mit konstativen Aussagen gleichgesetzt werden, sondern sie fungieren weitgehend nach den Regeln von spontanen .Ausrufen' (z.B. ,Au!') 118 . Der Sinn dieser Lösung besteht dabei nicht primär darin, den zirkulären Regreß der Erlebnistheorien auf immer schon Vorausgesetztes zu vermeiden, „sondern einen phänomenologisch falschen Ansatz, der der gesamten traditionellen Theorie vom unmittelbaren Wissen gemeinsam war - daß sie dieses in Angleichung an das äußere Beobachten auf ein Gewahrhaben gründete - , zu korrigieren; und daß der Regreß entfällt, ist nur eine Folge, nicht der Zweck, dieser Korrektur." 119 Diese prinzipielle sprachanalytische Kritik an der traditionellen Signifikationshermeneutik und Erlebnistheorie bietet ein nachgerade entscheidendes kritisches Instrumentarium, um die Problematik der Rede vom Gewissenserlebnis in der Lutherrenaissance aufzuhellen. Allerdings hat Ernst Tugendhats Formalsemantik darin ihre Grenze, daß sie sich bewußt auf die Analyse der Verwendungsweise von Sätzen beschränkt. In der folgenden Untersuchung wird hingegen eine Sprachtheologie begegnen, die von einer kommunikativen Sprechsituation, also einer Beziehung zwischen einem Redenden und einem Hörenden ausgeht. Weiterer Aufschluß im Sinne einer Problemfindung ist an dieser Stelle von der Sprachpragmatik Jürgen Habermas' zu erwarten, die das Modell einer kommunikativen Sprecher-Hörer-Beziehung zugrunde legt. Zwei Gründe empfehlen diesen problemorientierten Blick auf das Unternehmen Habermas': Zum einen hat Habermas seine Theorie kommunikativen Handelns in expliziter Abgrenzung gegen Henrichs Subjektivitätstheorie entfaltet, so daß hier ein wechselseitiger Diskussionsgang vorliegt. Die entscheidenden Probleme - das sind im folgenden die Konzepte von Sprache, Handeln und individuellem Selbstsein - können so jeweils paradigmatisch von subjektivitätstheoretischer (Henrich) und sprachpragmatischer (Habermas) Seite beleuchtet und die differenten Lösungsansätze somit verglichen werden. Zum andern aber steht Habermas' Sprachphilosophie Rudolf Hermanns Sprachtheologie völlig fern. Habermas bleibt - wohlgemerkt: in theologischer Sicht - in seinen Begriffen von Sprache, Handeln und individuellem Selbstsein defizitär. Gerade ex negativo verdeutlicht er, wie anders eine sprach- und handlungstheoretisch reflektierte Rechtfertigungstheologie anzusetzen hat.

Π? WITTGENSTEIN, § 247, S. 358. 118 Zu den Differenzen von Ausrufen und Erlebnisausdrücken, vgl. genauer TUGENDHAT, 1989, 114-136. TUGENDHAT, 1989, 134. Vgl. auch HENRICHS Replik: Noch einmal in Zirkeln. Eine Kritik von Ernst Tugendhats semantischer Erklärung von Selbstbewußtsein, in: Mensch und Moderne. Beiträge zur philosophischen Anthropologie und Gesellschaftskritik, FS H. Fahrenbach, hg.v. C. Bellut/ U . Müller-Schöll, Würzburg 1989, 93-132.

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2. Sprache, Handeln und Subjektkonstitution. Ein problemorientierter Blick auf Dieter Henrichs Subjektivitätsphilosophie und Jürgen Habermas'Sprachpragmatik Dieter Henrichs Selbstbewußtseinstheorie nimmt ihren Ausgang von der Diagnose einer doppelten Zirkelhaftigkeit, in die jede „Reflexionstheorie" von Selbstbewußtsein, also die gesamte Selbstbewußtseinstheorie vor Fichte, unweigerlich hineingerate 120 : „1. Bewußtsein wird erklärt als Selbstbeziehung eines Subjektes. Da man am Ende nicht vermeiden kann, auch diesem Subjekt schon die Eigenschaft zuzugestehen, bewußt zu sein, ist die Erklärung redundant. 2. Bewußtsein wird erklärt als wissende Selbstbeziehung eines Subjektes. Da man es nicht verhindern kann, dem Subjekt dieser Beziehung bereits Kenntnis von sich zuzuschreiben, ohne die es sich niemals als es selber finden könnte, ist auch diese Erklärung zirkulär"(1970, 275). Johann Gottlieb Fichte sei der erste gewesen, der diese Zirkularität von Selbstbewußtsein, exemplarisch ausgesprochen in Kants ,Paralogismen der reinen Vernunft' 121 , bemerkt, die scheinbare Plausibilität der Reflexionstheorie des Ich hinterfragt, vor allem aber ihre Aporie zumindest teilweise überwunden habe. Henrichs Subjektivitätstheorie geht also von einer Rekonstruktion dieser ursprünglichen Einsicht Fichtes aus. 122 In einer Analyse der drei aufeinander folgenden Grundformeln der Fichteschen Wissenschaftslehren von 1794, 1797 und 1801123 zeigt Henrich zunächst, wie der frühe Fichte zur Formel vom Ich, das schlechthin sich selbst setzt, findet (198f). Schon hier unterscheide Fichte implizit die sich setzende Tätigkeit als „Wissensgrund" und ihr Produkt, das Fürsich der Tätigkeit als Wissen, so sehr die Tätigkeit dann auch im Wissen als ,für sich' gesetzt werde. „Darin liegt eine der Voraussetzungen für Fichtes

120 Vgl. D . HENRICH, Fichtes ursprüngliche Einsicht, in: Subjektivität und Metaphysik, F S für W . Cramer, hg.v. D . HENRICH u. H. WAGNER, Frankfurt 1966, 188-232; ders., Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, in: Hermeneutik und Dialektik, Bd.I, hg.v. R . BUBNER/K. CRAMER/R. WIEHL, Tübingen 1970, 257-284; ders., Die Grundstruktur der modernen Philosophie. Mit einer Nachschrift: Uber Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung, in: Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, hg.v. H. EßELING, Frankfurt/M 1976, 97-143; ders., .Identität' - Begriffe, Probleme, Grenzen, in: Poetik und Hermeneutik VIII, hg.v. O. MARQUARD U. K. STIERLE, München 1979, 133-186; ders., Was ist Metaphysik - was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas, in: ders., Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit, Frankfurt/M 1987, 11-43; ders., Ding an sich. Ein Prolegomenon zur Metaphysik des Endlichen, in: Vernunft des Glaubens, FS für W . Pannenberg, hg.v. J . RÖHLS u. G. WENZ, Göttingen 1988, 42-92. Ziffern im Text beziehen sich im folgenden auf diese Arbeiten. 121 Vgl. die oben angeführten Zitate aus den .Paralogismen der reinen Vernunft' S.39 Anm.100. 122 Sie setzt damit an jener Problemstelle ein, an der sich auch Emanuel Hirsch FICHTE zuwandte, vgl. S.174-184. 123 HENRICH, 1966, 198-218; die Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf diesen Aufsatz. - HENRICHS Fichte-Interpretation ist keineswegs unstrittig. Doch kommt es hier nicht auf Fragen der Fichte-Philologie an.

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spätere Wandlung. Daß nämlich Wissen und Wissensgrund im Selbstbewußtsein überhaupt voneinander verschieden sind, ist die Bedingung dafür, daß man sie radikal voneinander trennen kann, - so, daß der Wissensgrund im Ich gar nicht mehr das Gewußte ist" (201). Die Formel von 1797: „Das Ich setzt sich schlechthin als sich setzend" (202), scheine demgegenüber zunächst in die entgegengesetzte Richtung zu weisen, enthalte freilich als neuerliche Schwierigkeit die Frage, von welcher Art dieses Wissen von sich sei: Ist es „anschauliche Gegenwart des Produzierenden oder ein Gedanke von der produzierenden Ichheit?"(203) Der eigentümliche Charakter des Sich-Wissens im Selbstbewußtsein scheine beides zu erfordern, lege doch die unmittelbare Existenzgewißheit dieses sich setzenden Sich-Wissens seinen Status als Anschauung seiner selbst nahe, die Gewißheit hingegen, darin sich wirklich selbst zu sehen, seinen Status als Begriff seiner selbst. Deshalb bestimmt Fichte Selbstbewußtsein nun gleichursprünglich als Begriff und Anschauung (205): „Kraft des ersten hat es Kenntnis von sich nach seinem Wesen, kraft des anderen kann es wissen, daß es als ein Setzendes wirklich ist"(204). Weiß das sich tätig setzende Ich sich zugleich in der Anschauung und im Begriff seiner selbst, so sieht es freilich nun doch nicht, wie aus ihm diese gleichursprüngliche Doppelheit seiner Selbsterkenntnis entspringt. Es erhebt sich vielmehr „die überraschende und über vieles entscheidende Frage, ob das Ich letztgültig durch die Rede vom .Setzen seiner selbst' bestimmt ist"(205). Sie führe Fichte schließlich zum Gedanken eines dem tätigen Ich vorauszudenkenden tätigen Grundes, aus dem sich die gleichursprünglichen Momente des Ich erklären, ohne daß er im Ich zur Präsenz kommt (vgl. 206). Es bildet sich der notwendige Gedanke eines Wissensgrundes, der zugleich Grenze alles Sich-wissenden-Wissens ist. Fichte leite zum Vollzug des ihm vorschwebenden Gedankens seit 1801 mit der Formel vom Selbstbewußtsein als „Tätigkeit, der ein Auge eingesetzt ist" an (206). Im Gedanken eines Blicks, der sich selber erfaßt, erscheint Selbstbewußtsein als Fürsichsein eines Wissens, das sich für sich offenbar ist, und zugleich als Faktum, das sich in seinem Dasein weiß und erhält, ohne es erklären zu können (vgl. 209). Dabei sei diese Augentätigkeit, die sich als solche unmittelbar hat und weiß, durch fünf gleichursprüngliche Momente bestimmt, nämlich nicht nur als Tätigkeit, die anschaulich präsent ist, und nicht nur zugleich als gedachte Tätigkeit in der Bestimmtheit ihres Begriffs, vielmehr schließlich auch als singuläre, „unmittelbare Wechselbeziehung von Anschauung und Begriff"(210). Denn eben dies gelte singulär für das Selbstbewußtsein: „Ein Gedanke ist immer schon Wirklichkeit und erfaßt sich als solche, eine Wirklichkeitsanschauung ist unvermittelt einsichtige Kenntnis. Diese Besonderheit, die über alles entscheidet, qualifiziert Anschauung und Begriff des Ich an ihnen selbst" (211). Freilich sei diese Wechselbeziehung dem Selbstbewußtsein zwar notwendig, aber doch unvermittelt zugesprochen, ohne für es letztlich aufklärbar zu sein. Ist aber zu folgern, „daß die Relation von Anschauung und Begriff einen eigenen Wissenscharakter besitzen muß" (212), so entstehe letztlich eine fundamentale Paradoxie: „Man müßte dann sagen, unser Wissen von uns sei erschlossen, so daß Ich sich selbst gar nicht gegeben wäre, sondern nur Kenntnis von sich hätte. Dieser Weg ist logisch möglich, aber im offenbaren Widerstreit mit dem Phänomen des Ich, das die unmittelbare und gewisse Voraussetzung alles erschlossenen Wissens ist" (212f). Gleichwohl hält Henrich diese Paradoxie einer subjektlosen Wissensweise, die als tathaft sich wissende, genuine Wechselbeziehung von Anschauung und Begriff Grund

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von Selbstbewußtsein samt seiner Reflexionsleistungen ist, für Fichtes ursprüngliche Einsicht in die innere Verfassung des Ich, auch wenn Fichte sie letztlich nie zu konsistentem Ausdruck gebracht hätte (vgl. 215-217). Schließlich rekonstruiert Henrich, inwiefern Fichte mit seiner noch weiter ausgreifenden Rückfrage nach dem im absoluten, subjektlosen Wissen notwendig mitgedachten und zugleich unbegreiflichen Grund seiner selbst die Traditionen der Ontotheologie aufnehme 124 . Allerdings betont Henrich die Nicht-Notwendigkeit dieser ontotheologischen Deutung, hat es doch auch guten Sinn zu meinen, „hinter die Augenkraft des Selbstseins reiche der Gedanke nur noch in einer leeren Bewegung. ... Gerade in dieser Fassung würde Fichtes Lehre einer Erfahrung der modernen Welt sehr nahekommen" (219). Die ontotheologische Fortführung der W.L. 1801/02 ist also keineswegs die einzig mögliche Aufnahme von Fichtes ursprünglicher Einsicht125. Henrich wendet vielmehr in der Folgezeit Fichtes Theorie gegen diesen selbst: Auch Fichtes Begriff von Subjektivität sei nicht frei von reflexionstheoretischen Zirkelschlüssen. Selbst Fichte habe nämlich „vermutlich" das Ich noch als „ursprüngliche Kenntnisnahme einer Tätigkeit von sich, die zuvor schon weiß, was ihr Wesen ist" verstanden 126 . Damit stellt sich die Aufgabe, Fichtes Gegenentwurf gegen jedes reflexionstheoretische Verständnis von Selbstbewußtsein fortzuschreiben. Jenes singuläre subjektlose Wissen des (Selbst-) Bewußtseins soll so beschrieben werden, „daß es weder bewußte Selbstbeziehung noch Identifikation mit sich ist, - jedoch zugleich so, daß zugestanden bleibt, mit Bewußtsein unmittelbar vertraut zu sein, so daß kein Fall von Bewußtsein möglich ist, in dem Zweifel hinsichtlich der Tatsache laut werden könnten, daß Bewußtsein besteht" (275). Dazu ist eine überraschende Konsequenz zu ziehen: Bewußtsein muß als ein Phänomen verstanden werden, das vor aller reflexiv-zielgerichteten Aufmerksamkeit auf sich selbst liegt, also „auch dem selbstbewußten Ich vorausliegt" (ebd)127. Die Reflexion entdeckt nicht selbstloses Selbstbewußtsein, sondern selbstloses Bewußtsein als ihren Grund. So sehr dann auch

124 Das Eine, das alles sich wissende Wissen, das sich selbst manifestierend im Dasein erhält, nun gerade in dieser seiner Selbstmanifestation ermöglicht, läßt sich aus eben jener ermöglichenden Wirkung verstehen: „Es läßt Selbstsein werden, das wesentlich Manifestation ist, um selber als das Unergründbare manifest zu werden. So manifestiert es sich schließlich im Ich als das sich Manifestierende. U n d eben dies ist es, was wir meinen, wenn wir von einem lebendigen Gott sprechen" (220). 125 Vgl. dazu nur den Schluß von HENRICHS Beitrag in der Pannenberg-Festschrift, HENRICH, 1988, 92. 126 HENRICH, 1970, 281 (Seitenangaben im Text beziehen sich bis auf weiteres auf diesen Text); Fichte habe also den zweiten der oben genannten Zirkel nicht wirklich als Problem erkannt; sein paradoxaler Gedanke eines subjektlosen Wissens sei dann zwar zirkelfrei entwickelt, „aber nur um den Preis einer Konstruktion, die phänomenal nicht mehr ausgewiesen werden kann ..." (ebd.). - Dieser Kritik an Fichte widerspricht im übrigen neuerdings J. STOLZENBERG, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02, Deutscher Idealismus 10, Stuttgart 1986, 175-245. 127 HENRICH verweist dabei auf die Bewußtseins-Phänomene des Erwachens und Einschlafens, in denen ein mit sich bekanntes Bewußtsein noch jenseits des Selbstbewußtseins erfahrbar sei (vgl. 260f).

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(reflexives) Selbstbewußtsein für jegliche menschliche Bewußtseinserfahrung unabdingbar ist (als ein „aktives Prinzip der Organisation des Bewußtseinsfeldes", 276), so sehr ist doch festzuhalten, „daß das Gewahren dieses aktiven Prinzips als solches keine aktive Leistung ist, daß es nicht einmal dem ,Ich' selber zugerechnet werden kann" (ebd). Vielmehr muß Bewußtsein als singulares, in sich abgeschlossenes „Ereignis" verstanden werden (277), als ein Ereignis freilich, das dann eine Fülle anderer, unter sich zusammenhängender Ereignisse (Wahrnehmungen, Gefühle etc.) ermöglicht. Bewußtsein sei deshalb auch als JDimension oder Medium" zu beschreiben, ist es doch nur, indem sich andere, bewußte Gegebenheiten darin ereignen, die jedoch nicht es selbst sind. Dabei sei Bewußtsein „exklusive Dimension", die zu sich selbst in einer singulären Weise Zugang habe, anders also als zu jedem anderem Bewußtsein (ebd). Schließlich zeige sich Bewußtsein als Dimension, „in der eine Kenntnis ihrer selbst eingeschlossen ist" (ebd.), freilich so, daß es sich darin weder selbst objektiviere noch auf seine Kenntnis reflektiere: „So ist Bewußtsein in doppeltem Sinne seiner nicht Herr: Es bringt sich nicht durch Selbst-Objektivierung ins Dasein. Und es verfügt über kein adäquates Verständnis seiner. Zu ihm kann es nur durch das vernünftige Selbst im bewußten Menschen gelangen" (278). Erst beim letztgenannten Punkt kommt das traditionelle Selbstbewußtsein in den Blick; es gilt jedoch: „Die wissende Selbstbeziehung, die in der Reflexion vorliegt, ist kein Grundsachverhalt, sondern ein isolierendes Explizieren, aber nicht unter der Voraussetzung eines wie immer gearteten implizierten Selbstbewußtseins, sondern eines (impliziten) selbstlosen Bewußtseins vom Selbst" (280). Die Zirkularität der traditionellen Subjektivitätstheorie erklärt sich für Henrich daraus, daß hier die erst sekundäre Reflexionsgestalt von Selbstbewußtsein als die primäre Form von Selbstbewußtsein angesetzt ist. Selbstbewußtsein scheint sich so im Akt der Reflexion selbst zu konstituieren. Umgekehrt kann für Henrich die Selbstbewußtseinstheorie nur konsistent werden, wenn sie zur Bewußtseinstheorie wird. Das reflexive Selbstbewußtsein wird als Grundbegriff der Subjektivitätstheorie aufgehoben. Es konstituiert sich erst im Ereignis eines sich öffnenden, dimensionalen Bewußtseins, das zuvor ein präreflexives Selbstverhältnis aus sich heraus freisetzt. Mit dieser Depotenzierung ihres Gegenstandes markiert Henrichs Selbstbewußtseinstheorie in der Tat das aporetische Ende der traditionellen Subjektivitätstheorie. Jede Spielart von SubjektivitätstÄeo/ogi'e wird sich daran messen lassen müssen, ob sie den von Henrich benannten Zirkeln entgehen kann. Von den Folgerungen, die Henrich aus seiner Einsicht in die interne Konstitution von Selbstsein zieht, interessieren vor allem zwei: eine handlungs- und eine sprachtheoretische. Zum einen favorisiert Henrich nämlich gegenüber einer Weise autonomen Handelns, die sich nicht nur Pflichten selber auferlegt, sondern sich in deren Erfüllung auch selbst bestätigt, ein selbstgesteuertes Handeln, das sich gerade in der fröhlichen, selbstlosen' und vor sich und anderen anonym bleibenden .Opferbereitschaft' erfüllt (vgl. 282). Denn erst in solchem Handeln eigne sich ein Handlungssubjekt sein wahres (selbstloses) Selbst an und überwinde „die Reflexion als die eigentliche Definition seiner Wirklichkeit und Würde" (283). In diesem Sinne gilt der 48

alte Satz: „Selbstüberwindung ist der Königsweg zur Selbsterkenntnis und der rechten Weise, sich selber zu gewinnen" (ebd.). Diese Uberwindung des reflexiven Selbst im selbstlosen Handeln ist bei Henrich allerdings nur Komplementärbegriff einer anderen, nicht mehr subjektiven Weise der Selbsterhaltung. In diesem anderen bewußtseins-, nicht mehr reflexionstheoretischen Zusammenhang wird .Selbsterhaltung' bei Henrich nachgerade zum Grundbegriff, muß doch „mit diesem Wort Erlaubnis und Anspruch verbunden bleiben, den eigentlichen Charakter eines Prozesses angemessen zu erfassen, der zugleich als Grundprozeß bewußten Lebens von ihm selber erfahren werden kann"128. Kommt reflexives Selbstbewußtsein nur in der Dimension und im Gefolge des Ereignisses von Bewußtsein zustande und ist dieser Prozeß wesentlich dadurch bestimmt, sich selbst zu erhalten, so hat sich mithin reflexives Selbstbewußtsein, das sich ursprünglich in seiner Abhängigkeit von diesem Prozeß weiß, zugleich auch „aus der Notwendigkeit zur Selbsterhaltung zu verstehen" (1976, 113, Kursive HA). Ist also reflexiv-autonomes Selbstbewußtsein, das sich handelnd selbst bestimmt und verwirklicht, konstituiert im Ereignis selbstlosen Bewußtseins, so kommt es zu seiner Wahrheit nur, indem es sich handelnd durch sich selbst überwindet. Gerade darin wird es seiner ursprünglichen Bestimmung, Ereignis in einem selbstlosen, ,sich selbst' erhaltenden Prozeß zu sein, gerecht. Die Selbstüberwindung des reflexiven Bewußtseins ist zugleich die Selbst Verwirklichung des Prozesses, in dem es sich konstituiert 129 . Zum anderen entwickelt Henrich im Gegenzug gegen die Habermas'sche These, „daß Selbstbewußtsein auf sprachliche Interaktion reduziert, daß es also vollständig von ihr hergeleitet werden kann" (1987, 31), die Hypothese einer Gleichursprünglichkeit von Reflexivität und sprachlich vermittelter Interaktion, die ihrerseits ermöglicht ist durch die Fähigkeit präreflexiver Selbstbezüglichkeit. So wenig hier nun die sprachanalytischen Argumente genannt werden können, die Henrich für seine Hypothesenbildung ins Feld führen kann130, so sehr interessiert die Entfaltung dieser Hypothese. Diskutiert doch Henrich hier die Bedingungen für die Selbstidentifikation einer Person als Person (1979, 175). Dabei wird der Zusammenhang von Personalität und Gemeinschaftlichkeit subjektivitätstheoretisch thematisiert. Henrichs Überlegungen zu den Bedingungen und Kriterien von Identifikation gehen aus vom

128 HENRICH, 1976, 113. Selbsterhaltung im angeführten Sinn wird in diesem Aufsatz im übrigen als Leitkategorie eingeführt, um die Grundstruktur der Moderne in ihrer philosophischen Explikation (Anthropologie, Staatsphilosophie, Ontologie und Ethik) überhaupt aufzuklären (97-103), ihr Grundproblem (vgl. 114) und elementare Bedingungen zu dessen Lösung zu formulieren (118f). 129 Es verdient - nicht zuletzt im Blick auf Holl und Hirsch - zumindest kritisch vermerkt zu werden, daß für HENRICH vom skizzierten Handlungsbegriff her die öffentliche Deutung des Soldatentodes wieder zum Anlaß philosophischer Erörterung wird, vgl. HENRICH, Tod in Flandern und in Stein, in: ders., Konzepte, 97-102. Er gewinnt dabei den öffentlichen Kriegerdenkmälern, vor allem des Ersten Weltkriegs, die positive Funktion ab, die erst in den modernen Massenkriegen möglich gewordene Todes-Deutung jener Soldaten ins kollektive Bewußtsein zu bringen, „die gerufen wurden und die gehen mußten" (102), um dann anonym ,in Flandern für die deutsche Ehr' zu fallen (vgl. 99). Auch hier zeigt sich also FlCHTEsche Tradition! 130 Vgl. den kurzen Hinweis, HENRICH, 1987, 32f, und die ausführlichere Darstellung, ders., 1979, 145-182.

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Sonderfall der kriterienlosen Zuschreibung, in der sich eine Person bestimmte elementare (Erlebnis-)Zustände (wie z.B. Schmerz, Freude) zuschreibt131. Die Selbstzuschreibung solcher Zustände ist immun gegen ein irgendwie feststellbares Fehlgehen, weil „es keinen Sinn ergibt zu fragen, kraft welcher Kriterien ich herausfinden könnte, ob die Schmerzen, welche ich empfinde, meine eigenen Schmerzen sind. Wie sollte ich es anstellen, hinter die richtige Antwort auf eine solche Frage zu kommen?"132 Andererseits werden mir dieselben Erlebnisprädikate von Dritten so zugeschrieben, daß ich diese Zuschreibung begründet bestreiten kann. Bestimmte Prädikate können also dasselbe bezeichnen (das ,Schmerz-empfinden'), aber auf weitgehend verschiedene Weise fungieren. Henrich verweist zur Erklärung dieses Phänomens auf die Lernbedingungen solcher doppelt verwendbaren, bedeutungsgleichen Prädikate und bringt damit den „sortalen Term .Person'" (179) in unmittelbaren Zusammenhang133. Das Erlernen des Gebrauchs des sortierenden Prädikats .Person' und das Erlernen jener Prädikate seien ein einziger Lernvorgang (vgl. ebd.)134. Als Personen verstehen sich solche Wesen, die sich selbst Erlebnis-Zustände in sprachlicher Prädizierung insofern kriterienlos zuschreiben können, als sie diese mit den bedeutungsgleichen Prädikaten anderen zuschreiben oder von anderen zugeschrieben bekommen. Sprache wirkt mit dieser Lernbedingung einerseits eminent sozialisatorisch: „Ausgang aller Selbstzuschreibung von Prädikaten ist die Koordination von deren Bedeutung im kriterienlos selbstreferentiellen und im intersubjektiven Gebrauch. Dieser semantisch basale Sachverhalt bindet die Person samt allen ihren Soliloquien in die Sprachgemeinschaft" (180). Dennoch zeige sich hier andererseits die Grenze der sozialisatorischen Macht der Sprache. Der doppelte Lernvorgang, in dem ein kriterieller Prädikatengebrauch unmittelbar mit einem kriterienlosen, selbstbezüglichen erlernt wird, hat nämlich seine Ermöglichung darin, daß „Individuen überhaupt imstande sind, eigene Zustände in einer Weise aufzufassen, die Kriteriengebrauch ausschließt" (179). Eine vorsprachliche und präreflexive Erfassung erlebnishafter Zustände fungiert hier also als Ermöglichungsgrund für den interpersonal erlernten unmittelbaren sprachlichen Ausdruck von Erlebnissen. ,Person ' ist ein Subjekt, das sich selbst nur sprachlich und nur insofern unmittelbar und kriterienlos charakterisieren kann, als es darin Prädikate verwendet, die es zugleich im intersubjektiv-kriteriellen Gebrauch erlernt hat. Dieses Subjekt ist aber

151 Die Auseinandersetzung mit E. TuGENDHATs Deutung von Selbstbewußtsein und Erlebnissätzen, vgl. o.S.42-44, steht hier im Hintergrund. 152 HENRICH, 1979, 176. Dabei fungieren dann die kriterienlos zugeschriebenen Zustände, werden sie einmal als legitim anerkannt, ihrerseits als Kriterien für die Beurteilung der angemessenen Zuschreibung anderer Zustände (vgl. ebd.): weil ich beim Eintippen des Textes unter meinen Fingern den Tastendruck fühle, kann ich mit einiger Wahrscheinlichkeit von mir sagen, daß ich diesen Text hier tippe. 133 „Der Begriff der Person führt Identitätskriterien mit sich und kann im intersubjektiven Zusammenhang mit auf Einzelne verteiltem Objektbezug verwendet werden. In seiner Bedeutung ist aber auch die Selbstreferenz jeder Person zu sich selbst eingeschlossen." (179) 134 Im selben Zusammenhang, in dem ein (beispielsweise lachendes) Kind also die Verwendung eines über Kriterien (das Lachen) ihm zugeschriebenen Prädikats (vom Vater, der sagt: Κ ist fröhlich) erlernt, lernt es auch, sich dieses Prädikat selbst kriterienlos zuzuschreiben (wenn es nachspricht: Κ ist fröhlich). Es lernt dabei - wie implizit auch immer - die in verschiedener Verwendungsweise es jeweils unterschiedlich als Person identifizierende, differenzierte Bedeutung von .Person'.

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auch in nicht-personaler, nicht intersubjektiv gebundener, vorsprachlicher Weise mit ,sich ' bekannt. Für Henrich wird die Selbsterhaltung des subjektkonstituierenden Bewußtseinsprozesses zum handlungstheoretischen Grundbegriff. Handeln, verstanden als Weise der „Selbstaneignung des Handlungssubjektes" (1970, 282), findet als reflexives, selbstgesteuertes Handeln in der Selbstüberwindung und in der anonymen Opferbereitschaft seine höchste Verwirklichung. Soldatisches Ethos gewinnt einen paradigmatischen Rang. Auch die exklusiv sprachlich vermittelte, intersubjektive Konstitution von Subjektivität als Person scheint Henrich seiner Theorie integrieren zu können: Subjektivität kann nur in sprachlicher Selbstcharakterisierung, insofern nur als Person und gebunden an die Sprachgemeinschaft, reflexiv werden. Doch ist auch hier eine präreflexive, vorsprachliche Selbstwahrnehmung als Ermöglichungsgrund personaler und interpersonaler Selbstverständigung vorausgesetzt. Insgesamt zeigt sich an Henrich beispielhaft eine an Fichte anschließende, bewußtseinsphilosophisch modifizierte Subjektivitätstheorie, die zugleich den Anspruch erhebt, Einsichten einer sprachanalytisch fundierten Interpersonalitätstheorie integrieren und erklären zu können. Im Gegenzug soll nun Jürgen Habermas' Theorie kommunikativen Handelns 135 als Beispiel eines Versuchs dienen, den Bruch mit dem aporetisch endenden, .idealistisch-reflexionstheoretischen Bewußtseinsparadigma' 136 zum Ausgang einer ,.kommunikationstheoretischen Wende' (I, 531) zu machen. Wir wählen dabei aus Habermas' vielschichtiger Theorie noch sehr viel stärker aus und beschränken uns auf eine Gegenüberstellung zu Henrich, die die drei genannten Probleme (Sprachbegriff, Handlungsbegriff, Konstitution von Selbst) gleichsam spiegelverkehrt zurückgeht: Ausgangspunkt ist Habermas' Kritik an Henrichs zuletzt dargestellter Deutung sprachlicher Erlebnissätze. Sodann beleuchten wir kurz Habermas' Begriff des kommunikativen Handelns. Schließlich ist darauf hinzuweisen, wie Habermas die Konstitution eines zugleich sozialisierten und sich individuierenden Selbst aus der inneren Logik sprachlicher Interaktion erklärt. Für unsere Untersuchung zentral ist, daß auch Habermas ein signifikatives bzw. nicht-signifikatives Verständnis von Sprache als grundlegendes Kriterium nennt: es gilt also zu entscheiden, ob „beim Anbau der Sprachtheorie entweder der körperlosen Intention als freischwebendem Element des Bewußtseins oder der im Medium

135 Für das Folgende legen wir zugrunde: J. HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns I. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung; Π. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, 4.A., F r a n k f u r t / M 1987 (Ziffern im Text beziehen sich im folgenden auf diese Bände). Und: ders., Metaphysik nach Kant, in: Theorie der Subjektivität, FS für D . Henrich, hg.v. K. CRAMER/H.F. FULDA/R.-?. HORSTMANN/U. POTHAST, F r a n k f u r t / M 1987, 425-443 (zitiert als 1987b). 136 HABERMAS, 1987b, 427f.

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sprachlicher Symbole verkörperten Bedeutung" der Vorrang einzuräumen ist137. „Man wird zu entgegengesetzten Lösungen kommen je nachdem, ob die in einer Sprachgemeinschaft intersubjektiv geteilte Bedeutung als Grundbegriff in Anschlag gebracht, oder ob das intersubjektive Verständnis eines bedeutungsidentischen Ausdrucks aus den in unendlicher Iteration aneinander gespiegelten Intentionen verschiedener Sprecher abgeleitet wird"138. So entschieden Habermas den ersten Teil der Alternative als Ausgangspunkt wählt, so notwendig ist für ihn eine formalpragmatische Näherbestimmung: „Selbstbeziehung und Satzform können in einer Sprachtheorie gleichrangig berücksichtigt werden, sobald diese sich nicht mehr semantisch am Verständnis von Sätzen, sondern pragmatisch an Äußerungen orientiert, mit denen sich Sprecher miteinander über etwas verständigen"139. Mit der paradigmatischen Stellung sprachlicher Verständigung kommt also bei Habermas zugleich ein spezifischer Handlungsbegriff in den Blick, der soziales Handeln vor allem (aber nicht allein) auf seine kommunikativen Implikationen hin befragt. Dabei setzt dieses Modell kommunikativen Handelns „Sprache als ein Medium unverkürzter Verständigung voraus, wobei sich Sprecher und Hörer aus dem Horizont ihrer vorinterpretierten Lebenswelt gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt beziehen, um gemeinsame Situationsdefinitionen auszuhandeln" (1,142). Dabei ist dann für uns vor allem der Sachverhalt entscheidend, daß die an solchen Handlungen Beteiligten sich zugleich zueinander in der Rolle von Sprecher und Hörer verhalten, und dies vor dem Forum von unbeteiligten Angehörigen der Sprachgemeinschaft. Sie nehmen in dieser pragmatischen Einstellung nämlich nicht mehr „geradehin auf etwas in der objektiven, sozialen oder subjektiven Welt Bezug, sondern relativieren ihre Äußerung an der Möglichkeit, daß deren Geltung von anderen Aktoren bestritten wird. Verständigung funktioniert als handlungskoordinierender Mechanismus nur in der Weise, daß sich die Interaktionsteilnehmer über die beanspruchte Gültigkeit ihrer Äußerungen einigen, d.h. Geltungsansprüche, die sie reziprok erheben, intersubjektiv anerkennen" (1,148). Mit dem Leitbegriff des kommunikativen Handelns wird Sprechern, Hörern und unbeteiligten Dritten jeweils idealiter eine verständigungsorientierte Einstellung unterstellt. Dies ist für Habermas allerdings nur dann zu rechtfertigen, „wenn sich zeigen läßt, daß der verständigungsorientierte Sprachgebrauch der Originalmodus ist, zu dem sich die indirekte Verständigung, das Zu-verstehen-geben oder das Verstehenlassen, parasitär verhalten. Genau dies leistet ... Austins Unterscheidung zwischen Illokutionen und Perlokutionen" (1,388). Illokutionäre Sprechhandlungen zeichnen sich per definitionem durch ihre „Selbstgenügsamkeit" aus, da sich in ihnen die Absicht des Sprechers gänzlich „aus der manifesten Bedeutung des Gesagten" ergibt (1,389). Perlokutionäre Sprechhandlungen hingegen sind dadurch bestimmt, daß sie lediglich Teil eines sie übergreifenden .strategischen' Handlungszusammenhangs sind (hier will ein Sprecher mit einem verstehbaren Sprechakt beim Hörer einen unausgesprochenen Effekt als sein eigentliches Ziel bewirken). Doch läßt sich das unterschiedliche Verständigungspotential der beiden Sprechtypen nicht an der unterschiedlichen Haltung des Sprechers fixieren (vgl. I, 402f). Illokutionäre und perloku-

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HABERMAS, 1987b, 440.

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HABERMAS, 1987b, 440.

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tionäre Sprechakte lassen sich nicht am Kriterium der subjektiven Wahrhaftigkeit ihres Sprechers unterscheiden. Sie unterscheiden sich vielmehr darin, daß die intersubjektiven Bedingungen der Zustimmung illokutionärer Sprechakte vollständig in ihnen selbst enthalten sind, was für perlokutionäre Sprechakte nicht gilt. Die Grundregel, daß wir Sprechakte nur verstehen, wenn wir (vollständig) wissen, was sie akzeptabel macht (1,400), läßt sich also dahin präzisieren, daß die Zustimmungsbedingungen nicht einseitig vom Sprecher oder Hörer her festgelegt werden dürfen; diese Bedingungen müssen vielmehr ihrerseits intersubjektiv explizierbar, diskutierbar und anerkennbar sein. Sie läßt zum andern nun auch verstehen, was gerade illokutionäre Sprechakte auszeichnet: „Für kommunikatives Handeln sind nur solche Sprechhandlungen konstitutiv, mit denen der Sprecher kritisierbare Geltungsansprüche verbindet. In den anderen Fällen, wenn ein Sprecher ... Ziele verfolgt, zu denen der Hörer, wie gegenüber Imperativen, nicht begründet Stellung nehmen kann, bleibt das in sprachlicher Kommunikation stets enthaltene Potential für eine durch Einsicht in Gründe motivierte Bindung brachliegen" (1,410). Damit ist allerdings erst die notwendige, nicht schon die hinreichende Bedingung für das Verstehen sprachlicher Bedeutung benannt. Wörtliche Bedeutungen sind vielmehr immer auch relativ zu einem impliziten, ,holistisch' strukturierten und indisponiblen ,Alltags'-Wissen: „die Lebenswelt ist gleichsam der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen; ... und wo sie ... Geltungsansprüche kritisieren und bestätigen, ihren Dissens austragen und Einverständnis erzielen können. Mit einem Satz: zu Sprache und Kultur können die Beteiligten in actu nicht dieselbe Distanz einnehmen wie zur Gesamtheit der Tatsachen, Normen oder Erlebnisse, über die Verständigung möglich ist"140. Steht also jeder sprachliche Verständigungsakt im ,Horizont' einer Lebenswelt, so freilich nur im Sinne einer permanenten dialektischen Wechselbeziehung zwischen beiden, die durch die sprachliche Verfaßtheit von Lebenswelt und Verständigungsakt vermittelt wird. Aus dem selbstverständlichen und impliziten lebensweltlichen Wissen treten situativ Fragen und Probleme hervor, die nach einer expliziten Verständigung verlangen. In modernen Gesellschaften werden solche Fragen zunehmend der diskursiven Lösung durch differenzierte .Expertenkulturen' zugewiesen, die die ganzheitliche Struktur der Lebenswelt zugunsten differenzierter, ,dezentrierter' formeller Weltbilder auflösen141. Doch pointiert Habermas zugleich die bleibend eigenständige Rationalität der unmittelbar lebensweltlichen Verständigungsakte, die von der modernen Differenzierung nicht nur verdrängt zu werden drohen, sondern von ihr auch in ihrer inneren Rationalisierung vorangetrieben werden (vgl. II,218f). Der Begriff des kommunikativen Handelns impliziert also das idealisierte Wechselverhältnis einer sich kraft ihrer sprachlichen Konstitution und kommunikativen Reproduktion selber rationalisierenden, intersubjektiven Lebenswelt, in deren Horizont Sprecher, Hörer und Unbeteiligte über illokutionäre Sprechakte zunehmend verständigungsorientiert miteinander handeln, um so ihr zweckorientiertes Handeln intersubjektiv zu koordinieren.

140 11,192 (Kursive H A ) . Implizit ist dieses Wissen, weil es nicht in endlich vielen Propositionen dargestellt werden kann; holistisch strukturiert, weil seine Elemente aufeinander verweisen; indisponibel, weil es nicht auf Wunsch in Zweifel gezogen werden kann, vgl. 1,451. Z u r Kritik vgl. HENRICH, 1987, 18 und HABERMAS, 1987b, 433f. 141 Vgl. 1987b, 433.

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Wie bei Ernst Tugendhat wird auch bei Jürgen Habermas ein signifikatives bzw. nicht-signifikatives Verständnis von Sprache zum grundlegenden Kriterium einer Abkehr von subjektivitätstheoretischen Denkmustern. Allerdings orientiert sich sein Verständnis von Sprache am formalpragmatischen Modell einer sprachlich vermittelten, genauer: konstituierten Beziehung zwischen Ich und Du. N u r von ihrer Sprechgemeinschaft her, als Sprecher und Hörer vor dem Forum Dritter, kommen Ich und Du hier in den Blick. Zugleich wird solches intersubjektive Sprechen als kommunikatives Handeln bestimmt. Die Möglichkeitsbedingungen kommunikativen Handelns werden immer wieder auf die Frage zurückgeführt, wie in sprachlichen Symbolen verkörperte Bedeutungen intersubjektiv ausweisbar sind. Diese Frage verweist zum einen auf den implizit sprachlich repräsentierten lebensweltlichen Horizont jeder konkreten Verständigungsbemühung. Sie sucht zum anderen nach intersubjektiv zu gewährleistenden Geltungsansprüchen, die allen verschiedenen Äußerungsformen zu eigen sind. Bedeutungsfragen werden hier nicht .subjektreflexiv', sondern gleichsam ,sprachreflexiv' geklärt: Bedeutungen zu verstehen heißt hier nicht, die hinter sprachlichen Zeichen verborgene subjektiv-vorsprachliche Wahrheitsschau eines Sprechers gegenzuzeichnen im reflexiven Rückgang auf die eigene, vorsprachliche, innere Anschauung der gemeinten Sachen und Sachverhalte. Die Bedeutung jedes sprachlichen Ausdrucks ist vielmehr „durch den Handlungszusammenhang konstituiert..., in dem dieser stehen kann" 142 . Habermas' knapp umrissene Begriffe von Sprechen und Handeln bieten Hinweise für eine Kritik der Subjektivitätstheorie. Sie können für unsere Zwecke allerdings nicht unbesehen übernommen werden, sondern fungieren bestenfalls als Problemanzeigen. Denn Habermas' universalpragmatisches Verständnis von Sprache standardisiert und reduziert das alltägliche Sprechen. Sein Wohlwollen für die Aufklärungspotentiale der christlich-jüdischen Tradition ist gepaart mit einem erstaunlichen Unverständnis für die Eigenart eines (im theologischen Sinne) assertorischen Redens}n Doch ist dies nur ein Symptom für die sprachphilosophischen Defizite einer Universalpragmatik, die „eine ,Logik der Sprechhandlungen' als ein (paradox formuliert) ,νοη Medieneigenschaften freies Medium'" entwirft, „demgegenüber alle natürlichen Sprachen sekundär sind" 144 , sofern ihr Verständigungspotential am Maß142 H.J. SCHNEIDER, Gibt es eine .Transzendental-' bzw. .Universalpragmatik'?, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 36 (1982), 208-226, 217. 143 Vgl. nur HABERMAS, 1987, 11,163 bzw. 133-147: über eine im Moment noch relativ unverzichtbare Funktion in der Erziehung des Menschengeschlechts kommt die .Rhetorik' christlicher-jüdischer Tradition nicht hinaus. 144 H.J. SCHNEIDER, Phantasie und Kalkül. Über die Polarität von Handlung und Struktur in der Sprache, Frankfurt/M 1992, 137. Demgegenüber fragt SCHNEIDER, ob die Sprache von SEARLES Standardformen stattdessen als eine Sprache unter anderen zu verstehen sei, so daß zwischen ihr und natürlichen Sprachen nicht das Verhältnis einer Realisierung, sondern einer Übersetzung zwischen gleichrangigen Sprachspielen bestünde; vgl. zur Durchführung dieser

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stab der unterstellten universalpragmatischen Sprechhandlungen gemessen wird. Aber auch Habermas' Handlungsbegriff verdient, problematisiert zu werden. So läßt sich zurecht fragen, ob sein Verständnis kommunikativen Handelns nicht einem Praxis-Begriff verhaftet bleibt, „in dem ... der Mensch sein Leben in allseitiger Beziehung vollzieht"145, während ein theologischer Begriff mitteilenden Handelns jene Situation mitzubedenken hätte, „in der der Mensch ... aus sich herausgenommen wird und nicht seine eigene Existenz einholen muß." 146 Auch Habermas' Verständnis der aus seiner sprachlichen Kommunikation resultierenden Konstitution des individuellen Selbst bietet schließlich begriffliche Hinweise, die über die Subjektivitätstheorie hinausführen - auch wenn sie selbst problematisch bleiben. Habermas unternimmt einen eigenen Rekonstruktionsversuch, der das Entstehen von Selbstbeziehung aus symbolisch vermittelten Interaktionen erklären soll. Wir klammern dabei wiederum die ontogenetischen und evolutionstheoretischen Aspekte seiner Erklärung weitgehend aus (vgl. dazu 11,9-169). Dann bleibt als Ausgangsphänomen das wechselseitige Sich-Bedingen von Einstellungsübernahme und kommunikativer Adressierung: „Ein Sprecher kann sich nämlich in performativer Einstellung an einen Hörer nur unter der Bedingung adressieren, daß er sich ... aus der Perspektive seines Gegenübers in demselben Maße sehen und verstehen lernt, wie der Adressat dessen (sc. des Sprechers) Perspektive auf sich seinerseits übernimmt"147. Dieses Wechselverhältnis lasse sich von der gebärdenvermittelten Interaktion aus in drei Stufen rekonstruieren. Entscheidend ist, wie sich dabei dann intersubjektive Regeln der Symbolverwendung herausbilden: Vorausgesetzt, die Interaktionsteilnehmer interpretieren Gebärden bereits objektiv übereinstimmend, reagieren also faktisch jeweils in gleicher Weise auf eine bestimmte Gebärde des Anderen; und vorausgesetzt, sie haben gelernt, Gebärden nun auch als Auslöser einer beim Anderen erwartbaren Reaktion zu adressieren; so können sie in einer dritten Einstellungsübernahme lernen, „derselben Geste eine identische Bedeutung zu(zu)schreiben. Eine identische Bedeutung liegt dann vor, wenn Ego weiß, wie Alter auf eine signifikante Geste reagieren müßte", also nicht mehr nur erwarten kann, daß Alter wahrscheinlich in bestimmter Weise reagieren wird (11,28). Mißlingt auf dieser dritten Stufe Kommunikation, so muß Ego scheinbares Fehlverhalten des Anderen auch selbstkritisch auf

Hypothese, ebd., 23f.98-142.264-361.527-531. Vgl. bereits, SCHNEIDER, 1982, 222. Vgl. dazu ausführlich u.S.452-468. 145 H . G . ULRICH, Eschatologie und Ethik. Die theologische Theorie der Ethik in ihrer Beziehung auf die Rede von Gott seit Friedrich Schleiermacher, BEvTh 104, München 1988, 246. Mit diesem Handlungsbegriff sei die Verwiesenheit des Menschen auf sich selbst und damit das Problem der Subjektivität eher verstärkt denn überwunden. Vgl. dazu u.S.367-372. 146 Ebd., vgl. die Fortsetzung des Zitats: „Es ist zur weiteren begriffs darauf zu verweisen, daß es ein Handeln ,in der Zeit' ein Handeln in der Zeit der Erfahrung und Erwartung ...". Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 147 HABERMAS, 1987b, 441.

Entfaltung dieses Handlungsdes Handeln [sie!] Gottes ist, Vgl. auch W . PANNENBERG, 350-360.

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sich beziehen, wenn sich an der Reaktion des Anderen auf den Fehlschlag zeigt, daß er eigentlich regelgerecht reagieren wollte. „Indem sie (sc. Ego und Alter) die kritische Stellungnahme des anderen zur fehlschlagenden Deutung eines kommunikativen Aktes sich selbst gegenüber einnehmen, bilden sie Regeln der Symbolverwendung aus. Sie können nun im vorhinein überlegen, ob sie in einer gegebenen Situation eine mit einer Bedeutung versehene Geste ... so verwenden, daß der andere zu einer kritischen Stellungnahme keinen Grund hat. Auf diese Weise bilden sich Bedeutungskonventionen und bedeutungsidentisch verwendbare Symbole aus" (11,29). Entscheidend für den Ubergang von der gebärdenvermittelten zur konventionell symbolisch vermittelten Interaktion und dann weiter zur grammatischen Rede als illokutionär bindendem Verständigungsmedium zwischen einem Sprecher und Hörer ist also die Ausbildung von Regeln zwischen Ego und Alter. Diese erwerben dabei gleichzeitig die Kompetenz, der Regel in ihrer Symbolverwendung zu folgen, und die Fähigkeit, die Frage, ob ein Symbol richtig, d.h. in einem bestimmten Kontext regelgerecht verwendet wurde mit ,Ja' oder ,Nein' zu beurteilen (vgl. 11,39). Diese Rekonstruktion bietet den Ansatzpunkt zur Erklärung dafür, wie aus der Perspektivenübernahme im kommunikativen Handeln ein reflektiertes Selbstverhältnis resultiert: „Indem Ego die ablehnende Antwort von Alter auf einen eigenen Sprechakt vorwegnimmt und sich selbst einen Einwand macht, den Alter ihm machen könnte, begreift er, was es heißt, einen kritisierbaren Geltungsanspruch zu erheben. Sobald Ego dann die Orientierung an Geltungsansprüchen beherrscht, kann er die Verinnerlichung der diskursiven Beziehung noch einmal wiederholen. Nun begegnet ihm Alter bereits mit der Erwartung, daß Ego die kommunikative Rolle der ersten Person nicht nur naiverweise übernimmt, sondern erforderlichenfalls zur Rolle eines Proponenten im Rahmen einer Argumentation ausgestaltet. Wenn sich Ego diese Einstellung von Alter zu eigen macht, wenn er sich also mit den Augen eines Opponenten betrachtet, wie er auf dessen Kritik antwortet, gewinnt er ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst" (11,115). Allerdings differenziert Habermas (wiederum im Anschluß an Mead) innerhalb dieses formalpragmatischen Begriffs von reflexiver Selbstbeziehung nochmals zwischen dem ,Me' und dem ,I