Der Althistoriker Michail Rostovtzeff: Wissenschaft und Politik im vorrevolutionären und bolschewistischen Russland (1890–1918) 3447114509, 9783447114509

Michail Rostovtzeff (1870-1952) gehort zu den bedeutendsten Althistorikern des 20. Jahrhunderts. Seine beiden in den USA

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Der Althistoriker Michail Rostovtzeff: Wissenschaft und Politik im vorrevolutionären und bolschewistischen Russland (1890–1918)
 3447114509, 9783447114509

Table of contents :
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Titelseiten
Inhalt
Danksagung
Einleitung
1. Rostovtzeffs erste Schritte im wissenschaftlichen, sozialen und politischen Leben (1890–1913)
1.1 Wissenschaftliche Karriere und soziales Bild des Althistorikers
1.1.1 Zum Begriff „intelligencija“: Rostovtzeffs sozialer Hintergrund
1.1.2 Russland und die russische Hauptstadt um 1900
1.1.3 Wissenschaftliche Karriere
1.1.4 Gesellschaftliche Stellung
1.2 Rostovtzeff und die Politik
1.2.1 Die Revolution von 1905–1907
1.2.2 Russland als konstitutionelle Autokratie
1.2.3 Rostovtzeffs Abkehr von der Politik (1907–1913)
2. Rostovtzeff vor dem Ersten Weltkrieg im Kontext seiner Beziehungen zu deutschsprachigen Altertumswissenschaftlern
2.1 Bildungstraditionen des Russischen Reiches in der Familie Rostovtzeff
2.1.1 Vom Kaufmann zum Staatsrat: Rostovtzeffs Großvater
2.1.2 Von Kiew nach Orenburg: Rostovtzeffs Eltern
2.1.3 Auslandsreisen Ivan Rostovtzeffs
2.2 St. Petersburger Universität
2.2.1 Von Kiew nach St. Petersburg: Eine schicksalhafte Entscheidung
2.2.2 Die Entwicklung der russischen Althistorie im gesamteuropäischen Kontext
2.2.3 Russische Historische Schule
2.3 Erste Begegnungen mit internationalen Gelehrten
2.3.1 Die erste Auslandsreise 1893
2.3.2 Die zweite Auslandsreise 1895–1898
2.4 Der russische Althistoriker in der westeuropäischenWissenschaftswelt
2.4.1 Erste Publikationen in deutschsprachigen Fachzeitschriften
2.4.2 Internationale Kongresse
3. Der Erste Weltkrieg
3.1 Rostovtzeffs Beteiligung am „Krieg der Geister“
3.1.1 Von Kollegen zu Feinden: Auseinandersetzungen mit deutschen Gelehrten
3.1.2 Neuorientierung und Zukunft der russischen Wissenschaft
3.1.3 Ausblick: Versöhnung mit deutschsprachigen Gelehrten und Wiederherstellung wissenschaftlicher Beziehungen
3.2 Der Althistoriker im Krieg: Wohltätigkeit
3.2.1 Spendensammlungen
3.2.2 Außenpolitik/Denkmalschutz
3.2.3 Möglichkeiten von Reformen
4. 1917: Vom zaristischen zum bolschewistischen Russland
4.1 Februarrevolution
4.1.1 Februar
4.1.2 März
4.1.3 April bis Juni
4.1.4 Bolschewistischer Juli-Aufstand
4.1.5 August: Moskauer Staatsberatung
4.1.6 Am Vorabend der Katastrophe
4.2 Oktoberrevolution
4.2.1 Umsturz
4.2.2 Acht Monate im bolschewistischen Petrograd
4.2.3 Dienstreise oder Exil?
4.3 Nach der Abreise: Ausblick
Zusammenfassung
Abbildungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenindex

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Nadezda Fichtner

Der Althistoriker Michail Rostovtzeff Wissenschaft und Politik im vorrevolutionären und bolschewistischen Russland (1890–1918)

PHILIPPIKA

Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures 142

Harrassowitz Verlag

© 2020, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11450-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-39024-8

P H I L I P P I K A

Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures

Herausgegeben von /Edited by Joachim Hengstl, Elizabeth Irwin, Andrea Jördens, Torsten Mattern, Robert Rollinger, Kai Ruffing, Orell Witthuhn 142

2020

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2020, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11450-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-39024-8

Nadezda Fichtner

Der Althistoriker Michail Rostovtzeff Wissenschaft und Politik im vorrevolutionären und bolschewistischen Russland (1890–1918)

2020

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2020, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11450-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-39024-8

Bis Band 60: Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen. Bei diesem Werk handelt es sich um die überarbeitete Dissertation, die an der Universität Kassel unter dem gleichen Titel eingereicht und am 18. Juni 2018 verteidigt wurde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/ abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the internet at https://dnb.de/.

Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unter https://www.harrassowitz-verlag.de/ © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Verarbeitung: Rosch-Buch Druckerei GmbH Printed in Germany ISSN 1613-5628 ISBN 978-3-447-11450-9 e-ISBN 978-3-447-39024-8

© 2020, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11450-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-39024-8

meinem Vater Boris Brylyakov gewidmet

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Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.

Rostovtzeffs erste Schritte im wissenschaftlichen, sozialen und politischen Leben (1890–1913). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

1.1

Wissenschaftliche Karriere und soziales Bild des Althistorikers. . . . . . . . . . . . 1.1.1 Zum Begriff „intelligencija“: Rostovtzeffs sozialer Hintergrund . . . . 1.1.2 Russland und die russische Hauptstadt um 1900. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Wissenschaftliche Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Gesellschaftliche Stellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



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1.2

Rostovtzeff und die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Die Revolution von 1905–1907 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Russland als konstitutionelle Autokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Rostovtzeffs Abkehr von der Politik (1907–1913). . . . . . . . . . . . . . . . . .



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2.

Rostovtzeff vor dem Ersten Weltkrieg im Kontext seiner Beziehungen zu deutschsprachigen Altertumswissenschaftlern . . . . . . . . 103

2.1

Bildungstraditionen des Russischen Reiches in der Familie Rostovtzeff . . . . 2.1.1 Vom Kaufmann zum Staatsrat: Rostovtzeffs Großvater. . . . . . . . . . . . 2.1.2 Von Kiew nach Orenburg: Rostovtzeffs Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Auslandsreisen Ivan Rostovtzeffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



2.2

St. Petersburger Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Von Kiew nach St. Petersburg: Eine schicksalhafte Entscheidung . . . 2.2.2 Die Entwicklung der russischen Althistorie im gesamteuropäischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Russische Historische Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.3

103 104 107 111

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Erste Begegnungen mit internationalen Gelehrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2.3.1 Die erste Auslandsreise 1893. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2.3.2 Die zweite Auslandsreise 1895–1898. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

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VIII

Inhalt

2.4

Der russische Althistoriker in der westeuropäischen Wissenschaftswelt. . . . . 142 2.4.1 Erste Publikationen in deutschsprachigen Fachzeitschriften. . . . . . . . 143 2.4.2 Internationale Kongresse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

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Der Erste Weltkrieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

3.1

Rostovtzeffs Beteiligung am „Krieg der Geister“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Von Kollegen zu Feinden: Auseinandersetzungen mit deutschen Gelehrten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Neuorientierung und Zukunft der russischen Wissenschaft. . . . . . . . 3.1.3 Ausblick: Versöhnung mit deutschsprachigen Gelehrten und Wiederherstellung wissenschaftlicher Beziehungen. . . . . . . . . . . . . . . .

175

3.2

Der Althistoriker im Krieg: Wohltätigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Spendensammlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Außenpolitik/Denkmalschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Möglichkeiten von Reformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



4.

1917: Vom zaristischen zum bolschewistischen Russland. . . . . . . . . . . . . . . 229

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Februarrevolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Februar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 März. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 April bis Juni. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Bolschewistischer Juli-Aufstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5 August: Moskauer Staatsberatung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.6 Am Vorabend der Katastrophe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



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Oktoberrevolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Umsturz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Acht Monate im bolschewistischen Petrograd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Dienstreise oder Exil?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



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4.3

Nach der Abreise: Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

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Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Abbildungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Quellen- und Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Personenindex. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

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Danksagung Die vorliegende Dissertation nahm ihren Ursprung am 16. Oktober 2009 in Kassel. An jenem Tag fand die erste Sitzung des Seminars „M. Rostovtzeff und die Wirtschaft des Imperium Romanum“ statt, welches vom damaligen Lehrstuhlinhaber für Alte Geschichte im Rahmen des Masterstudiums angeboten worden war. Entscheidend für die Entstehung dieser Arbeit waren vor allem die Überzeugung des Seminarleiters von der eminenten Bedeutung Rostovtzeffs wissenschaftlicher Leistung und seine Begeisterung, mit welcher er sowohl über die Arbeiten des russischen Althistorikers als auch über sein Leben gesprochen hatte. Aus diesem Seminar entstand in Form einer Hausarbeit mein erster Versuch, Rostovtzeffs Werdegang vor 1918 zu untersuchen, der später zu einer Master- und schließlich Doktorarbeit hinauswuchs. Daher gilt mein großer Dank an erster Stelle meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Helmuth Schneider. Ich verdanke ihm nicht nur meine nähere Bekanntschaft mit Rostovtzeff, sondern auch zahlreiche anregende Diskussionen, seine fachkundige, akribische Durchsicht der Dissertation und nicht zuletzt die Freiheit, die ich während des gesamten Promotionsprojektes genießen durfte, was wiederum maßgeblich zum Gelingen der vorliegenden Arbeit beitrug. Zu aufrichtigem Dank verpflichtet bin ich Frau Dr. Marina Adams, die die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens auf sich genommen hat und mich sowohl durch ihren kompetenten Rat beim Gebrauch der Wissenschaftssprache stets unterstützte als auch in schwierigen Phasen durch ihr persönliches Beispiel motivierte. Darüber hinaus möchte ich mich bei der Promotionsstipendien-Kommission der Universität Kassel bedanken, die meine Arbeit durch die Verleihung eines Stipendiums finanziell förderte. Herzlicher Dank gilt außerdem dem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Kai Ruffing, der die Veröffentlichung dieser Arbeit in der Reihe Philippika. Altertumswissenschaftliche Abhandlungen ermöglicht hat. Auch anderen Mitgliedern der Prüfungskommission (Prof. Dr. Ingrid Baumgärtner, Prof. Dr. Manfred Hildermeier, Dr. Kerstin Droß-Krüpe) danke ich für die Zeit, die sie sich für die Lektüre der Studie und die Disputation genommen haben. Nicht zuletzt danke ich meiner Familie, vor allem meinem Mann Anton Fichtner, sowie meinen lieben Freunden, besonders Julia Herzig, Familie Aleynikov, Alan Cordell, Olga Molnar, für ihren Rückhalt während der ganzen Promotionszeit. Ohne all die genannten Menschen wäre ein erfolgreicher Abschluss der Dissertation unvorstellbar gewesen. Kassel, August 2020 Nadezda Fichtner

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Einleitung

Zusammenfassung und Begründung des Forschungsvorhabens Der Althistoriker Michail Rostovtzeff (1870–1952) gehört ohne Zweifel zu den bedeutenden Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts. Sein Name ist in allen großen geschichtswissenschaftlichen Nachschlagewerken zu finden, was Rostovtzeffs Rang in der internationalen Althistorie unterstreicht. So widmete A. Momigliano ein ganzes Kapitel seiner historiographischen Studien dem russischen Gelehrten. Rostovtzeff ist als einziger Althistoriker neben E. Gibbon, Th. Mommsen und M. I. Finley in den von L. Raphael herausgegebenen Bänden „Klassiker der Geschichtswissenschaft“ berücksichtigt worden. K. Christ verglich die wissenschaftliche Leistung des russischen Gelehrten mit dem Wirken Mommsens, und J. R. Fears hat einen ausführlichen Beitrag über den Althistoriker in der biographischen Enzyklopädie „Classical Scholarship“ verfasst. Auch im 6. Supplementband des Neuen Pauly werden das Leben und Werk Rostovtzeffs von H. Schneider gewürdigt. 1 Großen internationalen Erfolg erlangte Michail Rostovtzeff während seiner Exilzeit in den USA. Seine beiden umfangreichen Werke zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der römischen Kaiserzeit und der hellenistischen Welt, „The Social and Economic History of the Roman Empire“ (1926) und „The Social and Economic History of the Hellenistic World“ (1941) 2, prägten ganze Generationen von Historikern und sicherten dem Russen eine herausragende Stellung innerhalb der Altertumswissenschaften. Mehrere Faktoren machten die oben genannten Arbeiten zu Meilensteinen der althistorischen Geschichtsschreibung. Zum ersten Mal wurde das soziale und wirtschaftliche Leben der Antike so umfassend beschrieben. Rostovtzeffs Darstellungen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Imperium Romanum und der hellenistischen Welt beruhen auf einer meisterhaften Einbeziehung und Auswertung des umfangreichen literarischen, epigraphischen und auch archäologischen Quellenmaterials. Neu war der Umgang mit den archäologischen Zeugnissen, die den Bänden nicht nur als bloßer Anhang beigefügt, sondern in die gesamte Darstellung integriert und als dokumentierende Nachweise 1 Vgl. Momigliano, A.: Studies in Historiography, London 1966, 91–104; Heinen, H.: Michael Ivanovich Rostovtzeff (1870–1952), in: Raphael, L. (Hg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft, Bd. 1, München 2006, 172–189; Christ, K.: Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, Darmstadt 1979, 334–349; Fears, J.R.: M. Rostovtzeff, in: Briggs, W.W./Calder III, W.M. (Hg.): Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia, New York/London 1990, 405–418; Schneider, H.: Rostovtzeff, Michael Iwanowitsch, in: DNP Suppl. 6 (2012), 1083–1089. 2 Vgl. Rostovtzeff, M.: The Social and Economic History of the Roman Empire, Oxford 1926; Ders.: The Social and Economic History of the Hellenistic World, 3 Bde., Oxford 1941.

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Einleitung

behandelt wurden. Neben der Vielfalt der angebotenen und bearbeiteten Informationen überzeugte vor allem die wissenschaftlich fundierte Argumentation des Autors. Rostovtzeffs Bild der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Alten Welt war zudem so harmonisch und beeindruckend, dass es lange Zeit in der Althistorie dominierend blieb und die beiden Bände als Standardwerke der althistorischen Geschichtsschreibung anerkannt waren. 3 Die Bedeutung der beiden Monographien war weitreichend. Sie wurden schnell in verschiedene Sprachen, etwa 1929 bzw. 1955/56 ins Deutsche 4, übersetzt und mehrmals aufgelegt. Dies führte zu großer Resonanz weltweit. Damit rückten sozial- und wirtschaftshistorische Fragen ins Licht der althistorischen Forschung, wodurch wiederum neue Fragestellungen und Themen angeregt wurden. Ferner gab Rostovtzeffs historische Konzeption den bereits Ende des 19. Jahrhunderts rege geführten Diskussionen über den Charakter der antiken Wirtschaft neue Impulse, die ihren Höhepunkt 1973 mit der Veröffentlichung „The Ancient Economy“ von M. I. Finley erreichten. 5 Die moderne Begrifflichkeit, die Rostovtzeff für die Darstellung des antiken Sozialund Wirtschafslebens benutzte, war charakteristisch für seine Arbeiten, wurde jedoch später zum Anlass häufiger Kritik. Der Althistoriker beschrieb bspw. die wirtschaftliche Entwicklung des Imperium Romanum vom 1. bis zum 3. Jh. n. Chr. als „process of industrialisation“ 6 und verwendete für die Bezeichnung der römischen Oberschicht in Städten den Begriff bourgeoisie. Somit wird Rostovtzeffs antikes Bild der modernistischen Position zugeordnet, ähnlich wie Ed. Meyers Auffassung. 7 In den modern aufgefassten Prozessen in der Geschichte der Alten Welt entdeckten Rostovtzeffs Kritiker relativ früh Vorstellungen, hinter denen persönlich erlebte Ereignisse vermutet wurden. Vor allem Rostovtzeffs Beschreibung der Ursachen für die Krise des Römischen Reichs im 3. Jahrhundert n. Chr. weckte das besondere Interesse der Fachleute. Die These gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen den Soldaten mit bäuerlicher Herkunft und der städtischen Oberschicht sowie der darauffolgenden Beseitigung der bourgeoisie im Imperium Romanum soll vom russischen Gelehrten „im Banne des eigenen Erlebens“ 8 und aufgrund der „Erfahrungen mit der ‚roten Arbeiter3 Vgl. Anm. 1. 4 Vgl. Rostovtzeff, M.: Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich, 2 Bde., hg. von L. Wickert, Leipzig 1929; Ders.: Die hellenistische Welt: Gesellschaft und Wirtschaft, 3 Bde., hg. von M. Wodrich/G. u. E. Bayer, Stuttgart 1955/56. 5 Vgl. dazu ausführlich Finley, M.I.: The Ancient Economy, Berkeley 1973; Ders. (Hg.): The BücherMeyer Controversy, New York 1979; Schneider, H.: Die Bücher-Meyer-Kontroverse, in: Calder III, W.M./Demandt, A. (Hg.): Eduard Meyer: Leben und Leistung eines Universalhistorikers, Leiden 1990, 417–445; Tschirner, M.: Moses I. Finley. Studien zu Leben, Werk und Rezeption, Marburg 1994, 37–94, 136–167. 6 Rostovtzeff, M.: The Social and Economic History of the Roman Empire, Vol. 1, Oxford 1957, 174. 7 Vgl. Schneider, H.: Die Erforschung der antiken Wirtschaft vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg: Von A.H.L. Heeren zu M.I. Rostovtzeff, in: Losemann, V. (Hg.): Alte Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik, Wiesbaden 2009, 371–377. 8 Christ 1979, 345.

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Zusammenfassung und Begründung des Forschungsvorhabens

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und Bauernarmee‘“ 9 formuliert worden sein. Rostovtzeffs Charakteristik der gebildeten Schichten während des Prinzipats des 2. Jahrhunderts ließen Parallelen zur russischen Gesellschaft zu. Marinus A. Wes schrieb: „That says perhaps more about Rostovtzeff, his family and the milieu of the Russian ‚bourgeoisie‘ of the 19th century in general, than about the urban elite of the Roman emipre“ 10. Arnaldo Momigliano fügte hinzu, dass „[…] without his painful experience of the Russian revolution Rostovtzeff would probably not have described the bourgeoisie of the Roman empire with such loving care“ 11. Auch C. Bradford Welles erkannte in Rostovtzeffs Monographien den Einfluss „of the shock of seeing the Russian world in which he had grown up disintegrate befor his eyes“ 12. Somit wurde frühzeitig anerkannt, dass Rostovtzeffs Werk nur in einer Wechselwirkung seines Lebens und Schaffens zu begreifen ist. Dass politische Umbrüche nicht nur die äußeren Lebensumstände eines Wissenschaftlers radikal verändern, sondern auch seine wissenschaftliche Forschung in vielfältiger Weise beeinflussen können, ist eine bekannte Tatsache. Aus diesem Grund gehört die Untersuchung des politischen, sozialen und kulturellen Umfelds eines Gelehrten zu den Hauptaufgaben der Wissenschaftsgeschichte. 13 In diesem Zusammenhang ist das Schicksal von Michail Rostovtzeff äußerst bezeichnend und bedarf einer grundlegenden Erforschung. Zu dieser Erkenntnis kamen Rostovtzeff-Forscher bereits vor Jahrzehnten: „We are doing him a great injustice in speaking about him without a proper knowledge of his Russian background“ 14. Dass der russische Historiker selbst solche Herangehensweise begrüßen würde, bestätigt indirekt ein Gedanke aus dem Jahr 1908: „Anhand eines Buches kann man nicht eine wissenschaftliche Größe einschätzen. Das Buch gibt nur die Grundlage der Denkweise. Die wissenschaftliche Größe ist jedoch ein ganzer Mensch mit seinem Aussehen, seiner Sprach- und Denkweise usw.“ 15 Was ist heutzutage über die Persönlichkeit des russischen Althistorikers bekannt? Leben und wissenschaftliche Karriere von Michail Ivanovič Rostovtzeff (1870–1952) lassen sich in zwei Abschnitte unterteilen. Die erste Lebensperiode spielte sich zwischen seiner Geburt und der erzwungenen Abreise 1918 aus Russland ab. Den zweiten Lebensabschnitt und somit den Rest des Lebens musste der russische Althistoriker im Exil verbringen.

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Ebd. Wes, 212. Momigliano 1966, 101. Welles, C.B.: Michael I. Rostovtzeff, in: Lambie, J.T. (Hg.): Architects and Craftsmen in History, Tübingen 1956, 67. 13 Vgl. Kuhlmann, P./Schneider, H.: Die Altertumswissenschaft von Petrarca bis zum 20. Jh., in: DNP Suppl. 6 (2012), XV. 14 Momigliano 1966, 93. 15 Rostovtzeff, M.: Meždunarodnyj istoričeskij sʼʼezd v Berline [Der internationale historische Kongress in Berlin], in: ŽMNP 10 (1908), 34f.

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Einleitung

Aber genau in dieser Zeit schuf der „verdrängte“ 16 Wissenschaftler die Werke, die seinen Ruhm begründen sollten. Rostovtzeffs Leben in den USA ist dank des breiten Interesses an der Person des Althistorikers und der Bemühungen seiner westeuropäischen und amerikanischen Schüler und Kollegen weitgehend bekannt. Viele wissenschaftliche Arbeiten Rostovtzeffs, einschießlich seiner historischen Schriften aus der „russischen“ Lebensperiode, sind zum heutigen Zeitpunkt bereits einer akribischen Untersuchung unterzogen worden. Schwieriger verhält es sich mit den Informationen aus Rostovtzeffs Leben vor 1918. Die heutige Kenntnis von seinem Leben in Russland basiert auf wenigen Fakten, z. B. auf Rostovtzeffs sozialem Hintergrund, seiner liberalen politischen Einstellung und seiner Mitgliedschaft in der konstitutionell-demokratischen Partei, seinen politischen Aktivitäten während des Ersten Weltkrieges sowie der scharf ablehnenden Haltung gegenüber der Oktoberrevolution von 1917. Letztere stand dabei am häufigsten im Mittelpunkt der Untersuchungen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Althistoriker sehr oft und sehr deutlich seine ablehnende Meinung über die Bolschewiki in seinen politischen Schriften nach 1918 geäußert hatte. Somit wurde der bolschewistischen Revolution eine überragende Bedeutung für die Entwicklung Rostovtzeffs als Althistoriker beigemessen, wodurch sein früherer Werdegang in den Schatten dieses Ereignisses stand und nur lückenhaft erforscht wurde. Aber gerade die frühere Lebensphase des russischen Wissenschaftlers bietet eine reiche Quelle zum Verständnis seiner Persönlichkeit und der von ihm formulierten wissenschaftlichen Thesen. Denn bis zum Zeitpunkt des bolschewistischen Umsturzes war der damals 47-jährige Rostovtzeff nicht nur ein Augenzeuge, sondern auch aktiver Teilnehmer an mehreren wichtigen Ereignissen – sowohl der russischen als auch der westeuropäischen Geschichte. Obwohl die Revolution vom Oktober 1917 durch ihre Tragik all diese Ereignisse in Rostovtzeffs Leben in den Schatten gestellt hatte, war sie nur eine Episode seines Lebens in Russland. Zum Status des weltberühmten Historikers, zu dem er im Exil wurde, führten die langen Jahre der anstrengenden wissenschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Arbeit im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Dabei spielten Rostovtzeffs Herkunft und Ausbildung, seine gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen sowie die wissenschaftlichen und sozialpolitischen Aktivitäten eine prägende Rolle für sein weiteres Schicksal. Somit ist die Erforschung dieser Zeit für das Verständnis von Rostovtzeffs Lebenswerk unabdingbar. Denn auch nach 65 Jahren der Rostovtzeff-Forschung gibt es lediglich eine in vielen Einzelheiten unklare Vorstellung von Rostovtzeffs Leben, jedoch keine Biographie. Umso mehr verdient seine Tätigkeit außerhalb der althistorischen Studien eine hohe Beachtung. Wie Theodor Mommsen engagierte sich der russische Historiker in der Politik und war zudem sozial aktiv. Nichts anderes als Rostovtzeffs sozialpolitische Erfahrungen bildeten die Basis für seine Konzeption der antiken Wirtschaft und Gesellschaft. Das Schicksal Michail Rostovtzeffs, eines markanten Vertreters der wohlhabenden intellektuellen Welt St. Petersburgs, spiegelt die wichtigsten politischen und sozialen Um16 Vgl. Christ, K.: Geschichte und Existenz, Berlin 1991, 62–65.

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Ziele der Untersuchung

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brüche des russischen Zarenreiches am Ende des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wider. Rostovtzeffs Werdegang ist durch seine familiäre Zugehörigkeit zum liberalen Bildungsbürgertum geprägt. Seine wissenschaftliche Karriere wurde durch enge Kontakte mit internationalen Wissenschaftlern begleitet, die ohne Zweifel auch die sozialpolitischen Ansichten des Petersburger Gelehrten beeinflussten. Es war Michail Rostovtzeff, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinem konservativen Heimatland für die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie gegen die Missstände der bürokratischen Ordnung schriftlich einzusetzen wagte. Als Verfechter der Idee der Demokratisierung bzw. Europäisierung des Landes gehörte er zur liberalen russischen Professorenschaft, die eine heftige Kritik an der für die Rückständigkeit Russlands verantwortlichen Regierung übte. Am eigenen Leibe erlebte er den Verlauf und die Auswirkung der Ersten Russischen Revolution. Seine politischen Überzeugungen fanden ihren Ausdruck schließlich im Programm der Partei der Volksfreiheit, deren Mitglied Michail Rostovtzeff seit dem Herbst 1905 war. Die Auseinandersetzungen mit der internationalen Politik begannen für den russischen Wissenschaftler mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, den er in Berlin erlebt hatte. Bereits am Vorabend des Krieges zeigte Rostovtzeff politisches Gespür, indem er seine westeuropäischen Kollegen vor dem in dieser Zeit blühenden Chauvinismus warnte. Im Jahr 1917 galt die Aufmerksamkeit des Historikers stärker den Problemen innerhalb seines Heimatlandes. Michail Rostovtzeff stand im Epizentrum der größten Katastrophen der russischen Geschichte. Die demokratischen Initiativen der Provisorischen Regierung im Lande wurden vom Althistoriker unterstützt. Den bolschewistischen Staatsstreich vom Oktober 1917 lehnte Michail Rostovtzeff entschieden ab und kämpfte mit der Feder gegen die neue proletarische Regierung. Acht Monate, die Rostovtzeff unter der Macht der Bolschewiki lebte, wurden durch seine zahlreichen Versuche erfüllt, die russische Kultur und Wissenschaft vor der Anarchie zu retten und als Vertreter der bürgerlichen Intellektuellenschicht und als Mitglied der im November 1917 verbotenen „feindlichen“ Partei zu überleben. Die Abreise des kompromisslosen Gegners der Bolschewiki aus Russland im Juni 1918 bildete die wichtigste Zäsur im Leben des damals 47-jährigen russischen Historikers. Damit begann zunächst ein unstetes und weitgehend unbekanntes Exilleben, das Michail Rostovtzeff zuerst in Schweden, Norwegen, Frankreich und England führte und schließlich zur letzten Station seines Lebens in die USA brachte.

Ziele der Untersuchung Im Mittelpunkt der vorliegenden Forschungsarbeit steht die politische und soziale Tätigkeit Michail Rostovtzeffs zwischen 1890 und 1918 in Russland. Das Ziel ist dabei, die Aktivitäten seines Lebens vor der Emigration chronologisch zu rekonstruieren, so dass ein einheitliches Bild von der Entwicklung des Althistorikers im wissenschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Bereich entsteht. Die zeitliche Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes bezieht sich auf Rostovtzeffs Ankunft 1890 in St. Petersburg, die sich als ein wegweisender Schritt für seinen weiteren Lebenslauf erwies, und seine

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Einleitung

Abreise aus dem bolschewistischen Petrograd im Juni 1918 als die entscheidende Zäsur im Schicksal des 47-jährigen russischen Historikers. Um den Anspruch der Vollständigkeit der Darstellung zu erfüllen, werden jedoch in bestimmten Fällen diese zeitlichen Grenzen überschritten, wie etwa bei der Klärung von Rostovtzeffs familiärem Hintergrund und des Wandels seiner Beziehungen zu deutschsprachigen Wissenschaftlern. Die Untersuchung der Familiengeschichte des Althistorikers dient dem Ziel, seine familiäre gesellschaftliche Zugehörigkeit zum russischen Bürgertum zu charakterisieren; sie erlaubt darüber hinaus die Frage zu beantworten, inwiefern das familiäre Umfeld Rostovtzeffs Karrierewahl beeinflusst hatte. Danach werden die Anfänge seines wissenschaftlichen Werdegangs sowie seine gesellschaftliche Stellung in St. Petersburg thematisiert. Dies ermöglicht die Interdependenzen zwischen der wissenschaftlichen Forschung, der sozialen und kulturellen Umgebung und der politischen Position des Althistorikers aufzuzeigen. Für eine differenzierte Erforschung seiner fast drei Jahrzehnte umfassenden gesellschaftlichen und politischen Tätigkeit werden die wichtigsten Abschnitte in der Geschichte Russlands der Untersuchung zugrunde gelegt. Dadurch wird es möglich, die Entwicklung von Rostovtzeffs politischem Standpunkt zu verfolgen. Dieser wird stets im Kontext seiner Zugehörigkeit zur russischen intelligencija, zur konstitutionell-demokratischen Partei sowie zur hauptstädtischen Professorenschaft dargestellt, was ermöglicht, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Rostovtzeffs Reaktionen auf die politischen Ereignisse innerhalb sowie außerhalb seines Heimatlandes und den Wahrnehmungen der Vertreter seines Umfeldes nachzuvollziehen. Die außenpolitischen Aktivitäten des russischen Althistorikers werden durch das Prisma seiner Verbindungen zur deutschsprachigen Wissenschaft untersucht, sodass die Rolle der persönlichen Beziehungen für Rostovtzeffs politische Einstellung deutlich wird. Außerdem wird dadurch sowohl die Entwicklung der russischen vorrevolutionären Althistorie zur Sprache gebracht als auch ein Beispiel für die enge, nationenübergreifende Zusammenarbeit der Wissenschaftler vor dem Ersten Weltkrieg gegeben. Das Jahr 1917, das eine eminente Bedeutung für die weitere Geschichte Russlands allgemein und für das Schicksal des Althistorikers speziell hatte, bedarf einer detaillierten Untersuchung. Dies wird zum Verständnis für Rostovtzeffs steigende Beteiligung am politischen Geschehen seiner Heimat in jenem Jahr sowie für seine tiefverankerten und langlebigen Ressentiments gegenüber den Bolschewiki beitragen. Im Sinne einer biographischen Darstellung werden darüber hinaus die Persönlichkeit des Althistorikers und sein Privatleben eingehend charakterisiert. Dies erlaubt nicht nur, bislang weitgehend unbekannte Teile von Rostovtzeffs Biographie zu ergänzen, sondern hilft in vielen Fällen auch, seine Entscheidungen in allen Lebensbereichen besser zu verstehen. Da – unabhängig von politischen Konstellationen – die Wissenschaft immer den bedeutendsten Teil von Rostovtzeffs Leben darstellte, werden die Meilensteine seiner vorrevolutionären wissenschaftlichen Tätigkeit einen wichtigen Platz in der Untersuchung einnehmen. Somit kann die angestrebte Untersuchung über den Beitrag zur Biographie Rostovtzeffs hinaus exemplarische Ergebnisse zur Identität der russischen intelligencija

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Inhalte der Untersuchung

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und zu ihrer Reflexion politischer Phänomene am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie zu vielfältigen Anpassungsprozessen der Gelehrten im Kontakt mit der wechselnden Regierungsmacht bieten.

Inhalte der Untersuchung Das erste Kapitel ist den ersten Schritten des Althistorikers im sozialen, wissenschaftlichen sowie politischen Leben gewidmet. Die Charakteristika der Gesellschaftsschicht, der Rostovtzeff seit seiner Geburt angehörte und zu deren hervorragendsten Repräsentanten er später wurde, machen es notwendig, den Begriff „intelligencija“ zu klären (Abschnitt 1.1.1). Überblickshaft sollen auch einige Merkmale des Lebens in der russischen Hauptstadt um die Jahrhundertwende skizziert werden. Die hier angedeutete Bedeutung des Wohnortes sowie des Zeitgeistes für das Schicksal des Althistorikers wird im Laufe der Untersuchung wiederholt zur Sprache kommen. (Abschnitt 1.1.2). Im nächsten Abschnitt stehen die Anfänge von Rostovtzeffs wissenschaftlicher Karriere im Mittelpunkt. Zunächst ist zu fragen, welche Bedingungen ein geisteswissenschaftliches Studium im Russischen Reich um 1890 prägten und wie sie sich auf Rostovtzeffs universitären Alltag auswirkten. Die zu klärenden Inhalte seines Lehrplans, seine früheren wissenschaftlichen Vorlieben sowie seine universitären Freunde und Mentoren sollen die Kontinuität in Rostovtzeffs gesamter Forschung verdeutlichen (Abschnitt 1.1.3.1). Daraufhin werden die wichtigsten Stationen seiner wissenschaftlichen Karriere mit den Forschungsschwerpunkten nachgezeichnet (Abschnitte 1.1.3.2 und 1.1.3.3). Entscheidend ist dabei die Klärung der wichtigsten Faktoren, die den Verlauf einer Universitätskariere im Zarenreich beeinfussten. Die Wechselwirkung zwischen eigener Leistung, persönlichen Beziehungen, politischer Zuverlässigkeit sowie sozialen Kompetenzen ist in Rostovtzeffs Fall zu untersuchen, um seinen früheren wissenschaftlichen Erfolg erklären zu können. In diesem Zusammenhang werden einige Beispiele für Rostovtzeffs Selbstbehauptung in den akademischen Kreisen St. Petersburgs sowie die Wahrnehmung des jungen Althistorikers durch seine Kollegen in der historisch-philologischen Fakultät angeführt. Mithilfe einer Skizze seiner ersten wissenschaftlichen Erfolge sowie seiner ersten Berührung mit der politischen Realität in seinem Heimatland soll das Bild des russischen Historikers am Ende des 19. Jahrhunderts ergänzt werden. Schließlich wird dieses Bild durch die Beschreibung seiner Lehrtätigkeit an der Universität und an den Höheren Frauenkursen im Abschnitt 1.1.3.4 vervollständigt. Des Weiteren soll Rostovtzeffs Stellung in der russischen Gesellschaft beschrieben werden (Abschnitt 1.1.4). Dazu gehört sowohl die Darstellung seines Standpunktes zu solchen aktuellen Fragen, die seine Zeitgenossen beschäftigten, als auch seiner Beteiligung an hauptstädtischen Veranstaltungen und seine Mitgliedschaften in Vereinigungen St. Petersburgs (Abschnitte 1.1.4.1 und 1.1.4.2). Durch Darstellung des Tagesablaufs des Althistorikers und der Einzelheiten seines Privatlebens soll der Lebensstil der russischen

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Einleitung

hauptstädtischen Bildungsintelligencija charakterisiert und Rostovtzeffs Platz in der russischen vorrevolutionären Gesellschaft deutlich gemacht werden (Abschnitt 1.1.4.3). Nachdem der wissenschaftliche Karrierestart sowie die gesellschaftliche Stellung Rostovtzeffs Anfang des 20. Jahrhunderts bereits andernorts rekonstruiert wurden, wird seine Beteiligung am politischen Leben Russlands vor dem Ersten Weltkrieg einer Analyse unterzogen (Abschnitt 1.2). Zunächst wird der Überblick über die politische Situation im Zarenreich um 1900 folgen, die zur Formierung der Opposition gegen das autokratische Regime führte (Abschnitt 1.2.1.1.). Danach soll die Politisierung der hauptstädtischen Universität am Vorabend der Ersten Russischen Revolution, mit besonderer Berücksichtigung der Position der Hochschullehrer, beschrieben werden (Abschnitt 1.2.1.2). Schließlich werden die wichtigsten Ereignisse der Revolution zusammengefasst (1.2.1.3 und 1.2.2.1). Ferner steht die Gründung der Kadetten-Partei, deren Mitglied Rostovtzeff von Beginn an war, im Fokus der Untersuchung (Abschnitt 1.2.2.2). Inwieweit sich der Althistoriker an der Tätigkeit der russischen Staatsduma beteiligte und wie er die Politik in dieser Zeit beurteilte, soll im Abschnitt 1.2.2.3 untersucht werden. Der letzte Teil des Kapitels (Abschnitt 1.2.3) ist der Klärung der Gründe für Rostovtzeffs Abkehr von der Politik zwischen 1907 und 1913 gewidmet. Hier werden die Situation an der Petersburger Universität sowie die Tätigkeit des Althistorikers in staatlichen Unternehmungen und seine Verbindung zu der Zarenfamilie erfasst. Das zweite Kapitel stellt ein Bindeglied zwischen Rostovtzeffs innerrussischen Aktivitäten im wissenschaftlichen, sozialen und politischen Bereich und seinen Aktivitäten im Ersten Weltkrieg dar. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Auslandsreisen des Althistorikers, welche eine enorme Auswirkung sowohl auf seine wissenschaftliche Karriere als auch auf sein politisches Engagement nach 1914 hatten. Um Rostovtzeffs Neigung zur westeuropäischen Wissenschaftswelt, vor allem zu deutschsprachigen Gelehrten, verstehen zu können, werden zunächst die Bildungstraditionen der Familie des Althistorikers untersucht (Abschnitt 2.1). Die nähere Auseinandersetzung mit seiner Familiengeschichte erlaubt es, lückenhafte Informationen über seinen Stammbaum zu ergänzen, und liefert darüber hinaus ein Beispiel für den Aufstieg eines Kaufmannssohnes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zarenreich und verdeutlicht vor allem die Bedeutung dieses Aufstiegs für seine Nachfahren. Auf diese Weise wird der familiäre Hintergrund eines markanten Vertreters der russischen intelligencija Anfang des 20. Jahrhunderts geklärt. Zudem sollen die Bildungstraditionen in Rostovtzeffs Elternhaus detailliert beschrieben werden, weil sie einen unmittelbaren Einfluss auf seine Ausbildung hatten. Die Skizzierung der Tätigkeit seines Vaters als Bildungsbeamter erlaubt es, Rostovtzeffs Neigung zur deutschen Wissenschaft besser zu verstehen (Abschnitt 2.1.2 und 2.1.3). Des Weiteren werden Rostovtzeffs zwei Studienjahre an der Kiewer Universität nachgezeichnet und die Gründe sowie Umstände des Wechsels an die Universität St. Petersburg geklärt (Abschnitt 2.2.1). Die Herausbildung der russischen Altertumswissenschaften und die Rolle der westeuropäischen, vor allem deutschen Bildungstraditionen in diesem Prozess werden im Abschnitt 2.2.2 besprochen. Im Folgenden stehen die

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Inhalte der Untersuchung

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Entwicklung der russischen Historischen Schule sowie die wichtigsten Richtungen der russischen Althistorie im Fokus der Untersuchung. Es sollen dabei die frühen wissenschaftlichen Schwerpunkte des Althistorikers geklärt werden (Abschnitt 2.2.3). Danach werden die Auslandsreisen des Althistorikers zwischen 1893 und 1913 einer detaillierten Untersuchung unterzogen (Abschnitt 2.3). Angefangen von seinem ersten halbjährigen Aufenthalt in Italien 1893 über seine Auslandsreise 1895–1898 bis hin zu seiner Teilnahme an internationalen Kongressen werden Rostovtzeffs Verbidnungen zur westeuropäischen Wissenschaftswelt und insbesondere zu deutschsprachigen Wissenschaftlern dargestellt (Abschnitt 2.4). Es ist außerdem herauszufinden, was zum Erfolg des jungen Russen bei den deutschsprachigen Gelehrten speziell und in der internationalen Althistorie allgemein beitrug und welche Auswirkung sein steigendes wissenschaftliches Ansehen auf die internationale Stellung der russischen Wissenschaft hatte. Im dritten Kapitel werden Rostovtzeffs Aktivitäten während des Ersten Weltkrieges untersucht. Zunächst soll die Stimmung des russischen liberalen Bildungsbürgertums bei Kriegsausbruch erläutert werden. Dabei stehen die Auseinandersetzungen der russischen Intellektuellen mit deutschen Gelehrten im sogenannten „Krieg der Geister“ im Zentrum der Ausführung. Es soll geklärt werden, inwiefern sich die Stimmung der Russen gegenüber den Deutschen im Laufe des Krieges veränderte (Abschnitt 3.1.1 bis 3.1.2). Vor dem Hintergrund des allgemeinen Stimmungswandels wird Rostovtzeffs Kriegsengagement beschrieben. Zu diesem Zweck werden sowohl die kollektiven Stellungnahmen der russischen Intellektuellen als auch die Auseinandersetzung des russischen Althistorikers mit Ed. Meyer und U. von Wilamowitz-Moellendorff analysiert (Abschnitt 3.1.1.3). Dies erlaubt es, Rostovtzeffs Rolle in der einheimischen Kriegspublizistik zu beleuchten und außerdem seine Meinung über das Kriegsengagement seiner deutschen Freunde und Kollegen zu bewerten. Danach werden Rostovtzeffs Teilnahme an der Neuorientierung der russischen Wissenschaft sowie deren Gründe erläutert. Hierfür sind die Überlegungen des russischen Gelehrten über die Zukunft der einheimischen Wissenschaft innerhalb der internationalen Gelehrtengemeinschaft ebenso wie seine praktische Tätigkeit zur Annährung Russlands an die alliierten Länder zu untersuchen (Abschnitt 3.1.2.1 und 3.1.2.2). Aufgrund der großen Bedeutung von Rostovtzeffs Vorkriegsbeziehungen zu den Deutschen soll die Wiederaufnahme der Kontakte zwischen ihm und den deutschsprachigen Wissenschaftlern nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Abschnitt 3.1.3 recherchiert werden. Darüber hinaus werden Rostovtzeffs Aktivitäten in den Kriegsjahren in seiner Heimat ermittelt (Abschnitt 3.2). Dies geschieht einerseits mittels der Analyse seiner Beteiligung an den Spendenkampagnen zugunsten der Kriegsopfer (Abschnitt 3.2.1). Andererseits werden seine Vorschläge zum Denkmalschutz in den von der russischen Armee besetzten Kriegsgebieten erläutert (Abschnitt 3.2.2). Im letzten Abschnitt dieses Kapitels werden die innenpolitische Situation in Russland und vor allem die mit dem Krieg verbundenen Hoffnungen der russischen Gesellschaft auf eine weitere Demokratisierung des Landes skizziert.

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Einleitung

Das letzte Kapitel dieser Arbeit ist den letzten eineinhalb Jahren von Rostovtzeffs Leben in Russland gewidmet. Zunächst werden die politische Situation in seiner Heimat sowie die wissenschaftliche Tätigkeit des Althistorikers kurz vor dem Ausbruch der Revolution im Februar 1917 beschrieben (Abschnitt 4.1.1.1). Danach werden der Ablauf des Aufstandes sowie die Gründe seiner erfolgreichen Durchführung skizziert (Abschnitt 4.1.1.2). Da es nach dem Fall der Monarchie zur Bildung einer Übergangsregierung kam, ist zu untersuchen, welche Rolle die Kadetten-Partei in der Provisorischen Regierung spielte und welche politischen Ziele sie nach der Februarrevolution verfolgte (Abschnitt 4.1.2.1). Wichtig bleibt dabei die Klärung von Rostovtzeffs Position bei der beginnenden politischen Neugestaltung seines Heimatlandes (Abschnitt 4.1.2.2). Die Auseinandersetzung mit der entstandenen Doppelherrschaft und der steigenden Gewalt in Russland ermöglicht es, die Verschärfung der innenpolitischen Krise im Frühjahr 1917 nachzuzeichnen (Abschnitt 4.1.3). Im Abschnitt 4.1.3.1 werden die Bedeutung von Lenins Rückkehr nach Russland für die weitere Eskalation der politischen Lage und Rostovtzeffs wachsende Beteiligung am Propagandakrieg der Kadetten-Partei analysiert. Daraufhin wird die Zeit zwischen der Aprilkrise und dem bolschewistischen Juliaufstand beschrieben (Abschnitt 4.1.3.2). Im Zentrum des Interesses steht dabei die Auswirkung der politischen Radikalisierung auf die soziale Zusammensetzung der Mitgliedschaft sowie auf die taktische Ausrichtung der Partei der Konstitutionellen Demokraten. Rostovtzeffs Bewertung der Regierungsmaßnahmen gegen die Anführer des Putsches vom Juli 1917 und der Regierung Kerenskijs steht im Vordergrund des Abschnittes 4.1.4. Danach werden die Teilnahme des Althistorikers an der Moskauer Staatsberatung sowie der misslungene Militärputsch im August skizziert, um sowohl seine Meinung zur entstandenen politischen Lage als auch die allgemeine Stimmung der Bewohner Petrograds erfassen zu können (Abschnitt 4.1.5). Es ist außerdem zu untersuchen, wie sich der Althistoriker in den Herbstmonaten vor der Oktoberrevolution engagierte. Dafür werden sowohl seine Tätigkeit im Denkmalschutz als auch seine Veröffentlichungen zu den aktuellen politischen Fragen, z. B. zur drohenden Etablierung einer Diktatur der Massen sowie zu möglichen Folgen eines Separatfriedens, erfasst (Abschnitt 4.1.6). Die Bedeutung der bolschewistischen Machtergreifung als wichtige Zäsur im Schicksal von Michail Rostovtzeff wird durch die Beschreibung seines Lebens unter den neuen Machthabern verdeutlicht. Hierfür wird die Zeit zwischen dem Oktoberstreich und Rostovtzeffs Abreise ins Ausland in zwei Perioden unterteilt, um den unbekanntesten Lebensabschnitt des Althistorikers besser zu beleuchten (Abschnitt 4.2.2). Zunächst werden die Formen des antibolschewistischen Widerstandes in Russland allgemein und Rostovtzeffs Beteiligung am Kampf gegen die Bolschewiki erläutert (Abschnitt 4.2.2.1). Danach werden die zwei Ereignisse des Jahres 1918 beschrieben, welche den Althistoriker zum Entschluss brachten, sein Heimatland zu verlassen (Abschnitt 4.2.2.2.1 a). Wie Rostovtzeffs Leben in der ausgerufenen Sowjetrepublik 1918 verlief, wird im Zentrum der darauffolgenden Darstellung stehen. Dafür sollen die Stellung der Bildungsintelligencija im neuen politischen System geklärt und die bolschewistischen Methoden des Klassenkampfes skizziert werden (Abschnitt 4.2.2.2.1 b). Vor dem Hintergrund des lebensgefährlichen Alltags in Petrograd wird der Versuch unternommen, Rostovtzeffs

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Methoden der Untersuchung

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wissenschaftliche Aktivitäten sowie Lehrtätigkeit zu rekonstruieren. Da der Althistoriker seine Meinung zu Reformen der Bolschewiki erst im Exil offen äußern konnte, werden seine späteren politischen Schriften über die bolschewistische Bildungspolitik zur Untersuchung herangezogen. Außerdem sollen seine letzten Schriften sowie die Umstände ihrer Veröffentlichungen berücksichtigt werden (Abschnitt 4.2.2.2.2). Schließlich sollen Rostovtzeffs Vorbereitungen für die Abreise geschildert werden. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, ob der Althistoriker 1918 nur eine Dienstreise oder die Emigration plante (Abschnitt 4.2.3). Der anschließende Ausblick auf die Situation in Petrograd nach der Abreise des Althistorikers sowie auf seine politische Tätigkeit zwischen Juli 1918 und den früheren 1920er Jahren wird die Bedeutung des Zeitpunktes, an dem der Althistoriker das bolschewistische Petrograd verlassen hatte, zusätzlich unterstreichen und die Rolle der Politik im Leben des emigrierten Wissenschaftlers in der Anfangszeit seines Exils herausarbeiten (Abschnitt 4.3). Am Ende der wissenschaftlichen Abhandlung werden die Ergebnisse resümierend zusammengefasst, was die Entwicklung von Rostovtzeffs politischem Engagement im Laufe der drei Jahrzehnte zu erfassen erlaubt.

Methoden der Untersuchung Die vorliegende Arbeit ist in den Kontext der wissenschaftshistorischen Forschung einzuordnen. Die Auswahl der Methoden bei der Darstellung von Rostovtzeffs Leben vor 1918 ist durch die historiographisch-biographische Zielsetzung bestimmt. Bei der Auswahl der Wege in der Beschreibung Rostovtzeffs gesellschaftspolitischer Tätigkeit sind die Aufgaben der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte und diese speziell in Bezug auf die Altertumswissenschaften zu berücksichtigen. Die Disziplinen der Altertumswissenschaften, darunter die Alte Geschichte, haben eine lange Forschungstradition und daher gab es auch zahlreiche Versuche der „Vergegenwärtigung hervorragender Persönlichkeiten, ihrer Werke und ihrer Leistungen“ 17, die rückblickend als wissenschaftshistorisch relevant bezeichnet werden. Der im Vergleich zu anderen Epochen größere Zeitabstand zum Gegenstand der althistorischen Forschung wird dabei als vorteilhaft bewertet. Denn dadurch sollen sich untersuchte Phänomene und Prozesse aus der zeitgenössischen Perspektive genauer begreifen lassen. 18 Frühe wissenschaftshistorische Ansätze fanden sich in Festschriften, Nekrologen und Gelehrtenbiographien, welche in der Altertumswissenschaft in der Regel anlässlich der Jubiläen oder Tode verfasst worden waren. Die Verfasser selbst gehörten entweder der 17 Christ, K.: Klios Wandlungen, München 2006, 11. 18 Vgl. ders.: Römische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Darmstadt 1983, 230f.

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Einleitung

Familie oder dem Schülerkreis des jeweiligen Wissenschaftlers an. Die Nähe der Autoren zum behandelten Wissenschaftler verbarg bzw. verbirgt jedoch einen wesentlichen Nachteil, nämlich eine gewisse Idealisierung des Gelehrten. Durch das Auslassen persönlicher Schwächen oder die Überbewertung wissenschaftlicher Leistung kann jedoch keine zufriedenstellende Darstellung eines Historikers und seiner Arbeiten erzielt werden. Dennoch wurde dank biographischer Auseinandersetzungen mit Leben und Werk der Forscher ihr politisches, soziales sowie ideengeschichtliches Umfeld zur Sprache gebracht, was wiederum zu einem tieferen Verständnis der Geisteswelt jener Gelehrten und ihres Handelns beitrug.  19 Als eine Disziplin gewann die Wissenschaftsgeschichte innerhalb der Klassischen Altertumswissenschaften eine anerkannte Stellung erst nach 1970. Dies geschah dank der Bemühungen von A. Heuß, W. M. Calder III, A. Momigliano, R. Pfeiffer, K. Christ, A. Demandt, M. Landfester, W. Nippel, B. Näf oder S. Rebenich. 20 An dieser Stelle ist der italienische Historiker Arnaldo D. Momigliano (1908–1987) 21 zu erwähnen, da er „die Fundamente einer Wissenschaftsgeschichte der Geschichts- und der Altertumswissenschaften gelegt“ 22 habe. Momiglianos spätere wissenschaftshistorische Arbeiten sind stark biographisch orientiert. Eine intensivere Beschäftigung mit der Geschichte der Geschichtsschreibung, vor allem in Bezug auf die moderne Historiographie, fiel bei Momigliano auf die Zeit nach dem II. Weltkrieg. Gleichzeitig veränderten sich im Zuge seiner Erfahrungen mit dem italienischen Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg sowie mit der Vertreibung und Emigration auch seine methodischen Ansätze der Wissenschaftsgeschichte. Es ist ein Übergang von einer Betonung der ideengeschichtlichen Kategorien zur Untersuchung des sozialen, politischen und kulturellen Umfeldes der modernen Historiker oder Philologen festzustellen. Somit wurden in Lebensläufen der „merkwürdig blutleere[n] Gestalten“ 23 seiner früheren wissenschaftshistorischen Arbeiten die Spannungsfelder entdeckt, welche zu einem tieferen Verständnis der Persönlichkeiten der Gelehrten verhalfen. Die große internationale Bedeutung von Momiglianos Praxis der Wissenschaftsgeschichte wurde immer wieder vom deutschen Althistoriker Karl Christ (1923–2008) 24 unterstrichen. Er selbst begann 1972 mit dem Buch „Von Gibbon zu Rostovtzeff“ rezeptions- und wissenschaftsgeschichtliche Fragen zu untersuchen. 25 Hier stellte er am Beispiel der elf ausgewählten Althistoriker die Entwicklung der Alten Geschichte zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert dar. Es wurde zunächst der Werdegang des jeweiligen Gelehrten beschrieben, anschließend wurden seine Arbeiten und ihre Bedeutung für die 19 20 21 22

Vgl. Schneider/Kuhlmann 2012, XV. Vgl. ebd. Vgl. Nippel, W.: Momigliano, Arnaldo Dante, in: DNP Suppl. 6 (2012), 831–835. Christ, K.: Laudatio Arnaldo Momigliano, in: Petersohn, J. (Hg.): Prophetie und Geschichtsschreibung. Ehrenpromotion Arnaldo Momigliano, Marburg 1986, 11. 23 Most, G.W.: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Arnaldo Momigliano. Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung, Bd. 3, Stuttgart 2000, IX. 24 Vgl. Leppin, H.: Christ, Karl, in: DNP Suppl. 6 (2012), 228f. 25 Vgl. Christ 1979.

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Methoden der Untersuchung

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Nachwelt analysiert. Der Autor verwies dabei auf „die auffallend enge Verflechtung der maßgebenden oder originellsten Gestalten in die Politik und die geistigen Strömungen ihrer Zeit“ 26 und stellte somit fest, dass ohne Erforschung der entsprechenden historischen Rahmenbedingungen und der geistigen Erfahrungen der behandelnden Gestalt eine wissenschaftshistorische Untersuchung unmöglich sei. In Rostovtzeffs Fall sollte etwa sein Miterleben der Oktoberrevolution berücksichtigt werden. Denn „manche der klassischen althistorischen Darstellungen sind so zugleich ein besonders sinnfälliger Ausdruck ihrer Zeit geworden, aber nicht selten dennoch bis heute lebendig geblieben“ 27. Christs Verdiensten für die Etablierung des rezeptions- und wissenschaftsgeschichtlichen Ansatzes in der deutschen Althistorie wurde u. a. 2008 die Tagung „Alte Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik“ gewidmet. V. Losemann unterstrich die Bedeutung dieses Spannungsfeldes – das auch für diese Arbeit grundlegend ist ‒ in den wissenschaftshistorischen Untersuchungen der deutschen Altertumswissenschaften und verwies dabei auf die Monographie von W. Nippel über Droysen. 28 Bis heute überwiegen in der Wissenschaftsgeschichte der Altertumswissenschaften persönlichkeitsbezogene Untersuchungen in Form von Biographien, Briefwechsel- und Schrifteneditionen bedeutender Wissenschaftler. Dieser auf der Biographie basierende Ansatz sowie die Auseinandersetzung mit historischen Themenkomplexen und ihre Erforschung im Laufe der Zeit gelten als zwei unterschiedliche Herangehensweisen in den wissenschaftshistorischen Studien. Dabei wird u. a. gefordert, bei biographischen Darstellungen möglichst unparteiisch zu bleiben, d. h. auch wissenschaftliche Fehltritte sowie persönliche Schwächen der untersuchten Gelehrten zu behandeln. Zudem wird auf die Notwendigkeit einer nationen- und disziplinenübergreifenden Forschung hingewiesen. Zu den weiteren wichtigen Aufgaben der Wissenschaftsgeschichte zählen die Erforschung der Rolle der Altphilologen, Archäologen und Althistoriker in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts sowie ihre Wirkung im Exil. 29 All diese Anforderungen sollen bei der Darstellung des Lebens von Michail Rostovtzeff berücksichtigt werden. Die vorliegende Arbeit stützt sich auf biographische Forschungen und die quellenkritische Methode der Textanalyse. Die Untersuchung von Rostovtzeffs gesellschaftspolitischen Schriften im zeitgenössischen Kontext ist hierfür von zentraler Bedeutung. Bei der Analyse dieses Quellenmaterials sind soziale und politische Bedingungen und Voraussetzungen, der jeweilige Gegenstand seiner Texte sowie mögliche Wirkungen auf Rostovtzeffs althistorische Schriften herauszuarbeiten. Aus der ideenhistorischen Perspektive soll zudem herausgefunden werden, welche Beweggründe den Autor bei der Themenauswahl leiteten. Es ist außerdem wichtig 26 Vgl. ebd., 6. 27 Ebd., 7. 28 Vgl. Losemann, V.: Alte Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik. Anstelle eines Vorwortes, in: Ders. 2009, 1; Nippel, W.: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008. 29 Vgl. Kuhlmann/Schneider 2012, XVf.

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Einleitung

festzustellen, inwiefern die Lebens- und Ideenwelt im Fall Rostovtzeffs miteinander zusammenhingen. Hierfür ist die Skizzierung des Zeitgeistes und der damit in Verbindung stehenden epochentypischen Merkmale angebracht, z. B. Denkweisen, Werte sowie Wahrnehmungen der aktuellen Probleme innerhalb der russischen Gesellschaft. 30 Für eine möglichst vollständige Rekonstruktion von Rostovtzeffs Lebenslauf vor 1918 werden darüber hinaus wissenschaftssoziologische und prosopographische Ansätze angewendet. Die Einbeziehung dieser methodischen Zugänge ist insofern wichtig, weil sie gesellschaftliche und subjektive Impulse in der Entwicklung des wissenschaftlichen und sozialpolitischen Standpunktes des Althistorikers aufdecken und es so ermöglichen, Rostovtzeffs Motive und sein Handeln nachzuvollziehen und zu bewerten. Der wissenschaftssoziologische Ansatz erlaubt es, eine Reihe der für die vorliegende Arbeit grundlegenden Fragen zu beantworten. Aus dieser Sicht wird die Wissenschaft als soziales System verstanden, dessen Zusammenhänge geklärt werden sollen. Hierfür werden u. a. die Struktur der Wissenschaftlergemeinschaft, der Stellenwert einer wissenschaftlichen Disziplin innerhalb der Gesellschaft sowie der Einfluss der Ideologie auf die Forschung analysiert. In diesem Zusammenhang sollen die Formen und die Rolle der Kommunikationsstrukturen wie Rostovtzeffs Publikations- und Kongresstätigkeit, die Bedeutung seines Studiums in der russischen Hauptstadt und seiner Weiterbildung im Ausland bei einheimischen und ausländischen Gelehrten, die Strukturen der Gelehrtengemeinschaften sowie der Platz des Althistorikers in der Wissenschaftshierarchie, z. B. bei der Frage der Nachwuchsförderung und bei der Transformation der Schüler-LehrerBeziehung, untersucht werden. Wichtig sind dabei außerdem die taktischen und strategischen Formen von Rostovtzeffs Durchsetzung innerhalb und außerhalb seiner Heimat, u. a. im Kontakt zur wechselnden Regierungsmacht. Die Analyse derartiger Zusammenhänge innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaften wäre jedoch ohne das Kennlernen der Mitglieder dieser Sozietäten unvollständig. Aus diesem Grund ist der Zugriff auf den personengebundenen, den sogenannten prosopographischen Zugang zur Wissenschaftsgeschichte für diese Arbeit unverzichtbar. Denn trotz ihres subjektiven Charakters bieten die prosopographischen Quellen neben Rostovtzeffs Standpunkt einen alternativen Blick auf die historischen Ereignisse. Hierfür werden u. a. die Personen aus Rostovtzeffs nächster Umgebung bzw. Mitglieder seines Milieus in der Heimat sowie seine Korrespondenzpartner europaweit identifiziert. Dies trägt einerseits zur Präzisierung der historischen Rahmenbedingungen bei, andererseits werden das Leben und die Persönlichkeit des Althistorikers aus der Perspektive seiner Zeitgenossen charakterisiert und somit die Lücken in der Darstellung von Rostovtzeffs Lebenslauf geschlossen.

30 Vgl. Simon, C.: Historiographie. Eine Einführung, Stuttgart 1996, 248–254.

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Forschungsstand Die ersten biographischen Skizzen über Michail Rostovtzeff entstanden noch zu Lebzeiten des Althistorikers in seinem Freundes- bzw. Schülerkreis. Dabei wurden sie zum Teil von Rostovtzeff selbst und seiner Frau mitgeschrieben oder korrigiert. Dies trifft auf die wohl bekannteste biographische Notiz zu, die Rostovtzeffs Schüler und Freund G. Vernadskij zum 60. Geburtstag des russischen Gelehrten verfasst hatte. 31 Beim Verfassen der Notiz nutzte der Autor die Informationen, die er aus dem Briefwechsel mit Rostovtzeff selbst und seinem langjährigen Freund und Nachfolger an der University of WisconsinMadison A. Vasilʼev 32 erhalten hatte. 33 Auch C. Bradford Welles, der 1941 von seinem Lehrer persönlich die handgeschriebene Autobiographie erhalten hatte, fasste im Nekrolog auf Rostovtzeff dessen Lebenslauf zusammen. 34 Der handschriftliche sowie gedruckte Text von Rostovtzeffs Autobiographie ist im Archiv der Duke University aufbewahrt und wurde 2015 veröffentlicht. 35 Das gestiegene Interesse an der Persönlichkeit des russischen Historikers in der Wissenschaftswelt wurde durch die beiden fundamentalen Werke zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Imperium Romanum (1926) und der hellenistischen Welt (1941) hervorgerufen. Unter den Kritikern der historischen Konzeption Rostovtzeffs fanden sich Stimmen, welche die in den Arbeiten verwendete moderne Terminologie auf das Schärfste verurteilten. 36 Es wurde aber auch über die Verbindung zwischen Rostovtzeffs Vergangenheit und seiner Geschichtsschreibung nachgedacht. A. Momigliano war einer der ersten Gelehrten, die den Einfluss von Rostovtzeffs Erfahrungen in seinem Heimatland auf das entstandene Bild der antiken Geschichte betont hatten. Die 1933 erschienene italienische Übersetzung von „The Social and Economic History of the Roman Empire“ nahm Momigliano zum Anlass, um seine Meinung zu Rostovtzeffs historiographischem Bild zu äußern. Am Ende seines Beitrages stellte er fest, „[…] [es] kann kein Zweifel daran herrschen, daß die Trauer und das Unbehagen, die Rostovtzeff angesichts des Schauspiels vom Verfall des Römischen Reiches erfüllen […] nichts anderes ist, als die Trauer und das Unbehagen des Russen im Exil“ 37. Kurz nach dem Tod von Rostovtzeff veröffentlichte 31 Vgl. Vernadskij, G.: M.I. Rostovzeff (K šestidesjatiletiju ego) [(Zu seinem sechzigsten Geburtstag)], in: Seminarium Kondakovianum 4 (1931), 239–252. 32 Der bedeutende Byzantinist Aleksandr A. Vasilʼev (1867–1953) hatte zwischen 1925 und 1939 die Professur für Alte Geschichte in Madison inne. Vgl. Anastos, M.V.: Alexander A. Vasiliev: A Personal Sketch, in: The Russian Review 1 (1954), 59–63. 33 Vgl. Brief M. Rostovtzeffs an G. Vernadskij vom 5.2.1931 und Brief A. Vasilʼjevs an G. Vernadskij vom 7.2.1931, in: Bongard-Levin, G.: Skifskij roman [Der skythische Roman], Moskau 1997, 44f. 34 Vgl. Welles, C.B.: Michael Ivanovich Rostovtzeff, in: The Russian Review 12 (1953), 128–133. 35 Vgl. The Academic Career of Professor M.I. Rostovtzeff, Yale University, in: Manning, J.G. (Hg.): Writing History in Time of War, Stuttgart 2015, 128–133. 36 Vgl. z. B. Reinhold, M.: Historian of the Classic World: A Critique of Rostovtzeff, in: Science and Society 10 (1946), 361–391. 37 Momigliano, A.: Beobachtungen zu Michael Rostovtzeff, in: Most, G.W. (Hg.): Momigliano, Arnaldo: Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung, Bd. 3, Stuttgart 2000, 338.

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Momigliano den Aufsatz, in dem er sich u. a. an den ersten Eindruck von den Werken des russischen Gelehrten und die durch die Lektüre geweckte Neugier für die Person des Autors erinnert: „It was little we knew of the man who was giving us such a thrill. But what we heard was in keeping the impression made by the book. We were told that Rostovtzeff was a Russian liberal who had taught in the University of St. Petersburg until 1918 and had became an exile when the Bolsheviks seized power. […] But Rostovtzeff poses very difficult questions to the students of historiography who want to know something more precise about him.“ 38 Zu Recht unterstrich Momigliano die Tatsache, dass Rostovtzeff beim Verlassen seiner Heimat fast 48 Jahre alt war. Auch wenn der Althistoriker erst im Exil den großen wissenschaftlichen Ruhm erlangte, verliefen die wichtigsten Etappen seiner Entwicklung als Mensch und Gelehrter vor 1918 in Russland. Aus diesem Grund sollte Rostovtzeffs russischer Hintergrund nicht außer Acht gelassen werden. 1954 verwies Momigliano auf zwei wesentliche Hindernisse für eine solche Untersuchung. Zum einen sei die russische Sprache unter internationalen Althistorikern weitgehend unbekannt. Zum anderen war es aufgrund der politischen Lage nicht möglich, über den emigrierten Wissenschaftler in seiner Heimat frei zu sprechen. 39 Michail Rostovtzeff wurde 1928 aus der Akademie der Wissenschaften Sowjetrusslands ausgeschlossen und erst 1990 nach dem Regimewechsel postum rehabilitiert. Im Zeitraum bis 1990 wurde sein Name nach und nach aus sowjetischen Geschichtsbüchern entfernt bzw. sein politischer und wissenschaftlicher Standpunkt scharf kritisiert. In der ersten Zeit nach der Emigration genoss Rostovtzeff innerhalb der wissenschaftlichen Kreise Russlands, deren Kern noch die alte russische Wissenschaftselite bildete, weiterhin ein großes Ansehen. So konnte z. B. 1931 ein Überblick über die wissenschaftliche Leistung von Rostovtzeff in der Arbeit „Universalgeschichte und ihre Vertreter im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland“ 40 gegeben werden. Der Autor Vladislav Buzeskul (1858–1931), der Akademiker und Professor für Alte Geschichte an der Charkower Universität war, arbeitete seit 1925 an diesem mehrbändigen Werk. Er glaubte im Vorfeld, dass die Erwähnung der emigrierten Gelehrten in der Untersuchung für ihn harte Konsequenzen mit sich bringen könne, konnte jedoch deren Leistung nicht mit Stillschweigen übergehen. Buzeskul, der ‒ nach seiner eigenen Aussage ‒ an Ciceros 38 Ders.: M.I. Rostovtzeff, in: The Cambridge Journal 7 (1954), 334, nachgedruckt in: Ders.: Studies in Historiography, London 1966, 91. 39 Vgl. ebd., 93. 40 Vgl. Buzeskul, V.: Vseobščaja istorija i ee predstaviteli v Rossii v XIX i načale XX veka [Universalgeschichte und ihre Vertreter im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland], Bd. 2, Leningrad 1931, 172–176, 183ff. Der Autor verwies zwar darauf, dass 1914 die zeitliche Eingrenzung seiner Untersuchung sei, benannte jedoch Rostovtzeffs Schriften „A large estate in Egypt in the third century B. C.“ und „Iranians and Greeks in South Russia“ von 1922 sowie „Skythien und Bosporos“ von 1925.

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„ne quid falsi audeat, ne quid veri non audeat historia“ 41 festhielt, erwähnte Rostovtzeffs Arbeiten aus der Emigrationszeit und unterhielt außerdem in den späten 1920er Jahren einen Briefwechsel mit ihm. Wie gefährlich jegliche Berührung mit Rostovtzeff sein konnte, dessen Kritik am bolschewistischen Regime dank seiner wissenschaftlichen Reputation an Aussagekraft gewann, zeigte der Fall von Rostovtzeffs engstem Freund Sergej Žebelev. 42 Der in Sowjetrussland gebliebene Žebelev publizierte 1928 in einem in Prag herausgegebenen Sammelband des Seminarium Kondakovianum einen Beitrag. Dieser zweite Band war dem Andenken des Historikers J. Smirnov (1869–1918) gewidmet, der zehn Jahre zuvor an Unterernährung gestorben war. Rostovtzeff beteiligte sich auch an diesem Unternehmen und verfasste einen Aufsatz, in dem er im einleitenden Satz dem „geschehenen ‚Umsturz‘“ 43 und damit verbundenen „Hunger, Hoffnungslosigkeit, Enttäuschung in der Gegenwart und in der Zukunft“ 44 die Schuld am verfrühten Ableben seines Kollegen gab. Žebelev wurde zum Autor des ausführlichen Nekrologes für Smirnov, in dem er sich an die Zeit mit dem Verstorbenen und ihren gemeinsamen „Freund und Mitstreiter M. I. Rostovtzeff“ 45 erinnerte. Dies genügte, um eine große Hetzerei gegen Žebelev im sowjetischen Russland zu beginnen. Unter dem Druck der möglichen Entlassung von allen Posten an der Universität und der Akademie der Wissenschaften sowie der möglichen Verhaftung war er schließlich gezwungen, sich öffentlich von Rostovtzeff zu distanzieren. Diese Verleugnung bezeichnete Žebelev im Autonekrolog als „eine der finstersten Episode“ 46 seines Lebens. 47 Auch Historiker, die keine persönliche Verbindung zu Rostovtzeff hatten, mussten für jegliche Erwähnung des Althistorikers oder seiner Werke die Folgen tragen. Die Zensur wurde infolge der Ersetzung bzw. Verdrängung der alten wissenschaftlichen Elite durch die neuen, sich an der marxistisch-leninistischen Ideologie orientierenden Wissenschaftler verschärft. 1941 erschien Rubenštejns „Russische Historiographie“ als Lehrmaterial für Universitäten, in der die Entwicklung der historischen Disziplinen vom 11. Jahrhundert bis hin zu den 1930er Jahren in Russland im Überblick beschrieben wurde. Im Kapitel über die „Entwicklung der bourgeoisen historischen Disziplin am Ende des 19.

41 Vgl. Briefe V. Buzeskuls an S. Žebelev vom 19.7., 20.9. und 3.10.1929, in: Bongard-Levin 1997, 110; Cicero: De oratore 2, 62. 42 Tunkina, I.: „Delo“ akademika Žebeleva [„Der Fall“ des Akademikers Žebelev], in: Drevnij mir i my, Bd. 2, St. Petersburg 2000, 116–161. 43 Rostovtzeff, M: „Skifskij“ roman [Der „skythische“ Roman], in: Seminarium Kondakovianum. Sbornik statej po archeologii i vizentinovedeniju [Sammelband für Archäologie und Byzantistik], Bd. 2, Prag 1928, 135. 44 Ebd. 45 Žebelev, S.: Jakov Ivanovič Smirnov, in: Ebd., 4. 46 Žebelev, S.: Avtonekrolog [Autonekrolog], in: VDI 2 (1993), 177. 47 Auch Rostovtzeff war vom Schicksal seines Freundes schwer getroffen; ein Jahr später nahm der Althistoriker die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Bongard-Levin 1997, 109.

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bis Anfang des 20. Jahrhunderts“ 48 wurden u. a. Rostovtzeffs „herausragende Arbeiten“ 49 zur Archäologie und Geschichte der Nordküste des Schwarzmeeres hervorgehoben. Sieben Jahre später geriet die Monographie wegen ihrer „Verbeugung vor der bourgeoisen Historiographie“ 50 in scharfe Kritik, was 1949 zur Entlassung des Autors aus der Moskauer Universität führte. Im gleichen Jahr wurde in einer Vorlesung von Professor M. Martynov am Pädagogischen Institut in Leningrad über Skythen, Sarmaten und die griechischen Kolonien an der Schwarzmeerküste eine „verblüffende Verbindung mit Ansichten des bekannten Weißemigranten und Feindes des sowjetischen Volkes, Archäologen und Historikers Rostovtzeff“ 51 entdeckt. 1950 wurde der 61-jährige Martynov zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Wie sich das Verhältnis zum emigrierten Historiker im Laufe der Zeit in Rostovtzeffs Heimatland entwickelte, ist anhand der Großen Sowjetischen Enzyklopädie, des bekanntesten und umfangreichsten russischsprachigen Nachschlagwerkes des Sowjetstaates, zu beobachten. In der ersten Auflage der Enzyklopädie in 65 Bänden, die zwischen 1926 und 1947 entstand, ist der Name des Althistorikers nicht zu finden. Im 22. Band der zweiten Auflage aus dem Jahr 1955 gibt es einen kurzen biographischen Artikel über Rostovtzeff. Hier wird über seine auf dem umfangreichen archäologischen und epigraphischen Material basierenden Arbeiten vor 1918 und ihre bleibende Bedeutung berichtet. Nach seiner Emigration in die USA hätte er 1925 die Professur an der Universität Yale angenommen und „sich der äußerst reaktionären, dem Marxismus offen feindlichen Richtung der bourgeoisen Historiographie angeschlossen, was alle seine nachfolgenden Arbeiten prägte“ 52. Der Althistoriker wird für seine „modernistische und gefälschte Interpretation“ 53 der verwendeten Quellen in den beiden großen Werken zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Antike und für die dadurch entstandene historische Konzeption kritisiert: „Nach R[ostovtzeffs] Meinung ist sie [die antike Gesellschaft] aufgrund der durch den Kampf der Volksmassen gegen die herrschenden Klassen ausgelösten Anarchie in Verfall geraten. R[ostovtzeff] versuchte auch zu beweisen, dass die Verbreitung der Kultur in Volksmassen angeblich zur Senkung deren [Kultur] Niveaus geführt hatte.“ 54

48 Rubenštejn, N.: Russkaja istoriografija [Russische Historiographie], Moskau 1941, 488. 49 Ebd., 492. 50 Zitiert nach Šachanov, A.: Borʼba s „obʼʼektivizmom“ i „kosmopolitizmom“ v sovetskoj istoričeskoj nauke: „Russkaja istoriografija“ N.L. Rubenštejna [Kampf gegen „Objektivismus“ und „Kosmopolitismus“ in der sowjetischen historischen Wissenschaft: „Russische Historiographie“ N.L. Rubenštejns], in: Istorija i istoriki, Moskau 2005, 193. 51 Zitiert nach Dojkov, J.: Samye znamenitye istoriki Rossii [Die berühmtesten Historiker Russlands], Moskau 2004, 292. 52 Rostovtzeff, Michail Ivanovič, in: BSĖ 37 (1955), 250. 53 Ebd. 54 Ebd.

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In der dritten Auflage der Enzyklopädie 1975 wurde die wissenschaftliche Leistung des Althistorikers sowohl in Russland als auch in den USA ‒ ohne die zur Regel gewordene ideologische Polemik ‒ schließlich anerkannt. Als Literatur wurde Momiglianos Gedenkschrift für Rostovtzeff 55 angegeben. 1980 erschien in Moskau ein Lehrbuch zur Historiographie für Geschichtsstudenten 56, in dem der sozial- und wirtschaftshistorische Schwerpunkt von Rostovtzeffs Forschung ‒ jedoch nur vor 1918 ‒ beschrieben wird. Eine intensivere Erforschung des Lebens und des Werks des Althistorikers konnte jedoch erst seit den späten 1980er Jahren begonnen werden. Somit liefert Rostovtzeffs Fall ein Beispiel für eine Verdrängung bzw. Verzerrung des Bildes von politischen Gegnern in einem totalitären System des 20. Jahrhunderts. Dies hatte zur Folge, dass einer ganzen Generation von Historikern in Russland der Zugang zu fundamentalen Werken des emigrierten Althistorikers verwehrt blieb. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die russische Übersetzung von Rostovtzeffs „The Social and Economic History of the Roman Empire“ erst 2000/01 in zwei Bänden erschien 57; seine Arbeit zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt von 1941 liegt bis heute nicht in der Muttersprache des Autors vor. Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, dass die beiden Werke bereits wenige Jahre nach ihrem Erscheinen ins Deutsche übersetzt worden sind. 58 Im Zuge der perestrojka, des seit der Mitte der 1980er Jahre begonnenen Umbaus der sozioökonomischen und politischen Ordnung der Sowjetunion, wurden russische Archive geöffnet. So entdeckte der russische Archäologe Vadim Zuev 1988 im Zentralen Historischen Archiv St. Petersburg die unbekannten Kapitel von Rostovtzeffs Arbeit über Skythien und den Bosporus. Diese Entdeckung wurde zum Ausgangspunkt für „die Rückkehr Rostovtzeffs in die Heimat“ 59. Gleichzeitig war der Zuwachs der Publikationen zum Leben und Werk des Althistorikers außerhalb der Sowjetunion zu beobachten. Im deutschsprachigen Raum sorgten Heinz Heinen und Karl Christ für ein nicht erlöschendes Interesse an Rostovtzeffs Persönlichkeit. H. Heinen übersetzte 1986 die biographische Notiz über Rostovtzeff von 1930 ins Deutsche. 60 Mit seinen weiteren Editionen und Veröffentlichungen brachte er die Arbeiten sowie einzelne Lebensabschnitte des Althistorikers dem deutschen Leser nahe; außerdem wurde er dank seiner Sprachkenntnisse zum Bindeglied zur russischsprachigen Wissenschaft. 61 K. Christ, der den Namen des russischen Althistorikers auf 55 Vgl Momigliano, A.: In memoria di M. Rostovtzeff, in: Rivista storica italiana 65 (1953), 481–495. 56 Vgl. Kuziščin, V.: Istoriografija antičnoj istorii [Historiographie der antiken Geschichte], Moskau 1980, 175f. 57 Vgl. Rostovtzeff, M:: Obščestvo i chozjajstvo v Rimskoj imperii, St. Petersburg 2000 (Bd. 1)/2001 (Bd. 2). 58 Vgl. Anm. 4. 59 Bongard-Levin 1997, 7. 60 Vgl. Heinen, H.: G. Vernadskys Notiz zum 60. Geburtstag von M.I. Rostovtzeff (10.II.1930), in: Kalcyk, H./Gullath, B./Graeber, A. (Hg.): Studien zur Alten Geschichte, Roma 1986, 381–395. 61 Vgl. Ders. (Hg.): M. Rostowzew: Skythien und der Bosporus, Band II. Wiederentdeckte Kapitel und Verwandtes (Historia 83: Einzelschrift), Stuttgart 1993; Ders.: Das hellenistische Ägypten im

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den Titel seines Buches von 1972 gesetzt hatte 62, erforschte seitdem den Einfluss von Rostovtzeffs Arbeiten auf die deutsche Althistorie sowie das Schicksal des russischen Gelehrten als Beispiel eines aus der Heimat verdrängten Historikers, der „vom stärksten Gegenwartserlebnis“ 63 beeinflusst war. In den späten 1980er Jahren wurden außerdem Bibliographien und Spezialstudien zu Rostovtzeff von J. Andreau in Frankreich, A. Marcone in Italien sowie von den amerikanischen Wissenschaftlern G. W. Bowersock und J. F. Gilliam veröffentlicht. 64 1988 publizierte der niederländische Historiker Marinus A. Wes den Beitrag „The Russian Background of the Young Michael Rostovtzeff“ 65, welcher einen Grundstein zur wohl bekanntesten Biographie des russischen Gelehrten legte. Das 1990 erschienene Buch „Michael Rostovtzeff: Historian in Exile. Russian Roots in an American Context“ 66 wurde zur wichtigsten Publikation in der Forschung zu Michail Rostovtzeff. Wes verfolgte mit dieser Arbeit das Ziel, einen Beitrag zur Rekonstruktion von „the Russian world of Rostovtzeff, in a political, social-economic, cultural and intellectual context, and of Rostovtzeffʼs position in that world“ 67 zu leisten. Dank intensiver Recherchen in Bibliotheken und Archiven weltweit, darunter in der Sowjet­ union, konnte Rostovtzeffs russischer Hintergrund beschrieben werden. Die Darstellung ist in zwölf Kapitel, die verschiedene Seiten aus dem Leben des Althistorikers beleuchten, gegliedert. Der Zeit vor seiner Abreise aus dem bolschewistischen Russland 1918 sind das einführende „Chapter Zero“ sowie die beiden ersten Kapitel gewidmet. Dabei liefert der Teil über Rostvotzeffs letztes Jahr in Petrograd wertvolle Informationen zu den Umständen seiner Abreise aus dem bolschewistischen Russland. Das von Wes gezeichnete Bild der geistigen und wissenschaftlichen Welt des Althistorikers in Russland ‒ nicht zuletzt dank Wesʼ leidenschaftlichem Interesse an der russischen Literatur und Geschich-

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Werk M.I. Rostovtzeffs, in: Kinsky, R. (Hg.): Offenheit und Interesse, Amsterdam 1993, 237–269; Ders.: Einleitung zur deutschen Ausgabe „Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt“, Bd. 1, Darmstadt 1998, I-IV. Vgl. Anm. 1. Christ, K.: Römische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 3, Darmstadt 1983, 200. Vgl. auch ders.: Griechische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1996, 187, 198–200. Vgl. Andreau, J.: M.I. Rostovtzeff et le capitalisme antique vu de Russie, in: Pallas 33 (1987), 7–17; Ders.: Introduction, chronologie et bibliographie de Rostovtzeff, in: Rostovtzeff, M.: Histoire économique et sociale de lʼempire Romain, Paris 1988, I–LXXXIV, 645–675 bzw. in: Histoire économique et sociale du monde hellénistique, Paris 1989, I–XXIX, 1273–1303; Marcone, A.: Michele Rostovtzeff e lʼIstituto Archeologico Germanico di Roma: la corrispondenza con Christian Hülsen (1894–1927), in: Critica Storica 25 (1988), 339–350; Ders.: Rostovtzeff e il colonato romano, in: Ebd. 26 (1989), 75–114; Bowersock, G.W.: Rostovtzeff in Madison, in: The American Scholar 55 (1986), 391–400; Gilliam, J.F.: Addenda to the Bibliography of M.I. Rostovtzeff, in: Historia 36 (1987), 1–8. Vgl. Wes, M.A.: The Russian Background of the Young Michael Rostovtzeff, in: Historia 37 (1988), 207–221. Vgl. Wes, M.A.: Michael Rostovtzeff: Historian in Exile. Russian Roots in an American Context, Stuttgart 1990. Ebd., VIII.

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te ‒ wirkt sehr lebendig und erlaubt, Einblicke in Rostovtzeffs Leben vor 1918 zu nehmen. Trotz oder vielleicht aufgrund der Fülle an Fakten und Akteuren entstand jedoch keine einheitliche Darstellung, sondern vielmehr ein „Kaleidoskop“ 68 aus „Zustands- und Stimmungsbildern“ 69. Dennoch stellte die Arbeit von Wes zu diesem Zeitpunkt einen großen Fortschritt in der Forschung über die Person des Althistorikers dar, was sich in zahlreichen Buchbesprechungen widerspiegelte. 70 Das Buch weckte außerdem ein verstärktes Interesse an Rostovtzeffs russischen Wurzeln und trieb somit weitere Forschung voran, wie der Aufsatz des kanadischen Historikers B. D. Shaw „Under Russian Eyes“ 71 zeigt. Hier bietet Shaw neben einer Analyse von Wesʼ Monographie, darunter der angemessenen Kritik an dem verwendeten prosopographischen Ansatz, eine akribische, durch das neue Material unterstützte Untersuchung von Rostovtzeffs Werdegang vor 1918 und äußerte die Hoffnung auf weitere Entdeckungen der unbekannten Vergangenheit des Althistorikers: „Perhaps the current ‚more open‘ phase of glasnost in the Soviet Union (for as long as it lasts) will disgorge more and better evidence to the assiduous researcher. Certainly, there is more there to be found.“ 72 In der Tat schritt die Forschung über Leben und Werk Rostovtzeffs in seinem Heimatland voran. Die Neuentdeckung des Althistorikers konzentrierte sich um die Zeitschrift „Vestnik drevnej istorii“ [„Der Bote der Alten Geschichte“] (VDI) und seinen Chefredakteur, den russischen Orientalisten und Akademiker Grigorij Bongard-Levin (1933–2008). Seit 1989 wurden dort Aufsätze über Arbeiten und Leben des Althistorikers regelmäßig publiziert. Die große Leistung Bongard-Levins bestand darin, dass er internationale Wissenschaftler zu diesem Unternehmen heranzog. 73 Er organisierte darüber hinaus die 68 Christ, K.: Marinus A. Wes: Michael Rostovtzeff, Historian in Exile (Rezension), in: Gnomon 64 (1992), 369. 69 Heinen, H.: Marinus A. Wes, Michael Rostovtzeff, Historian in Exile (Rezension), in: Historische Zeitschrift 254 (1992), 674. 70 Vgl. Anm. 68, 69; auch u. a. Thomson, D.J.: Wes, Marinus A. Michael Rostovtzeff, Historian in Exile, in: The Slavonic Review 69 (1991), 768. 71 Vgl. Shaw, B.D.: Under Russian Eyes. Review Article, in: The Journal of Roman Studies 82 (1992), 216–228. 72 Ebd., 228. 73 Vgl. u. a. Zuev, V.: M.I. Rostovtzeff i neizvestnye glavy knigi „Skigija i Bospor“ [und die unbekannten Kapitel des Buches „Skythien und der Bosporus“], in: VDI 1 (1989), 208–210; Andreau, J.: Vlijanie M.I. Rostovceva na razvitie zapadnoevropejskoj i severoamerikanskoj nauki [Der Einfluss M.I. Rostovtzeffs auf die Entwicklung der westeuropäischen und nordamerikanischen Wissenschaft], in: Ebd. 3 (1990), 166–176; Bowersock, G.W.: Južnaja Rossija M.I. Rostovceva: Meždu Leningradom i New Haven [M.I. Rostovtzeffs Südrussland: Zwischen Leningrad und New Haven], in: Ebd. 4 (1991), 151–162; Marcone, A: Peterburg‒Rim‒Berlin: Vstreča M.I. Rostovceva s nemeckim antikovedeniem [Petersburg–Rom‒Berlin: M.I. Rostovtzeffs Begegnung mit der deutschen Altertumswissenschaft], in: Ebd. 1 (1992), 213–223; Heinen, H.: Ėllinističeskij Egipet v trudach M.I. Rostovceva [Das hellenistische Ägypten in den Werken M.I. Rostovtzeffs], in: Ebd. 2 (1992),

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internationale Konferenz über Rostovtzeff, die vom 6. bis 8. September 1993 in Moskau und St. Petersburg stattfand und über 300 Teilnehmer aus verschiedenen Ländern zählte. Hier wurde u. a. die deutsche Ausgabe von Rostovtzeffs zweitem Band über Skythien und den Bosporus von H. Heinen präsentiert. Das unerschöpfliche Interesse an Leben und Werk des Althistorikers und die Notwendigkeit des wissenschaftlichen Austausches zeigten die darauffolgenden internationalen Zusammentreffen: 1995 wurde die zweite Konferenz auf Initiative von A. Marcone in Italien veranstaltet und im Jahr 2000 wurden verschiedene Rostovtzeff-Forscher von J. Andreau nach Paris eingeladen. 74 1997 wurde vom russischen Forscherteam unter der Leitung von Bongard-Levin der große Sammelband „Skifksij roman“ [„Der skythische Roman“], der die Ergebnisse der langjährigen Forschung präsentierte, herausgegeben. 75 Das Buch, das auf einer aufwendigen Archivarbeit beruht, erschließt eine große Fülle von neuem Quellenmaterial zum Schicksal von Michail Rostovtzeff. In fünf Teilen gegliedert bietet die Arbeit Untersuchungen zu einzelnen Themen, wie den Überblick über Rostovtzeffs Nachlass in russischen, europäischen und amerikanischen Archiven, seine Beziehungen zu Freunden und Kollegen auf der Grundlage des Briefwechsels oder die Publikation der unveröffentlichten Vorlesungen des Althistorikers. Es muss jedoch angemerkt werden, dass „Der skythische Roman“ vielmehr einen kostbaren Quellenband als eine fortlaufende biographische Erzählung darstellt. Im Jahr 2003 wurde der zweite große Band „Der parthische Schuss“ herausgegeben, in dessen Zentrum die wissenschaftliche Tätigkeit des russischen Historikers steht. 76 Neben Ausführungen über die Ausgrabungen von Dura-Europos, Rostovtzeffs Reisen nach Nordafrika, Ägypten und in den Nahen Osten sowie seinem Beitrag zur skytho-sarmatischen Archäologie wurde von G. Bongard-Levin, G. Kreucher und H. Heinen das Verhältnis des Althistorikers zu deutschen Gelehrten erörtert. 77 Die beiden Werke erweitern dank des erschlossenen Archivmaterials den Horizont der For-

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163–179; Shaw, B.D: Dva istorika v izgnanii: Perepiska M.I. Rostovceva i F.M. Heichelheima [Zwei Historiker im Exil: Der Briefwechsel zwischen M.I. Rostovtzeff und F. Heichelheim], in: Ebd. 2 (1994), 171–184; Pavlovskaja, A.: O roli M.I. Rostovceva v razvitii papirologičeskich issledovanij v Rossii [Über die Rolle M.I. Rostovtzeff in der Entwicklung der papyrologischen Forschung in Russland], in: Ebd. 1 (1997), 169–183; Košelenko, G./Gaibov, V.: Dura-Europos posle [nach] M.I. Rostovtzeff, in: Ebd. 3 (1999), 221–232; Litvienko, J.: Egipetskie putešestvija [Ägyptens Reisen von] M.I. Rostovtzeff, in: Ebd. 3 (2001), 140–149. Vgl. Zuev, V.: Meždunarodnaja naučnaja konferenzija „Akademik M.I. Rostovcev i ego vklad v mirovuju nauku“ [Die internationale Konferenz „Der Akademiker M.I. Rostovtzeff und sein Beitrag in die weltweite Wissenschaft“] (Moskva–Sankt-Peterburg, 6–8 sentjabrja 1993), in: VDI 1 (1994), 229–232; Marcone, A.: Rostovtzeff e lʼItalia, (Incontri perugini di storia storiografia antica e sul mondo antico IX, 25–27 Maggio 1995 a Gubbio), Napoli 1999; Ders.: Meždunarodnaja konferenzija [Die internationale Konferenz] „Michail Ivanovič Rostovtzeff“ (Pariž, 17–19 maj 2000), in: VDI 4 (2000), 214–216. Vgl. Bongard-Levin, G. (Hg.): Skifskij roman [Der skythische Roman], Moskau 1997. Vgl. Ders./Litvinenko, J. (Hg.): Parfjanskij vystrel [Der parthische Schuss], Moskau 2003. Vgl. Bongard-Levin, G./Kreucher, G./Heinen, H.: M.I. Rostovtzeff und die deutschen Althistoriker, in: Ebd., 607–623. Vgl. auch Kreucher, G. (Hg.): Rostovtzeffs Briefwechsel mit deutschsprachigen Altertumswissenschaftlern, Wiesbaden 2005.

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Quellen

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schung über Rostovtzeff erheblich. Leider konnten diese Quellenbände außerhalb des russischsprachigen Raums nicht rezipiert werden, weil keine Übersetzung in andere Sprachen vorliegt. Resümierend lässt sich feststellen, dass die Forschung zu Leben und Werk von Michail Rostovtzeff eine lange Tradition hat: Ausgehend vom Kreis seiner Kollegen, Freunde und Schüler in den USA und Westeuropa kam es seit den 1990er Jahren zu einer Wiederentdeckung des Althistorikers in seinem Heimatland und anschließend zur Zusammenarbeit internationaler Wissenschaftler. Die Fülle der Publikationen über den russischen Historiker kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wesentliche Forschungslücken in Bezug auf Rostovtzeffs Leben vor 1918 immer noch bestehen. Womöglich kam es deswegen zu keinem erneuten Versuch, die Biographie des Althistorikers zu schreiben.

Quellen Was bis heute die Rekonstruktion von Rostovtzeffs Leben vor 1918 erschwert, ist das Fehlen seines Tagebuches. Es ist anzunehmen, dass der Althistoriker ‒ gemäß der Zeit ‒ ein Tagebuch geführt hatte, es aber beim Verlassen seiner Heimat im Sommer 1918 zurücklassen musste. Die vorhandenen kurzen autobiographischen Notizen liefern ausschließlich die Eckdaten seines Lebenslaufs in Russland. Eine Ausnahme bildet Rostovtzeffs Skizze „Adventures of a College Professor“, welche die Ereignisse der Jahre 1914–1918 aus der Perspektive des russischen Historikers darstellt und in dieser Hinsicht einzigartig ist. 78 Das Schreiben, das auf der ersten Seite eine Datierung „ca. 1930“ hat, wird im DukeUniversity-Archiv in Durham aufbewahrt. C. B. Welles vermutete, dass dieser Artikel 1926 in „The Yale Daily News“ veröffentlicht werden sollte. 79 Allerdings konnte nach der Durchsicht der Zeitungsausgaben keine Publikation der Notiz festgestellt werden. Auch die Mitarbeiter des Archivs in Duke konnten darüber nichts Übereinstimmendes berichten. J. G. Manning, der 2015 „Adventures of a College Professor“ publizierte, kam zum gleichen Ergebnis. 80 Da sich die Datierung von Rostovtzeffs biographischer Notiz zum heutigen Zeitpunkt nicht präzisieren lässt, wird sie im Folgenden ‒ nach der archivischen Verzeichnung ‒ mit den 1930er Jahren datiert. Wenn es um die Erforschung der politischen Tätigkeit des Althistorikers ging, rückten stets seine antibolschewistischen Schriften ins Zentrum der Untersuchungen. So erfolgten 2002 gleich zwei Editionen von Rostovtzeffs politischen Artikeln durch russische

78 Rostovtzeff, M.: Adventures of a College Professor, in: Duke University Archives, David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library. 79 Vgl. Welles, C.B.: Bibliography ‒ M. Rostovtzeff, in: Historia 5 (1956), 381. 80 Vgl. Anm. 35.

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Einleitung

Wissenschaftler. 81 Aus den insgesamt 31 seiner auf Russisch edierten Arbeiten wurden nur zwei vor seiner Emigration geschrieben. Die Mehrzahl der Aufsätze stammt aus der Zeit zwischen 1918 und 1924; sie werden entweder im Archiv der Yale University aufbewahrt 82 oder sind auf den Seiten der Emigrantenzeitungen bzw. -zeitschriften zu finden. Es wäre jedoch unzureichend, Rostovtzeffs politische Einstellung und Tätigkeit allein bzw. überwiegend anhand seiner antibolschewistischen Artikel zu beurteilen. Für die Rekonstruktion seiner sozialpolitischen Aktivitäten war es notwendig, von der Zeit vor dem Herbst 1917 auszugehen, und nicht erst vom bolschewistischen Staatsstreich, der letzten großen politischen Erfahrung des Historikers in Russland. Aus diesem Grund mussten die Recherchen am Heimatort des Althistorikers erfolgen. Seine Manuskripte und die ganze Bibliothek musste Rostovtzeff 1918 in Petrograd zurücklassen. Der größte Teil davon wird im Zentralen Historischen Staatsarchiv St. Petersburgs (RGIA) aufbewahrt. Die Sammlung beinhaltet etwa 150 Dokumente, die in fünf Gruppen aufgeteilt sind. Die erste Gruppe schließt die wissenschaftlichen Texte des Althistorikers sowie seine Rezensionen zwischen 1898 und 1917 ein. Die zweite und dritte Gruppe besteht aus seinen Notizen zu Vorlesungen, wissenschaftlichen Tagebüchern und Fotos. Interessant ist die vierte Gruppe, die Rostovtzeffs Briefwechsel mit russischen und internationalen Wissenschaftlern und Institutionen präsentiert. Zur letzten Gruppe werden weiterhin Bilder verschiedener Personen und Stadtpläne gezählt. Im Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg (RAN SPb) gibt es Rostovtzeffs persönliche Sammlung, deren Größe dem Bestand des Staatsarchives ähnlich ist. Die Sammlung wurde in zwei Abteilungen aufgeteilt: Rostovtzeffs Handschriften und seine gedruckten Arbeiten aus den Jahren 1894–1918. Über weit weniger Material verfügt die Handschriftenabteilung der Petersburger Staatsbibliothek (OR RNB). Dennoch konnten auch hier wichtige Materialien über das Leben des Althistorikers in Russland entdeckt werden. Das Archivgut sowie Rostovtzeffs Publikationen in verschiedenen russischen und westeuropäischen Zeitungen und Zeitschriften dienen als Quellengrundlage für die vorliegende Untersuchung. Daraus ergeben sich die folgenden Quellenkomplexe: 81 Vgl. Tunkina, I. (Hg.): M.I. Rostovtzeff: Izbrannye publicističeskie statʼi [Die ausgewählte Publizistik] 1906–1923, Moskau 2002; Avetisjan, K. (Hg.): M.I. Rostovtzeff. Političeskie statʼi [Politische Aufsätze], Moskau 2002. 82 Rostovtzeffs Kollektion an der Yale University in New Haven (Connecticut), wo der Historiker von 1925 bis 1944 die Professur für Ancient History and Archeology innehatte, wird in 34 Boxen aufbewahrt. Die Box Nr. 14 mit dem Titel „Political Articles about Russia“ umfasst zwölf antibolschewistische Schriften aus den Jahren 1918–1922.Vgl. Brown, W.E.: Guide to the Michael Ivanovitch Rostovtzeffs Papers. Yale University Library, Manuscripts and Archives, unter: http://hdl.handle. net /10079/fa/mssa.ms.1133 (letzter Abruf am 1.5.2011). Für die Rostovtzeff-Forschung sind außerdem die Sammlungen der Madison University (Wisconsin), des Bakhmeteff Archivs der Columbia University (New York), der Bibliothek der Duke University (Durham) wichtig. Vgl. Bowersock 1986; The Catalog of the Bakhmeteff Archive of Russian and East European History and Culture, Boston 1987; Register of the Michael Ivanovitch Rostovtzeff Papers 1897–1968, Duke University Library. Rare Book, Manuscripts ans Special Collections, unter: http://library.duke.edu/rubenstein/findinggaids/rostov/ (letzter Abruf am 10.8.2011).

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Quellen

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Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen Rostovtzeffs sozialpolitische Schriften vor 1918, die in der bisherigen Forschung größtenteils vernachlässigt wurden und deren Untersuchung ein Desiderat darstellt. Sie bilden einen zentralen Quellenkomplex. Hierfür erfolgte die Sichtung der Ausgaben der Tageszeitung „Reč“ [„Rede“], des Presseorgans der Partei der Konstitutionellen Demokraten, zwischen 1906 und 1918 sowie der russischen Zeitschriften mit politischer Ausrichtung, wie „Russkaja myslʼ“ [„Russischer Gedanke“] und „Russkaja svoboda“ [„Russische Freiheit“]. Die dort aufgefundenen Schriften spiegeln Rostovtzeffs Standpunkt zu den wichtigsten politischen Ereignissen der russischen Geschichte vor der Oktoberrevolution wider. Da es nach dem Oktoberumsturz beinahe unmöglich und äußerst gefährlich war, oppositionelle Meinungen zu äußern, ist es unerlässlich, Rostovtzeffs Artikel aus der Zeit nach seiner Abreise aus dem bolschewistischen Russland zur Untersuchung der Zeit zwischen Oktober 1917 und Juli 1918 sowie die Meinung des Althistorikers über die Politik der Bolschewiki heranzuziehen. Hierfür spielen Rostovtzeffs Artikel in den amerikanischen Archiven, die bereits herausgegeben sind, sowie in den Periodika der russischen Emigration, vor allem in „The New Russia“ und „Struggling Russia“, eine wichtige Rolle. Für das Verständnis der politischen Überzeugungen Rostovtzeffs, seiner Entscheidungen und seines Handelns im Laufe der Zeit ist darüber hinaus die Verwendung seines zum Teil unbekannten Briefwechsels mit russischen und westeuropäischen Freunden und Kollegen unabdingbar. Zu einem weiteren wichtigen Quellenkomplex gehören Rostovtzeffs Nachrufe und Beiträge über seine Kollegen und Freunde in Festschriften, seine Berichte über internationale wissenschaftliche Kongresse sowie seine wissenschaftlichen Publikationen, z. B. in der offiziellen „Žurnal ministerstva narodnogo prosveščenija“ [„Zeitschrift des Ministeriums für Volksbildung“] (ŽMNP) und den „Izvestija imperatorskoj archeologičeskoj kommissii“ [„Nachrichten der Kaiserlichen Archäologischen Kommission“] (IIAK) oder in der wissenschaftspopulären Zeitschrift „Mir božij“ [„Welt Gottes“]. Auch bei diesen Schriften ließ der Althistoriker sich keine Gelegenheit entgehen, um Stellung zu den aktuellen Problemen der russischen Gesellschaft zu beziehen. Aus Rostovtzeffs Feder stammende Dokumente werden durch eine Reihe wichtiger Quellen ergänzt. So werden u. a. die Dienstreiseberichte seines Vaters zur Klärung des familiären Hintergrundes des Historikers herangezogen. Für die Untersuchung der Entwicklung von Rostovtzeffs wissenschaftlicher Karriere, aber auch der Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Politik an der Petersburger bzw. Petrogarder Universität vor dem Hintergrund der wichtigsten politischen Ereignisse liefern die Protokolle der Sitzungen des Professorenrates der hauptstädtischen Hochschule wertvolle Informationen. Um die Rolle des Althistorikers innerhalb der Kadetten-Partei aufzuklären, werden zudem die Protokolle des Zentralkomitees und der Parteitage der Konstitutionellen Demokraten analysiert. Die Aktivitäten des Althistorikers im Ersten Weltkrieg werden zusätzlich auf der Grundlage der russischen und deutschen Kriegspublizistik rekonstruiert. Das gesamte Bild von Michail Rostovtzeff vor 1918 in Russland wäre ohne die Einbeziehung von Memoiren und Tagebüchern seiner Zeitgenossen jedoch lückenhaft. Aus diesem Grund wird die Auswertung der schriftlichen Zeugnisse seines Bekanntenkreises

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Einleitung

verschiedene Facetten seines Lebens und Wirkens beleuchten und somit die Darstellung abrunden. Dazu gehören u. a. sowohl die führenden Politiker der Kadetten-Partei, z. B. P. Miljukov, A. Tyrkova-Williams, V. Nabokov, I. Gessen und der Bildungsminister I. Tolstoj, als auch russische Schriftsteller (V. Ivanov, I. Bunin, A. Belyj, A. Kuprin) und Künstler (A. Benois, V. Zubov, M. Dobužinskij, V. Pjast) sowie Rostovtzeffs Lehrer (F. Zelinskij, U. Wilamowitz-Moellendorff), Kollegen (S. Žebelev, B. Farmakovskij, N. Kareev) und Schüler (N. Anziferov, T. Warscher). Die kurzen biographischen Angaben über diese und andere für die Darstellung bedeutende Akteure werden zum Teil auf der Grundlage des russischen Konversationslexikons Brockhaus-Efron (ĖSBE), das zwischen 1890 und 1907 in 86 Bänden erschien 83 und in dem Beiträge des Althistorikers und seiner Frau zu finden sind, in den Anmerkungen zusammengefasst.

Formalien Zur Erleichterung der Lektüre der vorliegenden Untersuchung sind folgende Formalien zu beachten: 1. Die Datierung erfolgt nach dem julianischen Kalender, der im 19. Jahrhundert zwölf und im 20. Jahrhundert dreizehn Tage hinter dem gregorianischen zurückblieb. Die neue Kalenderrechnung wurde am 1./14. Februar 1918 von der bolschewistischen Regierung eingeführt. Entsprechend stimmen die Datenangaben ab dem 14. Februar 1918 im letzten Kapitel dieser Arbeit mit der modernen Zeitrechnung überein. 2. Die Quellen aus den russischen Archiven werden in den Anmerkungen wie folgt nachgewiesen: Institution Bestandnummer/Inventarnummer/Dokumentnummer. 3. Das Adjektiv „russisch“ bezieht sich in der Darstellung auf Russland und dessen Einwohner und nicht etwa auf die ethnische Zugehörigkeit und entspricht in diesem Sinne in manchen Fällen dem Neologismus „russländisch“, auf den hier bewusst verzichtet wird. 4. Die russischsprachigen Zitate werden in der Übersetzung der Verfasserin wiedergegeben. Es wurde dabei versucht, den Sprachstil der Autoren beizubehalten, soweit es beim Übersetzen möglich war. Originalbegriffe werden dabei kursiv markiert. 5. Die Wiedergabe russischer Namen und Begriffe erfolgt nach den Regeln der wissenschaftlichen Transliteration. Entsprechend dieser Regeln müsste der Name des Althistorikers als „Rostovcev“ transkribiert werden. 84 In der Arbeit wird jedoch die 83 russ. „Ėnziklopedičeskij slovarʼ Brokgauza i Efrona“ [„Das enzyklopädische Wörterbuch Brockhaus-Efron“]. Zwischen 1906 und 1909 erschienen vier Bände des Malyj [Kleinen] Wörterbuches Brockhaus-Efron (MĖSBE) in der zweiten Auflage; in den Jahren 1911–1916 wurde vom gleichen Verlag „Novyj ėnciklopedičeskij slovarʼ“ [„Das Neue Enzyklopädische Wörterbuch“] (NĖS) herausgegeben. Vgl. Brockhaus-Efron, in: Bolʼšaja sovetskaja ėnciklopedija (BSĖ) 7 (1927), 571f. 84 Dabei sind die folgenden Lautwerte der wichtigsten Buchstaben zu beachten: c wie deutsches z

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Formalien

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gewohnte Schreibweise „Rostovtzeff“ benutzt. Die Ausnahmen bilden seine nicht russischsprachigen Arbeiten sowie Rezensionen der westeuropäischen Wissenschaftler vor 1918, in denen der Name des Autors als „Rostovtzev“ oder „Rostowzew“ wiedergegeben wird. Bei dem Vornamen wird gezielt die russische Variante „Michail“ statt „Michael“ verwendet.



č wie tsc in „Peitsche“ š wie sch in „Schule“ (stimmlos) šč wie schtsch z wie s in „Phase“ (stimmhaft) ž wie j in „Journal“ j wie dumpfes i v wie w in „Waage“ ʼ zur Erweichung des Konsonanten. Vgl. Duden 1 (2009), 139.

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1. Rostovtzeffs erste Schritte im wissenschaftlichen, sozialen und politischen Leben (1890–1913) Die Untersuchung der politischen Tätigkeit von Personen fordert eine Berücksichtigung der wesentlichen Lebensumstände und -kontexte, die diese Menschen geprägt und beeinflusst haben. Die Bedeutung von Rostovtzeffs Wohnort und seiner Zeit für sein Schicksal wird im Folgenden besprochen. An dieser Stelle bedarf es zunächst einer Klärung Rostovtzeffs Stellung in der russischen Gesellschaft Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Dies scheint für das Verstehen seines politischen Standpunktes und schließlich der Leitmotive seines politischen Handelns unabdingbar zu sein.

1.1

Wissenschaftliche Karriere und soziales Bild des Althistorikers

1.1.1 Zum Begriff „intelligencija“: Rostovtzeffs sozialer Hintergrund Michail Rostovtzeff entstammte einer Familie, die ihre Zugehörigkeit zum erblichen Adel durch langjährigen Dienst im Bildungsbereich erlangt hatte. Auch der Althistoriker konnte dank seiner Tätigkeit als Professor einen würdigen Platz in der Hierarchie der ständisch-korporativen Gesellschaft Russlands 1 erringen. Im Leben Rostovtzeffs spielte seine Positionierung in der russischen Rangtabelle eher eine untergeordnete Rolle, wobei die Anfangsphase seiner Karriere oder der Umgang mit Mitgliedern der Zarenfamilie möglicherweise eine Ausnahme darstellen. Seine Beteiligung am sozialen und politischen Leben der Heimat ist aus der Position eines Vertreters der intelligencija zu verstehen. Der Begriff „intelligencija“ ist in der Geschichte Russlands vieldeutig. So wurde die intelligencija z. B. im russischen enzyklopädischen Wörterbuch Brockhaus-Efron von 1907 als „gebildete, intellektuell entwickelte Klassen der Gesellschaft, die den Interessen der Politik, Literatur und Kunst leben“ 2 definiert. Eine der modernen Definitionen beschreibt die intelligencija als „einen Teil des Volkes, der geistige Arbeit verrichtet und nur aufgrund historischer Unannehmlichkeiten eine zusätzliche Aufgabe ‒ politische Oppo-

1 Vgl. Hildermeier, M.: Geschichte Russlands, München 2013, 1157f. 2 Zitiert nach Sokolov, A.: Pokolenie russkoj intelligencii [Generation russischer intelligencija], St. Petersburg 2009, 28.

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Rostovtzeffs erste Schritte im wissenschaftlichen, sozialen und politischen Leben

sition ‒ auf sich nimmt“. 3 Alle bisherigen Versuche, die russische intelligencija präziser zu charakterisieren, führten zur Entstehung komplexer Untersuchungen, die die Unbestimmtheit dieses Phänomens noch mehr unterstreichen. 4 Die russische intelligencija war ein soziokulturelles Phänomen in der Geschichte Russlands, das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders bemerkbar machte. Dies hing mit der nach der Bauernbefreiung begonnenen wirtschaftlichen Modernisierung des Landes zusammen. Auch ein sozialer Wandel ist als Folge dieser Modernisierung zu betrachten. Es bildeten sich neue Schichten heraus: Neben der Arbeiterschaft und dem Unternehmertum gehörte die intelligencija dazu. Die intelligencija stellte eine neue Elite des Landes dar, deren wichtigstes Charakteristikum eine akademische Ausbildung war. Da die russische intelligencija sich aus verschiedenen Ständen rekrutierte, war sie äußerst heterogen. Ihr gehörten bspw. Fachleute, wie Lehrer, Ärzte, Juristen, Ingenieure, Agronomen und Statistiker, aber auch Schriftsteller, Journalisten und nicht zuletzt Wissenschaftler an. Die Unterschiede bei Berufsorientierung, sozialer Stellung und Einkommen innerhalb der intelligencija waren daher enorm. 5 Obwohl die Bildung in der russischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende beachtlich an Bedeutung gewonnen hatte, bildete die intelligencija schließlich einen Bruchteil (etwa 0,8%) der Bevölkerung des Zarenreiches. 6 Dennoch repräsentierte sie den Kern der politisch engagierten Gesellschaft; vor allem übernahm sie eine führende Rolle im Kampf gegen das autokratische Regime. Dabei waren verschiedene politische Lager innerhalb der intelligencija zu unterscheiden: vom konservativen über liberalen bis hin zum radikal revolutionären Flügel. An der Spitze der hauptstädtischen intelligencija standen Anfang des 20. Jahrhunderts viele Personen aus der nächsten Umgebung des Althistorikers. Es handelte sich um Vertreter des hauptstädtischen liberalen Bildungsbürgertums, die eine führende Rolle in der liberalen Bewegung spielten. Auch Rostovtzeff wurde durch sein politisches Engagement zum markanten Vertreter der russischen intelligencija in dieser Zeit. 3 Gasparov, M.: Intellektualy, intelligenty, intelligentnostʼ [Intelektuellen, Intelligenzler, Intelligenz], in: Knjazevskaja, T. (Hg.): Russkaja intelligencija. Istorija i sudʼby, Moskau 2000, 11. 4 Vgl. Anm. 2 und 3; Sokolov, A.: Intelligenty i intellektualy v rossijskoj istorii [Intelligenzler und Intellektuellen in der russischen Geschichte], St. Petersburg 2007; Parchomenko, T.: Intellektualʼnaja ėlita v kontekste russkoj istorii XIX–XX vv. [Intellektuelle Elite im Kontext der russischen Geschichte der 19.–20. Jahrhunderte], Moskau 2012; Müller, O.: Intelligencija. Untersuchungen zur Geschichte eines politischen Schlagwortes, Frankfurt am Main 1971; Lejkina-Svirskaja, V.: Russkaja intelligencija v 1900–1917 godach [Russische intelligencija 1900–1917], Moskau 1981. 5 Vgl. Hildermeier 2013, 1157f., 1218–1226; Steffens, T.: Die sozialen Schichte: ihre Stellung im Staatsrecht der ausgehenden Zarenzeit und der politische Umbruch von 1917, in: Schramm, G. (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands, B. 3/1, Stuttgart 1992, 1104–1119. 6 Die Mehrheit (50,8%) der intelligencija im Zarenreich war in unterschiedlichen staatlichen und wirtschaftlichen Verwaltungsinstitutionen tätig. 36,3% waren im Bereich der Publizistik, Wissenschaft, Kunst sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen beschäftigt und 12,9% übten technische Berufe aus. Vgl. Beyrau, D./Hildermeier, M.: Industrialisierung, sozialer Wandel und Rückständigkeit, in: Schramm, 1992, 138; Löwe, H.-D.: Die Rolle der russischen Intelligenz in der Revolution von 1905, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 32 (1983), 231.

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Wissenschaftliche Karriere und soziales Bild des Althistorikers

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Interessant ist Rostovtzeffs Erwähnung der russischen intelligencija in seiner politischen Schrift aus dem Jahr 1918. In seiner Analyse der Ursachen für den Niedergang seiner Heimat unter der Herrschaft der Bolschewiki unterscheidet der Althistoriker zwischen den „Spitzen der intelligencija“ 7, zu der einzelne „Schöpfer mit ihrer reichsten und vielfältigen Struktur seelischer Verfassung und Intelligenz“ 8 gehörten, und den übrigen „millionenfachen Massen“ 9 der intelligencija. Es besteht kein Zweifel, dass Rostovtezff sich selbst ‒ sicherlich zu Recht ‒ zu den Spitzen der intelligencija zählte. Aus diesem Grund ist seine Zugehörigkeit zu dieser Bildungsschicht in der darauffolgenden Darstellung in dieser Abgrenzung zu lesen. Dabei wird die Spitze der intelligencija hier auch als das liberale Bildungsbürgertum oder Rostovtzeffs Milieu bezeichnet.

1.1.2 Russland und die russische Hauptstadt um 1900 Ende Juli 1890 kam der 20-jährige Michail Rostovtzeff in der russischen Hauptstadt an. Sein Urgroßvater, der ein Kaufmann war, ermöglichte seinem Sohn eine universitäre Ausbildung. Der Kaufmannsohn seinerseits arbeitete sich bis zum Schulinspektor eines der russischen Gouvernements hoch und erhielt schließlich den erblichen Adelstand. Der Vater des Althistorikers, Ivan, wurde zum Kurator eines der 12 Lehrbezirke im Zarenreich und stieg in die zweithöchste Klasse der Rangtabelle auf. Michail Rostovtzeff repräsentierte die vierte Generation dieser Familie, die bereits zu einem Bestandteil der provinziellen Bildungselite des Russischen Reichs geworden war. Somit hatte der aus Kiew nach Sankt Petersburg gekommene Student Rostovtzeff keinen schlechten Ausgangspunkt, um in der russischen Hauptstadt Fuß zu fassen. Jedoch war er ‒ mit Ausnahmen seiner Brüder und einiger Bekannten seines Vaters ‒ allein in der russischen Metropole. 1890 war Michail Rostovtzeff einer der vielen ehrgeizigen jungen Menschen in Sankt Petersburg. Er musste sich noch in den hauptstädtischen Wissenschaftskreisen behaupten und in das pulsierende Leben der glänzenden Stadt hineinfinden. Sankt Petersburg war mit seinen mehr als 1 Mio. Einwohnern die größte Stadt des Zarenreiches. Somit übertraf die Einwohnerzahl der russischen Hauptstadt etwa um das Fünffache die Bevölkerungszahl von Kiew, woher Rostovtzeff stammte. 10 Es war aber nicht nur die Hauptstadt, die sich vom übrigen Russland unterschied und ihren europäisch geprägten Lebensstil hatte, sondern auch die Zeit, welche Rostovtzeff tief prägte. Die Großen Reformen, allen voran die Bauernbefreiung 1861, die von Alexan 7 8 9 10

Rostovtzeff, M.: Fasad Rossii [Russlands Fassade], in: Naš vek vom 5.7.1918, 3. Ebd. Ebd. Laut der Volkszählung 1897 betrug die Einwohnerzahl 1,3 Mio. in St. Petersburg und 247.000 in Kiew. Vgl. ĖSBE 27a (1899), 125; Neutatz, D.: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, München 2013, 26.

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Rostovtzeffs erste Schritte im wissenschaftlichen, sozialen und politischen Leben

der II. durchgeführt worden waren, und die seit den 1890er Jahren begonnene Industrialisierung führten zu grundlegenden ökonomischen, gesellschaftlichen sowie kulturellen Neuerungen. Seit den 1890er Jahren wurde das Zarenreich von gesamteuropäischen Entwicklungen beeinflusst. Obgleich Vergleiche mit der Wirtschaft europäischer Länder das Zarenreich entweder als „Schwellenland“ 11 oder auch als „ein riesiges Entwicklungsland im Aufbruch“ 12 bezeichnen ließen, bleibt die Tatsache bestehen, dass Russland in dieser Zeit tiefgreifende Veränderungen durchgemacht hatte. Die wirtschaftliche Modernisierung wurde von der zaristischen Regierung vorangetrieben. Die Gründe der Entscheidung, die Wirtschaft Russlands auf die Beine zu stellen, lassen sich sowohl im verlorenen Krimkrieg, als auch in dem einem Bankrott nahen Zustand des Landes suchen. Die staatliche Beteiligung spielte vor allem im Eisenbahnbau eine entscheidende Rolle. Im Bergbau, in der Elektroindustrie und in der Eisen- und Stahlerzeugung war der Einfluss des ausländischen Kapitals unverkennbar. Die beginnende Industrialisierung schuf neben der Schwerindustrie auch ein Bankund Kreditwesen im Lande und gab dem traditionellen Industriezweig Russlands, der Textilindustrie, einen neuen Anstoß. Die Golddeckung des Rubels 1897 verstärkte die Position des Zarenreiches auf dem Weltmarkt. Die Zahlen belegen dabei zwar ein ungeheures Wirtschaftswachstum Russlands; solche Werte, wie der Pro-Kopf-Zuwachs sowie Russlands Anteil an der Weltindustrieproduktion, zeigen jedoch, dass die russische Wirtschaft weiterhin gegenüber westlichen Ländern im Rückstand war. 13 Russland blieb ein Agrarland. Für die vorliegende Untersuchung ist der wirtschaftliche Wandel Russlands vor allem aus der Perspektive der Einwohner der russischen Großstädte, wie Moskau und St. Petersburg, von Interesse. Sie spürten, wie die fortschreitende Industrialisierung ihren Alltag veränderte: von der Formierung neuer Bevölkerungsgruppen nach Besitz und Beruf über die Entwicklung der Verkehrsmittel und der sanitären Infrastruktur bis hin zum Bau von riesigen Kaufhäusern und Banken sowie zur Erweiterung der Unterhaltungskultur in Form von Theatern, Clubs, Konzerthallen und Kinos. Wirtschaftliche Fortschritte stärkten jene Schicht des städtischen Großbürgertums, dessen Bewusstsein durch und durch bürgerlich war und sich im entsprechenden Lebensstil äußerte. 14 Der Lebensstil der zahlreichen Unternehmer, Ärzte, Rechtsanwälte und Professoren war durchaus europäisch und kam in den Wohnungseinrichtungen, in der Kleidung, im Besuch der kulturellen Veranstaltungen, dem sozialen Engagement sowie in der Herausgabe von Zeitungen und in der Wohltätigkeit zum Vorschein. Das Leben in großen russischen Städten verkörperte das moderne Russland. 11 Vgl. Hildermeier 2013, 1156. 12 Alexander, M./Stöckl, G.: Russischen Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2009, 501. 13 Das Wirtschaftswachstum betrug zwischen 1880er Jahren und dem Ersten Weltkrieg jährlich etwa 3,25% in Russland und etwa 2,7% in westeuropäischen Industrieländern. Demgegenüber war der Anteil Russlands an der Weltindustrieproduktion Ende des 19. Jahrhunderts sehr gering: 5% gegenüber 20% in Großbritannien und 17% in Deutschland. Vgl. Neutatz 2013, 76–80. 14 Vgl. ebd., 85.

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Wissenschaftliche Karriere und soziales Bild des Althistorikers

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1.1.3 Wissenschaftliche Karriere „Als ich in den 1890er Jahren als Student des dritten Jahres in die Petersburger Universität gelangte, war ich ein absolutes Wickelkind im Bereich der Archäologie, ein angehender klassischer Philologe“ 15, erinnerte sich Michail Rostovtzeff in den 1920er Jahren an den Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere. Er zog dabei Grenzen zwischen der Studienzeit und den „Jahren der Auslandsreise“. 16 1.1.3.1 Studienzeit (1890–1892) Im Jahr 1890 betrug die Gesamtzahl der Studenten im Russischen Reich etwa 12.500, 14% davon studierten an der Universität St. Petersburg. 17 Der universitäre Alltag in Russland war in dieser Zeit vom konservativen Universitätsstatut von 1884, das die universitäre Autonomie stark einschränkte, sowie von den darauffolgenden Zusatzregelungen reglementiert.  18 Russlands Hochschulen wurden in dieser Zeit unter eine schärfere Kontrolle des Staates gestellt. Das Wahlprinzip sowie die Selbstverwaltung der Universitäten wurden aufgehoben. Demzufolge lagen die Wahlen der Rektoren, die Beförderung bzw. Entlassung der Professoren und die Kontrolle über den Lehrbetrieb sowie über die Stimmungen in der Professoren- und Studentenschaft in den Händen des Bildungsministers. 19 Für Rostovtzeff als Studenten bedeutete dies zunächst eine Teilung des akademischen Jahres in Semester, Einführung der Staatsexamina und Honorare für Dozenten. Jeder Student erhielt am Anfang einen Studienplan, in dem die in vier Jahren zu absolvierenden Haupt- und Nebenfächer dokumentiert waren. Vor jedem Semester sollte die vom Student zusammengestellte Kombination von Vorlesungen und Seminaren vom Fakultätsdekan bewilligt werden. Studenten bezahlten sowohl Semestergebühren als auch Hörgelder für die Lehrenden, deren Veranstaltungen sie besuchten. 20 Sie waren außerdem 15 Rostovtzeff, M.: Stranički vospominanij [Seiten der Erinnerung] vom 10.8.1924, in: Kyzlasova, I. (Hg.): Kondakov, N.P.: Vospominanija i dumy, Moskau 2002, 213. 16 Ebd. 17 Somit belegte die hauptstädtische Hochschule den dritten Platz. Mehr Studenten gab es an der Universität Moskau (28%) und Kiew (16%). Vgl. Miljukov, P.: Universitet [Universität], in: ĖSBE 34A (1902), 799. 18 Seit 1885 wurde das universitäre Statut durch die zusätzlichen Regeln, wie die für Studierenden oder über die Anforderungen für Prüfungskommissionen, ergänzt. Vgl. Roždestvenskij, S.: Istoričeskij obzor dejatelʼnosti Ministerstva narodnogog prosveščenija [Historischer Überblick über die Tätigkeit des Ministeriums für Volksaufklärung] 1802–1902, St. Petersburg 1902, 618–623. 19 Vgl. Novikov, M./Perfilova, T.: „Učënoe soslovie“ Rossii konca XIX ‒ načala XX v. [„Stand der Wissenschaftler“ Russlands Ende des 19.‒Anfang des 20. Jahrhunderts], in: Jaroslavskij pedagogičeskij vestnik 6 (2015), 272; Maurer 1998, 591–600. 20 Von 1887 bis 1897 wurden die Studiengebühren von 10 auf 50 Rubel im Jahr erhöht; für besuchte Veranstaltungen mussten Studenten zwischen 18 und 100 Rubel pro Jahr dazu bezahlen. Vgl. Novikov, M./Perfilova, T.: Universitetskij ustav 1884: illjuzija akademičeskoj svobody [Universitätsstatut 1884: Eine Illusion der akademischen Freiheit], in: Jaroslavskij pedagogičeskij vestnik 4 (2014), 39.

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verpflichtet, die Uniform zu tragen; sie durften an der Universität keine Korporationen bilden sowie eine Ehe während des Studiums schließen. Darüber hinaus wurden an jeder Fakultät zwei Lehrpläne ‒ ein vertiefter und ein erleichterter ‒ erarbeitet. Daraus unterschieden sich die Abschlussarten: Nach einem vertieften Studium erhielten Absolventen einen Diplom der 1. Klasse, das im Zivildienst einen Rang der 10. Klasse verlieh; nach der Erfüllung eines erleichterten Studienplanes wurde ein Diplom der 2. Klasse erstellt, das einem Rang der 12. Klasse entsprach. 21 In den 1890er Jahren waren russlandweit besonders die juristische und die medizinische Fakultät beliebt. Demgegenüber sank die Zahl der Studierenden der historischphilologischen Fakultät russlandweit kontinuierlich: von 11,3% im Jahr 1880 auf 5,2% 1894. 22 Als Absolvent der historisch-philologischen Fakultät der Universität Moskau sah P. Miljukov den Grund dieses Rückgangs vor allem im Universitätsstatut 1884, das „diese Fakultät in eine spezielle Schule der alten Sprachen mit zusätzlichen Fächern, Geschichte und Literatur, zu verwandeln versuchte“. 23 Die Zeitgenossen vermuteten, dass die zaristische Regierung Klassische Philologen als die „zuverlässigste Stütze des Vaterlandes“ 24, als die treuesten Untertanen betrachteten. Deswegen sollte deren Zahl erhöht werden. Der Unterricht an der historisch-philologischen Fakultät der Universität Sankt Petersburg wurde von 19 Hochschullehrern ‒ 12 ordentlichen und 7 außerordentlichen Professoren ‒ gestaltet, die sich auf 11 Lehrstühle verteilten. 25 „Alle Wissenschaften der historisch-philologischen Fakultät wurden den alten Sprachen geopfert“ 26, schrieb einer der Studenten dieser Fakultät. Für einen Studierenden um 1890 bedeutete dies, dass 10 von 18 Wochenstunden dem Erlernen der klassischen Sprachen ‒ Lektüren der antiken Autoren sowie praktischen Übungen ‒ gewidmet waren. Vier Stunden verteilten sich auf den Bereich der Klassischen Philologie, zu welcher die griechische und römische Geschichte, Literatur, Kunst sowie die Werke Platons und des Aristoteles zählten. Diese insgesamt 14 Stunden stellten Pflichtveranstaltungen dar. Die Nebenfächer umfassten die verbleibenden vier Stunden. 27

21 22 23 24

Ebd., 27–40. Vgl. Miljukov 1902, 799. Vgl., ebd. Žebelev, S.: Iz universitetskich vospominanij [Aus universitären Erinnerungen], in: VDI 3 (1968), 159. 25 Dazu gehörten Philosophie, Klassische Philologie, komparative Linguistik und sanskritische Sprache, russische Sprache und Literatur, slawische Philologie, Geographie und Ethnographie, Universalgeschichte, russische Geschichte, Geschichte der westeuropäischen Literatur, Kirchengeschichte, Theorie und Geschichte der Künste. Vgl. Novikov/Perfilova 2014, 28. 26 Žebelev 1968, 160. 27 Die Nebenfächer teilten sich in zwei Gruppen: Zur Gruppe A gehörten „verbale“ Fächer, wie die Geschichte der russischen und westeuropäischen Literatur, russische und slawische Philologie, Sanskrit und komparative Linguistik; die Gruppe B stellten „historische“ Fächer, wie Geschichte Russlands, des Orients, des Mittelalters, der Neuen Zeit sowie der Slawen und der Kirche, dar. Ein Student hatte die Wahl zwischen den beiden Fächergruppen. Vgl. ebd.

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Trotz des offiziellen Drucks gelang es den „exzellenten Professoren“ 28 der historischphilologischen Fakultät der Petersburger Universität bei absoluter Bevorzugung der alten Sprachen ein gewisses Gleichgewicht zwischen verschiedenen Disziplinen zu erhalten. Viele Professoren wehrten sich gegen die bürokratische Einmischung in den Lernprozess, wie z. B. I. Pomjalovskij und P. Nikitin 29. Die beiden Klassischen Philologen überreichten bereits Anfang der 1880er Jahre dem Ministerium für Volksaufklärung ihren kritischen Bericht zu den bevorstehenden Änderungen des Universitätsstatuts. Diesen Bericht nutzte Rostovtzeff für seinen Aufsatz „P. V. Nikitin. Seine Meinung über die Wissenschaft und Klassische Bildung“ 30, der 1916 zum Andenken an den verstorbenen Philologen veröffentlicht wurde. Rostovtzeff schrieb, dass Nikitin ohne Zweifel ein Befürworter der Klassischen Bildung gewesen sei, jedoch nicht ohne Vorbehalte. Der Philologe hätte an einen angeblich positiven Einfluss der Klassischen Bildung auf die politischen Ansichten junger Menschen nicht geglaubt. Er hätte deswegen an der Notwendigkeit einer vertieften Erlernung der alten Sprachen für alle Studenten der historisch-philologischen Fakultät gezweifelt: „Bei all seiner Liebe für die Klassische Philologie und seiner tiefen Überzeugung von der Notwendigkeit der Gründung der russischen Schule der Philologen-Klassiker […] war P[ëtr] V[asilʼevič] kein Fanatiker des Klassizismus. Er erkannte klar und sachlich die Gleichberechtigung der Mehrheit der Fachdisziplinen untereinander und den schädlichen Einfluss jegliches Zwangsmonopols in diesem Bereich.“ 31 In seinem Bericht hätte der Philologe hauptsächlich gegen einen der bekanntesten Ideologen des unversitären Statuts von 1884 A. Georgievskij 32 polemisiert. Für Rostovtzeff war die Argumentation Nikitins gegen die reaktionäre Politik durch „eine wahre Achtung der akademischen Freiheit“ 33 kennzeichnet. Demgegenüber sei der Standpunkt von Georgievskij, der die historisch-philologische Fakultät in ein Zentrum für alte Sprachen und antike Autoren gewaltsam zu verwandeln suchte, „äußerst heftig, dabei wenig begründet und tief reaktionär“ 34. Rostovtzeff stellte sich an die Seite von Nikitin und resümierte, 28 Ebd., 162. 29 Pëtr Nikitin (1849–1916) war ein russischer klassischer Philologe, Professor und Rektor der Petersburger Universität; zwischen 1900 und 1916 war er als Vizepräsident der Russischen Akademie der Wissenschaften tätig. Vgl. Obnorskij, N.: Nikitin, Pëtr Vasilʼevič, in: ĖSBE 21 (1897), 81f.; Latyšev, V.: Pamjati Petra Vasilʼeviča Nikitina, in: IAK 12 (1916), 921–936. 30 Vgl. Rostovtzeff, M.: P.V. Nikitin. Ego vzgljady na nauku i klassičeskoe obrazovanie [P.V. Nikitin. Seine Meinung über die Wissenschaft und Klassische Bildung], in: Farmakovskij, B./Rostovtzeff, M./Cereteli, G./Vasilʼev, A./Žebelev, S.: Pamjati Petra Vasilʼeviča Nikitina, Petrograd 1916; Germes 17 (1916), 408–410, 18 (1916), 421–425, 19 (1916), 436–445; Reč vom 7.5.1916, 3. 31 Ebd., 15. 32 Aleksandr Georgievskij (1830–1911) war Ratsmitglied des Ministeriums für Volksaufklärung und wirkte bei einer Reihe von Bildungsreformen im Zarenreich mit. Vgl. Gerogievskij, Aleksandr Ivanovič, in: ĖSBE 8 (1892), 418. 33 Rostovtzeff 1916, 15. 34 Rostovtzeff 1916, 16.

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dass ein zwangsläufiges Erlernen der klassischen Sprachen zu gewünschten Ergebnissen weder im politischen noch im wissenschaftlichen Bereich führen würde. Solche Meinung, nach Rostovtzeff, sei ein „einzig gesunder Standpunkt“ 35 in dieser Frage. Auf diese Weise beurteilte der Althistoriker 25 Jahre später die Hochschulpolitik während seiner Studienzeit. In den 1890er Jahren hatte er jedoch nur wenig Zeit, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, sei es aus Zeitgründen oder aufgrund mangelnder Erfahrung. Sein Freund Žebelev erinnerte sich, dass „es für sie bei der Fülle von Veranstaltungen und der Begeisterung für diese keine Zeit gab, sich mit der ‚Politik‘ zu beschäftigen“. 36 Dies wird auch durch die Aussage eines Augenzeugen indirekt bestätigt. Dieser zählte die beiden Althistoriker, Rostovtzeff und Žebelev, zu den bedeutendsten Wissenschaftlern seiner Generation und bemerkte gleichzeitig, dass er sie während seines Studiums deswegen nicht getroffen hätte, weil die beiden am Leben studentischer Arbeitskreise gar nicht teilgenommen hätten. 37 Zu den positiven Neuerungen des Statuts zählte eine stärkere Einbeziehung praktischer Studien in den universitären Alltag. Von nun an waren Seminare nicht weniger bedeutend als Vorlesungen. Ab dem dritten Jahr standen Pflichtseminare auf dem Stundenplan, und russische Studenten begannen sich zu spezialisieren. Zwischen Rostovtzeffs Immatrikulation an der historisch-philologischen Fakultät der Universität Sankt Petersburg im August 1890 und seiner ersten Auslandsreise hatte der junge Historiker etwa drei Jahre, um sich für ein Forschungsgebiet zu entscheiden. In dieser Zeit war er u. a. vom Kunsthistoriker Nikodim Kondakov 38 beeindruckt, auf den

35 Ebd. 36 Žebelev 1968, 172. 37 Vgl. Aničkov, E.: Ustav 1884-go goda i studenčestvo na pepeputʼi [Das Statut 1884 und die Studentenschaft am Scheideweg], in: Bobrinskij, P. (Hg.): Pamjati russkogo studenčestva konca XIX, načala XX vekov, Paris 1934, 48. 38 Nikodim Pavlovič Kondakov (1844–1925) war ein berühmter russischer Kunsthistoriker und Archäologe. Als Sohn eines Gutsverwalters des Fürsten Trubeckoj studierte er Geschichte und Philosophie an der Universität in Moskau. Danach unterrichtete er russische Philologie, klassische Archäologie und Kunst. Im Jahre 1867 setzte Kondakov seine archäologischen und kunstgeschichtlichen Studien in Museen in Berlin, München und Dresden fort. Von 1870 bis 1888 war er Dozent für Kunstgeschichte an der Universität in Odessa; gleichzeitig unternahm er zahlreiche archäologische Reisen. Seit 1888 war N. Kondakov als Kunstprofessor an der Petersburger Universität und als Kustos der Abteilung für mittelalterliche Geschichte in der Ermitage tätig. 1893 wurde er zum ordentlichen Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Nach der Oktoberrevolution 1917 ging er ins Exil. Seit 1920er Jahren war er an der Universität in Prag tätig. Seine Verbindung zu Rostovtzeff wuchs im Laufe der Zeit über die Beziehung von Lehrer-Schüler hinaus und entwickelte sich zu einer guten Freundschaft, die bis zum Tod Kondakovs andauerte und sich in einem umfangreichen Briefwechsel niederschlug. Vgl. Vernadskij, G.: Russkaja istoriografija [Russische Historiographie], Moskau 1998, 365–372; Rostovtzeff, M.: Nikodim Pavlovič Kondakov (k pjatidesjatiletiju naučnoj dejatelʼnosti) [(zum 50-jährigen Jubiläum wissenschaftlicher Tätigkeit)], in: Reč vom 11.10.1916, 2. Der Briefwechsel zwischen Rostovtzeff und Kondakov aus den Jahren 1919–1925 liefert ein wertvolles Zeugnis für das Leben der emigrierten Wissenschaftler. Die Kopien der 18 Briefe befinden sich im Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften

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Rostovtzeff damals „mit einem etwas mit Angst gemischten Respekt“ 39 hinaufblickte. Im Kondakovs Seminar hielt er eines seiner ersten Referate, welches der Althistoriker 33 Jahre später scherzhaft wie folgt kommentierte: „Ich kann mir vorstellen, was für ein Werk das war!“ 40. Der größte Teil der Studienzeit von Rostovtzeff verlief, nach seiner eigenen Aussage, im Museum der Altertümer der Petersburger Universität, das seit 1887 von Kondakov geleitet wurde. Die praktischen Übungen im Altertumsmuseum wurden der Tradition dieser Zeit folgend im Kondakovs Haus, das Michail Rostovtzeff als „eine echte ‚Freie Akademie‘“ 41 bezeichnete, fortgesetzt. Die wissenschaftlichen Diskussionen zwischen Kondakov und seinen Studenten erstreckten sich bis in die Morgenstunden. Um Kondakov und den „anderen genialen Inspirator“ 42, den Epigraphiker F. F. Sokolov 43, bildete sich ein Arbeitskreis, der unter dem Namen „Faktenverehrer“ bekannt wurde. Rostovtzeff, der zusammen mit Sergej Žebelev 44, Jakov Smirnov 45 und Boris Farmakovskij 46 zu den Faktenverehrern gehört hatte, erklärte die Beharrung der Mitglieder seines Arbeitskreises auf Fakten folgendermaßen: „[…] in den 1880er und 1890er Jahren war dies eine gesunde Reaktion auf verworrene und wenig begründete Verallgemeinerungen, zu welchen russische Menschen so neigen“ 47. Die Faktenverehrer trafen sich freitags um 19 Uhr in der Wohnung Sokolovs und beschäftigten sich mit antiken ‒ überwiegend griechischen ‒ Inschriften, oft bis zur Mitternacht. Diese Treffen übten einen großen Einfluss auf Rostovtzeff als Wissenschaftler aus. Hier knüpfte der junge Historiker erste Bekanntschaften und entdeckte sein Interesse für Archäologie: „Ich bin [kein Faktenverehrer] geworden. Ich habe […] jedoch gelernt zu verstehen, dass eine strenge und präzise Feststellung der Fakten nach ihrer liebevollen Untersu-

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in St. Petersburg, 1054/1/74; die Originale sind im Literaturarchiv des Museums des nationalen Schrifttums in Prag aufbewahrt. Rostovtzeff 1924, 212. Ebd. Ebd., 215. Ebd. Der klassische Philologe Fëdor Sokolov (1841–1909) war Begründer der russischen epigraphischen Schule in Russland. Vgl. Malein, A.: Sokolov, Fëdor Fëdorovič, in: ĖSBE 30a (1900), 736. Sergej Žebelev (1867–1941) war ein russisch-sowjetischer Historiker, der mehr als 300 Arbeiten zu griechischen Inschriften, zum Hellenismus und zur Archäologie und Epigraphik des Schwarzmeerraums verfasst hat. Vgl. dazu ausführlicher Frolov 2006, 263–278; Heinen 1986, 387. Jakov Smirnov (1869–1918) war ein Kunsthistoriker und einer der Lieblingsschüler Kondakovs. Seit 1909 war Smirnov als Hauptkustos der Abteilung des Mittelalters und der Renaissance in Ermitage tätig. 1918 ist er infolge der Spanischen Grippe gestorben. Vgl. Vernadskij 1998, 372ff; Heinen 1986, 387. Der Archäologe und Kunsthistoriker Boris Farmakovskij (1870–1928) verfasste mehrere Arbeiten zur klassischen und byzantinischen Kunst. 1901 wurde er zum Mitglied der Kaiserlichen Archäologischen Kommission ernannt. Seitdem leitete er die Ausgrabungen in Olbia. Vgl. Heinen 1986, 387. Rostovtzeff 1924, 212.

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chung das Wichtigste in der wissenschaftlichen Forschung ist. […] Erstmals begann ich zu spüren, dass man ohne Archäologie in der Altertumsgeschichte nicht viel machen kann. Zu einem echten Archäologen wurde ich nicht, genauso wenig wie zu einem klassischen Philologen. Ich versuchte und versuche jedoch ein Althistoriker zu sein, dessen Verstand sich auf Archäologie und Klassische Philologie stützt.“ 48 Ein anderer Wissenschaftler, der eine wichtige Rolle im Leben des jungen Rostovtzeff spielte, war der Kulturhistoriker Faddej Zelinskij 49, der bereits einige Jahre die klassischen Sprachen an der Petersburger Universität lehrte. Zelinskij erinnerte sich später an seine Lehrtätigkeit in den 1890er Jahren, als „ein gewisser Michail Ivanovič Rostovcev […], der von Kiew hergekommen war und sich sofort an mich anschloss“. 50 Jeden ungeraden Donnerstagabend trafen sich in der Wohnung Zelinskijs die von ihm geförderten Nachwuchswissenschaftler und die Professoren der historisch-philologischen Fakultät. 51 Wie im Falle von Kondakov entwickelte sich die Beziehung zwischen Zelinskij und Rostovtzeff im Laufe der Zeit zu einer engen, auf gegenseitiger Anerkennung beruhenden Freundschaft. Die beiden Mentoren Rostovtzeffs, Kondakov und Zelinskij, motivierten den jungen Historiker, das von der philologisch-historischen Fakultät vorgeschlagene Thema zur römischen Geschichte zu übernehmen. 1892 präsentierte Rostovtzeff den Aufsatz „Korrigieren und Ergänzen der städtischen pompejanischen Chronik von Nissen durch die neuesten Untersuchungen und Ausgrabungen“. 52 Das wissenschaftliche Debüt des Althistorikers wurde mit der Goldenen Medaille des Professorenrats der Petersburger Universität ausgezeichnet und als Studienabschlussarbeit anerkannt. Bald darauf absolvierte er die Abschlussprüfungen und bekam das Diplom der 1. Klasse. 48 Ebd., 213; Žebelev 1968, 170. 49 Faddej Zelinskij (Tadeusz Zielinski; 1859–1944) war ein bekannter polnisch-russischer Kulturhistoriker und klassischer Philologe. Er promovierte 1887 mit seiner Dissertation „Die Gliederung der altattischen Komödie“ an der Universität Dorpat. Drei Jahre später wurde er zum ordentlichen Professor für Klassische Philologie an der Petersburger Universität ernannt; er lehrte außerdem an den Höheren Frauenkursen. 1922 wechselte er an die Universität Warschau, wo er bis November 1939 die klassischen Sprachen lehrte. Vgl. Rostovtzeff, M.: Faddej Francevič Zelinskij (K tridcatiletiju ego akademičeskoj dejatelnosti) [(Zu seiner 30-jährigen akademischen Tätigkeit)], in: Reč vom 24.1.1914, 3; ders.: F.F. Zelinskij, in: Germes [Hermes] 3 (1914), 81–83 und in: MĖSBE 18 (1914), 900–902. Ausführlicher siehe dazu Däumling, H.: Thaddäus Zielinski, in: Gnomon 21 (1949), 373ff; Rehm A.: Thaddaus Zielinski. Nekrolog, in: Jahrbuch der bayerischen Akademie der Wissenschaften 1944–1948, München 1948, 155–157; Nikitskij, O./ Rossius, A.: F.F. Zelinskij i problemy kulturologii [F.F. Zelinskij und Probleme der Kultorologie], in: Isaeva V. (Hg.): Istorija evrpopejskoj civilizacii v russkoj nauke. Antičnoe nasledie, Moskau 1991, 126–145; Pait, M.: Zielinski, Tadeusz, in: DNP Suppl. 6 (2012), 1351–1353. 50 Axer, J./ Gavrilov, A./ Albrecht von, M. (Hg.): Thaddäus Zielinski. Mein Lebenslauf-Erstausgabe des deutschen Originals- und Tagebuch 1939–1944, Frankfurt am Main 2012, 109. 51 Vgl. Varneke, B.: Starye filologi [Die alten Philologen], in: VDI 1 (2014), 145. 52 Rostovtzeff, M.: Ispravitʼ i dopolnitʼ gorodskuju pompejanskuju chroniku Nissena po novejšim issledovanijam i raskopkam [Korrigieren und Ergänzen der städtischen pompejanischen Chronik von Nissen durch die neuesten Untersuchungen und Ausgrabungen], St. Petersburg 1892, in: RGIA 14/1/9204; Nissen, H.: Pompeianische Studien zur Städtekunde des Altertums, Leipzig 1877.

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1.1.3.2 Vorbereitung auf die Universitätskarriere Derjenige, der sich für eine Universitätskarriere entschied, musste auf dem Weg zur Professur den Magister- und Doktorgrad erlangen. Zunächst sollten die Magisterprüfungen absolviert werden. Für die Vorbereitung hatte man zwei bis drei Jahre zur Verfügung. Man versuchte ein Stipendium zu bekommen, was nicht einfach war. Die Chancen, eine finanzielle Unterstützung des Staates zu erhalten, hingen in erster Linie vom wissenschaftlichen Potenzial des Kandidaten ab. Auch persönliche Beziehungen sowie politische Zuverlässigkeit hatten dabei eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Rostovtzeff wurde zunächst vom Freund seines Vaters Ivan Pomjalovskij, der zwischen 1887 und 1890 als Dekan der historisch-philologischen Fakultät an der Petersburger Universität tätig war, unterstützt. In den zwei Studienjahren von 1890 bis 1892 erhielt er außerdem die Förderung von Kondakov und Zelinskij. Aber einen echten Durchbruch erlebte der junge Althistoriker erst während seiner Studienreisen zwischen 1893 und 1898. Im Ausland baute er sich ein bemerkenswertes Netzwerk an persönlichen Beziehungen auf, das schließlich eine entscheidende Rolle für seine wissenschaftliche Karriere in seinem Heimatland spielte. Die Ziele seiner Auslandsaufenthalte, die ausführlich im nächsten Kapitel behandelt werden, standen 1892 jedoch noch nicht fest. Sein Wunsch, die antiken Stätten des Mittelmeeres zu besuchen, hätten damals an finanziellen Fragen scheitern können. Denn die Ausgaben für Stipendien wurden im Zarenreich kontinuierlich gekürzt. 53 Rostovtzeffs Vater suchte nach Möglichkeiten, die gewünschte Studienreise seinem Sohn zu ermöglichen, und wandte sich an I. Pomjalovskij mit einer Bitte: „Gnädiger Herr Ivan Vasilʼevič! Mein Sohn, der gerade das Studium an der Petersburger Universität abgeschlossen hat, hat die Neigung zur Gelehrsamkeit. Ich bin sehr glücklich, dass er sich den Wissenschaften widmen will, mit denen ich mich fast mein ganzes Leben beschäftigt hatte. Seien Sie so freundlich, ihn in seinem Bestreben zu unterstützen, indem er an der Universität zur Vorbereitung auf eine Professur zugelassen wird und, wenn möglich, ein Stipendium bekommt. Um das letzte bitte ich deswegen, weil vier meiner Kinder, die außer Haus erzogen werden, beachtliche Unterstützung für ihren Unterhalt brauchen; dazu kommt noch ein Subjekt, dem diese Möglichkeit entzogen wird, falls mein Sohn kein Stipendium kriegt, weil meine Mittel für all dies nicht ausreichend sind. Wenn fast alle Kinder verdienstvoller Personen in anderen Ämtern auf Staatskosten erzogen werden, scheint es nicht zu Unrecht zu

53 Die Ausgaben für Stipendien an den russischen Universitäten sanken von 62 Rubel pro Hörer pro Jahr 1880 auf 23 Rubel 30 Kopeken 1891. 1896 erhielten 63 aus den insgesamt 93 Nachwuchswissenschaftlern in Russland ein Stipendium; 1902 bekam weniger als die Hälfte der 218 Doktoranden eine finanzielle Unterstützung des Staates. Vgl. Miljukov 1902, 799; Ivanov 1994, 96.

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sein, das Stipendium einem meiner Söhne zu verleihen, und zwar nur für zwei Jahre bis er den Kurs an der Universität abschließt. Mit vorzüglichster Hochachtung verbleibe Ihr ergebener Diener I. Rostovtzeff“ 54 Die Entscheidung darüber, ob ein Nachwuchswissenschaftler an der Universität ‒ mit oder ohne Stipendium ‒ bleiben durfte, wurde in einem zeitaufwendigen Prozedere getroffen: Die von einem Professor vorgeschlagene Kandidatur musste zunächst durch eine interne Abstimmung der Fakultätsmitglieder und schließlich vom zuständigen Lehrbezirkskurator bestätigt werden. Fast ein halbes Jahr musste Rostovtzeff auf diese Entscheidung warten. Im Dezember 1892 wurde sein Status als Nachwuchswissenschaftler offiziell bestätigt, jedoch ohne ein Stipendium. 55 Vorsorglich bewarb sich Rostovtzeff im August für eine Stelle im Kaiserlichen Nikolaus-Gymnasium in Zarskoje Selo, in dem er vom September 1892 bis 1895 mit einer Unterbrechung für seine erste Studienreise im Frühjahr–Herbst 1893 als Lehrer der alten Sprachen tätig war. Dank persönlicher Ersparnisse und elterlicher Unterstützung kam Rostovtzeffs erster Aufenthalt in Rom und Pompeji zustande, wo er die ersten Bekanntschaften mit internationalen Gelehrten machte. Nach seiner Rückkehr unterrichtete Rostovtzeff im Gymnasium weiter und bereitete sich auf Magisterprüfungen vor. Ab dem 1. Januar 1894 erhielt er außerdem das gewünschte Stipendium (50 Rubel/Monat) 56 und konnte innerhalb des Jahres die Magisterprüfungen erfolgreich bestehen. Im gleichen Jahr erschien seine erste Publikation, der Aufsatz über Pompeji. 57 Nun stand das Schreiben der Magisterarbeit bevor. Das Material für die Magisterarbeit sollte im Ausland gesammelt werden. Dafür beantragte Rostovtzeff eine Forschungsreise, die von der Fakultät schließlich genehmigt wurde. Rostovtzeffs finanzielle Situation sah vor dem Reiseantritt dank der regulären Auszahlungen der Fakultät sowie dem eigenen Einkommen aus der Lehr- und Übersetzungstätigkeit 58 besser als noch vor zwei Jahren aus. Und obwohl er während seines zwei-

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Vgl. Brief I. Rostovtzeffs an Pomjalovskij vom 2.8.1892, in: OR RNB 608/1/1208. Vgl. Bongard-Levin 1997, 54f. Vgl. ebd., 55. Vgl. Rostovtzeff, M.: O novejšich raskopkach v Pompejach [Über die neuesten Ausgrabungen in Pompeji], in: ŽMNP 5 (1894), 45–101 bzw. St. Petersburg 1894. 58 gemeint ist die kommentierte Übersetzung Rostovtzeffs vom Caesars Werk über den Gallischen Krieg, die zunächst 1895 erschien und dann mehrmals neu aufgelegt wurde. Vgl. Rostovtzeff, M. (Hg.): Caesar Gaius Iulius. Zapiski o Gallʼskoj vojne v izbrannych otryvkach (vojny v Gallii, Germanii i Britanii). Perevod so slovarem, vvodnymi statʼjami, primečanijami, risunkami, realʼnym ukazatelem, 2-mja planami I kartoj Gallii [Notizen zum Gallischen Krieg in ausgewählten Fragmenten (Kriege in Gallien, Germanien, Britannien). Die Übersetzung mit dem Wörterbuch, mit einführenden Artikeln, Anmerkungen, Bildern, Register, zwei Plänen und einer Karte Galliens]. Teil I:

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ten Auslandsaufenthalts hin und wieder finanzielle Schwierigkeiten hatte, versuchte der Althistoriker sie selbständig zu bewältigen, was einer seiner Briefe aus dieser Zeit bezeugt: „Abgesehen davon, dass mein Vater mir kaum aus seinen Mitteln, die zwischen meinen weniger bemittelten Brüdern und Schwestern aufgeteilt werden, etwas geben würde, wäre es für mich, wenn nicht erniedrigend, doch unangenehm, mit meinen 25 Jahren noch auf sie [Vaters Mittel] oder auf irgendjemand anderen zu hoffen.“ 59 Die für ein Jahr geplante Reise streckte sich schließlich auf einen Zeitraum von über drei Jahren aus. Deren Ergebnisse kann man für den weiteren Karriereverlauf Rostovtzeffs nur als besonders wichtig bewerten. Er bereiste die wichtigsten historischen Ausgrabungsstätten und Forschungseinrichtungen Westeuropas und baute seinen Bekanntenkreis in der westeuropäischen Wissenschaftswelt auf. Zwischen 1895 und 1898 arbeitete Rostovtzeff sehr hart. Das letzte halbe Jahr seiner Reise nutzte der Wissenschaftler für die Fertigstellung des Manuskripts seiner Magisterarbeit über die Geschichte der Staatspacht in der römischen Kaiserzeit, das er im April 1898 zur Publikation einreichte. 60 Als er im Frühjahr nach Russland zurückgekehrt war, umfasste seine Publikationsliste bereits mehr als 20 Arbeiten in russischer, deutscher, französischer und italienischer Sprache in renommierten europäischen Fachzeitschriften. Nach der Rückkehr erhielt Rostovtzeff dank der Unterstützung von Zelinskij den Lehrstuhl für römische Geschichte an den Höheren Frauenkursen. Das restliche Jahr 1898 nutzte er, um sich auf die obligatorischen Probevorlesungen und die Disputation vorzubereiten. Insgesamt mussten zwei solche Probevorlesungen ‒ eine zum von der Fakultät vorgeschlagenen Thema und eine zu einem Wahlthema ‒ gehalten werden. In Rostovtzeffs erster Vorlesung sollten die Plinius-Briefe gelesen und kommentiert werden. Er selbst suchte sich für die zweite Probeveranstaltung die Werke von Tacitus aus und untersuchte deren Bedeutung als historische Quellen. Am 20. Januar 1899 hielt Rostovtzeff erfolgreich seine ersten Vorlesungen; infolgedessen wurde er zum Privatdozenten ernannt und durfte nun an der Universität lehren. Am 26. Januar wurde auf der Ratssitzung der Petersburger Universität beschlossen, den Privatdozenten Rostovtzeff mit der Pflichtveranstaltung „Lektüren römischer Autoren und Leitung der Übungen in lateinischer Sprache“ mit einer jährlichen Vergütung von 600 Rubel zu beauftragen. 61 Text; Teil II: Kommentare, St. Petersburg 1895/Kiew-Charʼkov 1896. Vgl. auch Bibliographie in Bongard-Levin 1997, 201–208. 59 Brief M. Rostovtzeffs an B. Farmakovskij vom 22.1.1896, in: OR RNB 608/1/107. 60 Vgl. Rostovtzeff, M.: Istorija gosudarstvennogo otkupa v Rimskoj imperii (ot Avgusta do Diokletiana) [Geschichte der Staatspacht in der römischen Kaiserzeit (von Augustus bis Diokletian)], St. Petersburg 1899. 61 Vgl. Žurnal Zasedanija Soveta Imperatorskogo S.-Peterburgskogo universiteta za 1899 [Protokollbuch der Ratssitzung der Kaiserlichen St. Petersburger Universität] von 1899, 3, unter: http://histo-

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Vier Monate später verteidigte er seine Dissertation „Geschichte der Staatspacht in der römischen Kaiserzeit (von Augustus bis Diokletian)“ und erhielt den Titel des Magisters der römischen Philologie. 62 In der Besprechung Rostovtzeffs Magisterarbeit schrieb Zelinskij, dass dieser „direkt zu seinem Ziel schreitet, ohne auf dem Weg stehen zu bleiben und zur Seite zu gehen“ 63. Dies bezeichnete nicht nur Rostovtzeffs althistorische Arbeiten, sondern auch sein Voranschreiten auf der wissenschaftlichen Karriereleiter. Rostovtzeffs wissenschaftliche Erfolge Ende des 19. Jahrhunderts sowohl innerhalb als auch außerhalb seiner Heimat verdeutlichen zwei Ereignisse: Anfang Dezember 1898 wurde er zum korrespondierenden Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts ernannt; 1899 wurde der Werdegang des 29-jährigen „Schriftstellers, Privatdozenten der St. Petersburger Universität und Lehrers an den Höheren Frauenkursen“ 64 außerdem in das russische Lexikon Brockhaus-Efron aufgenommen. Somit wurde Michail Rostovtzeff um die Jahrhundertwende zu einem anerkannten Vertreter der russischen Althistorie. Seine Karriere entwickelte sich rasch, was nicht nur seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, sondern auch seinen persönlichen Eigenschaften zu verdanken war. Rostovtzeffs Erfolg blieb in wissenschaftlichen Kreisen Russlands nicht unbemerkt, was aus verschiedenen Briefen von 1899 hervorgeht. So schrieb B. Farmakovskij über den neuen Privatdozenten Folgendes: „Er ist zurzeit in vollem Glanz: Er verteidigte gerade seine Dissertation. Er lernte sofort alle kennen […]. Rostovtzeff hat sich gut in Sankt Petersburg eingelebt. Man kann auf seine Geschicklichkeit und Findigkeit neidisch sein; aber er hat ohne Zweifel recht viele positive Eigenschaften: Er ist ein kluger und kundiger Mensch.“ 65 Es gab auch andere Äußerungen, wie die von Žebelev, der schrieb: „Rostovtzeff steckt jetzt seine Nase überall hinein und wird vermutlich noch mehr erreichen. Heutzutage sind solche geschickte Menschen in Mode. Er hatte schon Erfolg, unterrichtet allgemeine und spezielle Kurse; dabei stellt er sich wie ein großer Stutzer dar.“ 66

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ry.museums.spbu.ru/pechatnyj/serii/protokoly2.html?resetfilters=0&clearordering=0&clearfilte rs=0 (letzter Abruf am 1.6.2015). F. Sokolov und F. Zelinskij waren die offiziellen Opponenten bei der Verteidigung der Magisterarbeit von M. Rostovtzeff. Vgl. Bongard-Levin 1997, 57f. Zelinskij, F.: Iz ėkonomičeskoj žizni drevnego Rima (po povodu knig I.M. Grevsa i M.I Rostovceva „Istorija gosudarstvennogo otkupa v Rimskoj imperii“) [Aus dem Wirtschaftsleben des antiken Rom (Anlässlich der Bücher von I.M. Grevs und M.I. Rostovtzeff „Geschichte der Staatspacht in der römschen Kaiserzeit“)], in: Vestnik Evropy 8 (1900), 592. Michail Ivanovič Rostovtzeff, in: ĖSBE 53 (1899), 132. Brief B. Farmakovskijs an seine Eltern vom 4.6.1899 (auf Russisch), in: Bongard-Levin 1997, 58. Brief S. Žebelevs an D. Ajnalov vom 20.10.1899 (auf Russisch), in: Ebd.

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Rostovtzeff begann seine wissenschaftliche Laufbahn in der Zeit, als über den Karriereerfolg eines Gelehrten neben persönlichen Fähigkeiten und Bekanntschaften auch sein politischer Standpunkt entschied. Wenige Wochen nachdem der Althistoriker zum Privatdozenten ernannt worden war, brachen Anfang Februar 1899 die studentischen Unruhen an der hauptstädtischen Universität aus, die schließlich das gesamte Zarenreich umfassten. Am 8. Februar fanden die traditionellen Feierlichkeiten zum 80-jährigen Bestehen der Petersburger Universität statt. Der friedliche Zug der Stundeten durch die Stadtmitte wurde von Polizisten gestoppt. Viele Studenten wurden verhaftet, einige geschlagen. Dies wurde zum Anlass des allrussischen Studentenstreiks, an dem mehr als 25.000 Studenten russlandweit beteiligt waren. 67 Infolge der Unruhen mussten die Veranstaltungen an der Universität St. Petersburg für fast einen Monat unterbrochen werden. Aus diesem Grund wurden nicht nur zahlreiche Studenten landesweit verhaftet und vom Studium ausgeschlossen, sondern einige Dozenten, die als oppositionell galten oder der Sympathien mit den Aufständischen verdächtigt wurden, von ihren Posten entfernt. In der historisch-philologischen Fakultät der Petersburger Universität traf dies den Privatdozenten I. Grevs und den Professor N. Kareev. 68 Interessant ist, dass Ivan Grevs ‒ genauso wie Rostovtzeff ‒ die sozial-wirtschaftlichen Fragen der Antike erforschte und seine Magisterarbeit 1899 verteidigte. 69 Grevs, der bereits seit 1890 an der Universität und seit 1892 an den Höheren Frauenkursen lehrte, wurde nach den Studentenunruhen 1899 auf Anordnung des Bildungsministers gekündigt und erst 1902 an beiden Lehranstalten wiederaufgenommen. Rostovtzeff hat sich nach Auffassung von Bongrad-Levin zusammen mit Grevs und Kareev in den ersten Tagen des studentischen Streiks geweigert, Vorlesungen zu halten. Die Gründe dafür haben sie in speziellen Briefen dargelegt. 70 Im Fall Rostovtzeffs führte 67 Vgl. Avrus, A.: Istorija rossijskich universitetov [Geschichte der russischen Universitäten], Moskau 2001, 84. 68 Vgl. Beljaeva, O.: Ė.D. Grimm v peterburgskom universitete [in der Petersburger Universität], in: Dialog so vremenem 36 (2001), 202; Kareev, N.: Prožitoe i perežitoe [Erlebte und Durchelebte], Leningrad 1990, 201–209; Kassow, S.: Students, Professors and the State in Tsarist Russia, Berkeley/ Los Angeles 1989, 90–119. 69 In seiner Magisterdissertation setzte sich Ivan Grevs (1860–1941) mit dem Grundbesitz im antiken Rom auseinander. Der erste Band seiner „Beträge zur Geschichte des römischen Grundbesitzes (vorwiegend) in der Zeit des Imperiums“ wurde 1899 veröffentlicht. Nachdem O. Hirschfeld 1902 seinen Aufsatz über den Grundbesitz der römischen Kaiser publiziert hatte, entschied sich Grevs seine Untersuchungen zu diesem Thema nicht fortzusetzen, wandte sich von der Antike ab und begann sich auf die mittelalterlche Geschichte zu spezialisieren. 1902 erhielt er die Professur für Mittelalterliche Geschichte; er war außerdem lange Zeit der Dekan an den höheren Frauenkursen. Vgl. Grevs, I.: Očerki iz istorii rimskogo zemlevladenija (preimuščestvenno vo vremja imperii), Bd. 1, St. Petersburg 1899; Hirschfeld, O.: Der Grundbesitz der römischen Kaiser, in: Klio 1 (1902), 45–72, 284–315; Frolov, Ė.: Russkaja nauka ob antičnosti. Istoriografičeskie očerki [Russische Wissenschaft über die Antike. Historiographische Beiträge], St. Petersburg 2006, 379–391. 70 Vgl. Bongard-Levin, G. (Hg.): Istorija i poėzija. Perepiska I.M. Grevsa i Vjač. Ivanova [Geschichte und Poesie. Briefwechsel zwischen I.M. Grevs und V. Ivanov], Moskau 2006, 240.

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die Einstellung des neuen Dozenten zu diesem politischen Ereignis jedoch nicht zu seiner Entlassung. Welche Auswirkung jegliche Teilnahme am politischen Geschehen auf die wissenschaftliche Karriere hatte, konnte Rostovtzeff am Beispiel von Grevs und Kareev lernen. Dies musste ihn, der erst vor kurzem die Lehrstelle bekommen hatte, wenn nicht abschrecken, doch zur Vorsicht bewegen. Ohne eine gewisse Loyalität gegenüber dem Staat war es nicht einfach, eine Karriere im zaristischen Russland aufzubauen. Daher musste eine Balance zwischen den Anforderungen des autokratischen Regimes und den Ansprüchen nach zeitgemäßer Modernisierung gefunden werden. 1.1.3.3 Die Privatdozentur (1899–1902) In der Zeit seiner Privatdozentur (1899–1902) erlebte Rostovtzeff große Veränderungen sowohl im wissenschaftlichen als auch im privaten Leben. Rostovtzeffs Lehr- und Wissenschaftsstätigkeit sowie seine Veröffentlichungen sind in jährlichen Berichten der St. Petersburger Universität penibel dokumentiert. Dazu gehörten u. a. die Lektüre und Interpretation von „Metamorphosen“ des Apuleius, Einführung in die Papyrologie und Untersuchung der Papyri zum Ehe- und Familienrecht sowie des Monumentum Ancyranum mit Studierenden. Zu diesem Zeitpunkt war der Althistoriker bereits ein Mitglied der Archäologischen, Philologischen und Palästinensischen Gesellschaft. Er hielt öffentliche Vorlesungen zugunsten der Frauenkurse und erhielt 1901 zusammen mit M. Prou die Prämie der Pariser Akademie der Wissenschaft für die Herausgabe des „Catalogue des plombs de lʼantiquité“. 71 Dem Privatdozenten Rostovtzeff gelang es, innerhalb kurzer Zeit sich in verschiedenen Bereichen zu behaupten. Er erlangte ebenso eine Bekanntheit als Publizist. Seit 1900 wurde er zum Autor des russischen Brockhaus-Efron-Wörterbuchs sowie der deutschen Pauly-Wissowa-Realenzyklopädie. 72 Er verfasste sowohl spezielle althistorische Untersuchungen und zahlreiche Rezensionen für einheimische und westeuropäische Fachzeitschriften als auch wissenschaftliche Beiträge für populäre Zeitschriften. So wurde 1900 in der Moskauer liberalen „Russkaja Myslʼ“ [„Russischer Gedanke“] der Aufsatz „Kapitalismus und Volkswirtschaft in der antiken Welt“, den Rostovtzeff 71 Vgl. Rostovtsew, M./Prou, M. (Hg.): Catalogue des plombs de lʼantiquité, Paris 1900; Berichte der St. Petersburger Universität 1900–1902 (auf Russisch), in: Rostovcev, E.: Istorija Sankt-Peterburgskogo universiteta v virtualʼnom prostranstve [Geschichte der St. Petersburger Universität im virtuellen Raum], unter: http://history.museums.spbu.ru/pechatnyj/serii/otchety-godichnye-aktysankt-peterburgskogo-uni-versiteta.html (letzter Abruf am 10.5.2016). 72 Zwischen 1900–1902 erschienen im enzyklopädischen Wörterbuch Brockhaus-Efron folgende Beiträge von M. Rostovtzeff: Senat rimskij [Der römische Senat] (1900, Bd. 58, 506–509), Fisk [Fiskus] (1902, Bd. 71, 42–45), Forum (Ebd., 333–339), Frumentacii i frumentacionnyj zakon [Frumentarien und frumentarische Gesetzgebung] (1902, Bd. 72, 826–828); in der Realenzyklopädie (PaulyWissowa): Commeatus (1901, Bd. 4, 718–722), Congiarium (Ebd., 875–880), Crystallinis (Ebd., 1733f.), Cubiculo cubicularis (Ebd., 1734–1737).

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bereits im Februar 1899 geschrieben hatte, veröffentlicht. 73 Diese Arbeit bietet einen Überblick über die Wirtschaftsgeschichte der Antike. Dabei präsentiert der Autor eine modernistische Sicht der antiken Wirtschaft und stellt fest, dass die antike Welt für seine Zeit einen Spiegel darstelle, in dem man die wichtigsten Grundzüge der Gegenwart in besonders ausgeprägter Form sehen könnte. 74 Rostovtzeffs markante Charakterisierung des Wirtschaftslebens in Ägypten mit seiner „Mittelklasse, der wohlhabenden Bourgeoise, dem Kapitalismus, dem Börsenspiel und Spekulationen“ 75 in der Zeit der Republik sowie des „größten Kapitalisten des Römischen Imperiums, des Princeps“ 76, konnten weder in Kreisen der Fachleute noch unter Intellektuellen Russlands unbemerkbar bleiben. Die im Gedächtnis haftenden Überschriften sowie scharfen Formulierungen nutzte der junge Althistoriker, um seinen wissenschaftlichen Standpunkt zu verteidigen. Gleichzeitig trug dies zu seiner Bekanntheit in den gebildeten Schichten bei. Dies trifft auch auf die Publikation Rostovtzeffs öffentlichen Vortrages „Die Märtyrer der griechischen Kultur im I.–II. Jh. vor Chr.“ 77 zu, der 1901 in der Petersburger populärwissenschaftlichen Zeitschrift „Mir Božij“ [„Welt Gottes „] erschien. Er führte in das Thema wie folgt ein: „In diesem Beitrag werde ich über einige kulturell-historische und politische Erscheinungen der fernen Vergangenheit, über die revolutionären Bewegungen sprechen, welche im großen kulturellen Zentrum der griechischen Welt, Alexandria, anfingen, gegen Rom allgemein und speziell gegen die kaiserliche Macht gerichtet waren und die ganze griechische Welt erfassten; aus diesen [revolutionären Bewegungen] kam eine ganze Reihe politischer Märtyrer, die vielleicht interessanter und ausgeprägter waren, als die römischen Aristokraten, welche der neuen Form des römischen Staatswesens, der kaiserlichen Macht, zum Opfer gefallen sind. Das alles scheint von der Gegenwart mit ihrem Bestreben, ihren Aufgaben und Qualen sehr weit entfernt zu sein. Aber das scheint nur so: In 18 Jahrhunderten änderte sich der Geist der kulturellen und antikulturellen Kräfte nicht, gleich blieben im Grunde auch die Formen seiner Erscheinung.“ 78 In Beiträgen des Althistorikers waren die neuesten Entdeckungen und Untersuchungen im Bereich der Archäologie und der Alten Geschichte und die aktuellen Themen, die die russische Gesellschaft beschäftigten, gekonnt ineinander verflochten. Das zeigt, dass der 30-jährige Wissenschaftler sich um die Aufmerksamkeit der Zuhörer bzw. Leser be73 Vgl. Rostovtzeff, M.: Kapitalizm i narodnoe chozjajstvo v drevnem mire [Kapitalismus und Volkswirtschaft in der antiken Welt], in: Russkaja myslʼ 3 (1900), 195–217. 74 Vgl. ebd., 197. 75 Ebd., 203, 211f. 76 Ebd., 216. 77 Vgl. Rostovtzeff, M.: Mučeniki grečeskoj kulʼtury v I.–II. vv. do R. Chr. (Publičnaja lekcija) [Die Märtyrer der griechischen Kultur im I.–II. Jh. vor Chr.] (öffentlicher Vortrag), in: Mir Božij 5 (1901), 1–22. 78 Ebd., 1.

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mühte. Er versuchte sein Forschungsgebiet für ein breiteres Publikum verständlich und spannend zu machen. Rostovtzeffs Beziehungen zu seinen Kollegen an der historisch-philologischen Fakultät entwickelten sich widersprüchlich. Denn seine wissenschaftlichen Erfolge und seine Art, Ziele zu erreichen, lösten unterschiedliche Reaktionen aus. Zu den engsten Freunden von Rostovtzeff zählte seit dieser Zeit Sergej Žebelev. Sie haben in gleichen Jahren ihre Magister- und Doktorarbeiten verteidigt. Žebelev als der gebürtige Petersburger war vier Jahre älter als Rostovtzeff und dem Talent des aus Kiew stammenden Gelehrten unterlegen. 79 Außerdem musste Žebelev, der früh seinen Vater verloren hatte, für den Unterhalt seiner Familie viel arbeiten und auf vieles ‒ wie z. B. eine Studienreise ins Ausland ‒ verzichten. Daher ist nicht verwunderlich, dass er sich nicht immer über Rostovtzeffs Erfolge freuen konnte. 80 Demgegenüber behandelte Rostovtzeff ihn ‒ zumindest in seinen Briefen ‒ bereits Ende 1890er Jahre als seinen besten Freund, als „caro Sergio“ 81. Er schickte Žebelev zahlreiche Briefe von seinen Reisen, in denen er über seine Forschungen und Begegnungen mit Wissenschaftlern berichtete oder um das Zuschicken eines Buches bat. Aus diesen Briefen geht auch hervor, dass Rostovtzeff sich lebhaft für die inneruniversitären Angelegenheiten interessierte. So schickte er Žebelev Anfang Juni 1900 einen Brief aus London, in dem es u. a. hieß: „[…] Es ist eine Sünde von dir, dass du mir keinen ausführlichen Brief schreibst. Mich interessiert die Spaltung in der Kommission 82 sehr, und zwar nicht die Tatsache selbst, die mir eigentlich gleichgültig ist, sondern vielmehr ihre Ursachen, über die mich keiner informiert hat. Natürlich hast du mir nichts über die Disputationen von Grevs und Grimm 83 geschrieben, du weißt aber ganz genau, dass das alles für mich sehr interessant ist. […]“ 84 Rostotzeffs Interesse an I. Grevs und Ė. Grimm war in ihren wissenschaftlichen Schwerpunkt begründet. Die beiden Historiker legten ihre Magisterarbeiten zu althistorischen Themen 1899 vor. Ivan Grevs erforschte in seiner Magisterschrift den römischen Großgrundbesitz. Rostovtzeff veröffentlichte im gleichen Jahr seine Rezension zu dieser Ar-

79 Vgl. Frolov 2006, 297. 80 Vgl. Anm 151. 81 So fangen viele Briefe Rostovtzeffs an S. Žebelev an, z. B. vom 27.4.1900 aus Breslau. Vgl. BongardLevin 1997, 396. 82 Es handelte sich um einen Führungswechsel in der Russischen Archäologischen Kommission. Vgl. ebd., 397. 83 Die Disputation zur Erlangung des Magistergrades von I. Grevs fand am 21.5.1900 und von Ė. Grimm am 29.5.1900 statt. Vgl. kurze Berichte über die beiden Disputationen in: Istoričeskij Vestnik 81 (1900), 347–351. 84 Brief M. Rostovtzeffs an S. Žebelev vom 5.6.1900, in: Bongard-Levin 1997, 397.

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beit. 85 Abgesehen von den grundlegenden Unterschieden in den theoretischen Grundlagen, auf welche sich Rostovtzeffs und Grevsʼ historische Konstruktionen stützten, erkannte Rostovtzeff Grevs Buch als „eines der herausragendsten Werke unserer historischen Literatur“ 86. Anders war Rostovtzeffs Reaktion auf die Untersuchungen von Ė. Grimm, der nur 22 Monate später seine Doktordissertation verteidigte. Sie stellte die Fortsetzung seiner Magisterarbeit über die kaiserliche Herrschaft in Rom dar und erschien unter dem gleichen Titel als der zweite Band. 87 Rostovtzeff verfasste das Gutachten zu dieser Arbeit, was zu einem Zwischenfall führte. Am 16. März sollte auf der Sitzung der historisch-philologischen Fakultät über die Zulassung der Doktorarbeit von Grimm für die Disputation entschieden werden. Rostovtzeffs scharfe Kritik stach im Vergleich mit den positiven Bewertungen des Professors F. Sokolov und des anderen Privat-Dozenten I. Cholodnjak hervor. 88 Die Rezension Rostovtzeffs wurde kurz darauf zusammen mit der Antwort von Grimm in der Zeitschrift des Ministeriums für die Volksbildung veröffentlicht. 89 Rostovtzeff begutachtete Grimms Untersuchung der Entwicklung der kaiserlichen Herrschaft in Rom Kapitel für Kapitel und fand die Darstellung oberflächlich. Er kritisierte nicht nur Grimms wissenschaftliche Herangehensweise, sondern allgemein seine „nachlässige Haltung gegenüber den Quellen und der neuesten Forschung“ 90, und bot seine Sicht dieser Frage an. Wenn auch Rostovtzeff nicht die allzu schnelle Abfassung der Doktorarbeit als den Grund für Grimms Nachlässigkeiten nannte, wird dies aus seinem Fazit zu dieser Schrift deutlich: „Das alles ist deswegen passiert, weil der Autor nicht selbständig Material gesammelt hat, sondern sich mit der Nacherzählung einiger Schriftsteller und einer kleinen Zahl der modernen wissenschaftlichen Untersuchungen begnügte. Die Inschriften, weil sie in den ihm bekannten modernen Schriften nicht untersucht sind, werden aus seinem Quellenmaterial ausgeschlossen; er berührt weder Papyri noch Münzen. Bei einer solchen Einstellung verwundert die arrogante und scharfe 85 Vgl. Rostovtzeff, M.: Rezension zum Buch I. Grevs „Očerki iz istorii rimskogo zemlevladenija (preimuščestvenno vo vrenja imperii)“ [Grundrisse der Geschichte des römischen Grundbesitzes (haupsächlich in der Zeit des Imperiums)], St. Peterburg 1899, in: Mir Božij 4 (1900), 95–99. 86 Ebd., 95. 87 Vgl. Grimm, Ė: Issledovanija po istorii razvitija rimskoj imperatorskoj vlasti [Untersuchungen zur Geschichte der kaiserlichen Herrschaft], Bd. 1 (Rimskaja imperatorskaja vlastʼ ot Avgusta do Nerona) [Römische kaiserliche Herrschaft von Augustus bis Nero], St. Petersburg 1900; Bd. 2 (Rimskaja imperatorskaja vlastʼ ot Galʼby do Marka Avreija) [Römische kaiserliche Herrschaft von Galba bis Mark Aurel], St. Petersburg 1901. 88 Vgl. Beljaeva 2001, 211. 89 Rostovtzeff, M.: (Rezension) Grimm, Ė: Issledovanija po istorii razvitija rimskoj imperatorskoj vlasti], Bd. 2 (Rimskaja imperatorskaja vlastʼ ot Galʼby do Marka Avreija), St. Petersburg 1901, in: ŽMNP 5 (1902), 148–172; Grimm, Ė.: Die Antwort an Herrn Rostovtzeff, in: Ebd., 172–209. 90 Vgl. Rostovtzeff 1901, 165.

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Haltung zu einigen wissenschaftlichen Arbeiten, die dem Autor bekannt sind. Die Fragen, die der Autor untersucht, sind dermaßen schwer und umfangreich, dermaßen mit dem Leben des römischen Staates verbunden, dass sie unvermeidbar eine lange und hartnäckige Erhebung und Bearbeitung des Materials verlangen, und nicht nur in einem speziellen Bereich; sie werden durch eine Reihe spezieller Untersuchungen und Arbeiten vorbereitet, kurzum, sie krönen und beginnen nicht das wissenschaftliche Leben eines Forschers.“ 91 Rostovtzeffs Rezension war so vernichtend, dass es Grimm nichts anderes blieb, als eine Antwort darauf zu verfassen. Grimm versuchte auf alle von Rostovtzeff bemängelten Punkte einzugehen. Er betonte, dass dieser die Ziele seiner Untersuchung falsch verstanden hätte: „Die Rezension des Herrn Rostovtzeff sollte einen äußerst schweren Eindruck bei jedem Leser, der mein Buch nicht kennt, erwecken. Herr Rostovtzeff zeigt mir so eine erschreckende Zahl an Lücken, Fehlern und meine Unaufmerksamkeit, dass deren Gesamtheit tatsächlich eine Vorstellung von der erstaunlichen Nachlässigkeit der Arbeit und der vollen Oberflächlichkeit ihres Autors hervorrufen sollte. […] Herr Rostovtzeff selbst behandelte mein Buch so nachlässig und meine Ergebnisse sowie meine ganze Arbeit so arrogant, dass ich das Recht habe, ihm seine Vorwürfe zurückzugeben.“ 92 Die Arbeit von Grimm wurde zur Disputation zugelassen; diese fand am 31. März 1902 statt. Im Vorfeld bat Rostovtzeff den Dekan der historisch-philologischen Fakultät S. Platonov, ihm als dem offiziellen Opponenten zu erlauben, bei Grimms Disputation seine Meinung als letzter zu äußern. Im gleichen Brief weigerte sich Rostovtzeff außerdem, die Argumente von Grimm zu berücksichtigen, weil „meine [Rostovtzeffs] Meinung über das Buch zu gewiss und begründet ist, dass sie durch die Widersprüche des Doktoranden modifiziert werden könnte“ 93. Die Disputation von Ė. Grimm, die mehr als zwei Stunden dauerte, machte nicht nur Rostovtzeffs unversöhnliche Position bezüglich dieser Arbeit, sondern auch die daraus resultierende Spaltung in den Reihen der Wissenschaftler deutlich. Einige Wissenschaftler, wie Ju. Kulakovskij, unterstützten Grimm, andere, wie N. Kareev, waren auf der Seite

91 Ebd., 172. 92 Grimm 1901, 172, 209. 93 Brief M. Rostovtzeffs an S. Platonov vom 19.3.1902, in: Ebd., 212.

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von Rostovtzeff. 94 Die Augenzeugen berichteten über Rostovtzeffs „absolute Niederlage gegen Ė. Grimm“ 95 bei der Disputation. Schließlich erhielt Grimm den Doktortitel. Man bezeichnet diesen Konflikt als Beispiel für „die gegenseitige Kontrolle der Mitglieder der akademischen Gemeinschaft“ 96, als Rostovtzeffs Versuch, den Aufstieg seines Kollegen zu verhindern. Dieser Fall zeigt, wie Rostovtzeff sich als Privatdozent in der Anfangsphase seiner wissenschaftlichen Karriere behauptete. Er scheute sich nicht, seine Meinung ‒ manchmal ohne Rücksicht auf andere Wissenschaftler ‒ offen darzulegen. Seine offensive Art spaltete bereits um die Jahrhundertwende die wissenschaftlichen Kreise Russlands. Es gab sowohl Befürworter als auch Gegner von Rostovtzeffs Temperament. Sein enger Freund Žebelev schrieb, dass Rostovtzeff nicht „ohne Sünde“ 97 sei, weil er, genauso wie N. Kondakov, einen „ziemlich autoritären Ton“ 98 hätte. Ein Kollege des Althistorikers erinnerte sich, wie dieser gegen die Verleihung den Ehrendoktortitel an F. Sokolov heftig protestierte: „M. I. Rostovtzeff, der damals gerade an der Universität zugelassen war, schwenkte schon derzeit frech mit dem Feldmarschallstab, den er später mit seinen herrischen Händen ergriff“. 99 1.1.3.4 Rostovtzeffs Lehrtätigkeit Im Nachruf auf den Historiker Aleksandr Ščukarev (1861–1900) gab Rostovtzeff seinem Kollegen folgende Charakteristik: „Ščukarev war ein typischer Vertreter jenes Teils der Intelligencija, der die Nähe zur Wissenschaft sucht, aber stattdessen eine unzumutbare, verzehrende pädagogische Arbeit leisten muss“ 100. Es scheint, dass dem Althistoriker um 1900 die Lehrtätigkeit schwerfiel. Aber genau als Pädagoge gab sich Rostovtzeff viel Mühe und gewann mit der Zeit an Beliebtheit unter seinen Schüler und Studenten. Bereits 1895 übersetzte und kommentierte er Caesars Bericht über den Gallischen Krieg für die Schüler der 4. und 5. Klasse. 101 An der Tatsache, dass die Schüler Caesar für „einen der langweiligsten Autoren, die in Gymnasien gelesen werden, halten“ 102, sei die Art und Weise, wie dieser unterrichtet werde, schuld. Das Lesen vom Bericht Caesars 94 In seiner Rezension betonte Kulakovskij, dass Grimm sich mit seinen „Untersuchungen“ „das Recht auf einen bedeutenden Platz in den Reihen der Forscher des römischen Altertums“ verdient hätte. Kareev fand die Rezension von Rostovtzeff eines Doktortitels würdig. Vgl. Kulakovskij, Ju.: Grimm, Ė: Issledovanija po istorii razvitija rimskoj imperatorskoj vlasti, Bd. 1, 2 (Rezension), in: ŽMNP 7 (1902); Beljaeva 2001, 215. 95 Brief M. Krašennikovs an V. Ernštedt vom 13.4.1903, in: Bongard-Levin 1997, 397. 96 Beljaeva 2001, 217. 97 Žebelev 1928, 4. 98 Ebd. 99 Varneke, B.: Starye filologi [Die alten Philologen], in: VDI 4 (2013), 128. 100 Rostovtzeff, M.: Pamjati [Zum Andenken an] Aleksandra Nikolaeviča Ščukareva (Nekrolog), in: ŽMNP 11 (1900), 46. 101 Vgl. Anm. 143. 102 Rostovtzeff 1895, 1.

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erfolge, nach Rostovtzeffs Beobachtung, fragmentarisch und führe zu einer rein grammatikalischen Auseinandersetzung mit dem Text. Eine solche Lektüre „kann nichts außer Langeweile auslösen“ 103. Damit begründet der Althistoriker die Notwendigkeit einer neuen Auslegung des obligatorischen Schulstoffs. In seinen ausgewählten Abschnitten der Schrift Caesars setzte der 25-jährige Altsprachenlehrer „das produktive Lesen“ 104 zum Ziel. Dieses bedeutete für ihn, dass die auserwählten Textstellen möglichst wichtig, interessant und inhaltlich miteinander verbunden sein und eine Vorstellung vom Autor bilden sollten. Dazu gehörten u. a. die ethnographischen Grundrisse von Gallien und Germanien, der Krieg gegen Ariovist, Caesars erster Britannienfeldzug, der Tod von Cotta und Sabinus sowie die Belagerung des Quintus Cicero. Die einfachen Textfragmente wurden auf Lateinisch und die schwierigen auf Russisch wiedergegeben sowie mit Bildern und biographischen Kommentaren versehen. Rostovtzeff gibt in der Einleitung zum Buch außerdem einige Tipps, welche den Lehrern helfen sollten, die insgesamt 80 Kapitel des lateinischen Textes bei den vorgesehenen 105 Unterrichtsstunden in einem Schuljahr zu bewältigen. Zum Schluss bittet der Autor alle Lehrer, die sein Buch benutzen, um ihre Hinweise und Kommentare. 105 Später konzentrierte sich Rostovtzeffs Lehrtätigkeit auf die Studenten der Petersburger Universität sowie auf die Hörerinnen der Bestužev Kurse 106. Im Petersburger Historischen Staatsarchiv sind die Konspekte von Rostovtzeffs Vorlesungen zur Geschichte Roms und des Hellenismus sowie zur Epigraphik aus den Jahren 1898–1916 aufbewahrt. 107 Er gab außerdem 1899 zusammen mit Zelinskij den „Grundriss der römischen Geschichte nebst Quellenkunde“ von Benedikt Niese als Lehrbuch für russische Studenten heraus. 108 Zur Übersetzung des deutschen Buches wurden 16 Hörerinnen der Frauenkurse herangezogen. Der Index wurde ebenfalls von einer Hörerin dieser Kurse, der künftigen Ehefrau des Althistorikers, erstellt.

103 104 105 106

Ebd., 2. Ebd., 3. Vgl., ebd., 3–8. Die Bestužev Kurse (1878–1918), die nach ihrem ersten Direktor, dem Historiker K.N. BestuževRjumin benannt wurden, stellten die größte höhere Lehranstalt für Frauen im Zarenreich dar. Nach Absolvierung des Gymnasiums konnten sich russische Frauen an einer der drei Fakultäten einschreiben lassen: historisch-philologische, physisch-mathematische oder juristische. 1913 wurde ein Abschlusszeugnis der Frauenkursen mit einem universitären Diplom gleichgestellt. 1919 wurden die Kurse in die Petrograder Universität eingegliedert. Vgl. Feodosova, Ė.: Bestuževskie kursy – pervyj ženskij universitet v Rossii [Die Bestužev Kurse – die erste Frauenuniversität in Russland] (1878–1918), Moskau 1980; Zipunnikova, N.: Pravovoe regulirovanie ispytanij v universitetskich komissijach [Rechtliche Regulierung der Prüfungen in universitären Kommissionen], in: Vestnik Udmurtskogo Universiteta 1 (2012), 104. 107 Vgl. RGIA 1041/1/3, 22; Bongard-Levin 1997, 79. 108 Vgl. Rostovtzeff, M./Zelinskij, F. (Hg.): Niese B. Grundriss der römischen Geschichte nebst Quellenkunde, St. Petersburg 1899. Das Lehrbuch wurde im Geschichtsstudium in Russland erfolgreich genutzt, wie dies die Neuauflagen von 1908 und 1910 belegen.

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22 Jahre später charakterisierte Rostovtzeff in einer seiner politischen Schriften die russischen vorrevolutionären Universitäten und beschrieb dabei die Prinzipien, die ihn in seiner Lehrtätigkeit an der Universität geleitet hatten: „Wir sahen die Studenten als unsere jüngeren Kollegen an. […] Wir erzogen gebildete Menschen und dachten, dass diese Menschen, die gewohnt waren, wissenschaftlich zu denken, sich an jede Tätigkeit anpassen können. […] Das Prinzip der akademischen Freiheit war eine unserer Hauptparolen. Die Professoren gaben den Studenten Ratschläge, empfahlen den einen oder anderen Studienplan; sie zeigten, zu welchen Bedingungen Studenten von ihnen als Menschen mit einem höheren Abschluss akzeptiert werden. Das war alles. Im Übrigen waren Studenten, die wir für erwachsene Menschen hielten, frei und konnten ihre Zeit und Studien selbst gestalten. Wir beharrten immer darauf, dass privates und politisches Leben der Studenten nicht unsere Sache ist. Wenn wir Studenten erzogen, dann nicht durch die Kontrolle ihrer Moral, sondern durch die Verbreitung der wissenschaftlichen Denkweise und Weltanschauung. Das hielten wir für die beste Methode der Erziehung.“ 109 Dank den Erinnerungen der Studenten von Rostovtzeff kann sein Bild als Lehrer rekonstruiert werden. Alle unterstrichen, dass dieser Dozent ein unscheinbares Aussehen hatte, was zunächst für sie etwas enttäuschend sein sollte. Diejenigen, die bei ihm eine Vorlesung oder ein Seminar besuchten, änderten bald ihre Meinung und waren noch viele Jahre danach von der Persönlichkeit der Althistorikers begeistert, wie z. B. der russische Historiker und Heimatforscher Nikolaj Anziferov (1889–1958): „Das Aussehen Rostovtzeffs trug zu seiner Popularität nicht bei. Sein Äußeres hatte nichts von einem Professor. Er war klein, untersetzt, mit einem breiten Gesicht, ohne Bart, mit einer Bürstenfrisur, irgendwie ‚grau‘. Doch sein kluges energisches Gesicht zog die Aufmerksamkeit an. Ich besuchte seinen Kurs ‚Die Geburt des Prinzipats‘. Michail Ivanovič fing langsam und stimmlos an, aber sein Tempo steigerte sich allmählich und um die Mitte der Vorlesung donnerte Rostovtzeff durch den ganzen Hörsaal. Deswegen bevorzugte ich in der letzten Reihe zu sitzen. Michail Ivanovič gab eine in ihrer Ausdrucksstärke glänzende und in ihrer Sachlichkeit gründliche Analyse der historischen gegnerischen Kräfte. Er behandelte die Rolle einer einzelnen historischen Persönlichkeit recht knapp. Jedoch waren seine Bilder der historischen Staatsmänner genauso scharf, wie ihre Köpfe auf den römischen Münzen, und genauso psychologisch enthüllend, wie die römischen Büsten. Rostovtzeff zeigte historische Persönlichkeiten durch ihre Taten. Er wollte die Psychoanalyse und besonders moralische Charakteristika vermeiden. Sein hitziges Temperament zwang ihn jedoch, das Vermächtnis von Tacitus ‚Sine ira et 109 Rostovtzeff, M.: Universitety i bolʼševiki [Universitäten und Bolschewiki] aus dem Jahr 1921, in: Tunkina 2002, 95ff.

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studio‘ zu vergessen. Er war vor Zorn entbrannt, als er über den ihm verhassten Augustus Octavian sprach. [Rostovtzeff beschrieb ihn] als einen klugen, vernünftigen, kalten, absolut prinzipienlosen jungen Menschen, der in seiner Jugend ein ‚Revolutionär‘ war und sich dann in einen Konservativen und Heuchler verwandelte. Rostovtzeff benutzte Schimpfworte und schlug mit den Fäusten. Das war kein Wissenschaftler am Lehrerpult, sondern ein politischer Redner auf der Tribüne. […] Er war ein ganz anderer Mensch in seinen Seminaren. Er setzte die Brille auf und sie veränderte seine Gestalt. Es schien, als hätte er noch konzentrierter Klios Stoff im Mikroskop untersucht. Studenten setzten sich mit ägyptischen Papyri auseinander. Jedes kleinste Detail gab ihm das Material für die ausgezeichneten Kommentare. […] Ich denke, dass sich kein Professor während meiner studentischen Jahre mit der Fähigkeit Rostovtzeffs, den Studenten die wissenschaftliche Arbeit mit Quellen beizubringen, vergleichen konnte.“ 110 Rostovtzeffs Darstellung des Augustus blieb auch in der Erinnerung einer seiner Schülerinnen in den Frauenkursen. Diese konnte sich gut die Art des Althistorikers vergegenwärtigen: „Als ob ich gerade seine typische Geste der rechten Hand sehe, höre, wie er mit leicht schnarrender Stimme sagt: ‚Die Neuhistoriker sind reiche und wir sind arme Menschen, wir müssen unser Material sorgfältig sammeln‘. […] M. I. Rostovtzeff konnte die Zuhörer dermaßen für sein Fach begeistern, dass er gewöhnlich im größten Hörsaal, der immer überfüllt war, vortrug; und er hatte so viel Enthusiasmus, so viel Wissen, dass die von ihm gezeichneten Bilder der römischen Epoche und der römischen Kultur vor unseren Augen auflebten. Wir, wie verzaubert, vergaßen, dass wir im 20. Jahrhundert und nicht in der römischen Epoche lebten. An seinen Seminaren nahmen gut vorbereitete Hörerinnen teil. […] Große Themen wurden manchmal von mehreren Hörerinnen gemeinsamen vorbereitet. Der Professor hatte für notwendige Beratungen die Sprechstunden bei sich zu Hause.“ 111 In den Bestužev Kursen sammelte sich um den talentierten Wissenschaftler, der die Reputation eines „unschuldigen Publius Cornelius Scipio“ 112 hatte, ein kleiner Kreis von Schülerinnen. Einige von ihnen widmeten ihr Leben unter Rostovtzeffs Einfluss dem Studium der Geschichte, wie etwa Tatjana Warscher (1880–1960), die Erforscherin von Pompeji, sowie Marija Sergeenko (1891–1987), die bekannte sowjetische Expertin für rö110 Anziferov, N.: Iz dum o bylom. Vospominanija [Aus den Gedanken über das Vergangene. Erinnerungen], Moskau 1992, 157f. 111 Bykova, T.: Istoričeskoe otdelenie vysšich ženskich (bestuževskich) kursov [Historische Abteilung der höheren Frauenkursen (Bestužev)], in: Valka, S. (Hg.): Sankt-Peterburgskie Vysšie (Bestuževskie) kursy. 1878–1918, Leningrad 1973, 91. 112 Anziferov 1992, 158. Dies spielt auf das Verhalten Scipios nach der Eroberung von Carthago Nova im 2. Punischen Krieg an. Vgl. Liv. 26, 49–50.

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mische Geschichte. 113 In diesen Kursen lernte der Althistoriker Sofija Kul’čickij kennen. Am 25. April 1901 heiratete Michail Rostovtzeff seine „Lieblingsschülerin“. 114 Rostovtzeffs Frau, Sofija Kul’čickij (1878–1963), entstammte einer bekannten polnischen Familie. Dass ein Vorfahr seiner Frau eine wichtige Rolle bei der Rettung Wiens während der Türkenbelagerung 1683 spielte und dass eine Straße in Wien seitdem seinen Namen (Kolschitzkygasse) trägt, wird in Vernadskys Notiz als einzige biographische Hintergrundinformation zu Sofija Rostovtzeff angeboten. 115 Es ist jedoch zu ergänzen, dass sie in Nižnij Novgorod aufgewachsen war und im Alter von 20 Jahren in die russische Hauptstadt umzog, um an den Frauenkursen zu studieren. Ihr Vater, Michail Francevič Kul’čickij, war ein erfolgreicher Notar in Nižnij Novgorod und hatte „ein sehr großes Vermögen erworben“. 116 Ihre Mutter, Vera Alaverdovna Bogaturova, absolvierte das Petersburger Smolnij-Institut für adelige Mädchen. Die Eltern folgten ihrer Tochter nach St. Petersburg. Nach dem Verkauf seiner Notarkanzlei führte Michail Kul’čickij in der Hauptstadt das Leben eines reichen Rentiers. 117 Sofija Kul’čickij studierte zwischen 1898 und 1902 an der historisch-philologischen Fakultät der Bestužev Kurse 118, an denen Rostovtzeff auch lehrte. Es ist ein Exemplar von Rostovtzeffs Magisterarbeit zur Staatspacht von 1899 mit der folgenden Widmung erhalten: „Für die hochgeehrte Sofija Michajlovna Kul’čickij als Erinnerung an die gemeinsame Arbeit, vom Autor“ 119. Seit der Hochzeit 1901 begleitete Sofija Rostovtzeff ihren Gatten auf vielen Auslandsreisen, u. a. als eine „unermüdliche Helferin bei archäologischen Ausgrabungen“ 120, und unterstützte Rostovtzeffs Arbeit, z. B. durch die Erstellung der Indices zu seinen Büchern. Später wurde sie zur Autorin der Brockhaus-Efron-Enzyklopädie, in der regelmäßig ihre Beiträge über bekannte russische Maler erschienen. 121 Die Ehe mit einer gebildeten und vielseitigen Frau vervollständigte Rostovtzeffs Entfaltung zum bekannten Vertreter des öffentlichen Lebens der russischen Hauptstadt.

113 114 115 116 117 118

Vgl. Frolov 1990, 216. Kuprina-Iordanskaja, M.: Gody molodosti [Jugendjahre], Moskau 1960, 86. Vgl. Vernadsky 1931, 243; Heinen 1986, 392f. Kuprina-Iordanskaja 1960, 86. Vgl. ebd. Spisok okončivšich kurs na S.-Peterburgskich vysšich Ženskich kursach [Liste der Absolventinnen des St. Petersburger Höheren Frauenkursen] 1882–1889/1893–1911, St. Petersburg 1911. 119 Bongard-Levin 1997, 25. 120 Vrangelʼ, L.: Vospominanija i starodavnie vremena [Erinnerungen und die altehrwürdigen Zeiten], Washington 1964, 79. 121 Vgl. Rostovtzeff, S.: Ge, N.N., in: ĖSBE 12 (1913), 788–791; Korovin, K.A. und Korovin, S.A in: Ebd. 22 (1915), 819–820; Lansere, E.E., in: Ebd. 24 (1915), 50f; Levitan, I.I., in: Ebd., 196f.

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1.1.4 Gesellschaftliche Stellung 1.1.4.1 Rostovtzeff als Westler und die Frauenbildung 1903 verteidigte Rostovtzeff seine Doktordissertation über die römischen Bleitesserae. 122 Die erfolgreiche Karriere des Althistorikers sicherte ihm zunächst die gewünschte finanzielle Selbstständigkeit und schließlich den Wohlstand. Als Professor Extraordinarius verdiente Rostovtzeff 2.000 Rubel jährlich, seit 1908 als ordentlicher Professor wurde sein Gehalt auf 3.000 Rubel im Jahr erhöht; hinzu kamen die Einnahmen aus der Publikationstätigkeit. Im Vergleich hierzu betrug der Durchschnittslohn eines Arbeiters um 1900 im Zarenreich rund 214 Rubel im Jahr. 1914 kaufte Rostovtzeff ein Grundstück für 1.000 Rubel im Kurort an der Südküste der Krim. 123 Der junge Rostovtzeff wurde nun zu einem vollwertigen Mitglied der professoralen Korporation der Petersburger Universität. Diese Korporation war zwar politisch heterogen, zeichnete sich gleichzeitig durch dieselben Werte und eine bestimmte Lebensführung aus. Bereits um die Jahrhundertwende gab es eine inoffizielle Teilung der Professoren der historisch-philologischen Fakultät in eine „nationale“ 124 und eine „westliche“ 125 Gruppe. Zur ersten Gruppe gehörte u. a. Kondakov und Žebelev. Zur westlich orientierten Gruppe wurde Rostovtzeff zusammen mit Zelinskij gezählt. Rostovtzeff wurde eine übermäßige Begeisterung für den Westen unterstellt. Der Althistoriker sähe „in jedem Spuckfleck eines Europäers etwas Zivilisiertes“ 126, kommentierte ein Kollege sein Verhalten. Die Meinungsunterschiede stützten sich auf die bekannten Auseinandersetzungen zwischen Slawophilen und Westlern in Bezug auf Russlands Position gegenüber dem Westeuropa. 127 122 Vgl. Rostovtzeff, M.: Rimskie svincovye tessery [Römische Bleitesserae], St. Petersburg 1903. 123 Vgl. Der Kaufbrief für das Landgut „Bati Liman“ vom 25.6.1914, in: RGIA 1041/1/144; Brief S. Platonovs an A. Golmsten vom 20.3.1903, in: OR RNB 585/1/1750; Löwe 1983, 232. 124 Fichmann, I.: G.F. Cereteli v peterburgskich archivach: portret učënogo [G.F. Zereteli in den Petersburger Archiven: Porträt des Wissenschaftlers], in: Medvedev, I. (Hg.): Archivy russkich vizantistov v Sankt-Peterburge, St. Petersburg 1995, 255f. 125 Ebd. 126 Brief G. Ceretelis an S. Žebelev vom 10.12.1899, in: Ebd., 255. 127 Bereits im 19. Jahrhundert begannen Debatten über die Bestimmung Russlands und seine Beziehung zu Europa. Den Anstoß zur Diskussion gab der 1836 auf Französisch veröffentlichte „Erste Philosophische Brief“ von Petr Čaadaev. Er schrieb gnadenlos über die nutzlose Vergangenheit Russlands, das weder zur östlichen noch zur westlichen Zivilisation gehöre. Die Ursache hierfür sah der Autor in der byzantinisch-russischen Orthodoxie, die Russland von der europäischen Kulturentwicklung aubgetrennt hatte. Die Thesen Čaadaevs, der von der russischen Regierung für geisteskrank erklärt wurde, haben die geistige Elite Russlands in zwei Lager gespaltet: In den „Westlern“ und den „Slavophilen“. Die Westler richteten all ihre Hoffnungen auf den Westen, der Russland aus seiner Rückständigkeit befreien sollte. Die Europäisierung war für sie ein Synonym für die Modernisierung. Die Slavophilen kritisierten hingegen die von Peter dem Großen begonnene Europäisierung. Die von oben aufgedrängten Werte und Normen aus Europa hätten altrussische Traditionen geschwächt und die Kluft zwischen den Intellektuellen und dem Volk unüber-

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Den Ruf eines Westlers, der sich am westeuropäischen Vorbild orientierte, erlangte Rostovtzeff relativ früh. Hierfür spielten die Erfahrungen, die er während seiner ersten Auslandsaufenthalte gesammelt hatte, sicherlich eine prägende Rolle. Der Althistoriker gestand in einem Brief: „Der Aufenthalt in Europa ‒ besonders in Deutschland ‒ wirkt auf mich immer wunderbar. Man kehrt immer mit einem ganzen Vorrat an jeglichen Gedanken und Wünschen zurück“ 128. Rostovtzeff war nicht nur seinem Aussehen ‒ der Frisur und der Kleidung ‒ nach europäisch. Bereits in seinen frühen Vorlesungen und Arbeiten versuchte er mittels der Beispiele aus der alten Geschichte die Zugehörigkeit Russlands zur westlichen Welt deutlich zu machen. Er bezeichnete die Russen als „die Erben der griechisch-römischen Kultur, welche sie mit der Muttermilch aufgesogen hatten“ 129. Einer von Rostovtzeffs Studenten, der künftige Minister der Provisorischen Regierung A. Kerenskij, der zwischen 1899 und 1904 an der Petersburger Universität studiert hatte, lieferte dazu einen interessanten Hinweis: „Professor Michael I. Rostovtsev, who was still very young at the time, gave us a good understanding of Roman history. He also thrilled us with his accounts of the Greek towns that flourished on the Black Sea before the birth of Rus (Ancient Russia). His lectures on this pre-Russian world in the south of Russia clearly demonstrated that the roots of democracy in Ancient Rus went back much further than had been thought, and that there was some connection between early Russian statecraft and the ancient Greek republics.“ 130 Bezeichnend in der Hinsicht ist außerdem Rostovtzeffs Standpunkt zur Frauenbildung. Ende des 19. Jahrhunderts blieb das Zarenreich bei der Frage der Frauenbildung hinter den westeuropäischen Ländern zurück. Russische Frauen hatten keinen Zugang zu Universitäten und waren deswegen gezwungen, erwünschte Kompetenzen an Hochschulen im Ausland, z. B. in Zürich, Heidelberg oder Berlin, zu erwerben. Die ausländischen Universitätsabschlüsse halfen Russinnen jedoch nicht, sich in ihrem Heimatland beruflich weiter zu entwickeln. 131

128 129 130 131

brückbar gemacht. Sie wollten zu bodenständigen Werten zurückkehren und auf der Grundlage christlicher Ethik und Gemeinschaftlichkeit einen neuen russischen Staat aufbauen. Vgl. Sieber, B.: „Russische Idee“ und Identität. „Philosophisches Erbe“ und Selbstthematisierung der Russen in der öffentlichen Diskussion 1985–1995, Bochum 1998, 6; Hildermeier, M.: Das Privileg der Rückständigkeit: Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der neueren russischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift 244 (1987), 575. Brief M. Rostovtzeffs an S. Žebelev vom 16.8.1904, in: Bongard-Levin 1997, 402. Rostovtzeff 1900, 197. Kerensky, A.: Russia and Historyʼs Turning Point, New York 1965, 30. Dies zeigt das Beispiel von Sofija V. Kovalevskaja (1850–1891). Sie studierte Mathematik in Heidelberg, Berlin und Göttingen und erhielt 1874 den Doktortitel. Nach ihrer Rückkehr nach Russland suchte sie mehrere Jahre vergeblich eine Arbeitsstelle. 1884 nahm sie das Angebot der Universität Stockholm an und wurde zu einer weltweit bekannten Professorin für Mathematik. Vgl. Sobolev, V.: Dlja buduščego Rossii [Für Russlands Zukunft], Sank Petersburg 1999, 40f.

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Durch die Einrichtung von speziellen Frauenkursen und Instituten wurde versucht, die Bedürfnisse der russischen Frauen für die Weiterbildung zu erfüllen. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es 25 solche Lehranstalten, darunter auch die 1878 gegründeten Bestužev Kurse in St. Petersburg. Die dort erworbenen Zeugnisse waren jedoch nicht offiziell anerkannt und gaben den Absolventinnen daher nicht die Rechte, die ihre männlichen Kameraden zusammen mit einem universitären Abschluss erhielten. Die Diskussionen über die Frauenbildung waren bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der russischen Gesellschaft aktuell. Als Anfang des 20. Jahrhunderts die Pläne des Ministeriums für Volksbildung zur Überprüfung des Universitätsstatuts von 1884, das u. a. das Studieren der Frauen untersagte, bekannt wurden, brachen die hitzigen Debatten zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Zulassung der Frauen zu Hochschulen aus. 132 Auch Rostovtzeff äußerte sich 1904 schriftlich zu dieser Angelegenheit. Er unterstützte seit Jahren die Bildung der Frauen in seinem Heimatland nicht nur als Lehrer, sondern auch als ehrenamtliches Mitglied des Komitees der „Gesellschaft zum Erwerben der Mittel für die Höheren Frauenkursen“. Die Tätigkeit dieses 12-köpfigen gewählten Gremiums, das sich um den gesamten Haushalt kümmerte, war deswegen wichtig, weil die Existenz der Kurse wesentlich durch private Spenden gewährleistet wurde. 133 Der Althistoriker, der unmittelbar die Bestrebungen der Kursteilnehmerinnen nach einer Gleichstellung erlebte, begründete seine Position am Beispiel Italiens. In seiner „Notiz zu den Ergebnissen der Frauenbildung in Italien“ 134 geht er auf die Debatten über die Zulassung der Frauen zum Studium an russischen Hochschulen ein. Der Autor beginnt damit, dass er die Argumentation der Gegner der gemeinsamen Bildung erörtert. Diese würden auf eine geringere Aufnahmefähigkeit der Frauen hinweisen und außerdem einen schlechten Einfluss auf die moralische Entwicklung beider Geschlechter im Falle der gemeinsamen Ausbildung befürchten. All dies sollte auf die Intensität der wissenschaftlichen Arbeit eine negative Auswirkung haben. Rostovtzeff rief die russische Öffentlichkeit auf, keine voreiligen Schlussfolgerungen zu ziehen, sondern sich den reichen Erfahrungen der westeuropäischen Länder zuzuwenden. Dafür wählte er Italien, wo seit der Staatsgründung eine gemeinsame Ausbildung von Männern und Frauen möglich war. Die 30-jährige Erfahrung dieses Landes will nun der Althistoriker für seine Schrift nutzen:

132 Vgl. Patrikeeva, O.: Kursistka ili volʼnoslušatelʼnica Universiteta: vybor rossijanok v načale XX veka [Studentin oder Freihörerin der Universität: Die Wahl der Russinnen Anfang des 20. Jahrhunderts], in: Vetsnik MGGU im. M.A. Šolochova 2 (2012), 38–46. 133 Vgl. Koltočichina, A.: E.P. Letkova-Sultanova. Obščestvenno-političeskaja i literaturnaja dejatelʼnostʼ [Gesellschaftspolitische und literarische Tätigkeit] (1856–1937) (Diss.), Moskau 2015, 87ff, unter: http://www.hist.msu.ru/Science/Disser/Koltochihina.pdf (letzter Abruf am 10.10.2016). 134 Vgl. Rostovtzeff, M.: Zametka o rezulʼtatach vysšego ženskogo obrazovanija v Italii [Notiz zu den Ergebnissen der Frauenbildung in Italien], in: Letkova, E. (Hg.): K svetu, St. Petersburg 1904, 428–431.

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„Die enge Bekanntschaft mit Italien und seinem Leben sowie das Interesse an der oben gestellten Frage geben mir den Mut, ohne Spezialkenntnisse auf ein paar interessante Zahlen und auf die daraus entstandenen Überlegungen hinzuweisen.“ 135 Zunächst werden die Bildungsmöglichkeiten für italienische Frauen kurz beschrieben. Die Mehrheit der Mädchen würde traditionell nach der Elementarschule in eine kommunale Schule gehen, in der die Erziehung zu einer Frau und Mutter im Mittelpunkt stehe. Dabei existiere seit der Vereinigung Italiens kein Gesetz, das den Zugang der Frauen zu Mittel- und Hochschulen verbieten würde. Dennoch musste einige Zeit vergehen, bevor mehr Italienerinnen wagten, ein Studium an einer Universität zu beginnen: Die Zahl der Hochschulabsolventinnen betrug zwischen 1877 und 1888 erst drei, wuchs aber im Zeitraum 1897–1900 auf 140. 136 Diese Statistik ergänzte Rostovtzeff durch die Angabe, dass die Mehrzahl der „laureata“ 137 an den norditalienischen Universitäten, allen voran in Turin, studiert hätte; dabei sei die historisch-philologische Fakultät bei den Frauen in Italien besonders beliebt. Diese Zahlen wurden für den Autor zu einem unschlagbaren Beweis für die Fähigkeit der Frauen zu einer wissenschaftlichen Tätigkeit: „Das gleiche Ergebnis bekam ich nach der Umfrage einiger turinischer und römischer Professoren: Sie bestätigten einstimmig die absolute Fähigkeit ihrer Hörerinnen, weiter zu kommen und [dabei] nicht hinter den Studenten zurückzubleiben; sowohl in Italien als auch bei uns lassen die Frauen in Bezug auf den Fleiß und die Geduld die Männer weit hinter sich.“ 138 Zum Schluss behandelte der Althistoriker die Befürchtungen der Skeptiker, dass die Moral unter der gemeinsamen Ausbildung von Männern und Frauen leiden würde. Rostovtzeffs Recherchen im Ministerium für Volksbildung, an Universitäten sowie in mittleren Schulen Italiens deckten keine Fälle auf, die solche Befürchtungen bestätigt hätten. Im Gegenteil hätten die Lehrer über eine positive Wirkung der gemischten Gruppen auf die Lehratmosphäre berichtet. Somit fasste der Autor seine Überlegungen wie folgt zusammen: „Für die Verteidiger der Idee einer gemeinsamen Bildung wird dieses Material interessant und überzeugend sein, die Befürchtungen der Gegner sind dementsprechend unbegründet. Der Erfolg dieser Idee am Beispiel einer italienischen Familie zeigt, dass sich die italienische Intelligencija durch lange Erfahrung überzeugen konnte, die Aufnahmefähigkeit einer Frau ist nicht geringer als die eines Mannes

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Ebd., 429. Vgl. ebd., 430. Ebd., 429. Ebd., 431.

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und die Gesellschaftsmoral wird durch die Kontakte zwischen Frauen und Männern auf der Schulbank auf keine Weise leiden.“ 139 1.1.4.2 Das „Silberne Zeitalter“ der russischen Kultur Rostovtzeffs progressive Einstellungen gegenüber der Frauenbildung spiegelten den Zeitgeist wider. Das war die Zeit der russischen Moderne, die bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angebrochen war und ihren Höhepunkt in der Gestalt des sogenannten Silbernen Zeitalters (1890–1917) erreicht hatte. 140 In dieser Zeit erlebte die russische Kultur einen bemerkenswerten Aufschwung. Charakteristisch für dieses Phänomen war eine Vielzahl experimenteller Strömungen in allen kulturellen Bereichen. Die bekanntesten Beispiele dafür liefern die Malerei der Avantgarde V. Kandinskijs, die expressive Musik I. Stravinskijs sowie S. Djagilevs „Ballets Russes“; es erschienen Werke zahlreicher Schriftsteller und Dichter, die sich solchen modernen literarischen Richtungen, wie dem Symbolismus, Akmeismus oder Futurismus, widmeten. 141 Das Silberne Zeitalter betraf Kunst, Literatur sowie Philosophie, wobei die Poesie als dessen Grundstein galt. Auch Michail Rostovtzeff wurde zu einem Vertreter dieses russischen Phänomens im ausgehenden Zarenreich. Dies geschah zum einen dank der Annäherung zwischen Philologie und Poesie an der historisch-philologischen Fakultät der Petersburger Universität, zum anderen aufgrund der persönlichen Interessen des Althistorikers und der daraus entstandenen gesellschaftlichen Beziehungen und Freundschaften. Die historisch-philologische Fakultät der hauptstädtischen Hochschule gewann um die Jahrhundertwende nicht nur wissenschaftlich an Bedeutung, sondern wurde auch zum wichtigen kulturellen Anziehungsort in Petersburg. Trotz ihres konservativen Rufes kamen gerade aus dieser Fakultät die neuesten Ideen, die die Künstler des Silbernen Zeitalters inspirierten. Dies geschah in der Wechselwirkung zwischen Lehrenden und Studenten. Das Interesse an der griechisch-römischen Antike und der westlichen Kultur war dabei der Ausgangspunkt dieser intellektuellen Bestrebung. 142 Der intellektuelle Austausch fand innerhalb verschiedener Zirkel statt, die in dieser Zeit zahlreich entstanden. Rostovtzeff war u. a. das ordentliche Mitglied der Peters-

139 Ebd. 140 Der Begriff „Das Silberne Zeitalter“ steht in Verbindung mit der Zeit des großen russischen Schriftstellers A. Puškin, die auf das erste Drittel des 19. Jahrhunderts fiel und als „Das Goldene Zeitalter“ bezeichnet wird. Vgl. Donnert, E.: Sankt Petersburg. Eine Kulturgeschichte, Köln 2002, 164; Scherrer, J.: Die Petersburger religiös-philosophischen Vereinigungen, Berlin 1973, 41. 141 Vgl. Hildermeier 2013, 1243–1295; Torke 1997, 186f; Parchomenko 2012, 290f; Sokolov 2009, 447–469. 142 Vgl. Depretto, K.: Peterburgskij universitet i serebrjanyj vek [Die Petersburger Universität und das Silberne Zeitalter], in: Bérard, E. (Hg.): Sankt-Peterburg: okno v Rossiju, St. Petersburg 1997, 85–99.

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burger Religiös-Philosophischen Gesellschaft 143, welche den Religiös-Philosophischen Versammlungen folgte. Die Versammlungen wurden 1901 auf Initiative des Ehepaars Gippius-Merežkovskij 144 ins Leben gerufen. Die beiden Schriftsteller, deren Werke durch religiös-mystische Ideen gekennzeichnet waren, brachten Vertreter der geistlichen und intellektuellen Welt zusammen, um verschiedene kulturelle, religiöse und historische Fragen gemeinsam zu diskutieren. Die religiös-philosophischen Diskussionen fanden eine große Resonanz in der russischen Gesellschaft und zogen bis zum Februar 1917 die intellektuelle Elite der Hauptstadt an. 145 Die dort anwesenden Vertreter der literarischen Kreise waren mit dem Symbolismus, der vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges führenden ideell-künstlerischen und religiös-philosophischen Strömung der russischen Kultur, eng verbunden. 146 Rostovtzeff hatte eine enge Beziehung zu einem der Führer der Symbolisten, zu Vjačeslav Ivanov (1866– 1949). Die beiden lernten sich während Rostovtzeffs erster Auslandsreise 1893 kennen. Ivanov begann 1884 sein Studium der Geschichte und der alten Sprachen an der Universität in Moskau; nach zwei Jahren wechselte er an die Berliner Universität, an der er zwischen 1886 und 1890 Geschichte und Philosophie studierte und schließlich bei Mommsen und Hirschfeld promovierte. Das Material und die Inspiration für seine Dissertation über die Gesellschaften der Staatspächter in der römischen Republik suchte Ivanov in Italien. Rostovtzeff, der sich in dieser Zeit vor allem für kunsthistorische Themen interessierte, untersuchte die Topographie und Architektur der Pompeji. Der Austausch innerhalb des Deutschen Archäologischen Institutes unter den „ragazzi Capitolini“ 147, zu denen auch Ivanov und Rostovtzeff zählten, übte einen großen, wenn auch unterschiedlichen Einfluss auf die beiden russischen Wissenschaftler aus. Nach seiner Rückkehr von der ersten Auslandsreise und Veröffentlichung der Untersuchung zu Ausgrabungen in dieser antiken Stadt entschied sich Rostovtzeff in seiner Magisterarbeit die Geschichte der Staatspacht in der römischen Kaiserzeit zu untersuchen. Der Magisterarbeit von 1899 folgten seine Doktordissertation von 1903 sowie weitere Schriften, die speziell soziale und wirtschaftshistorische Fragen der Antike behandelten; Rostovtzeff setzte seine wissenschaftliche Laufbahn erfolgreich fort. Demgegenüber verließ Ivanov ‒ trotz der aktiven Unterstützung Hirschfelds und der druckfertigen Dissertation ‒ den

143 Vgl. Ermišina, O. (Hg.): Religiozno-filosofskoe obščestvo v Sankt-Peterburge (Petrograde). [Die religiös-philosophische Gesellschaft in Petersburg (Petrograd)] 1907–1917, Moskau 2009, Bd. 3, 523. 144 Das Schriftstellerpaar Zinaida Gippius (1869–1945) und Dmitrij Merežkovskij (1865–1941) gelten als Ideologen des russischen Symbolismus und die einflussreichsten Vertreter des Silbernen Zeitalters der russischen Literatur. Ausführlicher siehe dazu Holthusen, J.: Russische Literatur im 20. Jahrhundert, München 1978, 17–27. 145 Vgl. Donnert 2002, 180f; Scherrer 1973, 98–111; Sokolov 2009, 463–467. 146 Vgl. Sokolov 2009, 453. 147 Ivanov, V.: Avtobiografičeskoe piʼsmo [Autobiographischer Brief], in: Dešart (Hg.): V. Ivanov. Sobranie sočinenij, Bd. 2, Brüssel 1974, 19.

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wissenschaftlichen Weg. 148 Er verbrachte noch einige Jahre im Ausland, wo er vor allem unter Nietzsches Einfluss die hellenistischen Mysterien des Dionysos zu untersuchen begann und schließlich sein Leben der Dichtkunst und Philosophie widmete. 149 Nachdem Ivanov nach Russland zurückgekehrt war und sich in St. Petersburg endgültig niedergelassen hatte, begann eine neue Etappe in der Beziehung zwischen dem Althistoriker und dem Dichter. Rostovtzeff und seine Frau waren die Stammgäste bei den berühmten Mittwochstreffen in der Wohnung Ivanovs, die aufgrund ihrer Lage im sechsten Stock und halbrunden Form als Turm bezeichnet wurde. Eine Zeitgenossin brachte die Bedeutung von Ivanovs literatur-philosophischen Zusammenkünften auf den Punkt: „Mittwochs im Turm zu verkehren, galt als ehrenvoll. Das war eine Art Diplom für die Zugehörigkeit zu den Spitzen der Intelligencija“ 150. Im „Turm“ versammelten sich seit September 1905 die Menschen verschiedener Schichten und Berufe sowie ideologischer Richtungen. Hier wurden neue Gedichte von Verfassern vorgetragen sowie alle möglichen Themen aus Literatur, Religion, Kunst, Philosophie und Mystik diskutiert. 151 So gehörten die Gespräche über den Eros zu einem zentralen Thema dieser Abende. In einer solchen Diskussion äußerten sich neben V. Ivanov selbst „der elegante Prof. Zelinskij und A. Lunačarskij, der im zeitgenössischen Proletariat eine Neuverkörperung des antiken Eros sah, und ein Materialist, der nichts außer physiologischen Prozesse anerkannte“ 152. Auch Rostovtzeff, der „immer so schweigsam war“ 153, überraschte die Turm-Besucher hin und wieder mit seinen glänzenden tiefsinnigen Reden. Seit September 1909 wurden die Traditionen, die bei Ivanovs Mittwochstreffen entstanden waren, von der „Gesellschaft der Liebhaber des künstlerischen Wortes“

148 Ivanovs Dissertation „De societatibus vectigalium publicorum“ war 1896 fertig und von Mommsen und Hirschfeld positiv angenommen. Die mündliche Prüfung kam jedoch nicht zustande. Wachtel, M. Vjačeslav Ivanov student Berlinskogo universiteta [Vjačeslav Ivanov als Student der Berliner Universiät], in: Cahiers du Monde russe 35/1–2 (1994), 353–376; Bongard-Levin, G.: Vjač. Ivanov: Ja pošel k nemcam za nastojaščeju naukoj [Ich ging zu Deutschen für die echte Wissenschaft], in: VDI 3 (2001), 150–184. 149 Vgl. ebd.; Scherrer 1973, 53f. 150 Tyrkova-Williams, A.: Teni minuvšego [Die Schatten des Vergangenen], in: Timenčik, R. (Hg.): Anna Achmatova, Desjatye gody, Moskau 1989, 29; vgl. dazu auch Šruba, M.: Literaturnye obʼʼedinenija Moskvy i Peterburga 1890–1917 godov [Literarische Gesellschaften Moskaus und Petersburgs in den Jahren 1890–1917], Moskau 2004, 60–63. 151 Vgl. Aničkov, E.: Novaja russkaja poėzija [Die neue russische Poesie], Berlin 1923, 42–48; Fiedler, F.: Aus der Literaturwelt. Charakterzüge und Urteile. Tagebuch, Göttingen 1996, 426; Dymov, O.: Vspomnilosʼ, zachotelosʼ rasskazatʼ [Ich erinnerte mich und wollte erzählen], Bd. 2, Jerusalem 2011, 53–57; Woloschin, M.: Die grüne Schlange. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1955, 171–186. 152 Berdjaev, N.: Ivanovskie sredy [Ivanovs Mittwoche], in: Ders.: Mutnye liki, Moskau 2004, 126; vgl. auch Ivanova, L.: Vospominanija. Kniga ob otce [Erinnerungen. Das Buch über den Vater], Moskau 1992, 319–323. 153 Pjast, V.: Vstreči [Begegnungen], Moskau 1997, 124.

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übernommen. An deren Sitzungen nahm Rostovtzeff wiederum teil; Zelinskij wurde sogar in den Vorstand kooptiert. 154 Rostovtzeffs Verhältnis zum Dichter war freundschaftlich, was der rege Briefwechsel zwischen den beiden bezeugt. 155 Sie verbrachten z. B. gemeinsam die Freizeit mit ihren Familien. Die Rostovtzeffs unterstützten Ivanov außerdem in der schweren Zeit, die er nach dem Tod seiner Frau durchmachen musste, und luden ihn in ihr Ferienhaus auf der Krim ein. 156 Schließlich kam nur dank der bemerkenswerten Hartnäckigkeit und Hilfsbereitschaft des Althistorikers die Veröffentlichung der Dissertation Ivanovs zustande. In der Einleitung sprach der Autor seinen Lehrern Mommsen und Hirschfeld sowie dem Althistoriker seinen Dank aus: „In lucem denique tandem aliquando proferendi suasor atque adiutor exstitit Michael Rostovcev amicus“ 157. Außerdem dankte Ivanov Rostovtzeff zwei Jahre später noch einmal, indem er ihm ein Gedicht widmete: „Φϑορᾶς μὲν ἐχσώσαντι τὸν πάλαι σπόρον, πόνου δ‛ἄελπτον καρπὸν ἀντείλαντί σοι σπείρας ἀπαρχῶν αὐξίμῳ φέρω χάριν.“ 158 Auch andere bekannte Vertreter der russischen Literatur- und Kunstwelt waren mit Rostovtzeff befreundet. So gehörte auch der Schriftsteller Ivan Bunin (1870–1953) zum Bekanntenkreis des Althistorikers. Bunin, der in Moskau lebte, hat bei seinen Besuchen in St. Petersburg stets bei Rostovtzeffs zu Mittag gegessen und dort seine noch unveröffentlichten Stücke vorgelesen. 159 Der Althistoriker, der Anfang 1930er Bunin als „den her154 Vgl. Šruba 2004, 156–159; Depretto 1997, 94. Rostovtzeff und Zelinskij waren Stammgäste bei verschiedenen kulturellen Veranstaltungen in der russischen Hauptstadt und somit wohl die bekanntesten Professoren der Petersburger Universität in den literarischen Kreisen Russlands. Dabei sympathisierten einige Schriftsteller mehr Zelinskij als Rostovtzeff. Denn Zelinskij erlaubte sich beim „Besingen der Vergangenheit“ zu phantasieren. Rostovtzeff demgegenüber hielt sich an historischen Fakten fest, weswegen er als Pedant galt. Belyj, A.: Načalo veka. Vospominanija [Beginn des Jahrhunderts. Erinnerungen], Bd. 2, Moskau 1990, 388; Adamovič, G.: Odinočestvo i svoboda [Einsamkeit und Freiheit], St. Petersburg 2002, 251. 155 Vgl. Briefwechsel zwischen M. Rostovtzeff und V. Ivanov sowie zwischen ihren Frauen, abgedruckt in: Bongard-Levin 1997, 250–256. 156 Der Tod seiner Frau Lidija Zinovʼeva-Annibal im Jahr 1907 war ein schwerer Schlag für Ivanov. Nachdem der Dichter um 1910 mit seiner Stifttochter eine Beziehung eingegangen war, wurde er von der Petersburger Gesellschaft scharf kritisiert und war daraufhin gezwungen, einige Zeit im Ausland zu verbringen; dort heiratete er die Tochter seiner verstorbenen Frau, Vera Švarsalon. 1913 kehrte er mit ihr nach Russland zurück, wählte jedoch Moskau zu seinem Wohnort. Ivanovs und Rostovtzeffs bewahrten ihre Freundschaft und trafen sich gelegentlich auf der Krim. Vgl. ebd.; Dobužinskij, M.: Vospominanija [Erinnerungen], Moskau 1987, 254. 157 Ivanov, V.: De societatibus vectigalium publicarum populi Romani, in: Zapiski Klassičeskogo otdelenija Imperatorskogo Russkogo archeologičeskogo obščestva [Schriften der Klassischen Abteilung der Kaiserlichen Russischen Archäologischen Gesellschaft] 6 (1910), 1; Bongard-Levin 1997, 250f. 158 Ivanov, V.: Für M.I. Rostovtzeff, in: Ders.: Nežnaja tajna, St. Petersburg 1912, 112. 159 Vgl. Muromceva-Bunina, V.: Žiznʼ Bunina. Besedy s pamjatʼju [Bunins Leben. Gespräche mit dem Gedächtnis], Moskau 1989, 231.

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vorragendsten Novellisten“ 160 seiner Zeit sowie als „den einzig würdigen Erbe der großen Meister des russischen Stils“ 161 charakterisierte, unterstützte mit seinen Referenzen die Kandidatur des russischen Schriftstellers mehrmals beim Nobelpreiskomitee in Stockholm. Schließlich erhielt Bunin 1933 als erster russischsprachiger Autor den Nobelpreis für Literatur. 162 Rostovtzeffs Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Alexander Kuprin (1870–1938) ging noch auf die Zeit vor der Heirat des Althistorikers zurück. Durch die Freundschaften seiner künftigen Frau gelangte Rostovtzeff in den engen Kreis der Herausgeber der Zeitschrift „Mir božij“ [„Welt Gottes“]. 163 Die Zeitschrift stand bis zur Jahrhundertwende unter dem Einfluss der sogenannten „legalen“ Marxisten 164, die ihre Ideen über die Unvermeidbarkeit der kapitalistischen Entwicklung Russlands sowie über die Abhängigkeit des sozialpolitischen Wandels von wirtschaftlichen Faktoren in der offiziellen, legalen Presse verteidigt hatten. Rostovtzeff wirkte zusammen mit Bunin und Kuprin, dessen Frau ‒ die engste Freundin Sofija Rostovtzeffs ‒ seit 1903 die Zeitschrift leitete, an diesem Unternehmen mit. „Sie alle waren weit von dem Marxismus entfernt und arbeiteten dennoch in der Zeitschrift zusammen“ 165. Kuprins waren außerdem die nächsten Nach160 Rostovtzeffs Brief an das Nobelpreiskomitee vom 2.5.1931, zitiert nach: Bongard-Levin, G.: Akademik M.I. Rostovtezff i Nobelevskja premija I.A. Bunina [Der Akademiker M.I. Rostovtzeff und der Nobelpreis I.A. Bunins], in: Ders. (Hg.): Iz „russkoj mysli“, St. Petersburg 2002, 204. 161 Ebd. 162 Ausführlicher siehe dazu ebd., 198–207; Marčenko, T.: Russkie pisateli i Nobelevskaja premija [Russische Schriftsteller und der Literaturnobelpreis] (1901–1955), Köln 2007, 349f. 163 Die literarische und populärwissenschaftliche Monatszeitschrift „Mir Božij“ wurde seit 1892 in St. Petersburg herausgeben. Nachdem sie 1906 verboten worden war, erschien sie weiter bis 1917 als „Sovremennyj mir“ [„Moderne Welt“]. Rostovtzeff publizierte hier folgende Beiträge: „Mučeniki grečeskoj kulʼtury v I.–II. vv. do P. Chr.“ [„Märtyrer der griechischen Kultur im 1.–2. Jh. vor Chr.“] (Nr. 5, 1901, 479–481), „Theodor Mommsen“ (Nr. 2, 1904, 1–12), „Rimskij kolonat“ [„Der römische Kolonat“] (Nr. 1, 1911, 260–280, Nr. 2, 1911, 143–159). Vgl. Machonina, S.: Istorija russkoj žurnalistiki načala XX veka [Geschichte der russischen Journalistik Anfang des 20. Jahrhunderts], Moskau 2006; Vrangelʼ1964, 37–43. 164 Der „legale“ Marxismus, auch der „akademische“ Marxismus, war eine sozialpolitische Richtung des russischen Liberalismus Ende des 19. Jahrhunderts. Ihre Vertreter, wie P. Struve, M. TuganBaranovskij, S. Bulgakov sowie N. Berdjaev, versuchten die marxistische Lehre mit der liberalen Theorie der Reformierung der Gesellschaft zu verbinden. Sie kritisieren die Ideologie der Narodniki [Volkstümler], die an einen Sonderweg Russlands zum Sozialismus ‒ ohne das Stadium des Kapitalismus ‒ glaubten und dabei der russischen Dorfgemeinschaft [obščina] eine zentrale Bedeutung beimaßen. Die legalen Marxisten unterstrichen die fundamentale Rolle der ökonomischen Gesetzte. Dabei lehnten sie die marxistische Theorie der Revolution entschieden ab und beharrten auf sozialwirtschaftlichen Reformen als einem Mittel der politischen Transformation. Um 1900 schöpfte sich der legale Marxismus in Russland aus; viele Anhänger schlossen sich ab 1905 der Kadetten-Partei an. Vgl. Struve, P.: Kritičeskie zametki k voprosuob ėkonomičeskom razvitii Rossii, St. Petersburg 1894; Orlov, I.: Legalʼnyj marksizm [Der legale Marxsismus], in: Žuravlev, V. (Hg.): Revoljucionnaja myslʼ v Rossii XIX–nač. XX veka, Moskau 2013, 248–251. Ausführlicher siehe dazu Zweynert, J.: Eine Geschichte des ökonomischen Denkens in Rußland 1805–1905, Marburg 2002, 348–413. 165 Vrangelʼ 1968, 43.

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barn der Schwiegereltern des Althistorikers in Mishor auf der Krim. Hier traf sich Rostovtzeff mit Kuprin und anderen Schriftstellern, wie z. B. mit dem berühmten M. Gorʼkij 166. Darüber hinaus unterhielt der Althistoriker Freundschaften zu einigen Künstlern, die sich in der Vereinigung „Mir iskusstva“ [„Die Welt der Kunst“] (1899–1904) zusammenschlossen. Sie gehörten dem gleichen Kreis der Petersburger intelligencija wie die oben genannten Schriftsteller und Dichter. Das waren Maler unterschiedlicher Kunstrichtungen. Ihre Werke, die im Zeichen der Moderne standen, richteten sich gegen den Akademismus und Naturalismus und waren an der Ästhetik des Symbolismus orientiert. „Mir iskusstva“ übte einen großen Einfluss auf den Kunstgeschmack der ZeitAbb. 1: Porträt von M. I. Rostovtzeff genossen aus. Dabei wurde die Aufmerk(K. A. Somov 1931) samkeit nicht nur der westlichen Klassik zuteilt, sondern auch der heimischen Malerei, der angewandten Kunst und Architektur. 167 Mit dem dort führenden Künstler Alexander Benois (1870–1960) verband Rostovtzeff in den 1910er Jahren die Tätigkeit zum Denkmalschuz, und Konstantin Somov (1869–1939) zeichnete 1931 in Paris das wohl bekannteste Porträt des Althistorikers (Abb. 1). 168 166 Maxim Gorʼkij (Aleksej Peškov; 1868–1936) war einer der einflussreichsten russischen Schriftsteller. Bereits um die Jahrhundertwende erlangte Gorʼkij große Bekanntheit in Russland. In seinen Erzählungen und Dramen beschrieb er u. a. das schwere Leben der Lumpenproletarier [bosjaki]. Als Kritiker des Zarenregimes stand er der revolutionären Bewegung nahe. In der Sowjetunion war einer der populärsten und meistpublizierten Autoren. Gorʼkij gilt als Hauptrepräsentant des sozialistischen Realismus. Vgl. Das Gespräch zwischen Rostovtzeff und Gorjʼkij, in: KuprinaIordanskaja 1960, 118–120; zu Gorʼkij siehe ausführlicher Kjetsaa, G.: Maxim Gorki: Eine Biographie, Hildesheim 1996. 167 Zwischen 1898 und 1904 wurde die gleichnamige illustrierte Kunstzeitschrift monatlich herausgegeben. Vgl. Šruba 2004, 120f. 168 In den 1920/30er Jahren war Rostovtzeff oft in Europa, u. a. in Frankreich. Bei einem solchen Besuch erfolgte der Auftrag für das Porträt des Althistorikers, das im Sommer 1931 fertig war. Seitdem befand es sich im Haus Rostovtzeffs in New Haven. Somov zeichnete auch viele andere bekannte Russen, z. B. den Komponisten S. Rachmaninov oder den Dichter V. Ivanov. Nach dem Tod von S. Rostovtzeff erbte der Schüler des Althistorikers C.B. Welles das Bild; später wurde dieses an die Familie Gilliam übergeben. Ausführlicher siehe dazu Bongard-Levin 1997, 287–289; Ders. 2002, 188–197.

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1.1.4.3 Der Wohnort: Bolʼšaja Morskaja 34 Das Beispiel der Freundschaft zwischen dem Althistoriker und den markanten Künstlern des Silbernen Zeitalters zeigt, dass Rostovtzeff sich nicht nur für das außeruniversitäre, öffentliche Leben des Zarenreich aktiv engagierte, sondern auch selbst ein wichtiges Mitglied der hauptstädtischen beau monde war. Auch andere Schilderungen der Zeitgenossen bestätigen, dass der Althistoriker bereits vor der Ersten Russischen Revolution von 1905 eine prominente Rolle im öffentlichen Leben der Hauptstadt spielte. Seine Wohnung war bis 1917 ein wichtiger Treffpunkt der Petersburger intelligencija. Laut den Petersburger Adressbüchern zogen Rostovtzeffs zwischen 1904 und 1905 in das vierstöckige Haus Nr. 34 an der Bolʼšaja Morskaja Straße ein. 169 Sie galt als die nobelste Straße im Zentrum Petersburgs. Hier befanden sich neben zahlreichen Banken und adeligen Palais die Juwelierfirma Faberge sowie die Ausstellungsräume für Moderne Kunst. 170 Gleichzeitig hatte Rostovtzeffs Wohnsitz eine direkte Verbindung zum politischen Geschehen in der Hauptstadt, weil die Bolʼšaja Morskaja Straße den Newskij Prospekt durchkreuzte. Treffend beschrieb ein Zeitgenosse die Bedeutung vom Newskij Prospekt, diesem „politischen Barometer Russlands“ 171: „Seit der Zeit der Dekabristen und bis zur Thronabdankung des Nikolaus II. wirkten sich alle politischen Ereignisse auf den Newskij Prospekt aus. […] Auf dem Newskij Prospekt schlug Russlands Herz, hier arbeitete sein Hirn und atmete seine Seele. Es gab keine spezielle Absprache im Falle, wenn irgendwas passiert, sich ‚auf dem Newskij neben der Stadtduma‘ zu treffen, denn alle wussten, wo man hinlaufen und sich treffen muss: Auf dem Newskij […].“ 172 Die 6-Zimmer Wohnung Rostovtzeffs im oberen Stock an der Bolʼšaja Morskaja 34 wurde schnell eine der bekanntesten Adressen der Hauptstadt. Am Beispiel des Tagesablaufs des Althistorikers lässt sich der Lebensstil eines Vertreters der hauptstädtischen intelligencija im ausgehenden Zarenreich rekonstruieren. Rostovtzeff führte ein für die Hauptstadt gewöhnliches „Nachtleben“. Sein Tag begann um elf Uhr und dauerte bis etwa drei Uhr nachts. Montags und dienstags widmete sich der Gelehrte seiner Arbeit an der Petersburger Universität. Donnerstags und freitags konnte man Rostovtzeff neben der Universität in den Frauenkursen, in der Russischen Archäologischen Gesellschaft sowie in der Ermitage treffen. Mittwochs arbeitete er tagsüber gewöhnlich zu Hause und abends war Rostovtzeff bei Ivanov im Turm zu Gast. Zusammen mit seiner Frau besuch169 Vgl. Vesʼ Peterburg. Adresnaja kniga [Das ganze Petersburg. Adressbuch], St. Petersburg 1900–1913. 170 Vgl. Brojtman, L./Krasnova, E.: Bolʼšaja Morskaja ulica [Straße], Moskau 2005; Terkelʼ, E.: Lev Bakst i Zinaida Gippius, in: Iovleva, L. (Hg.): Tretʼjakovskie čtenija. 2010–2011, Moskau 2012, 206, 217. 171 Dymov 2011, 445. 172 Ebd.

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te Rostovtzeff wöchentlich Theater und Konzerte. Das Wochenende verbrachten Sofija und Michail Rostovtzeff in Landhäusern seiner Freunde. Die Sommerzeit bevorzugten sie im Haus von Rostovtzeffs Schwiegereltern auf der Krim zu verbringen. 173 Jeden Dienstagabend traf sich die Petersburger Elite im Haus des Althistorikers. Rostovtzeffs jours fixes waren berühmt; dort versammelten sich Dichter, Maler, Schriftsteller, Wissenschaftler. Diese Treffen galten als interessant und lustig. Einst hatte der Althistoriker seine Gäste begeistert, als er sich als Kater verkleidete und mit einem langen Pelzschwanz auf allen vieren auf dem Teppich kroch. Als Reaktion auf die in Petersburg aufsehenerregende Behauptung eines Mannes, mit einem neuen Verfahren alle für einen Mensch notwendigen Elemente aus Gras gewinnen und damit Hunger bekämpfen zu können, lud Rostovtzeff ein anderes Mal seine Freunde zu sich nach Hause ein, um Heu zu essen. 174 Folgende Erinnerung liefert eine einzigartige Beschreibung eines Empfangs bei Rostovtzeff an einem Dienstagspätabend 1905: „Um Viertel vor elf verließen wir das Hotel und sagten dem Kutscher, dass er uns zu Morskaja bringen soll, wo Rostovtzeffs lebten. Und trotzdem waren wir die ersten Gäste. Die Hausherrin Sofʼja Michajlovna, die große, gut gebaute, mit Geschmack angezogene Frau, empfing uns. Sie berichtete, dass Michail Ivanovič die Oper Wagners im Mariinskij Theater hört. Sie führte uns in ein geräumiges Kabinett mit bequemen Möbel und einem großen Schreibtisch, auf dem ein halb beschnittenes Buch eines modernen Schriftstellers […] lag, hinein. Kaum hatten wir ein paar Worte gesprochen, begannen andere Gäste einzutreten. Ich war von der Fertigkeit der Hausherrin begeistert, ungezwungene Gespräche zu verschiedenen literarischen Themen zu führen. Sie war über alle Strömungen im Bilde, illustrierte mit wenigen Sätzen geschickt einen gerade aufsehenerregenden Dichter. Um Mitternacht erschien der Hausherr, ein nicht großer, stämmiger, mit klugen Augen und freien Manieren 35-jähriger Mensch. Er fing gleich an, über Wagner, über die Oper, die er gerade gehört hatte, glänzend, leicht lächelnd zu sprechen. In einer Viertelstunde wurden wir auf ‚eine Tasse Tee‘ eingeladen. Alle erhoben sich und gingen ins Esszimmer mit einem sehr langen Tisch. […] Vor jedem Besteck stand eine Tasse Tee, auf dem Tisch wurden mehrere Flaschen verschiedener teurer Weine aufgestellt. Diener begannen, warme Speisen zu bringen, und brachten sie unaufhörlich. ‚Das ist ja eine Tasse Tee‘, dachte ich. […] Bis etwa zwei Uhr nachts verließ keiner seinen Platz. Danach standen nach und nach bejahrtere Menschen auf. Als erster verabschiedete sich der ehrwürdige Ka-

173 Vgl. Kuprina-Iordanskaja 1960, 85–90; Muromceva-Bunina 1989, 100, 132f, 152, 169; Ivanova 1990, 39f; Belyj, A.: Vospominanija [Memoiren] (= Reprint d. Ausg. Leningrad 1933/35), Bd. 1/2, London 1979, 282f; Bongard-Levin 1997, 64ff. 174 Vgl. Ivanova 1992, 39.

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reev 175. Auch Βakst 176 verweilte nicht lange. Gegen drei Uhr nachts blieb eine kleine Gesellschaft: Marʼja Karlovna [Kuprina], Kotljarevskijs – Nestor Aleksandrovič, der Akademiker und Professor für russische Literatur und seine Frau, Vera Vasilʼevna, die große, schöne Schauspielerin des Aleksandrijskij Theaters, der Bruder des Hausherren, der Offizier Fëdor Ivanovič 177 und wir [Bunins]. Dann begann schon eine unbefangene Freude. Es herrschte ein andauerndes Gelächter, [weil] Jan 178 Bauern, Bürger, kleine Gutbesitzer nachahmte. Rostovtzeff fügte spitzige Bemerkungen hinzu, Sofʼja Michaijlovna zitierte wieder eines der modernen Genies; die Zeit verging so schnell, dass es schon halb sechs war, als wir wieder zu uns kamen.“ 179 Somit erscheint Michail Rostovtzeff Anfang des 20. Jahrhunderts als ein charakteristischer Vertreter der hauptstädtischen bürgerlichen Oberschicht. In den fünfzeihn Jahren, die zwischen seiner Ankunft in St. Petersburg und dem oben beschriebenen Empfang vergangen waren, legte Rostovtzeff nicht nur den Grundstein für seine bewundernswerte wissenschaftliche Laufbahn, sondern machte sich einen Namen auch außerhalb der 175 Nikolaj Kareev (1850–1931) war Rostovtzeffs älterer Universitätskollege und Professor für Universalgeschichte. Nach den studentischen Unruhen 1899 wurde er entlassen und hielt zwischen 1901 und 1906 Vorlesungen in der Russischen Schule der Gesellschaftswissenschaften in Paris und wurde dort außerdem zum Präsidenten des Internationalen Instituts für Soziologie gewählt. Ab 1906 nahm er seine Lehrtätigkeit an der hauptstädtischen Hochschule wieder auf. Kareev war u. a. einer der Gründer und der langjährige Vorsitzende der Historischen Gesellschaft an der Petersburger Universität, zu deren Mitgliedern auch Rostovtzeff zählte. Als Mitglied der KadettenPartei wurde Kareev in die I. Staatsduma gewählt. Nach der Revolution setzte er seine wissenschaftliche Tätigkeit im sowjetischen Russland fort. Vgl. Kareev Nikolaj Ivanovič, in: Rostvcev/ Sidorčuk 2016, unter: http://bioslovhist.history.spbu.ru /component/fabrik/details/1/376.html (letzter Abruf am 10.8.2016). 176 Der Maler und Bühnenbilder Léon Bakst (1866–1924) war Mitglied der „Mir iskusstva“ und arbeitete in St. Petersburg und Paris; Bakst wurde dank seinen Bühnenbildern zu Djagilevs Ballets Russes berühmt. Vgl. Bakst Lev Samojlovič, in: BSĖ 2 (1970), 542f. 177 Der jüngere Bruder des Althistorikers Fëdor Rostovtzeff (1878–1933) hatte eine Militärlaufbahn eingeschlagen. Nachdem er das Orenburger Kadettenkorps besucht hatte, absolvierte er 1904 die Kaiser-Nikolaus-Akademie des Generalstabs in St. Petersburg. Er nahm am Russisch-Japanischen 1904/05 sowie am Ersten Weltkrieg teil und erhielt im Laufe seiner Karriere zahlreiche Militärauszeichnungen; 1917 wurde er zum Generalmajor befördert. Nach der Oktoberrevolution reiste er nach Odessa. Dort kämpfte er an der Seite der Weißen Armee gegen die Bolschewiki, schließlich emigrierte er nach Frankreich. In Paris war F. Rostovtzeff zusammen mit seiner Frau aktiv am Leben der russischen Emigranten beteiligt: Als Vorstandsmitglied des Bundes der russischen Offiziere organisierte er Diskussionen, hielt Vorträge und unterrichtete Militärgeschichte und Kriegswesen. Vgl. Rostovtzeff, F.: 4-aja Donskaja kazačʼja divizija v Russko-Japonskuju vojnu: Issledovanije voenno-istoričeskoe [Die 4. Donkosaken-Division im Russisch-Japanischen Krieg: militärgeschichtliche Untersuchung], Kiew 1910; Likhotvorik, A.: Rostovcev, Fëdor Ivanovič, in: Russkaja armija v pervoj mirovoj vojne [Russische Armee im Ersten Weltkrieg], unter: http:// www.grwar.ru/persons/persons.html?id=1033 (letzter Abruf am 9.12.2016); Veber, V.: Sestra miloserdija iz sela Nivnoe [Krankenschwester aus dem Dorf Nivnoe], in: Pamjatʼ roda 2/3 (2014), 2. 178 So wurde Ivan Bunin von seiner Ehefrau genannt. Vgl. Muromceva- Bunina 1989. 179 Muromceva-Bunina 1989, 408f.

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Universität. Durch seine Teilnahme an den literarisch-künstlerischen Unternehmungen Petersburgs wurde der Althistoriker zum Bestandteil der intelligencija des Silbernen Zeitalters und übte als solcher einen Einfluss auf das hauptstädtische Leben aus. Das war Rostovtzeffs Generation, die durch ihr religiös-philosophisches Suchen nach neuen gesellschaftlichen Idealen und ihr Streben nach einer entsprechenden Transformation der russischen Gesellschaft schließlich zu den Augenzeugen sowie zu den führenden Akteuren der radikalen politischen Umwälzungen ihres Heimatlandes wurde.

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1.2.1 Die Revolution von 1905–1907 1.2.1.1 Formierung der politischen Opposition zu Anfang des 20. Jahrhunderts In seiner Rezension der 1921 in englischer Sprache erschienenen Memoiren des Staatsmannes Sergej Witte (1849–1915) bezeichnete Rostovtzeff den russisch-japanischen Krieg und die Revolution von 1905 als zwei Ausgangspunkte für „the new chain of historical events“ 180. Diese Schrift ist in vielerlei Hinsicht interessant. Witte, der vor allem durch seine Tätigkeit als Finanzminister zwischen 1893 und 1903 Bekanntheit erlangt hatte, wurde von dem Althistoriker als „one of the most prominent figures in the political life of western and eastern Europe in the last quarter of the nineteenth and the first years of the twentieth centuries“ 181 genannt. Diese Bezeichnung verdiente Witte, aus Sicht des Autors, dank seiner intensiven Förderung der russischen Wirtschaft: Es werden der landesweite Ausbau des Eisenbahnsystems und die Regulierung der Bahntarife, die Stärkung des russischen Rubels durch die Golddeckung, die Einführung des Staatsmonopols auf Alkohol sowie die Öffnung russischer Märkte für ausländisches Kapital erwähnt. Die von Rostovtzeff angesprochene und begrüßte Industrialisierung wurde seit 1893 in Russland intensiv vom Staat vorangetrieben. Entsprechend veränderte sich die soziale Struktur in russischen Großstädten, wie das Beispiel der Herausbildung und Entwicklung der hauptstädtischen intelligencija, aber auch der Arbeiterschaft deutlich zeigt. Diese soziale und wirtschaftliche Modernisierung zusammen mit der bemerkenswerten kulturellen Entwicklung in Gestalt des Silbernen Zeitalters verkörperten das neue Russland, das sehr europäisch geprägt und orientiert war. Aber diese Entwicklung entsprach nicht der politischen Realität im Zarenreich. Der letzte russische Zar, den Rostovtzeff als „null und unhappy master“ 182 bezeichnete, wollte im Sinne der uneingeschränkten Autokratie weiter regieren. Dies stand jedoch sowohl dem Zeitgeist als auch der realen gesellschaft180 Rostovtzeff, M.: The passing of the Czars (Review of „The Memoirs of Count Witte“, ed. by A. Yarmolinsky, Canada 1921), in: Forum 65 (1921), 668. 181 Ebd. 182 Ebd., 669.

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lichen Entwicklung entgegen und wurde zur Ursache der kommenden gewaltsamen Auseinandersetzungen. 183 Dass die russische Gesellschaft für politische Veränderungen reif war, zeigte bereits ihre Reaktion auf die Hungersnot von 1891/92. In jenem Winter wurde die Unfähigkeit der zaristischen Regierung, den Hunger und die ausgebrochene Choleraepidemie in Zentralrussland zu bekämpfen, von der Öffentlichkeit scharf kritisiert. Gleichzeitig organisierten die zemstva, die 1864 gegründeten Landesverwaltungsorgane auf Kreis- und Gouvernementsebene, erfolgreich Spendensammlungen sowie Transporte von Lebens- und Arzneimitteln, um den Hungernden zu helfen. Dadurch fühlte sich der liberale Adel der zemstva in ihrem Potenzial und Streben nach mehr politischer Partizipation bestätigt. Solche gesellschaftlichen Initiativen wurden von der Regierung jedoch oft misstrauisch beobachtet. 184 Der Thronwechsel 1894 brachte keine erhoffte Änderung des Regimes. Als die zemstvo-Vertreter 1895 zur Krönung von Nikolaus II. empfangen wurden, gab ihnen der letzte Zar den Rat, „die sinnlosen Träumereien“ 185 von einer Konstitution zu vergessen, und schwor, das Prinzip der Autokratie hochzuhalten. Um 1900 war Russland von der weltweiten Rezession betroffen, was schließlich zur weiteren Destabilisierung des Zarenregimes führte. Unter den Folgen der Wirtschaftskrise mussten vor allem Arbeiter und Bauern leiden. Infolge der Verschlechterung der Lebensbedingungen kam es 1902 zu Bauernunruhen, und ein Jahr später traten die Arbeiter Südrusslands in Streik. Die sozialen Unruhen und Gewalt im Land nahmen im Allgemeinen zu. So stieg auch die Zahl der Attentate im Land. Der Terrorismus war vor allem gegen die führenden Politiker gerichtet: 1902 wurde der Innenminister Sipjagin und zwei Jahre später sein Kollege Pleve ermordet. Da die Maßnahmen zur Stabilisierung der politischen Situation unzureichend waren, griff die zaristische Regierung zu Repressionen. Dies führte jedoch zur weiteren Politisierung der russischen Gesellschaft. 186 An die Spitze der Protestbewegung im Zarenreich Anfang des 20. Jahrhunderts stellten sich die liberalen Kräfte: Die Vertreter der zemstva und der Bildungsschichten. Die Aktivisten der zemstvo-Bewegung, die sich 1899 in der Vereinigung „Beseda“ [„Gespräch“] organisiert hatten, initiierten die Zusammenarbeit mit liberalen städtischen Intellektuellen. Daraus entstand 1902 in Stuttgart die Zeitschrift „Osvoboždenie“ [„Befreiung“] unter der Redaktion des legalen Marxisten P. Struve und Mitarbeit des Historikers P. Miljukov. Im Januar 1904 wurde der „Sojuz osvoboždenija“ [„Bund der Befreiung“] in St. Petersburg zur Koordinierung der russischen liberalen Bewegung gegründet. Die Mitglieder des Bundes, die überwiegend zur liberalen intelligencija gehörten, forderten eine gesetzgebende Versammlung sowie allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wah-

183 Vgl. Hildermeier 2013, 962–965. 184 Vgl. Neutatz 2013, 88ff. 185 Zitiert nach Linke, H.: Geschichte Russlands: von den Anfängen bis heute, Darmstadt 2006, 147; Schramm 1983, 338f. 186 Vgl. Neutatz 2013, 103; Hildermeier, M.: Die Russische Revolution 1905–1921, Frankfurt am Main 1989, 22–51.

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len. Dies war der Ausgangspunkt eines organisierten Kampfes der russischen liberalen Bildungsschichten gegen die Autokratie. Ende Januar 1904 brach mit dem Angriff der Japaner auf die russischen Schiffe im Hafen von Port Arthur der russisch-japanische Krieg aus. Die in den 1890er Jahren begonnene wirtschaftliche Expansion Russlands im Fernosten, vor allem in China, betrachtete Japan als eine Gefährdung seiner Interessen in dieser Region und griff deswegen präventiv an. Die russische Regierung, die den Gegner unterschätzt hatte, versuchte diese militärische Auseinandersetzung für die Stabilisierung der innenpolitischen Lage zu nutzen. Der Krieg verlief für Russland jedoch sehr ungünstig und mit großen Verlusten. Mit jeder Niederlage der russischen Armee kamen die Schwächen der zaristischen Führung mehr ans Licht. Das außenpolitische Desaster beschleunigte die Konsolidierung der oppositionellen Kräfte gegen den autokratischen Herrscher und wurde zum Katalysator der Revolution. 187 Für Rostovtzeff markierten der 1904 begonnene Krieg Russlands gegen Japan sowie die kurz darauf ausgebrochene Revolution eine neue Etappe in der russischen Geschichte. Auch in seinem Leben stellten sie eine wichtige Zäsur dar. Spätestens seit dieser Zeit wurde der Althistoriker politisch aktiv. Seither lässt sich sein Engagement am politischen Geschehen seiner Heimat ‒ wenn auch mit unterschiedlicher Intensität ‒ konsequent verfolgen. Zum ersten Ereignis, dem russisch-japanischen Krieg, hatte Rostovtzeff einen persönlichen Bezug. Denn sein jüngere Bruder Fëdor kämpfte an der Front. Rostovtzeffs aktive Teilnahme am zweiten Ereignis, der Revolution von 1905, war insofern eine Selbstverständlichkeit, weil in jenem Jahr beinah jeder Vertreter der intelligencija sich verpflichtet fühlte, am begonnenen Demokratisierungsprozess teilzunehmen. 1.2.1.2 Die St. Petersburger Universität und die Politisierung der Hochschullehrer Am Vorabend der Ersten Russischen Revolution eskalierte die Lage landesweit. Einer der Zeitgenossen gab die Stimmung der Einwohner der Hauptstadt in dieser Zeit wie folgt wieder: „Die Notwendigkeit radikaler Reformen wurde allgemein anerkannt, Gespräche zu diesem Thema kamen sogar in Mode. Wo sich russische Leute auch versammelten, lief die Unterhaltung über beliebige Fragen auf die Diskussion über die gesellschaftlichen Angelegenheiten hinaus und nahm einen bitteren, empörten Unterton.“ 188 187 Im August 1905 wurde der Portsmouther Frieden zwischen Russland und Japan geschlossen. Die russische Delegation wurde vom ehemaligen Finanzminister Witte geleitet. Dank seinem Geschick konnte er relativ günstige Bedingungen für sein Heimatland vereinbaren. Russland verlor zwar Port Arthur und das Protektorat über die Mandschurei, musste jedoch keine Kontribution zahlen. Rostovtzeff würdigte Wittes Leistung bei den Friedensverhandlungen mit folgenden Worten: „His ability made it possible for Russia to settle the unfortunate war with Japan by the treaty of Portsmouth“. In: Rostovtzeff 1921, 668; vgl. auch Neutatz 2013, 105–109; Hildermeier 2013, 1011. 188 Benois, A.: Moi vospominanija [Meine Erinnerungen], Bd. 4/5, Moskau 1980, 418.

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Auch wenn Rostovtzeff sich um die Jahrhundertwende seiner wissenschaftlichen Karriere sowie einzelnen gesellschaftlichen Verpflichtungen vollständig widmete, war er dennoch ‒ gewollt oder ungewollt ‒ von der politischen Entwicklung betroffen. Einerseits machte er bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bei den meisten unpolitischen jours fixes Bekanntschaften mit Persönlichkeiten, die künftig eine entscheidende Rolle in der Politik des Landes übernehmen sollten. Andererseits befand er sich als Professor der Petersburger Universität, die sich in ein Epizentrum der studentischen Unruhen verwandelte, inmitten der Protestbewegungen. So lernte der Althistoriker zum Beispiel den künftigen Führer der russischen Linksliberalen Pavel Miljukov (1859–1943) kennen. Miljukov war bereits Anfang der 1890er Jahre ein anerkannter Fachmann für russische Geschichte. 189 Er wurde 1895 aus der Moskauer Universität wegen politischer Unzuverlässigkeit entlassen und erhielt zudem ein Lehrverbot. Es folgten die Jahre der Verbannung, zunächst in einer Provinzstadt und schließlich im Ausland. 1899 kehrte er nach Russland zurück und ließ sich in St. Petersburg nieder. Aber bereits im Februar 1900 wurde Miljukov wegen einer Rede verhaftet. Trotz der folgenden kurzen Ausweisung aus der Hauptstadt und des Arrests konnte er seine publizistische Tätigkeit in Russland fortsetzen; zwischen 1903 und 1905 hielt Miljukov in den USA Vorlesungen über die Slawen. Nach der Ersten Russischen Revolution widmete er sich vollständig der Politik und spielte seitdem bis zu seiner Emigration 1920 eine führende Rolle im politischen Leben Russlands. 190 Miljukovs große Leidenschaft war die Musik. In seinem Haus versammelte sich regelmäßig ein Quartett, bei welchem Miljukov die Alt-Partie sowie die zweite Geige übernahm und seine Frau Klavier spielte. Die erste Geige im Quartett Miljukovs spielte der ältere Bruder des Althistorikers, der Offizier Dmitrij Rostovtzeff (1867–1937) 191. An einem solchen Musikabend des Jahres 1899 wurde Michail Rostovtzeff Pavel Miljukov von seinem Bruder Dmitrij vorgestellt. 192 Das Ehepaar Miljukov sah bereits um die Jahrhundertwende Rostovtzeff als einen „künftigen großen Wissenschaftler“ 193 an. Seit dem Herbst 1904 und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Petersburger Universität zu einem Zentrum revolutionärer Bewegung in Russland. Zu diesem 189 Nach der Absolvierung des Studiums an der Moskauer Universität 1882 lehrte Miljukov bis 1895 als Privatdozent an der Fakultät für russische Geschichte an derselben Hochschule. 1892 verteidigte er erfolgreich die Magisterdissertation „Die Staatswirtschaft in Russland im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts und die Reform Peters des Großen“. Sein Kurs über die russische Kulturgeschichte, den er zwischen 1891 und 1895 anbot, hatte einen großen Erfolg. Als Miljukovs historisches Hauptwerk gelten die dreiteiligen „Skizzen zur russischen Kulturgeschichte“. Vgl. Miljukov, P.: Očerki po istorii russkoj kulʼtury [Skizzen zur russischen Kulturgeschichte], 4 Bde., St. Petersburg 1896–1903; Rostov, A.: Mijljukov, Pavel Nikolaevič, in: Volobuev, P. (Hg.): Političeskie dejateli Rossii 1917. Biografičeskij slovarʼ, Moskau 1993, 214–219. 190 Ebd. 191 Vgl. Likhotvorik 2016; Vandalkovskaja, M.: Pavel Nikolaevič Miljukov, in: Miljukov, P.: Vospominanija, Bd. 1, Moskau 1990, 23. 192 Vgl. Kuprina-Iordanskaja 1966, 170. 193 Warscher, T.: Vstreči s A.S. i P.N. Miljukov [Treffen mit A.S. und P.N. Miljukov], in: Segodnja vom 23.8.1935, 2.

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Zeitpunkt zählte die Hauptstadt etwa 20.000 Studenten, 4.500 davon studierten an der Universität. 194 Die studentische Bewegung bis 1902 hatte meistens einen spontanen Charakter; ihre Forderungen nach demokratischen Freiheiten bewegten sich im Rahmen der universitären Autonomie. In den darauffolgenden zwei Jahren politisierten sich einige der studentischen Gruppierungen. Es entstanden sowohl monarchistische, als auch sozialdemokratische Vereinigungen, die unter einem unmittelbaren Einfluss entsprechender Parteien standen. So vereinigten sich im Januar 1903 die beiden sozialdemokratischen Studentengruppen zu einer Organisation, die mit dem Petersburger Komitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Verbindung stand. Dementsprechend veränderten sich Parolen der Studenten, die ab 1904 u. a. die Beendung des Krieges und eine konstituierende Versammlung forderten. Die Professoren waren ebenfalls in diese Bewegung involviert. So waren die Montagsvorlesungen des Privatdozenten E. Tarle über die französische und englische Revolution überfüllt und wurden als Auftakt für studentische Versammlungen genutzt. 195 Während Studenten „das akademische Leben zerstörten“ 196, trafen sich Professoren privat, um über die bestehende politische Situation zu diskutieren. Im Herbst 1904 organisierte der „Bund der Befreiung“ eine landesweite Bankettkampagne. Den Auftakt bildete das Bankett zum 40-jährigen Jubiläum der Justizreform am 20. November in St. Petersburg. Daran nahmen etwa 650 Vertreter der intelligencija teil, die eine Resolution über die Notwendigkeit der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung verabschiedeten. Dieser Akt wurde detailliert in der Presse erläutert, weshalb er eine große Resonanz in der Öffentlichkeit bekam. Schließlich verbreiteten sich Bankette landesweit: Insgesamt fanden bis zum Oktober 1905 mehr als 120 solcher Versammlungen in 34 russischen Städten statt. 197 Das Hauptziel der Bankettkampagne in russischen Großstädten war die Mobilisierung der Gesellschaft gegen das autokratische Regime. Pavel Miljukov schrieb in seinen Erinnerungen Folgendes: „Die Bezeichnung ‚Bankette‘ selbst rief die Periode des offenen Kampfes in der Herrschaft von Louis Philippe ins Gedächtnis, der zum Sturz der Julimonarchie geführt hatte. […] Die Redner erwähnten in ihren aufregenden Vorträgen das Wahlrecht und eine verfassungsgebende Versammlung. In diesen Monaten wurde das alles durch eine gehobene Stimmung ergänzt […].“ 198

194 Vgl. Nefedov, S.: Studenčeskoe dviženie v Peterburge nakanune revoljucii 1905 goda [Studentische Bewegung in Petersburg am Vorabend der Revolution von 1905], in: Bylye Gody 40 (2016), 509. 195 Vgl. Rostovcev, E.: Revoljucionnye kommemoracii v Peterburgskom universitete na rubeže XIXXX vv. [Studentische Kommemorationen an der Petersburger Universität], in: KLIO 4 (2011), 94; Nefedov 2016, 508–515. 196 Kareev 1990, 225. 197 Vgl. Krylova, E.: Bankentaja kampanija na stranicach liberlʼnoj pečati v 1904 godu [Bankettkampagne auf den Seiten der liberalen Presse im Jahr 1904], in: Vestnik Čerepoveckogo gosudarstvennogo universiteta 7 (2014), 42; Löwe, H.-D.: Die Rolle der russischen Intelligenz in der Revolution von 1905, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 32 (1983), 237ff. 198 Miljukov, P.: Vospominanija [Erinnerungen], Moskau 1990, Bd. 1, 276.

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Auch Michail Rostovtzeff nahm an diesen Banketten teil und bestätigte somit seine Reputation eines liberalen Wissenschaftlers. 199 Im Laufe der Bankettkampagne begann sich das liberal-intellektuelle Milieu nach Berufsgruppen zu organisieren. So entstand auf Initiative der Petersburger Professoren die Idee, den „Akademischen Bund“ zu gründen 200. Der Berufsverband der Universitätsprofessoren verlieh der ganzen oppositionellen Bewegung im Grunde das geistige Profil. Zum ersten Mal schlossen sich die liberalen Hochschullehrer in einer oppositionellen Organisation zusammen, die zum unmittelbaren Vorläufer der Partei der Konstitutionellen Demokraten wurde. 201 Als Gründungsmanifest des Akademischen Bundes sollte ein Memorandum über die „Nöte des Bildungswesens“ dienen. Rostovtzeff war an der Vorbereitung des Memorandums beteiligt und gehörte zu dessen Erstunterzeichnern. 202 In diesem Dokument präsentierten die Gelehrten der russischen Öffentlichkeit erstmalig ihren gemeinsamen politischen Standpunkt. Im Aufruf betonten die Wissenschaftler die wichtige Rolle der Bildung für die Entwicklung eines Staates. Dabei konstatierten die Autoren einen „erbärmlichen Zustand“ 203 der russischen Bildung: „Die Hochschulen […] stehen vor dem Chaos und befinden sich im Zustand völliger Auflösung. Die Freiheit von Forschung und Lehre fehlt in ihnen. Das Prinzip der akademischen Autonomie, das sich bei anderen Kulturvölkern als so fruchtbar erwiesen hat, ist bei uns völlig unterdrückt. In unseren Hochschulen herrschen Anordnungen, die aus der Wissenschaft ein Werkzeug der Politik zu machen suchen. […] Die Bedingungen, unter welchen der Hochschullehrer tätig ist, kann man nur als sehr schwer, wenn nicht sogar als erniedrigend bezeichnen. Ihrer eigentlichen Berufung nach soll die Universität Menschen heranziehen, die sich bewusst und wahrheitsliebend zu der sie umgebenden Realität verhalten; indessen fehlt die für die Verwirklichung dieser verantwortungsvollen Aufgabe notwendige Freiheit

199 Vgl. Bongard-Levin 1997, 66. 200 Der Gründungskongress des Akademischen Bundes fand zwischen 26. und 28. März 1905 statt. Vgl. Ivanov, A.: Rossijskij učënyj korpus v zerkale pervoj russkoj revoljucii [Russländisches wissenschaftliches Korps im Spiegel der ersten russischen Revolution], in: Neprikosnovennyj zapas 6 (2005), 83. 201 Vgl. Torke, H.-J.: Einführung in die Geschichte Russlands, München 1997, 180; Elkin, B.: Die russische Intelligentsia am Vorabend der Revolution, in: Pipes, R. (Hg.): Die russische Intelligentsia, Stuttgart 1962, 49–55. 202 Die Schrift wurde von 16 Akademikern der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 125 Professoren und 201 Privatdozenten der verschiedenen Hochschulen Petersburgs unterzeichnet. Aus diesem Grund wurde sie als „Notiz der 342“ bekannt. Vgl. Maurer, T.: Der Weg zu Mündigkeit, in: Hyperboreus 10 (2004), 70; Zapiska o nuždach prosveščenija (342 učënych) [Memorandum über die Nöte des Bildungswesens (der 342 Gelehrten)], in: Vsemirnyj vestnik 4 (1905), Neprikosnovennyj zapas 6 (2005), 37ff. 203 Zapiska o nuždach prosveščenija (342 učënych) 1905, 37.

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der Forschung und der Lehre in solchem Maße, dass nicht einmal die rein wissenschaftliche und die Lehrtätigkeit vor administrativer Einmischung sicher sind.“ 204 Zum Schluss resümierten die Autoren, dass die „akademische Freiheit mit der bestehenden Staatsordnung Russlands unvereinbar“ 205 gewesen sei und weiter: „Wir drücken die tiefe Überzeugung aus, dass es zum Wohle des Landes notwendig ist, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und die damit unauflöslich verbundene politische Freiheit einzuführen“. 206 Der Aufruf der Wissenschaftler ging über die spezifischen Fragen der Universitätsrechte hinaus und griff den Bereich der Politik auf. Ursprünglich sollte das Dokument bei dem Bankett anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Moskauer Universität am 12. Januar 1905 in der Hauptstadt feierlich präsentiert werden. Die Feierlichkeiten wurden aufgrund der ausgebrochenen Revolution abgesagt; das „Memorandum über die Nöte des Bildungswesens“ erschien am 20. Januar in der Petersburger liberalen Tageszeitung „Naša žiznʼ“ [„Unser Leben“]. 207 1.2.1.3 Ausbruch der Revolution „Da hatten wir dieses verhängnisvolle Jahr erreicht, das ferner die Bedeutung einer ‚Generalprobe‘ vor der endgültigen Vorstellung, der Revolution des Jahres 1917, bekommen sollte. Weder die Ermordung von Sipjagin und Pleve, noch die alarmierenden Nachrichten vom Kriegsschauplatz hatten so einen Eindruck gemacht, welchen der bedeutungsvolle 9. Januar erweckte. [Der 9. Januar] wurde zu einem historischen Datum, vergleichbar mit dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli oder mit dem Sturz des zweiten Empire français am 4. September usw.“ 208 So beschrieb ein Zeitgenosse den Tag, der zum Auslöser der Revolution von 1905 wurde. Am 9. Januar fand die friedliche Demonstration der Arbeiter gegen ihre schlechten Lebensbedingungen vor dem Winterpalast in St. Petersburg statt. Das Ziel der Kundgebung war die Übergabe einer Petition mit sozialen Forderungen an den Zaren. Die Aktion wurde vom Priester Gapon und seiner Organisation „Vereinigung der russischen Fabrikarbeiter St. Petersburgs“ organisiert. Die friedliche Delegation von etwa 10.000 Arbeitern, die Zarenbilder und Ikonen vor sich trugen, wurde von Regierungstruppen beschossen. Diese Gewalttat am „Blutsonntag“, die mehr als 100 Tote und 1.000 Verletzte forderte,

204 Ebd., zitiert nach Hagen, M.: Die russische Freiheit: Wege in ein paradoxes Thema, Stuttgart 2002, 58ff. 205 Ebd. 206 Ebd. 207 Vgl. Zapiska o nuždach prosveščenija (342 učënych), in: Naša žiznʼ vom 20.1.1905. 208 Benois 1980, 417f.

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löste heftige Reaktionen in der Bevölkerung aus. Das Reich wurde durch andauernde Streiks der Arbeiter und Unruhen unter den Bauern erschüttert. 209 Das universitäre Leben wurde durch das politische Geschehen stark beeinflusst. Am 7. Februar 1905, dem ersten Tag des Semesters, beschlossen die Studenten der Petersburger Universität aus politischen Gründen bis zum 1. September zu streiken. Obgleich sich die Hochschullehrer gegen die Unterbrechung der wissenschaftlichen Studien aussprachen, ließen sie den Semesterbeginn bei jeder Sitzung des Professorenrates erneut verschieben. Einerseits sympathisierte der größte Teil der Professoren mit den Forderungen der Studenten nach einer Demokratisierung des autokratischen Regimes. Diese Wissenschaftler, die im Akademischen Bund aktiv waren, mussten die Vorwürfe ihrer konservativen Kollegen, die Studenten seien durch das „Memorandum über die Nöte des Bildungswesens“ angespornt worden, zurückweisen. Andererseits sahen die Hochschullehrer keine Möglichkeit, in der bestehenden politischen Situation ein normales akademisches Leben zu führen. Damit begründeten sie die dauernde Schließung der Universität. 210 Durch die Veröffentlichung des Reskripts am 18. Februar über die Einberufung einer beratenden Volksvertretung versuchte der russische Zar sein Land aus der Krise zu führen. Zudem wurde die Öffentlichkeit ermuntert, ihre Vorschläge zur Verbesserung der Lage in Russland zu äußern. Dies war ein entscheidender Anstoß für die weitere Politisierung der russischen Gesellschaft. 211 Dadurch erlebte die Bewegung der intelligencija einen neuen Höhepunkt. Im März und April 1905 fanden offizielle Gründungen verschiedener professioneller Bünde statt. Die insgesamt 14 Zusammenschlüsse der Ärzte, Apotheker, Lehrer, Juristen, Professoren, Ingenieure und anderer Angestellter wurden in der Dachorganisation „Bund der Bünde“ [„Sojuz sojuzov“] vereinigt. Bis zum Sommer 1905 zählte der Bund der Bünde etwa 50.000 Mitglieder. 212 Gemeinsam forderten die Mitglieder des Bundes die Beschränkung der Autokratie durch eine Volksvertretung. Die meisten Bünde schlossen auch soziale Forderungen in ihre Programme ein. Es gab jedoch auch Unterschiede zwischen den Programmen einzelner Berufsverbände. Der Akademische Bund, der zu diesem Zeitpunkt mehr als 1.500 Mitglieder und Filialen landesweit hatte, forderte zwar allgemeine und gleiche, aber nicht direkte Wahlen. Er trat für eine Volksvertretung ein, verlangte aber nicht eine konstituierende Versammlung. 213 Die Bünde wurden durch ihr organisiertes Auftreten zu einer ernst zu nehmenden Kraft, die einen enormen Einfluss auf die Öffentlichkeit hatte. Streik als Protestform wurde von ihnen zur Erreichung politischer Ziele genutzt. So beschloss der Akademische Bund auf seinem ersten Kongress Ende März 1905, bis zur Herstellung der universitären Autonomie keine Vorlesungen mehr zu halten. Nach der katastrophalen Niederlage der russischen Armee bei Tsuschima am 14. Mai wurden die Parolen des Bundes der 209 Vgl. Alexander/Stökl 2009, 524ff; Hildermeier 1989, 51f. 210 Vgl. Ivanov, A.: Universitety Rossii v 1905 g. [Russlands Universitäten im Jahr 1905], in: Istoričeskie zapiski 88 (1971), 117f; Universitet i politika [Die Universität und Politik], St. Petersburg 1906, 4. 211 Vgl. Hildermeier 2013, 1001. 212 Vgl. Löwe 1983, 244. 213 Ebd.; Ivanov 2005, 85.

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Bünde noch radikaler. Man sprach darüber, dass nun alle möglichen Mittel in Betracht gezogen werden sollten, um die Einberufung der konstituierenden Versammlung zu ermöglichen. 214 Am 6. August 1905 wurde das Gesetz über eine beratende Versammlung veröffentlicht. Die Wahlen zur nach dem Innenminister genannten „Bulygin-Duma“ sollten nach Kurien stattfinden. Das Projekt begünstigte vor allem den Adel, das städtische Bürgertum sowie die Bauern. Gleichzeitig wurden die Arbeiter und die ärmere intelligencija außer Acht gelassen. 215 Ein solches Zugeständnis der Regierung konnte die oppositionellen Kräfte nicht mehr zufriedenstellen. Die Mehrheit der Bünde trat für einen Boykott der Bulygin-Dyma ein. Drei Bünde wollten jedoch die Möglichkeit der politischen Reformierung nutzen und stimmten für die Teilnahme an der beratenden Duma. Das waren der Bund der Schriftsteller und Journalisten, der Gymnasiallehrer und auch der Akademische Bund. 216 Dies führte zur Trennung mit der Generallinie der Dachorganisation, des Bundes der Bünde. Die Trennung wurde noch deutlicher, nachdem während des zweiten Kongresses des Akademischen Bundes Ende August in St. Petersburg eine weitgehende Universitätsautonomie verkündet worden war. Die am 27. August eingeführte „Vorläufige Ordnung zur Leitung der Universitäten“ stellte die Grundprinzipien der universitären Autonomie, die die russischen Hochschulen 1884 verloren hatten, wieder her. Fakultäten konnten ihre Dekane und Universitätsräte ihren Rektor wählen, auch wenn der letztere vom Minister bestätigt werden musste. Die Aufrechterhaltung der universitären Ordnung wurde nun den Hochschulen überlassen. Im Falle der Unruhen hatten Universitätsräte die Möglichkeit, die Schließung der Hochschule direkt beim Minister zu beantragen. In der Ordnung wurde außerdem die Verantwortung der Studenten vor professoralen Disziplinargerichten bestätigt. 217 Die liberalen Professoren begrüßten die akademische Autonomie, die sie als einen ersten Schritt auf dem ersehnten Demokratisierungsweg betrachteten. Die anfängliche Freude der Hochschullehrer über ihren Erfolg nahm im Verlaufe der Revolution ab. Denn unter dem Deckmantel der Autonomie wurden die russischen Hochschulen in Orte verwandelt, wo man einen allgemeinen politischen Streik zu vorbereiten begann. Am 1. Oktober beschloss die Petersburger Filiale des Akademischen Bundes, die Organisation der Meetings nicht zu verhindern und sich gleichzeitig um einen normalen Verlauf des akademischen Semesters zu bemühen. 218 Studentische Zusammenkünfte fanden zunächst außerhalb der Vorlesungs- und Seminarzeiten statt; seit Ende September wurden sie jedoch täglich. Am 30. September nahmen bis zu 8.000 und am 5. Oktober bis zu 15.000 Menschen an den nicht offiziell erlaubten Meetings in Räumen der Petersburger 214 Löwe 1983, 246f. 215 Laut dem Wahlgesetz sollte der Adel 34% der Wahlmänner erhalten, die Bauern 43% und das Besitzbürgertum 23%. Vgl. Torke 1985, 72f. 216 Löwe 1983, 350. 217 Vgl. Jakovlev, V.: Peterburgskij universitet v revoljucii 1905–1907 [Petersburger Universität in der Revolution 1905–1907], in: Vestnik LGU 2 (1980), 20f. 218 Vgl. Ivanov 1971, 133.

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Universität teil. Die überwiegende Zahl der Teilnehmer waren dabei Arbeiter, die zu diesen Versammlungen von der Straße eingeladen worden waren. 219 Der Professorenrat musste Anfang Oktober die Unmöglichkeit, solche Zusammenkünfte zu verhindern, anerkennen. Den Professoren blieb es lediglich, an die „Vernunft der Gesellschaft und Studentenschaft“ 220 zu appellieren. Gleichzeitig entzogen sie sich jeglicher Verantwortung für mögliche Folgen der Massenversammlungen und wandten sich an die Regierung mit der Bitte, andere Räumlichkeiten für die Arbeitermeetings zur Verfügung zu stellen. 221 Am 14. Oktober wurde die Resolution der Regierung, welche die Schließung der Hochschulen empfahl, diskutiert. Die russischen Universitäten schlossen ihre Tore. Nur die Petersburger Universität weigerte sich und setzte ihre Tätigkeit fort. Diese Entscheidung begründeten die Professoren darin, dass für sie „eine wahre Autonomie nur vorbehaltlich der Versammlungs-, Meinungsfreiheit sowie der Unantastbarkeit der Person denkbar“ 222 sei. Es wurde betont, dass Meetings unerwünscht seien und das Studium stören würden. Zelinskij referierte darüber, dass auf diesen Versammlungen die Klassenverhetzung sowie Vorschläge zur Vernichtung der inteligencija zur Sprache kämen. 223 Dennoch wurde die Schließung der Universität vom Professorenrat als „nicht zweckmäßig“ 224 eingeschätzt. Die Lehrveranstaltungen sollten ‒ trotz „dem allgemeinen anormalen Zustand des Landes und dem dadurch unvermeidbaren psychischen Zustand der gesamten russischen Gesellschaft“ 225 ‒ weiter angeboten werden. Dies ergänzten die Hochschullehrer durch Folgendes: „Gleichzeitig macht der Rat die Regierung noch mal darauf aufmerksam, dass eine weitere Abweichung vom unvermeidbaren und direkten Weg progressiver Reformen mit unzähligen Übeln nicht nur für die Hochschulbildung, sondern auch für das ganze Land droht.“ 226

219 Protokoll der Ratssitzung der Kaiserlichen St. Petersburger Universität am 30.9. und 5.10.1905, St. Petersburg 1906, 102, 123. Rostovtzeff war bei allen Sitzung des Professorenrates 1905 anwesend. 220 Vgl. Protokoll der Ratssitzung am 10.10.1905, St. Petersburg 1906, 130. 221 Ebd.; Protokoll der Ratssitzung am 1.10.1905. 222 Protokoll der Ratssitzung am 15.10.1905, 143. 223 Ebd., 142. 224 Ebd. 225 Ebd., 143. 226 Ebd.

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1.2.2 Russland als konstitutionelle Autokratie 1.2.2.1 Das Manifest vom 17. Oktober 1905 Die oben aufgeführte Antwort der Professoren an die zaristische Regierung erfolgte in der Situation des ausgebrochenen Generalstreiks, dessen Ausgangspunkt der Boykott der Eisenbahner gebildet hatte. Bereits am 12. Oktober wurde der Βahnverkehr nicht nur in St. Petersburg, sondern landesweit eingestellt. Den Eisenbahnern schlossen sich viele Beschäftigten im öffentlichen Dienst an, wodurch der normale Alltagsablauf zum Erliegen kam. Für den Erfolg des Oktoberprotestes, an dem 1,6 Mio. Arbeiter teilnahmen und von dem etwa 120 Städte des Zarenreichs erfasst wurden, war nicht nur sein Ausmaß entscheidend. Vor allem führte die Geschlossenheit der oppositionellen Bewegung zum gewünschten Ziel. 227 Die Unterstützung der Streikenden durch die intelligencija spielte für den Ausgang der Protestbewegung eine enorme Rolle. Am 14. Oktober bestätigte der Bund der Bünde seine Beteiligung am Generalstreik. Vielerorts wurde die Protestbewegung von den Vertretern der intelligencija koordiniert. Der Akademische Bund sowie andere Verbände organisierten Geldsammlungen für die Streikenden; auch die Unternehmer zahlten den ausständigen Arbeitern ihre Löhne weiter. Gleichzeitig machte sich eine Lebensmittelund sogar Trinkwasserknappheit bemerkbar. 228 In dieser Situation war der Zar zu einem Entscheidungsschritt gezwungen. Am 17. Oktober 1905 waren einige Wissenschaftler in der Wohnung des Professors für russische Literatur N. Kotljarevskij versammelt, um die politische Situation zu diskutieren. Der Augenzeuge berichtete: „[…] plötzlich rannte der junge Professor Rostovtzeff mit einem bedruckten Papier ins Zimmer hinein. Das war das berüchtigte Manifest vom 17. Oktober, das gerade in einer Staatsdruckerei gedruckt wurde. Es sollte am nächsten Tag öffentlich bekannt gegeben werden. Gesichter leuchteten auf.“ 229 Das „Manifest über die Verbesserung der staatlichen Ordnung“ vom 17. Oktober 1905 rief die gesetzgebende Volksvertretung, die Staatsduma, ins Leben. Es wurden außerdem die bürgerlichen Freiheiten, wie die Unantastbarkeit der Person, die Freiheit des Gewissens, des Wortes, der Versammlungen und Vereine, eingeführt und ein erweitertes Wahlrecht angekündigt. Das ganze Land wurde von feierlicher Stimmung erfasst. Menschen gratulierten einander auf den Straßen und versammelten sich, um gemeinsam das Ende der uneingeschränkten Autokratie zu feiern. 230

227 228 229 230

Vgl. Hildermeier 2013, 1013; Schramm 1983, 359; Löwe 1983, 251. Vgl. ebd.; Ivanov 2005, 86. Kovalevskij M.: Moja žiznʼ. Vospominanija [Mein Leben. Erinnerungen], Moskau 2005, 360. Vgl. Miljukov 1990, 315ff; Hildermeier 2013, 1015.

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Die Anfangswirkung des Oktobermanifestes wurde durch die darauffolgenden Grund- und Wahlgesetzte jedoch geschwächt. Am 11. Dezember 1905 wurde das Wahlgesetz verkündet. Es berücksichtigte nun auch die Arbeiter der großen Betriebe und das Kleinbürgertum, war jedoch indirekt und nicht gleich. Die Wahlen sollten nach Kurien stattfinden; dabei wurde eine Adelsstimme 3 bürgerlichen, 15 bäuerlichen und 45 Arbeiterstimmen gleichgesetzt. Durch das Reskript vom 20. Februar 1906 wurde ein Staatsrat eingeführt. Die Duma und der Reichsrat als Oberhaus konnten nur vom Zaren, der ein Vetorecht gegen alle Gesetzentwürfe besaß, einberufen und aufgelöst werden. Dabei wurde der Reichsrat zur Hälfte vom Zaren ernannt. Am 23. April 1906 wurden die Grundgesetze veröffentlicht. Laut dieser oktroyierten Verfassung waren alle Minister dem Zaren verantwortlich, in dessen Händen auch Entscheidungen bezüglich der Armee, Flotte sowie der Außenpolitik lagen. Die gewählte Volksvertretung hatte keine Kontrollrechte gegenüber der Zarenfamilie und dem Militär. Die Regierung verfügte außerdem durch den Paragraph 87 über eine Ausnahmegesetzgebung. 231 Dennoch war das Zarenreich nicht mehr das alte; die verkündeten demokratischen Veränderungen führten zu tiefgreifenden Veränderungen der politischen Landschaft. Nach der Veröffentlichung des Manifestes zerfiel die Geschlossenheit der oppositionellen Kräfte. Das liberale Lager distanzierte sich von der Revolution, allen voran die Hochschullehrer. Sie begrüßten „Russlands Wiedergeburt und seinen Eintritt in eine neue Ära des politischen Lebens“ 232. Obgleich es ihnen bewusst war, dass im Manifest nicht alle Anforderungen berücksichtigt wurden, riefen sie auf, die errungenen Fortschritte zu schützen und somit einen „friedlichen und organischen Entwicklungsweg“ 233 zu gewährleisten. Den Aufruf richtete der Petersburger Professorenrat, der „die in der Geschichte möglichen bitteren Zufälle“ 234 vermeiden wollte, an die „kulturellen Kräfte des Volkes“ 235. Diese Befürchtungen waren nicht grundlos, wie die Gewaltwelle zeigt, die nach der Veröffentlichung des Oktobermanifestes mit neuer Kraft ausgebrochen war. Ende Oktober 1905 rief der entstandene St. Petersburger Rat [Sowjet] der Arbeiter zu einem erneuten Generalstreik auf. Die Versuche der Arbeiter, den achtstündigen Arbeitstag eigenwillig einzuführen, stieß auf einen Widerstand der Arbeitgeber, die mit unterschiedlichen Strafmaßnahmen, wie Lohnabzügen oder Schließungen der Fabriken, reagierten. Gleichzeitig begann der neue Ministerpräsident Witte die verbleibenden Proteste mit Gewalt niederzuschlagen und die Führer der Aufständischen zu verhaften. Am 12. November musste der Streik beendet werden. Anfang Dezember 1905 brach ein Aufstand in Moskau aus. Er dauerte zwar nur 10 Tage, war aber von Barrikaden- und Straßenkämpfen begleitet. So versuchten die unzu231 Vgl. Torke 1997, 182f.; Schramm 1983, 376f.; Pipes, R.: Die Russische Revolution, Bd. 1, Berlin 1992, 277–283. 232 Protokoll der Ratssitzung der Kaiserlichen St. Petersburger Universität am 19.10.1905, St. Petersburg 1906, 156f. 233 Ebd., 157. 234 Ebd. 235 Ebd.

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friedenen Arbeiter unter der Führung der revolutionären intelligencija, die Revolution zu vertiefen. Die linken Parteien waren jedoch zu diesem Zeitpunkt noch zu unbedeutend, um solche Aktionen zum gewünschten Erfolg zu führen. 236 Auch die Bauern waren durch das Manifest enttäuscht und begannen, Gutshöfe zu plündern und zu verbrennen. Die Agrarunruhen erreichten im November 1905 mit 796 Vorfällen ihren Höhepunkt. 237 Die Lage wurde zudem durch Anarchie, eine Begleiterscheinung jeder Revolution, erschwert. Es waren Kriminelle und rechtsextreme nationalistische Gruppierungen, wie die „Schwarzhunderter“ [„Černosotency“], die durch Städte und Dörfer zogen und Überfälle auf zufällige Passanten sowie antisemitische Pogrome organisierten. 238 In der hauptstädtischen Hochschule brodelte es wie nie. Am 18. Oktober fanden das Meeting an der Universität und die anschließende Demonstration der Studenten durch das Zentrum Petersburgs statt. Das zaristische Manifest wurde zerrissen, an das Kreuz der universitären Kirche wurde eine rote Fahne angehängt. Es gab aber viele Studenten, die zusammen mit der Professorenschaft das Zarenmanifest begrüßten. Es kam oft zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den Schwarzhundertern; Ende November wurden dem Assistenten des Universitätsinspektors durch Hooligans tödliche Verletzungen zugefügt. 239 Die landesweite Gewaltwelle wurde zu einem wichtigen Argument für die liberalen Professoren gegen eine weitere Unterstützung der antizaristischen Proteste. Am 19. Oktober 1905 wurde der Aushang über die Schließung der Universität an deren Tür angebracht und die Polizei platzierte sich vor dem Gebäude. Als Mitte Februar 1906 die Wiederaufnahme der Lehrveranstaltungen an der Universität St. Petersburg erneut diskutiert wurde, äußerten die Hochschullehrer ihr Bedenken, dass es wieder zu Meetings und Aufenthalten fremder Personen in universitären Räumen kommen könnte. Auch Rostovtzeff präsentierte seinen Standpunkt zu dieser Frage. Der Althistoriker war sicher, dass die Meetings als Protestform bereits überholt seien. Die Gesellschaft sei zurzeit durch die Repression unterdrückt, aber sie werde darauf sicherlich reagieren. Man wisse nicht, welche Formen künftige Proteste annehmen werden. Diese Protestformen würden sich zurzeit „crescendo“ 240 entwickeln. Der Althistoriker war sich sicher, dass es im Falle der Eröffnung der Universität zu erneuten Ausschreitungen kommen würde: „Außerdem zeigt die historische Erfahrung, dass die Studentenschaft in einer solchen unterdrückten Stimmung besonders scharf reagiert, und vielleicht wird man sich anstatt mit Meetings mit einer bewaffneten Besetzung der Universität, ähnlich wie in Moskau, oder vielleicht mit einer noch heftigeren Protestform auseinandersetzen müssen.“ 241 236 237 238 239

Vgl. Löwe 1983, 253f. Vgl. Hildermeier 2013, 1022. Ebd., 1020ff. Vgl. Jakovlev 1980, 22; Protokoll der Ratssitzung der Kaiserlichen St. Petersburger Universität am 17.12.1905, St. Petersburg 1906, 204. 240 Protokoll der Ratssitzung der Kaiserlichen St. Petersburger Universität am 16.2.1906, St. Petersburg 1907, 27. 241 Ebd.

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Schließlich beschlossen die Petersburger Professoren keinen Antrag auf die Wiederaufnahme der Lehrveranstaltungen bei der Regierung zu stellen. Die russischen Universitäten blieben bis zum Herbst 1906 geschlossen. Das politische Engagement der Hochschullehrer äußerte sich zu diesem Zeitpunkt auf zwei Ebenen: Zum einen begannen sie unter dem Bildungsminister I. Tolstoj, einem aktiven Befürworter der Hochschulautonomie, das Projekt eines neuen Universitätsstatutes auszuarbeiten. 242 So wurden Rostovtzeffs Vorschläge im Dezember 1905 bei den Sitzungen des Professorenrates diskutiert und nach einer Abstimmung angenommen. 243 Zum anderen beteiligten sich die Wissenschaftler aktiv an Parteigründungen. 1.2.2.2 Gründung der Kadetten-Partei Die Mehrheit der Mitglieder des Akademischen Bundes, der nominell noch bis 1918 bestand, traten der Partei der Konstitutionellen Demokraten ‒ nach den ersten Buchstaben kurz „Kadetten“ genannt ‒ bei. Der Gründungsparteitag der Kadetten fand zwischen 12. und 18. Oktober 1905 in Moskau statt. Da zwei Drittel der Delegierten die Stadt aufgrund des Generalstreiks nicht erreichen konnten, geschah die abschließende Institutionalisierung auf dem zweiten Parteitag im Januar 1906 in der Hauptstadt. Die Kadetten nahmen zusätzlich die Bezeichnung „Partei der Volksfreiheit“ an und unterstrichen, dass sie außerhalb der Klassen stehen. Das Programm der Konstitutionellen Demokraten enthielt Forderungen nach einer verfassungsgebenden Versammlung und einer dem Parlament verantwortlichen Regierung. Das autokratische Regime Russlands sollte durch die konstitutionell-monarchische Ordnung nach dem Vorbild der englischen Monarchie ersetzt werden. Die Partei trat außerdem für eine Erweiterung und Demokratisierung der lokalen Selbstverwaltung ein. Die Volksvertretung sei auf der Grundlage eines allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts ohne Unterschied der Religion, Nationalität und des Geschlechts zu wählen. Die Unantastbarkeit der Person sowie die Religions-, Presse-, Rede-, Versamm242 Unter dem Vorsitz des Bildungsministers I. Tolstoj wurde eine spezielle Kommission aus Hochschullehrern gegründet, die Vorbereitungsarbeiten leistete; die Projektdokumente wurden an die Universitätsräte zur Besprechung geschickt. Im Januar 1906 rief schließlich Tolstoj eine Konferenz der Rektoren und Professoren russischer Universitäten zusammen, die das Projekt des universitären Statutes abschließend erarbeitete. Laut diesem Projekt sollten russische Universitäten eine breite Autonomie erhalten. Das Projekt wurde jedoch nicht realisiert, weil im April 1906 I. Tolstoj durch den konservativen Politiker P. von Kaufman abgelöst wurde. Vgl. Avrus 2001, 92f. 243 Am 19. Dezember sprach sich der Althistoriker für die Beibehaltung der Anmerkung zum Paragraph 100 des geplanten Universitätsstatutes aus, in der die allgemeine Bildung und die Steigerung des intellektuellen Niveaus der Russen als Ziel einer universitären Ausbildung prokamiert wurde und nicht etwa die Aushändigung der Diplome und Verleihung von dienstlichen Privilegien. Zwei Tage später wurde Rostovtzeffs Vorschlag zum Paragraph 8 mit der Stimmenmehrheit angenommen. Es ging darum, dass die Professoren, sich im Staatsdienst befindend, keine Uniform tragen und keine Ränge oder Orden erhalten sollten. Vgl. Protokoll der Ratssitzung der Kaiserlichen St. Petersburger Universität am 19.12. und am 21.12.1905, St. Petersburg 1906, 215, 221.

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lungs- und Vereinsfreiheit sollten garantiert werden. Die Bewegungsfreiheit wollten die Kadetten durch die Abschaffung der Pässe gewährleisten. Die Todesstraffe sollte für immer abgeschafft werden. Bei der Nationalitätenfrage unterstützten die Konstitutionellen Demokraten eine kulturell-nationale Selbstbestimmung, waren aber die Verfechter eines unitären Staates. Eine Ausnahme sollten schließlich Polen und Finnland als autonome Gebiete bilden. Die zentrale Agrarfrage wollten sie mit einer Enteignung der Gutsbesitzer gegen eine „gerechte“ 244 Entschädigung lösen. Darüber hinaus wurden eine Arbeitsschutzgesetzgebung sowie eine allmähliche Einführung des 8-Stunden-Arbeitstages gefordert. Das Programm enthielt neben einer umfassenden Finanz- und Wirtschaftsreform auch die Organisation der Volksbildung auf den Prinzipien der Freiheit, Demokratisierung und Dezentralisierung. 245 Die Kadetten traten für eine evolutionäre Entwicklung der Gesellschaft in Richtung der liberal-demokratischen Staatsordnung ein. Der Parteiführer Pavel Miljukov sah in der Tätigkeit seiner Partei eine Chance, „die revolutionäre Bewegung in die Bahnen des parlamentarischen Kampfes zu lenken“ 246. „Für uns dient die Stärkung der Traditionen des freien politischen Lebens der Beendigung der Revolution und nicht etwa deren Fortsetzung“ 247, schrieb Miljukov. Die Idee der friedlichen politischen Veränderungen im Staat verbreiteten die Kadetten mit Hilfe ihrer zahlreichen Presseorgane, allen voran der Zeitung „Reč“ [„Rede“]. 248 Zu drei Vierteln rekrutierten sich die Kadetten aus Mitgliedern der Gesellschaftsorganisationen, Angestellten der kleinen und mittleren Betriebe sowie der Dienstintelligencija, die eine Funktion der ideologischen Leitung ausübte. Die Gesamtzahl der Mitglieder betrug in den Jahren 1905–1907 etwa 50.000. Danach sank die Mitgliederzahl allmählich. 249 Von insgesamt 367 kadettischen Organisationen befanden sich 293 in den russi244 Programma konstitucionno-demokratičeskoj partii [Das Programm der konstitutionell-demokratischen Partei], in: Polnyj sbornik platform vsech političeskich partij, Moskau 2001, 61. 245 Vgl. ebd.; Stepanov, S.: Kadety [Kadetten], in: Vestnik Rossijskogo universiteta družby narodov 8 (2006), 75–79; Zeveleva, A.: Političeskie partii Rossii [Politische Parteien Russlands], Moskau 2000, 151–158; Šelochaev, V.: Konstitucionno-demokratičeskaja partija v Rossii i ėmigracii [Konstitutionell-demokratische Partei in Russland und in der Emigration], Moskau 2015, 88–118. 246 Miljukov, P.: God borʼby [Das Kampf-Jahr], St. Petersburg 1907, 497f. 247 Ebd. 248 Die offizielle Tageszeitung der Kadetten „Reč“ existierte seit dem Februar 1906 und hatte eine Auflage von etwa 30.000 Exemplaren. Das war eine relativ teure Zeitung, die an die wohlhabende liberale intelligencija orientiert war. Es gab jedoch ein ermäßigtes Abonnements für Dorflehrer, Bauern, Arbeiter, Studenten. Das Vorbild für „Reč“ stellte die Londoner „Times“ dar. Außerdem hatten noch „Russkie vedomosti“ [„Russische Nachrichten“] und „Russkoe slovo“ [„Russisches Wort“] eine liberal-demokratische Ausrichtung. Vgl. Kostrikova, E.: Russkaja pressa i diplomatija nakanune Pervoj mirovoj vojny [Russische Presse und Diplomatie am Vorabend des Ersten Weltkrieges] 1907–1914, Moskau 1997, 20ff; Kotov, B.: Gazeta „Reč“ v dni ijulʼskogo krizisa 1914 goda [Die Zeitung „Reč“ in der Juli-Krise 1914], in: Vestnik MGIMo 4 (2014), 10. 249 Nur im Frühjahr 1917 zählten die Kadetten bis zu 70.000 Mitglieder. Vgl. Šelochaev 2015, 114f; Zeveleva 2000, 152f.

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schen Städten und nur 74 auf dem Land. Die größte Zahl der Konstitutionellen Demokraten konzentrierte sich dabei in Moskau und St. Petersburg. 250 Der Parteitag wählte das Zentralkomitee, das aus zwei Abteilungen, einer Petersburger und einer Moskauer, bestand. Die hauptstädtische Abteilung übernahm die Ausarbeitung der Gesetzentwürfe und Leitung der Kadetten-Fraktion in der Duma; das Zentralkomitee in Moskau war für die Agitations- und Publikationstätigkeit zuständig. Zwischen 1905 und 1907 wurden 44 Vertreter der intelligencija, darunter Professoren, Rechtsanwälte, Ärzte, Journalisten, und 11 adelige Gutsbesitzer in das Zentralkomitee gewählt und kooptiert. 251 Der Kern des Zentralkomitees unter der Leitung von P. Miljukov, der große Autorität in seiner Partei genoss, blieb über die Jahre unverändert. Die Existenz des Zentralkomitees wurde größtenteils durch die Spenden ihrer wohlhabenden Mitglieder, wie des Juristen V. D. Nabokov, gewährleistet. Der Geldmangel in der Parteikasse war durch die unregelmäßigen Zahlungen der Mitgliedsbeiträge bedingt. Dabei setzten die Kadetten in den ersten Jahren nach der Parteigründung eine sehr niedrige Summe als Mitgliedsbeitrag fest, um Arbeiter, Bauern, Handwerker, Händler und Angestellte anzuwerben. 252 Die Stärke der Kadetten lag darin, dass sich die Elite der russischen intelligencija in dieser Partei zusammenfand. Es waren Menschen, die ihre intellektuelle Tätigkeit in der Regel mit gesellschaftlichem Engagement verbanden. Sie hatten langjährige Erfahrung in der Zemstvo- und Städteverwaltung, waren geübte Redner, verfügten über verzweigte Beziehungen im Inn- und Ausland. Unter solchen günstigen Voraussetzungen begann Anfang 1906 die Wahlkampagne zur ersten Duma. 1.2.2.3 Wahlen zur ersten Staatsduma: Beteiligung der Professoren an der Politik Michail Rostovtzeff trat, genauso wie etwa F. Zelinskij, 1905 der Partei der Konstitutionellen Demokraten bei. Bemerkenswert ist, dass sein Vater mit dem Aufsatz „Aus Anlass der Wahlen zur Staatsduma“ 253 fast gleichzeitig die Gründung einer rechtsliberalen Partei in Orenburg initiiert hatte, die sich einen Monat später dem „Bund des 17. Oktober“ ‒ kurz „Oktobristen“ genannt ‒ anschloss. 254 Die Oktobristen und die Kadetten als Linksliberalen bildeten das liberale Lager des russischen Parteiensystems. 250 Šelochaev 2015, 114. 251 Ebd., 127. 252 In der Tat traten relativ viele von ihnen während der Revolution 1905/07 der „Partei der Volksfreiheit“ bei. Nach der II. Duma verließen sie enttäuscht die Kadetten-Partei. Vgl. ebd; Zeveleva 2000, 152ff. 253 Rostovtzeff, I.: Po povodu vyborov v Gosudarstvennuju Dumu [Aus Anlass der Wahlen zur Staatsduma], in: Orenburgskaja gazeta vom 25.10.1905. Vgl. Popov 2008. 254 Der 74-jährige Ivan Rostovtzeff, der ein beachtliches Ansehen in der Stadt hatte und bereits im Ruhestand war, widmete sich nun der Politik. Am 19. November 1905 wurde auf seiner Initiative der „Bund der Rechtmäßigkeit und Ordnung auf den Grundlagen des Manifestes vom 17. Oktober 1905“ in Orenburg gegründet. Zu den Aufgaben des Bundes zählten u. a. die Unterstützung

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Die Kadetten-Partei galt auch als „Professorenpartei“ 255, weil dort viele Wissenschaftler eine aktive Rolle spielten. Das politische Engagement der Professoren in der Wahlkampagne wurde von ihnen selbst als „Bürgerpflicht“ 256 wahrgenommen. Die Kampagne wurde von Kadetten gut, „nach europäischer Art“ 257, organisiert. Die massive Agitation der Konstitutionellen Demokraten äußerte sich in der Herausgabe von Broschüren, Flugblättern, Zeitungen sowie der Organisation von Meetings. Im Zentrum stand die Frage nach der Bedeutung der Staatsduma für das politische Leben. Dabei wurde die Unwirksamkeit der gewaltsamen Aufstände gegen das Regime unterstrichen und es wurde zum legalen, friedlichen, parlamentarischen Kampf aufgerufen. Bei öffentlichen Versammlungen kam es hin und wieder zu verbalen Gefechten zwischen den Kadetten und den Sozialdemokraten bzw. Sozialrevolutionären, die für einen Boykott der Dumawahlen warben. Dennoch konnten die Aktivisten der Partei der Volksfreiheit große Erfolge erzielen: „Die städtische Intelligencija strömte zu Meetings in Massen herbei, berauschte sich an der Kunst der Rhetorik. Die Reden unserer Professoren, Advokaten, Zemstvo-Aktivisten, die gewohnt waren, ihre Gedanken öffentlich zu präsentieren, wurden aufmerksam angehört, lösten manchmal einen tosenden Beifall aus, dessen ungeachtet, dass sie die geweckten politischen Appetite nicht anschürten, sondern dämmten. Seit den ersten Meetings war es klar, dass die Boykott-Kampagne nicht gelingt, dass die Petersburger wählen werden und die kadettischen Kandidaten durchbringen.“ 258

255 256 257 258

der Regierung bei der Durchführung des Oktobermanifestes und bei der Wiederherstellung der Ordnung und des Friedens. Vgl. ebd. Tyrkova-Williams, A.: Na putjach k svobode [Auf dem Weg zur Freiheit], Moskau 2007, 10. Kareev 1990, 234. Tyrkova-Williams, A.: To, čego bolʼše ne budet. Vospominanija [Das, was nicht mehr passieren wird. Erinnerungen] 1998, 387. Ebd., 388; Šelochaev 2015, 148–159.

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Zu den populärsten Rednern der Kadetten-Partei in der Hauptstadt zählten der angesehene Zemstvo-Aktivist F. Rodičev 259, V. Nabokov 260 und P. Miljukov. 261 Inwieweit sich Rostovtzeff im Wahlkampf zur ersten Duma engagierte, lässt sich anhand der vorhandenen Quellen schwer feststellen. Bekannt ist, dass Sofija Rostovtzeff sich an der Wahlkampagne in ihrem Admiraltejskij Stadtbezirk aktiv beteiligte. In der Tat übernahmen die Frauen „die ganze Schwarzarbeit“ 262 im Wahlkampf der Kadetten: Sie verteilten Parteiliteratur, sammelten Geld, organisierten Meetings. Mit 179 von 478 Abgeordneten stellte die Partei der Konstitutionellen Demokarten die stärkste Fraktion in der ersten Staatsduma. Der Boykott der Dumawahlen durch die sozialistischen Parteien trug wesentlich zum Sieg der Kadetten bei, die „von den eröffneten Möglichkeiten betrunken“ 263 waren. Sofija Rostovtzeff erinnerte sich an den Tag, als die Wahlergebnisse bekannt wurden: „Sie erzählte mit ihrem gewöhnlichen Humor, wie der mondäne, elegante V[ladimir] D[mitrievič] Nabokov in ihr Wohnzimmer mit dem Aufruf ‚Gewählt!‘ eindrang. Er war so aufgeregt und wartete nicht, dass das Zimmermädchen seinen Besuch ankündigte. Er hat sogar vergessen, seine Galoschen auszuziehen, und beschmutzte den teuren hellen Teppich Rostovtzeffs.“ 264 Der 27. April, der Tag der Eröffnung der Staatsduma, wurde zu einem Nationalfeiertag: Schulen, Geschäfte sowie eine Großzahl der Fabriken waren geschlossen. Die gewählten Abgeordneten, die sich aus allen Regionen des Zarenreichs in die Hauptstadt begaben, wurden von der Bevölkerung Petersburgs feierlich empfangen. 259 Fëdor Rodičev (1854–1932) stammte aus einer Adelsfamilie, absolvierte 1876 die juristische Fakultät der Petersburger Universität; als Großgrundbesitzer beteiligte er sich aktiv an der zemstvoVerwaltung. Er gehörte zu den führenden Persönlichkeiten der Kadetten, war Mitglied des ZK und galt als der beste Redner dieser Partei. Rodičev war der Abgeordnete der I. bis IV. Staatsduma (1906–1917), Minister für Finnlands Angelegenheiten in der Provisorischen Regierung und wurde im November 1917 in die Konstituierende Versammlung gewählt. Er nahm an der Weißen Bewegung teil und emigrierte 1920 in die Schweiz. Vgl. Golostenov, M.: Rodičev Fëdor Izmailovič, in: Volobuev 1993, 27f. 260 Vladimir Nabokov (1869–1922), der Sohn des Justizministers D. Nabokov in der Regierung Alexanders II., lehrte als Professor für Strafrecht in der Kaiserlichen Schule für Rechtswissenschaft in St. Petersburg. Er war Mitglied des Bundes der Befreiung, des ZK der Kadetten-Partei und Abgeordneter der I. Staatsduma. Nach der Februarrevolution übernahm Nabokov die Aufgaben des Geschäftsführers in der Provisorischen Regierung; nach dem bolschewistischen Staatsstreich trat er dem Komitee zur Rettung des Vaterlands und der Revolution bei. Nachdem die Kadetten-Partei Ende November 1917 verboten worden war, reiste er zunächst auf die Krim und dann nach England, wo er zusammen mit Miljukov die Zeitschrift „The New Russia“ herausgab. 1920 zog er nach Berlin um; zwei Jahre später starb er an den Folgen eines Attentatsversuchs auf Miljukov. Vgl. ebd., 226f. 261 Vgl. Tyrkova-Williams 1998, 391. 262 Ebd., 393. 263 Ebd. 264 Ebd., 392.

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In der ersten Duma waren insgesamt 16 Professoren vertreten, u. a. der Historiker Nikolaj Kareev sowie die Juristen Vladimir Nabokov und Lev Petražickij aus der Petersburger Universität. Das Ansehen der Delegierten in der russischen Gesellschaft war enorm. Nach der ersten Duma-Sitzung wurden sie, darunter auch Kareev, von der Menschenmenge auf den Händen getragen. 265 Die Antwort auf die Frage, warum sich der Althistoriker bei diesem wichtigen Ereignis eher im Hintergrund aufhielt, liegt nahe. Rostovtzeff war in erster Linie ein Wissenschaftler, der sogar in der Zeit der allgemeinen Begeisterung für die Politik seiner Berufung folgte und an seiner wissenschaftlichen Karriere konsequent arbeitete. Derselbe Kareev gestand später, es sei ihm bereits seit den ersten Tagen seiner politischen Tätigkeit in der Duma klar geworden, dass „er nicht für eine politische Karriere geboren war“ 266. Die Tätigkeit in der Staatsduma war für die Professoren einerseits mit einem beachtlichen Zeitaufwand verbunden. Andererseits war die zaristische Regierung in der revolutionären Situation gegenüber oppositionellen Wissenschaftlern äußerst misstrauisch. Einige der kandidierenden Hochschullehrer wurden während der Wahlkampagne administrativ überwacht. Einer der gewählten Wissenschaftler erinnerte sich an jene Zeit wie folgt: „Da keiner aus Angst, ein Unheil auf sich zu ziehen, besonders zum Abgeordneten werden wollte, war die Einstellung mehr oder weniger folgende: Willst du den Hals in die Schlinge stecken, mach, wir werden dich davon nicht abhalten.“ 267 Zu einer solchen Stimmung unter der Professorenschaft trug nicht zuletzt der Artikel 53 des Wahlgesetztes vom August 1905 bei. Demzufolge musste die Person, die im Staatsdienst einen festen Gehalt erhielt, im Falle der Wahl in die Duma ihren Posten verlassen. Obwohl einige Professoren-Abgeordneten auf Ersuchen ihrer Kollegen die wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität fortsetzen konnten, geschah dies in der Regel im Rahmen einer außerplanmäßigen Professur und ohne Gehalt. 268 Dieser Problematik widmete Rostovtzeff 1906 seinen Aufsatz „Professoren und die Staatsduma“. 269 Der Althistoriker spricht über die gewählten Professoren und über ihr 265 Vgl. Kareev 1990, 237; Obolenskij 1988, 341. 266 Ebd., 234. 267 Kovalevskij, M., zitiert nach Chaijlova, N.: Maksim Maksimovič Kovalevskij: „Bez terpimosti net svobody“ [„Ohne Duldsamkeit [gibt es] keine Freiheit“], in: Kara-Murza, A. (Hg.): Rossijskij liberalizm: idei i ljudi, Moskau 2007, 461. 268 Die Vergütung der Abgeordneten der Staatsduma wurde 1906 auf 10 Rubel pro Tag während der Sitzungsperiode festgelegt. Erst 1908 wurde ein jährliches Gehalt von 4.200 Rubel für die DumaAbgeordneten eingeführt. Vgl. Gribovskij, M.: Učastie professorov i privat-docentov rossijskich universitetov v rabote Gosudarstvennych Dum v načale XX veka [Teilnahme der Professoren und Privatdozenten an der Tätigkeit der Staatsduma am Anfang des 20. Jahrhunderts], in: Vestnik Tomskogo gosudarstvennogo universiteta 5 (2013), 47. 269 Rostovtzeff, M.: Professora i Gosudarstvennaja Duma [Professoren und die Staatsduma] aus dem Jahr 1906, in: RAN SPb 1054/1/29, zitiert nach Tunkina, I.: Izbrannye publicističeskie statʼi 1906–1923, Moskau 2002, 17–20.

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mit der Wahl verbundenes Ausscheiden aus der Universität. Zunächst geht er auf die Regierungsverordnung über die Mitgliedschaft in politischen Parteien ein; im Februar 1906 war die Verordnung auf der Sitzung des Universitätsrats diskutiert worden. Die Parteizugehörigkeit wurde als eine „Sache der persönlichen Überzeugung“ 270 von der Regierung anerkannt. Gleichzeitig wurde auf die Plichten der Hochschullehrer als Beamte hingewiesen, „sorgfältige Vollstrecker des Herrscher-Willens“ 271 und von den „Absichten der Regierung durchdrungen“ 272 zu sein. Rostovtzeff lehnt die Gleichsetzung der Professoren mit Beamten entschieden ab. Die Hauptmerkmale der Bürokratie ‒ „Hierarchie und Unterstellung“ 273 ‒ würden einen Widerspruch zum Lebensziel der Hochschullehrer, der Suche nach der Wahrheit, darstellen. Der Autor des Aufsatzes vermutet hinter dem Artikel 53 die Absicht der Regierung, die Zulassung der „progressiven Kräfte“ 274 in die Duma zu verhindern. Er spricht über die Professoren, deren Mehrheit „absolut unbemittelt“ 275 sei und durch die Wahl in die Staatsduma das Risiko auf sich nimmt, ihre Familien an die Existenzgrenze zu bringen. Die Ergebnisse der Wahlen beurteilt Rostovtzeff mit dem Satz: „Es gibt wenige Professoren in der Duma, aber dennoch mehr, als man hätte erwarten können“ 276. Rostovtzeff bezweifelt dabei die These einer Unvereinbarkeit von wissenschaftlicher und politischer Tätigkeit. Als Beispiel nennt er Virchow und Mommsen, die Politik und Wissenschaft erfolgreich vereinbaren konnten. Dies gelang einerseits, weil die Deutschen ihre Professoren „nicht bevormundeten“ 277. Andererseits würden Wissenschaftler allgemein über bestimmte Fähigkeiten verfügen: „Die Arbeitsfähigkeit eines Professors ist größer als die Arbeitsfähigkeit der anderen Bürger im russischen Staat […] Derjenige, der die schwere Schule des Erreichens einer Professur absolvierte, weiß das. Wie viele Menschen gibt es, deren Arbeitstag voller anstrengender geistiger Arbeit nicht weniger als 10–11 Stunden beträgt? Für einen gewissenhaften Wissenschaftler und Professor ist dies nur das Minimum, überwiegend in der ersten Zeit. Je weiter, desto mehr gewöhnt sich ein Mensch, wenn er der russischen Gewohnheit folgend nicht faul wird, seine Zeit einzuteilen, zu sparen und seine Arbeit zu verdichten. Ein Professor, der arbeiten kann, hat freie Zeit und er wird diese Zeit ohne Nachteile für Universität und Wissenschaft immer haben.“ 278

270 Protokoll der Ratssitzung der Kaiserlichen St. Petersburger Universität am 12.2.1906, St. Petersburg 1907, 36. 271 Ebd. 272 Ebd. 273 Rostovtzeff 1906, 17. 274 Ebd. 275 Ebd. 276 Ebd., 18. 277 Ebd. 278 Ebd.

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Für Rostovtzeff stand fest, dass die Arbeit in der ersten Duma sehr anstrengend sein und die ganze Zeit der gewählten Professoren in Anspruch nehmen würde: „Derjenige, der diese Zeilen schreibt, schätzt wissenschaftliche Interessen nicht weniger als jemand anderer. Derjenige, der sich dem Staatsleben widmet, wird für einige Zeit die Wissenschaft verlassen. Ich neige nicht dazu, Professoren als Politiker zu überschätzen. Ich muss sogar sagen, dass Professoren als Politiker schlecht sind. […] Die Professoren dienten jedoch immer der Freiheit und der Wahrheit. Und das, was wir heute brauchen, ist nichts anderes, als die Freiheit und die Wahrheit.“ 279 Rostovtzeff rief seine Kollegen auf, die Professoren-Abgeordneten für einige Zeit von der alltäglichen Last der Lehrtätigkeit zu befreien. Damit wollte der Althistoriker sie unterstützen und ihnen die gleichzeitige Ausübung der zwei schwierigen Staatspflichten ermöglichen. Vor allem aber war für Rostovtzeff wichtig, dass Professoren an der Universität blieben und überhaupt als Professoren weiter wirkten. 280 So war Rostovtzeff einer der vier Professoren, die im September 1906 Kareev als außerordentlichen Professor für Universalgeschichte ohne Gehalt an der Universität St. Petersburg erfolgreich vorschlugen. 281 Dennoch schafften es nur einzelne Hochschullehrer, ihre neuen politischen Aufgaben mit der Lehrtätigkeit zu vereinbaren. Dies gelang z. B. dem Professor für Rechtsphilosophie L. Petražickij, der in die erste Staatsduma gewählt war. Er musste jedoch im Juli 1906 den Dekanposten niederlegen und wechselte zur außerordentlichen Professur. Seine Teilnahme an der Protesterklärung, dem Vyborger Manifest, nach der Duma-Auflösung im Juli 1906 führte zur dreimonatigen Inhaftierung und Entziehung des Wahlrechts. 282 Petražickij widmete sich in der folgenden Zeit vollständig den wissenschaftlichen Studien. Das Bildungsministerium verhinderte jedoch bis 1915 Petražickijs Ernennung zum ordentlichen Professor. 283

279 Ebd., 19. 280 Ebd. 281 Vgl. Protokoll der Ratssitzung der Kaiserlichen St. Petersburger Universität am 25.9.1906, St. Petersburg 1907, 135f. 282 Das sogenannte „Vyborger Manifest“, das auf Initiative der Kadetten von etwa 200 Abgeordneten der aufgelösten Duma im Juli 1906 in Vyborg verabschiedet worden war, rief die russische Bevölkerung auf, keine Steuer zu zahlen und die Einberufung der Rekruten zu verweigern. Der Aufruf hatte keine gewünschte Wirkung; viele Unterzeichner wurden verhaftet. Vgl. Hildermeier 2013, 1041; Neutatz 2013, 121. 283 Vgl. Anisimov, O.: Pravovedy Peterburgskogo Universiteta v Gosudarstvennoj Dume Rossijskoj imperii [Rechtswissenschaftler der Petersburger Universität in der Staatsduma des Russischen Imperiums], St. Peterburg 2016, 24–30.

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1.2.3 Rostovtzeffs Abkehr von der Politik (1907–1913) Die Konstitutionellen Demokraten, deren erste Schritte in der Politik als eine Erfolgsgeschichte bezeichnet werden können, waren nicht in der Lage, ihre politischen Forderungen umzusetzen. Die erste Duma existierte 72 und die zweite schließlich 105 Tage. Nach der Auflösung der ersten Duma wurde die Rettung dieser Institution zur Hauptaufgabe der Partei der Kadetten. Die Auseinandersetzungen zwischen der Staatsduma und dem Zaren führten zu einer Paralyse der politischen Arbeit. Die Kadetten mit ihren Gesetzgebungsinitiativen, wie etwa in der Agrarfrage, gerieten in eine politische Isolation. Einerseits wurden sie von konservativen Parteien kritisiert, andererseits begannen die Linken, die ihre Boykottpolitik seit der zweiten Dumawahl aufgegeben hatten, immer wieder die Nutzlosigkeit der kadettischen Politik hervorzuheben. Von einer Duma-Wahl zur anderen verloren die Konstitutionellen Demokraten an Wählerstimmen. Am 3. Juni 1907 löste der Zar die zweite Duma auf und änderte gleichzeitig das Wahlrecht zugunsten der adeligen Großgrundbesitzer. Mittels einer komplizierten Wahlregelung sicherte sich Nikolaus II. eine nachgiebigere Duma, die entsprechend der vorgeschriebenen Amtsdauer fünf Jahre tätig war und in der die Oktobristen und die Rechten dominierten. 284 Dieser Akt wird als ein Staatsstreich bezeichnet, weil der Notverordnungsparagraph, auf den man sich berief, solche Änderungen untersagte, stieß jedoch auf keinen großen Widerstand. 285 Die Oktobristen mussten angesichts der andauernden Gewalt im Lande dies als eine Notwendigkeit akzeptieren; die Kadetten wollten trotz der Missbilligung des neuen Wahlrechts ihre Mitwirkung an politischen Entscheidungen bewahren. Außerdem verbreitete sich in der Gesellschaft eine zunehmend apathische Stimmung. Gleichzeitig wurden die verbleibenden Proteste durch Verhaftungen und Strafmaßnahmen niedergeschlagen. Somit war die revolutionäre Welle, die seit 1905 das Land erschütterte, zunächst besiegt. 286 1.2.3.1 1907–1908: Enttäuschung über Politik und Tätigkeiten zum Denkmalschutz Rostovtzeff wandte sich bereits während der Revolution von der Politik ab. Der Althistoriker war vor allem vom politischen Kurs seiner Partei so tief enttäuscht, dass er im September 1906 den Beschluss fasste, aus der Kadetten-Partei auszutreten. Der Anlass für diesen Impuls war Miljukovs moderate Politik in der Duma. 287 Sein Vorhaben realisierte Rostovtzeff jedoch nicht. Am 14. September 1906 war das Zirkular des Ministerrats veröffentlicht. Demzufolge wurde den Beamten die Mitwirkung in den oppositionellen Par284 In der dritten Duma hatten die Kadetten nur noch 55 Sitze und die rechten Parteien 89. Vgl. Schramm 1983, 345–384; Pipes 1992, 282ff; Torke 1985, 291f. 285 Vgl. Neutatz 2013, 122; Hildermeier 2013, 1049. 286 Vgl. Hildermeier 2013, 1049f. 287 Auf dem vierten Parteitag der Kadetten Ende September 1906 in Helsingfors wurde das Vyborger Manifest als ein Fehler anerkannt. Vgl. ebd.

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teien, zu welchen auch die Kadetten gehörten, verboten. Rostovtzeff wollte nicht, dass sein Parteiaustritt als „Feigheit und Liebedienerei interpretiert wird“ 288. Somit blieb der Althistoriker Mitglied der Kadetten-Partei, wenn auch kein aktives. Er war nicht immer mit ihrem politischen Kurs einverstanden, blieb jedoch ein überzeugter konstitutioneller Demokrat. In seinem Brief vom 11. Januar 1907 an den Herausgeber der bibliographischen Zeitschrift „Kniga“ („Das Buch“) zog Rostovtzeff z. B. sein Versprechen, für diese zu arbeiten, zurück. Der Grund dafür war die marxistische Gesinnung der Mehrheit der Mitarbeiter der Zeitschrift. Da der Althistoriker zur anderen Partei gehöre, könne er an diesem Unternehmen nicht weiter teilnehmen. 289 Genauso kategorisch war Rostovtzeffs Bewertung der Regierungspolitik. Nachdem der ehemalige Bildungsminister I. Tolstoj dem Historiker über die geplante Auflösung der Duma im Sommer 1907 erzählt hatte, „drückte [Rostovtzeff] seine Überzeugung aus, dass wir mit schnellen Schritten zur allgemeinen Reaktion gehen, die im Jahrzehnt des Marasmus des Landes endet“ 290. Ende November 1908 war Rostovtzeffs Einstellung gegenüber der politischen Situation in seinem Heimatland noch düsterer. Er sprach „über die vollkommene Unfähigkeit aller russischen Parteien, über die Möglichkeit des ‚Absturzes‘ der Staatsduma und über das traurige Schicksal Russlands, das riskiert, dem modernen Persien zu gleichen“ 291. Enttäuscht über die Politik widmete sich Rostovtzeff umso mehr der Wissenschaft. Die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg war für den Althistoriker durch zahlreiche wissenschaftliche Reisen ins Ausland gekennzeichnet. Die Zahl seiner Publikationen stieg allmählich: Bis 1914 waren es knapp 200 Titel. 292 Dennoch engagierte sich Rostovtzeff weiterhin gesellschaftlich und griff dabei aktuelle zeitgenössische Probleme auf. Bezeichnend hierfür ist sein Aufsatz „Verfall der Denkmäler“ von 1907. 293 Mit dieser Schrift entdeckte der Althistoriker den Bereich, in dem er bis zu seiner Emigration 1918 aktiv blieb. Das Anliegen, sich „in unserer alarmierenden und nervösen Zeit“ 294 mit dem Schutz historischer Denkmäler auseinanderzusetzen, begründete der Autor damit, dass dies „eine der Grundpflichten der Nation und des Staates“ 295 sei. Rostovtzeff befürchtete, dass „im Sturm, welcher Russland erschüttert“ 296, diese Pflicht in Vergessenheit geraten werde oder fehlerhaft erfüllt werden könnte. Die Geschichte der Entdeckung und Untersuchung der Denkmäler in Südrussland, mit der sich der Althistoriker in dieser Zeit

288 289 290 291 292 293 294 295 296

Tolstoj, I: Dnevnik [Tagebuch] 1906–1916, Notiz vom 26.9.1906, St. Petersburg 1997, 15. Vgl. Brief M. Rostovtzeffs an M. Lemke vom 11.1.1907 (auf Russisch), in: IRLI 661/941. Tolstoj 1997, Notiz vom 20.5.1907, 123. Ebd., Notiz vom 30.11.1908, 223. In Persien wurde infolge der gewaltsamen Auflösung des Parlaments im Juni 1908 eine Diktatur des Schachs etabliert. Vgl. Gronke, M.: Geschichte Irans, München 2003, 97. Vgl. Bongard-Levin 1997, 201–207. Vgl. Rostovtzeff, M.: Gibelʼ pamjatnikov [Verfall der Denkmäler], in: IIAK 21 (1907), 65–68. Ebd., 65. Ebd. Ebd.

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beschäftigte, hätte die „Ignoranz, Fahrlässigkeit und verbrecherische Gleichgültigkeit“ 297 sowohl der Bevölkerung als auch der Archäologen offenbart. Den Ausgrabungen lagen „Zufälligkeit und Schatzsuche“ 298 zugrunde. In der letzten Zeit gäbe es Versuche einer systematischen Untersuchung archäologischer Objekte. Der Autor vermutet, dass diese Versuche jedoch durch die politischen Wirren unterbrochen würden. Die Bedeutung der Malerei in Grabbauten von Kertsch wird im Aufsatz durch deren Vergleich mit den etruskischen und kampanischen Grabmalereien, der pompejanischen Wandmalerei sowie den christlichen Katakomben und heidnischen Grabanlagen in Rom und der Umgebung hervorgehoben. Sowohl in Italien als auch in Russland lassen sich diese Monumente von 4. Jh. vor Chr. bis zum 6. Jh. nach Chr. kontinuierlich verfolgen. In Italien habe es in der Vergangenheit einige Probleme im Denkmalschutz gegeben, die in einem Zusammenhang mit der kolossalen Zahl der archäologischen Schätze stehen. Den Italienern, die „sich gegenüber fremder Hilfe eifersüchtig und misstrauisch verhalten“ 299, würde es an Menschen und Mitteln fehlen. Demgegenüber würde Russland über eine bescheidene Zahl an archäologischen Monumenten verfügen. Daher brauche man für deren Schutz schließlich den „Willen und das Interesse“ 300. Zu den besten Denkmälern zählte Rostovtzeff zwei Grabhügel, Bolʼšaja Bliznica und Vasjurin Berg, auf der Taman-Halbinsel, welche in den 1860er ausgegraben worden waren und die Blüte der hellenistischen Malerei im 4.–3. Jh. vor Chr. widerspiegelten. Der Althistoriker, der „gerade von der Taman-Halbinsel zurückkehrte“ 301, beschrieb den gravierenden Verfall der Grabhügel, die entweder bei den Ausgrabungen zerstört oder deren Fragmente bei der Lagerung vernachlässigt worden waren. Nicht besser sei die Situation auf der Kertsch, deren Stolz die bemalten Begräbniskammern an Abhängen des Mithridatbergs aus den 1.-3. Jh. nach Chr. darstellen. Neben ihrer Bedeutung als Kunstdenkmäler würden sie ein umfangreiches Material für die Geschichte des religiösen Glaubens, der Kultur und des Alltagslebens im antiken Pantikapaion geben. Die Funde bei den Ausgrabungen Anfang des 19. Jahrhunderts seien untergegangen, wie die doppelte Grabkammer mit Dutzenden Wandabbildungen mit mythologischen und alltäglichen Szenen. 302 Die vier Kammern, die in den 1860/70er Jahren ausgegraben worden waren, wurden entweder ausgeplündert oder entstellt. Das gleiche Schicksal drohe den Entdeckungen der 1890er Jahre, mit Ausnahme einer einzigen geschützten Kammer von 1895. Aus diesen Beispielen zieht der Autor eine klare Folgerung: „Bei der Mehrheit der Denkmäler gibt es bei uns keinen Schutz“ 303. Die russische kulturinteressierte Gesellschaft 297 298 299 300 301 302

Ebd., 66. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Die Grabkammer wurde vom Direktor des Altertumsmuseums in Kertsch A.B. Aschik entdeckt. Vgl. kurzer Überblick über die Ausgrabungen in Kertsch, in: Zeitschrift für die Altertumswissenschaft 29 (1846), 232. 303 Ebd.

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sollte diesen Schutz fordern. Die hierfür notwendigen Maßnahmen will Rostovtzeff auf den Seiten der Zeitung nicht aufführen, weil sie einfach und elementar seien. Er war der Meinung, dass solange die Gesellschaft ihr Kulturgut nicht schützen kann, der Denkmalschutz eine Aufgabe des Staates bleibt. Dabei seien „die kulturellen Elemente der Gesellschaft“ 304 bereit, den Staat bei dieser Aufgabe zu unterstützen: „Ich spreche hier nicht über die Defekte unserer archäologischen Leitung: Zu viele große schmerzliche und primäre Fragen sind an der Reihe. Wir werden über dies sprechen, wenn der allgemeine Wandel der gesamten Physiognomie unseres Staatswesens diese Frage auf einem natürlichen Wege an die Reihe stellen wird. Aber erinnern und warnen sind die Pflichten eines jeden, der sieht und weiß, und von dieser Pflicht befreit keine allerstürmischste Epoche im Leben eines Staates. Und möge dieser Artikel zur Mahnung darüber werden, dass kulturelle Interessen des Landes nicht still bleiben und nicht still stehen können, und dass sich Menschen finden, die sagen: caveant consules.“ 305 Anfang Oktober 1908 wurde Rostovtzeff zum ordentlichen Professor berufen. 306 Sein wissenschaftliches Ansehen in Russland war zu diesem Zeitpunkt beachtlich. Dies zeigt z. B. seine Mitwirkung als Gutachter bei der Entscheidung über den Kauf der Privatsammlung des Ägyptologen V. Goleniščev durch den Staat. Anfang 1908 fanden die privaten Vorgespräche statt, in die einflussreiche Personen des öffentlichen Lebens, wie etwa das Mitglied des Staatsrates Graf S. Šeremetʼev, involviert waren. Die Meinungen namhafter Wissenschaftler sollten dabei den Ausschlag geben. 307 Im Frühjahr 1908 veröffentlichte Rostovtzeff den Aufsatz „Das ägyptische Museum V. S. Goleniščev“ 308, in dem er die wissenschaftliche und kulturelle Bedeutung der zu erwerbenden Kollektion begründete. Der Althistoriker fragt, inwieweit es sinnvoll sei, „in der finanziell schwierigen Zeit über den Erwerb der Kollektion für den Staat nachzudenken“ 309. Da Goleniščevs Kollektion der ägyptischen Altertümer sowohl von einheimischen als auch von ausländischen Spezialisten hochgeschätzt war, hielt der Althistoriker es für wichtig, breitere Kreise der russischen Gesellschaft mit dieser Kollektion bekannt zu machen.

304 Ebd. 305 Ebd., 67f. 306 Protokoll der Ratssitzung der Kaiserlichen St. Petersburger Universität am 2.10.1908, St. Petersburg 1909, 231. 307 Vgl. Brief S. Patonovs an B. Farmakovskij vom 30.11.1908, in: Šmidt, S. (Hg.): Akademik S.F. Platonov. Perepiska s istorikami [Der Akademiker S.F. Platonov. Briefwechsel mit Historikern], Bd. 1, Moskau 2003, 111; Goleniščev Vladimir Semënovič, in: Homepage des Staatsmuseums für Bildende Künste A.S. Puschkin unter: http://www.arts-museum.ru/data/people/ru/g/golenischev_vladimir/ (letzter Abruf am 2.3.2017). 308 Vgl. Rostovtzeff, M.: Egipetskij muzej V.S. Goleniščev [Das ägyptische Museum V.S. Goleniščev], in: IIAK 27 (1908), 35–38. 309 Ebd., 35.

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Der Wert dieser Sammlung bestehe darin, dass sie innerhalb mehrerer Jahre von einem erfahrenen Spezialisten auf seinen Reisen nach Ägypten gesammelt worden war. Die Hauptbedeutung der Kollektion Goleniščevs für Russland liege, nach Rostovtzeff, „in ihrer typologischen Vollständigkeit“ 310. Für Wissenschaftler stelle sie „ein ganzes Ägypten in Miniatur“ 311 dar. Der Überblick über die Kollektionsbestände sollte dies deutlich machen. Einen zentralen Platz würden die Originalgegenstände der vorpharaonischen und pharaonischen Zeit, angefangen von bemalten Gefäßen und Kieselwaffen über Siegelzylinder und kleine Statuetten bis hin zu großen Skulpturen, annehmen. Dazu kämen die historischen Dokumente, wie Inschriften auf Stein und Gegenständen sowie Papyri. Die Papyri, die verschiedene Epochen der ägyptischen Geschichte umfassten, würden die Kultur und Literatur Ägyptens vielseitig präsentieren. Rostovtzeff weist vor allem auf die Papyri mit einem nicht ritualen Inhalt hin, wie auf den geometrischen Papyrus der 12. Dynastie, den lexikalischen Papyrus der 21. Dynastie sowie auf den Reisebericht des Wenamun nach Phönizien aus der Zeit der 16. Dynastie. Unter den griechischen Schriften der Sammlung seien Textfragmente der Ilias zu finden. 312 Unter den Objekten der ptolemäischen und römischen Zeit hob der Autor die Bedeutung der Fayumporträts für die Geschichte der antiken Kunst der griechisch-römischen Zeit sowie der koptischen Stoffe für die Erforschung der Textilindustrie in der spätrömischen und frühbyzantinischen Zeit hervor. Die Kollektion verfüge sogar über die kompletten Kleidungen, „als ob sie erst gestern angefertigt worden wären“ 313. Zum seltensten und einzigartigen Bestandteil der Sammlung zählte Rostovtzeff das purpurfarbene römische vexillum mit der Abbildung der goldenen Victoria. Darüber hinaus würden zur Kollektion Goleniščevs auch die für den alexandrinischen Hellenismus charakteristischen Arbeiten aus Glas und Elfenbein gehören. Es gäbe zudem eine Reihe wertvoller Exemplare aus Keramik und Terrakotta sowie große Skulpturen. Für die Ermitage ‒ „die weltweit erste Sammlung der griechisch-römischen Juwelierstücke“ 314 ‒ wäre der Erwerb der Juwelierkollektion Goleniščevs, in der sich die Evolution der Juwelierkunst in Ägypten von den ersten Dynastien bis hin zur spätrömischen Zeit widerspiegelte, von großem Nutzen. Nach der Beschreibung der Sammlung resümierte Rostovtzeff, dass deren Kauf Russland durch ein noch fehlendes ägyptisches Museum mit bedeutenden Objekten bereichern würde. Ein solches Museum sei nicht nur künstlerisch, sondern auch wissenschaftlich außerordentlich bedeutend. Der Althistoriker rief auf, die sich bietende Gelegenheit zu ergreifen und somit die Entwicklung der Ägyptologie in Russland, die bereits ihre

310 311 312 313 314

Ebd., 36. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., 37. Ebd.

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„gesunde Knospen trieb“ 315, zu unterstützen. Denn Ägypten habe eine „unermessliche Bedeutung für die Weltkulturgeschichte“ 316. Dabei sei die ägyptische Kollektion der Ermitage „äußerst arm“ 317. Es gäbe wenig Hoffnung, sie durch systematische Ausgrabungen, wie dies England, Frankreich, Deutschland, Italien, Amerika sowie Privatsammler machen würden, zu ergänzen. Die russische Archäologie hätte andere vordringlichere Aufgaben, wie die Erforschung des frühen Christentums und des Byzantinertums des Südens, die Aufrechterhaltung der Denkmäler des muslimischen Ostens, wie die Moscheen in Samarkand, sowie die Entdeckung unzähliger slawischer Altertümer: „Unter solchen Umständen bietet sich die Möglichkeit, durch eine einzige, wenn auch große Ausgabe ein für unsere kulturelle Aufgaben notwendiges Museum zu bekommen und somit die Arbeit russischer Wissenschaftler zu retten. Diese Gelegenheit zu verpassen wäre für alle, die unsere Bildung lieben und unsere Kultur hochschätzen, schmerzhaft und ärgerlich.“ 318 Rostovtzeffs Bemühungen blieben nicht erfolglos. Am 10. Mai 1909 billigte die Duma den Kauf der Goleniščevs Sammlung für den Staat. Etwa 6.000 Exponate in 224 Kästen kamen im Frühjahr 1911 in das Moskauer Kunstmuseum. 319 1.2.3.2 1909–1911: Die hauptstädtische Universität und „Vechi“ Die Politik holte Rostovtzeff seit 1907 vor allem an der Universität ein. Zum einen äußerte sich dies in den Auseinandersetzungen des Professorenrates mit dem Ministerium für Volksbildung. Zum anderen war man wiederholt mit Studentenprotesten konfrontiert. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde die Leitung des Ministeriums für Volksbildung von den konservativen Staatsmännern, P. von Kaufman (1906–1908), A. Šwarz (1908–1910) und L. Kasso (1910–1914), übernommen. Die zaristische Hochschulpolitik führte in dieser Zeit zur Einschränkung der universitären Autonomie, was in eine offene Konfrontation mit den Hochschullehrern mündete. Die ministeriellen Beschlüsse, wie die Verschärfung der Zulassung zum Studium, das Verbot der Einschreibung von Frauen als Freihörerinnen, die bedingungslose Einhaltung der Prozentquote für Juden sowie die Einschränkung der studentischen Versammlungen und eine schärfere Regierungskontrolle über die Organisationen der Studierenden, wurden von Professoren ignoriert bzw. ihre Erfüllung verzögert. Dies endete in der gegenseitigen Kritik der Hochschullehrer 315 316 317 318 319

Ebd. Ebd. Ebd., 38. Ebd. Vgl. Homepage des Staatsmuseums für Bildende Künste A.S. Puschkin unter: http://www.artsmuseum.ru/data/people/ru/g/golenischev_vladimir/ (letzter Abruf am 2.3.2017).

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und Minister in Form von offiziellen Erklärungen und Forderungen sowie demonstrativen Amtsniederlegungen. 320 Die Studenten reagierten auf die Regierungspolitik mit Boykotten und Streiks. So meldete Rostovtzeff mit fünf anderen Professoren bei der Sitzung des Universitätsrates am 20. September 1908, dass keine Vorlesungen aufgrund des Ausbleibens der Studenten stattfinden konnten. 321 Diejenigen, die ihre Veranstaltungen durchführen wollten, wurden von Streikenden durch Lärm gehindert. Es kam zu Schlägereien zwischen Studenten; manche Fenster wurden zerschlagen. Der Althistoriker war das Mitglied der dreiköpfigen Kommission, die am 2. Oktober den Text der Resolution über die Schließung der Universität verfasste. Die Regierung lehnte sie jedoch ab. Daraufhin wandten sich die Hochschullehrer an die Studenten mit der Bitte, den Streik zu beenden. Das Leben an der Petersburger Universität nahm vorerst wieder ihren gewöhnlichen Lauf. Am 10. Oktober 1908 fand das professorale Disziplinargericht über die Ereignisse am 2. Oktober an der hauptstädtischen Universität statt. Die fünf Richter, einschließlich Rostovtzeff, beschlossen nach dem Verhör der 49 Beteiligten, keine Studierenden zu bestrafen. 322 Die Zeit zwischen Ende 1910–Anfang 1911 war durch einen neuen Aufschwung der studentischen Proteste gekennzeichnet. Den Anlass gab dazu der Tod des Kadetten-Professors S. Muromcev 323 im Oktober und des Schriftstellers L. Tolstoj am 7. November 1910. Ihre Beisetzungen wurden zu regierungskritischen Massendemonstrationen. Man forderte die Abschaffung der Todesstrafe, die Garantierung der Unantastbarkeit der Person und der Versammlungs- und Vereinsfreiheit sowie die Beendigung von staatlicher Willkür. Weder zahlreiche Versuche der Hochschullehrer, die Gemüter zu beruhigen, noch die Verschärfung der Regierungskontrolle in russischen Hochschulen konnten die Situation entspannen. Die Professoren befanden sich in einer Zwickmühle: Einerseits mussten sie die wiederholten Anschuldigungen der Regierung, keine Ordnung an der Universität schaffen zu können, zurückweisen, und versuchen die fortschreitende Einschränkung der Autonomie zu stoppen. Andererseits war es notwendig, die Studierenden zu beruhigen, um die Wissenschafts- und Lehrtätigkeit fortzusetzen. Die Petersburger Hochschullehrer lehnten die polizeilichen Maßnahmen offen ab. Gleichzeitig verurteilten sie das Verhalten der Studenten: 320 F. Braun legte z. B. im August 1908 sein Amt des Prorektors der St. Petersburger Universität nieder. Vgl. Rostovcev, E.: „Borʼba za avtonomiju“: korporacija stoličnogo universiteta i vlastʼ [„Der Kampf für die Autonomie“: Die Korporation der hauptstädtischen Universität und die Macht], in: Journal of Modern Russian Studies 2 (2009), 94. 321 Protokoll der Ratssitzung der Kaiserlichen St. Petersburger Universität am 20.9.1908, St. Petersburg 1909, 179. 322 Ebd. am 2.10.1908, 231; Reč vom 11.10.1908, 3. 323 Sergej Muromcev (1850–1910) war ein angesehener russischer Rechtswissenschaftler, Professor für Römisches Recht an der Moskauer Universität, einer der Parteigründer der Kadetten und der einstimmig gewählte Vorsitzender der I. Staatsduma. Vgl. Šelochaev, V. (Hg.): Političeskaja istorija v partijach i licach, Moskau 1994, 174–190.

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„Sie [die Psychologie der studentischen Masse] ist die Widerspiegelung unserer gemeinsamen Unkultiviertheit, des schwach entwickelten Gefühls der Gesetzlichkeit und der persönlichen Verantwortung für eigenes Handeln, des Ausbleibens der innerlichen Disziplin und der Anerkennung der innerlichen Autoritäten. Das ist jene Psychologie der Willkür und Gewalt, der Missachtung des Rechts eines anderen, welche unser gesamtes Staatswesen und öffentliches Leben erfüllt und welche das Erbe unserer Vergangenheit darstellt.“ 324 Die Fronten verschärften sich, nachdem die Polizei im Januar 1911 in die Petersburger Universität gerufen worden war. Unter strenger Aufsicht wurden die einstündigen Vorlesungen gehalten. Mehrere Veranstaltungen wurden dennoch durch den Einsatz von erstickenden Stoffen in Auditorien unterbrochen. Das Erscheinen einzelner Professoren wurde von Pfiffen begleitet; manche Dozenten, den Druck nicht aushaltend, erlitten einen Nervenzusammenbruch. 325 Ähnliche Umstände herrschten an anderen Lehreinrichtungen Russlands. Am 26. Januar 1911 tagte an den Bestužev Frauenkursen eine spezielle Kommission aus zehn Professoren, unter welchen sich auch Rostovtzeff befand. Sie arbeitete einen Aufruf an die Hörerinnen aus, der in der „Reč“ veröffentlicht wurde. Der studentische Streik wurde dabei aufs Schärfste verurteilt. Man rief dazu auf, zu einem normalen Ablauf der Lehrveranstaltungen zurückzukommen. Anderenfalls sollten die Studierenden mit der Schließung der Kurse für eine längere Zeit rechnen. 326 Es kam auch zur Auseinandersetzung zwischen Rostovtzeff und den Hörerinnen der Frauenkurse. Dem Althistoriker „fiel ein, ihnen eine Strafpredigt zu halten, und als Antwort bekam er eine Reihe von Beleidigungen zu hören: ‚černosotenec‘ [‚der Schwarzhunderter‘] usw.“ 327. Die Regierung antwortete auf die Unruhen mit massenhaften Verhaftungen und Ausweisungen der Studenten. Als Reaktion darauf legten der Rektor und die beiden Prorektoren sowie etwa 130 Hochschullehrer der Universität Moskau ihre Ämter nieder. Die Petersburger Professoren trafen sich privat, um die Schritte zur Unterstützung der Kollegen in Moskau vorzubereiten. Nachdem die Rücktritte der Moskauer Hochschullehrer von der Regierung akzeptiert worden waren, entschieden sich die Petersburger gegen einen offiziellen Protest. 328 An der Universität St. Petersburg wurden nach den Januarunruhen 1911 etwa 520 Studenten exmatrikuliert. 329 Seit der zweiten Jahreshälfte wurden die Petersburger Professoren in die Provinz versetzt, wie der Professor für Zivilrecht M. Pergament im August 1911 324 Protokoll der Ratssitzung der Kaiserlichen St. Petersburger Universität am 17.1.1911, St. Petersburg 1913, 15. 325 Der Professor für Strafrecht A. Žižilenko wurde ohnmächtig, der Orientalist N. Marr hatte einen hysterischen Anfall, der Rektor D. Grimm fing an zu weinen. Vgl. ebd. am 1.2.1911, 59–65; Rostovcev 2009, 108. 326 Vgl. Reč vom 27.1.1911, 3. 327 Vgl. Tolstoj 1997, Notiz vom 5.2.1911, 352. 328 Vgl. Rostovcev 2009, 107. 329 Ebd., 109.

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nach Jurʼev und der Professor für Römisches Recht I. Pokrovskij im Juli 1912 nach Charkov. Die beiden lehnten dies ab und traten zurück. Umgekehrt wechselten die konservativ gesinnten Wissenschaftler aus anderen Hochschulen des Landes an die hauptstädtische Universität. Das Ministerium für Volksbildung begründete die Versetzungen der Professoren zum einen durch eine „gleichmäßige Verteilung hervorragender Wissenschaftler auf die hauptstädtischen und provinziellen Universitäten“ 330. Zum anderen wies es darauf hin, dass sich der Rat der Petersburger Universität gegenüber den Maßnahmen des Bildungsministers ständig oppositionell verhalten würde. 331 Infolge dieser Politik waren Ende 1911 146 von 443 Lehrstühlen landesweit nicht besetzt. 332 In der hauptstädtischen Universität stieg die Zahl der konservativen Professoren. Somit war die Stellung der liberalen Wissenschaftler im Rat geschwächt. Sie konnten sich auch auf keine einheitliche Lösung gegen die repressiven Maßnahmen der Regierung einigen. Bei einer privaten Besprechung kündigte der Rektor D. Grimm seine Entscheidung an, sein Amt zu verlassen. 333 Der dort anwesende Rostovtzeff sprach „große Worte, macht[e] aber einen Rückzieher“ 334. Nachdem der Althistoriker im Oktober 1911 auf eigenen Wunsch von Pflichten des Sekretärs der historisch-philologischen Fakultät, die er seit zwei Jahren ausgeübt hatte, befreit wurde, taucht sein Name in den Protokollen der Sitzungen des Petersburger Professorenrates vor allem in Bezug auf seine Teilnahme an wissenschaftlichen Auslandsreisen auf. 335 Rostovtzeffs Abkehr von der Politik erfolgte vor dem Hintergrund der Debatten über die Rolle und Verantwortung der intelligencija in der Revolution von 1905, welche 1909 um die Sammelschrift „Vechi“ [„Wegzeichen“] geführt wurde. 336 Die sieben Autoren, u. a. die legalen Marxisten und Mitglieder der Kadetten-Partei P. Struve und A. Izgoev, markierten mit ihren Schriften zur Psychologie und Ideologie der russischen intelligencija die Abkehr von der revolutionären Tradition und die Notwendigkeit der Neuorientierung. Dabei wurden der traditionelle Radikalismus und die oppositionelle Haltung der intelligencija kritisiert. Nachdem durch das Oktobermanifest die konstitutionell-parlamentarischen Grundlagen in Russland geschaffen worden seien, sollte die neue politische Ideologie der intelligencija nicht auf revolutionären, sondern auf evolutionären Prinzipien 330 Protokoll der Ratssitzung des Rates der Kaiserlichen St. Petersburger Universität am 15.9.1912, St. Petersburg 1914, 120. 331 Ebd. 332 Vgl. Avrus 2001, 96. 333 D. Grimms Rücktrittsgesuch, das er am 12.9.1912 eingereicht hatte, wurde akzeptiert. Vgl. Rostovcev 2009, 111. 334 Žukovskaja, T. (Hg.): Presnjakov, A.: Pisʼma i dnevniki [Briefe und Tagebücher] 1889–1927, St. Petersburg 2005, Notiz vom 3.9.1912, 739. 335 Vgl. Protokolle der Ratssitzungen der Kaiserlichen St. Petersburger Universität 1911–1913, St. Petersburg 1912–1915. 336 Berdjaev, N./Bulgakov, S./Geršenzon, M./Izgoev, A./Kistjakovskij, B./Struve, P./Frank, S. (Hg.): Vechi. Sbornik statej o russkoj intelligenzii [Sammelschrift über die russische intelligencija], Moskau 1909; Schlögel, K. (Hg.): Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz, Frankfurt am Main 1990.

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aufgebaut werden. Die Autoren verwiesen zudem auf die Kluft zwischen der intelligencija und dem Volk und darauf, dass die Gefahr für die Freiheit und Ordnung nicht von rechts, sondern vielmehr von links droht. 337 Die Erscheinung der „Vechi“ im März 1909 wurde zu einer Sensation und hatte eine riesige Resonanz. Bis zum Februar 1910 wurden mehr als 200 kritische Publikationen zum Sammelband veröffentlicht. 338 Außerdem fanden zahlreiche öffentliche Besprechungen in Moskau und Petersburg statt. Miljukov unternahm sogar eine spezielle Reise durch das Land, um die Positionen der Vechi-Autoren vor großem Publikum zu widerlegen. Dennoch bildete sich innerhalb der Partei der Konstitutionellen Demokraten eine Strömung, die von den Ideen der Vechi beeinflusst wurde. Dazu zählten neben den beiden erwähnten Autoren, Struve und Izgoev, auch A. Tyrkova-Williams. 339 Wie Rostovtzeffs Position zu den Vechi, welche „einen Einschnitt in der Geschichte der russischen Intelligencija“ 340 markierte, aussah, lässt sich zurzeit nicht klären. Anhand seiner negativen Reaktion auf die studentischen Unruhen 1907–1911 und seiner Enttäuschung über die Politik ist jedoch zu vermuten, dass der Althistoriker die Positionen der Vechi zumindest teilte. 1.2.3.3 1912–1913: Beziehung zur Zarenfamilie und Archäologie Südrusslands Vor dem Ersten Weltkrieg erhob Rostovtzeff noch einmal seine kritische Stimme gegen die Regierung. Am 9. März 1912 erschien sein Aufsatz „Wie die Regierungsämter Denkmäler schützen“ 341, in dem die „barbarischen Taten“ 342 des Militäramtes aufgedeckt wurden. Der Anlass für den Artikel waren die Debatten über ein neues Gesetz zum Denkmalschutz in der Staatsduma. Dies nutzte der Althistoriker, um die Öffentlichkeit über das Schicksal der unbewohnten Insel Beresan, einer der ältesten Siedlung griechischer Fischer an der Nordküste des Schwarzen Meeres aus dem 7. Jahrhundert vor Chr., zu informieren. Der Autor verwies dabei auf die Bedeutung der bereits fortgeschrittenen Ausgrabungen auf der Insel für die Untersuchung der griechischen Geschichte in Russland. 1910 wurde bekannt, dass das Militäramt mehrere Befestigungsanlagen als Schießscheiben für die Artillerie auf der Insel baue. Trotz aller Bemühungen der Archäologischen Kommission konnten weder diese Arbeiten gestoppt, noch die Rettung der Denkmäler organisiert werden. Auch eine erneute Untersuchung der Insel konnte nicht erreicht werden. Rostovtzeff schrieb, dass er sich vorstellen könne, wie viel der wertvollen Überreste zwischen 1910 und 1912 bereits zerstört worden seien. Er fürchtete, dass sich die Verluste 337 Vgl. Poltorackij, N.: „Vechi“ i russkaja inteligenzija [und die russische intelligencija], in: Mosty 10 (1963), 292–304. 338 Vgl. Sapov, V. (Hg.): Vechi: Pro et contra, St. Peterbsurg 1998, 2f. 339 Vgl. Hildermeier 2013, 1059. 340 Schlögel 1990, 5. 341 Vgl. Rostovtzeff, M.: Kak ochranjajut pamjatniki pravitelʼstvennye učreždenija [Wie die Regierungsämter Denkmäler schützen], in: Reč vom 9.3.1912, 2. 342 Ebd.

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mit dem Beginn der Artillerie-Übungen im Frühjahr 1912 vervielfachen würden. „Über eine weitere Untersuchung der Berezan muss man offenbar ein Kreuz machen“ 343, vermutete der Althistoriker. Dabei wäre es einfach, die Interessen der Staatsverteidigung und der Kultur zu vereinbaren. Wenn die Kommission rechtzeitig informiert worden wäre, könnte sie innerhalb eines Jahres wissenschaftliche Kräfte mobilisieren, um die Erforschung „unserer archäologischen Perle“ 344 zu vollenden. „So würde man überall machen. Bei uns denkt und handelt man anders“ 345, beendete Rostovtzeff seine Ausführung. Genau ein Monat später veröffentlichte der Althistoriker seinen Bericht über das Jubiläum der Athener Universität. Dort schreibt Rostovtzeff, dass er nicht über die Politik in Griechenland sprechen werde, weil dies „nicht meine Sache ist“ 346. Der Althistoriker fokussiert sich auf die Wissenschaft. Sein wissenschaftliches und soziales Ansehen war so hoch, wie nie zuvor. Für Rostovtzeffs veränderte politische Haltung ist seine Beziehung zur Zarenfamilie, die sich in den 1910er Jahren gut verfolgen lässt, aufschlussreich. Ein gutes Beispiel dafür liefert sein Kontakt zu dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, dem Großfürsten Konstantin Konstantinovič (1858–1915). Der Althistoriker, der 1908 zum korrespondierenden Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften und zwei Jahre später zum ordentlichen Mitglied der Archäologischen Kommission gewählt war, wurde im Januar 1910 dem Großfürsten vorgestellt. Dieser war als ein talentierter Übersetzer bekannt und griff Rostovtzeffs Vorschlag auf, eine neulich an der südöstlichen Küste der Krim gefundene griechische Inschrift auf Russisch wiederzugeben. Daraus entstand eine kreative Kooperation, die sich im Briefwechsel niederschlug. 347 Der Althistoriker beriet Konstantin Konstantinovič bei der Übersetzung und nahm die entstandene russische Übertragung in seine Analyse der Grabinschrift auf den Seiten der „Nachrichten der Archäologischen Kommission“ auf. 348 Der Großfürst seinerseits widmete sein Epigramm „Der Brunnen beim Grab in Nymphaion“ dem Althistoriker. 349 Den Gedichtband des Großfürsten nahm Rostovtzeff dankbar entgegen und schrieb dem Autor wie folgt: „Eure Kaiserliche Hoheit! Lassen Sie mich Ihnen von ganzem Herzen für Ihre schöne Gabe und für die große Ehre, die Sie mir erwiesen, als Sie mir eine Ihrer Perlen aus dem Sammelband wid343 344 345 346 347

Ebd. Ebd. Ebd. Ders.: Jubilej i kongress [Das Jubiläum und der Kongress], in: Reč vom 9.4.1912, 3. Vgl. Zuev, V.: M.I. Rostovtzeff i velikij knjazʼ [und der Großfürst] Konstantnin Konstantinovič, in: Bongard-Levin 1997, 233–247. 348 Vgl. Rostovtzeff, M./Škorpil, V.: Ėpigramma iz Ėlʼ-Tegenja [Epigramm aus El Tegen], in: IIAK 37 (1910), 14–22. 349 Vgl. K. R. [Abkürzung für Konstantin Romanov]: Stichotvorenija [Gedichte]. 1900–1910, St. Petersburg 1911, 66f.

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meten, danken. Höchstinteressant ist Ihre Idee, überall neben der Übersetzung das Original zu bringen. [Das ist das] Verfahren, welches wir, Klassiker, schon längst praktizieren und welches andere, die sich vor Originalen ihrer Übersetzungen fürchten, vermeiden. Mit Besorgnis habe ich über Ihr, zum Glück vergangenes Unwohlsein gelesen; lassen Sie mich Ihnen eine vollständige und schnelle Genesung sowie die Wiederkehr der Möglichkeit, Ihre vielseitige und sowohl wertvolle als auch wichtige kulturelle Arbeit fortzusetzen, wünschen. Eurer Kaiserlichen Hoheit ergebenster Diener M. Rostovtzeff“ 350 Noch intensiver wurde die Zusammenarbeit zwischen den beiden ab 1911, als Rostovtzeff bei der Entstehung des historischen Dramas „Der judäische König“ 351 mitwirkte. Dieses Werk des Großfürsten wurde zu einem großen Ereignis in der Geschichte des russischen Theaters Anfang des 20. Jahrhunderts. 352 Bereits 1910 besuchte der Althistoriker zusammen mit seiner Frau die berühmten Passionsspiele in Oberammergau. Die Inszenierung, die „wenig Geschichte und Religion“ 353 enthalten hätte und „zu modernisiert“ 354 wäre, enttäuschte sie. Der Althistoriker bezeichnete das Gesehene als „frevelhaft und langweilig“ 355. Umso eifriger unterstützte er das Vorhaben des Großfürsten, ein Theaterstück über die letzten Tage des irdischen Lebens von Jesus Christus und seine Auferstehung zu schreiben. Dem Briefwechsel zufolge konsultierte Rostovtzeff den Autor über solche Fragen, wie die Möglichkeit einer Präsenz der Sklaven-Juden im Pilatusʼ Haus oder das Verhältnis Roms zum Judäa. Konstantin Konstantinovič wandte sich an den Historiker außerdem mit der Bitte, ihm die Organisation sowie den sozialen Status der Dienstgrade der römischen Armee detailliert zu charakterisieren. Diese und andere Fragen klärte Rostovtzeff in seinen ausführlichen Antwortbriefen. 356 Ende August 1913 bekam Rostovtzeff vom Sohn des Großfürsten, der sich auch auf der Krim aufhielt, den fertigen Text des vieraktigen Dramas. Im Zug, auf dem Weg nach Hause, hatte er ihn gelesen und sofort nach der Ankunft einen Brief mit einigen Korrekturen der lateinischen Begriffe sowie Hinweisen auf vorhandene Anachronismen an 350 Brief M. Rostovtzeffs an Konstantnin Konstantinovič vom 31.1.1912, in: IRLI 9923/1/14, zitiert nach: Zuev 1997, 236. 351 Vgl. K.R.: Carʼ Iudejskij [Der judäische König], Petrograd 1914. 352 Vgl. Zuev 1997, 244. 353 Brief S. Rostovtzeffs an V. Švarsalon vom 6.9.1910, zitiert nach: Zuev 1997, 236. 354 Ebd. 355 Postkarte S. Rostovtzeffs an V. Ivanov und V. Švarsalon vom 2.9.1910, in: Ebd. 356 Vgl. Zuev 1997, 237–244.

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den Autor verfasst. Rostovtzeffs Meinung schätzte der Großfürst sehr, wie der Eintrag in seinem Tagebuch vom 4. Oktober veranschaulicht: „Am Abend war die Probe des Dekorationswechsels von ‚Der judäische König‘ im Ermitage-Theater. […] Es gab nicht viele Zuschauer, […] aber das Wichtigste ist, der Archäologe Rostovtzeff war da. Wichtig war seine Meinung zu den Dekorationen der Gemächer Pilatusʼ. Im zweiten Akt billigte er den pompejanischen Stil nicht, der provinziell war. Herodes der Große hätte wahrscheinlich seinen Palast prächtiger und majestätischer eingerichtet. Im ersten Bild des dritten Aktes beanstandete Rostovtzeff das Impluvium mit vier Säulen aus grünlichem Marmor in der linken Ecke. Es wird entfernt. […]“ 357 Bei der Premiere des Dramas am 9. Januar 1914, in dem der Autor die Hauptrolle des Josephs von Arimathäa spielte, versammelte sich die ganze Gesellschaft Petersburgs. Auch Nikolaus II. mit seiner Familie war anwesend. Das war nicht die erste Berührung des Althistorikers mit der Zarenfamilie. Nicht zufällig bezeichnete ihn Konstantin Romanov als einen Archäologen. Denn Rostovtzeff zeigte bereits um die Jahrhundertwende das Interesse für die Archäologie Südrusslands. So berichtete er z. B. im Februar 1900 bei einer Sitzung der Klassischen Abteilung der Archäologischen Gesellschaft über die Ausgrabungen einer römischen Festung auf dem Kap Ai-Todor an der Südküste der Krim. Die Ausgrabungen wurden seit den 1890er Jahren auf dem Besitz des Großfürsten Alexander Michajlovič durchgeführt und aus seinen Privatmitteln finanziert. Seit 1901 wirkte Rostovtzeff als wissenschaftlicher Berater an diesem Unternehmen mit. 358 Die Erforschung dieses Ortes fesselte für viele Jahre die Aufmerksamkeit des russischen Historikers. Die Aufgabe war für ihn umso angenehmer, weil er nach der Heirat 1901 den Sommer im Ferienhaus seiner Schwiegereltern verbrachte, das in der Nähe des Kaps AiTodor lag. Seit 1907 nahm Rostovtzeff an der Publikation der lateinischen Inschriften, die in dieser Zeit in antiken Stätten Südrusslands gefunden wurden, teil. So fanden sich regelmäßig in „Mitteilungen der Archäologischen Kommission“ Rostovtzeffs Untersuchungen der neuesten epigraphischen Quellen, die ein Licht auf den Alltag der römischen Militärstationen an der Peripherie des Imperium Romanum werfen. 359

357 Tagebuch des Großfürsten Konstantin Konstantinovič, Notiz vom 4.10.1913, zitiert nach Zuev 1997, 242. 358 Vgl. Rostovtzeff, M.: Rimskie garnizony na Tavričeskom poluostrove i Aj-Tadorskaja krepostʼ [Römische Garnisonen auf der Taurischen Halbinsel und die Festung Ai-Todor], in: ŽMNP 5 (1900), 140–158; Ders.: Römische Besatzung in der Krim und das Kastell Charax, in: Klio 2 (1902), 80–95; Tichonov, I.: „Ėto neobchodimo cdelatʼ, čtoby ne proslytʼ za varvarov“: rossijskie monarchi i archeologija [„Das muss gemacht werden, damit wir nicht als Barbaren gelten“: die russländischen Monarchen und Archäologie], in: Vestnik Sankt-Peterburgskogo Universiteta 4 (2008), 156. 359 Vgl. Rostovtzeff, M.: Novye latinskie nadpisi iz Hersonesa [Neue lateinische Inschriften aus Chersones], in: IIAK 23 (1907), 1–20; Novye latinskie nadpisi s juga Rossii [Neue lateinische Inschrif-

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Trotz der zahlreichen Auslandsreisen fand Rostovtzeff immer Zeit, auf die Krim zurückzukehren. So koordinierte er in den Sommermonaten 1911–1912 die archäologischen Arbeiten auf der Chersones und in Kertsch. Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erwarb Rostovtzeff ein Grundstück (etwa 0,37 ha) in der Nähe der Festung Ai-Todor und leitete bis 1916 persönlich die Ausgrabungen im antiken Charax. 360 Im Sommer 1913 wurde der Althistoriker dem letzten russischen Zaren vorgestellt. Die mehrstündige Besichtigung der Ausgrabungen auf der Chersones wurde vom Vorsitzenden der Archäologischen Kommission, dem Grafen A. Bobrinskij, organisiert. Rostovtzeff bot sich an, den hohen Besuch durch antike Denkmäler zu führen: „Der Konstitutionalist – Liberaler – Professor kam in einem Jackett und mit einem Strohhut an, dafür legte er (seit 5 Uhr morgens) 80 Wersten zurück. Er zeigte, argumentierte und erklärte eifrig, bot die Tabellen der künftigen Publikation an und stand [dabei] ohne Hut so, dass der Zar ihn zweimal aufforderte, den Hut aufzusetzen. [Es herrschte Hitze.] M[ichail] I[vanovič] reiste sehr zufrieden ab. Ich trank mit ihm Champagner beim Kisto; und durch die Hitze entstand auf seiner Brust ein Sonnenbrand in Form des großen zweiköpfigen Adlers. Aber Witze beiseite, die Anwesenheit solcher wissenschaftlichen Kraft verlieh der ganzen Besichtigung einen ernsten, sogar Skeptikern und den nichts verstehenden Hoffräulein der Zarentöchter imponierenden Charakter. […] Für Rostovtzeffs Jackett entschuldigte ich mich vor dem Zaren. Ich vermutete, dass ‚Eure Majestät die Kenntnisse von M[ichail] I[vanovič] wichtiger waren, als seine Uniform‘ – ­‚Gewiss, gewiss!‘ (Obwohl der Festungskommandant eine saure Miene hatte). Dieser Besuch gelang vollkommen.“ 361 Nach diesem Treffen ordnete Nikolaus II. an, spezielle Mittel für die Publikation Rostovtzeffs Werkes über die antike dekorative Malerei im Schwarzmeergebiet bereitzustellen. Im gleichen Jahr erschien der prachtvolle Bildatlas und ein Jahr später das Buch „Antike dekorative Malerei im Süden Rußlands“. 362 Die Schilderung von Rostovtzeffs Treffen mit dem Zaren ist äußerst aufschlussreich. Sie zeigt zum einen, was für ein unglaublich hohes wissenschaftliches und soziales Ansehen der Althistoriker innerhalb von 23 Jahren ‒ zwischen seiner Ankunft als Student in St. Petersburg und diesem Ereignis ‒ erlangt hatte. Zum anderen zeigt sich in dieser Notiz seine ganze Persönlichkeit. Selbstbewusst und enthusiastisch tritt er vor der versammelten Gefolgschaft des Zaren auf. Seine Unabhängigkeit unterstrich er durch die ten aus Südrussland], in: Ebd. 27 (1908), 55–67; Ebd. 33 (1909), 1–22; Ėpigramma iz Ėlʼ-Tegenja, in: Ebd. 37 (1910), 14–22. 360 Vgl. Rostovtzeff, M.: Charax (Ai-Todor), in: IOSPE I/2 (1916), 508ff; Brief S. Rostovtzeffs an V. Ivanova vom 16.6.1908, in: Bongard-Levin 1997, 250. 361 Brief A.A. Bobrinskijs an B. V. Farmakovskij vom 16.8.1913, zitiert nach: Bongard-Levin 1997, 67. 362 Vgl. Rostovtzeff, M.: Antičnaja dekorativnaja živopisʼ na juge Rossii [Antike dekorative Malerei im Süden Russlands], Bd. 1, St. Petersburg 1913/1914.

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Rostovtzeffs erste Schritte im wissenschaftlichen, sozialen und politischen Leben

Wahl seiner Kleidung. Gleichzeitig bemühte er sich sehr, den Zaren von der Bedeutung seiner Arbeit zu überzeugen. Denn trotz aller Schwäche des nach 1905 entstandenen politischen Systems war der Althistoriker ein Anhänger der konstitutionellen Monarchie. Seine Beteiligung am politischen Leben seiner Heimat während der Ersten Russischen Revolution offenbarte ihm sowohl Schwachstellen der oppositionellen Kräfte als auch ein unglaubliches Gewaltpotenzial der Massen. Daher ist anzunehmen, dass er das reformierte Zarenregime zunächst akzeptierte und versuchte, unter den bestehenden Umständen seine wissenschaftliche Karriere voranzubringen. Dabei leugnete Rostovtzeff seine Überzeugungen nicht und bemühte sich, durch seine wissenschaftliche Reputation die Missstände der russischen bürokratischen Ordnung zu korrigieren, wie im Falle des Denkmalschutzes.

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2. Rostovtzeff vor dem Ersten Weltkrieg im Kontext seiner Beziehungen zu deutschsprachigen Altertumswissenschaftlern Im folgenden Kapitel werden Rostovtzeffs Beziehungen zu den deutschsprachigen Gelehrten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges untersucht. Im Zentrum der Untersuchung stehen dabei die Auslandsreisen des Althistorikers vor 1914, da sie einen unmittelbaren Einfluss sowohl auf seine wissenschaftliche Karriere als auch auf sein politisches Engagement nach 1914 hatten. Um Rostovtzeffs Neigung zur deutschsprachigen Wissenschaftswelt deutlich zu machen, werden zunächst die Bildungstraditionen des Zarenreiches allegmein und speziell der Familie des Althistorikers analysiert. Zur Rekonstruktion der zwei Jahrzehnte, die Rostovtzeff als Student und Rostovtzeff als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften trennten, werden die neuen Quellen, wie seine Widmungen für russische und westeuropäische Kollegen, Berichte über internationale Kongresse sowie sein unbekannter Briefwechsel, herangezogen. Die Darstellung Rostovtzeffs internationaler wissenschaftlicher Aktivitäten soll anschließend die Bedeutung des Jahres 1914 als einer der wichtigsten Zäsuren im Leben des Althistorikers verdeutlichen. Denn jenes Jahr wurde gleichzeitig zum Höhe- und zum Tiefpunkt von Rostovtzeffs Beziehungen zu deutschsprachigen Altertumswissenschaftlern.

2.1 Bildungstraditionen des Russischen Reiches in der Familie Rostovtzeff Die Bildungstradition der Familie von Michail Rostovtzeff lässt sich seit dem Werdegang seines Großvaters verfolgen. Er war das erste Mitglied dieser Familie, das einen universitären Abschluss erreicht hatte. Sein Vater Pavel, der Urgroßvater von Michail Rostovtzeff, war ein Kaufmann in der russischen Stadt Voronež. 1 Diese Information scheint im ersten Augenblick spärlich zu sein. Die nähere Betrachtung der russischen Kaufmannschaft im 18. Jahrhundert erlaubt jedoch bestimmte Charakteristika zu vermuten, die mehrere Generationen Rostovtzeffs geprägt hatten.

1 In den 1770er Jahren betrug die Zahl der Kaufmänner im Gouvernement Voronež 908 oder etwa 11% der Bevölkerung, in: Hildermeier, M.: Bürgertum und Stadt in Russland 1760–1870, Köln 1986, 77. Vgl. auch Vernadskij 1931, 239; Wes 1988, 207.

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Rostovtzeff vor dem Ersten Weltkrieg

2.1.1 Vom Kaufmann zum Staatsrat: Rostovtzeffs Großvater Den Kaufmann Pavel Rostovtzeff kann man für seine Zeit als eine progressive Persönlichkeit bezeichnen. Trotz einer weitgehenden Differenzierung innerhalb der Korporation der Kaufleute im Russischen Reich 2 stand die überwiegende Zahl der russischen Kaufmannsfamilien der Bildung distanziert gegenüber, die in deren Augen für ihre praktische Tätigkeit überflüssig und in erster Linie eine Prärogative des Adels war. Erst in der ersten und noch stärker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich die Ansicht über die Notwendigkeit der Bildung in dieser Bevölkerungsgruppe. Viele Kaufmannssöhne ergänzten die intellektuelle Elite des Russischen Reiches an der Wende zum 20. Jahrhundert. 3 Der Urgroßvater Michail Rostovtzeffs erkannte die Vorteile der universitären Bildung bereits im 18. Jahrhundert. Das war die Zeit, als Kaufleute ihren Söhnen nur das elementare Lesen und Rechnen beibringen ließen, was für die Fortsetzung des Familienunternehmens ausreichen sollte. 4 Die Beweggründe der Entscheidung von Pavel Rostovtzeff, seinem Sohn eine Universitätsbildung zu ermöglichen, lassen sich nur vermuten: Es könnten sowohl persönliche Überzeugungen des Kaufmanns, als auch die durch die Bildungsreform eröffneten Aufstiegsmöglichkeiten in der streng hierarchisierten Gesellschaft gewesen sein. Nicht ohne Bedeutung war sicher auch die Tatsache, dass alle erworbenen Rechte des Kaufmanns nicht auf seinen Sohn übertragbar waren. Im Falle der Verarmung eines Grundbesitzers blieb seine Zugehörigkeit zum Adel unantastbar. Wenn das gleiche Schicksal einen Kaufmann ereilte, wurde der Betroffene aus der kaufmännischen Korporation ausgeschlossen und sank auf der sozialen Leiter zum meščanstvo. 5 Daher dürfte der Wunsch, seinen Kindern eine bessere Zukunft zu sichern, keine unbedeutende Rolle bei solchen Überlegungen gespielt haben. 2 Das Manifest von 17. März 1775 teilte die Bevölkerung der russischen Städte in meščan, die weniger als 500 Rubel Kapital besaßen, und in Kaufleute, die mehr als 500 Rubel in ihrem Besitz nachweisen konnten. Die Kaufmannschaft gliederte sich in drei Gilden: Für die erste Gilde war ein Kapital von 500 Rubel, für die zweite von 1.000 Rubel und für die dritte, die privilegierteste, Gilde war ein Kapital von mehr als 10.000 Rubel nachzuweisen. Man konnte in jede Gilde eintreten. Dafür sollte jährlich 1% Steuer von der Höhe des genannten Minimalkapitals bezahlt werden. Die Zugehörigkeit zu einer Gilde war mit bestimmten ständischen Privilegien verbunden. Ausführlich vgl. Perchavko, V.: Istorija russkogo kupečestva, Moskau 2008, 280–290; Hildermeier 1986, 73–90. 3 Z. B. der berühmte Arzt Sergej Botkin (1832–1889), der Dichter des Symbolismus Valerij Brjusov (1873–1924), der russische Regisseur Konstantin Stanislavskij (1863–1938) sowie der Schriftsteller Anton Tschechov (1860–1904). Vgl. Brjanceva, M.: Kulʼtura russkogo kupečestva, Brjansk 1999, 41. 4 Die Tatsache, dass die Kaufleute des Russischen Reiches um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der überwiegenden Zahl Analphabeten waren, betonen zahlreiche Untersuchungen sowie zeitgenössische Berichte. Vgl. ebd., 40–63; Hildermeier 1986, 56–73; Miljukov, P.: Očerki po istorii russkoj kulʼtury, Bd. 2, Moskau 1994, 290ff; Buryškin, P.: Moskva kupečeskaja. Memuary, Moskau 1991, 330ff. 5 Die untere städtische Korporation des Russischen Reiches, in: Hildermeier, M.: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München 2013, 1417. Zur Kaufmannschaft vgl. Perchavko 2008, 285–291; Hildermeier 1986, 73ff.

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Die mutige Entscheidung von Pavel Rostovtzeff samt den persönlichen Fähigkeiten seines Sohnes Jakov, ergänzt durch die Neigung der Kaufmannsleute zur Ordnung und zur Sparsamkeit legten das Fundament des brillanten Karriereaufstiegs der Familie Rostovtzeff. Der Wunsch des Kaufmannes allein hätte ohne Zweifel nicht für die erfolgreiche Universitätsbildung seines Sohnes gereicht, wenn nicht 1801 ein liberal gesinnter Zar den Thron bestiegen hätte. Von aufklärerischen Gedanken und pragmatischen Überlegungen geleitet, begann der Zar Alexander I. (1801–1825) das Bildungssystem in Russland zu reformieren. Seine liberale Bildungspolitik erlaubte nichtadeligen Ständen den Zugang zur höheren Bildung, darunter dem Kaufmannssohn Jakov Rostovtzeff (1791–1871). Er gehörte zu den ersten, die das neue vierstufige Bildungssystem durchlaufen hatten. 6 Es sollte für ihn sicherlich nicht einfach sein, sich unter den neuen Umständen zu etablieren. Das hing nicht nur damit zusammen, dass die neue Schulregelung erst 1804 in Kraft getreten war und Jakov Rostovtzeff höchst wahrscheinlich der erste in der Kaufmannsfamilie diesen Weg wagte, sondern vielmehr spielte die soziale Hierarchie weiterhin eine überragende Rolle. Offiziell war die Hochschulbildung fortan für alle zugänglich, de facto waren die Bänke im Gymnasium als der unmittelbaren Vorstufe zur Universität jedoch für Kinder des Adels und der höheren Kaufmannschaft reserviert. 7 Dennoch gelang es dem Großvater des Althistorikers, diese Hürde zu überwinden und sich anschließend an einer der insgesamt sechs russischen Universitäten einzuschreiben. 8 Als eine Person aus den steuerpflichtigen Ständen hatte Jakov Rostovtzeff den Status eines „Freihörers“ an der Charʼkover Universität, denn nur die Adeligen durften „Studenten“ heißen. Diese Bezeichnung hatte nicht nur eine rein formale, sondern vor allem eine materielle Benachteiligung der „Freihörer“ zur Folge: Sie hatten kein Recht auf ein Stipendium. Nach dem

6 In den „Vorläufigen Regeln für das Bildungswesen“ von 1803 und in den Universitäts- und Schulstatuten von 1804 wurden die neuen Prinzipien des Schulsystems im Russischen Reich festgehalten. Die Bildung sollte allgemeinzugänglich, d. h. unabhängig von der Standeszugehörigkeit, und gebührenfrei sein. Es wurde die Kontinuität der Schulprogramme aller Bildungsstufen proklamiert: Die erste (niedrigste) Stufe stellten einklässige Gemeindeschulen, die zweite – die drei- bzw. vierklässige Bezirksschulen und die dritte – sechsklässige Gouvernementsgymnasien dar. Die höchste Stufe im neuen Bildungssystem waren Universitäten, die gleichzeitig eine zentrale Rolle in der zentralisierten Bildungsverwaltung gespielt hatten. Vgl. Kalinina, E.: Školʼnaja reforma Aleksandra I. i „položenie ob učiliščach“ 1804 goda, in: Trydy istoričeskogo fakulʼteta SPb universiteta 11 (2012), 192–202. 7 Vgl. Hildermeier 2013, 840f. 8 Es waren insgesamt sechs Universitäten in der Zeit zwischen 1802 und 1819 in Moskau, Dorpat, Wilna, Charʼkov, Kazanʼ und St. Petersburg gegründet. Die Universitäten wurden gleichzeitig zu den Verwaltungszentren der sechs Lehrbezirke, in denen das ganze Zarenreich eingeteilt war. Die Hauptaufgaben der Universitäten waren die Schulaufsicht sowie das Zensuramt. Jeder Lehrbezirk wurde durch den vom Zaren ernannten Kurator geleitet. Vgl. Meyer, K.: Die Universität im Russischen Reich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Pistohlkors, G./Raun, T./Kaegbein, P. (Hg.): Die Universitäten Dorpat/Tartu, Riga und Wilna/Vilniua 1579–1979, Köln 1987, 37–50.

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Bestehen der Prüfungen durften sie sich „Studenten“ nennen und erst nach der Befreiung aus ihrem Stand konnten sie in die 14. Rangklasse in den Staatsdienst eintreten. 9 Die Universität in Charʼkov war aus mindestens zwei Gründen ein günstiger Ort für den Karrierestart des Großvaters von Michail Rostovtzeff. Zum einen war die Entfernung der Stadt Charʼkov zu der Heimatstadt Jakov Rostovtzeffs, Ostrogožsk, 10 von etwa 300 Kilometer im Vergleich zur Größe des Zarenreiches gut zu bewältigen, was eine gewisse Unterstützung seitens seiner Familie sichern konnte. Zum anderen war der für alle Universitäten in der Anfangsphase bestehende Mangel an Studenten für die an der Peripherie liegende Universität Charʼkov besonders groß. 11 Das sollte im Falle einer möglichen hierarchisch bedingten Auswahl für den Kaufmannssohn von Vorteil sein. Ein noch größeres Problem bei Universitätsgründungen in Russland stellte das Fehlen an Lehrkräften dar. Professoren wurden daher aus Westeuropa, vor allem aus Preußen berufen. Bereits in der Vorbereitungsphase der Universitätsreform wurden die preußischen Hochschulen von russischen Bildungsbeamten sorgfältig inspiziert. Die protestantisch-norddeutschen Universitäten wie Göttingen, Halle und Marburg, wurden schließlich zum Grundmodell der Universitäten in Russland festgelegt. 12 Daher versuchte die russische Regierung, Hochschullehrer aus Preußen für eine Tätigkeit an einer russischen Universität zu gewinnen. Es sollen nicht weniger als die Hälfte aller Lehrstühle an den russischen Universitäten mit Ausländern besetzt gewesen sein. 13 Die Lehrtätigkeit der Deutschen in Russland hatte in der Anfangsphase zumindest zwei Schwierigkeiten. Einerseits gingen deutsche Professoren ungern in die Städte wie Charʼkov, wo die Lebensbedingungen kaum ihrem Lebensstandard entsprachen. Andererseits hatten diejenigen Professoren, die sich nicht durch die Lebensumstände abschrecken ließen, Sprachschwierigkeiten: Sie konnten kein Russisch. Daher hielten sie ihre Vorlesungen auf Latein, Französisch oder Deutsch. Da die Studenten diese Sprachen intensiv in Gymnasien lernten, konnten sie ihre Kenntnisse in Vorlesungen und Seminaren vertiefen. 14 Das Jura-Studium Jakov Rostovtzeffs umfasste neben diesen Sprachen eine Reihe von Fächern, die alle in seinem universitären Attestat aufgelistet sind. Mit diesem Abschluss begann er im Oktober 1814 als Philosophielehrer an einem Gymnasium in Poltava zu ar 9 Vgl. Russkij Biografičeskij slovarʼ 17 (1917), 219; Maurer, T.: Hochschullehrer im Zarenreich. Ein Beitrag zur russischen Sozial- und Bildungsgeschichte, Köln 1998, 44f; Torke, H.: Das russische Beamtentum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 13 (1967), 101–110. 10 Die Stadt lag im Gouvernement Voronež. Vgl. Wes 1988, 207. 11 Die Zahl der Studenten an der Moskau Universität betrug 185 und an der Universität in Charʼkov 135. 16 Jahre später stieg die Zahl der Studenten an den beiden Universitäten, die Differenz wurde jedoch noch größer: 820 Männer studierten 1824 in Moskau und nur 337 in Charʼkov. Es ist jedoch unbekannt, ob diese Angaben auch „freie Hörer“ berücksichtigen. Vgl. Miljukov 1994, 288. 12 Vgl. Hildermeier 2013, 838f. 13 Vgl. Brim, S.: Universitäten und Studentenbewegung in Rußland im Zeitalter der Großen Reformen 1855–1861, Frankfurt am Main 1985, 25. 14 Vgl. Hildermeier 2013, 840–843; Brim 1985, 21.

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beiten. Nach sechs Jahren wurde er nach Kiew einberufen, wo er zuerst Philosophie an einem Gymnasium unterrichtete und dort 1834 als Oberlehrer das Unterrichten der russischen Literatur und Logik übernahm. Fünf Jahre später wurde er zum stellvertretenden Direktor Černigover Gymnasiums und zum Schulinspektor im Černigover Gouvernement ernannt. Schließlich erhielt er 1844 den Rang des Staatsrates, womit er sich erblichen Adelstand sicherte. 15 Jakov Rostovtzeff soll zu den „gebildetsten Menschen seiner Zeit“ 16 gehört und sich durch „eifrige Ausübung seiner Pflichten“ 17 ausgezeichnet haben. Außerdem wurde im Nekrolog von 1871 sein pädagogisches Talent erwähnt. Er kündigte seinen Rücktritt bereits 1846 an und zog sich im Dorf Namens Zleevo im Černigover Gouvernement zurück. 18 Im Ruhestand widmete er sich der Literatur und verlor aufgrund des ständigen Lesens seine Sehkraft fast vollständig. 19 Die Leistung des Großvaters von Michail Rostovtzeff war für den Aufstieg dieser Familie enorm. Der Kaufmannssohn konnte trotz der zahlreichen Einschränkungen der streng hierarchisch organisierten Gesellschaft Russlands einen faszinierenden Sprung durch die petrinische Rangtabelle schaffen: Von der niedrigsten 14. Rangklasse als Hochschulabsolvent bis zu einem angesehenen fünften Rang als höherer Bildungsbeamter. Für die Kinder Jakov Rostovtzeffs bedeuteten seine Errungenschaften eine stabile Zukunft und vielversprechende Perspektiven für die eigene Karriere.

2.1.2 Von Kiew nach Orenburg: Rostovtzeffs Eltern Der drittälteste Sohn Jakov Rostovtzeffs, Ivan, hatte seine ersten Schritte in der Zeit gemacht, als die Verflechtung von Herkunfts- und Bildungsrechten die Karriere sowie gesellschaftliche Stellung einer Person im Zarenreich bestimmte. Als Ivan Rostovtzeff (1831–1917) das Mindestalter für das universitäre Studium erreichte, kam die Revolution von 1848. Sie veranlasste den autokratisch regierten Nikolaus I. zu einer 15 Die vom Peter dem Großen eingeführte Rangtabelle des Russischen Reiches, die aus 14 Rangklassen bestand, setzte sich aus Militär-, Zivil- und Hofämter zusammen. Die neue Rangordnung ermöglichte einen sozialen Aufstieg für Nichtadelige dadurch, dass auch Offiziere und Beamten in den Adelsstand erhoben wurden. Allerdings wurde die Ranggrenze des erblichen Adels für Staatsbediensteten im Laufe der Zeit immer mehr nach oben verschoben: Bis 1845 genügte die achte Klasse für den Erbadel und seit der Reform Alexanders I. 1856 konnte nur der „Wirkliche Staatsrat“ (4. Klasse) über einen erblichen Adelstitel verfügen. Vgl. Torke, H.: Lexikon der Geschichte Russlands, München 1985, 321ff; Torke 1967, 48–97. 16 Polovcev 1917, 220. 17 Ebd. 18 Nach Ansicht von Marinus A. Wes sollte so ein Mensch wie der Staatsrat Jakov Rostovtzeff, der 25 Jahre im Dorf lebte, über einen Grundbesitz verfügen. Diese Vermutung ist jedoch durch keine Quellen belegt. Vgl. Wes 1988, 209. 19 Vgl. Polovcev 1917, 220.

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„furchtsamkonservativen“ 20 Bildungspolitik. Bereits 1839 wurden die Studiengebühren zur Regulierung der sozialen Zusammensetzung von Studierenden an russischen Universitäten zunächst eingeführt und sechs Jahre später wesentlich erhöht. Im März 1849 wurde das Unterrichten der Alten Sprachen an Gymnasien drastisch reduziert. Die Universitäten mussten auf die Wahl ihrer Rektoren verzichten und die Studentenzahl wurde auf 3.000 Personen für das ganze Zarenreich reduziert. Nicht weniger bezeichnend war die Meldung der sozialen Herkunft der Studenten bei der Dritten Abteilung. 21 Diese Maßnahmen hinderten den Vater des Althistorikers jedoch nicht, die klassische Philologie als sein Fachgebiet auszuwählen. Wohlgeboren durfte er sich an der 1833 gegründeten Universität St. Vladimir in Kiew ohne Einschränkungen einschreiben lassen. Nach dem Studium begann Ivan Rostovtzeff eine erfolgreiche Karriere im Bildungswesen. Der Vater des Althistorikers war im ausgehenden 19. Jahrhundert eine berühmte Persönlichkeit im Russischen Reich. Diese Tatsache wird von zahlreichen Biographen Michail Rostovtzeffs außer Acht gelassen. Das Ansehen des Vaters des Althistorikers war unterdessen nicht ohne Bedeutung für den Karrierebeginn seines Sohnes. Eine kurze Biographie Ivan Rostovtzeffs wurde sogar in den Almanach über russische Staatsmänner in höchsten Ämtern aufgenommen. 22 1851 begann Ivan Rostovtzeff Latein in Gymnasien und ein Jahr später Russisch im Fraueninstitut in Kiew zu unterrichten. Seit 1861 leitete er Übungen der lateinischen Sprache für Lehrer; ein Jahr später wurde Ivan Rostovtzeff zum Inspektor des 1. Kiewer Gymnasiums ernannt. 1864 übernahm er zusätzlich die Leitung der pädagogischen Schule für Lehrerausbildung in der südwestlichen Region. Zwischen 1865 und 1889 übte der Vater des Historikers mehrere Tätigkeiten gleichzeitig aus, die mit zahlreichen Dienstreisen verbunden waren: Er war u. a. als Sekretär des Kuratoriums für die Organisation und Inspektion der Volksschulen in Gouvernement Kiew, Volynʾ und Podolʾsk sowie als Inspektor des Kiewer Lehrbezirks tätig. Seit 1876 wurde er zum Vorsitzenden der Kiewer Gesellschaft für Klassische Philologie und Pädagogik gewählt. Als stellvertretender Kurator des Bezirks Kiew nahm Ivan Rostovtzeff seit 1879 an verschiedenen gesetzentwerfenden Kommissionen des Ministeriums für Volksbildung teil. 23 Die Ausübung der Dienstpflichten verband er mit der wissenschaftlichen Tätigkeit: Er übersetzte mehrere Reden Ciceros (1862, 1869 und 1880) und verfasste die Untersuchung „Über Vergils Georgica“ (1884). 24 Am 31. Januar 1890 wurde Ivan Rostovtzeff vom Zaren zum Kurator des Lehrbezirks Orenburg ernannt. Diese Ernennung war eine Krönung seiner langjährigen pädagogischen Verdienste. Als Leiter eines der 12 Lehrbezirke im Russischen Reich war Ivan Rostovtzeff für die Organisation und Verwaltung aller Bildungseinrichtungen in der

20 Hildermeier 2013, 750. 21 Vgl. ebd., 849f. 22 Goldberg, G. (Hg.): Almanach sovremennych russkich gosudarstvennych dejatelei [Almanach der zeitgenössischen russischen Staatsmänner], St. Petersburg 1897, 595f. 23 Vgl. ebd., 596. 24 Vgl. ĖSBE 2 (1907), 551.

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Wolga-Ural-Region verantwortlich. 25 Auf den ersten Blick schien die Übetragung der Aufgabe, den aufgrund der multinationalen Besonderheiten komplizierten Lehrbezirk zu leiten, ein Beweis für die Hochachtung des Philologen zu sein. Die Forscher verweisen jedoch auf die mangelnde Übereinstimmung Ivan Rostovtzeffs mit der reaktionären Bildungspolitik der zaristischen Regierung, besonders auf seine Kritik des berühmten „Koch-Erlasses“. 26 Das könnte der Grund sein, warum der Bildungsbeamte von der Regierung aus Kiew in die zwei Tausend Kilometer von Kiew entfernte Stadt Orenburg geschickt wurde. 27 Von nun an musste er die in Kiew jahrzehntelang aufgebauten Kontakte und Gewohnheiten aufgeben und mit 59 Jahren ein neues Leben anfangen. Dieser Schritt erwies sich in vielerlei Hinsicht als schicksalhaft und sehr positiv. Zum einen hätte Michail Rostovtzeff bei einer anderen Entwicklung höchst wahrscheinlich an der Universität Kiew weiter studiert und dort seine wissenschaftliche Karriere fortgesetzt. Da der Orenburger Lehrbezirk keine Hochschule hatte, war der Wechsel zur Universität St. Petersburg die beste Lösung für den Sohn und den Vater, der dienstlich sehr oft in der russischen Hauptstadt unterwegs war und dort viele Kontakte pflegte. Zum anderen gewann der entfernte Ort durch den neuen Kurator sehr viel für seine Entwicklung. 28 Das große Haus Ivan Rostovtzeffs wurde zum Zentrum des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der Stadt Orenburg und der ganzen Region. Kennzeichnend für die Tätigkeit des neuen Kurators war die Förderung der begabten Jugend: Ein Teil seines Hauses stellte Ivan Rostovtzeff für den Musikunterricht begabter junger Menschen zur Verfügung. Samstags veranstaltete er die Literaturabende, bei denen sich Schüler sowie Lehrer mit Werken und Leben antiker und zeitgenössischer Schriftsteller auseinandersetzten. Auf Initiative vom Vater des Althistorikers fanden außerdem regelmäßige Inszenierungen der altgriechischen Tragödien in Originalsprache statt. 25 Ausführlich in: Vgl. Galiullina, S./Gerassimowa, D./Safina, E.: Das Kuratorium als Verwaltungssystem der Bildung im Russischen Reich, in: Sammlung der Werke der internationalen wissenschaftlich-historischen Akademiemitglied L. Blumentrost Konferenz 1 (2013), 48–55. 26 Es handelte sich um ein Gesetz von 1887 unter dem reaktionären Bildungsminister I. Deljanov, dessen Ziel die Fernhaltung der Kinder von „Kutschern, Dienstboten, Köchen, Wäscherinnen, Ladengehilfen“ von Gymnasien und Progymnasien war. Vgl. Hildermeier 2013, 1250f. 27 Vgl. Okunʼ, Ju.: Semʼja Rostovcevych v obššestvennoj i kulʼturnoj žizni Orenburga konca XIX veka [Die Familie Rostovtzeffs im gesellschaftlichen und kulturellen Leben Orenburgs am Ende des 19. Jahrhunderts], in: Futorjanskij L. (Hg.): Orenburgskomu kraju 250 let. Materialy naučnoj konferencii, Orenburg 1994, 106. 28 Ivan Rostovtzeff trug zur Realisierung der Pläne des Ministeriums für Volksbildung bezüglich der Entwicklung und Professionalisierung von Fachausbildung im Russischen Reich bei. In den 1890er Jahren wurden mehrere Berufsschulen im Orenburger Lehrbezirk eröffnet. Im Jahr 1898 organisierte Ivan Rostovtzeff die erste professionell-pädagogische Ausstellung in seinem Lehrbezirk. Bis heute bleibt der Vater des Althistorikers im Zentrum der lokalen Untersuchungen zur Geschichte dieser Region. Vgl. Okunʼ 1994, 106–109; Galliulina, S.: Personalʼnyj sostav popečitelej Orenburgskogo učebnogo okruga [Der Personalbestand der Kuratoren des Lehrbezirks Orenburg], in: Vestnik Tomskogo Gosudarstvennogo Universiteta 356 (2012), 58–61; Klimakov, S.: Orenburgskaja professionalʼno-pedagogičeskaja vystavka 1898 g. [Die Orenburger professionell-pädagogische Ausstellung von 1898], in: Zagrebin, S. (Hg): Uralʼskie Birjukovskie Čtenija 5 (2008), 39–45.

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Seine innovativen Ideen fanden die Unterstützung innerhalb der Familie. Die Mutter Michail Rostovtzeffs, Marija, war neben ihrem Ehegatten eine bekannte Persönlichkeit in Orenburg. Sie, die Tochter eines Generals, stach mit ihrer brillanten Ausbildung aus dem Kreis der anderen Frauen deutlich hervor. Sie war eine ausgezeichnete Übersetzerin deutscher und französischer Schriftsteller und konnte sich mehrmals als Deutschlehrerin im Orenburger Gymnasium beweisen. Als Vorsitzende der „Gesellschaft für die Unterstützung der bedürftigen Schüler des Orenburger Gymnasiums“ versuchte Marija Rostovtzeff, die Gesellschaft auf die Armutsprobleme aufmerksam zu machen. Berühmt wurde sie jedoch durch ihre Leitung der Filiale der „Kaiserlichen Russischen Gesellschaft für Gartenbau“ in Orenburg. 29 Am 1. Januar 1904 wurde Ivan Rostovtzeff vom Zaren Nikolaus II. in den Rang des Wirklichen Geheimrates, was der zweiten Dienstrangklasse entsprach, erhoben. Bereits am 19. März 1904 reichte der Philologe sein Abschiedsgesuch ein. Zu diesem Zeitpunkt war er ein aktives Mitglied fast aller Gesellschaften Orenburgs: von der Christlichen Brüderschaft des Hl. Erzengel Michael bis zur wissenschaftlichen Archivkommission. Im Ruhestand bekleidete Ivan Rostovtzeff die Position des Adelsmarschalls und des Stadtverordneten. 1905 gründete der 74-jährige überdies eine rechtsliberale Partei in Orenburg. 30 Ivan und Marija Rostovtzeff können für ihre Zeit als progressive Eltern bezeichnet werden. Die Weltoffenheit, die Gleichstellung von Männern und Frauen, die bemerkenswerte Bildungsbreite sowie die Mehrsprachigkeit prägten die Kinder- und Jungendwelt Michail Rostovtzeffs. Kurz vor seiner Geburt, in den 1860er Jahren, verbreitete sich in der russischen Gesellschaft die starke pädagogische Reformbewegung, deren Anhänger die Überprüfung des alten Erziehungsmodells forderten. Die Diskussionen wurden durch den 1856 erschienen Artikel „Lebensfragen“ ausgelöst. 31 Der Autor, der bekannte Chirurg und angesehene Mann des öffentlichen Lebens Nikolaj Pirogov, bekleidete zwischen 1858 und 1861 die Stelle des Kurators des Kiewer Lehrbezirks. In seiner religiös gefärbten Schrift prokla29 Über mehrere Jahre organisierte die Mutter Michail Rostovtzeffs die Sommerkurse zur Theorie und Praxis der Gartenarbeiten für die Lehrer. Diese Maßnahmen dienten nicht nur der Verbesserung der äußeren Gestalt der Städte und Dörfer, sondern sollten auch die Bestellung des Landes optimieren. Da in den 1890er Jahren die Schulen in Russland Grundstücke als Besitz erhielten, konnten diese kleinen Wirtschaftsbetriebe in Hungerjahren Hilfe leisten. Vgl. Rostovzeff, M.: Kratkoe nastavlenie k razvedeniju lesov v Orenburgskoj gubernii [Eine kurze Anleitung zum Waldanbau im Orenburger Gouvernement], Orenburg 1892; Klimakov 2008, 40; Okunʼ 1994, 107–109; Vladimirceva V.: Prosvetitelʼskie iniciativy provincialʼnych organizacij v ėpochu uskorennoj modernizacii: soderžanie i formy relisacii (na materialach Orenburgskoj gubernii) [Aufklärerische Initiativen provinzieller Organisationen in der Epoche der beschleunigten Modernisierung: Inhalt und Realisierung (am Beispiel des Gouvernement Orenburg)], unter: http://www.moscowia.su/images/ konkurs_raboti/2008/konkurs2008.htm (letzter Abruf am 18.9.2013). 30 Vgl. Popov, V.: Organizacija pravoliberalʼnoj partii v Orenburgskoj gubernii [Die Organisation der rechtsliberalen Partei im Gouvernement Orenburg], in: Vestnik Orenburgskogo Gosudarstvennogo Universiteta 5 (2008), 31–37. 31 Vgl. Pirogov, N.: Voprosy žizni [Lebensfragen], in: Bogdanovskij, V./Georgevskij, A. (Hg.): Sobranie literaturnych stateij N.I. Pirogova, Odessa 1858, 3–38.

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Bildungstraditionen des Russischen Reiches in der Familie Rostovtzeff

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mierte Pirogov die Entwicklung einer vielseitigen und selbstständigen Persönlichkeit als das Hauptziel der Erziehung. Dabei trat er für eine allgemeine Bildung und eine humanistische Menschenerziehung ein, kritisierte die verbreitete Prügelstrafe als Methode der Erziehung und engagierte sich für die Erweiterung der Frauenbildung. 32 Seine Überzeugungen verteidigte Pirogov u. a. im Vorbereitungskomitee für die Schulreform vom November 1864. Da er die westeuropäische Wissenschaft hoch schätzte, suchte er in Westeuropa ein Modell, aufgrund dessen das russische Bildungssystem reformiert werden konnte. Es wundert daher nicht, dass Nikolaj Pirogov ausgerechnet seinen Mitarbeiter im Lehrbezirk Kiew, Ivan Rostovtzeff, beauftragte Bildungseinrichtungen Westeuropas näher kennenzulernen.

2.1.3 Auslandsreisen Ivan Rostovtzeffs Ivan Rostovtzeff war einer der vielen Experten, die von der Regierung in westliche Länder geschickt wurden, um das ausländische Schulwesen zu inspizieren und später ausführliche Gutachten darüber anzufertigen und zu veröffentlichen. 33 Die Dienstreise Ivan Rostovtzeffs fand in den Jahren 1860 und 1861 statt. Mehr als ein halbes Jahr der zur Verfügung gestellten Zeit blieb Ivan Rostovtzeff in Berlin. Das hing nicht nur damit zusammen, dass die gewünschte Besichtigung der französischen Bildungseinrichtungen mit bürokratischen Komplikationen verbunden war, sondern vielmehr damit, dass Deutschland traditionell ein Vorbild für das Russische Reich darstellte. Im preußischen Bildungssystem fand er viele Parallelen mit dem russischen Bildungsmodell. Der Vater des Althistorikers war der Meinung, dass Russland sich dem Vorbild Preußens noch mehr nähern sollte. Solche Achtung wurde nicht nur durch die konkrete Analyse des Schulwesens in Berlin begründet, sondern auch durch „die allen bekannte Tatsache, dass die Deutschen in allem, wo geistige Fähigkeiten notwendig sind, über uns stehen“. Dies, schrieb Ivan Rostovtzeff, hätten die Deutschen „durch ihr politisches sowie literarisches Leben bewiesen“. 34 Der Autor des Berichts wollte sich nicht mit einer Beschreibung der preußischen Bildungsinstitutionen begnügen, sondern beabsichtigte vielmehr seine „Meinung zu deren Aufbau und zu einigen Bestimmungen unseres neuen Statutenentwurfes“ zu äußern. 35 Die Schrift war vorwiegend jenem Zweig der mittleren Bildungseinrichtungen gewidmet, der junge Menschen für das Studium vorbereitete, den Gymnasien. Die Lehrpläne der preußischen Gymnasien wurden vom Autor sehr ausführlich beschrieben. Ivan Rostovtzeff 32 Vgl. ebd; auch Anweiler, O.: Geschichte der Schule und Pädagogik in Russland vom Ende des Zarenreiches bis zum Beginn der Stalin-Ära, Berlin 1964, 12–48; Kegler, D.: Das Ethos der russischen Pädagogik. Studien zur Erziehung in Rußland seit Pirogov, St. Augustin 1991, 23–50. 33 Vgl. Alexander/Stöckl 2009, 489–494. 34 Rostovtzeff, I.: Zametki o nekotorych učebnych zavedenijach v Berline [Notizen über einige öffentliche Bildungseinrichtungen in Berlin], in: ŽMNP 2 (1862), 1–57, hier 2. 35 Ebd.

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plädierte für die neunjährige Gymnasialzeit und die Erhöhung der Lateinstunden am Beispiel Preußens. Gleichzeitig befürwortete er die Reduzierung der Unterrichtsstunden der „Naturgeschichte“ 36 für klassische Gymnasien sowie die Verringerung der Prüfungsanforderungen in der Lateinabschlussprüfung. In Progymnasien Russlands sollten, nach I. Rostovtzeff, „patriarchalische Beziehungen“ 37 zwischen Erziehern und Schülern aufrechterhalten werden und alle oder mehrere Fächer in einer Klasse von einem Lehrer mit dem universitären Abschluss unterrichtet werden. Er forderte zudem die Erhöhung der Zahl des Klassenunterrichts allgemein, die Abschaffung der Schuluniform sowie die materielle Sicherstellung der Lehrer. Seine lebendige Ausführung beendete Ivan Rostovtzeff mit einem Aufruf an seinen Kollegen: „Nos, nos, dico aperte, consules desumus“. 38 Die Stimme Ivan Rostovtzeffs war ein Bestandteil der neuen Öffentlichkeit, die in der Vorbereitungsphase für die Reformen Alexanders II. eine bedeutende Rolle spielte. Die schwere Niederlage Russlands im Krimkrieg offenbarte seine Unterlegenheit gegenüber Westeuropa. Der Wunsch des russischen Zaren, sein Land konkurrenzfähig zu machen, samt der Befürchtungen der gewaltsamen Bauernunruhen sowie die Kritik an den schlechten Lebensverhältnissen in Russland seitens der Vertreter der öffentlichen Meinung führten zum wohl bekanntesten Manifest der russischen Geschichte vom 19. Februar 1861, zur Bauernbefreiung. Die Reorganisation des Bildungssystems wurde durch dieselben Ziele motiviert. Alexander II. wollte sein Imperium mit dem alphabetisierten Volk sowie durch die gebildeten Eliten wieder stark machen. Ohne ausgebildete Fachleute hatte Russland keine Chance, sich in der Wirtschaft und auf dem Kriegsfeld neben europäischen Großmächten behaupten zu können. Obgleich nicht alle Wünsche Ivan Rostovtzeffs in dem neuen Statut für die „mittleren“ Bildungseinrichtungen verwirklicht worden waren, wurde das von Pirogov und seinen Anhängern bevorzugte klassische Gymnasium in der Neuregelung präferiert. 39 1871 wurde die Bevorzugung der altsprachlichen Gymnasialtypen im Statut des Grafen Tolstoj erneut bestätigt. Dabei blieb das preußische Gymnasium für das russische Bildungsmodell maßgeblich. Der nächste dokumentierte Aufenthalt I. Rostovtzeffs im deutschsprachigen Raum fand im Jahr 1874 statt. Das Hauptziel dieser Reise waren das Kennenlernen des auf der Wiener Weltausstellung präsentierten Lehrmaterials und der Besuch deutscher Realschulen. Ivan Rostovtzeff hinterließ darüber wieder einen ausführlichen Bericht. 40 Er beschrieb, zeichnete und kaufte Muster von allen möglichen Lehrmaterialien, die ihn auf der Weltausstellung interessiert hatten: von einem Stift über Karten und Modellen bis hin zu Schulbänken. Der Vater des Althistorikers wollte die neuesten Erfindungen aus 36 37 38 39

Ebd., 56. Ebd. Ebd., 57; Cicero: In Catilinam 1, 3. Zur Reform vgl. Miljukov 1994, 310–313; Alston, P.: Education and the State in Tsarist Russia, California 1969, 64–76; Hildermeier 2013, 1246f. 40 Vgl. Rostovtzeff, I.: Otčet o zagraničnom putešestvii [Bericht über die Auslandsreise], in: Zirkular po upravleniju Kievskim učebnym okrugom 4–6 (1874), 1–61.

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dem Schulwesen in Kiewer Gymnasien, wo er zu diesem Zeitpunkt tätig war, umsetzen. Er verwies z. B. auf die Notwendigkeit, den Geschichtsunterricht anschaulich zu machen. In diesem Fall empfiehl er das „Album des Klassischen Alterthums zum Gebrauch beim Unterricht in Gymnasien“ von Professor Rheinhard. 41 Den westeuropäischen Schulbetrieb untersuchte Ivan Rostovtzeff anhand seiner Besuche von Realschulen und speziellen Schulen der Mittelstufe in Wien, Prag und Chemnitz. Dabei werden im Bericht Lernprogramme deutschsprachiger Bildungseinrichtungen penibel beschrieben. Der Autor bemerkte u. a. positiv, dass die Deutschen für das Lernmaterial „keine Ausgaben scheuen“. 42 Die gesamte pädagogische Tätigkeit Ivan Rostovtzeffs zeigt, dass er die Überzeugungen der progressiv gesinnten Öffentlichkeit teilte, die sich für eine allmähliche Demokratisierung der Bildung einsetzte. Dabei wurde die Europäisierung der Bildung oft als ein notwendiger Bestandteil dieser Demokratisierung verstanden. Dies war das wesentliche Merkmal, das die Bildung des jungen Michail Rostovtzeff auszeichnete. Der familiäre Hintergrund hatte einen unmittelbaren Einfluss auf den Lebenslauf des Althistorikers. Der allmähliche Aufstieg der Nachfahren des Kaufmanns Pavel Rostovtzeff offenbart jene Fähigkeiten, die überhaupt solche Entwicklung ermöglichten und im Laufe der Zeit die Traditionen dieser Familie prägten. Den Vorfahren Michail Rostovtzeffs war eine überdurchschnittliche Intelligenz nachzuweisen, die zusammen mit großer Zielstrebigkeit eine solide Grundlage für einen erfolgreichen Aufstieg in der russischen Rangtabelle ermöglicht hatten. Die Weltoffenheit, Mehrsprachigkeit sowie liberale Ansichten wurden durch aktive Beteiligung am Gesellschaftsleben gefördert sowie im Laufe zahlreicher Dienstreisen nach Westeuropa weiterentwickelt und als Grundprinzipien der Familie übernommen. Die Rostovtzeffs waren zudem Menschen mit Prinzipien, die sie in allen Lebenssituationen zu verteidigen pflegten. Auch wenn die Rechte, die die Rostovtzeffs sich durch ihre Verdienste erworben hatten, ihnen ein beschwerdefreies Leben und gewisse Privilegien sicherten, blieb die Erinnerung an die Anfänge trotzdem bestehen. Dies äußerte sich in der Hartnäckigkeit und Gewissenhaftigkeit, die die Rostovtzeffs in ihrer Arbeit zeigten, und kam außerdem im humanen Umgang der Familienmitglieder mit anderen Menschen zum Vorschein. Michail Ivanovič wurde im Laufe seiner Karriere zum würdigen Bewahrer der Traditionen der Familie Rostovtzeff.

2.2 St. Petersburger Universität „Ich bin kein klassischer Philologe geworden“ 43, schrieb Michail Rostovtzeff im Jahr 1924 rückblickend. Dabei war sein Werdegang in den Anfängen dem Karriereverlauf seines Vaters sehr ähnlich. Das sechste Kind des Altphilologen Ivan Rostovtzeff sollte dem Weg 41 Vgl. ebd., 14. 42 Ebd., 30. 43 Rostovtzeff, M.: Stranički vospominanij [Die Seiten der Erinnerung] 10.8.1924, in: Kyzlasova, I. (Hg.), Kondakov, Nikodim, Vospominanija i dumy, Moskau 2002, 213.

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seiner Vorfahren folgen. Michail Rostovtzeff besuchte genauso wie sein Großvater und sein Vater das klassische Gymnasium zuerst in Žitomir, später in Kiew.

2.2.1 Von Kiew nach St. Petersburg: Eine schicksalhafte Entscheidung Von 1888 bis 1890 studierte Michail Rostovtzeff klassische Philologie und russische Geschichte an der Kiewer Universität. Zu Rostovtzeffs Lehrern in Kiew gehörten Adolf Sonni (1861–1922), Iosef Lecius (1860–?) sowie Julian Kulakovskij (1855–1919). 44 Wenn über Lecius nur wenige Informationen zur Verfügung stehen 45, sind die Lebenswege von zwei anderen gut dokumentiert. 46 In Bezug auf Rostovtzeffs Bildungstradition sind vor allem die wissenschaftlichen Schwerpunkte sowie Verbindungen seiner ersten Universitätslehrer zur deutschen Wissenschaft von Interesse. Der Spezialist für römische Geschichte, Russlands Archäologie, Geschichte und Kultur von Byzanz J. Kulakovski 47unternahm in den Jahren 1878–1880 eine Bildungsreise nach Deutschland, wo er u. a. Vorlesungen und Seminare von Theodor Mommsen besuchte. Unter der Leitung des deutschen Gelehrten studierte Kulakovskij Epigraphik und lernte das römische Staatswesen zu untersuchen. Diese Bildungsreise soll seine gesamte wissenschaftliche Tätigkeit beeinflusst haben. 48 Sicherlich blieb auch seine seit 1881 an der Universität Hl. Vladimir aufgenommene Lehrtätigkeit nicht ohne Einfluss dieser Auslandserfahrung. Der klassische Philologe A. Sonni absolvierte 1882 das Russische Seminar für klassische Philologie, das 1873 an der Universität Leipzig gegründet worden war. Zusammen mit ihm besuchte F. Zelinskij diese strenge philologische Schule unter der Leitung des deutschen klassischen Philologen Justus Hermann Lipsius (1834–1920). 49 Seit 1897 lehrte 44 Vgl. Vernadsky 1930, 386. Der Autor schrieb den Namen eines der Lehrer Rostovtzeffs falsch: Lepsius statt Lecius. 45 Vgl. Sonni, A.: Iosif Andreevič Lecius, in: Kiewer universitetskie izvestija 12 (1913), 206f. 46 Zu Ju. Kulakovskij vgl. Buzeskul 2013, 202–204; Frolov 2006, 342–245. Zu A. Sonni vgl. Vgl. Pučkov, A.: Adolf Sonni, kievljanin [Kiewer], Kiew 2011; Frolov 2006, 320, 346. 47 Vgl. z. B. Arbeiten von Kulakovskij, Ju.: Nadel veteranov zemleju i voennye poselenija v rimskoj imperii [Landaufteilung unter Veteranen und Militärniederlassungen im Römischen Imperium], Kiew 1881; Kollegii v drevnem Rime [Kollegien im antiken Rom], Kiew 1882; Dve kerčenckie katakomby c freskami [Zwei Kertscher Katakomben mit Fresken], St. Petersburg 1896; Prošloe Tavridy [Die Vergangenheit des Tauris], Kiew 1914; Istorija Vizantii [Geschichte des Byzanzʼ], 3 Bde., Kiew 1909–1915; Bongard-Levin 1997, 77. 48 Vgl. Frolov 2006, 342f; Kulakovskij, Ju.: Th. Mommsen. Nekrolog, in: ŽMNP 1 (1904), 39–61 und in: Kievskie universitetskie izvestija 3 (1904), 1–24. Auch thematisch waren einige Arbeiten Kulakovskijs den Schriften seines deutschen Lehrers ähnlich. Vgl. Kulakovskij, Ju.: Kollegii v drevnem Rime (opyt po istorii rimskich učreždenij) [Kollegien im alten Rom (Erfahrung der Geschichte römischer Institutionen)], Kiew 1882; Mommsen, Th.: De collegiis et sodaliciis Romanorum, Kiel 1843. 49 Vgl. Frolov 2006, 319f; Lipsius J./Bethe, E./Heinze, R.: Das Philologische Seminar, in: Festschrift zur Feier des 500-jährigen Bestehens der Universität Leipzig, Bd. 4/1, Leipzig 1909, 18f.

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Sonni dann an der Universität Kiew. Für die Dissertation „Ad Dionem Chrysostomum analecta“ (1897) erlangte er den Doktorgrad. Jahre später unternahmen die beiden Lehrer M. Rostovtzeffs, Kulakovskij und Sonni, die gemeinsame Übersetzung des Ammianus Marcellinus. 50 Rostovtzeff selbst charakterisierte die Kiewer Professoren als „ordentliche, aber farblose Gelehrte“. 51 Rostovtzeffs herablassende Haltung ihnen gegenüber ist bereits am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere festzustellen. So schrieb Rostovtzeff während seines Paris-Aufenthalts 1897: „[…] Hier war neulich Sonni, sprang drei Tage umher, hinterließ eine Spur in meinem Zimmer in Form von seiner Dissertation und reiste nach Russland ab. Er ist ein sehr netter Mensch, aber unbarmherzig langweilig.“ 52 Im gleichen Jahr bezeichnete der 27-jährige Althistoriker seinen Lehrer Kulakovskij als einen „Scharlatan“ 53 und veröffentlichte eine vernichtende Rezension zu seinem Buch „Altertümer Südrusslands“ 54. Rostovtzeffs Angriffe sollen Kulakovskij zutiefst verletzt haben und wurden sowohl in wissenschaftlichen Kreisen seiner Zeitgenossen als auch in neueren wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen verurteilt.  55 Alle drei Lehrer, Sonni, Lecius und Kulakovskij, traf Rostovtzeff nochmals 1911 bei dem Ersten Allrussischen Kongress der Lehrer der Alten Sprachen in St. Petersburg, wo Rostovtzeff am 31. Dezember einen Abendvortrag über die Erfolge der russischen Archäologie im Schwarzmeergebiet hielt. 56 Unabhängig von Rostovtzeffs Urteil lässt sich die Rolle, welche diese Personen für die Entwicklung des Althistorikers gespielt hatten, nicht bestreiten. Die einst in Deutschland ausgebildeten Universitätslehrer hatten Rostovtzeff notwenige Grundlagen der klassischen Philologie vermittelt und es ist gut möglich, dass Kulakovskij das Interesse

50 Vgl. Kulakovskij, Ju./Sonni, A. (Hg.): Ammian Marcellin. Istorija [Ammianus Marcellinus. Geschichte], Ausg. 1-3, Kiew 1906–1908. 51 Vernadsky 1930, 386f. 52 Brief M. Rostovtzeffs an S. Žebelev vom 20.7.1897, in: Bongard-Levin 1997, 392. 53 Brief M. Rostovtzeffs an S. Žebelev vom 18.10.1897, in: Ebd., 394. 54 Vgl. Rostovtzeff, M.: Zametka o rospicjach kerčenskich katakomb [Notiz über die Wandmalerei der Kertscher Katakomben], in: Zapiski russkogo archeologičeskogo občšestva 9 (1897), 291–298; Kulakovskij, Ju.: Drevnosti Južnoj Rossii [Altertümer Südrusslands], St. Petersburg 1896. 55 Auf der Gedenkveranstaltung für Ju. Kulakovskij 1919 kritisierte N. Kondakov Rostovtzeffs Haltung und charakterisierte den Autor der Rezension als einen trotz „seiner ganzen Genialität kranken Menschen“, der „ein Jucken“ habe, „in jeder seiner Arbeiten jemanden zu verletzen“. Vgl. Gespräch zwischen N. Kondakov und B. Verneke auf der Gedenkveranstaltung 1919 in Odessa, in: BongardLevin 1997, 115. A. Pučkov im biographischen Buch über Ju. Kulakovskij erklärt Rostovtzeffs Verhalten gegenüber seinem Lehrer mit dem „launenhaften“ Charakter des Althistorikers. Vgl. Pučkov 2011, 49. 56 Vgl. Trudy Pervogo Vserossijskogo sʼʼezda prepodavatelej drevnich jazykov [Arbeiten des Ersten Allrussischen Kongresses der Lehrer der alten Sprachen] 28.–31. Dezember 1911, St. Petersburg 1912.

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des jungen Gelehrten für die römische Geschichte sowie für die Geschichte Südrusslands erweckt hatte. Warum ist Michail Rostovtzeff kein Altphilologe, sondern ein Althistoriker geworden und zwar ein Althistoriker, dessen Schwerpunkt in der Wirtschaftsgeschichte der Antike lag? Die Antwort mag sich sowohl in den persönlichen Interessen Michail Rostovtzeffs, als auch in der allgemeinen Entwicklung der Althistorie in Russland finden. Allem voran war es jedoch die Entscheidung, den Wohn- und Studienort im Jahr 1890 zu wechseln: Michail Rostovtzeff wählte unter einer aktiven Mitwirkung seines Vaters Sankt Petersburg. Als Ivan Rostovtzeff im Januar 1890 die Kuratorstelle in Orenburg bekam und aus Kiew wegziehen musste, stellte sich die Frage, wie die Zukunft des 20-jährigen Michail Rostovtzeff aussehen sollte. Den Sohn in Kiew zurücklassen wollte Ivan Rostovtzeff nicht. Er hatte ein unerfreuliches Beispiel seines Neffen Anatolij Lunačarskij 57 vor Augen, dem aufgrund seiner Teilnahme an einer illegalen marxistischen Organisation der Zutritt zur Moskauer Universität verweigert worden war. Lunačarskij war einige Jahre in Rostovtzeffs Familie erzogen worden und war nur fünf Jahre jünger als sein Sohn Michail. Der besorgte Vater unternahm einen entscheidenden Schritt, der eine große Bedeutung im Schicksal seines Sohnes spielte. Er schrieb an seinen Freund, den Dekan der historisch-philologischen Fakultät der Petersburger Universität, Ivan Pomjalovskij: „[…] Bei uns geht das Gerücht um, dass sich an der Petersburger Universität Unruhen verbreiten. 58 Wir wissen jedoch nicht, warum sie entstanden, welchen Umfang und welche Resultate sie haben. Währenddessen interessiert mich das persönlich, weil ich gerne meinen Sohn nach den Ferien für das dritte Studienjahr an die Philologische Fakultät versetzen würde. Wenn Sie das nicht so sehr belästigt, setzen Sie mich darüber in Kenntnis.“ 59 Ende Juli 1890 kam der junge Rostovtzeff in Sankt Petersburg an, um sein Studium an der historisch-philologischen Fakultät der Petersburger Universität fortzusetzen. 60 In den Händen hatte er ein Empfehlungsschreiben:

57 A. Lunačarskij (1875–1933) wurde zum Anhänger der bolschewistischen Partei und zum engen Vertrauten Lenins. Nach der Oktoberrevolution leitete er von 1917 bis 1929 das Volkskommissariat für das Bildungswesen. Ausführlicher siehe dazu Borev, Ju.: Lunačarskij, Moskau 2010; Ljubutin, K./ Franz, S.: Rossijskie versii marksizma: Anatolij Lunačarskij, Ekaterinburg 2002. 58 Gemeint ist der erste allrussische Studentenstreik vom Februar bis April 1899, an dem etwa 25.000 Studierenden russlandweit teilnahmen. Der Streik wurde von Studenten der Universität St. Petersburg initiert. Vgl. Olesič, N.: Gospodin student Imperatorskogo Sankt-Peterburgskogo universiteta, St. Petersburg 1998, 127. 59 Brief I. Rostovtzeffs an I. Pomjalovskij vom 26.3.1890 befindet sich in OR RNB und ist außerdem abgedruckt in: Bongard-Levin 1997, 52 60 Marinus Wes bietet in seiner Schrift über M. Rostovtzeff eine umfangreiche Statistik an. 1890 haben sich 150 Menschen an der historisch-philologische Fakultät der Petersburger Universität ein-

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„Gnädiger Herr Ivan Vasil’evič! Mit einem Exemplar des Griechisch-Russischen Wörterbuches, das zum zweiten Mal von der K[iewer] G[esellschaft klassischer Philologie] herausgegeben wurde, halte ich es für meine Pflicht, Ihnen für Ihre Mitwirkung beim Zusammentragen der Subsidien für diese Ausgabe zu danken. Zugleich wage ich Sie zu bitten, meinen Sohn Michail, dem aufgrund von Familienangelegenheiten bequemer an der Petersburger Universität wird, Ihre Unterstützung zu geben. Außerdem bitte ich Sie, ihn nicht ohne Ihre Führung und Betreuung, die er, ich hoffe, mit seinen fleißigen Studien der Philologie an der Petersburger Universität rechtfertigen wird, zu lassen. Mit vorzüglicher Hochachtung und Treue verbleibe Ihr ergebener Diener I. Rostovcev.“ 61

2.2.2 Die Entwicklung der russischen Althistorie im gesamteuropäischen Kontext Die Herausbildung der russischen Altertumswissenschaften begann in der Regierungszeit von Peter dem Großen. Die Orientierung des russischen Zaren auf Westeuropa, sein Streben nach Russlands Modernisierung durch die Übernahme westeuropäischer Errungenschaften betraf auch den Bildungsbereich. Das äußerte sich u. a. in der Aufnahme und Verbreitung neuhumanistischer Tradition im Russischen Reich am Anfang des 18. Jahrhunderts. Die Kultur des Klassizismus mit ihrer Zuwendung zur griechischrömischen Antike bildetete die Grundlage der neu entstehenden russischen Kultur. Die klassische Bildung sowie altertumswissenschaftliche Studien spielten eine überragende Rolle in diesem Prozess. Die russischen Altertumswissenschaften werden in ihren Anfängen als ein „Nebenzweig der deutschen klassischen Philologie“ 62 bezeichnet. Das Ausbleiben einheimischer Wissenschaftskräfte zwang die russische Regierung dazu, Gelehrte aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland, wo die Erforschung der Antike bis zur Aufklärung in den Händen der Philologen lag, einzuladen. Aus diesem Grund waren die ersten Mitglieder der 1725 gegründeten Akademie der Wissenschaften St. Petersburg und zugleich die ersten Altertumsforscher Russlands ausschließlich Ausländer. So gilt der Deutsche Gott-

geschrieben. Das betrug nur 6% aller Studierenden. Die Popularität der historisch-philologischen Fakultät sank im Laufe des 20. Jahrhunderts. Vgl. Wes 1988, 218ff. 61 Empfehlungsbrief I. Rostovtzeffs an I. Pomjalovskij vom 10.7.1890, abgedruckt in: Bongard-Levin 1997, 52. 62 Frolov, Ė.: Tradicii klassizisma i peterburgskoe antikovedenie, in: Problemy istorii, filosofii i kulʼtury 8 (2000), 74.

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lieb Siegfried Bayer (1694–1738) als Gründer der russischen historisch-philologischen Wissenschaft. 63 Allerdings konnten die historischen Disziplinen in Russland erst im 19. Jahrhundert aufblühen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verbreitete sich eine große Antikenbegeisterung in der russischen Gesellschaft, die unter dem Einfluss der Französischen Revolution und des Krieges von 1812 ein neues patriotisch-bürgerliches Selbstverständnis aufwies. Mit dem wachsenden Interesse der Öffentlichkeit für die antike Tradition begann die archäologische Erschließung des nördlichen Schwarzmeergebietes, besonders der 1783 an Russland angegliederte Halbinsel Krym. Es wurden die Russische Archäologische Gesellschaft (1846) und die Kaiserliche Archäologische Kommission (1859) gegründet, die die Leitung archäologischer Untersuchungen des Russischen Reiches übernahmen. Die Russische Akademie der Wissenschaften wurde seit 1818 vom Grafen S. Uvarov (1786–1855), einem Verehrer der Antike, geleitet.  64 Auf seine Initiative hin wurde an der Akademie der Lehrstuhl für griechische und römische Altertümer eingerichtet, sowie eine Reihe deutscher Gelehrten nach Russland eingeladen und in den russischen Wissenschaftsbetrieb integriert. 65 Als Zentrum der Wissenschaften galt dabei Sankt Petersburg. Die russische Hauptstadt war ein idealer Ort für die Entfaltung eines jungen Wissenschaftlers. Die meisten Hochschulen 66, wissenschaftlichen Einrichtungen und Gesellschaften befanden sich im ausgehenden 19. Jahrhundert in St. Petersburg. Neben den Literaturbeständen der Petersburger Universität verfügte diese Stadt über zahlreiche Handschriften- und Antikensammlungen in der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek, der Bibliothek der Petersburger Akademie der Wissenschaften sowie in der Ermitage. Von großer Bedeutung für die Entwicklung des Althistorikers war nicht nur sein Wohn- und Studienort, sondern auch die Zeit, in der Michail Rostovtzeff heranwuchs. Die Intensivierung und Erfolge der archäologischen Forschung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Gebiet des antiken Mittelmeerraumes eröffneten Forschern neue Quellenkomplexe, was zum Aufschwung der Hilfsdisziplinen innerhalb der Altertumsforschung führte. Zu diesen zählten u. a. Epigraphik, Papyrologie sowie Numismatik. Das umfangreiche Quellenmaterial, das in Form von Serien oder Corpora bearbeitet und allmählich herausgegeben worden war, wurde Gegenstand der Untersuchungen von Wissenschaftlern weltweit und rückte neue Schwerpunkte in das Blickfeld der althistorischen Untersuchungen. 63 Der Professor Gottlieb Siegfried Bayer lehrte zunächst griechische Literatur in Königsberg und wurde 1725 zum Akademiker der Petersburger Akademie der Wissenschaften ernannt. Seine wissenschaftlichen Interessen waren umfangreich; er gilt u. a. als Begründer der These von der Rolle der Nomannen für den Ursprung des russischen Staates. Vgl. ebd., 65ff; Buzeskul 2013, Bd. 1, 7f. 64 Vgl. Frolov 2000, 71–73. 65 U. a. Heinrich Ernst Köhler (1765–1838), Ludolf Stephani (1816–1887), August Nauck (1822–1892). Vgl. ebd., 74. 66 Im Vergleich zu Moskau, wo es 1896 insgesamt 8 Hochschulen gab, verfügte die russische Hauptstadt über 25 Institutionen der Hochschulbildung. Vgl. Soboleva, E.: Organizacija nauki v poreformennij Rossii, Leningrad 1983, 47.

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Im deutschsprachigen Raum verfassten die herausragenden Vertreter der Altertumswissenschaften ihre Studien zu diesen Disziplinen und beeinflussten so deren Entwicklung. Dazu gehörte in erster Linie Theodor Mommsen (1817–1903) 67 mit seiner „Römischen Geschichte“, seinem Projekt des „Corpus Inscriptionum Latinarum“ (CIL) und mit der Methodenentwicklung der modernen Epigraphik. In der Altphilologie wurde Mommsens Schwiegersohn Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931) 68 zur anerkannten Koryphäe. Auch die Persönlichkeit Eduard Meyers (1855–1930) 69, eines Autors einer der letzten monumentalen Geschichtsdarstellungen, prägte mehrere Historikergenerationen. Eines der wichtigsten Zentren archäologischer Forschung war das Deutsche Archäologische Institut (DAI), das sich zu einem Pilgerort für Nachwuchswissenschaftler entwickelte. Darüber hinaus trugen spezielle Lexika und Fachzeitschriften zur Stärkung des Ansehens deutschsprachiger Altertumswissenschaften bei. 70 Die Neuerungen auf dem Gebiet der Altertumswissenschaften fielen in Russland auf fruchtbaren Boden. Die Reformen der 1860/70er Jahre förderten die Aktivierung der wissenschaftlichen sowie pädagogischen Tätigkeit im Russischen Reich enorm: Viele Archive wurden zugänglich, zahlreiche wissenschaftliche Einrichtungen belebten sich, die fachorientierten Periodika verbesserten sich sowohl quantitativ als auch qualitativ. Die liberalen Tendenzen in der russischen Wissenschaftswelt waren Ende des 19. Jahrhunderts von dem allgemein gestiegenen Ansehen der Wissenschaft in der Gesellschaft Russlands begleitet. Die Antworten auf die Fragen der Zeit wurden in der Geschichte gesucht, was sich in überfüllten Hörsälen bei öffentlichen Geschichtsvorlesungen deutlich zeigte. 71 Die Zentren dieser Entwicklungen waren russische Universitäten, allen voran die Sankt Petersburger Universität.

2.2.3 Russische Historische Schule Die russische Hauptstadt bekam ihre Universität relativ spät, wenn man bedenkt, dass die Hochschule in Moskau bereits 1755 ihre Türe geöffnet hatte. Die Petersburger Universität entstand 1819 aus dem Pädagogischen Hauptinstitut, das 1804 gegründet worden war. Die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, die eine reine Forschungsinstitution war, hatte die Vorarbeit geleistet, die Jahrzehnte später einen bemerkenswerten Aufstieg der hauptstädtischen Hochschule ermöglichte. Dabei spielte die Anlehnung an geschichtswissenschaftliche Traditionen Westeuropas eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die westeuropäischen Vorbilder prägten ohne Zweifel alle drei Fakultäten der Petersburger Universität: philosophisch-juristische, physikalisch-mathematische sowie historisch-phi67 68 69 70 71

Vgl. Rebenich, S.: Mommsen, Theodor, in: DNP Supl. 6 (2012), 836–842. Vgl. Calder III, W.M.: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, in: Ebd., 1312–1317. Vgl. Meißner, B.: Meyer, Eduard, in: Ebd., 817–821. Vgl. Kuhlmann/Schneider 2012, XXV–XXVI. Vgl. Šachanov, A.: Russkaja istoričeskaja nauka vtoroj poliviny XIX–načala XX, Moskau 2003, 3–9.

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losophische. Innerhalb der letzten bildete sich die erste nationale Schule der Altertumswissenschaften, die zum Fundament der später entstandenen Petersburger Historischen Schule wurde.  72 Die Entstehung der Petersburger Historischen Schule verbindet man mit dem Namen von Michail Semenovič Kutorga (1809–1886), dem Spezialisten für die Geschichte des Hellenismus, der von 1835 bis 1869 als Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Petersburg tätig war. Auch Kutorga verbrachte zwei Jahre (1832–1834) zur Vertiefung seiner Fachkenntnisse in Paris, Heidelberg, München, am längsten war er in Berlin. Nach dem deutschen Vorbild organisierte er in den späten 1840er Jahren dann in seinem Haus spezielle „Abendgespräche“ 73 mit ausgewählten Studenten. Bezeichnend für Kutorga und seine zahlreichen Schüler waren das Bestreben nach einer kritischen Geschichtsforschung und die Untersuchung der globalen historischen Prozesse. Obgleich solche Methodologie ihre Schwachpunkte hatte, wie etwa die Gefahr einer allzu oberflächlichen Darstellung, zählte die kritische Quellenanalyse zu ihrer unbestrittenen Errungenschaft. Nicht weniger wichtig war der Durchbruch der russischen Altertumswissenschaften, welcher dank Kutorgas in westeuropäischen Sprachen publizierten Arbeiten gelang. 74 Darüber hinaus löste sich Michail Kutorga von einer reinen Schreibtischarbeit ab und ging zur Vertiefung seiner Studien nach Griechenland und Ägypten. Diese Ansätze fanden bald darauf weite Verbreitung bei russischen Historikern. Die nächste Historikergeneration an der Universität St. Petersburg bildete die Elite der russischen Altertumswissenschaften vor der Oktoberrevolution, die eine internationale Anerkennung der einheimischen Wissenschaft erlangen konnte. Dabei bildeten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die folgenden wichtigsten Richtungen der russischen Altertumswissenschaften heraus: historisch-philologische, kulturell-historische, sozialpolitische sowie sozial- und wirtschaftshistorische. 75 72 Vgl. Grau, C.: St. Petersburg. Die Akademie der Wissenschaften Russlands von Peter dem Großen zu Lenin, in: Demandt, A. (Hg.): Stätte des Geistes. Große Universitäten Europas von Antike bis zur Gegenwart, Köln 1999, 223–243; Frolov, E.: Zum Lehrstuhl der Alten Geschichte, unter: http://centant.spbu.ru/centrum/history/historia.htm (letzter Abruf am 10.11.2013). 73 Buzeskul 2013, 101. 74 Vgl. dazu Kutorga, M.: De antiquissimis tribubus Atticis earumque cum regni partibus nexu, Dorpat 1832; Essai Sur L‘Organisation De La Tribu Dans L‘Antiquité, Paris 1839; Beitrag zur Erklärung der vier ältesten Attischen Stylen, Leipzig 1851; Die Ansichten des Dikaearchos über den Ursprung der Gesellschaft nebst der Erklärung seines Fragments bei Stephanos von Byzanz s. v. Phatpha, Leipzig 1851; Kritische Untersuchungen über die von dem Alkmäoniden Kleisthenes in Athen eingeführte Staatsverfassung, Leipzig 1853; Essai Historique Sur Les Trapézites Ou Banquiers D‘Athènes, Paris 1859; Mémoire sur le parti persan dans la Grèce ancienne et le procès de Thémistocle, Paris 1860; Recherches critiques sur l‘histoire de la Grèce pendant la période des guerres Médiques, Paris 1864. 75 Vgl. Frolov 2006, 205–378; Kuziščin 1980, 139–171; Gavrilov, A.: Die klassische Philologie in Sankt Petersburg, in: Altertum 45 (1999), 155–168; Ananich, B./Paneiakh, V.: The St. Petersburg School of History and Its Fate, in: Russian Studies in History 36/4 (1998), 72–92; Isaeva, V.: Antikovedy Rossii, in: Ders. (Hg.): Istorija evrpopejskoj civilizacii v russkoj nauke. Antičnoe nasledie, Moskau 1991, 23–37; Buzeskul 2013, Bd. 2.

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Die historisch-philologische Richtung war durch den Begründer der russischen ephigraphischen Schule Fёdor Sokolov (1841–1909) und seine zahlreichen Schüler vertreten. 76 Sokolov als erster führte das epigraphische Material in den wissenschaftlichen sowie universitären Gebrauch in Russland ein. 77 Seine Untersuchungen baute der Wissenschaftler auf einer detaillierten Rekonstruktion der historischen Fakten auf, wofür er den Ruf eines Faktenverehrers verdient hatte. Auf Sokolovs Vorschlag begann sein Schüler Vasilij Latyšev (1855–1921) unter der Ägide der Russischen Archäologischen Gesellschaft die Herausgabe der antiken Inschriften des nördlichen Schwarzmeergebiets „Inscriptiones antique orae septentrionalis Ponti Euxini“. 78 Die historisch-philologische Studien standen im Mittelpunkt der russischen altertumswissenschaftlichen Forschung in dieser Zeit. Dennoch konnten sich auch weitere Zweige der russischen Althistorie behaupten. Faddej Zelinskij (1859–1944) verkörperte die kulturell-historische Richtung an der Petersburger Universität. Die herausragende Persönlichkeit des Gelehrten übte einen großen Einfluss auf viele Historiker innerhalb sowie außerhalb der russischen Grenzen aus. Zu diesen gehörte auch Michail Rostovtzeff, der ihm 1914 einen Aufsatz widmete. 79 Der Autor nannte die wichtigsten Aspekte der wissenschaftlichen Tätigkeit Zelinskij, die ihn „zu einem der hervorragenden Zeitgenossen“ 80 von Rostovtzeff gemacht hätten. Die bemerkenswerte Beherrschung der alten Sprachen hätte Zelinskij nicht nur das Verstehen der antiken Klassik erlaubt, sondern auch „das Gefühl für die perfekte Form [und] den musikalischen Rhythmus der antiken Literatur“ 81 in ihm entwickelt. Dies seien Gründe, warum er zum Schöpfer eines absolut neuen Forschungsbereichs, nämlich der Untersuchungen des Rhythmus in Reden, die in Prosa verfasst waren, geworden ist. 82

76 Vgl. Anm. 128. Zu Sokolovs Schülern zählten V. Ernštedt (1854–1902) als bekannter russischer Spezialist für griechische Paläographie, V. Latyšev (1867–1941) als Herausgeber der griechischen und römischen Inschriften des Schwarzmeerraumes, A. Nikitskij (1859–1921) als Forscher der Inschriften Mittelgriechenlands, N. Novosadskij (1859–1941) als Spezialist für griechische Religion sowie S. Žebelev (1867–1941), dessen Interessenbereich sich von der politischen Geschichte Griechenlands in der hellenistischen Zeit über die Übersetzungen der antiken Autoren bis hin zur Geschichte der antiken Kultur und des Alltagslebens erstreckte. Ausführlicher siehe dazu Frolov 2006, 205–293. 77 Vgl. Sokolov, F.: Afinskoe postanovlenie v čestʼAristomacha Argosskogo [Athener Beschluss zu Ehren des Aristomachos von Argos], in: ŽMNP 11 (1879), 369–417; Zamečanija o spiskach dani sojuznikov afinskich [Anmerkungen zu Tributlisten der Athener Verbündeten], in: Trudy II. Archeologičeskogo sʼʼezda 1876; Tretʼe stoletie do R. Chr. [Das dritte Jahrhundert vor Chr.], in: ŽMNP 7 (1886), 29–45. 78 Vgl. Latyshev, V. (Hg.): Inscriptiones antique orae septentrionalis Ponti Euxini. Graecae et Latinae. Vol. I–IV, Petropoli 1885–1901. 79 Vgl. Rostovtzeff, M.: Faddej Francevič Zelinskij (K tridcatiletiju ego akademičeskoj dejatelnosti) [Zu seiner 30-jährigen akademischen Tätigkeit], in: Reč vom 24.1.1914, 3; auch in: Germes 3 (1914), 81–83. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Vgl. ebd.; Zielinski, Th.: Der constructive Rhythmus in Ciceroʼs Reden: Der oratorischen Rhytmik zweiter Teil, Berlin 1914.

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Als Verfechter der klassischen Bildung habe Zelinskij versucht, diese mittels der Übersetzungen antiker Autoren ins Russische zu verbreiten. 83 Michail Rostovtzeff faszinierte jedoch vor allem Zelinskijs Konstruktion der antiken Ideenwelt. „Die Ideen sind für ihn [Zelinskij] lebendig“ 84, schrieb Rostovtzeff. Um diese zu verstehen, empfahl er Zelinskijs Buch „Cicero im Wandel der Jahrhunderte“ zu lesen. 85 Diese und andere Arbeiten des Kulturhistorikers hätten gezeigt, „für ihn [Zelinskij] und vielleicht auch für uns gibt es keine Unterbrechung zwischen der Antike und der Gegenwart, es gibt eine durchgehende, ununterbrochene Entwicklung“. 86 Zelinskij seinerseits widmete im gleichen Jahr seine Sophokles-Übersetzungen „verdientermaßen“ 87 seinem „besten Schüler“ 88 M. Rostovtzeff. Unterdessen gehörte Rostovtzeff zwar zu den Schülern des Kulturhistorikers, er bekannte sich jedoch nicht zu Zelinskijs engerem Kreis. Als „Faktenverehrer“ folgte Rostovtzeff nie blind der Methodologie der oben genannten Gruppe von F. Sokolov. Vielmehr vereinigte der Althistoriker in seinen Arbeiten verschiedene Richtungen der russischen Altertumswissenschaft, wie dies zutreffend Alexander Gavrilov ausdrückte: „[…] Sich stets an die Quellen haltend scheute er [Rostovtzeff] sich nicht, zu verallgemeinern, Neues zu entdecken und an das großartige Potential des wissenschaftlichen Denkens zu glauben“. 89 Der junge Rostovtzeff verkörperte eine der zwei an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aktuellen Richtungen der einheimischen Althistorie. Die Entfaltung der sozialund wirtschaftshistorischen sowie sozial-politischen Zweige der russischen Altertumswissenschaften geschah vor dem Hintergrund des sozialen Wandels, der die europäischen Länder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfasste. Dies äußerte sich sowohl in der Industrialisierung und Urbanisierung, als auch in der Entstehung neuer Parteien und Presseorgane. Neben den vom marxistischen Denken geprägten sozialistischen Bewegungen rückte der veränderte Alltag selbst neue Fragestellungen in das Zentrum der Geschichtswissenschaft. 90 Die Neuerungen im sozialen und wirtschaftlichen Leben Russlands eröffneten neue Forschungsperspektiven für russische Wissenschaftler. So untersuchte Vladislav Buzeskul (1858–1931) 91, die Schlüsselfigur der sozial-politischen Richtung der russischen Altertumswissenschaften, die Entstehung und Entwicklung der athenischen Demokratie im sozialen Kontext. In seinen Aufsätzen, wie „Frauenfrage im antiken Griechenland“, 83 Vgl. u. a. Zelinskij, F. (Hg.): Sofokl. Dramy. Perevod i vstuplenie [Sophokles. Dramen. Übersetzung und Einleitung], 3 Bde., Moskau 1914–1915. 84 Rostovtzeff 1914. 85 Vgl. Zielinski, Th.: Cicero im Wandel der Jahrhunderte, Leipzig 1897. 86 Rostovtzeff 1914. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Gavrilov, A.: Thaddäus Zelinski im Kontext der russischen Kultur, in: Axer/Gavrilov/Albrecht 2012, 37. 90 Vgl. Iggers, G./Wang, E ./Mukherjee, S. (Hg.): Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiographie von 1720 bis heute, Göttingen, 2013, 149–262. 91 Vgl. Kareev, N.: Buzeskul, Vladislav Petrovič, in: ĖSBE 82/2 (1904/07), 328f; Frolov 2006, 356–374.

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„Debatte über die Todesstrafe vor 2.300 Jahren“ oder „Schulbetrieb bei alten Griechen anhand neuer Quellen“, behandelte er die für seine Zeit aktuellen Fragen. 92 Die sozial- und wirtschaftshistorischen Forschungen waren an der Jahrhundertwende in Russland außerordentlich aktuell und spiegelten die neuste Entwicklung der internationalen Althistorie wider. In Petersburger Universität setzten sich Ivan Grevs (1860–1941) und Michail Rostovtzeff mit dieser Thematik auseinander. Die beiden Wissenschaftler wurden oft miteinander verglichen. 93 Die Ähnlichkeit der wissenschaftlichen Interessen und der Karrieren sowie die Zugehörigkeit der beiden zum russischen Bildungsbürgertum hoben die Unterschiede zwischen dem ruhigen Grevs und dem leidenschaftlichen Rostovtzeff noch deutlicher hervor. Als Michail Rostovtzeff 1890 sein Studium an der hauptstädtischen Universität fortsetzte, begann Grevs seine Lehrtätigkeit als Privatdozent an derselben Hochschule und seit 1892 in den Bestužev Kursen. Während seiner Auslandsreisen in den 1890er Jahren kam Ivan Grevs der französischen Schule nahe. In seinen Arbeiten betonte er unter dem Einfluss von Fustel de Coulanges und seinen Schülern den evolutionären Übergang von der Antike zum Mittelalter. Gewiss waren die beiden Vertreter der sozial- und wirtschaftshistorischen Richtung innerhalb der russischen Althistorie in die bekannte Diskussion bezüglich der Einordnung der antiken Wirtschaft innerhalb der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte involviert. Im Jahr 1895 kritisierte Eduard Meyer in seinem Vortrag „Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums“ die Definition antiker Wirtschaft als eine Hauswirtschaft in Arbeiten von K. Rodbertus (1805–1930) und K. Bücher (1847–1930) und betonte dabei die modernen Züge der Wirtschaft der Antike. 94 Dieser Streit spiegelte sich auch in den historischen Untersuchungen von Grevs und Rostovtzeff wider. Rostovtzeffs Spezialisierung auf die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Antike entwickelte sich während seiner Auslandsreisen in den 1890er Jahren und wurde zuerst in seiner Magisterdissertation „Geschichte der Staatspacht in der Römischen Kaiserzeit (von

92 Vgl. Buzeskul, V.: Afinskaja politija Aristotelja kak istočnik dlja istorii gosudarstvennogo stroja Afin do konca V veka [Aristotels Athenanion politeia als Quelle für die Geschichte Athens Staatsordnung bis zum Ende des 5. Jh.], Charkow 1895; Ženskij vopros v drevnej Grecii [Frauenfrage im antiken Griechenland], in: Letkova, E. (Hg.): K svetu, St. Petersburg 1904, 1–29; Prenija o smertnoj kazni nazad tomu 2300 sliškom let [Debatte über die Todesstrafe vor 2.300 Jahren], in: Moskovskij ežegodnik 13 (1907), 36–39; Školʼnoe delo u drevnich grekov po novym dannym [Schulbetrieb bei alten Griechen anhand neuer Quellen], in: Vestnik Evropy 4 (1911), 88–111. V. Buzeskul wurde außerdem mit seinen Untersuchungen zur Wissenschaftsgeschichte bekannt. Vgl. Ders.: Istoričeskie ėtjudy [Historische Etüden], St. Petersburg 1911. 93 Vgl. Zelinskij, F.: Iz ėkonomičeskoj žizni drevnego Rima (po povodu knig I.M. Grevsa i M.I. Rostovceva „Istorija gosudarstvennogo otkupa v Rimskoj imperii“) [Aus dem Wirtschaftsleben des antiken Roms (Anlässlich der Bücher von I.M. Grevs und M.I. Rostovtzeff „Geschichte der Staatspacht in der römischen Kaiserzeit“)], in: Vestnik Evropy 8 (1900), 586–624. 94 Vgl. Schneider 1990, Ders. 1999.

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Augustus bis Diokletian)“ 95 von 1899 deutlich. Gleichzeitig erschien Grevs Magisterarbeit „Grundrisse der Geschichte des römischen Grundbesitzes, hauptsächlich in der Zeit des Imperiums“, in der der Autor „die Theorie Rodbertus-Bücher als Mittel zur Erkenntnis der Wirtschaftsordnung des klassischen Altertums“  96 benutzt hatte. Mit einigen Vorbehalten stellte sich Grevs an die Seite der Vertreter der Oikoswirtschaft-Theorie.  971900 veröffentlichte Rostovtzeff eine Rezension zur Arbeit seines Kollegen, in der er sowohl Grevs als auch Bücher die Ablehnung des gesamthistorischen Zugangs unterstellte: „[…] Der Meinung von Bücher und Grevs nach ist das Imperium der Höchstpunkt der staatlichen und demzufolge wirtschaftlichen Entwicklung der Antike. Deshalb wenn im Grunde des Wirtschaftslebens dieser Epoche die Hauswirtschaft liegt ‒ und diesem muss man zustimmen ‒, dann ist das auch die Grundlage des wirtschaftlichen Alltags des gesamten Altertums […] Unterdessen ist diese Meinung absolut falsch: In staatlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnissen erzeugte das Altertum schon früher, in der Epoche des Hellenismus, die höchstentwickelten Formen, was durch die gewaltige Entwicklung griechischer Staaten in Griechenland selbst und in den Kolonien vorbereitet worden war.“ 98 Noch deutlicher äußerte sich Rostovtzeff in einem Aufsatz, der für ein breiteres Publikum bestimmt war. 99 Mit seiner Schrift unter dem vielsagenden Titel „Kapitalismus und Volkswirtschaft in der alten Welt“ (1900) wollte Rostovtzeff „zeigen, inwieweit es nutzlos ist, sich zu bemühen, das ganze antike Leben mit einem Schema“ 100 zu erklären. In der Einleitung geht er auf die berühmte Kontroverse der deutschen Wissenschaftler ein und stellt sich an die Seite von Ed. Meyer und seiner modernisiereden Sicht der antiken Wirtschaft: 95 Rostovtzeff, M.: Istorija gisudarstvennogo otkupa v Rimskoj Imperii (ot Avgusta do Diokletiana) [Geschichte der Staatspacht in der Römischen Kaiserzeit (von Augustus bis Diokletian)], St. Petersburg 1899. 96 Grevs, I.: Očerki iz istorii rimskogo zemlevladenija (preimuščestvenno vo vrenja imperii) [Grundrisse der Geschichte des römischen Grundbesitzes, hauptsächlich in der Zeit des Imperiums], St. Peterburg 1899. 97 Vgl. auch Grevs, I.: Rimskoe zemlevladenie v moment utverždenija Imperii po sočinenijym Goracija [Römischer Grundbesitz zur Zeit der Bestätigung des Imperiums anhand Horaz Werke], in: ŽMNP 1 (1895), 89–187; T. Pomponij Attik (drug Cicerona) kak predstavitelʼ osobogo tipa zemelʼnych magnatov v perechodnuju ėpochu ot Respubliki k Imperii [T. Pomponius Atticus (Ciceros Freund) als Vertreter des besonderen Typusʼ der Landmagnaten in der Übergangsepoche von der Republik zum Imperium], in: ŽMNP 2 (1896), 1–66, 76–140, 297–340; Bolʼšoe selʼskoe pomestʼe v drevnej Italii i krupnoe zenmlevladenie v rimskom mire k koncu I veka Imperii [Großes Landgut im antiken Italien und großer Landbesitz in der römischen Welt Ende des 1. Jahrhunderts], in: ŽMNP 2 (1897), 1–55, 277–324. 98 Rostovtzeff, M.: Rezension zum I. Grevs Buch „Očerki iz istorii rimskogo zemlevladenija (preimuščestvenno vo vrenja imperii)“ St. Peterburg 1899, in: Mir Božij 4 (1900), 98f. 99 Vgl. Rostovtzeff, M.: Kapitalizm i narodnoe chozjajstvo v drevnem mire [Kapitalismus und Volkswirtschaft in der alten Welt], in: Russkaja myslʼ 3 (1900), 195–217. 100 Ebd., 197.

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„Ich muss protestieren, der Mehrheit der Historiker folgend, […] hauptsächlich gegen die Zuordnung des gesamten Altertums in die Kategorie der Hauswirtschaft. […] Diese Meinung wurde noch vor kurzem von einem angesehenen und, was noch wichtiger ist, von einem sich in Untersuchungen zu einzelnen Epochen des Wirtschaftslebens der antiken Welt gut bewährten [Wissenschaftler] ausgesprochen. Diese Meinung rief einen lebendigen und verdienten Widerstand der Historiker […].“ 101 Somit war um die Jahrhundertwende nicht nur Rostovtzeffs wissenschaftlicher Schwerpunkt festgelegt, sondern der junge Historiker zeigte auch bereits seine feste Position in Bezug auf Streitfragen innerhalb der internationalen Althistorie. Es bedurfte jedoch einiger Jahre, bis der junge Rostovtzeff zu diesem Ergebnis kam. Der künftige Vertreter der sozio-ökonomischen Richtung der Altertumsforschung setzte sich in seiner Studienzeit eng mit kunstgeschichtlichen Fragen auseinander, weil er einerseits unter dem Einfluss des Kunsthistorikers Kondakov stand und die Anwendung der kunstwissenschaftlichen Methoden zur Untersuchung des archäologischen Materials Ende des 19. Jahrhunderts in Russland andererseits weit verbreitet war. Dem Studenten Rostovtzeff, der sich auf die Geschichte Roms spezialisierte, schlug Kondakov die dekorative Malerei der Pompeji als Forschungthema vor. 1892 bekam Rostovtzeff für seinen Aufsatz „Korrigieren und Ergänzen der städtischen pompejanischen Chronik von Nissen durch die neuesten Untersuchungen und Ausgrabungen“ eine Goldene Medaille des Professorenrats der Petersburger Universität verliehen. 102 Der Tradition zufolge waren die von der Fakultät vorgeschlagenen und ausgezeichneten Aufsätze als Abschlussarbeiten anerkannt. Dies geschah auch mit Rostovtzeffs Aufsatz über die antike Stadt. Pompeji, die Rostovtzeffs Lieblingsdenkmal wurde, eröffnete die lange Liste seiner Auslandseisen.

2.3 Erste Begegnungen mit internationalen Gelehrten Die Bildung bzw. Weiterbildung der russischen Gelehrten im Ausland hatte eine lange Tradition. Da die Universitäten Westeuropas als Vorbild für russische Hochschuleinrichtungen dienten, standen Auslandsaufenthalte der Russen zur Heranbildung eines einheimischen Lehrkörpers bereits seit dem 18. Jahrhundert auf dem Programm der zaristischen Bildungspolitik, und seit den 1860er Jahren war die Ausbildung in westeuropäischen Ländern unter den russischen Nachwuchswissenschaftlern weithin verbreitet. 103 Es soll 101 Ebd. 102 Vgl. Anm. 137. 103 Die Auswahl der Kandidaten zur Vorbereitung auf eine Professur im Ausland lag in den Händen des russischen Bildungsministers. Hierfür schlugen die Universitäten ihre Nachwuchswissenschaftler mit ihren Forschungsthemen und der voraussichtlichen Praktikumsdauer vor. Die ausge-

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mehr als die Hälfte der russischen Professoren im 19. Jahrhundert Auslandserfahrung besessen haben. Solche Aufenthalte übten Einfluss auf die wissenschaftliche Tätigkeit, das Selbstverständnis sowie das politische Engagement der russischen Wissenschaftler aus.  104 Für die Karriere waren vor allem die im Ausland geknüpften wissenschaftlichen Kontakte und die dadurch eröffneten Publikationsmöglichkeiten in internationalen Fachzeitschriften von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Im Austausch mit westeuropäischen Gelehrten wurden daüber hinaus bestimmte Normen und Werte vermittelt, was wiederum zur kritischen Hinterfragung der gesellschaftspolitischen Situation im eigenen Land führen sollte. Inwieweit dies Rostovtzeff betraf, wird im folgenden Abschnitt untersucht. Immerhin wird für die 14 Vorkriegsjahre auf zehn Dienstreisen des Althistorikers ins Ausland hingewiesen. 105

2.3.1 Die erste Auslandsreise 1893 Rostovtzeffs erste Auslandsreise und auch seine ersten persönlichen Begegnungen mit westeuropäischen Wissenschaftlern gehen auf das Jahr 1893 zurück. Diese Tatsache wird in zahlreichen biographischen Schriften über den russischen Historiker entweder gar nicht oder nur am Rande erwähnt. Dabei spielte diese erste Reise eine prägende Rolle für die weitere Entwicklung des Althistorikers. Das Reiseziel wurde durch das Thema seines erfolgreichen Aufsatzes bestimmt. 106 Nach dem Bestehen der Staatsexamina wartete er auf die Entscheidung des Professorenrates bezüglich des von ihm gewünschten Stipendiums für die Reise nach Italien. Eine Studienbeihilfe bekam Michail Rostovtzeff jedoch nicht. Die Situation war für den 23-jährigen nicht einfach, da sich Reisen ins Ausland ausschließlich wohlhabende Menschen leisten konnten. Den Wunsch, die Welt des Mittelmeeres zu sehen, konnte sich Rostovtzeff mit der finanziellen Unterstützung seiner Eltern sowie den persönlichen Ersparnissen schließlich erfüllen. 107 Für die Reise von 1893 ist Rostovtzeffs Notizbuch erhalten. 108 Die erste Reisestation des jüngen Althistorikers in Italien war Rom, das im Rostovtzeffs Reisebuch durch kurze Notizen, Vermessungen, Schemata und Zeichnungen präsentiert ist. Bildliche Darstellungen wurden zum Bestandteil seiner wissenschaftlichen Korrespondenz; die für

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wählten Stipendiaten sollten neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit regelmäßig über die Organisation des ausländischen Wissenschaftsbetriebes berichten. Vgl. Soboleva 1983, 218–241. Vgl. Maurer 2004, 66. Vgl. ebd., 67. Vgl. Anm. 548. Vom Herbst 1892 bis zum Frühjahr 1893 unterrichtete Rostovtzeff Latein und Altgriechisch am Nikolaus-Gymnasium in Zarskoje Selo. Vgl. Rostovtzeff Michail Ivanovič, in: ĖSBE 53 (1899), 132; Fears 1990, 406; Bongard-Levin 1997, 54f; Heinen 2006, 172; Schneider 2012, 1083. Vgl. Rostovtzeffs Notizbuch von 1893, in: RGIA 1041/1/86. Es sind außerdem die Notizbücher aus seinen Reisen zwischen 1890 und ca.1912 erhalten. Vgl. ebd.1041/1/85-116.

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Rostovtzeff typische Verbindung der Archäologie mit der Geschichte tritt bereits in diesen ersten Reisenotizen deutlich hervor. Dennoch stand Pompeji im Zentrum von Rostovtzeffs erster Reise. In Pompeji lernte der junge Wissenschaftler den deutschen klassischen Archäologen August Mau (1840– 1909) 109 kennen. Unter seiner Führung entdeckte der russische Wissenschaftler erneut die Geschichte der unter der Asche des Vesuvs begrabenen Stadt. Die Erinnerungen an Mau und seine Lektüre beschrieb Rostovtzeff detailliert in einer Würdigung des 1909 verstorbenen Pompeji-Forschers. 110 Das war einer der insgesamt neun gefundenen Nachrufe, die Michail Rostovtzeff über seine Kollegen und Freunden bis 1918 verfasst hatte. 111 Davon sind drei Nekrologe den westeuropäischen Wissenschaftlern gewidmet: Theodor Mommsen (1904), August Mau (1909) und Maxime Collignon (1917). Während Rostovtzeff seine Nachrufe für den französischen Historiker anhand von Collignons Arbeiten und für Theodor Mommsen zudem auf der Grundlage der „Gespräche mit seinen [Mommsens] Freunden und Schülern“ 112 schrieb, war der Nekrolog für August Mau das Ergebnis persönlicher Begegnungen mit dem deutschen Gelehrten. „Jeder, der sich irgendwann für Pompeji interessierte, kennt A. Mau, den Autor der besten Arbeiten über Pompeji“ 113, fing Michail Rostovtzeff seine Schrift an. Nachdem er die Beweggründe Maus für das Leben und die Arbeit in Italien, das zu seiner „zweiten Heimat geworden ist“ 114, erläutert hatte, schrieb er über die „bescheidene Stellung 115“ von August Mau bei dem Deutschen Archäologischen Institut in Rom und die ihm von dieser Institution anvertrauten Aufgaben. Neben Berichten über die Ausgrabungen sollte Mau vor allem einen systematischen Katalog der Bibliothek zusammenstellen. Dieser Katalog konnte zwar nicht vollendet werden, wird aber als die „große Hilfe für jeden, der sich mit der klassischen Archäologie beschäftigt“ 116 charakterisiert. 109 Vgl. Dickmann, J.-A.: Mau, August, in: DNP Suppl. 6 (2012), 800f. 110 Rostovtzeff, M.: August Mau. Nekrolog (auf Russisch), in: Germes 7 (1909), 280f. auch in: ŽMNP 5 (1909), 30–34. 111 Alle Nachrufe und Festschriften sind auf Russisch geschrieben. Vgl. Rostovtzeff, M.: Zum Andenken an Alexander Nikolaevič Ščukarev. Nekrolog, in: ŽMNP 11 (1900), 46–50; A.F. Ėnman, in: ŽMNP 11 (1903), 84–87; Theodor Mommsen (1817-1913), in: Mir Božij 2 (1904), 1–12; V.I. Modestov. Nekrolog, in: ŽMNP 7 (1907), 75–82; Faddej Francevič Zelinskij, in: NĖS 18 (1914), 900–902, auch in: Germes 3 (1904), 81–83 und in Rečʼ vom 24.1.1914, 3; Zum Andenken an P.V. Nikitin. Seine Ansichten über die Wissenschaft und die klassische Bildung, in: Soobščenija zasedanija Otdelenija Imperatorskogo Russkogo Archeologičeskogo obščestva, Petrograd 1916, 6–19 sowie in: Germes 17 (1916), 408–410/18 (1916), 421–425/19 (1916), 436–445 und in: Rečʼ vom 7.5.1916, 3; Maxime Collignon. Nekrolog, in: Bulletin de lʼAcademie des Science de Russie 29.11.1917, 1503–1506; Nikodim Pavlovič Kondakov. Zum 50-jährigen Jubiläum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, in: Rečʼ vom 11.10.1916, 2 und in: Naučnoe slovo vom 11.10.1916, 3. 112 Rostovtzeff 1904, 3. 113 Rostovtzeff 1909, 279. 114 Ebd. 115 Ebd. 116 Ebd., 280.

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Rostovtzeff vor dem Ersten Weltkrieg

Interessant ist die Beschreibung der Lehrtätigkeit von August Mau, die Rostovtzeff während seiner ersten Auslandsreise persönlich beobachtete. Im Winter hätte August Mau in Rom und im Sommer in Pompeji gelebt, wo er nicht nur seine wissenschaftlichen Untersuchungen betrieb, sondern auch jährlich Vorlesungen für „angereiste deutsche und österreichische Lehrer sowie junge Wissenschaftler aller Nationen“ 117 gehalten hätte: „Die Bedeutung dieser Vorlesungen für die archäologische Entwicklung junger Wissenschaftler kann nur derjenige erkennen, der selbst an ihnen teilnahm, wie der Autor dieser Zeilen. Die Kraft Maus lag nicht etwa in seiner Beredsamkeit oder in bildhaften und lebendigen Darstellungen, sondern in einer bewundernswerten Analyse von Pompeji: ihrer Topographie, ihrer Architektur und Inschriften unterschiedlicher Art usw. Aus dieser Analyse ging Pompeji lebendig hervor, und zwar nicht als irgendeine Fantasie, sondern als eine lebendige Realität, als eine echte auferweckte Vergangenheit.“ 118 Diese Beschreibung wurde im Text von einem seltenen Foto aus dem Jahr 1893 begleitet (Abb. 2). Dies ist das älteste der bekannten Bilder des russischen Historikers. Das Foto hat die Unterschrift „Die Teilnehmer der archäologischen Exkursion mit dem Professor August Mau im Jahr 1893“. 119 Die Gruppe der Historiker aus den USA, England, Deutschland, Österreich und Skandinavien war auf den pompejanischen Ruinen fotografiert. Der Autor des Aufsatzes nannte einzelne Persönlichkeiten auf der Abbildung, darunter den Kunsthistoriker Amelung, den Professor Münster aus Baden, den Würzburger Professor Bulle und andere. Somit kamen die ersten persönlichen Kontakte Michail Rostovtzeffs mit internationalen Gelehrten in der Reise von 1893 zustande. Im zweiten Teil des Nekrologes stellte Rostovtzeff kurz die Schriften von August Mau vor. Die „Pompeianischen Beiträgen“ bezeichnet Rostovtzeff als eine „ausgezeichnete Ergänzung“ zum „genialen“ 120 Buch von Nissen und hebt Maus strenge Quellengrundlage und Analyse hervor. Die „Geschichte der dekorativen Wandmalerei“ hat die Entwicklung der dekorativen Malerei Pompeji dargestellt, auf deren Grundlage auch die Evolution der Malerei im Hellenismus und in Griechenland verständlicher werden sollte. 121 Das dritte Buch des deutschen Gelehrten „Pompeji in Leben und Kunst“ als „kurze und präzise Zusammenfassung aller Arbeiten Maus“ beleuchte „alles Notwendige“ 122 in Pompeji und

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.; vgl. Mau, A.: Pompeianische Beiträge, Berlin 1879; Nissen, H.: Pompeianische Studien zur Städtekunde des Altertums, Leipzig 1877. 121 Ebd.; vgl. Mau, A.: Geschichte der decorativen Wandmalerei, Berlin 1882; Rostovtzeff war vor allem vom Bildatlas Maus zur „Geschichte der dekorativen Wandmalerei“ fasziniert. Bemerkenswert ist, dass 1914 ein Bildatlas zum Buch „Geschichte der dekorativen Malerei im Süden Russlands“ diesmal von Rostovtzeff selbst herausgegeben worden war. 122 Ebd.

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Abb. 2: Teilnehmer der archäologischen Exkursion 1893 mit A. Mau (in der Mitte) und Rostovtzeff (links in weißem Jackett mit dem Hut)

sollte „für lange Zeit zum Handbuch nicht nur aller Wissenschaftler, sondern auch aller, die sich für das Altertum interessieren“ 123, werden. In seinem Schlusswort machte Rostovtzeff einen Vorschlag, der vier Jahre später erfüllt wurde: „Sein ganzes Leben widmete Mau Pompeji, wo er jede Ecke besser kannte als bei sich zu Hause; er war in Pompeji ein echter Herr, ein echter genius loci und es soll eine Büste oder eine Statue für ihn in Pompeji, auf einem angesehenen Platz, aufgestellt werden, wie dies die Hausgemeinschaft fast jedes pompejanischen Hauses machte. Augusto (nostro) soll die Schrift auf dem Postament dieser Statue oder Büste lauten.“ 124

123 Ebd.; vgl. Mau, A.: Pompeji in Leben und Kunst, Leipzig 1900. 124 Ebd., 280. Rostovtzeff war einer der Initiatoren der Spendensammlung für ein Denkmal für August Mau, das 1913 auf Maus Grab in Rom eingeweiht wurde. Der Aufruf in deutscher Sprache ist abgedruckt in: Bongard-Levin 1997, 248f.

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Rostovtzeff vor dem Ersten Weltkrieg

Im Herbst 1893 kehrte Rostovtzeff von seiner Italienreise nach Russland zurück. 1894 erschien sein erster wissenschaftlicher Aufsatz, in dem er die Ergebnisse seiner ersten Reise präsentierte. 125 Im gleichen Jahr absolvierte Rostovtzeff die Magisterprüfungen und begann mit dem Schreiben seiner Magisterarbeit. Die materielle Situation des jungen Wissenschaftlers verbesserte sich, da die historisch-philologische Fakultät ihn mit einem Stipendium ab dem 1. Januar 1894 zu fördern begann. Vor diesem Hintergrund bewarb sich Rostovtzeff für einen einjährigen Auslandsaufenthalt, um notwenige Recherchen für die Magisterarbeit durchzuführen. Der offizielle Betreuer der zweiten Reise Michail Rostovtzeffs war F. Zelinskij, der das Reiseprogramm mitgestaltete. Am 15. März 1895 ging Rostovtzeff auf seine zweite wissenschaftliche Reise, die schlließlich dreieinhalb Jahre dauern sollte. 126

2.3.2 Die zweite Auslandsreise 1895–1898 Im Vorfeld dieser Reise wendete sich Rostovtzeff an Christian Hülsen 127, den er bereits 1893 kennengelernt hatte: „Hochgeehrter Herr Doctor! Indem ich Ihre liebenswürdige Erlaubnis benutze mich in Auskunft an Sie zu wenden, bitte ich Sie um Antwort auf folgende Frage: wo kann ich finden, wie Ausgrabungen in Italien geleitet werden; wer steht an der Spitze der Arbeiten, welche Summen werden zu diesem Zwecke verwendet und ähnl(ich)? Das Buch Fiorellis, Dellʼammnistrazione archeologica 128 (wenn ich nur richtig den Titel ausschreibe) habe ich weder in Russland noch in Deutschland auftreiben können. Das Werk brauche ich aber um dem russischen philologischen publicum eine Uebersicht der Ausgrabungen in Italien für die letzten Decennien zu geben.

125 Vgl. Rostovtzeff, M.: O novejšich raskopkach v Pompejach [Über die neuesten Ausgrabungen in Pompeji], in: ŽMNP 5 (1894), 45–101 bzw. St. Petersburg 1894. Ein Jahr später erschien die Rezension zum Buch: Vgl. Mau, A.: Bibliografia pompeiana: M.I. Rostovtzeff, Gli ultimi scavi di Pompei. S. Pietroburgo, 1894 (Estr. Dal Giorn. Del Ministero della Istr. Pubblica), in: Mitteilungen DAI (R) 10 (1895), 218f. 126 Vgl. Fears 1990, 406f; Bongard-Levin 1997, 55ff; Vernadsky 1998, 361; Heinen 2006, 172; Schneider 2012, 1083f. 127 Christian Hülsen (1858–1935) war von 1887 bis 1909 als Zweite Sekretär des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom tätig. Vgl. Börker, Ch.: Hülsen Christian, in: NDB 9 (1972), 736, unter: http://www.deutsche-biographie.de/sfz34213.html (letzter Abruf am 14.4.2014). 128 Vgl. Fiorelli, G.: Sull’ ordinamento del servizio archeologico. Seconda relazione a S.E. Ministro della Pubblica Istruzione, Roma 1885.

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Erste Begegnungen mit internationalen Gelehrten

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Indem ich Sie für die Freiheit, die ich mir nehme, um Entschuldigung bitte, erlaube ich mir Ihnen die Gefühle vollkommenster Hochachtung auszudrücken. M. Rostovtzeff Meine Adresse: Zarskoe Selo (neben S. Petersburg) Gymnasium.“ 129 Nach den notwendigen Vorbereitungen begann Rostovtzeff im Frühjahr sein Auslandsprogramm auszuführen. Diese Reise des Althistorikers ist durch die Quellen, Rostovtzeffs Reisebericht 130 sowie den Briefwechsel mit Freunden und Kollegen, gut belegt. Außerdem bietet die biographische Notiz Vernadskys nach wie vor einen guten Überblick über die Reise 1895–1898. 131 Nachdem Rostovtzeff die Museen in Konstantinopel erkundet hatte, reiste er nach Athen, um die Topographie dieser Stadt zu untersuchen. Ende Mai–Anfang Juni 1895 nahm Rostovtzeff an der vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI) organisierten Inselreise unter der Führung von Wilhelm Dörpfeld 132 teil. Zusammen mit deutschen Wissenschaftlern bereiste Rostovtzeff u. a. die Inseln Ägina, Paros und Delos, besuchte in Attika Sunion und Oropos sowie Eretria auf Euboia und ferner Assos und Troja in Kleinasien. Als er wieder in Athen ankam, blieb Rostovtzeff dort und hörte die Vorlesungen des Professors Paul Wolters 133 über die antike Skulptur und Vasenmalerei. Im Juli 1895 beschäftigte er sich in der Gesellschaft von Smirnov 134 und Pridik 135 mit den Ausgrabungen auf der Peloponnes, darunter in Korinth, Sparta, Tiryns, Mykene, Olympia, Pylos und Epidauros. 129 Brief M. Rostovtzeffs an Chr. Hülsen vom 14.12.1894, in: Marcone 1988, 342, auch in: Rostovtzeff Project 2000–2002. Letter of M. Rostovtzeff to Christian Hülsen, unter: http://telemaco.unibo. it:591 /michele/lettere/LHuelsen1.html (letzter Abruf am 20.7.2011); Bongard-Levin, G.: Briefwechsel M.I. Rostovtzeffs mit Chr. Hülsen, E. Petersen und R. Delbrueck (auf Russisch), in: VDI 2 (1995), 205. 130 Vgl. Rostovtzeff, M.: Vtoroj otčet o komandirovke magistranta M. Rostovceva [Der zweite Bericht des Magistrats M. Rostovcev], Juni 1895–Januar 1896, Wien 20.1.1896, in: OR RNB 608/1/107, 10 S. 131 Vgl. Heinen 1986, 388ff. 132 Wilhelm Dörpfeld (1853–1940) war ein deutscher Archäologe, der zwischen 1886 und 1912 die Athener Abteilung des DAI leitete. Vgl. Lücken, G. von: Dörpfeld, Friedrich Wilhelm, in: NDB 4 (1959), 35–36, unter: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118672169.html (letzter Abruf am 15.4.2014); Herrmann, K.: Dörpfeld, Wilhelm, in: DNP Suppl. 6 (2012), 321–323. 133 Der deutsche Archäologe Paul Wolters (1858–1936) bekleidete in den Jahren 1887–1900 den Posten des Zweiten Sekretärs des DAI. Vgl. Lullies, R.: Archäologenbildnisse, Mainz 1988, 124f. 134 Jakov Smirnov (1869–1918) war ein russischer Archäologe, Kunsthistoriker und seit 1917 Akademiker der Russischen Akademie der Wissenschaften. Von 1898 bis 1918 arbeitete er als Kustos der Abteilung für Mittelalterliche Geschichte in der Ermitage. Vvedenskij, B.: Smirov, Jakov Ivanovič, in: BSĖ 39 (1956), 402. 135 Der klassische Philologe und Epigraphiker Evgenij Pridik (1865–1935) war zwischen 1904 und 1918 als Kustos der Abteilung für Altertümer in der Ermitage tätig. Vgl. Pavličenko, N.: E.M. Pridik, Peterburgskij filolog i ėpigrafist [Petersburger Philologen und Epigraphiker], in: Drevnij mir i my 2 (2000), 189–206.

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Rostovtzeff vor dem Ersten Weltkrieg

Ab August 1895 setzte Rostovtzeff seine Studien in Italien, u. a. wieder in Pompeji, fort. Dort arbeitete Rostovtzeff eng mit den Mitarbeitern des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom zusammen. Die deutschsprachigen Wissenschaftler empfahlen Rostovtzeff, der sich in dieser Zeit intensiv mit der Untersuchung antiker Ruinen und Inschriften beschäftigte, das epigraphische Seminar unter der Leitung von Eugen Bormann (1842–1917) 136 in Wien. Daraufhin verbrachte Rostovtzeff das Wintersemester 1895/96 an der Wiener Universität und nahm an dem genannten Seminar teil, das „in zwei Abteilungen geteilt [war]: die archäologische unter der Leitung von Prof. Benndorf 137 und die epigraphische unter der Leitung von Prof. Bormann“. 138 Es ist nicht nur eine ausführliche Beschreibung von Lehrmethoden der österreichischen Hochschullehrer erhalten, sondern auch Rostovtzeffs persönliche Bewertung dieser Gelehrten: „[…] Es ist gut, hier zu arbeiten. Dafür sorgt vor allem die Persönlichkeit Bormanns, der als ein idealer Lehrer bezeichnet werden kann. Ich habe noch keinen Menschen gesehen, der so viel Zeit seinen Schülern geschenkt und dabei selber so viel gearbeitet hätte. Ich kann nicht sagen, dass er ein vielseitiger Wissenschaftler wäre, im Bereich der römischen Geschichte und Epigraphik, besonders im praktischen Bereich, ist er jedoch einer der wenigen. Der andere Leiter Benndorf ist viel weniger sympathisch: Er ist ein hervorragender Wissenschaftler, aber ein Karrierist, er benimmt sich arrogant und sieht auf die Umgebung von oben herab; aus diesem Grund gibt es in seinen Seminaren keine Seele, die durch die Liebe und das Interesse des Lehrers einverleibt wird. Von den jungen [Wissenschaftlern] ist Reichel 139 (Homerische Waffen) einer der bedeutendsten, aber er ist zu scharf in seinen Äußerungen, besonders bei wissenschaftlichen Fragen. Andere [junge Wissenschaftler] sind entweder zu jung oder ganz und gar 140 nicht bedeutend.“ 141 In dieser Zeit erschien Rostovtzeffs erster Aufsatz in deutscher Sprache „Eine neue Inschrift aus Halikarnass“ 142, in dem er „dank der Güte der Professoren Szanto 143 und 136 Vgl. Obermayer-Marnach, E. : Bormann, Eugen. In: ÖBL 1815–1950 1 (1957), 102f. 137 Zu Otto Benndorf (1838­–1907) vgl. u. a. Keil, J.: Benndorf, Friedrich August Otto, in: NDB 2 (1955), 50, unter: http://www.deutsche-biographie.de/pnd116121157.html (letzter Abruf am 22.4.2014); Szemethy, H.: Benndorf, Otto, in: DNP Suppl. 6 (2012), 73f. 138 Rostovtzeff 1896, 7. 139 Ernst Wolfgang Reichel (1858–1900) war ein österreichischer Archäologe und Kunsthistoriker. Vgl. Reichel, W.: Über homerische Waffen, Wien 1894; Vetters, H.: Reichel (Ernst) Wolfgang, in: ÖBL 9 (1988), 30. 140 „ganz und gar“ auf Deutsch geschrieben. 141 Brief M. Rostovtzeffs an S. Žebelev vom 17.12.1895 (Wien), in: RAN SPb 729/2/109. 142 Vgl. Rostovtzeff, M.: Eine neue Inschrift aus Halikarnass, in: Archäologisch-epigraphische Mitteilungen aus Österreich-Ungarn 19 (1896), 127–141, unter: http://digi.ub.uni-heidelberg.de /diglit/archepigrmoeu1896 (letzter Abruf am 22.4.2014); Heinen 1986, 388. 143 Der österreichische Althistoriker und Epigraphiker Emil Szanto (1857–1904) war 1893 als außerordentlicher Professor für griechische Geschichte und Altertumskunde an der Universität Wien

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Erste Begegnungen mit internationalen Gelehrten

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Bormann“ 144 die Inschrift über die Errichtung eines Zollgebäudes untersuchen konnte. In einem Brief Rostovtzeff lassen sich die Beweggründe dieser Arbeit vorfinden: „Von Wien will ich mich verabschieden, kann aber nicht: Bis ich den Aufsatz für „Mitteilungen“ 145 fertig habe, reise ich nicht ab. Denn ich habe mich entschieden, diesen Aufsatz zu schreiben, und fühle mich verpflichtet denjenigen, die mich hierher geschickt hatten, meinen Mentoren hier und Bekannten irgendwie zu zeigen, dass ich nicht umsonst ein halbes Jahr in diesem großen Chaos verbracht habe.“ 146 Im Frühjahr 1896 nahm Rostovtzeff an der von Kondakov geführten Expedition nach Spanien teil. Danach hielt sich der Althistoriker in Paris auf, wo er unter anderem in Cabinet des Médailles arbeitete. In dieser Zeit hatte er die französischen Numismatiker Ernest Babelon 147 und Maurice Prou 148 kennengelernt. Zusammen mit Prou begann Rostovtzeff eine Aufsatzserie in „Revue numismatique“ über die römischen Bleitesserae 149, die später zum Objekt seiner Doktorarbeit wurden. 150

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tätig; er untersuchte u. a. Inschriften in Kleinasien. Vgl. Pesditschek, M: Szanto (Szántó), Emil, in: ÖBL 14 (2012), 114. Vgl. ebd.,127. „Mitteilungen“ auf Deutsch geschrieben. Brief M. Rostovtzeffs an S. Žebelev vom 25.3.1896, in: Bongard-Levin 1997, 384. Der Numismatiker und Archäologe Ernest Babelon (1854–1924) hatte von 1892 bis 1924 die Position des Direktors des Cabinet des Médailles inne und 1908 wurde zum Präsidenten der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres ernannt. Vgl. Schubert, H.: Babelon, Ernest, in: DNP Suppl. 6 (2012), 41–42. Zu Maurice Prou (1861–1930) vgl. u. a. Grand, R.: Maurice Prou, in: Revue historique de droit français et étranger 9 (1930), 843–850. Außerhalb dieser Arbeit liegt eine nähere Untersuchung der Beziehungen zwischen Rostovtzeff und der französischen Wissenschaftswelt, u. a. zwischen dem russischen Historiker und Maurice Prou. Die Wissenschaftsbeziehung zwischen den beiden begann während der Arbeit zu römischen Bleitesserae und entwickelte sich zu einer Freundschaft. So wandte sich Rostovtzeff an S. Žebelev im Jahr 1898 mit einer Bitte: „[…] Übrigens, ein Anliegen: Teilen Sie mir bitte ein paar Adressen von guten und nicht teuren möblierten Zimmer in Petersburg mit, mein bekannter Franzose hier [in Paris] wird zum Kongress hinfahren und bat mich, solche [Adressen] zu suchen. […] Ich kann ihm nicht absagen, weil er ein Verwandter meines Freundes Prou ist, und ich würde mit meiner Weigerung den letzten beleidigen. […]“, in: Brief M. Rostovtzeffs an S. Žebelev vom 10.7.1897, in: RAN SPb 729/2/109; abgedruckt in: Bongard-Levin 1997, 391. Es sollten außerdem die Materialien über die Zusammenarbeit von Rostovtzeff und Prou in der Munizipalbibliothek der französischen Stadt Sens aufbewahrt werden, in: vgl. Marcone, A.: Rostovtzeff in Italien (auf Russisch), in: VDI 4 (1994), 185. Vgl. Rostovtzeff, M./Prou, M.: Étude sur les plombs antiques. Catalogue des plombs de lʼantiqué, in: Revue numismatique, Paris 1897, 462–493 (I); 1898, 77–102, 251–286, 457–477 (II); 1899, 22–61, 199–219, 278–337, 417–460 (III); 1900, 52–73, 152–185, 313–354 (IV). Vgl. Bibliographien in Bongard-Levin 1997, 201ff; Welles 1956, 360; Andreau 1988, 649ff; Ders. 1989, 1275f. 1903 verteidigte Rostovtzeff seine Dissertation über die Bleitesserae im antiken Rom. Vgl. Rostovtzeff, M.: Rimskie svincovye tessery [Römische Bleitesserae] (mit 5 Tabellen), St. Petersburg 1903; Ders.: Tesserarum Urbis Romae er Suburbi Plumbearum Syloge, St. Petersburg 1903. In deutscher Sprache erschien diese Arbeit im Jahr 1905.

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Rostovtzeff vor dem Ersten Weltkrieg

Im Frühjahr 1897 unternahm Rostovtzeff eine kurze Reise nach Afrika und England: In Tunis und der Umgebung hielt er sich eineinhalb Monate und in London eineinhalb Wochen auf. 151 Danach kehrte er nach Paris und anschließend nach Rom zurück, der letzten Station seiner zweiten Auslandsreise. Von Paris aus meldete sich der begeisterte Rostovtzeff bei Christian Hülsen erneut: „Paris 1897. 17 Juni Hochgeehrter H. Professor! Eben bin ich von meiner Reise nach Paris gekommen […] Von meiner Reise durch das römische Africa bin ich entzückt. So eine Fülle Materials habe ich trotz grosser Hoffnungen nicht erwartet. Hauptsächlich sind es Ruinen, die auch in anderen Ländern nicht fehlen, aber hier streitet die wunderbare Erhaltung mit dem Interesse der Gebäude an sich. Manches und zwar vieles ist höchst originell und eigentümlich und augenscheinlich von der Verschmelzung rein afrikanischer Motiven mit römischen geprägt. […] Ich bleibe hier [in Paris] sicher anderthalb Monate, wenn nicht mehr, hauptsächlich um meine Plombi fertig zu machen. In London habe ich manche Elfenbein tesserae gesehen aber Murray 152 sagte mir, er hätte Ihnen die unedierten mitgetheilt? Hat er Ihnen auch die in der ägyptischen Abteilung bei Birch 153 befindliche zugeschickt? Sie wäre interessant wegen des Fundortes. Ich konnte Sie nicht aufnehmen, da ich keine Zeit hatte mich eingehend mit den ägyptischen Sachen in London zu beschäftigen. […] Entschuldigen Sie aber, dass ich Ihnen Ihre Zeit raube und seien Sie gewiss, dass ich unmittelbar nach der Ankunft des deutschen Textes die Uebersetzung fertig machen werde. Grüßen Sie bitte prof. Petersen, dr. Amelung und andere die noch in Rom weilen M. Rostowzew.“ 154

151 Vgl. Marcone 1988, 343; Bongard-Levin 1995, 205f. 152 Der australisch-britische klassische Philologe Gilbert Murray (1866–1957) war seit 1905 Regius Professor of Greek in Oxford und außerdem für sein politisches Engagement bekannt. Vgl. Stephan, U.C.A.: Murray, Gilbert, in: DNP Suppl. 6 (2012), 862ff. 153 Samuel Birch (1813–1885) war ein britischer Archäologe und Direktor der orientalischen, mittelalterlichen und britischen Antiquitäten und der ethnograpischen Sammlungen des Britischen Museums in London. Vgl. Hartkopf, W.: Die Berliner Akademie der Wissenschaften: Ihre Mitglieder und Preisträger 1700–1990, Berlin 1992, 31. 154 Brief M. Rostovtzeffs an Ch. Hülsen vom 17.6.1897, in: Rostovtzeff Project 2000–2002, 2.

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Erste Begegnungen mit internationalen Gelehrten

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Dieser Brief ist in vielerei Hinsicht beachtenswert. Zum einen zeigt er, dass Rostovtzeff bereits am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere vielfältige Kontakte mit deutschsprachigen Gelehrten besaß, die er zuerst im Deutschen Archäologischen Institut in Rom kennengelernt hatte. Dazu zählte nicht nur der Adressat, Christian Hülsen, selbst, sondern auch Eugen Petersen 155 und Walther Amelung 156. Zum anderen wird in Rostovtzeffs Schreiben seine Begeisterung für die Archäologie deutlich, die nicht nur für die 1890er Jahre nachweisbar ist, sondern die Arbeiten des russischen Historikers sein Leben lang begleitete. 2.3.2.1 Rostovtzeffs Durchsetzungsvermögen: Ein Beispiel Aufschlussreich ist eine Episode, die zeigt, wie sich Rostovtzeff Ende der 1890er Jahre in die deutschrachige Gemeinschaft der Altertumswissenschaftler zu integrieren suchte. Es handelte sich um die Herausgabe der „Architektonischen Studien“ des russischen Architekten Sergej Ivanov (1822–1877) 157, der sich intensiv mit der antiken Architektur beschäftigt hatte und sein ganzes Vermögen dem DAI in Rom vererbte. 158 Dafür verpflichtete sich das Institut Ivanovs Untersuchungen herauszugeben. Über dies berichtete Rostovtzeff wie folgt:

155 Walther Amelung (1865–1927) war ein deutscher klassischer Archäologe. In der Zeit zwischen 1921 und 1927 war er als Erste Direktor des DAI in Rom tätig. Vgl. Diebner, S.: Amelung, Walther, in: DNP Suppl. 6 (2012), 25f. 156 Der deutsche Archäologe und Philologe Eugen Petersen (1836–1919) wurde im Jahr 1886 zum Ersten Sekretär des DAI in Athen und ein Jahr später zum Ersten Sekretär des DAI in Rom ernannt. Vgl. Blanck, H.: Petersen, Eugen, in: NDB 20 (2001), 254f. 157 Der Architekt Sergej Ivanon war als Sohn des Professors für Malerei in St. Petersburg geboren und besuchte die Petersburger Kunstakademie. Als Stipendiat dieser Akademie unternahm er 1846 eine Reise nach Rom, wo er sich für mittelalterliche und antike Architektur begeistern ließ. Als 1848 auch Rom von der Revolution erfasst wurde, ließ er den Befehl des Zaren Nikolaus I. zum Rückkehr nach Russland unbeachtet und blieb in Rom, um seine Studien fortzusetzen. Er begann u. a. auf eigene Kosten die Untersuchung der Caracalla-Thermen; 1854 wurde er Mitglied des DAI (R). Vgl. Ivanov, S.: Zapiski ob istorii architektury [Notizen über die Architekturgeschichte], Rom 1846; Restavracija Karakallovych banʼ [Die Restauration der Caracalla-Thermen], Rom 1858; Sulla grande scalinata de‘Propilei dell‘Acropoli d‘Atene, in: Annali dell‘instituto di Corrispondenza Archeologica 33 (1861), 275–193. Zu S. Ivanon vgl. ĖSBE 18 (1914), 951; Romanov, N. (Hg.): Vystavka „Termy Antnonina Karakally“ v rekonstrukcii architekrora [Ausstellung „Die Thermen Antoninus Caracalla“ in Rekonstruktion von] S.A. Ivanova (Katalog), Moskau 1938. 158 Das vermachte Kapital betrug 46.000 Rubel, das dem DAI in Rom zu Verfügung gestellt war. Dafür sollten alle architektonischen Arbeiten von S. Ivanov sowie alle Zeichnungen seines Bruders, des berühmten russischen Malers Alexander Ivanov (1806–1858) herausgegeben werden. Die verbleibenden Gelder sollten zwischen der Petersburger Akademie der Wissenschaften (für die Preisstiftung in Naturgeschichte) und des DAI Rom (für die Organisation der archäologischen Arbeiten in Griechenland und Kleinasien) unetereinander aufgeteilt werden. Vgl. Markina, L.: Sergej Ivanov: V teni bolʼšogo brata, in: Tretʼjakovskaja galereja 2 (2007), 47.

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„Das deutsche Institut kommt dieser Bedingung in schneller und vorzüglicher Weise nach, indem es sich der Wichtigkeit der Skizzen A. Iwanoffs für die Geschichte der russischen Malerei und des hohen Interesses der Studien seines Bruders für die Geschichte der antiken Architektur voll bewusst ist.“ 159 Zwischen 1892 und 1898 erschienen insgesamt drei Hefte von Ivanovs Studien: Die zweisprachigen Texte – deutsch und russisch – wurden mit begleitenden Texten eines der Mitglieder des DAI in Rom publiziert. 160 1896 veröffentlichte Rostovtzeff in der „Wochenschrift für klassische Philologie“ seine Rezension zum zweiten Heft der Studien, das „seine [Ivanovs] Arbeiten über römische Architektur und zwar eine Reihe von Rekonstruktionen und Skizzen aus Pompei“  161 enthält. Rostovtzeff schätzte diese Arbeit sehr hoch ein, vor allem Ivanovs Rekonstruktionen des Apollotempels und der Villa des Diomedes in Pompeji, die „mit großem Fleiß und Kunstverständnis ausgeführt“ 162 seien. Die begleitenden Erläuterungen zum Text stammten von August Mau, der „Ungenauigkeiten und Fehler Iwanoffs“ 163 „mit gewohnter Akribie und detaillierter Kenntnis alles dessen, was sich auf Pompei und die römische Architektur bezieht, hingewiesen“ 164 hat. Zum Schluss seiner Rezension musste Rostovtzeff jedoch auf „einen höchst wichtigen Mangel der Publikation“ 165, nämlich auf die russische Übersetzung des ursprünglich auf Deutsch verfassten Textes, hinweisen. An einem Beispiel versuchte Rostovtzeff deutlich zu machen, dass „der Übersetzer von der russischen Sprache keinen blassen Schimmer“ 166 hätte. Dabei wundert sich der Autor der Rezension nicht nur über „die Unverfrorenheit des Übersetzers“ 167, sondern auch über die Herausgeber, die „sich nicht die Mühe genommen haben, irgend einen der vielen in Berlin weilenden russischen Gelehrten zu fragen, ob sich in der Übersetzung nicht Verstöße gegen die russische Sprache fänden“. 168 Die russische Übersetzung der Studien, nach Rostovtzeff, hätte Sergej Ivanov selbst nicht verstehen können. Daher schließt der russische Historiker seine Rezension wie folgt: „Wünschen wir es im Interesse der Sache und des Instituts, daß der Text entweder umgedruckt

159 Rostovtzeff, M.: Architektonsiche Studien von Sergius Andrejewitsch Iwanoff. 2. Lieferung mit Erläuterungen von August Mau. Berlin 1895 (Rezension), in: Wochenschrift für klassische Philolgie 47 (1896), 1289ff, hier 1290. 160 Vgl. Bohn, R.: Architektonische Studien von Sergius Andrejewitsch Iwanoff, Heft I, (hg. vom Kaiserlich Deutschen Archäologischen Institut), Berlin 1892; Mau, A.: Ebd., Heft II, Berlin 1895. 161 Rostovtzeff 1896, 1290. 162 Ebd. 163 Diese „Ungenauigkeiten und Fehler Iwanoffs“ ließ Rostovtzeff „zum Teil durch seinen feinen Schönheitssinn erklären“. Vgl. ebd. 164 Ebd. 165 Ebd., 1291. 166 Ebd. 167 Ebd. 168 Ebd.

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werde oder daß wenigstens in Zukunft solche Übersetzungen nicht mehr die so vorzügliche Publikation entstellen.“ 169 In seinem Nachtrag zu dieser Rezension wiederholte Rostovtzeff ein Jahr später seine Meinung über „die Unbrauchbarkeit der Übersetzung“ 170, schrieb aber gleichzeitig, dass diese Tatsache von dem DAI inzwischen erkannt würde und eine verbesserte Übersetzung nun vorläge. „Man kann der Centraldirektion nur größten Dank aussprechen für ihr pietätvolles Vorgehen bei dieser Gelegenheit“ 171, betonte der Autor. 1898 erschien das dritte und gleichzeitig letzte Heft der „Architektonischen Studien“. 172 S. Ivanovs Untersuchungen zu Caracalla-Thermen wurden von Ch. Hülsen kommentiert. Im Unterschied zu den ersten beiden Heften, wo sich kein Hinweis auf den Übersetzer findet, war der Name des Übersetzers ins Russische in diesem Fall in kursiv auf dem Titelblatt abgedruckt: Michael Rostowzew. 2.3.2.2 Wissenschaftlicher Austausch: Rostovtzeff und DAI Rom Der intensive Austausch zwischen dem jungen russischen Althistoriker und den deutschen Wissenschaftlern fand seinen Ausdruck im Rostovtzeffs ersten politischen Aufsatz „Archäologischer Chauvinismus in Italien“ 173, der 1900 in der russischen Zeitung „Nordkurier“ veröffentlicht wurde. In dieser Schrift übte Rostovtzeff Kritik an der Antikenverwaltung in Italien und nahm Stellung im bekannten Konflikt zwischen dem Archäologen Wofgang Helbig 174 und dem Generaldirektor der Amministrazione delle Antichità e Belle Arti Felice Barnabei. 175 Bereits im ersten Abschnitt kam Rostovtzeffs Empörung über die Situation in Italien auf folgende Weise zum Ausdruck: „Wissenschaft und Politik sind, so scheint es, voneinander unabhängig, es scheint [auch], solche Wissenschaft wie Archäologie entwickelt sich an und für sich, unabhängig von jeglichen politischen Strömungen, Neuerungen und Veränderungen; hier ist es jedoch nicht so, hier spielt die Archäologie, wie auch alles andere, eine die169 Ebd. 170 Rostovtzeff, M.: Iwanoff, Architektonische Studien (Nachtrag zur Rezension), in: Wochenschrift für klassische Philolgie 6 (1897), 150f, hier 151. 171 Ebd. 172 Vgl. Hülsen, Ch.: Architektonische Studien von Sergius Andrejewitsch Iwanoff, Heft III, (hg. vom Kaiserlich Deutschen Archäologischen Institut ), Berlin 1898. 173 Vgl. Rostovtzeff, M: Archeologičeskij ščovinizm v Italii [Archäologischer Chauvinismus in Italien], in: Severnyj kurʼer vom 30.8.1900, 3. 174 Vgl. Lehmann, H.: Wolfgang Helbig (1839–1915). An seinem 150. Geburtstag, in: Römische Mitteilungen 96 (1989), 7–86; Morani-Helbig, L.: Jugend im Abendrot. Römische Erinnerungen, Stuttgart 1953. 175 Vgl. Pellati, F.: Barnabei Felice, in: Dizionario biografico degli italiani 6 (1964), 418f; Zur „Affäre Barnabei“ vgl. ausführlicher Lehmann 1989, 29–34.

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nende Rolle und die Tendenzen in der archäologischen Administration wechseln sich genauso schnell, wie die Ministerien [selbst]. Und man muss sagen, innerhalb der letzten zehn Jahre durchlebten Archäologie und Archäologen, besonderes ausländische, schwere Zeiten in Italien. Nationalismus und Chauvinismus legten ihre bedrückende Hand auch auf diese Wissenschaft auf […].“ 176 Mit einem mehrfachen „es schien“ stellte Rostovtzeff die Reputation der italienischen Archäologie und den „Glanz“ 177 ihrer Errungenschaften in Frage. Zu seinem Hauptkritikpunkt wurden die Hindernisse, welche die verantwortlichen Italiener den Wissenschaftlern aus dem Ausland in den Weg gelegt hätten. Das archäologische Material sei in Museen Roms angesammelt, für die internationalen Gelehrten seien die Türen der römischen Museen jedoch verschlossen. „Dies alles [geschah] dank der Bemühungen des Leiters der einheimischen Antikenverwaltung Barnabei“. 178 Besonders schwer sei „das Joch des Chauvinismusʼ“ 179 geworden, seitdem Baccelli 180 das Ministerium zu leiten begann. Rostovtzeff schrieb diesen Artikel „en pleine connaissance de cause“ 181, da er die Situation in Italien aufgrund eigener Erfahrung kannte. 182 Daraufhin verwies Rostovtzeff auf Wolfgang Helbig, der „dieses [chauvinistischen] Joch nicht aushalten konnte […]“ 183. Helbig, laut Rostovtzeff, hätte versucht, „dem tönernen Koloss einen ersten Schlag“ zu geben: „Dieser Schlag wurde genau gegen das gerichtet, worauf archäologische Günstlinge besonders stolz waren, gegen das Museum italischer (vorrömischer) Altertümer, das eine Zuflucht hinter der porta del Popola in der wunderschönen Villa Guilia gefunden hatte.“ 184 Das Museum hätte über eine vollständige Serie der römischen Altertümer verfügt und in ihren Wänden sollten die Wissenschaftler die neuesten Ausgrabungsmethoden erlernen: „Plötzlich erklärte Helbig, dass das Museum eine Fälschung darstelle, dass die Ausgrabungen der Regierung ein Mythos seien, dass interessierte Antiquare ohne jede Aufsicht hier und dort gegraben hätten; und die genauen Beobachtungen, Bilder und Berichte, die im ehrenhaften Organ der Akademie der obersten Wissenschafts­

176 177 178 179 180 181 182 183 184

Vgl. Rostovtzeff 1900, 3. Ebd. Ebd. Ebd. Guido Baccelli (1830–1916) war von 1879 bis 1900 als Bildungsminister in Italien tätig. Ausführlicher siehe dazu Gorrini, G.: Guido Baccelli. La vita, l‘opera, il pensiero, Turin 1916. Ebd. Wahrscheinlich bezieht Rostovtzeff sich hier auf seine Reise 1895–1898. Ebd. Ebd.

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einrichtung Italiens veröffentlicht wurden, hätten nur in der Einbildung der Autoren existiert.“ 185 Nachdem Rostovtzeff den Inhalt des Konflikts zwischen Helbig und den italienischen Beamten dargestellt hatte, beschrieb er kurz dessen Folgen. Die Anschuldigungen Helbigs sollten „furchtbar viel Aufsehen erregen“ 186 und zur Untersuchung des Falls führen. „Völlig würdelos“ 187 bezeichnete der Althistoriker die Arbeit der dafür einberufenen Kommission, die „aus würdigen und angesehenen Menschen bestand“ 188 und die schließlich eine ausweichende Begutachtung erstellt hätten, in der sogar „ein Schatten auf den Namen des Anklägers geworfen wurde“. 189 „Es schien, als ob der archäologische Chauvinismus diesmal wieder gewonnen hat“ 190, setzte Rostovtzeff fort. 1900 erschien jedoch das Buch von Benedetti 191, der an diesen Ausgrabungen teilgenommen hatte. Dieses Buch sollte die ausschlaggebenden Beweise für Helbigs Aussage liefern, was schließlich zum Sturz von Barnabei sowie Baccelli führte. Hoffnungsvoll resümierte Rostovtzeff diesen Fall: „Lasst uns hoffen, dass jetzt tatsächlich eine neue Ära anbrach und dass der Albdruck für ewig verschwand. Italien ist mit archäologischen Schätzen und begabten Menschen so reich, dass das Material für lange Zeit und für alle ausreichen wird. Besonders erfreulich ist, dass der Chauvinismus einen seiner Leiter genau jetzt verloren hat, als eine Entdeckung in Italien nach der anderen kommt.“ 192 Dieser Aufsatz dient als Beispiel für Rostovtzeffs wissenschaftspolitisches Engagement und unterstreicht zudem die Intensität des wissenschaftlichen Austausches an der Jahrhundertwende. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, sich dem Buch „Führer durch die öffentlichen Sammlungen klassischer Altertümer in Rom“ 193 von Wolfgang Helbig zuzuwenden, das im Zentrum der Ausführungen Rostovtzeffs steht. Im Vorwort zur ersten Auflage von 1891 erklärte Helbig das Fehlen der Beschreibung von Sammlungen des Faliskermuseums in der Villa di Papa Giulo dadurch, dass „die Akademie der Lincei […] eine umfassende Publikation darüber vorbereitet und es nicht wünschenswerth schien derselben vorzugreifen“. 194 Der Autor bedankte sich dabei bei seinen 185 186 187 188 189 190 191

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. gemeint ist das Buch von Fausto Benedetti: Gli Scavi di Narce ed il museo di villa Giulia, London 1900. 192 Ebd. 193 Helbig, W.: Führer durch die öffentlichen Sammlungen klassischer Altertümer in Rom, Leipzig 1891 (2. Aufl. 1899). 194 Helbig 1891, 7.

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„befreundeten Gelehrten“, u. a. bei Felice Barnabei, Christian Huelsen, Emanuel Löwy und August Mau. Acht Jahre später erklärte Helbig im Vorwort zur zweiten Auflage des Buches die Nichterwähnung des Museums in der Villa di Papa Giulio durch „sonderbare Gerüchte“ 195, die im Umlauf seien: „Man erzählt sich aber, dass darin die Gegenstände […] vielfach durcheinander geworfen sind, dass unter dem Inhalte gewisser Gräber die bedeutenderen Stücke fehlen, dass man darin Objekte anderer Provenienz eingeschmuggelt hat und dass in der Publikation der Nekropole von Narce die Pläne der Gräbergruppen wie die auf den Inhalt der einzelnen Gräber bezüglichen Angaben zum Teil gefälscht sind. Bis nicht der Verdacht, der gegenwärtig auf der Faliskersammlung lastet, durch eine scharfe Untersuchungen beseitigt ist, wird die Wissenschaft über diese Sammlung, insoweit sie eine kulturhistorische Quelle darzustellen beansprucht, zur Tagesordnung übergehen.“ 196 Diese Enthüllung führte zum oben beschriebenen Konflikt. Selbstverständlich erwähnte Helbig in seiner Danksagung Barnabei nicht mehr, dafür aber wieder Huelsen und zudem auch Amelung sowie Petersen. Das waren die deutschen Wissenschaftler, die Rostovtzeffs engen Bekanntenkreis an der Jahrhundertwende bildeten. Dies beweist nicht nur der Briefwechsel des russischen Historikers 197, sondern genauso der Aufsatz über die aktuelle Lage in Italien, über die Rostovtzeff dank dem Austausch mit seinen deutschen Kollegen bestens informiert war. 198 1900 erschien die Festschrift „Strena Helbigiana“ zum 60. Geburtstag von Wolfgang Helbig. 199 Unter den Autoren waren neben den bereits erwähnten Mitarbeitern des DAI

195 Helbig 1899, 5. 196 Ebd. 197 Rostovtzeffs Briefwechsel zeigt, dass die Beziehungen zu deutschsprachigen Gelehrten bereits in dieser Zeit über die rein wissenschaftlichen Interessen hinausgingen. Während der Reise 1895– 1898 wurde das Fundament für langjährige Freundschaften gelegt. So schrieb Rostovtzeff seinem Freund S. Žebelev aus Rom Folgendes: „Das Leben hier ist wunderbar, die großartige Gesellschaft der Deutschen […]. Und [meiner] Arbeit stört diese Gesellschaft nicht, weil sie [deutsche Wissenschaftler] selbst sehr gut arbeiten, und die Abende, die man mit ihnen verbringt, sind amüsant […]“. Vgl. Brief M. Rostovtzeffs an S. Žebelev vom 22.8.1895 (auf Russisch), in: Bongard-Levin 1997, 376. Im September des gleichen Jahres setzte Rostovtzeff die Beschreibungen seines Auslandsaufenthalts fort: „[…] In Rom werden kolossale Feiern am 20. September vorbereitet, ich überlege mir jedoch vor diesen Feiern und der Hitze (täglich wesentlich über 30°) in der Gesellschaft von Amelung anderswohin, zum Meer oder in die Berge, zu flüchten. Von der ewigen Gesellschaft der Deutschen vergesse ich, wie man Russisch spricht. […]“. Vgl. Brief M. Rostovtzeffs an S. Žebelev vom 11.9.1895 (auf Russisch), in: Ebd., 378. 198 Zu den Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern des DAI in Rom und dem italienischen Ministerium vgl. Wickert, L.: Beiträge zur Geschichte des Deutschen Archäologischen Instituts 1879 bis 1929, Mainz 1979, 145–156. 199 Vgl. Strena Helbigiana: sexagenario obtulerunt amici a.d. IIII. Non. Febr. A 1899, Leipzig 1900.

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M. Rostovtzeff, aber auch U. von Wilamowitz-Moellendorff und Th. Mommsen. 200 Die letzten beiden veröffentlichten nur ein Jahr später einen Aufsatz unter dem Pseudonym Justus Multanovi, in dem sie Stellung zum Streit zwischen Helbig und dem italienischen Bildungsministerium nahmen. 201 Der Inhalt sowie der Titel des Aufsatzes „Wissenschaftlicher Chauvinismus in Italien“ lassen die Parallele zu Rostovtzeffs Artikel von 1900 erkennen. Es ist nicht auszuschließen, dass Wilamowitz-Moellendorff über die Aktivitäten des russischen Gelehrten in Bezug auf diese Affäre im Bilde war, doch zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich solche Vermutung nicht mehr beweisen. Dennoch ist es denkbar, dass die beiden Wissenschaftler während Rostovtzeffs Aufenthalt im Oktober 1897–Juli 1898 in Rom 202 Gelegenheit hatten, die aktuelle Situation um das Deutsche Archäologische Institut zu besprechen. In diesem Zusammenhang ist jedoch nicht von Relevanz, ob Mommsens Schwiegersohn über Rostovtzeffs Kritik auf den Seiten der russischen Zeitung vom Autor persönlich erfuhr, sondern, dass dies dank der vielseitigen Bekanntschaften Rostovtzeffs mit deutschen Gelehrten überhaupt möglich war. Immerhin gelang Michail Rostovtzeff innerhalb von vier Jahren, während seiner ersten Reise im Jahr 1893 und der zweiten von 1895 bis 1898, ein Netz wissenschaftlicher Verbindungen europaweit aufzubauen. Der Althistoriker selbst unterstrich die Bedeutung seiner zweiten Auslandsreise noch Jahrzehnte später: „Alle meine besten Freunde habe ich in diesen Jahren [1895–1898] gewonnen: Alle meine deutschen Freunde, Amelung, Wünsch, Greven, Münzer, Sieburg, Saveking u. a.; die französischen –die verstorbenen M. Prou und Babelon und sogar die englischen – Hill (Numismatiker, heute Direktor des Britischen Museums) und die italienischen – Vaglierli, Ruggiero, Paribeni, De Sanctis […].“ 203 Zu Recht betonte A. Marcone „die Fähigkeit des jungen Wissenschaftlers, Sympathie und Achtung bei den Kollegen, die er treffen sollte, zu gewinnen“. 204 Diese Eigenschaft 200 Vgl. Rostovtzeff, M.: Livia und Julia, in: ebd., 262–264; Mommsen, Th.: Gatta und Arista, in: ebd., 198f.; Wilamowitz-Moellendorff, U.: Der verfehlte Koloss, in: ebd., 334ff. Zur Vorbereitung der Schriften vgl. Brief Th. Mommsens an U. von Wilamowitz-Moellendorff von 1899 (Nr. 432a), in: Calder III, W.M./Kirstein, R. (Hg.): Theodor Mommsen und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Briefwechsel 1872–1903, Bd. 2, Hildesheim 2003, 685. 201 Vgl. Multanovi, J.: Wissenschaftlicher Chauvinismus in Italien, in: Preußische Jahrbücher 104 (1901), 91–96. Zum Hinweis auf die Autorenschaft vgl. Lehmann 1989, 31f. Interessant ist außerdem der Briefwechsel zwischen Wilamowitz und Mommsen, der sich vermutlich auf die Vorbereitungen für die Veröffentlichung des Aufsatzes bezieht. Vgl. dazu Calder III/Kirstein 2003, 690–693. 202 Die Datierung ist nach dem Briefwechsel M. Rostovtzeffs mit S. Žebelev. Vgl. dazu Bongard-Levin 1997, 394ff. In den Osterferien 1898 hielt sich Wilamowitz-Moellendorff ebenfalls in Rom auf. Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, U.: Erinnerungen 1848–1914, Leipzig 1929, 248. 203 Brief M. Rostovtzeffs an G. Vernadskij vom 5.2.1931, in: Bongard-Levin 1997, 45. 204 Marcone, A.: Rostovtzeff v Italii [Rostovtzeff in Italien], in: VDI 4 (1994), 182 (als Vortrag auf der internationalen Rostovtzeff-Konferenz 1993 in St. Petersburg gehalten). Rostovtzeffs freundschaftliche Beziehung zu deutschsprachigen Gelehrten Ende des 19. Jahrhunderts zeigt u. a. die

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Rostovtzeff vor dem Ersten Weltkrieg

Rostovtzeffs samt seinen schon in dieser frühen Zeit fundierten Kenntnissen der Alten Geschichte und verwandter Disziplinen bildeten den Ausgangspunkt für seine Bekanntheit in Westeuropa, die er bis zum Ersten Weltkrieg erfolgreich vertiefen konnte. Bereits zum Winkelmannstag 1898 wurde Rostovtzeff zum korrespondierenden Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts ernannt. 205 Ein Brief Rostovtzeffs an Christian Hülsen aus demselben Jahr lässt die Bedeutung dieser Ernennung für den jungen Althistoriker gut erkennen: „Erlauben Sie mir Ihnen meinen besten Dank auszusprechen für die grosse Ehre, die das Institut durch Ihre gütige Vermittlung mir erwiesen hat. Sie kennen wohl, wie die Interessen des Instituts mir immer lieb waren und wie dankbar ich dem Institut und seinen Vorstehern bin für die gütige Aufnahme, die ich dort gefunden habe. Meine besten Erinnerungen sind mit dem Institut verknüpft, dort habe ich gute Freunde gefunden und dort auch manche fruchtbaren (wenigstens für mich) Anregungen bekommen. Desto mehr bin ich jetzt froh dieser Anstalt, zu der ich innerlich schon längst gehöre, auch factisch und juristisch anzugehören.“ 206

2.4 Der russische Althistoriker in der westeuropäischen Wissenschaftswelt 1914, einundzwanzig Jahre nach seiner ersten Begegnung mit westeuropäischen Wissenschaftlern, wurde Michail Rostovtzeff zum korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Dies kann als der Höhepunkt seiner internationalen Wissenschaftskarriere bis 1918 gelten. Im Wahlvorschlag für Michail Rostovtzeff postulierte selbst Eduard Meyer die führende Stellung Rostovtzeffs „unter den Gelehrten Russlands, welche in den beiden letzten Jahrzehnten die Altertumswissenschaft durch thatkräftige Arbeit, streng wissenschaftliche Arbeit energisch weiter gefördert haben“. 207 Dabei sei Rostovtzeff „nicht nur in Russland, sondern mindestens in Beschreibung der Weihnachtsfeier 1896 im Hause des Ersten Sekretärs des DAI in Rom: „Im Salon steht der Tannenbaum […]. Die Jugend von unten und aus der Nachbarschaft kommt zum Teil […] Amelung, der stark atmende, Wünsch der freundliche, Münzer der ernste, von E. Sellers (?) so viel benutzte, Siebourg, Friedrich, sogar der Russe Rostovtzeff, dazu Bernoulli und Frau werden dabei sein […]“. Vgl. Brief Frau Petersens an Frau Studniszka von 24.12.1896, in: Wickert 1979, 60. 205 Vgl. Jahrbuch des DAI 13 (1898), 240. 206 Brief M. Rostovtzeffs an Ch. Hülsen vom 6.12.1898, in: Rostovtzeff Project, Letter of M. Rostovtzeff to Christian Hülsen 6.12.1898, unter: http://www.telemaco.unibo.it:591/michele/ lettere/LHuelsen1.html (letzter Abruf am 20.7.2011). 207 Der Wahlvorschlag vom 30.4.1914 ist abgedruckt in: Kirsten, C. (Hg.): Die Altertumswissenschaften an der Berliner Akademie. Wahlvorschläge zur Aufnahme von Mitglied von F.A.Wolf bis zu G. Rodenwaldt, 1799–1932, Berlin 1985, Dokument Nr. 58, 158f.

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Der russische Althistoriker in der westeuropäischen Wissenschaftswelt

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gleichem Masse an deutschen Universitäten, und in ununterbrochener engster Fühlung mit der deutschen Wissenschaft“ 208 vorgebildet gewesen. Die Vorbildung an deutschen Hochschulen war im Falle Rostovtzeffs nur indirekt gemeint. Er absolvierte keine deutschen Universitäten. 209 Als der 38-jährige Rostovtzeff das erste Mal nach Berlin ging, hatte er bereits einen exzellenten Ruf in der internationalen Altertumswissenschaft.

2.4.1 Erste Publikationen in deutschsprachigen Fachzeitschriften Nachdem August Mau 1895 mit seiner Rezension zu Rostovtzeffs pompejanischen Studien die Aufmerksamkeit auf den jungen russischen Historiker gelenkt hatte 210, eröffnete sich für Rostovtzeff die Möglichkeit, seine Arbeiten in internationalen Wissenschaftsorganen zu publizieren. Zu den wissenschaftlichen Zeitschriften, in denen Rostovtzeffs erste fremdsprachige Aufsätze erschienen, gehörten die Mitteilungen des DAI in Rom: Er veröffentlichte in den Jahren 1896, 1897 und schließlich 1898 drei Aufsätze, deren Umfang fünf, sieben und zuletzt sechzehn Seiten war. 211 Beschäftigt man sich mit Rostovtzeffs Bibliographie zwischen 1894 und 1914, bleibt kein Zweifel, dass Deutsch für ihn die meist verwendete Fremdsprache war. 212 Dies setzte eine perfekte Beherrschung der deutschen Sprache voraus, was ohnehin in dieser Zeit für russische Wissenschaftler eine Selbstverständlichkeit war. Dadurch werden außerdem die Bedeutung der deutschen Geschichtswissenschaft und die Möglichkeiten, welche sie den Historikern weltweit bot, von neuem unerstrichen. Aus diesem Grund wird der Fokus der Untersuchungen im Folgenden auf die wissenschaftliche Tätigkeit Rostovtzeffs im deutschsprachigen Wissenschaftsraum liegen. Seine Wirkung in anderen europäischen 208 Ebd. 209 Es muss jedoch Rostovtzeffs unvollendetes Semester an der Universität Wien, wo er lateinische Epigraphik bei Eugen Bormann und Archäologie bei Otto Benndorf studierte, erwähnt werden. 210 Vgl. Mau, A.: Bibliografia pompeiana. M.I. Rostovtzeff, Gli ultimi scavi di Pompei. S. Pietroburgo 1894 (Estr. Dal Giorn. Del Ministero della Istr. Pubblica), in: Mitteilungen DAI (R) 10 (1895), 218. 211 Vgl. Rostowzew, M.: Anabolicum, in: Mitteilungen des DAI (R) 11 (1896), 317–321; ʼΑποστολιον, in: Ebd. 12 (1897), 75–81; Das Patrimonium und die Ratio Thesaurorum, in: Ebd. 13 (1898), 108–123. 212 Rostovtzeff schrieb in der Zeit zwischen 1895 und 1914 doppelt so viel Aufsätze auf Deutsch als in italienischer, französischer und englischer Sprache zusammen. Häufiger verfasste der Althistoriker seine Arbeiten nur auf Russisch. Vgl. Bongard-Levin 1997, 200–232; Welles 1956, 358–381; Gilliam 1987, 1–8; Andreau 1988, 645–675; Ders. 1989, 1273–1309. Rostovtzeffs wissenschaftliche Arbeiten, Briefe sowie Aussagen seiner Freunde und Bekannten bezeugen seine exzellenten Fremdsprachenkenntnisse. Z. B. habe Rostovtzeff – nach den Erinnerungen von Vera Muromceva-Bunina (die Ehefrau von I. Bunin) – selber erzählt, dass er nicht nur die italienische Sprache perfekt beherrsche, sondern auch in verschiedenen Dialekten des Italienischen sprechen könne: „Manchmal haben Italiener miteinander darüber gestritten, aus welcher [italienischen] Stadt ich komme“. Vgl. Muromceva-Bunina 1989, 467.

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Rostovtzeff vor dem Ersten Weltkrieg

Ländern, wie etwa in Frankreich oder Italien, war dabei nicht weniger wichtig als die in Deutschland, deren Untersuchung jedoch außerhalb dieser Arbeit liegt. Die Magisterarbeit Michail Rostovtzeffs über die Staatspacht in der Römischen Kaiserzeit, die 1899 als seine erste große wissenschaftliche Untersuchung auf Russisch veröffentlicht worden war, begann der Autor mit einem Zitat auf Deutsch aus „Methodenlehre“ von Wilhelm Wundt. 213 Die Schrift widmete Rostovtzeff seinen „teuren Eltern“. 214 Im Vorwort wies der Historiker darauf hin, dass die Arbeit während seiner Auslandsreise, vor allem in Wien und Rom entstanden sei. Er bedankt sich für die Unterstützung durch das archäologisch-historische Seminar und das Deutsche Archäologische Institut sowie durch die Vertreter dieser Institutionen Professor Bormann und Professor Hülsen: „Den beiden genannten Wissenschaftlern erlaube ich mir meine aufrichtige Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, besonders dem ersteren [Bormann], der meine ersten Untersuchungen im Bereich meiner Arbeit geleitet hatte. Den genannten Wissenschaftlern und auch Prof. Mommsen und Prof. Hirschfeld verdanke ich die Erlaubnis, die noch unveröffentlichten Stellen aus dem Corpus der lateinischen Inschriften zu verwenden.“ 215 Drei Jahre später wurden Rostovtzeffs Untersuchungen zur Staatspacht auf Deutsch publiziert. Dies war der erste, aber nicht der letzte Fall, dass die zuerst in seiner Muttersprache erschienene Arbeit Rostovtzeffs nach zwei oder höchstens drei Jahren in renommierten deutschsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften gedruckt wurde. Dies geschah mit drei größeren Werken des russischen Historikers, die ihm bis 1914 eine Anerkennung in wissenschaftlichen Kreisen europaweit brachten. Es handelte sich dabei fast immer um dieselben Menschen, die den jungen russischen Althistoriker jahrzehntelang förderten und unterstützten. Im Jahr 1902 erschien die Arbeit als neunter Ergänzungsband der wissenschaftlichen Zeitschrift „Philologus“. 216 Rostovtzeffs widmete die Schrift diesmal „in dankbarer Verehrung“ 217 Eugen Bormann. Neben den bereits in der russischen Version erwähnten 213 „Geschichtliche Ereignisse die plötzlich weitgreifenden Veränderungen herbeiführen, insbesondere Handlungen einzelner Personen die an solchen Ereignissen betheiligt sind prägen sich ohne weiteres der Beobachtung auf und werden daher durch directe und indirecte Zeugnisse von mancherlei Art dem Gedächtniss überliefert. Aber stätig veränderliche Zustände verrathen sich zumeist nur in einzelnen Zügen, die mehr durch Zufall als durch Absicht auf die Nachwelt kommen, oder die doch immer erst aus einer grossen Summe individueller Leistungen erschlossen werden können“. Vgl. Wundt, W.: Methodenlehre, Bd. 2/II, Stuttgart 1883, 75, zitiert nach Rostovtzeff, M.: Istorija gisudarstvennogo otkupa v Rimskoj Imperii (ot Avgusta do Diokletiana), St. Petersburg 1899, VIII. 214 Ebd., VI. 215 Ebd., XIII. Die Dankesworte richtete Rostovtzeff auch an seine Lehrer Zelinskij sowie seine Freunde Žebelev und Pridik. 216 Vgl. Rostowzew, M.: Geschichte der Staatspacht in der römischen Kaiserzeit bis Diokletian, Berlin 1902, („Philologus“, Ergänzungsbd. 9), 331–512. 217 Ebd., 332.

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Gelehrten dankte der Historiker seinem „Freund Dr. E. Kornemann“ 218, der „die undankbare Arbeit der Revision der deutschen Ueberarbeitung auf sich genommen“ 219 habe. Genannt wurde auch der „Philologus“-Herausgeber Otto Crusius, mit dem Rostovtzeff bereits 1898 Kontakt aufgenommen hatte. 220 Zwei Briefe Rostovtzeffs an Crusius von 1900 und 1901 bezeugen, wie wichtig für den russischen Historiker die Publikation seiner Magisterarbeit in deutscher Sprache war. 221 Diese erste große Publikation auf Deutsch wurde positiv aufgenommen. Man sprach über eine „gründliche und höchst lehrreiche Arbeit“ 222 von einem „durch mehrere Publikationen auf dem Gebiete der klassischen Altertumswissenschaft bekannte[n] Verfasser“ 223. Dabei wurde auch „ein umfassendes Werk über die Geschichte der Staatspacht, welches R[ostovtzeff] 1898 folgen ließ“ erwähnt. Dieses Werk war jedoch „weil in russischer Sprache geschrieben, den deutschen Zeitgenossen leider unbenutzbar gewesen“. 224 1903 erschien Rostovtzeffs Doktorarbeit über die römischen Bleitesserae auf Russisch. 225 Gleichzeitig wurde dazu eine Sylloge herausgegeben. 226 Da die Untersuchung über die römischen Bleimarken von Rostovtzeff und Prou bereits seit mehreren Jahren betrieben worden war, weckten nun die beiden Arbeiten des russischen Historikers ein großes Interesse in der westeuropäischen Wissenschaft. Dabei stellte sich das gleiche Hindernis heraus: Die Mehrheit der deutschen Leser konnte kein Russisch. Die Leistung war jedoch so bedeutend, dass das Werk unbedingt erwähnt werden musste. Dies geschah u. a. im gleichen Jahr in der „Wochenschrift für klassische Philologie“, in der „Die römischen Bleitesserae“ als die „teils lateinisch teils russisch geschriebene Arbeit […] von reichem Gehalt und unentbehrlich“ 227 beschrieben worden waren. Darüber hin218 Ebd. 219 Ebd. 220 Vgl. Brief vom 23.1.1898, in dem Rostovtzeff Crusius seinen Aufsatz über die römische Finanzverwaltung in Ägypten zur Publikation anbot. Vgl. Kreucher 2005, 120; Rostowzew, M.: Die kaiserliche Patrimonialverwaltung in Aegypten, in: Philologus 57 (1898), 564–577. 221 1900 sprach Rostovtzeff Crusius seinen „ausführlichsten Dank für Ihre liebenswürdige Theilnahme am Schicksal meines Werkchens“ aus. Da sich die Publikation des Werkes verzögert hatte, schrieb Rostovtzeff ein Jahr später dem Herausgeber des Philologus erneut: „[…] Ich bitte sehr um Verzeihung wenn ich Sie noch einmal mit einigen Anfragen molestiere. Erscheint also die Staatspacht in den Supplementbänden? Wann fängt der Druck an? Bis wann können Sie auf die Einleitung warten? […]“. Vgl. Kreucher 2005, 122f. 222 Widmann: Rostowzew, Geschichte der Staaspacht in der römischen Kaiserzeit bis Diokletian. (Philolog. Ergänzungsband IX, S. 331-512), Leipzig. Dietrich. 1903, in: Gymnasium 17 (1903), 606. 223 Brassloff, S.: Rostowzew, M., Geschichte der Staatspacht in der römischen Kaiserzeit bis auf Diocletian. Leipzig 1902, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1/2 (1903), 340. Vgl. auch Gelzer, M.: M. Rostowzew, Professor an der Universität Petersburg, Studien zur Geschichte der römischen Kolonates. Erstes Beiheft zum Archiv für Papyrusforschung, Leipzig 1910, in: Byzantinische Zeitschrift 20 (1911), 519–522. 224 Vgl. Brassloff 1903, 340. 225 Vgl. Rostovtzeff, M.: Rimskie svincovye tessery [Römische Bleitesserae], St. Petersburg 1903. 226 Rostovtzeff. M. (Hg.): Tesserarum Urbis Romae et Suburbi Plumbearum Sylloge, St. Petersburg 1903. 227 Vgl. Wochenschrift für klassische Philologie 29 (1903), 814.

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aus äußerte der deutsche Numismatiker Kurt Regling in seiner Rezension zur Sylloge den Wunsch, den Inhalt des russischen Werkes über die Bleitesserae „kennen [zu] lernen“ 228, „wenn sich der Vf. für die Darstellung ebenfalls das Lateinische zu wählen entschlossen hätte […]“. 229 Zwei Jahre später, als diese Arbeit auch auf Deutsch erschien, konnte der Numismatiker seine Meinung über die Forschung nun ausführlich darstellen: .

„Dem von mir in dieser Wochenschrift 1903 Sp. 1349 mit Bedauern festgestellten Mangel, dass Rostowzews Bearbeitung der von ihm in der Sylloge zum ersten Male gesammelten Bleitesseren für die Geschichte des kaiserlichen Rom dem deutschen Leser verschlossen bleibe, da dieselbe nur in russischer Sprache erschien (Römische Bleitesserae, St. Petersburg 1903), hat Vf. nunmehr durch die vorliegende Arbeit abgeholfen. […] Rostowzews Werk, gestützt auf ein bis vor kurzem ganz verstreutes, noch völlig unverwertetes Material, ist ein ausgezeichnetes Beispiel, wie einem unansehnlichen, trockenen Stoffe durch Sammlung, Ordnung, Sichtung und Zusammenstellung mit dem sonst erhaltenen literarischen, numismatischen, namentlich aber inschriftlichen Material Belehrung abgerungen werden kann. Zusammenhang stets mit feinem Takte hervorgehoben […], ich halte die Arbeit für eine vorbildliche Leistung.“ 230 Die deutsche Auflage erschien als Klio-Beiheft, dessen Herausgeber der mit den Leistungen Rostovtzeffs bestens vertraute Gelehrte Ernst Kornemann war. Die Korrektur übernahm Otto Hirschfeld. Der Autor dankte darüber hinaus seinen anderen „lieben römischen Freunden“ 231, wie W. Amelung, H. Graeven, F. Muenzer, M. Siebourg, J. Sieveking, R. Wuensch. In der Vorrede erklärte Rostovtzeff, dass er seine Doktorarbeit „auf mehrfache Aufforderungen deutscher Freunde und Kollegen […], nach langem und leicht verständlichem Zögern“ publizierte, um u. a. „die Resultate langjähriger Arbeit weiteren gelehrten Kreisen zugänglich zu machen“. 232 Der Schlüssel zum Rostovtzeffs Erfolg lag, so scheint es, nicht nur in seiner persönlichen Leistung als Wissenschaftler, sondern auch in seiner Fähigkeit, seine Kontakte und Beziehungen geschickt einzusetzen. Dies geschah auch mit seinem dritten großen, zuerst 1908 in Russisch gedruckten Werk „Hellenistisch-römische Architekturlandschaft“, die er seinen deutschen Kollegen schenkte. So bedankte sich Paul Wolters beim russischen Historiker für die Zusendung des Buches, schrieb aber gleichzeitig, dass „die Unkenntnis

228 Regling, K.: Tesserarum urbis Romae et suburbi plumbearum sylloge, ed. M. Rostowzew, in: Wochenschrift für klassische Philologie 49 (1903), 1346–1349, hier 1349. 229 Ebd. 230 Ebd. M. Rostowzew. Römische Bleitesserae; ein Beitrag zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der römischen Kaiserzeit, in: Wochenschrift für klassische Philologie 47 (1905), 1280–1284, hier 1280. 231 Rostowzew M.: Römische Bleitesserae. Ein Beitrag zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der römischen Kaiserzeit (Klio, Beiheft III), Leipzig 1905, IX. 232 Ebd., VII.

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der Sprache [ihm] genaueres Studium des interessanten Themas verbietet“. 233 Die russische Version bekam auch Georg Wissowa, der Rostovtezff wie folgt zurückschrieb: „Hochverehrter Herr Kollege! Ich sitze vor Ihrem Buch, das soeben ankam und leide Tantalusqualen. Die Tafeln, sowie eine oder andere Zeilen im Text verraten mir, dass darin höchst Interessantes steckt, und der Name des Verfassers bringt ohne Weiteres dafür, dass das Buch Bedeutendes enthält; aber der Schlüssel zur Truhe, die zur Schatz bringt, ist nicht vorhanden […].“ 234 Unter „Tantalusqualen“ hat im Bezug auf die Sprache des Werkes auch Adolf Erman gelitten. 235 Georg Karo ärgerte sich über den Sachverhalt: „Es ist hoch grausam, dass Sie uns in Petersburg auch das frühere „résumé français“ versagen, und leider kann ich, trotz eifriger Anfänge, noch immer kein russisch“ 236 Rostovtzeffs alter Freund und Mentor Walter Amelung äußerte sich ganz konkret: „Lieber Tapfchen! […] Dein Buch, mein Lieber, mag sehr schön sein, aber ich kann wirklich von Spiros 237 nicht verlangen, dass sie es mir übersetzen. Warum hängt ihr an eure Werke nicht wenigstens einen Auszug in Französisch oder Deutsch? So ist die ganze Arbeit für weitere Kreise verloren. […]“ 238 Verloren ging auch dieses Werk nicht, da „das […] besonders ehrenvolle Angebot der Redaktion der Mitteilungen, die Arbeit in neuer Gestalt in dieser Zeitschrift zu drucken“, 239 sowie „das Interesse, welches das römische Sekretariat des Deutschen Instituts der Ausstattung [des] Buches zu Teil werden liess“ 240 die entsprechende Publikation in deutscher Sprache ermöglichten. 1911 wurde „Hellenistische-roemische Architekturlandschaft“ in den Mitteilungen des DAI in Rom veröffentlicht. 241 Die Förderer dieses Unternehmens waren Rostovtzeff langjährige „römische“ Freunde, die auch beim Deutschen Archäo233 234 235 236 237 238 239 240 241

Brief P. Wolters an M. Rostovtzeff vom 28.12.1908, in: RGIA 1041/1/128. Brief G. Wissowas an M. Rostovtzeff vom 27.12.1908, in: Ebd. Brief A. Ermans an M. Rostovtzeff vom 30.12.1908, in: Ebd.1041/1/130. Brief G. Karos an M. Rostovtzeff vom 12.1.1909, in: Ebd. gemeint sind die engen Freunde Amelungs, der Altphilologe Friedrich Spiro (1863–1940) und seine Frau Assia Rombro-Spiro. Vgl. Pollak, L.: Römische Memoiren. Künstler, Kunstliebhaber und Gelehrte 1893–1943, Roma 1994, 97. Brief W. Amelungs an M. Rostovtzeff vom 16.1.1909, in: RGIA 1041/1/127. Vgl. Rostowzew, M.: Hellenistisch-roemische Architekturlandschaft (Roemische Mitteilungen 1-2), Rom 1911, 3. Ebd. Ebd.

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logischen Institut als Mitglieder der Zentraldirektion mitwirkten. 242 Die Erwartungen der westeuropäischen Wissenschaftskreise wurden diesmal wieder nicht enttäuscht. Die positive Resonanz, die sich in zahlreichen schriftlichen Danksagungen äußerte, beweist diese Tatsache. Bezeichnend dafür ist das Schreiben des deutschen Archäologen Alfred Schiff 243 vom 18. Oktober 1911: „Sehr verehrter und lieber Herr Professor! Durch die gütige Übersendung der deutschen Ausgabe Ihres grundlegenden Buches über die hellenistisch-römische Architekturlandschaft haben Sie mir grosse Freude bereitet und mich zu aufrichtigem Danke verpflichtet. Denn die russische Ausgabe Ihres Buches, die Sie mir vor fast 3 Jahren (Dezember 1908) zuzuschicken die Freundlichkeit hatten, ist mir, wie fast allen hiesigen Fachgenossen, ein Buch mit sieben Siegeln: nur die Tafeln, die zum Teil doch recht gut sind, sprachen. Offen gesagt, war mir Ihr Buch dauernd ein Schmerz und Aergernis, weil ich gerne gewusst hätte, was darin steht. Nun sind die Siegel gelöst, und so danke ich Ihnen herzlich für Ihre schöne Gabe, die ich in der nächsten Sitzung unserer Archäologischen Gesellschaft zum Vorlage bringen will. Bei der erstaunlichen Fülle des Materials, das Sie heranziehen, ist übrigens das Studium ihrer Ausführungen nicht leicht, wenn auch die grossen Linien Ihrer Deduktionen und Resultate scharf heraustreten. Die wohl von Ihnen zum ersten Mal geprägte Bezeichnung ‚Architekturlandschaft‘ ist bezeichnend und haftet leicht.“ 244 Das gleiche Schicksal hätte höchstwahrscheinlich auch das Buch „Antike dekorative Malerei im Süden Russlands“ 245 erwartet, für das Rostovtzeff 1914 zum korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften nominiert wurde. Es war zu erwarten, dass das Werk in ein paar Jahren auch auf Deutsch veröffentlicht wird. Der Erste Weltkrieg hatte dies leider verhindert.

242 In der Zeit zwischen 1906 und 1913 gehörten Erman und Wolters zu Mitgliedern der Zentraldirektion des DAI, die dem vorhandenen Briefwechsel zufolge das Buch über die hellenistisch-römische Architekturlandschaft bekommen hatten. Es ist jedoch zu vermuten, dass die gleiche Gabe auch andere Mitglieder der Direktion, z. B. Wilamowitz-Moellendorff und Hirschfeld, erhielten. Vgl. Wickert 1979, 157f. 243 Alfred Schiff (1863–1939) war ein deutscher Archäologe, der die Geschichte der Olympischen Spiele untersuchte. Vgl. Borgers, W.: Alfred Schiff. A Jewish Archaeologist as a Link between Ancient ans Modern Olympic Games, in: Journal of Olympic History 11 (2003), 9–12. 244 Brief A. Schiffs an M. Rostovtzeff vom 18.10.1911, in: RGIA 1041/1/133. 245 Vgl. Rostovtzeff, M.: Antičnaja dekorativnaja živopisivopisʼ na juge Rossii [Antike dekorative malerei im Süden Russlands], St. Petersburg 1914.

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Die zuerst auf Russisch erschiene Arbeit mit dem Bildatlas verschickte der Althistoriker wie gewohnt an seine deutschsprachigen Kollegen, deren Reaktion sich mit den bereits angeführten Briefen vergleichen lässt. Diedrich Fimmen 246 schrieb aus Athen Folgendes: „Sehr geehrte Herr Professor! Soeben erhalten wir Ihr Prachtwerk über die südrussischen Grabdekorationen. Ich bedauere jeden Tag mehr, dass ich nicht russisch lesen kann, aber schon die Tafeln geben mir ganze Freude und Belehrung. In unserer Bibliothek wird es sicher von grossem Nutzen sein. Ich danke Ihnen und der Kais. Archaeolog. Kommission im Namen des Instituts und Herrn Karos, der abwesend ist, auf herzlichste. Mit den ergebensten Grüssen Ihr Diedrich Fimmen.“ 247 In Rom bedankte sich Emanuel Löwy 248 für die Zusendung: „Sehr geehrter Herr Kollege, welch wunderschöne Überraschung hat mir dieser Tage die Post gebracht! Ich weiss gar nicht, wie ich Ihnen für dieses so überaus aufmerksame und wertvolle Geschenk danken kann. Das ist ja die Publikation, die ich sie seit langem herbeigewünscht hatte, und mit einer Fülle des Wissens und einer Weite des Vergleichsmaterials gegeben, wie sie bei Ihnen wohl zu erwarten waren, aber darum nicht minder in Erstaunen setzen. Trotz meiner Unkenntnis des Russischen, die ich nie so bedauert habe wie angesichts dieser Publikation, war ich dem Werke so angezogen, dass ich es Seite für Seite durchblättert habe, und es schien mir, dank Ihrer punktischen Anbringung der Schlagwörter am Rande, dass ich den Gang Ihrer Darlegung einigermaßen erfassen konnte und die Gewinnung eindringenderen Verständnisses durch sprachkundige Hilfe nicht schwer sein dürfte. Lassen Sie mich Ihnen dann, mit meinem wärmsten Danke, die besten Glückwünsche zur der Vollbringung dieser großen Arbeit aussprechen und nehmen Sie zu gleich die herzlichsten Grüße, mit denen ich bin stets in aufrichtiger Ergebenheit Ihr Emanuel Löwy.“ 249 246 Der deutsche klassische Archäologe Diedrich Fimmen (1886–1916) war an dem DAI Athen tätig. Vgl. Karo, G.: Zum Geleit, in: Fimmen, D.: Die kretisch-mykenische Kultur, Leipzig/Berlin 1921, III–IV. 247 Brief D. Fimmens an M. Rostovtzeff vom 1.8.1914, in: RGIA 1041/1/133. 248 Emanuel Löwy (1857–1938) war ein österreichischer Archäologe, der um die Jahrhundertwende die Professur für Archäologie in Rom innehatte. Vgl. Barbanera, M.: Löwy, Emanuel, in: DNP Suppl. 6 (2012), 758ff. 249 Brief E. Löwys an M. Rostovtzeff vom 31.5.1914, in: RGIA 1041/1/130.

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An dieser Stelle muss noch das große, im Jahr 1910 veröffentlichte Werk Rostovtzeff zum Kolonat genannt werden. Die „Studien zur Geschichte des römischen Kolonates“ 250 erschienen von vornherein in deutscher Sprache, obgleich die Einzelstudien sowohl auf Russisch (1900) als auch auf Deutsch (1901) bereits vorhanden waren. 251 Das Buch entstand aus dem Vortrag auf dem historischen Kongress in Berlin; auch in diesem Fall fand Rostovtzeff Unterstützung in seinem Bekanntenkreis: „Zur Publikation dieser Arbeit […] hat mich besonders, um auch Persönliches zu berühren, U. Wilcken angespornt, indem er mir gerade das erste Beiheft seines Archivs zur Verfügung stellte und mir seine Hilfe bei der Ausarbeitung der ersten beiden Kapitel versprach. Was er nachher getan hat, hat seine Versprechungen weit überstiegen. Überall sieht der Leser beim Durchblättern dieses Buches, wie oft helfende Hand Wilckens eingegriffen hat. Es ist für mich eine Freude, dies Buch dem bewährten Meister der Papyrologie und dem tiefen Kenner des Hellenismus widmen zu können.“ 252 Neben seinen wissenschaftlichen Publikationen wurde Michail Rostovtzeff unter Fachleuten durch seine Rezensionen in deutschsprachigen Zeitschriften bekannt. Er verfasste mehrere Besprechungen zu Arbeiten deutscher, französischer sowie russischer Kollegen bereits um die Jahrhundertwende. 253 Eine genauere Auseinandersetzung mit diesen Rezensionen liegt außer Rahmen dieser Arbeit. Es muss jedoch angemerkt werden, dass diese Schriften den jungen Rostovtzeff als einen äußerst kompetenten, selbständigen und manchmal sogar als gnadenlosen Rezensenten erscheinen lassen.

250 Rostowzew, M.: Studien zur Geschichte der römischen Kolonates (= Erstes Beiheft zum Archiv für Papyrusforschunge und verwandte Gebiete, hg. von Ulrich Wilcken), Leipzig/Berlin 1910. 251 Vgl. Rostovtzeff, M.: Proischoždenie kolonata [Der Ursprung des Kolonats], in: Filologičeskoe obozrenie 19 (1900), 105–109; Ders.: Der Ursprung des Kolonats, in: Klio 1 (1901), 195–299. 252 Rostowzew 1910, VIII. Zu U. Wilcken vgl. Palme, B., in: DNP Suppl. 6 (2012), 1317–1320. 253 Vgl. M. Rostovtzeffs Rezensionen: Architektonsiche Studien von Sergius Andrejewitsch Iwanoff. 2. Lieferung mit Erläuterungen von August Mau. Berlin 1895, in: Wochenschrift für klassische Philolgie 47 (1896), 1289ff. und 6 (1897), 150f. (Nachtrag); H. Demoulin, Les Collegia juvenum Dans l‘Empire romain. Louvain 1897, in: Wochenschrift für klassische Philologie 6 (1898), 150– 154; Léon Homo, Lexique de topographie Romaine. Avec une introduction de R. Cagnat. Paris 1900, in: Deutsche Literaturzeitung 41 (1900), 2667ff; W. Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. Leipzig 1900, in: Ebd. 45 (1900), 2920–2923; Adolf Schulten, Das römische Africa. Leipzig 1899, in: Ebd. 48 (1900), 3126ff; Ulrich Wilcken, Griechische Ostraka aus Ägypten und Nubien. Ein Beitrag zur antiken Wirtschaft. Leipzig und Berlin 1899, in: Wochenschrift für klassische Philologie 5 (1900), 113–126; B. Pharmakovskij, Die Ausgrabungen in Olbia in den Jahren 1902–1903. Nachrichten der Kaiserl. Russ. Arch. Kommission, Petersburg 1906, in: Berliner philologische Wochenschrift 43 (1907), 1360–1364; W. Otto, Priester und Tempel im hellenistischen Aegypten. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Hellenismus. Leipzig und Berlin 1905, in: Göttingische Gelehrte Anzeiger 171 (1909), 604–642.

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So kommentierte er bspw. 1900 das Buch seines befreundeten Kollegen U. Wilken über griechische Ostraka sehr positiv. 254 Er sprach von seinem Werk als von einer „musterhafte[n] Leistung“ 255, auf die „die gelehrte Welt […] seit 10 Jahre mit Ungeduld“ erwartet hätte. 256 Gleichzeitig scheute er nicht, einzelne Aspekte dieses Werkes zu kritisieren, indem er sie mit seinen Forschungsergebnissen verglich: „[…] ich [habe] vor kurzem selbst vielen von den bei W. erörterten Fragen auf Grund desselben (natürlich dürftigeren) Materials besprochen und [bin] teilweise zu anderen Resultaten gelangt (in meinem in russischer Sprache publizierten Buche ‚Geschichte des Staatspacht in der römischen Kaiserzeit‘, Petersburg 1899 […]).“ 257 Auf sein Buch über die Staatspacht, das in deutscher Sprache bekanntlich erst zwei Jahre später erschien, verwies Rostovtzeff mehrmals in dieser Rezension. Dadurch machte er geschickt auf eigene Leistung aufmerksam. Wie penibel der russische Historiker war, zeigt auch seine detaillierte 40-seitige Rezension zum Buch über die Religion im hellenistischen Ägypten von W. Otto, die er wie folgt resümierte: „Der Zweck der vorliegenden Bemerkungen war, nicht dem Werte des Ottoschen Buches irgendwie Abbruch zu tun. Ich schließe mit den Worten, mit denen ich begonnen habe: das Werk ist und bleibt eine Fundgrube für alle weiteren Forscher und ist für jeden Papyrologen und Historiker unentbehrlich. Ich wollte nur zeigen, wie viel sich der V. selbst geschadet hat dadurch, daß er sein Buch vor der Publikation nicht gründlich überarbeitet hat, anno 1904 wie anno 1907, und noch mehr dadurch, daß er die historische Behandlungsweise als zu dem Stoffe nicht verwendbar verwarf. Lieber historisch irren, als antiquarisch verflachen!“ 258 Wie streng der Althistoriker in seinen Beurteilungen sein konnte, zeigt z. B. seine Rezension zur Arbeit über die Topographie Roms von L. Homo 259, dem Rostovtzeff nicht nur eine mangelnde Kenntnis der zeitgenössischen Fachliteratur vorwarf, sondern auch eine Reihe von Druck- sowie Sachfehler:

254 Vgl. Rostovtzeff, M.: Ulrich Wilcken, Griechische Ostraka aus Ägypten und Nubien. Ein Beitrag zur antiken Wirtschaft. Leipzig und Berlin 1899, in: Wochenschrift für klassische Philologie 5 (1900), 113–126. 255 Ebd., 113. 256 Ebd. 257 Vgl. ebd., 114. 258 Rostovtzeff, M.: W. Otto, Priester und Tempel im hellenistischen Aegypten. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Hellenismus. Leipzig und Berlin 1905, in: Göttingische Gelehrte Anzeiger 171 (1909), 604–642, hier 642. Zu W. Otto vgl. Heinen, H., in: DNP Suppl. 6 (2012), 912f. 259 Vgl. Rostovtzeff, M.: Léon Homo, Lexique de topographie Romaine. Avec une introduction de R. Cagnat. Paris 1900, in: Deutsche Literaturzeitung 41 (1900), 2667ff.

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„Man könnte noch mehr ähnlicher Mängel anführen, aber ich habe hoffentlich zur Genüge gezeigt, dass wir in dem Buche Homos kein wissenschaftliches Hilfsmittel besitzen, sondern eine flüchtig gearbeitete Kompilation nach teilweise schon veralteten Handbüchern.“ 260 Zuletzt ist zu erwähnen, dass Rostovtzeff sich stets bemühte, die europäische Wissenschaftswelt über aktuelle Forschungen in seinem Heimatland zu informieren. 1907 rezensierte er das Buch über die Ausgrabungen in Olbia von seinem Kollegen B. Farmakovskij auf den Seiten der „Berliner Philologischen Wochenschrift“. 261 Dabei beschrieb er ausführlich die Anfänge der Ausgrabungsarbeiten in dieser Stadt sowie die bereits erzielten Ergebnisse aus den Untersuchungen und beendete seine positive Rezension wie folgt: „Zum Schlusse begrüßen wir den Beginn der systematischen Erforschungen Olbias und wünschen dem Verfasser, daß er ungestört seine wichtigen Studien in der angebahnten Weise fortsetzen möge“. 262

2.4.2 Internationale Kongresse Persönliche Kontakte in Form von Privatbesuchen, die jedoch nur vereinzelt nachgewiesen werden können, sowie von internationalen Wissenschaftstreffen stellten neben dem regen Briefwechsel eine weitere Möglichkeit dar, sich selbst und seine eigenen Untersuchungen den weltweiten Gelehrtenkreisen bekannt zu machen. In diesem Zusammenhang bietet „Die Ökumene der Historiker“ von Karl D. Erdmann nach wie vor einen guten Überblick über die Geschichte, Inhalte und Bedeutung der internationalen Historikerkongresse. 263 Im Zeitraum zwischen 1900 und 1914 unternahm Rostovtzeff zahlreiche dienstliche Auslandsreisen, sechs davon zu internationalen Kongressen. Er nahm an den folgenden internationalen Kongressen teil: am I. und III. Archäologenkongress (1905 in Athen und 1912 in Rom), am II., III. und IV. Historikerkongress (1903 in Rom, 1908 in Berlin und 1913 in London) sowie 1912 am XVI. Orientalistenkongress in Athen. Dass Rostovtzeff zu diesem Zeitpunkt ein unabdingbares Mitglied der internationalen Gelehrtengemeinschaft war, zeigen einige Briefzeilen von Wilamowitz-Moellendorff aus dem Jahr 1904:

260 Ebd., 2669. 261 Vgl. Rostovtzeff, M.: B. Pharmakovskij, Die Ausgrabungen in Olbia in den Jahren 1902-1903. Nachrichten der Kaiserl. Russ. Arch. Kommission. Petersburg 1906, in: Berliner philologische Wochenschrift 43 (1907), 1360–1364. 262 Ebd., 1364. 263 Vgl. Erdmann, K. D.: Die Ökumende der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques, Göttingen 1987.

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„[…] Ich hatte eben Gelegenheit mit einem der besten Petersburger Gelehrten die Frage des athenischen und des für 1908 geplanten Berliner Congresses zu bereden, und habe da die vollkommene Uebereinstimmung gefunden: Russland wird in Athen durch eine ganze Masse Gelehrte vertreten sein. […]“ 264 Im Jahr 1903 fand der zweite internationale Kongress der historischen Wissenschaften in Rom statt. Mit seinen rund 2.500 angemeldeten Teilnehmern galt dieser Kongress als eine der größten Versammlungen solchen Formats. Michail Rostovtzeff war dort unter den zehn Mitgliedern der russischen Delegation anwesend. Der 33-jährige spielte auf seiner ersten internationalen Veranstaltung zunächst eine passive Rolle und überließ Vorträge seinen erfahreneren Kollegen. 265 Dennoch bot der Aufenthalt in Rom für ihn vielfache Möglichkeiten für den persönlichen Austausch mit den bekannten deutschsprachigen Kollegen, wie A. Harnack, U. von Wilamowitz-Moellendorff, E. Petersen, Ch. Hülsen. 266 Zum ersten internationalen Archäologenkongress 1905 war Rostovtzeff in Begleitung seiner Frau angekommen. Einer der 700 Teilnehmer errinerte sich: „Die Versammlung war zahlreich und recht lebhaft: alte Bekannten wurden getroffen, neue Bekanntschaften wurden geschlossen, offizielle Vorstellungen fanden statt usw.“. 267 Rostovtzeff traf in Athen neben Wilamowitz eine große Zahl der alten Bekannten, wie Curtius, Dörpfeld, Wiegand, Babelon, Benndorf. 268 Er selbst hielt am vorletzten Kongresstag in der Sektion „Lʼarchéologie Classique en Russie“ einen Vortrag über die Ausgrabungen in Pantikapaion auf Französisch. 269

264 Brief U. von Wilamowitz-Moellendorffs an F. Althoff vom 11.6.1904, in: Calder III, W./Košenina, A. (Hg.): Berufungspolitik innerhalb der Altertumswissenschaft im wilhelminischen Preußen. Die Briefe von Wilamowitz-Moellendorffs an Friedrich Althoff (1883–1908), Frankfurt am Main 1989, 155. Ein Jahr später bestätigte Wilamowitz seine Meinung über den russischen Althistoriker in einem Brief an G. Wissowa: „Hellenistische und römische Verwaltung würde Rostovcev in Petersburg famos machen können, recht vieles wenigstens, agrarische, commercielle Verhältnisse u. dgl. Ich halte ihn für ein wirkliches Talent“. Vgl. Brief U. von Wilamowitz-Moellendorffs an. G. Wissowa vom 3.7.1905. Vgl. Bertolini, F.: Wilamowitz a Wissowa e Praechter, in: Quaderni di Storia 7 (1978), 195. 265 Die russischen Historiker hielten insgesamt fünf Vorträge auf dem Kongress in Rom. Vgl. Kulakovskij, Ju.: Meždunarodnyj istoričeskij kongress v Rime [Der internationale historische Kongress in Rom], in: ŽMNP 7 (1903), 1–23 und in: Unversitetskie izvestija 5 (1903), 1–21. 266 Vgl. Atti del Congresso internazionale di scienze storiche (Roma, 1–9 apr. 1903), Bd. 1, Roma 1904, 21f, 24. 267 Žebelev, S.: Pervyj meždunarodnyj archeologičeskij kongress v Afinach [Der erste internationale archäologische Kongress in Athen], in: ŽMNP 4 (1905), 1–27, hier 5. Die Erinnerungen der Zeitgenossen über den archäologischen Kongress in Athen vgl. auch bei Gardner, P.: Fifty-five Years at Oxford. An Unconventional Autobiography, Oxford 1933, 201f; Petrie, F.: Seventy Years in Archaeology, New York 1969, 215; Gardner, P.: Autobiographica, Oxford 1933, 42f. 268 Vgl. Comptes rendus du Congrès international d‘archéologie. 1re session, Athènes 1905. Zum Kongress ausführlich Žebelev 1905. Vgl auch Wilamowitz-Moellendorff 1928, 275f; Der erste internationale Archäologenkongress in Athen, in: Kunstchronik 29 (1905), 449–454. 269 Vgl. Comptes rendus du Congrès international d‘archéologie. 1re session, Athènes 1905, 306.

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Rostovtzeff vor dem Ersten Weltkrieg

Am gleichen Tag berichtete E. Kornemann in der epigraphisch-numismatischen Sektion über Rostovtzeffs „Römische Bleitesserae“, die kürzlich als Klio-Beiheft veröffentlicht worden waren, und betonte „das Bestreben der Herausgeber […] aus der Zeitschrift ein internationales Centralorgan für das Fach der alten Geschichte zu machen“ 270. Somit wurde der russische Althistoriker, der durch die Herausgeber der deutschen Fachzeitschrift relativ früh gefördert worden war 271, auf dieser wichtigen wissenschaftlichen Veranstaltung zum Gesicht der internationalen Althistorie. 1908 wurde der dritte internationale Historikerkongress in Berlin veranstaltet. Das wurde für Rostovtzeff zu einem der wichtigsten internationalen Ereignisse vor dem Ersten Weltkrieg. Zunächst spielte der Veranstaltungsort eine wichtige Rolle: Berlin als die Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs und eines der wichtigsten Wissenschaftszentren der Welt verlieh diesem Kongress eine besondere Bedeutung. Darüber hinaus versammelten sich dort alle angesehenen deutschsprachigen Althistoriker, deren Bekanntschaft Rostovtzeff überwiegend im Ausland gemacht hatte und mittels der Korrespondenz pflegte, zusammen. Weiterhin bekam der Althistoriker, der durch seine Studien in deutschsprachigen Wissenschaftskreisen bereits gut bekannt war, die Möglichkeit sich persönlich vorzustellen. Die Vorbereitungen auf dieses Ereignis begannen gleich nach der Ankündigung des Ortes für den nächsten Historikerkongress. Aus dem bereits erwähnten Brief von Wilamowitz-Moellendorff vom 11. Juni 1904 geht hervor 272, dass Rostovtzeff indirekt in die entsprechenden Vorbereitungen involviert war. Der russische Althistoriker, dessen Name mit der sozial- und wirtschaftshistorischen Erforschung der antiken Welt in Verbindung stand, entschied sich, über den römischen Kolonat zu referieren. Rostovtzeff sollte seinen Vortrag „Zur Geschichte des römischen Colonats“ 273 am 10. August in der Sektion II (Geschichte von Hellas und Rom) halten, die von Eduard Meyer geleitet worden war. 270 Ebd., 268. 271 Bis zum Kriegsausbruch erschienen insegsamt 4 Beiträge Rostovtzeffs in der „Klio“: „Der Ursprung des Colonats“ 1 (1901), 295–299; „Römische Besatzung in der Krim und das Kastel Charax“ 2 (1902), 80–95; „Angarie“ 6 (1906), 249–258 und 7 (1907), 142; „Defenitio und defensio“ 11 (1911), 387f. Im Zusammenhang mit Rostovtzeffs Mitarbeit in dieser Fachzeitschrift wird die folgende Aussage Moellendorffs oft zitiert: „Die Zeitschrift, die er [Lehmann] jetzt herausgibt, hat recht gute Artikel gebracht und vor allem Ausländer herangezogen. Ein junger Russe Rostowzew, den ich für einen Forscher ersten Ranges halte, würde ohne sie weder deutsch noch an einem zugänglichen Orte schreiben“. Vgl. Brief U. von Wilamowitz-Moellenorffs an F. Althoff vom 3.12.1901, in: Calder III/Košenina 1989, 148. 272 Siehe Anm. 706. 273 Interessant ist, dass dieser Vortrag zur Überschneidung der wissenschaftlichen Interessen von Michail Rostovtzeff und Max Weber, der sich ebenfalls mit dem Kolonat beschäftigt hatte, führte. Noch im Mai 1908 kündigte Weber einen Artikel für „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ an, er trat dann von der Abfassung des Artikels zurück. Rostovtzeff übernahm den Artikel auf die Empfehlung von Max Weber. Vgl. Rosotwzew, M.: Kolonat (Rom), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften 5 (1910), 913–921; Brief M. Webers an L. Elster vom 3.3.1920, Thüringer Landesbibliothek, Nachlaß Ludwig Elster I, in dem M. Weber über M. Rostovtzeff schrieb: „Verf[asser] des Art[ikels] ‚Kolonat‘ den ich s[einer] Z[eit] dafür empfahl“; Brief M. Webers an

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Bedeutend war dieser Kongress auch für die russische Wissenschaft insgesamt. Es wurden mehrere Berichte darüber verfasst 274. Zwei davon stammen von Rostovtzeff: Ein Aufsatz erschien in der Zeitschrift des russischen Bildungsministeriums (ŽMNP) 275 und ein verkürzter Bericht wurde in der wissenschaftspopulären Zeitschrift „Germes“ publiziert.  276 Zunächst soll hier die vollständige Version des Berichts von Rostovtzeff vorgestellt werden: „Internationale historische Kongresse sind eine Sache, die relativ neu ist“, fing Rostovtzeff an. Die historische Wissenschaft hätte relativ spät den Weg eingeschlagen, welchen Medizin, Naturwissenschaft, Orientalistik und andere Wissenschaften längst gehen. Er betonte dabei, dass der Berliner Kongress eher als der zweite Historikerkongress gelten könne. Das hinge damit zusammen, dass „die ersten drei [Kongresse], bis hin zum Kongress in Paris während der großen Ausstellung, absolut unbemerkt verliefen“ 277; „und nur die Tagung 1903 in Paris erregte allgemeine Aufmerksamkeit, versammelte eine Vielzahl der Wissenschaftler und brachte gewisse wissenschaftliche Ergebnisse“. 278 Der Autor machte sich zur Aufgabe, „über das, was in Berlin war, [zu] referieren, sich allgemein über den Nutzen und über die Bedeutung solcher in ihren Vorhaben kolossalen Tagungen [zu] äußern“. 279 Die Organisatoren solcher Kongresse, so Rostovtzeff, verfolgen vor allem drei Ziele. Als erstes wird das „wissenschaftliche Ziel“ 280 genannt, das „wahrscheinlich“ 281 das Unterrichten über neue Forschungen in verschiedenen Ländern bedeutet. Das zweite Ziel wäre, den ausländischen Wissenschaftlern das Kennenlernen des Veranstaltungsortes – mittels verschiedener Vergünstigungen sowie der Organisation von Exkursionen – zu erleichtern. Das dritte Ziel sei die Unterstützung persönlicher Kontakte zwischen Teilnehmern des Kongresses:

274

275 276 277 278 279 280 281

Ulrich Stutz vom 22.5.1908, in: Krumeich, G./Lepsius M. R.(Hg.): Max Weber, Briefe 1915–1917, Bd. 5/II, Tübingen 2008, 576f; Deininger, J.: Max Weber und Michael Rostovtzeff. Kapitalismus, „Liturgiestaat“ und Kolonat in der Antike, in: Hypeboreus 10 (2004), 147–160. Vgl. Kulakovskij, Ju.: Iz Belrina (meždunarodnyj kongress istorikov) [Aus Berlin (Der internationale Historikerkongress)], in: ŽMNP 10 (1908), 37–55; Chvostov, M.: Meždunarodnyj istoričeskij sʼʼezd v Berline 6-12 Avgusta 1908 [Der internationale historische Kongress in Berlin 6.–12. August 1908], Kasan 1908; Lappo-Danolevskij, A.: Soobščenie o Meždunarodnom Kongresse istorikov, proischodivšem v Berline 6-12 avgusta 1908 [Bericht über den Internationalen Historikerkongress, der in Berlin am 6.-12. August 1908 stattfand], in: Izvestija Imperatorskoj Akademii Nauk 14 (1908), 1113–1116. Vgl auch Herre, P.: Bericht über den internationalen Kongreß für historische Wissenschaften zu Berlin, 6.–12. August 1908, in: Historische Vierteljahrschrift 11 (1908), 417–427. Vgl. Rostovtzeff, M.: Meždunarodnyj istoričeskij sʼʼezd v Berline [Der internationale historische Kongress in Berlin], in: ŽMNP 10 (1908), 25–36. Vgl. Germes 13 (1908), 343–345. Ebd., 25. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd.

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„Für dieses Ziel werden verschiedene gemeinsame Unterhaltungen organisiert, diesem [Ziel] dienen großenteils gemeinsame Exkursionen: Während der Reisen nähern sich Menschen natürlich mehr an und lernen sich leichter […] kennen, und die Beziehungen, die unterwegs geknüpft wurden, sind fester als flüchtige Bekanntschaften auf Banketten oder in einer Bierstube.“ 282 Das Organisationskomitee hätte das Hauptziel des dritten Historikerkongresses deutlich definiert. Vor allem U. Wilamowitz-Moellendorff, der zusammen mit Ed. Meyer zu den „Hauptorganisatoren“ 283 des Kongresses zählte 284, hätte die Organisation des persönlichen Austausches der Gelehrten als Hauptaufgabe definiert. Das Programm des Kongresses beeindruckt noch heute mit einer Vielfalt der Angebote für die Teilnehmer: von wissenschaftlichen Vorträgen über zahlreiche Exkursionen bis hin zu praktischen Hinweisen für die Zeit des Aufenthalts in Berlin. 285 Michail Rostovtzeff als Teilnehmer fand jedoch, dass das Komitee „zu weit ging“ 286 und „damit die Bedeutung des Kongresses geschwächt wurde“ 287. Dabei wollte der Autor weniger kritisieren, sondern gezielt „wenn nicht Fehler [in der Zukunft] abwenden, doch meine Meinung darüber zu äußern, was ich für Fehler halte“. Entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche Tagung war für Rostovtzeff die Versammlung einer möglichst großen Anzahl der Wissenschaftler verschiedener Nationalitäten an einem Ort. Dies sei wiederum von drei Aspekten abhängig: dem Ort, den Reiseverhältnissen und der Zeit des Kongresses. Der Ort wäre ideal gewählt gewesen: „Wenn Berlin als Stadt die Anziehungskraft von Rom, Athen oder Kairo nicht hat, doch als Deutschlands Hauptstadt, mit ihrer Akademie und Universität, die für die Geschichte so viel gemacht hatten, verfügt Berlin über alle Gegebenheiten, um die Masse internationaler Historiker anzuziehen und die besten Kräfte Deutschlands zu versammeln.“ 288 Am Berliner Kongress nahmen etwas mehr als ein Tausend – statt einer erwarteten Zahl von zwei bis drei Tausend – Wissenschaftler teil. Dies hing, nach Rostovtzeffs Überzeugung, mit dem Zeitpunkt des Kongresses zusammen, denn in Russland und Frankreich war Examenszeit. Ungeklärt blieb jedoch die Abwesenheit der Amerikaner. Nicht

282 Ebd., 26. 283 Ebd. 284 Die beiden deutschen Wissenschaftler, die Rostovtzeff persönlich kannte, waren zusammen mit Reinhold Koser, dem Generaldirektor der königlichen Staatsarchive, zu den Vorsitzenden des Historikerkongresses in Berlin gewählt. Vgl. Programm des Internationalen Kongresses für historische Wissenschaften. Berlin, 6. bis 12. August 1908 (ausgegeben 6. Juli 1908), Berlin 1908, 7. 285 Vgl. ebd. 286 Rostovtzeff 1908, 26. 287 Ebd. 288 Ebd., 27.

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zahlreich waren sogar Historiker aus Deutschland vertreten. Die Gründe dafür sah Rostovtzeff in der mangelnden materiellen Unterstützung der Angereisten: „[…] Das Komitee konnte keine Ermäßigungen für Kongressteilnehmer bei der deutschen Bahn erwirken. Auch die verschickte Hotelliste mit sehr hohen Preisen hat mittellose Kongressteilnehmer abgeschreckt. Aus meiner Sicht haben die letzten zwei Punkte eine entscheidende Bedeutung: Historiker sind kein reiches Volk und die Mehrheit [von ihnen] reist zu Kongressen auf eigene Kosten.“ 289 Daraufhin widmete sich Rostovtzeff der Analyse des Kongressverlaufs. Die Neuheit des Berliner Kongresses lag neben der traditionellen Einteilung der Sektionen in der Einführung der allgemeinen Sitzungen. Es gäbe täglich eine allgemeine Sitzung und eine Sitzung jeder der acht Sektionen. 290 Diese Neuerung hielt der russische Althistoriker für misslungen. Die drei in allgemeinen Sitzungen präsentierten Vorträge sollten sich thematisch möglichst unterscheiden. Die Referenten wurden aus Delegationen verschiedener Länder – außer aus Deutschland – vom Kongresskomitee eingeladen, was zu Missverständnissen und Unzufriedenheit geführt hätte. Da Themen und Sprachen dieser Vorträge sehr unterschiedlich waren und die Vortragenden nur 40 Minuten zur Verfügung hatten, hätten diese Berichte einen „verwischten“ 291 und formalen Charakter angenommen. Als Beispiel dazu nannte der Autor den „ausgezeichneten“ 292 Vortrag von Franz Cumont über die Astrologie. Cumont sei gezwungen gewesen, auf den wichtigsten Teil seines Vortrages zu verzichten, damit die Anwesenden die Aufführung der Menander-Komödie von Studenten der Universität Halle besuchen konnten. Bemerkenswert ist, dass Rostovtzeff gar nicht erwähnte, dass er seinen Bericht über den Kolonat auf einer solchen allgemeinen Sitzung vorgestellt hatte. Dies ist aus dem Artikel seines Kollegen zu erfahren: „Von Russen wurde diese Ehre [auf einer allgemeinen Sitzung zu referieren] Prof. Rostovtzeff (aus Petersburg) zuteil. Sein sehr inhaltsreiches Referat enthielt die volle Untersuchung über den römischen Kolonat anhand des neuen Materials, das aus Inschriften und Papyri gewonnen war, wodurch diese alte Frage in den breiten Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung der antiken Welt gestellt wurde. Der Referent musste ganze Teile seiner Wissenschaftsuntersuchung auslassen und sich auf Thesen aus dem reichen, von ihm untersuchten Material beschränken. […] Man kann nicht verschweigen, dass so eine solide wissenschaftliche Untersuchung nicht ganz zu der allgemeinen Versammlung des internationalen Kongresses passt. Das ist ein zu schwerwiegendes Material, um es in einer solchen Sitzung innerhalb von 30–40 Minuten anzubieten.“ 293 289 290 291 292 293

Ebd. Vgl. Programm des Internationalen Kongress für historische Wissenschaften in Berlin 1908, 3. Vgl. Rostovtzeff 1908, 28. Ebd. Vgl. Kulakovskij 1908, 42f.

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Dagegen wäre die Tätigkeit der Sektionen, setzte Rostovtzeff seine Erzählung fort, deutlich lebhafter und produktiver gewesen. Die Themenauswahl innerhalb der Sektionen hat Rostovtzeff äußerst gefallen. Er nahm an den Sitzungen der drei Sektionen teil: Geschichte des Orients, Archäologie und Geschichte Griechenlands und Roms. Besonders war er von Referaten zu ägyptologischen Themen, besonders von dem Vortrag Masperos 294, zutiefst beeindruckt. In der Sektion der antiken Geschichte hätten folgende Referate sein Interesse geweckt: Štern über „unseren“ 295 Süden, Fabricius über Limes, Grenfell über seine Ausgrabungen in Oxyrhynchos und Perdrizet über seine Reise und die Ausgrabungen in Mazedonien. 296 Dabei trat Rostovtzeff dafür ein, dass es auf Kongressen über Forschungsergebnisse referiert werden sollte und nicht etwa neue Ideen zu präsentieren seien. Dies sei dem Organisationskomitee bewusst gewesen; die Veranstalter in Berlin hätten jedoch einen Fehler begangen, indem sie Versuche unternommen hätten, alles allein zu organisieren. Die Lösung dieses Problems hält Rostovtzeff parat: „Keiner ist einer solchen Aufgabe gewachsen. Für künftige Kongresse, für den Erfolg ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit ist die Gründung örtlicher Komitees notwendig, die wissenschaftliche Repräsentanz eines Landes in Form referierender Vorträge vorbereiten würden. Solche Komitees sollen in allen Hauptstädten Europas, in Amerika und in Tokio, vielleicht auch in Peking tätig sein. Durch diese Komitees sollen alle Vorträge des jeweiligen Landes geprüft werden, von ihm [dem Komitee] sollen Einladungen für einheimische Wissenschaftlern ausgehen, von ihm soll ein Delegierter zum Kongressort für eine abschließende Organisation vorausgeschickt werden. Es soll nicht viele Vorträge geben, die Referierenden sollen zeitlich nicht besonders eingeschränkt werden.“ 297 Kritikpunkte Rostovtzeffs betrafen die mangelnde Protokollierung sowie eine unzureichende Besprechung der praktischen Fragen auf dem Kongress. Dies hätte der Althistoriker „Berlin mit seinen riesigen wissenschaftlichen Mitteln“ 298 wohl zugetraut. Den kritischen Teil seines Aufsatzes resümierte der Autor wie folgt: „Dennoch, abgesehen

294 Gaston Camilie Charles Maspero (1846–1916) war ein französischer Ägyptologe. Auf dem Berliner Kongress referierte Maspero – „dieser Leiter und die Seele der ägyptischen Archäologie“ – darüber, „was er und seine Mitarbeiter für die Aufbewahrung der Altertümer Ägyptens“ gemacht hätten und „wie die ägyptische Verwaltung auf wissenschaftliche Initiative einzelner Nationen in Ägypten“ reagiere. Zitiert nach Rostovtzeff 1908, 30; Helck, W./Otto, E.: Kleines Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1999, 179. Zu G. Maspero vgl. Schenkel, W., in: DNP Suppl. 6 (2012), 794f. 295 Rostovtzeff 1908, 28. 296 Ebd. 297 Ebd., 29. 298 Ebd.

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von diesen Defiziten, hatte der Kongress aus meiner Sicht wichtige wissenschaftliche Ergebnisse“. 299 Des Weiteren beschrieb Rostovtzeff die Realisierung des zu Beginn seines Artikels formulierten zweiten und dritten Ziels des internationalen Kongresses in Berlin. Das Kennenlernen der Hauptstadt Deutschlands wurde laut Rostovtzeff den Kongressmitgliedern außerordentlich erleichtert. Jeder hätte nicht nur einen schönen Berlin-Führer mit kurzen Beschreibungen der hauptstädtischen Museen bekommen, sondern auch die Möglichkeit, unter der Führung der besten Spezialisten – Erman im Ägyptischen oder Delitzsch im Vorderasiatischen – diese Museen zu besichtigen: „Einen wirklich grandiosen Anblick stellt die Entwicklung deutscher, speziell Berliner, Museen dar. Deutsche sammeln nicht nur bedeutungsvolle Sachen, die durch Ausgrabungen und durch den Erwerb gewonnenen werden, sondern denken noch daran, diese Stücke auszustellen und zu untersuchen. Wie man auch über die künstlerischen Werte des neuen Museums des Kaisers Friedrich beurteilen mag, eins ist sicher, dass sich Bilder, frühchristliche und orientalische Stücke, die Mschatta-Fassade in ihrer vollen Pracht jetzt sehen und untersuchen lassen. Man muss sehen, wie Vasen im neuen Raum des Antikvariums ausgestellt werden, und das mit unserer reicheren Ermitage-Kollektion vergleichen. Kein Wunder, dass man das Antikvarium mit einem Notizenberg und die Ermitage mit einem Berg von Verlegenheiten und Halbvorstellungen verlässt. Jede Scherbe (Ermitage, wie bekannt, anerkennt keine Scherben) hat hier einen sachgemäßen Platz und Beleuchtung. Der Raum für babylonisch-assyrische Sachen und für ägyptische Antiquitäten in Berlin war eng. Das einzigartige Pergamonmuseum erwies sich als eng und außerdem den hohen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht gemäß. Unverzüglich entsteht Messers grandioser Plan einer ‚Museumsinsel‘, demzufolge der Bau eines neuen Museums auf dem Flussufer alle Museen Berlins verbinden soll. Und das ist nicht nur ein Plan.“ 300 Das wissenschaftliche Berlin-Bild sollte darüber hinaus durch spezielle Ausstellungen sowie Exkursionen vervollständigt werden. 301 Rostovtzeff besuchte mehrere solche Ausstellungen, fand jedoch die Ausstellungen zu den prähistorischen Altertümern Ägyptens, den Papyri sowie historischen Karten am interessantesten. „Höchst lehrreich“ 302 bezeichnete er seine Teilnahme an der Exkursion nach Hamburg. Diejenigen, die sich an dieser „interessanten, aber teuren Reise“ 303 beteiligt hätten, waren von „dem Senat der Freien Stadt und der mächtigen Schifffahrtsgesellschaft Hamburg-Amerika prunkvoll

299 300 301 302 303

Ebd. Rostovtzeff 1908, 31–32. Vgl. Programm 1908, 40ff. Ebd., 33. Ebd.

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und herzlich empfangen“. 304 Rostovtzeff bedauerte gleichzeitig, dass es „aufgrund der fehlenden Ermäßigungen für die Eisenbahn“ 305 nicht möglich gewesen sei, eine entfernte Reise, bspw. zum Rhein, zu organisieren. Das dritte Ziel, die Organisation der Kommunikation zwischen Gelehrten, sei auf dem Kongress in Berlin zentral gewesen. Die Kongressteilnehmer hätten die Räumlichkeiten des Abgeordnetenhauses, der Philharmonie sowie des Museums für Völkerkunde zur Verfügung gehabt. Morgens trafen sich Wissenschaftler bei allgemeinen Sitzungen, am Tage teilten sie sich in Sektionen, nach 15 Uhr besuchten sie Museen und abends wurden für sie Empfänge gegeben. Abendliche Zusammenkünfte – mit Ausnahme der Begrüßung am Vorabend des Kongresses – blieben ein Privileg weniger Wissenschaftler, „wodurch die Kongressmitglieder in Schafe und Böcke sowie in die Eingeladenen und Auserwählten geteilt waren. Solche Audienzen wurden bei [dem Reichskanzler] Bethmann-Hollweg, im Rathaus, beim Kaiser in Potsdam und auch in Hamburg organisiert“. 306 Rostovtzeff wünschte sich, dass es gemeinsame Abende mit „allen“ 307 Mitgliedern des Kongresses, wenn auch nicht in einer Großzahl, gäbe. Der Autor präzisierte zwar nicht, an welchen Empfängen er beteiligt war, charakterisierte jedoch die dort und in den ersten bzw. letzten Sitzungen herrschende Atmosphäre: „Der Großteil der Reden von Personen, die pflichtgemäß redeten, war trocken und relativ inhaltslos, manchmal nicht ohne eine komische Note, wie die Rede des Berliner Bürgermeisters. Die Engländer redeten, wie immer, gut und mit Humor. Die Rede von Wilamowitz bei dem Festessen […] war fein, glänzend und interessant. Gut waren auch die etwas groben, aber ehrlichen Reden Ed. Meyers.“ 308 Obwohl der Althistoriker einige Punkte kritisierte, schätzte er die Organisation des persönlichen Austausches auf dem Berliner Kongress als völlig erfolgreich ein und unterstrich erneut die Bedeutung solcher Zusammenkünfte: „Sogar flüchtige Treffen haben ohne Zweifel eine große Bedeutung. Anhand eines Buches kann man nicht eine wissenschaftliche Größe einschätzen. Das Buch stellt nur eine Grundlage für die Einschätzung der Denkweise dar. Die wissenschaftliche Größe ist jedoch ein ganzer Mensch mit seinem Aussehen, seiner Sprach- und Denkweise usw. Einen Menschen zu sehen ist manchmal genügend, um seine wissenschaftliche Tätigkeit zu verstehen. Das Buch eines gesehenen und bekannten Menschen ist näher und verständlicher, als das Buch eines Anonymus.“ 309

304 305 306 307 308 309

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 34; Starkie, W.: Scholars and Gypsies. An Autobiography, London 1963, 102. Ebd., 34f.

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Der Wert der internationalen Kongresse erschöpfte sich für Rostovtzeff nicht mit dem wissenschaftlichen Ertrag. Er erwähnte wieder die Rede von Wilamowitz-Moellendorff, deren Hauptidee der Internationalismus der Wissenschaft als Gegengewicht zum politischen Chauvinismus wäre. Diese Idee hätte „manchen [Anwesenden] (nicht unter Wissenschaftlern)“ 310 nicht gefallen. Somit verlief auch dieses internationale Historikertreffen mit Diskussionen über politische Themen. Rostovtzeff wollte nicht glauben, – was auf dem Kongress offensichtlich angedeutet wurde – dass „Franzosen und die Mehrheit der Slawen (mit Ausnahme von Russen)“ 311 in Berlin aus politischen Gründen gefehlt hätten: „Eine persönliche internationale Kommunikation wird jetzt, in einer Epoche der Blüte des Chauvinismus, noch wertvoller. Es kann wie eine Floskel klingen, dass internationale Kongresse die Einheit der Wissenschaft als ein internationales Gut, das keinem im einzelnen, sondern der Menschheit im ganzen gehört, unterstützen, aber diese Phrase, besonders in unserer Zeit, ist eine hohe Wahrheit, die stets wiederholt werden muss. […] Die Konkurrenz der Nationen auf dem wissenschaftlichen Boden ist eine wunderbare Sache, der Kult der Heimatsprache und das Streben, die Muttersprache zu einer Weltsprache zu machen, ist eine zutiefst sympathische Tendenz. Dabei sollte man jedoch das Wichtigste nicht vergessen, dass die Wissenschaft keine Nationen kennt, sie kennt nur die Menschheit. Bei der Vielsprachigkeit unserer Literatur, bei der politischen Entfremdung, sogar Feindschaft einzelner Nationen können allein die internationalen Kongresse die Einheitsidee unterstützen und verstärken […].“ 312 Zum Schluss des Berichtes sprach Rostovtzeff seinen Dank aus für „die Möglichkeit der internationalen Kommunikation, für den liebevollen, gastfreundlichen und netten Empfang“ 313, nannte England als Ort für den nächsten internationalen Historikerkongress und äußerte die Hoffnung, dass auch Russland in einer absehbaren Zukunft „unsere Brüder-Historiker“ 314 empfangen dürfe. Seinen Bericht über den Berliner Kongress für die wissenschaftspopuläre Zeitschrift „Germes“ beendete Rostovtzeff mit den Worten, die die persönliche Bedeutung dieses Ereignisses für Rostovtzeff wiedergeben: „Jeder Kongressteilnehmer nahm von dieser Tagung in erster Linie das Gefühl des tiefempfundenen Dankes gegenüber den hingebungsvollen Organisatoren des Kongresses mit, unter denen unsere Koryphäen, Wilamowitz und Ed. Meyer waren, die Hauptrolle gespielt hatten. […] Die slawischen Teilnehmer bekamen außer310 311 312 313 314

Ebd., 35. Ebd. Ebd. Ebd., 36. Ebd.

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dem die Gewissheit, dass Russisch auf dem nächsten Kongress zu den vier Sprachen des Berliner Kongresses als die fünfte hinzugefügt wird, wie dies Wilamowitz in seiner Bankettrede gewünscht hatte.“ 315 Seine Eindrücke über den Verlauf des Orientalistenkongresses sowie über die 70-jährige Gründungsfeier der Universität Athen im Frühjahr 1912 begann der Althistoriker mit einem Überblick über die allgemeine Entwicklung des Landes: „Es soll nicht unbemerkt bleiben, dass Griechenland innerhalb der 20 Jahre, die ich es kenne, viele Erfolge erreicht hat. Ich spreche nicht über die Politik: Das ist nicht meine Sache und hier wird man kaum über echte Erfolge sprechen können. Aber im Bereich der kulturellen Entwicklung ist viel erreicht worden. Allein Athens Erscheinungsbild bezaubert mit seiner Sauberkeit, mit seinem wohlgestalteten Äußeren, mit seinen elektrischen Straßenbahnen usw. Das Eisenbahnnetz entwickelte sich, Reedereien, die erfolgreich mit Ausländern konkurrieren, füllten sowohl griechische Gewässer, als auch einen beachtlichen Teil des Mittelmeeres. Die Bildung wächst auch, die Wissenschaft geht voran, die letzte, allerdings, nicht so schnell wie die äußere Kultur.“ 316 Die letzte Anmerkung bezog der Autor auf die Archäologie der Griechen, denen große Projekte gefehlt hätten. Stattdessen werde in Griechenland in letzter Zeit „wenig und mit Unterbrechungen“, „ohne Enthusiasmus“ gegraben. 317 Die Gründe dafür suchte Rostovtzeff sowohl in der politischen Entwicklung Griechenlands als auch in „materialistischen Tendenzen“. 318 Der Beschreibung des Kongresses, der als ein „Misserfolg“ 319 bezeichnet wurde, widmete Rostovtzeff nicht mal eine Seite. Beinah alle Sektionen – mit Ausnahme der byzantinischen – hätten ihre „kurzen und armen“ 320 Programme in den ersten Tagen ausgeschöpft. Dies läge zum einen darin, dass sich Kongresse „als wissenschaftliche Stätten“ 321 allmählich abtragen und zu „Orten der persönlichen Kontakte und der gemeinsamen Erholung von der wissenschaftlichen Arbeit“ 322 würden. Zum anderen wäre Griechenland für Orientalisten wenig interessant. Aus diesem Grund gäbe es auf dem Kongress mehr Touristen, die das Land kennenlernen wollten, als Wissenschaftler.

315 Vgl. Rostovtzeff, M.: Meždunarodnyj istoričeskij sʼʼezd v Berline [Der internationale historische Kongress in Berlin], in: Germes 13 (1908), 345. Zum Vorschlag von Wilamowitz-Moellendorff vgl. auch Rostovtzeff 1908, 30. 316 Rostovtzeff, M.: Jubilej i kongress [Jubiläum und Kongress], in: Reč vom 9.4.1912, 3. 317 Ebd. 318 Ebd. 319 Ebd. 320 Ebd. 321 Ebd. 322 Vgl. ebd.

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Der misslungene Kongress hätte aber dem Jubiläum der Universität Athen umso mehr Glanz verliehen. Zur „guten Seele“ der Jubiläumsfeier erklärte Rostovtzeff den Dekan der Athener Universität Lambros 323 und unterstrich die Teilnahme der Königsfamilie an den Jubiläums-Veranstaltungen, die „fast kein Delegationsmitglied ohne ihre gnädige Aufmerksamkeit und ohne ein warmherziges Gespräch“ 324 gelassen hätte. Zum Schluss seiner Skizze kam der Althistoriker zum Thema, das für ihn wichtig war. Es handelte sich um den Platz, welchen die russische Wissenschaft europaweit annehmen sollte. So hätten die Russen den 16. Orientalistenkongress von 1912 „mit einem schweren Gefühl“ 325 verlassen. Einerseits würde Russisch „wieder nicht zu den zum Kongress zugelassenen Sprachen“ 326 gezählt. Des Weiteren klagte Rostovtzeff darüber, dass kein russischer Historiker zum Präsidenten einer der 15 Sektionen nominiert worden sei. Die Verleihung der Ehrendoktortitel konnte ihn auch nicht zufrieden stellen, denn von mehr als 60 verliehenen Ehrendoktortiteln gingen nur zwei an die russischen Wissenschaftler: An Professor Zelinskij und Professor Beneševič. 327 Diese Situation resümierte Rostovtzeff folgendermaßen: „Das entspricht schwerlich der wirklichen Beziehung zwischen unserer und europäischer Wissenschaft besonders deswegen, weil es um die Untersuchungen des Hellenismus, Byzantinismus und des byzantischen Christentums geht“. 328 Anders gestaltete sich die Situation auf dem dritten archäologischen Kongress in Rom, der im Oktober 1912 stattfand. Dort hätte Rostovtzeff „als Russe“ 329 kein „niederdrückendes Gefühl“ 330 hinsichtlich des Verhältnisses der Organisatoren zur russischen Delegation. „Trotz der geringen Zahl der russischen Wissenschaftler war das Verhalten des Kongresses ihnen gegenüber äußerst aufmerksam: Die Russen gehörten den Ehrenpräsidien fast aller Sektionen an, in manchen gab es sogar zwei [Russen].“ 331 Rostovtzeff ging in seinem Aufsatz „Der dritte archäologische Kongress in Rom“ auf die aktuelle politische Situation in Europa ein, denn nur ein Tag vor dem Kongressbeginn 323 Gemeint ist der griechische Historiker und Politiker Spyridon Lambros (1851–1919), zu ihm vgl. Puchner, W.: Lampros, Spiridon, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas 3 (1979), 5f. 324 Rostovtzeff 1912, 3. 325 Ebd. 326 Ebd. 327 Vladimir Beneševič (1874–1938) war ein russischer Historiker, der u. a. über die byzantinische Geschichte und das kanonische Recht forschte. Er wurde von der Sowjetmacht der Spionage beschuldigt und 1938 hingerichtet. Vgl. Uspenskij, V./Buzeskul, V./Kračkovskij, I./Marr, N.: Zapiska ob učenych trudach V.N. Beneševiča [Notiz über die wissenschaftliche Arbeit von V.N. Beneševič], in: IAK 18 (1924), 536ff; Granstrem, E.: Vladimir Nikolaevič Beneševič, in: Vizantijskij vremennik 35 (1973), 235–243; Verndaskij, V.: 25-letie naučno-literaturnoj dejatelʼnosti [25 Jahre der wissenschaftlich-literarischen Tätigkeit von] V.N. Beneševič, in: Seminarum Kondakovianum 1 (1927), 312. 328 Rostovtzeff 1912, 3. 329 Rostovtzeff, M.: Tretij meždunarodnyj archeologičeskij congress v Rime [Der dritte archäologische Kongress in Rom], in: ŽMNP 12 (1912), 105–111, hier 111. 330 Ebd. 331 Ebd.

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brach der Erste Balkankrieg aus. 332 Die „beunruhigende Zeit“ 333 hätte sich in der Abwesenheit der Teilnehmer balkanischer Staaten sowie in der Anwesenheit von nur zwei Griechen widergespiegelt, was den Kongress zu einer „mitfühlenden Manifestation in Bezug auf den begonnenen Krieg Griechenlands“ 334 gemacht hätte. Den Verlauf des Kongresses beschrieb der Historiker mit einer für seine Berichte typischen Herangehensweise: kurz und kritisch. Er bemängelte die Kongressorganisation, die u. a. einige Exkursionen zu wichtigen archäologischen Orten Italiens gehindert hätte: „Der Grund dafür liegt darin, dass im letzten Moment – wie das oft in Italien passiert – bedauerliche und unangenehme Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Gruppen der Archäologen entstanden. [Sie] spalteten den wesentlichen Teil der italienischen Archäologen vom Kongress ab und verliehen der organisatorischen Arbeit einen hastigen und rauen Charakter.“ 335 Positiv bemerkte Rostovtzeff seine Teilnahme an der Exkursion zu Ausgrabungen in Ostia, die er als ein „echtes antikes Hamburg in zwei Schritten von der Welthauptstadt, als ein echtes Portsmouth in der Nähe von London“ 336 nannte. Er bedauerte, dass es nur wenige Vorträge über aktuelle Ausgrabungen in Italien gegeben habe, mit Ausnahme von Spinazzolas 337 „reichlich illustriertem“ 338 Vortrag über Arbeiten in Pompeji und vom Bericht Bonis 339 über Ausgrabungen auf dem Palatin. Ohne ins Detail zu gehen stellte der Autor fest, dass sich die Arbeit der Sektionen insgesamt von den vorherigen Kongressen nicht unterschieden hätte: „Es wurden interessante und wichtige Berichte gelesen, aber auf allen lag eine Spur des Zufalls: Als Platz einer solchen Mischung von Vorträgen sind wissenschaftliche

332 Am 8. Oktober 1912 griff Montenegro das Osmanische Reich an. Innerhalb weniger Tage traten die anderen Mitglieder des Balkanbundes, Bugarien, Serbien und Griechenland, in den Ersten Balkankrieg (Oktober 1912–Mai 1913) ein. Da sich die Sieger bei der Aufteilung der eroberten Territorien nicht einigen konnten, kam es zum Zweiten Balkankrieg (Juni–August 1913), in dem sich Serbien, Griechenland, die Türkei und Rumänien gegen Bulgarien vereinigten. Vgl. dazu ausführlich Clark, C.: Die Schlafwandler. Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog, München 2013, 330–338. 333 Rostovtzeff 1912, 111. 334 Ebd. 335 Ebd., 106. 336 Ebd. 337 Zum italienischen Archäologen Vittorio Spinazzola (1863–1943) vgl. Aurigemann, S.: Vittorio Spinazzola: Pompei alla Luce degli Scavi nuovi di Via dell’Abbondanza (1910–1923), Roma 1953, IX–XIV. 338 Rostovtzeff 1912, 107. 339 Zum italienischen Archäologen Giacomo Boni (1858–1925) vgl. Romanelli, P.: Boni, Giacomo, in: Dizionario Biografico degli Italiani 12 (1970), 75ff.

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Zeitschriften geeignet. Relativ vollständig spiegelte sich in Vorträgen die Entwicklung der Untersuchungen im Bereich der ägäischen Kultur.“ 340 Rostovtzeff selbst musste auf diesem Kongress „auf verstärkte Anregung des Präsidiums“ 341 über den kürzlich bei Poltawa gefundenen Gold- und Silberschatz, den sogenannten Pereschepina Schatz 342, referieren: „[…] Ich hatte Möglichkeit, die Fotos einiger Schatzgegenstände […] zu präsentieren. Mein Bericht hat großes Interesse geweckt und veranlasste einen der besten Kenner der donauländischen Archäologie Hampel 343, einige wertvolle Bemerkungen zu machen. […] Ansonsten kann ein Machtwort erst nach einer würdigen Publikation aller Sachen gesprochen werden; eine solche Publikation erwartet die westeuropäische Wissenschaft von uns gespannt und wir müssen nicht, wie bei uns üblich ist, mit ihr zögern.“ 344 Interessant ist außerdem der Vorschlag, den Rostovtzeff seinen westeuropäischen Kollegen machte. Es ging um die Ausstellung zur Archäologie des Imperium Romanum, die 1911 zum 50-jährigen Jubiläum der italienischen Monarchie in den Diokletianthermen präsentiert worden war. Rostovtzeffs Vorschlag fand eine breite Unterstützung der Kongressteilnehmer und wurde auch in westeuropäischer Presse erläutert: „Rostowzef beantragte in der VI. und VII. Sektion (Griechische und römische Altertümer usw.), daß die Plenarversammlung des Kongresses den Wunsch aussprechen sollte, daß die sogenannte ‚Mostra archologica‘, welche im vorherigen Jahre im Thermenmuseum so großen Eindruck gemacht hatte, dieses Jahr aber für das Publikum und selbst für den Bestempfohlenen verschlossen bleibt, zu einer ständigen Institution ausgebaut werden möge. (Durch Zufall konnte sich dann der Referent noch in den letzten Oktobertagen an dieser bedeutsamen Ausstellung erfreuen und belehren, soweit sie noch zusammen ist).“ 345

340 Rostovtzeff 1912, 109. 341 Ebd., 110. 342 Der Pereschepina [russ. Pereščepinskij] Schatz wurde am 11. Juni 1912 in der Nähe des Dorfes Maloe Pereščepin zufällig entdeckt. Der Fund bestand aus mehr als 800 Gegenständen, die als Bestattungsinventar des Khans Kubrat vom Großbulgarischen Reich auf das 7. Jahrhundert datiert werden. Die Ausgrabungen wurden vom Präsident der Kaiserlichen Archäologischen Kommission, dem Grafen Aleksej Bobrinskij, persönlich geleitet. Der Pereschepina Schatz ist heute in der Ermitage aufbewahrt. Ausführlicher siehe dazu Bobrinskij, A.: Pereščepinskij Klad [Schatz], in: Materialy po Archeologii Rossii 34 (1914), 111–120. 343 Josef Hampel (1849–1913) war ein ungarischer Archäologe. Zu ihm vgl. Hampel, Josef, in: ÖBL 2 (1958), 171. 344 Rostovtzeff 1912, 110. 345 M. (?): Der III. Internationale archäologische Kongreß in Rom, in: Kunstchronik 24 (1913), 89.

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Der Historikerkongress im April 1913 in London verlief vor dem Hintergrund der militärischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan. Zwei Wochen vor dem Kongressbeginn war der griechische König Georg I., der Schwager des englischen Königs, ermordet worden. Die Versammlung der Historiker wurde von der politischen Situation enorm beeinflusst, wie Rostovtzeff in seinem Bericht konstatiert: „Nach Rom und Berlin versammelten sich die Historiker in London unter den nicht ganz günstigen Bedingungen. Das Interesse der Gesellschaft und sogar selbst der Kongressteilnehmer wurde überwiegend von der über Europa drohenden Gefahr ergriffen. Der Krieg auf dem Balkan verhinderte, dass slawische Wissenschaftler, mit Ausnahme von Rumänen, anreisten. Es wurde versucht – vielleicht umsonst – die Abwesenheit der Franzosen durch die Politik zu erklären.“ 346 Die Balkankrise 1912/13 führte zur Veränderung der politischen Konstellationen in ganz Europa. Denn die Großmächte waren durch Bundnisvertäge in diesen bewaffneten Konflikt indirekt involviert. Die Intensivierung der militärischen Vorbereitungen in Russland, Deutschland, Frankreich bestätigte zusätzlich die weitverbreitete Ansicht, dass ein Weltkrieg unvermeidlich sei. 347 Auf der internationalen Konferenz 1913 bekam die nationale Zugehörigkeit der Historiker deswegen eine neue Bedeutung. Die dort herrschende Atmosphäre gab U. von Wilamowitz-Moellendorff in seinen „Erinnerungen“ wieder: „Der mit mir sitzende Pariser Kollege war sichtlich verstimmt […]. Franzosen fehlten wieder fast ganz. Mit uns Deutschen verkehrten besonders die Russen und nahmen die Aufforderungen an, daß 1918 der Kongreß in Petersburg gehalten werden sollte. Zu mir sagte einer von ihnen: ‚bis dahin haben wir einen Krieg gehabt, aber dann ist wieder alles in Ordnung.‘ Und als ich ungläubig war und auf die alte Freundschaft zwischen Preußen und Russland verwies, kam die Antwort: ‚schon recht, aber ihr habt einen schlechten Verbündeten.‘ Im englischen Volke, durchaus nicht etwa bei den Gelehrten oder den Regierungsvertretern, war Deutschenhaß unverkennbar.“ 348 Dennoch bezeichnete Rostovtzeff diese Historikerzusammenkunft aus wissenschaftlicher Perspektive als „gelungen“ 349 und „sehr bedeutsam“ 350. Deutschland habe eine Reihe „seiner herausragenden Vertreter […] Wilamowitz, Ed. Meyer, Lamprecht, Birke“ 351 entsandt. Gut seien Russland, Rumänien, Österreich sowie Ungarn auf dem Kongress prä346 Rostovtzeff, M.: Meždunarodnyj istoričeskij sʼʼezd v Londone [Der internationale historische Kongress in London], in: Reč vom 5.4.1913, 2. 347 Zur internationalen Politik dieser Zeit vgl. ausführlich Clark 2013, 338–434. 348 Wilamowitz-Moellendorff 1928, 312. 349 Rostovtzeff 1913. 350 Ebd. 351 Ebd.

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sentiert worden. Es gäbe auch viele „herausragende Engländer“ 352, deren „Kennenlernen eins der Hauptziele der zum Kongress eingereisten Ausländer war“ 353. Der Autor ging auf die inhaltliche Arbeit des Kongresses nicht ein, da es dafür keinen Platz „in dieser kurzen Notiz“ 354 gäbe. Über Rostovtzeffs Vorträge zu hellenistischen Hügelgräbern (Sektion VIII) sowie zu den ionischen und iranischen Einflüssen in Südrussland 355 (Sektion II) erfährt man aus anderen Berichten. 356 Positiv erwähnte er die gelungene Vorbereitung des Kongresses, die sich in vorausgehenden Gesprächen mit internationalen Wissenschaftlern, der strengen Einteilung der Referate in Sektionen und in den zuvor gedruckten Kurzzusammenfassungen der Berichte, die Diskussionen erleichterten, gezeigt hätte. Ausführlicher berichtete Rostovtzeff über „zwei andere Aufgaben des Kongresses: die Organisation der Kommunikation zwischen Kongressteilnehmern und die Erleichterung des Kennenlernens der wichtigsten wissenschaftlichen und künstlerischen Aufbewahrungsorte von London und dem übrigen England“. 357 Der russische Historiker war u. a. bei den Empfängen in Grafton Galleries, Cecil Hotel und Winsdor Castle anwesend. Er hatte mit anderen Delegierten die Möglichkeit, trotz „der von England durchlebten revolutionären Zeit“ 358 die Sammlungen in Hampton Court, in Häusern von Lord Landsdown und Herzog Wellington zu besichtigen. „Einen unvergesslichen Eindruck“ 359 hinterließ bei Rostovtzeff der Besuch von Lambeth Palace und Parlament. „Lehrreich“ 360 nannte er außerdem den Aufenthalt in Cambridge und Oxford. Darüber hinaus hatte Rostovtzeff die zweitägige Automobilreise durch die Grafschaft Somerset im Südwesten Englands unternommen und beschrieb daraufhin mit großer Begeisterung „die kultivierte Gemütlichkeit der englischen Gastfreundschaft“. 361 In London gehörte Russisch weiterhin nicht zu den offiziellen Sprachen des Kongresses. Obgleich diese Frage unter den russischen Delegierten weiterhin kontrovers dis352 353 354 355 356

357 358 359 360 361

Ebd. Ebd. Ebd. Dieser Bericht lag Rostovtzeffs Buch „Ėllinstvo i iranstvo na juge Rossii“ [Hellenen- und Iranentum im Südrussland] zugrunde, das kurz vor seiner Emigration 1918 in St. Petersburg veröffentlicht wurde. Vgl. z. B. Breton, A.C.: The international Congress of Historical Studies, in: American Anthropologist 15 (1913), 466; Rostovtzeff, M.: Voronežskij serebrjanyj sosud (c 5 tabl.) [Das Woronescher Silbergefäß (mit 5 Tab.)], in: Doklady, čitannye na Londonskom meždunarodnom kongresse istorikov v marte 1913 goda [Vorträge, die auf Londoner internationalem Historikerkongress im März 1913 vom Grafen A.A. Bobrinskij, E.M. Pridik, M.I. Rostovtzeff, B.V. Farmakovskij und Ė.R. von Štern gehalten wurden], St. Petersburg 1913, 79–93. Vgl. Rostovtzeff 1913. Gemeint ist die Bewegung der Suffragetten, die die Regierung Englands zu besonderen Vorsichtsmaßnahmen bewog (z. B. Schließung bestimmter öffentlicher sowie privater Ausstellungen). Vgl. dazu Schirmacher, K.: Die Suffragettes, Weimar 1912, 80–83. Ebd. Ebd. Ebd.

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kutiert wurde und auf der Tagesordnung der Konferenz stand, lässt Rostovtzeff diesen Punkt in seinem Bericht weg. 362 Insgesamt war dieses internationale Treffen für die russische Geschichtswissenschaft ein Erfolg. In der Sektion Archäologie fanden bspw. sogar zwei „Russian sessions“ 363 statt, die speziell den Forschungen auf dem Gebiet der klassischen Archäologie in Russland gewidmet worden waren. Dies wurde von dem Autor zum Schluss seines Aufsatzes besonders unterstrichen: „[…] Auf dem beendeten Kongress nahmen Russland und die russische Wissenschaft bei weitem nicht den letzten, sondern – ich sage – sogar einen der ersten Plätze ein. Abgesehen davon, dass unsere englischen Kollegen uns ihre volle Aufmerksamkeit schenkten, indem sie uns drei Plätze im Ehrenpräsidium des Kongresses (Gr.[af] Bobrinskij, Ak.[ademiker] Lappo-Danilevskij und ich) gaben; sie ließen uns an den Präsidien der Sektionen, am verwaltenden Komitee und an den auf allgemeinen Sitzungen gehalten Vorträgen beteiligen und es muss angemerkt werden, dass eine der zwei Reden, die im Namen des Kongresses auf dem Regierungsbankett gehalten wurde, dem russischen Vertreter (Gr. Bobrinskij) überlassen war, und dass die russischen Referate in allen Sektionen auf Ehrenplätzen figurierten. […] Ich muss betonen, dass die russischen Wissenschaftler die ihnen geschenkte Aufmerksamkeit durchaus verdienten und dass nur lobende Kritik über die von Russen gehaltenen Vorträge zu hören war.“ 364 Vor dem Hintergrund des „zweifellosen Triumphes der russischen Wissenschaft“ 365 in London war die Entscheidung logisch, den nächsten internationalen Historikerkongress im Jahr 1918 in Sankt Petersburg stattfinden zu lassen. 366 Die Vorbereitungen zum Petersburger Kongress wurden gleich im April 1913 begonnen und dauerten sogar bis Dezember 1914. In dieser Zeit wurde das spezielle Organisationskomitee gegründet, deren Aufgabe die Planung und Durchführung des IV. In-

362 Dabei wurde diese Frage bereits im Vorfeld des Londoner Kongresses unter russischen Historikern intensiv besprochen. Bekannt wurde z. B. das Schreiben des Professors N. Bubnov aus Kiew „Les Titres Scientifiques de la Langue Russe pour lʼAdmission de la Langue Russe dans les Congrès Historiques Internationaux“, in dem der Autor gegen den Ausschluss des Russischen aus den offiziellen Kongresssprachen protestierte. Es wurde sogar während des Kongress eine Kommission gebildet, die zu diesem Problem tagte. Es wurde entschieden, die Umsetzung und praktische Anwendung der russischen Sprache dem Organisationskomitee des darauffolgenden internationalen Kongresses zu übergeben. Rostovtzeff war auch Mitglied dieser Kommission. Vgl. Rostovtzeff 1913; Ardašev, P.: Tretij meždunarodnyj kongress istorikov v Londone, in: ŽMNP 10 (1913), 77– 88; Jameson, F.J.: The International Congress of Historical Studies, held at London, in: The Historical Review 4 (1913), 687f. 363 Rostovtzeff 1913. 364 Ebd. 365 Ebd. 366 Als ein möglicher Kongressort figurierte auch Athen. Vgl. Jameson 1913, 690.

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ternationalen Historikerkongresses war. 367 Michail Rostovtzeff war ein Mitglied dieses Komitees. Es fanden mehrere offizielle sowie halboffizielle Sitzungen statt, auf deren verschiedene Organisationsfragen, wie der genaue Termin des Kongresses, die Zahl der Sektionen, Mitgliedsbeitrag, Exkursionen für Kongressteilnehmer und sogar EisenbahnErmäßigungen diskutiert wurden. 368 Gewiss stand die Frage des Russischen als Kongresssprache im Mittelpunkt dieser Diskussionen. Schließlich kamen zwei Vorschläge zur Abstimmung: Der erste Vorschlag stammte vom Kiewer Professor N. Bubnov, dem Autor des auf Londoner Kongress verteilten Protestschreibens „Les Titres Scientifiques de la Langue Russe pour lʼAdmission de la Langue Russe dans les Congrès Historiques Internationaux“. Er forderte, dass Russisch als die fünfte Kongresssprache bereits auf dem IV. Historikertreffen in St. Petersburg anerkannt wird. Der Autor des zweiten Vorschlages, Michail Rostovtzeff, wollte die Entscheidung über diese Frage erst dem V. Historikerkongress überlassen. Die Mehrheit der Stimmen (19 gegen 17) unterstützte jedoch Bubnovs Entwurf. 369 Zusammen mit dem Vorsitzenden des Organisationskomitees, dem Akademiker Alexander Lappo-Danilevskij 370, sollte Rostovtzeff außerdem eine Stellungnahme zur Gründung eines ständigen Büros der Historikerkongresse vorbereiten und auf dem geplanten Kongress zur Diskussion stellen. 371 Die Tatsache, dass russische Wissenschaftler relativ früh den geplanten Kongress vorzubereiten begannen, ist vor allem angesichts des wachsenden Ansehens der russischen Gelehrten in der europäischen Wissenschaftswelt und deren Streben nach mehr interna-

367 An den dreitägigen Besprechungen des Vorbereitungskomitees nahmen im Dezember 1913 in St. Peterburg ca. 100 Vertreter der 45 Bildungseinrichtungen Russlands teil. Vgl. Berichte über die Vorbereitungen für den internationalen Historikerkongress in St. Peterburg, in: Reč 17.12.– 21.12.1913; Zonova, N.: Rossijskie istoriki na meždunarodnych kongressach istoričeskich nauk načala XX veka [Russische Historiker auf internationalen Kongressen der historischen Wissenschaftler am Anfang des 20. Jahrhunderts], Nižnij Novgorod 2004, 95–153. 368 Es war geplant, dass der Kongress im August 1918 stattfindet und Vorträge über sieben Sektionen verteilt werden. Der Mitgliedsbeitrag sollte 10 Rubel bzw. 25 Francs, 20 Marken oder 20 Schillinge betragen. Es wurden Exkursionen u. a. nach Moskau, Kiew, Nowgorod, Vilnius, Warschau und zum Schwarzen Meer, um Altertümer Südrusslands zu präsentieren, geplant. Zudem sollten kurze Reiseführer gedruckt werden. Vgl. ebd. 369 Vgl. ebd., 132. 370 Der Akademiker Aleksander Lappo-Danilevskij (1863–1919) war ein bekannter Spezialist für die russische Geschichte im 15.–18. Jahrhundert und Autor spezieller Arbeiten zur Methodologie der Geschichte und zur Quellenkunde. Vgl. dazu Presnjakov, A.: Aleksandr Sergeevič Lappo-Danilevskij, Petrograd 1922; Rostovcev, E.: A.S. Lappo-Danilevskij i peterburgskaja istoričeskaja škola [A.S. Lappo-Danilevskij und Petersburger Historische Schule], Rjazanʼ 2004; Beiträge zum 150. Geburtstag von A. Lappo-Danilevskij, in: Klio 12 (2003). 371 Dieser Vorschlag wurde erst mit der Gründung des Internationalen Komitees für Historische Wissenschaften 1926 realisiert. Vgl. Comité international des sciences historique – Homepage unter: http://www.cish.org/ (letzter Abruf am 2.3.2015); Erdmann 1987, 137­–163.

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tionaler Anerkennung durchaus nachvollziehbar. Erstaunlich ist dabei jedoch, dass diese Vorbereitungen nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges fortgesetzt wurden. 372 Rostovtzeffs Teilnahme an internationalen Kongressen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 373 zeigt seine Entwicklung als Historiker sowie seine allmähliche Integration in die internationale Gemeinschaft der Altertumswissenschaftler. In den 1910er Jahren entwickelte sich seine internationale wissenschaftliche Karriere rasch. Vor allem im deutschsprachigen Wissenschaftsraum war Rostovtzeff ein anerkannter Großmeister, was der deutsche Archäologe A. Schiff bereits 1911 schriftlich bestätigte: „Im Stillen hatte ich immer gehofft, dass Sie, [weil] Sie zur Zeit in der ersten Reihe der Altertumsforscher stehen, einmal ganz zu uns kommen, d. h. als Professor an eine deutsche Universität berufen werden würden. Die Eigenart, mit der Sie Archäologie und Geschichte, Kunstgeschichtliches und Antiquarisches miteinander verbinden und zu einer höheren Einheit verschmelzen, stellt Sie ja nicht nur als Forscher auch als Lehrer zu der kleinen Gruppe der ‚Pfadfinder‘. Auch von anderen habe ich schon aehnliche Gedanken aussprechen hören. Bis jetzt ist aber, soviel ich weiss, noch niemals ein Ruf an Sie ergangen. Vielleicht ist es auch gar nicht Ihr Wunsch, ausserhalb Ihres russischen Vaterlandes zu wirken.“ 374 Zum Höhepunkt der Beziehungen zwischen Rostovtzeff und deutschen Historikern wurde die Wahl des 44-jährigen Russen zum korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Obwohl Rostovtzeffs Forschungen schon längst den breiten Kreisen der deutschen Historiker bekannt waren, wurde sein Werk „Antike dekorative Malerei im Süden Rußlands“ zum direkten Anlass für den Wahlvorschlag seiner Mitgliedschaft an der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 375 372 Noch am 3. Dezember 1914 wurde z. B. die Rechnung für den Druck der Broschüren für den Kongress in St. Petersburg ausgestellt. Vgl. ebd., 148ff. 373 Rostovtzeff nahm dann erst im April 1923 am V. internationalen Historikerkongress in Brüssel teil. Auch im August 1928 war er beim darauffolgenden Historikerkongress in Oslo dabei. Dort sorgte der emigrierte Althistoriker für Aufsehen, nachdem er im Interview für eine norwegische Zeitung die Teilnahme der sowjetischen Wissenschaftler an der Konferenz und vor allem die Wahl des sowjetischen Historikers M. Pokrovskij in das Präsidium des Kongresses scharf kritisiert hatte. Vgl. Professor Rostovtzeff om bolsjevikenes deltagelse i historiker-kongressen, in: Aftenposten vom 15.8.1928; Professor Pokrovskij uttaler sig til ‚Aftenposten‘, in: Ebd. vom 17.8.1928; Erdmann 1987, 180 ff; Bongard-Levin 1997, 99ff; Minc, I.: Marksisty na istoričeskoj nedele v Berline i VI Meždunarodnom kongresse istorikov v Norvegii [Marxisten bei der historischen Woche in Berlin und auf dem IV. Internationalen Historikerkongress in Norwegen], in: Istorik-Marksist 9 (1928), 90–96. 374 Brief A. Schiffs an M. Rostovtzeff vom 18.10.1911, in: RGIA 1041/1/133. 375 Der erste und einzige Band des Buches „Antike dekorative Malerei im Süden Russlands“ wurde 1914 in St. Petersburg herausgegeben. Ein Jahr zuvor erschien der Bildatlas mit 112 Tabellen. Die prachtvollen großformatigen Bände widmete Rostovtzeff seinem Lehrer Kondakov. Vgl. Rostovtzeff 1913/14. Wilamowitz-Moellendorff referierte über dieses Werk bei einer Sitzung der philologisch-historischen Klasse der Berliner Akademie der Wissenschaften am 16.4.1914. Vgl.

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Der russische Althistoriker in der westeuropäischen Wissenschaftswelt

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Die Sprache des Buches, das in Rostovtzeffs Muttersprache erschienen war, hinderte die Vertreter der deutschen Altertumswissenschaft in keiner Weise, Rostovtzeff in ihren Kreis aufzunehmen. So wollte Wilamowitz-Moellendorff seine älteste Tochter, eine Slawistin, das Werk aus dem Russischen übersetzen lassen. 376 Ed. Meyer konnte „leider an dem russischen Text nichts ausrichten“ 377, er wollte sich jedoch unbedingt den Atlas ansehen: „Die Abbildungen werde ich doch benutzen können, und sie zu besitzen wird mir hochwillkommen sein!“. 378 Ähnliche Dankbriefe in großer Zahl empfing Rostovtzeff von Emanuel Löwy, Paul Wolters, Walter Amelung und anderen Kollegen aus Westeuropa. 379 Am 18. Juni sandten Meyer, Wilamowitz-Moellendorff, Diels, Hirschfeld und Löschke dem russischen Kollegen eine Glückwunschkarte anlässlich seiner Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bereits vier Tage später kam Rostovtzeffs Antwort, die deutlich zeigt, welche große Rolle die deutschen Lehrer in seinem Leben spielten: „Die grosse und schlecht verdiente Ehre, welche mir zu Teil geworden ist, ist nur zum Teile schuld daran. Tief gerührt haben mich die Unterschriften auf dieser Karte, die Unterschriften derer, zu welchen ich immer emporblickte und welche mir immer als unerreichbare Vorbilder vorleuchteten. Sie wissen, ich bin nicht ein Mann der Phrase, was ich sage, das empfinde ich. Der Gedanke, dass die Männer mich vorgeschlagen und gewählt haben, macht mich stolz. […] Und was ich meinen Kollegen versprechen kann, ist einzig und allein, dass ich Ihnen auch weiter nachstreben werde.“ 380 Im Sommer 1914 reiste Rostovtzeff nach Berlin für die feierliche Überreichung des Mitgliedsdiploms. Das war aber nicht das einzige Anliegen seiner Reise. Es ging um ein internationales Projekt, in dem Rostovtzeff eine Gruppe russischer Autoren vertreten sollte. Seinen letzten Aufenthalt in Deutschland beschrieb Rostovtzeff wie folgt: „I see myself in Berlin in the summer of 1914, on the eve of the great war. I came to Germany after some months of hard work in Petersburg to see some of my German friends and to discuss with them the project of an economic history of the world. Quietly we went over all the features of the proposed work, and after discussion signed a contract with the publishers. To my great surprise I found in the contract an odd clause, ‚this contract to be suspended in the case of war for the duration of

376 377 378 379 380

Gavrilov, A.: Drei Briefe von Ulrich Wilamowitz-Moellendorff an Michail I. Rostovtzeff aus dem Jahre 1914, in: Philologus 134/2 (1990), 243. Brief U. von Wilamowitz-Moellendorffs an M. Rostovtzeff vom 8.1.1914, in: Gavrilov 1990, 241f. Brief Ed. Meyers an M. Rostovtzeff vom 8.2.1914, in: Funck 1992, 467f. Ebd. Die Briefe E. Löwys vom 31.5.1914, P. Woltersʼ vom 2.4.1914 und W. Amelungs vom 2.6.1914 befinden sich im RGIA St. Petersburg 1041/1/130, 128, 127. Brief M. Rostovtzeffs an Ed. Meyer vom 22.6.1914, in: Funck, B.: Michael Rostovtzeff und die Berliner Akademie, in: Klio 74 (1992), 471f.

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Rostovtzeff vor dem Ersten Weltkrieg

the war.‘ Surprised at the clause I looked at my colleagues and got the answer, ‚don’t you worry; it is a clause which is regular in all contracts now signed in Germany.‘ It sounded alarming, but still more alarming was the fact that when I left the meeting I found the streets covered with white sheets of printed paper, as if it were a snowy winter day. It was the Serbia ultimatum. The same evening in a big restaurant of Berlin I saw the German officers in high uniform, drinking champagne, shouting and singing Wacht am Rhein and Deutschland, Deutschland über alles.“ 381 Am 1. August 1914 erfolgte die Kriegserklärung Deutschlands an Russland. Damit waren nicht nur die Reisen Rostovtzeffs nach Deutschland vorerst beendet, sondern auch seine Beziehungen zu den deutschsprachigen Kollegen für viele Jahre unterbrochen. 382 Danach begann eine neue Etappe im Leben des russischen Althistorikers, in der die wissenschaftliche Verbindung zu Deutschland keine entscheidende Rolle mehr spielte.

381 Rostovtzeff, M.: Adventures of a College Professor 1930er, 2f. 382 Das kann man dank der Datierung des Briefwechsels Rostovtzeffs mit deutschsprachigen Gelehrten verfolgen. Eine Lücke im schriftlichen Austausch ist gut erkennbar. Dementsprechend gab es bspw. von 1910 bis 1929 keinen Briefwechsel zwischen Rostovtzeff und U. Wilcken. Der Briefwechsel mit Th. Wiegand brach ebenfalls 1910 ab und begann erst 1926 wieder. Der letzte Brief von Wilamowitz-Moellendorff vor dem Krieg stammt aus dem Jahr 1914. Danach sendete der deutsche Altphilologe Briefe an seinen russischen Kollegen nach Amerika. Vgl. Kreucher 2005; Gavrilov 1990; Funck 1992; Calder III, W.M.: The later Letters of Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff to Michael I. Rostovzev, in: Philologus 134/2 (1990), 248–253.

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3. Der Erste Weltkrieg Im Jahr 2014, 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, erschienen zahlreiche Untersuchungen zu vielen Aspekten dieses Ereignisses, u. a. auch zur weltweiten Beteiligung der Wissenschaftler am Krieg. In Russland versuchten Historiker den Ersten Weltkrieg, der lange Zeit im Schatten der beiden Revolutionen von 1917 sowie des Zweiten Weltkrieges blieb, zu überdenken. 1 In Deutschland wurden bestimmte Fragestellungen vertieft und ergänzt. So wurde bspw. die Untersuchung Ungern-Sternbergs zum Manifest der 93 in der zweiten Auflage durch einen Beitrag über die Reaktionen im Zarenreich ergänzt. 2 Der Krieg von 1914–1919, der erst später als der Erste Weltkrieg und noch später als die „Urkatastrophe“ 3 des 20. Jahrhunderts bezeichnet wurde, war für die Zeitgenossen der katastrophale Krieg schlechthin. Dieser Krieg war durch ein zuvor unbekanntes und erschreckendes Ausmaß an Gewalt und Opferzahlen sowie durch die totale Mobilisierung aller Ressourcen gekennzeichnet. Im Deutschen Reich herrschte zu Beginn des Krieges eine große Zustimmung der bürgerlichen Schichten, der Intellektuellen und auch der Arbeiterschaft zur Politik der Regierung in einem „aufgezwungenen Verteidigungskrieg“. 4 Die nationale Euphorie wurde von Medien, Schulen, Universitäten und sogar der Kirche verstärkt. In der Situation des proklamierten Burgfriedens stimmten deutsche Parteien und selbst die Sozialdemokraten den Kriegskrediten zu. Von der Idee der nationalen Einheit wurde auch das Russische Reich mitgerissen. Die Teilnahme Russlands an einem europäischen Krieg wurde mit einigen Ausnahmen 5 vom Großteil der Bevölkerung befürwortet. Die Politiker sahen darin eine Möglichkeit, die bedrohliche revolutionäre Stimmung in der Gesellschaft zu

1 Vgl. z. B. Belousov, L./Manykin, A. (Hg.): Pervaja mirovaka vojna i sudʼby evropejskoj zivilizacii [Der Erste Weltkrieg und Schicksale der europäischen Zivilisation], Moskau 2014; Žuravlev, V./ Repnikov, A./Šelochaev, V. (Hg.): Pervaka mirovaja vojna [Der Erste Weltkrieg], Bd. 1–4, Moskau 2014. 2 Vgl. Maurer, T.: Der Krieg der Professoren. Russische Antwort auf den deutschen Aufruf An die Kulturwelt, in: Ungern-Sternberg, J./Ungern-Sternberg, W. (Hg.): Der Aufruf ,An die Kulturwelt!‘ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2013, 163–201. 3 Kennan, G.F.: The Decline of Bismarckʼs European Order. Franco-Russian Realtions, 1875–1890, Princeton 1979, 3; Schulin, E.: Die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Michalka, W. (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, Müchen 1994, 3–27. 4 Vgl. Mommsen, W.: Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt am Main 2004, 39ff. 5 Die Bolschewiki gaben bei der Sitzung der IV. Reichsduma (1912–1917) am 8. August 1914 eine Erklärung gegen den Krieg ab und boykottierten die Abstimmung über die Kriegskredite. Vgl. Schramm 1981, 481f.

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Der Erste Weltkrieg

unterdrücken. 6 Der patriotische Enthusiasmus des liberalen Bürgertums beruhte auf der Vorstellung, an der Seite der westlichen Demokratien gegen das wilhelminische Deutschland und für die Befreiung der slawischen Völker auf dem Balkan zu kämpfen. Auch die Kadettenpartei schloss sich den patriotischen Stimmen an. Dabei sah die Stimmung der Kadetten am Vorabend des Krieges und bei seinem Ausbruch anders aus. In der Parteizeitung „Reč“ forderte Miljukov die Lokalisierung des österreichischserbischen Konflikts und die Nichteinmischung Russlands in den Krieg. Schon einen Tag nach dem Kriegsbeginn wurde „Reč“ für zwei Tage verboten. 7 Die Verpflichtungen gegenüber den Alliierten, die Möglichkeit innerer Reformen und einer Erweiterung des Einflusses Russlands auf dem Balkan und im Nahen Osten waren die Auslöser für die Kursänderung der Kadetten. 8 Bald wuchs der Krieg über die traditionellen Militär- und Politikfelder hinaus und nahm eine neue Dimension in den internationalen Auseinandersetzungen an. Die nationalistischen Gedanken, die im Ersten Weltkrieg eine wachsende Verbreitung fanden, beeinflussten sogar diejenigen, die gewohnt waren, die Fakten kritisch zu betrachten und die Wahrheit nüchtern zu sehen: die Wissenschaftler. Aus diesem Grund wurde der Krieg von vornherein zu einem „Krieg der Geister“. 9 Der Erste Weltkrieg bedeutete das Ende der internationalen Gelehrtengemeinschaft. Die Mehrheit der Intellektuellen aller kriegführenden Länder stellte sich in den Dienst ihrer Nationen. Die Universitäten wurden zu Kriegsschauplätzen und die Professoren zu Soldaten mit der Feder. Es lassen sich verschiedene Tendenzen in den Stellungnahmen der russischen Professoren zum Ersten Weltkrieg erkennen. In der zweiten Jahreshälfte 1914 sind Bestürzung, Ratlosigkeit, Wut, aber auch bereits erste Reaktionen auf die deutsche Kriegspublizistik im russischen akademischen Milieu festzustellen. 1915 wurde dann der Höhepunkt der schriftlichen Auseinandersetzungen mit deutschen Gelehrten sowie der antideutschen Propaganda in Russland erreicht. Der Prozess der Distanzierung von den deutschen Bil6 Im Juni 1914 betrug die Zahl der Streikenden mehr als 1,5 Millionen. Sechs Wochen vor Kriegsbeginn wurde das Militär aufgrund der Barrikadenkämpfe in Petersburg konzentriert. Vgl. Gitermann, V: Geschichte Russlands, Bd. 3, Zürich 1949, 463. 7 Die Gründe für eine solch „unpatriotische“ Haltung kann man u. a. in der führenden Rolle der Kadetten in internationalen Friedensorganisationen finden. Während Rostovtzeff sich 1908 beim III. Historikerkongress in Berlin aufhielt, nahm Miljukov an der Konferenz der Interparlamentarischen Union teil. Die Interparlamentarische Union (IPU) wurde 1889 als eine internationale Vereinigung von Parlamenten zum Zweck der Sicherung des Weltfriedens gegründet. Die russischen Intellektuellen nutzten die Möglichkeit, mit der IPU Kontakte zu knüpfen, und beteiligten sich an verschiedenen Friedenskonferenzen der IPU. Die russischen Zweige der Friedensorganisation wurden 1909 in Moskau und St. Petersburg ins Leben gerufen. Vgl. Uhlig, R.: Die Interparlamentarische Union 1889–1914. Friedenssicherungsbemühungen im Zeitalter des Imperialismus, Wiesbaden 1988, 226ff. 8 P. Miljukov war für seine Pläne zur Kontrolle der türkischen Meerengen und Konstantinopels bekannt. Dafür bekam er den Spitznamen „Miljukov-Dardanellen“. Der Devise „Krieg bis zum Sieg“ blieben er und seine Anhänger bis zum Ende des Ersten Weltkrieges treu. Vgl. Dumova 1988, 12–19. 9 Vgl. Kellermann, H.: Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914, Dresden 1915.

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Rostovtzeffs Beteiligung am „Krieg der Geister“

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dungstraditionen und die starke Abneigung gegen alles Deutsche schritten zügig voran. In den Jahren 1916­–1917 traten praktische Überlegungen zur Stärkung der wissenschaftlichen Kontakte zu den Alliierten und zur Neuorientierung der russischen Wissenschaft an die Stelle von blinden patriotischen Parolen. Im Verlaufe des Revolutionsjahres 1917 forderte schließlich die innenpolitische Krise die volle Aufmerksamkeit der russischen intellektuellen Schicht. 10 Im Folgenden wird ein Versuch unternommen, Rostovtzeffs wissenschaftliche, soziale und politische Aktivitäten während des Ersten Weltkrieges anhand seiner politischen Publizistik sowie seiner praktischen Tätigkeit zu rekonstruieren.

3.1

Rostovtzeffs Beteiligung am „Krieg der Geister“

Rostovtzeff begann seine „Adventures“ 11 mit der Beschreibung des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges. Dies und die darauffolgenden Ausführungen weisen auf den Charakter dieser „adventures“ hin. Das waren für den Althistoriker keine Ereignisse im positiven Sinne, sondern vielmehr eine Reihe der tragischen Begebenheiten, die in der Katastrophe von 1917 endeten und zur seiner Emigration führten. Bemerkenswert ist, wie Rostovtzeff die zwei Seiten, die er seinen Erinnerungen an diesen Krieg widmete, füllte. Den größten Teil nimmt die bereits aufgeführte Beschreibung seines Berliner Aufenthalts im Sommer 1914 ein, daraufhin folgt eine ausführliche Erzählung über seine Abreise aus Deutschland und anschließend kurze Beschreibung seiner Aktivitäten in Russland während des Krieges. Solche Aufteilung unterstreicht, welche Bedeutung das Jahr 1914 im Leben von Michail Rostovtzeff hatte: Es stellt den ersten tiefgreifenden Bruch in seinem Leben dar. Bereits am 9. August 1914 kam der erste Zug mit russischen Untertanen, die sich am Tag der Kriegserklärung in Deutschland aufgehalten hatten, in St. Petersburg an. Die Augenzeugen berichteten über Strapazen und Demütigungen, die sie auf dem Heimweg von Deutschen erleiden mussten. 12 Rostovtzeff hinterließ auch detaillierte Erinnerungen über seine Rückkehr aus Berlin, obgleich er nicht von Erniedrigungen sprach. In einem Brief an Ed. Meyer vom 9. Juni verrät Rostovtzeff seine Pläne für den Sommer 1914. 13 Er wollte Ende Juli–Anfang August über Berlin nach Hamburg reisen, wo seine Frau eine Kur machen musste. Diese Pläne konnte er jedoch nicht realisieren. Nachdem Rostovtzeff am 23. Juli, dem Tag des Ultimatums an Serbien, Berlin verlassen hatte, reiste er über Homburg nach Paris.

10 Vgl. Rostovcev, E./Sidorčuk, I.: Akademičeskij patriotizm: propagandistskie teksty prepodavatelej rossijskoj vysšej školy v gody pervoj mirovoj vojny [Akademischer Patriotismus: propagandistische Texte der russischen Hochschullehrer während des Ersten Weltkrieges], in: VIET 3 (2014), 20. 11 Vgl. Rostovtzeffs „Adventures of a College Professor“ aus den 1930er Jahren. 12 Vgl. Reč vom 27.7.1914, 5. 13 Vgl. Brief M. Rostovtzeffs an Ed. Meyer vom 9.6.1914, in: Funck 1992, 471f.

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„Nobody thought here that war was so near“, erinnerte sich der Althistoriker. Am Tag der Mobilmachung war er trotz der auf dem Bahnhof herrschenden aufgeregten Menschenmasse entschlossen, nach Kopenhagen zu fahren. Da er jedoch am nächsten Morgen den Anschlusszug in Berlin verpasst hatte, blieb er einen Tag lang in der deutschen Hauptstadt. Am 2. August 1914 blickte Rostovtzeff zum letzten Mal als ein russischer Untertan auf diese Stadt: „Less anxiety, more excitement, some enthusiasm. The car of Kaiser Wilhelm running through the streets, sounding its Wagnerian horn. With great difficulties I took the right train. Warnemünde – the German frontier. Our train stops. Announcement; Danger of War, the train remains in Germany (in fact, the war was already declared). Sigh of relief; the Danish ferry was there ready to take us to Denmark. Long, exciting, tiresome journey. Finally we are in Petersburg, and the fervor of war with all its hopes, excitements, disappointments, illusions, and disillusions begins.“ 14

3.1.1 Von Kollegen zu Feinden: Auseinandersetzungen mit deutschen Gelehrten Die Liste der ermittelten Aufsätze von Michail Rostovtzeff weist eine Lücke zwischen April 1913 bzw. Januar 1914 15 und Oktober 1915 auf. Der Althistoriker ließ sich eine Pause von mehr als einem Jahr, um das Geschehene zu verarbeiten und seine Position zu formulieren. Im Juni 1915 taucht sein Name auf den Seiten der kadettischen Zeitung wieder auf. Dabei behandelte Rostovtzeff in seinem Aufsatz ein kriegfernes Thema, nämlich das Projekt eines neuen Universitätsstatuts. 16 Erst ab Oktober 1915 lassen sich Aussagen Rostovtzeffs zu den Ursachen, dem Verlauf sowie zu der Frage der Schuldigen im Ersten Weltkrieg feststellen. Versucht man sich in Rostovtzeffs Lage zu versetzen, wird deutlich, was für ein Schock der Kriegsausbruch und die darauffolgende Kriegspropaganda der deutschen Wissenschaftler für den Althistoriker sein musste. Es waren nur wenige Tage, die Rostovtzeffs Wissenschaftsleben auf den Kopf stellten: Der 44-jährige reiste nach Deutschland als ein international anerkannter Wissenschaftler und ein neu gewähltes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, um die Zusammenarbeit mit seinen deutschen Freunden fortzusetzten und zu erweitern. Er verließ Deutschland als Untertan eines feindlichen Landes. 14 Vgl. Rostovtzeff 1930er, 3. 15 Vgl. Rostovtzeffs Aufsätze „Der internationale Historikerkongress in London“ (Reč vom 5.4.1913, 2) und „Thadeus Francevič Zelinskij“ (Novyj enciklopedičeskij slovarʼ Brockhausa-Efrona 18 (1914), 900–902; Germes 3 (1914), 81–83; Reč vom 24.1.1914, 3. 16 Vgl. Rostovtzeff, M.: Projekt novogo eniversitetskogo ustava [Projekt eines neuen Universitätsstatuts], in: Reč vom 5.6.1915, 1f.

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Rostovtzeffs Beteiligung am „Krieg der Geister“

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3.1.1.1 1914: Die ersten Reaktionen russischer Wissenschaftler Aus der großen Anzahl der Gedichte, Artikel und Manifeste, mit denen die Intellektuellen aller Länder ihren Dienst erwiesen, blieb der Aufruf der deutschen Gelehrten und Schriftsteller „An die Kulturwelt!“ in Erinnerung als ein erster Schuss im „Krieg der Geister“. Das war die Reaktion der deutschen Intellektuellen auf die in den alliierten und neutralen Ländern steigende Empörung über die kulturellen Greueltaten der Deutschen im Krieg, vor allem über die Zerstörung der Bibliothek von Löwen und der Kathedrale von Reims. 17 Der Aufruf wurde von 93 Vertretern des deutschen Geisteslebens unterzeichnet und zwischen dem 1. und 4. Oktober 1914 in der Presse veröffentlicht. Mit einem sechsfachen „es ist nicht wahr“ protestierten die Autoren gegen die Vorwürfe der Kriegsschuld Deutschlands und betrachteten diesen Krieg als einen Krieg gegen die deutsche Kultur. 18 Die prominenten Unterzeichner, darunter U. von Wilamowitz-Moellendorff und Ed. Meyer, sollten dieser Schrift eine besondere Glaubwürdigkeit schenken. Es folgte eine heftige Reaktion auf den deutschen Aufruf: Eine riesige Publikationswelle überschwemmte die Presseorgane aller am Krieg beteiligten Staaten. In Russland wurde bereits am 9. Oktober 1914 über den deutschen Aufruf berichtet. Vor allem die Passagen über die „von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder“ 19 und über Engländer und Franzosen, die sich „als Verteidiger der europäischen Zivilisation gebärdeten und mit Russen und Serbien verbündet“ 20 hätten, wurden in der intellektuellen Welt Russlands als äußerst beleidigend und kränkend empfunden. Zwei Tage später reagierten Schriftsteller, Künstler und Schauspieler, wie etwa Maksim Gor’kij und Ivan Bunin, in der in Moskau herausgegebenen liberalen Zeitung „Russkie Vedomosti“ mit einer Mitteilung an ihre „Heimat und an die ganze zivilisierte Welt“. 21 Unter den Unterzeichnern waren auch Namen von Gelehrten zu finden. Diesen Aufruf unterschrieben insgesamt sieben Professoren, drei davon waren Mitglieder der Kadettenpartei: der Spezialist für russische Geschichte A. Kizevetter an der Universität in Moskau und zwei Professoren der hauptstädtischen Universität, der Politökonom P. Struve und der Althistoriker M. Rostovtzeff. Bemerkenswert an diesem Text war nicht etwa die Feststellung der Kriegsschuld Deutschlands und dessen Grausamkeit, sondern die Warnung im Schlussteil des Aufrufs. Der von Deutschland geworfene „Samen des nationalen Hochmuts und Hasses“ 22 könnte die Brutalisierung „wie eine Flamme“ 23 unter anderen Völkern verbreiten. Dies 17 Vgl. dazu ausführlicher Horne, J./Kramer, A.: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004, 65–72, 411–420. 18 Der Text des Aufrufs und eine detaillierte Untersuchung siehe Ungern-Sternberg 2013. 19 Ebd., 210. 20 Ebd. 21 Ot pisatelej, chudožnikov i artistov [Von Schriftstellern, Künstlern und Schauspielern], in: Russkie vedomosti vom 28.9.1914, 6. 22 Ebd. 23 Ebd.

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würde zur Forderung führen, sich „von allem Großen und Schönen, das vom deutschen Genius zur Freude und als Gut der ganzen Menschheit geschaffen worden ist“ 24, loszusagen. Solche Wege könnten jedoch zum Verhängnis führen. Mit dem angefangenen Krieg hätte sich Deutschland durch „die schwarze Sünde befleckt“ 25, was eine „unausweichliche Folge der Finsternis“ 26 sei. Diese Finsternis hätte Deutschland – „sogar von seinen Dichtern, Gelehrten, Führern“ 27 unterstützt – freiwillig zugelassen. Am 2. November setzte sich P. Miljukov in der Zeitung „Reč“ mit dem deutschen Aufruf auseinander. 28 Seit der zweiten Novemberhälfte erschienen schließlich mehrere Stellungnahmen der russischen Gelehrten, u. a. ein „Protest der Universität“ Petrograd, der in anderen Hochschulen des Zarenreichs verbreitet wurde und zum Anfang Januar 1915 ca. 350 Unterschriften zählte. 29 Alle diese Texte stellten eine unmittelbare Reaktion auf den fortschreitenden Krieg dar. 30 Auch wenn die Meinungen zur Kriegsschuldfrage übereinstimmten, waren sie in Bezug auf die Beweggründe der deutschen Gelehrten für ihre chauvinistischen Erklärungen verschieden. Im Chor zahlreicher empörter Stimmen der russischen Gelehrtenwelt war die Vorstellung von den durch den Staat in eine Hypnose versetzten, verblendeten oder betrogenen deutschen Wissenschaftlern weit verbreitet. 31 Die russischen Professoren konnten und wollten einfach nicht glauben, dass ihre Kollegen und Freunde aus Deutschland zu solchen Äußerungen in der Lage wären. Sicherlich war dies auch Rostovtzeffs erster Gedanke, der ihn zum Unterschreiben des Moskauer Aufrufs veranlasste. Der Althistoriker wusste wie kein anderer alles, „das vom deutschen Genius zur Freude und als Gut der ganzen Menschheit geschaffen worden ist“ 32 zu schätzen. Gleichzeitig gab es Stimmen, die eine Abkehr von feindlichen Einflüssen forderten. So wurde bereits zweieinhalb Wochen nach dem Kriegsbeginn der 24 25 26 27 28 29

30

31 32

Ebd.; Maurer 2013, 171. Ot pisatelej, chudožnikov i artistov 1914, 6. Ebd. Ebd. Vgl. Miljukov, P.: Germanskaja intelligencija i vojna [Die deutsche intelligencija und der Krieg], in: Reč vom 20.10.1914, 3. Vgl. Protest predstavitelej russkoj nauki protiv nepravomernogo vedenija vojny Germaniej i AvstroVengriej [Protest der Vertreter der russischen Wissenschaft gegen die unrechtmäßige Kriegführung Deutschlands und Österreich-Ungarns], in: Novoe vremja vom 21.11.1914, 3; Protest predstavitelej nauki [Protest von Vertretern der Wissenschaft], in: Russkoe slovo vom 21.11.1914, 5; Protest učenych [Protest der Wissenschaftler], in: Birževye vedomosti vom 21.11.1914, 4; Protest professorov [Protest der Professoren], in: Denʼ vom 21.11.1914, 4; Protest universiteta [Protest der Universität], in: Novoe vremja vom 24.11.1914, 4 und in: Vestnik Evropy 12 (1914), 376ff. Ende August–Anfang September 1914 erlitt Russland schwere Niederlagen gegen die deutsche Armee bei Tannenberg und an den Masurischen Seen in Ostpreußen. Gleichzeitig konnte die russische Armee einige militärische Erfolge gegen die österreichisch-ungarischen Truppen in Galizien erzielen: Am 2. September 1914 eroberten sie Lemberg. Vgl. dazu Hirschfeld, G./Krumeich, G./ Renz, I. (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, 89f.; Leonhard, J.: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges, München 2014, 183–186. Vgl. Maurer 2013, 179–184. Ot pisatelej, chudožnikov i artistov 1914, 6.

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Rostovtzeffs Beteiligung am „Krieg der Geister“

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zu deutsch klingende Name von Rostovtzeffs Heimatstadt „St. Petersburg“ in „Petrograd“ geändert. Am 24. November beschloss der Rat der Petrograder Universität, dessen Mitglied auch Rostovtzeff war, die Ehrenmitgliedschaft dieser Hochschule dem Unterschreiber des deutschen Aufrufs, Franz von Liszt, Professor der Jurisprudenz in Berlin, zu entziehen. 33 Im Jahre 1915 erschien in Deutschland der Sammelband „Krieg der Geister“, der die Reaktionen auf den deutschen Aufruf zusammenstellte. 34 Die russischen Äußerungen umfassten nicht mehr als eine Seite in diesem 480-seitigen Buch. Im Vergleich zu anderen Ländern konnte dieser Tatbestand mit dem begrenzten Wissen über die russische Presse erklärt werden. Der Autor begründete dies durch „die hermetische Abgeschlossenheit, die Russlands geistige Welt des Krieges vom übrigen Europa trennt[e]“. 35 Erwähnt wurden u. a. die Pläne des russischen Ministeriums für Volksaufklärung über den Ausschluss „aller deutschen und österreichischen Gelehrten und Künstler“ 36 aus russischen Wissenschaftsinstitutionen. Dieser Vorschlag stieß jedoch auf den Widerstand der russischen Gelehrtenwelt: „Der Rektor der Petersburger Universität, Grimm, und viele andere Petersburger Professoren lehnten sich gegen die geplante russische Regierungsmaßregel auf“. 37 Trotz aller Versuche der russischen Regierung wurden keine radikalen Maßnahmen gegen die deutschen Gelehrten ergriffen. 38 Im Unterschied zu Frankreich, wo bspw. U. von Wilamowitz-Moellendorff durch das Dekret des Präsidenten der Französischen Republik aus der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres ausgeschlossen wurde 39, blieb seine Mitgliedschaft in der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Petersburg beinahe unangreifbar. 40 Obwohl 1915 die Petersburger Akademie der Wissenschaften unter dem Druck der Regierung und der Öffentlichkeit die Unterzeichner des Aufrufs der 93 und 1916 schließlich alle deutschen und österreichischen Mitglieder offiziell ausschloss, blieb dies den Betroffenen völlig unbekannt. Daher wurden sie weiterhin als vollwertige Mitglieder betrachtet. Auch die Berliner Akademie – trotz des Widerstands etwa von U. 33 Im Protokoll wird die Diskussion bezüglich dieser Ausschließung erwähnt. Die Mehrheit der Professoren sollte für die Ausschließung abstimmen. Es ist bekannt, dass z. B. A. Šachmatov gegen diese Entscheidung war. Leider ist Rostovtzeffs Meinung dazu nicht überliefert. Vgl. Protokol zasedanija soveta Imperatorskogo Petrogradskogo universitäta vom 24.11.1914, in: Protokoly zasedanija soveta Imperatorskogo Petrogradskogo universitäta für 1914, 113f. 34 Kellermann 1915. 35 Ebd., 484. Zum deutschen Bild von Russland vgl. Leonhard 2014, 192f. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Zu Anfang des Krieges äußerte Nikolaus II. einen inoffiziellen Wunsch, die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen in deutscher Sprache zu begrenzen. Im Juli 1916 wurde ein Dekret bekannt gegeben, das die Lehre auf Deutsch in allen Bildungsinstitutionen im Russischen Reich verbot. Vgl. Dmitriev, A.: Changes in the International Outlook of the Russian Academic Community during and after World War I, in: Maurer 2006, 344–348. 39 Vgl. Ungern-Sternberg 1996, 97. 40 U. Wilamowitz-Moellendorff wurde am 1.12.1908 zum korrespondierenden Mitglied der Petersburger Akademie und am 31.12.1929 sogar zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR gewählt. Vgl. Gavrilov 1990, 240; Maurer 2004, 245.

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von Wilamowitz-Moellendorff und Ed. Meyer – verzichtete bis zum Kriegsende auf radikale Schritte gegen ausländische Mitglieder. 41 Schließlich stellte sich eine bemerkenswerte Situation heraus. Einerseits gab es die patriotische russische Professorenschaft, die einseitige und beleidigende Aussagen der Deutschen nicht akzeptieren wollte. Andererseits versuchten die russischen Wissenschaftler, die nicht nur Deutschland als ein Vorbild für das russische Universitätssystem respektierten, sondern oft auch dienstliche sowie persönliche Beziehungen zu deutschen Kollegen hatten, eine Entschuldigung für Kriegsressentiments der Gelehrten Deutschlands zu finden. Im Laufe der Zeit radikalisierte sich die Lage zwischen Wissenschaftlern dadurch, dass die Zahl der deutschen Publikationen sich weiter vermehrte und deren Inhalt sich verschärfte. Die These einer Hypnose der deutschen Wissenschaftler durch den Staat verlor immer mehr an ihrer Glauwürdigkeit. 3.1.1.2 1915: Das zweite Kriegsjahr Dass Rostovtzeff von der patriotischen Welle mitgerissen war, zeigt die folgende Episode: Der jüngere Kollege Rostovtzeffs an der historisch-philologischen Fakultät in St. Petersburg Salomon Lurje hielt 1915 zum 25-jährigen Jubiläum der wissenschaftlichen Tätigkeit seines Lehrers, Professors S. Žebelev, einen Vortrag. Lurje wählte die Beschreibung des Krieges in den Komödien des Aristophanes, u. a. die Strategien zur Vermeidung der Wehrpflicht. Žebelev selbst hielt sich von der Politik fern und war mit dem Lurjes Auftritt zufrieden. Bei dieser Sitzung war auch Rostovtzeff anwesend: „M. I. Rostovtzeff war ein Liberaler und sympathisierte mit dem jungen Wissenschaftler [Lurje], aber genauso wie sein Genosse in der Kadetten-Partei, P. N. Miljukov, vertrat er äußerst patriotische Positionen im Krieg. Er [Rostovtzeff] war vom Vortrag zutiefst empört“. 42

41 Vgl. Brocke, B.: „Wissenschaft und Militarismus“. Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ und der Zusammenbruch der internationalen Gelehrtenrepublik im Ersten Weltkrieg, in: Calder III, W./ Flashar, H.: (Hg.): Wilamowitz nach 50 Jahren, Darmstadt 1985, 674. 42 Koprževa-Lurje, B.: Istorija odnoj žizni [Geschichte eines Lebens], Paris 1987, 65. Zu Leben und Werk Aristophanes vgl. DNP 1 (1996), 1122–1129. Bemerkenswert ist die spätere Verbindung zwischen dem Pazifisten Lurje und dem einstigen Kriegsverfechter Wilamowitz-Moellendorff, die sich seit der Wahl Wilamowitzʼ zum Ehrenmitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften entwickelte und im Briefwechsel zwischen den beiden Altphilologen widerspiegelte. Solomon Lurje (1890–1964) war als Professor an der historischen Fakultät Leningrader Universität zwischen 1934 und 1944 tätig; in den Jahren 1945–1949 hatte er die Professur für klassische Philologie an der gleichen Hochschule inne. Infolge der Kampagne gegen den „Kosmopolitismus“ war Lurje 1949 gezwungen, Leningrad zu verlassen und siedelte zuerst nach Odessa und anschließend nach Lwow (Lemberg) über. An der Universität Lwow war er bis zu seinem Tod als Professor für klassische Philologie tätig. Vgl. Gavrilov, A.: S.Ja. Lurje und U. von Wilamowitz-Moellendorff (istorija zaočnogo sotrudničestva) [Geschichte der Fernzusammenarbeit], in: Kaganovič, B. (Hg.): Vseobščaja istorija i istorija kulʼtury, St. Petersburg 2008, 45–67; Borovskij, Ja.: Solomon Jakovlevič Lurʼe. K semides-

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Rostovtzeffs Beteiligung am „Krieg der Geister“

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Dennoch zeigt die Analyse von Rostovtzeffs Kriegspublizistik zwischen 1914 und 1917, dass er nicht wie viele seiner Kollegen völlig überstürzt seine Einstellung Deutschlands gegenüber änderte. Vielmehr ist eine gewisse Entwicklung in seinem Verhalten zu beobachten: von der anfänglichen Erschütterung und dem Rückzug von allen öffentlichen Aktivitäten zwischen dem Kriegsausbruch und dem Herbst 1915 über die allgemeine Analyse des Krieges aus der historischen Perspektive in der zweiten Hälfte des Jahres 1915 bis hin zu persönlichen Auseinandersetzungen mit Ed. Meyer und U. von WilamowitzMoellendorff von 1916 und zur aktiven Wohltätigkeitsarbeit im Jahr 1917. Im Oktober 1915 sind zwei Aufsätze von Michail Rostovtzeff erschienen, die einen Bezug auf den herrschenden Krieg nahmen. Denn infolge der deutschen Gegenoffensive im Frühjahr und Sommer 1915 erlitt die russische Armee schwere Niederlagen und musste schließlich Warschau, Kowno, Wilna und Brest-Litowsk aufgeben. Erst im September stabilisierte sich die Front, die nun von Riga im Norden bis Dünaburg und Czernowitz im Süden verlief. 43 Rostovtzeffs erste Schrift wurde in der Zeitung „Reč“ veröffentlicht und stellte eigentlich eine Rezension zur neuen russischen Ausgabe der Geschichte des Peloponnesischen Krieges von Thukydides dar. 44 Der Autor konnte sich „in dem Moment, in dem der Krieg aus einem drohenden Gespenst zur schrecklichen Realität wurde und in alle Poren unseres Wesens eindringt“ 45, jedoch nicht mit einer rein historischen Analyse begnügen. Dies begründete er damit, dass „es in der letzten Zeit zur Mode wurde, Prophezeiungen für die nahliegende und ferne Zukunft des modernen Europa in der Antike zu suchen“. 46 Vor allem bestehe Deutschland darauf, das sich als das Erbe des hellenischen Staatswesens ansehe. 47 Der Althistoriker lehnt die Behandlung der Gegenwart durch das Prisma der Antike ab und bezeichnet eine solche Herangehensweise als „unwissenschaftlich“. 48 Er betonte, dass das moderne Europa als Erbe der Antike die Prozesse der historischen Evolution nicht wieder aufnehme, sondern fortsetze. Gleichzeitig hätte die antike Geschichte ihre „kolossale belehrende Kraft“ 49 für die Gegenwart nicht verloren. Daher schlug Rostovtzeff vor, bekannte Evolutionsprozesse, wie den „Zyklus der Evolution von

43 44

45 46 47 48 49

jatiletiju so dnja roždenija [Zu seinem 70. Geburtstag], in: Ders.: Opera phililogica, St. Petersburg 2004, 398–402. Vgl. dazu Hirschfeld /Krumeich/Renz 2009, 90; Leonhard 2014, 280f. Vgl. Rostovtzeff, M.: Rezension. Pamjatniki mirovoj literatury. Antičnye pisateli. Fukidid. Istorija. T. 1 i 2, per. F. Miščenko v pererabotke S. Žebeleva [Denkmäler der Weltliteratur. Antike Schriftsteller. Thykydides, 3. Geschichte. Bd. 1 und 2, übers. F. Miščenko, berarbeitet von S. Žebelev], Moskau 1915, in: Reč vom 26.10.1915, 3. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Weltmonarchien des Orients bis hin zum römischen Weltimperium“ 50, in Betracht zu ziehen, um das Geschehene „bewusst“ 51 zu erleben. Der Peloponnesische Krieg sei in dieser Hinsicht sehr lehrreich und könnte als ein „Protortyp des derzeitigen blutigen Krieges“ 52 gelten. In diesem Krieg seien gleich starke Kräfte aufeinandergeprallt, und es lassen sich keine Entschädigungen, die das Verlorene vollständig kompensieren könnten, in dieser Perspektive feststellen. Die Darstellung des antiken Krieges stammt von dem „ersten Historiker der europäischen Kulturwelt“ 53 und sei gerade 1915 besonders lesenswert: „Thukydides schreibt natürlich nur die Geschichte des Krieges und über alles, was mit ihm [dem Krieg] in Verbindung stand, aber für uns, die Zeitgenossen des Krieges, ist es klar, dass genau so es auch sein muss, dass der Krieg in solchen Epochen alles verschlingt und dass der Historiker ihn [den Krieg] zum wichtigsten, wenn nicht zum alleinigen Objekt seiner Untersuchung machen muss.“ 54 Mit dieser Rezension begann Rostovtzeffs Kriegspublizistik. Auch in seinen späteren Schriften griff er auf historische Erfahrungen, wenn auch wieder mit einigen Einschränkungen, zurück. Im gleichen Jahr erschien der Aufsatz „National- und Weltstaat“, der auch als eine gesonderte Broschüre gedruckt wurde. 55 Auf 15 Seiten versuchte der Althistoriker herauszufinden, welches Staatsmodell zukünftig dominieren wird. Das war für ihn die Frage „über die Zukunft der europäischen Kultur“ 56, die im „Kriegsschrecken und Fieber der Welterschütterung […] wie in den Epochen von Karl dem Großen, Karl V. und Napoleon […] in den Vordergrund rückt[e]“. 57 Und wieder unterstrich Rostovtzeff die Bedeutung des Ersten Weltkrieges als eines „epochemachenden“ 58 Ereignisses, was der allgemeinen Meinung seiner Zeitgenossen entsprach: „In solchen Epochen ist besonders wichtig, zurückzublicken und sich zu fragen, welcher Weg in der Vergangenheit gegangen worden ist. Die historische Auskunft über die Vergangenheit sagt natürlich keine Zukunft voraus, aber sie erlaubt, in die Gegenwart deutlicher und vernünftiger zu blicken und sich über die Konturen des

50 51 52 53 54 55

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Rostovtzeff, M.: Nacionalʼnoe i mirovoe gosudarstvo [Der National- und Weltstaat], Moskau 1915 und in: Russkaja myslʼ 10 (1915), 19–32. 56 Ebd., 1. 57 Ebd. 58 Ebd.

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Geschehenen, vielleicht auch über Grundlinien einer möglichen Zukunft Klarheit zu verschaffen.“ 59 In der Antike, in der die kulturelle Welt nur einen Entwicklungszyklus vollendet hätte, sowie während des Ersten Weltkrieges, der Zeit des zweiten Zyklus, bilde die Frage nach dem National- und Weltstaat „die Achse der Staatsentwicklung“ 60. Rostovtzeff beschrieb dabei die Phasen, welche sich im weltweiten historischen Evolutionsprozess unterscheiden lassen. „Das antike Staatswesen war nicht im Zeichen eines nationalen Staates geboren“ 61, beginnt der Autor. Die großen Staatsformationen des Orients, die sich nur in ihren Gründungsphasen auf dem Prinzip einer geschlossenen Nationalität basiert hätten, strebten nach einem großen multinationalen Staat. Babylon, Assyrien, hethitisches Reich, Ägypten und schließlich Persien würden bei aller Vielfalt ihrer individuellen Entwicklungen das gleiche Bild des staatlichen und politischen Höhepunkts bieten: Ein großer multinationaler Staat mit wechselnder Dominanz der einen oder der anderen Nationalität und mit einer starken monarchischen Macht, die sich auf Religion und eine „bunte, anationale“ 62 Armee gestützt hätte. Ein Nationalbewusstsein, das vor allem bei der Bildung der neuen Staaten bzw. beim Machtwechsel seinen größten Aufschwung erlebte, wäre jedoch kein stärkendes und unterstützendes Element eines Staates. So hätte sich Persien mit seiner stark dominierenden Nationalität schnell in einen gewöhnlichen anationalen Staat verwandelt, als sein national geprägtes Beamtentum und ein Teil seiner Armee in den Massen der unterworfenen Völker verschwunden seien und weder ein Nationalbewusstsein noch einen großen Patriotismus gezeigt hätten. Je mehr der Orient sich „ent-nationalisierte“ 63, desto schwächer sei er kulturell und politisch geworden. Die schöpferische Leistung habe sich nun auf Religion und Kunst konzentriert, es habe sich ein politischer und nationaler Indifferentismus entwickelt und der Staat sei unter einem neuen nationalen Druck zusammengebrochen. „Eine andere Welt“ 64 würde die hellenische Welt darstellen. Seit dem ersten Augenblick biete die griechische Polis, die seit Beginn mit den Kulturen Orients in Verbindung gestanden habe, ein völlig anderes Bild. Für einen Griechen sei der Patriotismus mit der Zugehörigkeit zu einer Polis eng verbunden. Gleichzeitig ließ sich der Sammelbegriff der Hellenen in dieser Welt erkennen. Dies sei jedoch ein rein kultureller Begriff genauso wie die Verbindung zwischen einzelnen Polisbürgern. Für seine Polis und innerhalb seiner Polis hätte der Grieche gelebt. In der Zeit der Blüte der Poleis hätte das kulturelle Schaffen einen noch nie da gewesenen Umfang erreicht. Dennoch sei kein Nationalstaat von den Griechen ins Leben gerufen worden. 59 60 61 62 63 64

Ebd. Ebd. Ebd., 3. Ebd., 4. Ebd., 5. Ebd., 6.

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Die Idee eines gesamtgriechischen Staates hätte Makedonien gewaltsam durchzusetzen versucht. Alexanders Eroberung des Perserreichs habe jedoch zur Gründung eines Weltstaates nach dem Beispiel der persischen Monarchie geführt, wo anstelle von Persern Makedonen und Griechen die führenden Nationen geworden seien. Dieser Staat habe nicht lange existiert und sei in mehrere große sowie kleine Staaten zerfallen, die keine nationale Basis besaßen. Überall ließ sich der Kompromiss zwischen der hellenischen Polis und der orientalischen anationalen Monarchie erkennen. Das Leben im hellenistischen Zeitalter habe aus einem durchgehenden Krieg der Staaten gegeneinander, einer Serie diplomatischer Kombinationen und politischer Bünde bestanden. Es habe keinen Krieg gegeben, der den ganzen Staat mitgerissen hätte. Schließlich sei es zu Kämpfen zwischen einzelnen Königen und Regierungen mittels der Söldnerarmeen gekommen. Die Bevölkerung der hellenistischen Welt blieb gegenüber diesen „nicht besonders blutigen und nicht besonders zerstörerischen Kriegen“ 65 in der Regel gleichgültig und apathisch. „Der große hellenistische Geist“ 66 sei in der Epoche des Hellenismus nicht gestorben, hätte jedoch allmählich seinen Glanz und seine Individualität verloren. Währenddessen sei im Westen, in Italien ein neuer Nationalstaat entstanden, der Elemente der griechischen Politeia, des griechischen Städtebundes sowie des nationalen Stammesstaates in sich vereinigte. Es sei Rom gelungen, auf der italischen Grundlage einen „gesamt-italischen“ 67 Staat zu schaffen und Italien eine Sprache und eine Kultur zu geben. Das vielstämmige Italien sei zu einer Nation geworden, die sich als ein Ganzes verstand. Die Grundlage dafür sei eine freie, obgleich disziplinierte, zivile Staatsordnung gewesen. Der neue Nationalstaat konnte seine Unabhängigkeit im Kampf gegen seine nördlichen Nachbarn, die Kelten, sowie gegen seinen westlichen Konkurrenten, Karthago, verteidigen. So sei die nationale Einigung des italischen Staates nach der Bekämpfung von Nachbarn entstanden. Und dieser Staat zeigte sich nun weltweit als ein mächtiger politischer Faktor: „Es soll im Gedächtnis bleiben, dass Italiens nationaler Zusammenhalt nicht nur die Voraussetzung für den Erfolg Italiens im Weltkampf war, sondern auch durch diesen Weltkampf bedingt wurde“. 68 Italien sei lateinisch und vor allem römisch geworden, weil Rom dem vereinigten Italien die Perspektive einer Weltherrschaft eröffnet habe. Das kolossale Unternehmen Roms versprach dabei große Gewinne für alle Teilnehmenden: „Es ist dementsprechend charakteristisch, dass die Geburt des Nationalstaates in Italien mit seinem Übergang zur Weltpolitik eng zusammenhängt und durch diesen Übergang bedingt ist“. 69 „Der römische Imperialismus“ 70 habe nicht auf einer kulturellen, sondern auf einer gewalttätigen Grundlage beruht, was sich in der Eroberung und in der Unterwerfung der anderen für

65 66 67 68 69 70

Ebd., 9. Ebd. Ebd. Ebd., 10f. Ebd., 11. Ebd.

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sich widerspiegelte. Cives Romani seien die Herren in diesem Weltstaat gewesen. Die übrige Welt sei zu einer „rechtlosen und willenlosen Provinz“ 71 Roms geworden. Parallel zur Transformation Roms und Italiens zu Weltherrschern habe es eine brutale innere Fehde zwischen der herrschenden Aristokratie, der „Klasse der Kaufleute und Unternehmer“ 72, und der übrigen Bevölkerungsmasse gegeben. Vor dem Hintergrund der äußeren Siege und der inneren Revolutionen hätte sich der römische Nationalstaat langsam in die Weltmacht verwandelt. Der Begriff civis romanus sei weniger politisch, dafür mehr kulturell geprägt gewesen: „Und Rom, genauso wie die anderen Staatsbildungen der Antike, verwandelt sich somit aus dem nationalen italischen Staat in einen Weltstaat, der eine unermesslich vielfältige nationale Zusammensetzung hat, von einem absoluten Monarch regiert und von einer professionellen Söldnerarmee verteidigt wird.“ 73 Diese Evolution verlaufe danach langsamer, als je zuvor. An die Stelle des römischen Bürgers mit seinem Patriotismus sei ein „gegenüber dem Staat gleichgültiger, apolitischer, sich für persönliche und nicht für staatliche Angelegenheiten interessierende Untertan“ 74 getreten. Dementsprechend verfiel und verflachte die griechisch-römische Kultur in Italien und in den Provinzen. Gleichzeitig ließ sich auch ein weiterer bedeutender Prozess beobachten: Im Inneren des römischen provinzialen Lebens, in Gallien, Spanien, Britannien, Donauprovinzen habe die Entstehung der neuen Nationalitäten begonnen. Der schwache anationale Koloss sei nicht in der Lage gewesen, den Zerfall des Weltstaates in neue nationale Staaten, die auf der Basis der griechisch-römischen Kultur aufgewachsenen wären, aufzuhalten. Aus dem Inneren des römischen Imperiums sei das moderne Europa geboren worden, dessen Entwicklung sich jedoch von den Abläufen in der Antike unterscheiden würde: „Es gibt keine schädlichere Tendenz, als wenn man anhand äußerer Merkmale die Evolution der Antike mit der Evolution der Gegenwart, einzelne moderne Staaten und ihre Rolle in der Weltgeschichte mit Staaten der antiken Welt vergleicht usw. Besonders kam dies in Deutschland in Mode. Dabei will Deutschland natürlich entweder Hellas oder das römische Imperium sein; England gleicht Karthago und Russland soll das Perserreich sein.“ 75 Des Weiteren verwies Rostovtzeff, genauso wie in der Thukydides-Rezension, auf einen für ihn entscheidenden Punkt, dass nämlich Europas Geschichte eine Fortsetzung der Geschichte der antiken Welt ist. Aus diesem Grund seien beide Geschichten miteinander 71 72 73 74 75

Ebd. Ebd., 12. Ebd., 13. Ebd. Ebd., 14.

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nicht vergleichbar. Die Antike hätte generell im Zeichen eines Weltstaates gestanden, die Moderne stehe demgegenüber im Zeichen eines Nationalstaates. Die Antike gehe von einer freien Gesellschaftsordnung zum Absolutismus über und die Moderne umgekehrt. Italien, England und Frankreich seien die direkten Erben des „antiken Geistes der bürgerlichen kulturellen Freiheit“ 76 und gleichzeitig die „Führer des gegenwärtigen Europas“ 77. Deutschland sei dabei rückständig, weil es „sich nur mühsam an die Grundlagen des Staatsbewusstseins und der Kultur der Antike, deren Feind und Zerstörer es immer war, gewöhnt“ 78 und weil Deutschland „als Träger der Ideale eines Weltstaates“ 79 immer gegen europäische Nationalstaaten verloren habe. Rostovtzeff gestand gleichzeitig die Rückständigkeit Russlands ein, denn den Russen als „Erben des letzten Weltstaates, Byzanz,“ 80 sei es schwer gefallen, sich von „Traditionen des byzantinischen Imperiums und des Weltimperialismus“ 81 zu verabschieden. Er resümierte, dass es in der Zukunft keinen Platz für einen Weltstaat oder für die Herrschaft einer einzelnen Nation gäbe. Jeder Versuch einen solchen Staat zu schaffen, werde auf einen heftigen Widerstand des nationalen Bewusstseins, der Kultur und der politischen Freiheit aller anderen europäischen Völker stoßen. 82 Die beiden Schriften von Rostovtzeff sind in ihrer Tendenz ähnlich und bieten dem Leser einen historischen Überblick zur Geschichte der Antike. Das Ziel dieser Ausführungen war es, das Unrecht Deutschlands aus historischer Perspektive zu begründen. Obwohl Rostovtzeff wiederholt betonte, dass historische Parallelen zwischen der antiken und der modernen Zeit nicht plausibel sind, gerät der Althistoriker stets in die Versuchung, mit solchen Vergleichen zu argumentieren. Diese Tendenz wird sich in seinen weiteren politischen Schriften verstärken. Darüber hinaus weisen diese ersten Schriften zur Kriegsthematik darauf hin, dass Rostovtzeff bereits 1915 über die Kriegsaktivitäten seiner deutschsprachigen Kollegen bestens informiert war. 3.1.1.3 1916: Kampf der Altertumswissenschaftler Am Anfang des Jahres 1916 erschienen zwei Artikel von Michail Rostovtzeff, in denen er sich mit der politischen Publizistik seiner deutschen Kollegen auseinandersetzte. Einer war der Althistoriker Eduard Meyer, dem Rostovtzeff nicht nur wissenschaftlich, sondern kurz vor dem Kriegsausbruch auch persönlich nahe stand. Rostovtzeff bezeichnete in einem Brief vom Januar 1916 diese Beziehung als große Freundschaft. 83 Der andere war der Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, den der russische Wissenschaft76 77 78 79 80 81 82 83

Ebd., 15. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Siehe unten Brief M. Rostovtzeffs an E. Minns vom Januar 1916, in: Bongard-Levin 1997, 309.

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ler bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gut kannte. Die beiden deutschen Gelehrten zählten außerdem zu den Initiatoren Rostovtzeffs Wahl zum Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Neben der persönlichen Bekanntschaft war sicherlich auch die Rolle, welche die beiden in der deutschen Kriegspropaganda spielten, von eminenter Bedeutung für Rostovtzeff. Sowohl Meyer als auch Wilamowitz gehörten zu den markantesten Akteuren in dem sich verschärfenden Krieg der internationalen Gelehrten in der Nachkriegszeit. Sie traten als Mitunterzeichner von zahlreichen Aufrufen und Erklärungen, aber genauso oft als Initiatoren von anderen politischen Aktionen in ihrem Heimatland auf. 84 Der „bestgehaßte deutsche Gelehrte“ 85 seiner Zeit Ed. Meyer und der „preußische Patriot“ 86 Wilamowitz zeigten ihre konservativ-nationalistische Haltung, indem sie bspw. für einen uneingeschränkten U-Boot-Krieg eintraten oder sich in der Deutschen Vaterlandspartei engagierten. Der erste Weltkrieg war der Höhepunkt ihres politischen Engagements. Auf allen Tätigkeitsfeldern sicherte die hohe fachliche Reputation der beiden Berliner Professoren die Aufmerksamkeit der Leser bzw. Zuhörer im In- und Ausland. 3.1.1.3.a Schriftliche Auseinandersetzungen mit Ed. Meyer Rostovtzeff lernte Ed. Meyer, diesen „Mensch[en] gigantischer Größe mit einem großen roten Bart und der Stimme eines brüllenden Löwen“ 87 im Jahr 1904 in Berlin während seiner zweiwöchigen Reise durch Deutschland kennen. Danach trafen sich die beiden auf dem III. Historikerkongress in Berlin, wo Rostovtzeff in der von Ed. Meyer geleiteten Sektion seinen Vortrag zur Geschichte des römischen Kolonats hielt. Seine zwei Jahre später publizierten „Studien zur Geschichte des römischen Kolonats“ schenkte Rostovtzeff auch diesem deutschen Althistoriker. In einem Brief aus dem Jahr 1910 bedankte sich Ed. Meyer dafür: „Verehrter Herr College! Haben Sie herzlichsten Dank für die schöne Gabe, die Sie mir zugeschickt haben! […] Ganz besonders freut es mich, dass mir das Buch die schönen Tage unseres Zusammenseins vor 2 Jahren wieder lebhaft ins Gedächtnis gerufen hat.“ 88 Das steigende Interesse Ed. Meyers an der Persönlichkeit Rostovtzeffs zeigt z. B. eine Episode mit dem jungen russischen Ägyptologen Vasilij Struve (1889–1965), der im Mai 1913 84 85 86 87

Vgl. dazu ausführlicher Calder III, W./Demandt 1990; dies. 1985. Wilamowitz-Moellendorff, U.: Eduard Meyer, in: Süddeutsche Monatshefte 22 (1925), 58. Brocke 1985, 712. Brief M. Rostovtzeffs an S. Žebelev vom 9.6.1904, in: RAN SPb 729/2/109; Bongard-Levin 1997, 400. 88 Brief Ed. Meyers an M. Rostovtzeff vom 8.10.1910, in: RGIA 1041/1/131.

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mit Rostovtzeffs Referenzen in den Händen sein Auslandsstudium in Berlin angefangen hat. Dankend schrieb Struve seinem Mentor wie folgt: „Ich muss mich bei Ihnen für Ihre Empfehlungen, die mir meine ersten Schritte in Berlin beträchtlich erleichterten, bedanken. Ed. Meyer hat mich sehr aufmerksam und freundlich aufgenommen. […] Besonders viel hat [er] über Sie nachgefragt. Er und seine Gattin denken mit Freude an die bevorstehende Reise 1918 zum internationalen Historikerkongress nach Petersburg. Ich habe […] von den grandiosen Vorbereitungen, die auf Ihre Initiative durchgeführt werden, erzählt. Ed. Meyer hat versprochen, mir mit seinem Rat zur Seite zu stehen.“ 89 In einem Brief vom Mai 1914 bot Rostovtzeff Ed. Meyer an, als Vertreter Deutschlands in dem Organisationskomitee des für 1918 geplanten internationalen Historikerkongress in St. Petersburg mitzuwirken. 90 Der deutsche Althistoriker nahm diese Aufforderung „sehr gern und mit bestem Dank“ 91 an: „Selbstverständlich bin ich jederzeit sehr gern bereit, zu helfen wo es nötig ist und gewünscht wird. Aber ich glaube, das wird kaum je der Fall sein, da Sie bereits bewiesen haben, daß die Organisation in den besten Händen liegt und alles vortrefflich und ganz anders als in England gestaltet werden wird. Ich persönlich freue mich schon sehr darauf, dann endlich einmal sowohl Russland wie die Schätze von Petersburg wenigstens kennen zu lernen.“ 92 Nach seiner Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften wollte Rostovtzeff außerdem Ende Juli–Anfang August 1914 seinen „Dank [Ed. Meyer ] persönlich abstatten“ 93. Und auch Ed. Meyer freute sich sehr seinen russischen Kollegen in Berlin zu sehen. 94 Umso befremdlicher erscheint das Russlandbild, das Ed. Meyer ein Jahr später in seiner politischen Schrift „England“ bietet:

89 90 91 92

Brief V. Struves an M. Rostovtzeff vom 25.5.1913, in: RGIA 1041/1/123. Vgl. Brief M. Rostovtzeffs an Ed. Meyer vom 19.5.1914, in: Funck 1992, 468. Brief Ed. Meyers an M. Rostovtzeff vom 4.4.1914, in: RGIA 1041/1/131; Funck 1992, 468f. Ebd. Den Wunsch, Russlands Schätze kennenzulernen, erfüllte sich Ed. Meyer im September 1925 bei seinem vierzehntägigen Besuch in Leningrad und Moskau anlässlich der 200-jährigen Jubiläumsfeier der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Vgl. Meyer, Ed.: Das neue Rußland. Eindrücke von der Jubiläumsfeier der Russischen Akademie der Wissenschaften, in: Deutsche Rundschau 52 (1925), 101–118; Sösemann, B.: „Der kühnste Entschluss führt am sichersten Ziel“. Der Althistoriker Eduard Meyer im Ersten Weltkrieg, in: Calder III/Demandt 1990, 478f. 93 Vgl. Brief M. Rostovtzeffs an Ed. Meyer vom 9.6.1914, in: Funck 1992, 472. 94 Ed. Meyer schreibt allerdings, dass er sich freut, Rostovtzeff „im Herbst (sic!) hier sehen zu können“. Brief Ed. Meyers an M. Rostovtzeffs vom 24.6.1914, in: Funck 1992, 472f, hier 473.

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Rostovtzeffs Beteiligung am „Krieg der Geister“

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„Das russische Volk […] gehört nicht der europäischen Kulturwelt an, trotz der äußeren Übertünchung, sondern steht, wie seine Führer allezeit ausgesprochen haben, in schroffem Gegensatz zu ihr und will von ihr nichts wissen; es sieht seine welthistorische Mission darin, sie zu bekämpfen. Was eine russische Herrschaft über Europa zu bedeuten hat, weiß alle Welt […]. Daran ist kein Zweifel, daß, wo der russische Fuß hintritt, alle wahre Kultur und alles freie Volkstum vernichtet ist.“ 95 In diesem Buch des deutschen Althistorikers spielte Russland jedoch eine untergeordnete Rolle, im Mittelpunkt der Kritik von Ed. Meyer stand England. Für Michail Rostovtzeff brach der gewohnte Lebensablauf am 1. August 1914 zusammen, als Deutschland Russland den Krieg erklärte, für Ed. Meyer drei Tage später mit der Kriegserklärung Englands an Deutschland. In seiner Schrift griff Ed. Meyer England und seine Verbündeten heftig an. Dabei stellte er das Altertum in den Dienst seiner politischen Interessen und zog historische Parallelen zwischen den Punischen Kriegen und dem Ersten Weltkrieg: „Die Analogie des Krieges zwischen Deutschland und England mit den Punischen Kriegen wird sich jedem historisch Gebildeten aufdrängen und ist von Inländern wie von Ausländern oft genug hervorgehoben worden. […] Die Punischen Kriege bilden den Wendepunkt der alten Geschichte. […] Der von England entfesselte Krieg ist, wie der gewaltige, den der Weltgeschichte kennt, so auch der entscheidende Einschnitt der neueren Geschichte. Die Welt, in der wir gelebt haben, ist am 1. August versunken.“ 96 Rückblickend schrieb U. von Wilamowitz-Moellendorff mit großer Achtung über Ed. Meyers Beteiligung an der Kriegspublizistik: „Damals hat Meyer die Waffe des Geistes in Rede und Schrift mannhaft geschwungen. Und er hatte uns viel zu sagen. Er kannte England und schilderte in einem Buch des Namens seine staatliche und politische Entwicklung.“ 97 Diese und andere Schriften sowie intensive politische Tätigkeit Ed. Meyers während des Krieges und in der Zwischenkriegszeit hatten zur Folge, dass seine wissenschaftlichen Verdienste zum Teil von politischen Ressentiments überschattet wurden. Und wenn in der heutigen Wissenschaftsgeschichte Versuche unternommen werden, die äußerst nationalistische Haltung von Eduard Meyer zu verstehen 98, blieb er mit seinen oft verfehlten 95 Meyer, Ed.: England: Seine staatliche und politische Entwicklung und der Krieg gegen Deutschland, Stuttgart/Berlin 1915, 212. Zehn Jahre später gestand Meyer, dass er nicht nur der „russischen Sprache völlig fremd“ sei, sondern auch „von der Geschichte und Geographie des gewaltigen Reichs, von seinen kulturellen und materiellen Zuständen […] lediglich ganz oberflächliche Kenntnis“ besitze. In: Meyer 1925, 101. 96 Meyer 1915, 202f. 97 Wilamowitz-Moellendorff 1925, 58. 98 Vgl. Sösemann 1990, 446–483; Ungern-Sternberg 1990, 484–504.

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historischen Vergleichen für die Mehrheit seiner Zeitgenossen ein bezeichnendes Bespiel für den deutschen Wissenschaftschauvinismus. Am 11. Januar 1916 veröffentlichte Rostovtzeff in der Zeitschrift „Reč“ eine scharfe Rezension zu Ed. Meyers Buch. 99 In seinem Artikel „Althistoriker über England und den Großen Krieg“ 100 übte er eine heftige Kritik an dem Buch. Es wurden die Ursachen des Krieges, die Schuldigen an diesem Krieg hinterfragt und daraufhin über die Zukunft der ganzen Menschheit nach dem Ende des Krieges nachgedacht. Die Kriegsursachen waren laut Rostovtzeff von den Zeitgenossen richtig erkannt. Demgegenüber gab es auf die Frage nach den Schuldigen äußerst subjektive Ansichten. Obwohl Deutschlands Militarismus und sein Streben nach Hegemonie für alle eindeutig seien, würde dies von deutschen Gelehrten und Publizisten bestritten. Die gegnerischen Seiten, die einander beschuldigten, würden den Krieg unter dem Vorwand führen, die Selbstbestimmung stärkerer sowie schwächerer Staaten und den Frieden zu sichern. Diese Devise sei zum Glaubenswahrzeichen der kriegführenden Länder geworden. Die Mittel, mit denen sich die Gegner rechtfertigen, würden deren Recht bzw. Unrecht offenbaren: „In dieser Hinsicht ist Ed. Meyers Buch ‚England‘ (Stuttgart u. Berlin 1915) höchst interessant und wissenswert. Wir sind gewohnt, Ed. Meyer als einen der bedeutenden Althistoriker, dessen Name neben solchen [Namen] wie Gibbon, Niebuhr, Fustel de Coulanges und Mommsen gestellt wurde, zu respektieren. Seine Altertumsgeschichte in ihrer Gesamtkonzeption (Einheit der antiken Welt) und in ihrer sorgfältigen Bearbeitung, in der Klarheit der Darstellung und strengen wissenschaftlichen Bearbeitung ist ohne Zweifel ein Gewinn der modernen wissenschaftlichen Literatur über die Antike. Es ist deswegen wichtig, die Stimme dieses großen Historikers zu hören. […] Es schien, dass er […] das Geschehene objektiv und historisch betrachten würde. In diesem Fall enttäuscht das Buch von Ed. Meyer zutiefst. Vor uns liegt ein schwerfälliges und ziemlich grobes, gekränktes und böses Pamphlet über England, das weder echte Kenntnisse noch tiefe Gedanken enthält.“ 101 Für Rostovtzeff war dieses „Pamphlet“ aus zweierlei Sicht belehrend. Zum einen hätte sich der deutsche Althistoriker durch die „Armseligkeit der politischen Ideologie“ 102 als ein „Durchschnittsdeutsche“ 103, der seinen Staat vergöttert, offenbart. Zum anderen sei eine solche „Unterwerfung des großen Kopfs“ 104 gegenüber einer „armseligen poli-

99 Vgl. ebd. 100 Rostovtzeff, M.: Istorik drevnosti ob Anglii i velikoj vojne [Althistoriker über England und den Großen Krieg], in: Reč vom 11.1.1916, 2. 101 Ebd. 102 Ebd. 103 Ebd. 104 Ebd.

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tischen Schablone“ 105 ein schrecklicher Beweis für den „Niedergang der schöpferischen Leistung“ 106 und für die „Militarisierung des Intellekts“ 107 in Deutschland. Aber noch „trauriger“ 108 war für Rostovtzeff Ed. Meyers „absolute Unkenntnis und Unverständnis“ 109 Russlands. Der Autor gibt ein langes Zitat mit der Seitenangabe aus „England“, in dem Ed. Meyer Russlands Zugehörigkeit zur europäischen Kultur bestreitet. 110 Seine Enttäuschung darüber kann Rostovtzeff nicht verbergen: „Die Jahrzehnte der wissenschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland blieben für Deutschland spurlos. Die Ansichten über Russland sind heute die gleichen wie vor hundert Jahren. Alle Errungenschaften der russischen historischen Wissenschaft, welche die gleichen Wege wie die europäische Wissenschaft ging, wurden von den deutschen Historikern […] außer Acht gelassen. […] Für Ed. Meyer wie für die Mehrheit seiner Landsleute ist Russland ein Schreckgespenst und ein Zerstörer der Kultur, der nicht zu den europäischen Völkern gehört.“ 111 Mit der Frage „wo sind hier die echten historischen Parallelen“ 112 begann Rostovtzeff die Untersuchung des letzten aufschlussreichen Kapitels des Buches. Er war zwar mit Meyers Aussage einverstanden, dass Menschen sowohl in der Zeit der Punischen Kriege als auch des Ersten Weltkrieges an einer Grenze der historischen Entwicklung gestanden hätten bzw. stehen würden, nannte jedoch die von Eduard Meyer aufgeführten Ähnlichkeiten mit der zeitgenössischen Situation oberflächlich und nicht überzeugend. Rostovtzeff erklärte die Vergleiche Englands mit Karthago und Deutschlands mit Rom für inakzeptabel: „Was Gemeinsames gibt es zwischen der alten, sich organisch entwickelnden und an Konkretheiten und Bedürfnissen der Zeit angepassten englischen Staatlichkeit und der fast statischen Staatsordnung der Karthager? […] Die alte Analogie zwischen der ungeschriebenen großen Verfassung Roms und der gleich [bedeutenden] Verfassung Englands ist beträchtlicher und gerechter. Die Analogie zwischen Rom und Deutschland könnte man […] in einem unbegrenzten Militarismus, den Rom (aus einem anderen Grund als Deutschland) ausbaute, und in einer direkten Grobheit und Brutalität, Respektlosigkeit gegenüber dem Gegner und in einer fast voll-

105 106 107 108 109 110 111 112

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Meyer 1915, 212. Rostovtzeff 1915, 2. Ebd.

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kommenen Selbstvergötterung finden. Diese Analogie ist auch an dieser Stelle rein oberflächlich und hat keine innere Überzeugungskraft.“ 113 Am Anfang des Artikels sah Rostovtzeff Ed. Meyer als einen scharf attackierenden Befürworter des deutschen Militarismus an und zum Schluss seiner Antwort stellte er sogar die wissenschaftliche Kompetenz des deutschen Gelehrten in Frage, indem er schrieb, dass „der Prozess der antiken Evolution tiefer und komplizierter“ 114 gewesen sei, „als das Ed. Meyer“ 115 geschienen habe. Im letzten Teil seiner Rezension weist Rostovtzeff auf seinen Artikel „National- und Weltstaat“ hin; hier habe er die grundlegenden Unterschiede in der Enwticklung von Antike und Gegenwart dargelegt. Rostovtzeff resümierte, dass Deutschlands Sieg zum Rückschritt führen würde. Demgegenüber würde der Sieg der Alliierten zusammen mit Russland einen Fortschritt in Richtung einer neuen slawischen und romanischen Renaissance bedeuten. Die Rezension von Rostovtzeff war trotz der weitgehend angemessenen Kritik an Ed. Meyers Buch jedoch weit entfernt von einer rationalen Auseinandersetzung eines Historikers mit den Fakten. Sein Artikel war sehr persönlich und emotional. Dass die Antwort unmittelbar an Eduard Meyer adressiert war, bekannte Michail Rostovtzeff 1916 in einem Brief an seinen englischen Kollegen Ellis H. Minns 116 und bat ihn den Artikel in englische Sprache zu übersetzen, damit seine Position in England und Deutschland bekannt wurde: „Ich weiß nicht, ob Sie das Buch von Ed. Meyer bekommen haben, über welches ich für ‚Reč‘ schreibe. Ich hoffe, dass es auch in Ihrer Presse eine entsprechende Bewertung hatte. Ich persönlich wünsche mir, dass meine Charakteristik dieses Buches in England bekannt wird. Ich würde mich freuen, wenn Sie zu meiner Bewertung ein paar Worte in einer englischen Zeitung schreiben und meinen Artikel an eine der Redaktionen schicken würden. Ich kann Englisch zu schlecht, um das selbst zu machen. Inzwischen könnten meine Worte nur mittels der englischen Presse, die in Deutschland verfolgt wird, Ed. Meyer bekannt werden, was für mich etwas bedeuten würde. Im Übrigen, wie Sie es selber finden werden, war für mich das Buch von Ed. Meyer, mit dem ich gut befreundet war, außerordentlich unangenehm. Aber ich hatte kein Recht, es entsprechend nicht zu bewerten.“ 117

113 114 115 116

Ebd. Ebd. Ebd. Ellis Hovell Minns (1874–1953) war ein englischer Historiker und Archäologe. Nach seinem Studium der klassischen Sprachen am Pembroke College in Cambridge lernte er Russisch in der École des languages orientalies vivantes in Paris bei Professor Paul Boyer. Während seines Praktikums von 1898 bis 1901 in St. Petersburg lernte Minns M. Rostovtzeff kennen. Vgl. Bongard-Levin 1997, 305ff. 117 Brief M. Rostovtzeffs an E. Minns (auf Russisch) wird auf Januar 1916 datiert und ist abgedruckt in: Bongard-Levin 1997, 309.

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3.1.1.3.b Schriftliche Auseinandersetzungen mit U. von Wilamowitz-Moellendorff Einen Monat später äußerte sich Rostovtzeff zu Reden von U. von Wilamowitz-Moellendorff . 118 Die beiden lernten sich vermutlich im April 1898 in Rom kennen. Daran erinnerte sich Wilamowitz Jahre später häufig, wie in einem Brief an Rostovtzeff aus dem Jahr 1914: „Wie freut es mich, daß Sie sich an unser erstes Zusammentreffen erinnern. Ich habe den Eindruck, den ich damals mitnahm, sehr lebhaft im Gedächtnis, und die Prognose, die ich Ihnen im stillen stellte, hat sich fein bewahrhaftet.“ 119 Seitdem interessierte sich Wilamowitz für Rostovtzeffs Schicksal und war in seinem wissenschaftlichen Leben präsent. Bei einem Pompeji-Besuch im Herbst 1927 habe Wilamowitz im Kreise der jungen Forscher gesagt, dass Rostovtzeff seine Erwartungen erfüllt hätte: „Wie viel Jahre sind vergangen? 25 oder 26. Rostovtzeff war damals 30 oder 31 Jahre alt. […] Ich habe ihm damals gesagt: ‚Mein lieber Rostovtzeff, Sie werden eines Tages der erste Historiker der Welt.‘ […] Ich hatte Recht. Ist seine ‚The Social and Economic History of the Roman Empire‘ kein Beweis für meine Voraussage? Die Bedeutung dieses Buches kann ich nur mit der ‚Römischen Geschichte‘ meines Schwiegervaters, Mommsen, vergleichen.“ 120 Wilamowitz-Moellendorff war derjenige, der – nach seiner eigenen Aussage – „immer am meisten darauf gehalten“ 121 habe, „unsere Correspondenten im Ausland [zu] suchen“ 122. Praktisch äußerte sich dies in der Förderung von zahlreichen russischen Gelehrten, darunter auch von Rostovtzeff. 123 Er setzte sich außerdem intensiv für die Einführung des Russischen als eine offizielle Sprache für internationale Historikerkongresse ein. 124 Nach der Wahl Rostovtzeffs zum Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften wartete Wilamowitz auf seinen Besuch in Berlin und schrieb ihm: „[…] allein ich bin hier und Hillers sind es auch: wir bilden dann halb und halb ein Familie und hoffen, daß Sie uns einen Abend schenken; es ist im Westend erträglicher als unten in der Stadt“ 125. 118 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, U. von: Reden aus der Kriegszeit, 3 Bde., Berlin 1914–1915. 119 Brief U. von Wilamowitz-Moellendorffs an M. Rostovtzeff, undatiert (inhaltlich aus dem Juni 1914), in: RGIA 1041/1/128; Funck 1992, 470. 120 Vgl. Warscher, T.: Akademik M.I. Rostovcev [Der Akademiker M.I. Rostovtzeff ], in: Poslednie novosti vom 22.6.1931, in: RAN SPb 1054/1/69; eine ähnliche Aussage in einem Brief an Rostovtzeff vom 9.5.1926, in: Calder 1990, 250. 121 Siehe Anm. 118; Funck 1992, 470. 122 Ebd. 123 Vgl. Gavrilov, A.: Russische Altphilologen und der Erste Weltkrieg, in: Maurer 2006, 255–266. 124 Vgl. Rostovtzeff 1908, 345 125 Wilamowitz 1914.

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Seit dem Umbruch im August 1914 wurde Wilamowitz zu einem tatkräftigen Befürworter des Krieges und seit dem früheren Tod seines Sohnes noch dazu zu einem verbitterten. Der deutsche Altphilologe setzte nicht nur seine Unterschrift unter den Aufruf der 93, sondern verfasste im Oktober 1914 selbst eine „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ 126, die von über 4.000 Wissenschaftlern unterzeichnet wurde. 127 Darüber hinaus organisierte Wilamowitz zahlreiche Veranstaltungen für breitere Kreise der deutschen Bevölkerung, u. a. für Soldaten. In seinen Vorträgen behandelte er aktuelle Fragen der Kriegszeit, nicht selten durch das Prisma seines Faches; sie wurden zwischen 1914 und 1915 in drei Bänden unter dem Titel „Reden aus der Kriegszeit“ gesammelt. 128 Diese Schriften, die die deutsche Kriegführung verteidigten, rezensierte Rostovtzeff ebenfalls sehr kritisch. Der Aufsatz „Aus deutscher Kriegsliteratur“ 129 in „Reč“ ist ähnlich wie die Rezension zu Ed. Meyers Buch aufgebaut. Rostovtzeff fing mit den Erwartungen an, die er mit dem Namen dieses „großen Kenner[s] der antiken Welt“ 130 und eines der „hervorragenden Befürworter der internationalen Wissenschaftskommunikation“ 131 verband. Rostovtzeff hätte von Wilamowitz „neue, originelle Ansichten mit einer Neubewertung oder zumindest mit einer neuen Begründung der germanischen Militärschablone“ 132 erwartet. Aus diesem Grund hätte der russische Althistoriker die ihm „zufällig“ 133 in die Hände gefallenen drei Bände von Wilamowitzʼ Reden mit „großer Aufmerksamkeit und Interesse“ 134 gelesen. Diese Reden, die Wilamowitz teils vor einem akademischen, teils vor einem größeren Publikum gehalten hatte, hätten nicht das Ziel, die Wahrheit herauszufinden, sondern die in der Gesellschaft herrschende Aufregung zu beruhigen und den germanischen Patriotismus zu beleben und zu stärken. Die Reden des deutschen Altphilologen verglich Rostovtzeff mit Predigten „eines unerfahrenen Pastors“ 135; sie ließen ihn an „kluge und kalte, oft brutale, gewöhnlich pharisäische Predigten“ 136 denken. In diesen Reden entdeckte der Autor „eine typische germanische Rhetorik“ 137, in der die antike Tradition fehlen würde.

126 Vgl. Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches (16.10.1914), unter: https://opus4. kobv.de/opus4-fau/frontdoor/index/index/docId/349 (letzter Abruf am 16.6.2015). 127 Text der Erklärung, in: vom Brocke 1985, 717. 128 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, U. von: Reden aus der Kriegszeit, Berlin 1915; Ungern-Sternberg, J.: Deutsche Altertumswissenschaft im Ersten Weltkrieg, in: Maurer 2006, 239–254. 129 Vgl. Rostovtzeff, M.: Iz germanskoj voennoj literatury [Aus deutscher Kriegsliteratur], in: Reč vom 6.2.1916, 2f. 130 Ebd., 2. 131 Ebd. 132 Ebd. 133 Ebd. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Ebd. 137 Ebd.

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Danach analysiert Rostovtzeff die einzelnen Thesen von Wilamowitzʼ Schriften. Dabei kommt es hin und wieder zum Vergleich mit Ed. Meyers politischer Kriegspublizistik. Die beiden Schriften bezeichnet der russische Althistoriker als „aufschlussreich“. 138 In erster Linie interessiert sich Rostovtzeff für die Meinung von Wilamowitz-Moellendorff über Deutschlands Gegner. „Gerechter und sympathischer“ 139 spreche Wilamowitz über Franzosen, obgleich er sie – genauso wie Ed. Meyer – als Vasallen Russlands bezeichne. Zu England, das die Beseitigung Deutschlands als Konkurrenten zum Ziel hätte, habe Wilamowitz eine ähnliche Meinung wie Ed. Meyer, wenn auch nicht so eine „boshaft[e] und verärgert[e]“. 140 Gewiss wurden die Zeilen über Russland vom russischen Historiker mit besonderer Aufmerksamkeit gelesen. Die Vorstellung über sein Heimatland bezeichnet Rostovtzeff als „einseitig, grundlegend von der Realität abweichend“. 141 Wenn Ed. Meyer von Slavophilen beeinflusst geworden sei, ließe sich Wilamowitz von der den Berliner Buchmarkt überschwemmten revolutionären Literatur beeindrucken: „Und ernsthaft oder vielleicht nur zum Schein versucht [Wilamowitz] seine Zuhörer zu überzeugen, dass dieser Krieg eine Wiederholung des japanischen [Krieges] ist, und dass das Volk ihm gegenüber gleichgültig ist und nicht versteht, mit wem und wofür es kämpft; und das ganze denkende liberale Russland, w e l c h e m D e u t s c h l a n d i m m e r d i e H a n d a u s s t r e c k t e, ist gegen den Krieg. Er weiß nicht oder will nicht wissen, […] dass das ganze denkende Russland mit Enthusiasmus gegen Deutschland kämpft. […]“ 142 Erstaunt schreibt Rostovtzeff über den Militarismus und die Wissenschaft, die in Reden von Wilamowitz miteinander verschmolzen wären. Bemerkenswert ist, dass Rostovtzeff dabei zwischen dem „alten“ 143 Deutschland vor dem Krieg und dem „neuen militaristischen Deutschland“ 144 unterscheidet. Von dem „alten“ 145 Deutschland, das seine Rolle für das „neue“ 146 Land mit seinem Streben nach Gewalt und Reichtum nun verspielt hätte, wende sich Wilamowitz ab. Das militaristische Deutschland gehe den Weg der Eroberung und Unterdrückung. Deutschlands „realer und gefährlicher“ 147 Militarismus bedrohe nicht nur ganz Europa, sondern verändere täglich das Land von innen, was sich u. a. auf den deutschen Wissenschaftsbetrieb beziehe. Die Organisation der Wissenschaft und die Disziplin begrüßt Rostovtzeff als positive Eigenschaften, jedoch nur bis zu dem 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Zeitpunkt, an dem sich ein Wissenschaftler „innerhalb der riesigen Wissenschaftsfabrik in eine Maschine verwandelt“ 148 und „aus jungen Menschen famuli und Papageien gemacht werden“. 149 Der Autor des Aufsatzes fasst schließlich wie folgt zusammen: „Ich will nicht sagen, dass sich das neue militaristische Deutschland bereits weitgehend entwickelt und das alte idealistische und individualistische Deutschland vernichtet hat; aber es war auf diesem Weg und zog alle diejenigen groß, die auf friedliche Reisende mit einer solchen Wut losgegangen sind 150 [und] die Schiffe mit Tausenden von Frauen und Kindern versenken und Straßen, Häuser sowie Londoner und Pariser Kunstdenkmäler bombardieren.“ 151 Insgesamt ließ sich Rostovtzeff von dem realitätsfernen, „süßlichen, tugendhaften Militarismus Wilamowitzʼ und deutscher Professoren“ 152 nicht überzeugen. Wie in seiner Rezension zum Ed. Meyers Buch wies er zum Schluss darauf hin, dass Deutschlands Sieg einen „römischen Frieden, pax Romana“ 153 bedeuten und unaufhaltsam zum Niedergang führen würde, und wiederholte: „Solitudinem faciunt, pacem appellant“. 154

3.1.2 Neuorientierung und Zukunft der russischen Wissenschaft 3.1.2.1 Rostovtzeffs Vorschläge Rostovtzeffs Kritik an beiden deutschen Gelehrten zeigt deutlich, wie die Idee der Internationalisierung von Wissenschaft unter Kriegsverhältnissen von nationalistischen Gedanken sowohl in Deutschland als auch in Russland verdrängt wurde. Der Krieg führte zum Zusammenbruch des globalen Wissenschaftssystems, das sich über mehrere Jahrzehnte aufgebaut hatte. Dies war allen Wissenschaftlern kurz nach dem Kriegsausbruch bewusst. Dazu äußerte sich Ed. Meyer in einem Brief an V. Ehrenberg 155:

148 Ebd. 149 Ebd. 150 Rostovtzeff deutet wahrscheinlich auf seine Abreise aus Deutschland nach dem Kriegsausbruch hin. 151 Rostovtzeff 1916, 2. 152 Ebd. 153 Ebd. 154 Ebd.; Vgl. Tacitus: Agricola 30,5. 155 Als 22-jähriger Student der Berliner Universität ging Victor Ehrenberg (1891–1976) an die Front. Während des Ersten Weltkrieges entwickelte sich ein umfangreicher Briefwechsel zwischen ihm und seinem Lehrer Eduard Meyer. Vgl. Audring, G./Hoffmann, C. (Hg.): Eduard Meyer, Victor Ehrenberg. Ein Briefwechsel, 1914–1930, Berlin 1990.

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„Die wissenschaftlichen Arbeiten fremder Nationen werden wir weiter verwerthen, wie wir das auch jetzt thun; aber ein harmonisches Zusammenarbeiten halte ich allerdings für alle absehbare Zeit für ausgeschlossen. Nach 1870 hat es bei Frankreich ein Menschenalter gedauert, bis das wieder angebahnt werden konnte; und wie viel schlimmer ist die Lage jetzt!“ 156 Die Veränderungen der internationalen Wissenschaftsbeziehungen begannen mit persönlichen Enttäuschungen und führten dann zur institutionellen Umstrukturierung des Bildungssystems in den kriegführenden Ländern. In Russland war die Umstellung besonders groß: Es sollten neue Plätze für Studierende, Praktika für Nachwuchswissenschaftler sowie Recherche- und Publikationsmöglichkeiten für russische Professoren entstehen, die vor 1914 noch zum größten Teil durch die deutschen Institutionen geschaffen worden waren. Darüber hinaus kam es in Russland während des Krieges zu Unterbrechungen bei der Zustellung der Fachzeitschriften aus anderen Ländern, da viele wissenschaftliche Zeitschriften über deutsche Buchhändler bezogen worden waren. 157 Nach dem Ausbruch des Krieges begann dann die Suche nach neuen wissenschaftlichen Bezugsländern. An dem regen Prozess der Umorientierung sowie Umstrukturierung der gesamten russischen Wissenschaft seit 1915 war auch Michail Rostovtzeff beteiligt. Sein Beitrag dazu war sowohl publizistischer als auch praktischer Art. Im Jahr 1916 erschien Rostovtzeffs Aufsatz „Die internationale Wissenschafts­kommu­ nikation“ 158, der zweimal – im März und November – in unterschiedlichen Presseorganen publiziert wurde. Den beiden Veröffentlichungen gingen die Sitzungen der russischenglischen Gesellschaft voraus, an denen Rostovtzeff sich aktiv beteiligt hatte. Rostovtzeff schrieb in seinem Aufsatz vom März 1916 darüber, dass „die Schärfe der ersten Eindrücke“ 159 vom Krieg nachgelassen hätte und man sich ungewollt Gedanken über die Zukunft und Vergangenheit mache. Wissenschaftlern würde dieser Krieg besondere Schwierigkeiten bereiten, vor allem denjenigen, deren Untersuchungsbereich „für das Leben unanwendbar“ 160 sei. Damit meinte der Autor auch seine wissenschaftliche Tätigkeit, die unter den Bedingungen des Krieges unterbrochen worden war. Diese Unterbrechung hinge einerseits mit dem Zeitmangel zusammen, da die gesellschaftliche Tätigkeit nun an die erste Stelle getreten sei, andererseits mit dem Ausbleiben der neuesten wissenschaftlichen Literatur:

156 Brief Ed. Meyers an V. Ehrenberg vom 23.4.1915, in: Ebd., 13. 157 Vgl. Kareev, N.: Mysli o russkoj nauke po povodu teperešnej vojny [Gedanken über die russische Wissenschaft im gegenwärtigen Krieg], in: Tugan-Baranovskij, M./Miljukov, P. (Hg.): Čego ždet Rossija ot vojny [Was erwartet Russland vom Krieg], Petrograd 1915, 80f; Maurer, T.: Universitäten im Krieg. Aspekte eines lange vernachlässigten Forschungsthemas, in: Ders. 2006, 17. 158 Vgl. Rostovtzeff, M.: Meždunarodnoe naučnoeobščenie [Die internationale Wissenschaftskommunikation], in: Russkaja myslʼ 3 (1916), 74–81 und in: Reč vom 4.11.1916, 1f. 159 Vgl. Rostovtzeff 1916 (Russkaja myslʼ), 74. 160 Ebd.

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„Die wissenschaftliche Arbeit ist weder in den kriegführenden noch in neutralen Ländern abgebrochen, was auch selbstverständlich ist. Die Verbindung zwischen den einzelnen, selbst befreundeten Ländern ist jedoch irgendwie abgerissen. Der derart lebendige, Bibliographie ersetzende Austausch von Büchern und Broschüren zwischen Spezialisten, die sich persönlich oft nicht kennen, hörte fast auf; wissenschaftliche Korrespondenz, Austausch von Manuskripten und Abdrucken, von Auskünften und Informationen sind auch abgebrochen.“ 161 Dies würde die Gelehrten dazu zwingen, viele angefangene Projekte aus Angst, die doppelte Arbeit zu machen, zur Seite zu legen. Rostovtzeff verfolgte das Ziel, die Bedeutung des internationalen wissenschaftlichen Austausches deutlich zu zeigen, und stellte die für ihn entscheidende Frage: „Der Krieg wird zu Ende sein und der internationale Austausch sollte in Ordnung gebracht werden, aber wie?“ 162 Dass internationale Beziehungen nach dem Krieg radikal anders als vor dem Krieg aussehen werden, stand für Rostovtzeff außer Frage. Aus diesem Grund forderte er seine Leser auf, die entsprechenden Veränderungen „ruhig, reif und bewusst“ 163 zu überdenken, damit die wissenschaftliche Entwicklung nicht ins Stocken gerate. Rostovtzeff unterstrich, dass sich die Wissenschaft trotz der starken Verbreitung des Nationalismus in der letzten Zeit immer mehr im Zeichen der Internationalität entwickelt hätte. Dies hätte sich z. Β. in der immer stärker werdenden Mehrsprachigkeit geäußert. Französisch, Deutsch, Englisch, Italienisch hätten sich als Sprachen der internationalen Kommunikation etabliert. Und „auch wir, Russen, führten einen erfolgreichen Kampf für die Einbeziehung der russischen Sprache in die Gruppe der für Wissenschaftler obligatorischen Sprachen“ 164, setzte Rostovtzeff fort. Der Krieg hätte diesen Kampf jedoch unterbrochen. Des Weiteren ging der Autor auf die Rolle ein, welche Deutschland im internationalen Wissenschaftssystem spielte. In vielen Bereichen konnte es wenn nicht eine „Hegemonie“ 165, doch zumindest eine „führende Stellung“ 166 erreichen. Widersprüchlich zu seinem eigenen Lebenslauf wirkt Rostovtzeffs Feststellung, dass „die deutsche Sprache natürlich nicht zur Sprache der internationalen Wissenschaftskommunikation geworden ist und nicht werden könnte“. 167 Er sprach dabei über eine „Notwendigkeit“ 168, diese Sprache zu beherrschen, um die „Möglichkeit zu haben, auf Deutsch zu lesen, die deutsche Wissenschaftsliteratur selbständig verfolgen zu können“. 169 Seinen Beitrag zur deutschen Altertumswissenschaft vor dem Krieg kommentierte Rostovtzeff mit folgendem Satz: 161 162 163 164 165 166 167 168 169

Ebd. Ebd., 75. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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„Das auf Deutsch Geschriebene ging leichter in den wissenschaftlichen internationalen Alltagsgebrauch ein. Das in anderen Sprachen Geschriebene drang darin langsamer und manchmal gar nicht ein“. 170 Die Organisation einer „Armee des wissenschaftlichen Personals“ 171 in Deutschland hätte sich täglich vervollkommnet. Rostovtzeff wies auf Deutschlands „Begeisterung für kollektive Unternehmen“ 172 hin, bei denen viele internationale Gelehrten mitgewirkt hatten. Wie in den vorherigen Schriften vermisste er immer mehr eine „individuelle schöpferische Leistung“ 173 in Deutschland und sprach bspw. über die „Labore für Dissertationen“ 174 an den deutschen Universitäten. Dennoch konnte der russische Gelehrte die Intensität der wissenschaftlichen Tätigkeit in diesem nun feindlichen Land nicht verleugnen. Dies erklärte er durch die wirtschaftliche Blüte in Deutschland, was auch zu günstigen Bedingungen für große, international agierende Verlagshäuser geführt hätte. Aber der Krieg zerstörte die bestehende Ordnung. Daraus zog Rostovtzeff das folgende Resümee: „Die Zusammenarbeit des größten Teils der zivilisierten Nationen mit Deutschland wurde für lange Zeit zu einer Legende. Deutschland wird es kaum gelingen, die Verwandlung der deutschen Sprache in die internationale Wissenschaftssprache fortzusetzen, selbst bei einem [für Deutschland] erfolgreichen Kriegsende. Eine [negative] Reaktion auf die deutsche Sprache wird noch lange in der romanischen und in der slawischen Welt vorherrschen. Ich denke nicht, dass es ihm [Deutschland] gelingt oder dass es sich sogar selber wünscht, die zentrale Stellung, die es in der Wissenschaftswelt besaß, zurückzugewinnen.“ 175 Da die internationale Wissenschaftskommunikation für Rostovtzeff eine „Luft für die Wissenschaft“ 176 bedeutete, überlegte er, wie internationale Wissenschaftsbeziehungen nach dem Ende des Krieges am schnellsten wiederaufgenommen werden könnten. Dabei war für ihn wichtig, dass Russland in den neuen Konstellationen einen „angemessenen“ 177 Platz einnehmen würde. Und bevor der Autor zu konkreten Vorschlägen kam, folgte eine lange Passage, in der all seine Enttäuschungen und Erbitterungen über Deutschland noch mal deutlich werden: „Über eine vollständige Wiederherstellung der internationalen Kommunikation sofort nach dem Krieg kann man sicher nicht sprechen. Zu tief sind die Wunden, zu frisch sind die Enttäuschungen über Menschen und Ideale; unvergesslich sind 170 171 172 173 174 175 176 177

Ebd., 76. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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die Charakteristiken, die unsere deutschen Kollegen sowohl kollektiv als auch persönlich dem ganzen russischen Volk, seiner Kultur, seiner Staatlichkeit, seiner Weltbetrachtung gaben. Wahrhaftig ist uns jetzt klar geworden, dass Deutschland Russland gar nicht kannte und nicht kennen wollte […]. Der Krieg hat uns gezeigt, dass Deutschland nur das Material in der russischen Wissenschaft suchte […].“ 178 Mit Bedauern unterstrich Rostovtzeff die Tatsache, dass russische Wissenschaftler in Deutschland „im Grunde genommen für deutsche Lehrlinge, die aus irgendeinem Grund nicht auf Deutsch, sondern auf Russisch schrieben“, 179 gehalten worden waren. Solche enge Verbindung zu Deutschland hätte eine kulturelle Annäherung an Frankreich gehindert; und zwischen England und Russland hätte es eine kulturelle Affinität nie gegeben. Daher sah Rostovtzeff als allerwichtigste Aufgabe der nächsten Zeit an, Frankreich, England, Italien und „durch sie auch Deutschland“ 180 das „wahre wissenschaftliche Gesicht Russlands“ 181 nahezubringen. Dafür schlägt er die folgenden Schritte vor: Erstens sollten die wissenschaftlichen Kreise Englands und Frankreichs über die aktuelle russische Wissenschaftsliteratur informiert werden, was in vollem Umfang durch die Verbreitung der russischen Sprache in diesen Ländern zu erreichen wäre. Die Organisation von jährlichen Überblickspublikationen zu den erfolgreichsten Zweigen der russischen Wissenschaft, wie Orientalistik, russische Geschichte, Geschichte der russischen Kunst und Literatur, Byzantinistik, Geschichte der Slawen sowie Geschichte und Archäologie des Südrusslands, sei bereits ein großer Schritt in diese Richtung. Solche wissenschaftlichen Überblickspublikationen wären durch die Einrichtungen im jeweiligen Land oder noch besser in Petrograd zu koordinieren. Zweitens maß Rostovtzeff den Übersetzungen der wichtigsten russischen Bücher und Beiträge ins Französische, Englische und Italienische eine große Bedeutung bei. Drittens sollten regelmäßige Austauschreisen zwischen den alliierten Ländern das Interesse für die Wissenschaft und Sprache eines anderen Landes vor allem bei jungen Menschen wecken. Viertens wäre eine erfolgreiche Durchführung der oben genannten Maßnahmen nur im Rahmen eines regulären Austauschs von Gelehrten möglich. „Leider kehrt die Zeit nicht schnell wieder, dass große internationale Kongresse wieder möglich sein werden“ 182, stellte Rostovtzeff fest. Gleichzeitig betonte er, dass die internationalen Treffen der Vorkriegszeit mehr zu Orten persönlicher Bekanntschaften und privater Gespräche und weniger der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse geworden wären. Stattdessen plädiert der Autor für kleinere Kongresse der Akademien sowie für französische, englische und italienische Schulen und Institute in Russland als außerordentlich wünschenswerte Austragungsorte. 178 179 180 181 182

Ebd., 77. Ebd. Ebd., 78. Ebd. Ebd., 79.

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Doch zuerst fordert Rostovtzeff die einheimische Wissenschaft auf, sich besser zu organisieren. Er beklagt sich über die geringe Zahl der russischen Wissenschaftszeitschriften und über den primitiven Buchhandel in Russland. Die Russische Akademie der Wissenschaften sei dabei die einzige Institution, die die russische Wissenschaft auf eine feste Grundlage stellen und zum gleichberechtigten Mitglied der „internationalen Wissenschaftsfamilie“ 183 machen könnte. Eine detaillierte Ausarbeitung dieser Vorschläge stehe jedoch noch bevor. In der „schwierigen und schrecklichen Zeit“ 184 sollte dennoch über diese Vorschläge nachgedacht und notwendige Vorbereitungen sollten durchgeführt werden. Im November 1916 erschien dieser Aufsatz von Rostovtzeff in leicht veränderter Form in der Kadettenzeitung „Reč“. Obwohl der Titel sowie der Kerngedanke mit dem Artikel vom März übereinstimmen, ist der Text nun für ein breiteres Publikum kürzer und polemischer formatiert. Dabei nimmt die Verurteilung Deutschlands einen beachtlichen Teil der Schrift ein. Im Namen russischer Gelehrter schrieb Rostovtzeff, dass „schwere Verletzungen des Rechts und der Humanität“ 185 durch das deutsche Volk und „die bekannte Erklärung der deutschen Wissenschaftler“ 186, die „von Hass, Eitelkeit und Eigenlob gesättigt ist“ 187, nicht vergessen seien. Er räumte Deutschland eine hervorragende Rolle im weltweiten Wissenschaftsverkehr ein. Gleichzeitig sei Deutschland mit seiner „Hypertrophie von Organisation, Disziplin, Militarismus und Bürokratismus nicht nur im staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Leben, sondern auch in seinem wissenschaftlichen Dasein“ 188 Schuld an der Zerkleinerung und Zersplitterung der wissenschaftlichen Arbeit sowie an dem Materialisieren und Mechanisieren des wissenschaftlichen Schöpfens. Deutschland hätte bewusst und planmäßig auf seine wissenschaftliche Hegemonie hingearbeitet. Dort hätte sich der Gedanke der deutschen als der „e i n z i g w a h r e n W i s s e n s c h a f t “ 189 etabliert. „Das alles wurde natürlich im besten Fall nur von einer herablassenden gönnerhaften Akzeptanz des wissenschaftlichen Schaffens anderer Völker begleitet; dabei wurden einige Ausnahmen […] lediglich für England und Frankreich gemacht“ 190, betonte der russische Althistoriker. Des Weiteren schrieb Rostovtzeff, dass keiner wisse, wann der Krieg zu Ende gehe. Das Kriegsende sollte die alliierten Länder jedoch nicht überrumpeln. Daher sollten sie die Gründung eines „gleichberechtigten Bundes“ 191 anstreben. Die möglichen Wege zur Umsetzung dieses Ziels gab der Autor in einer gekürzten Form aus dem März-Aufsatz wieder und resümierte wie folgt: 183 Ebd., 81. 184 Ebd. 185 Rostovtzeff, M.: Meždunarodnoe naučnoe obščenie [Die internationale Wissenschaftskommunikation], in: Reč vom 4.11.1916, 1. 186 Ebd. 187 Ebd. 188 Ebd. 189 Ebd., 2. 190 Ebd. 191 Ebd.

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„Nur in diesem Fall können wir nach dem Krieg dem starken wissenschaftlichen Organismus Deutschlands einen genauso starken wissenschaftlichen Organismus der alliierten Nationen gegenüberstellen und zwar nicht für den Krieg im Namen des Krieges, sondern für eine wohltuende gemeinsame, aber durchaus selbständige und individuelle Arbeit auf dem Feld des wissenschaftlichen Schaffens.“ 192 Zum Schluss seines Artikels verwies Rostovtzeff auf die Initiative von Sir George Buchanan 193, dem britischen Botschafter in Russland, für eine engere wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen England und Russland hin und äußerte die Hoffnung, dass die entsprechenden Vorschläge Resonanz bei der russischen Regierung und der russischen Öffentlichkeit finden würden. Den britischen Diplomaten traf Rostovtzeff zumindest zwei Mal in St. Petersburg und zwar bei den Veranstaltungen der Gesellschaft der Englischen Flagge, die am 23. November 1915 in St. Petersburg gegründet worden war. Kurz darauf wurde seine Schrift „Die internationale Wissenschaftskommunikation“ veröffentlicht. Die englisch-russischen Gesellschaften sind seit der zweiten Hälfte 1915 in Mode gekommen. Die erste solche Organisation, die Gesellschaft für die Annäherung an England, wurde im Mai 1915 auf Initiative von liberalen Politikern, u. a. von Pavel Miljukov, in Moskau gegründet. 194 Die Teilnahme der führenden Akteure des politischen Lebens des Zarenreichs an diesen Gründungen verraten, dass solche Gesellschaften nicht nur rein wissenschaftliche, sondern durchaus auch politische Ziele verfolgten. Die großen Niederlagen der russischen Armee im Sommer–Herbst 1915 samt einer mangelnden Bereitschaft der russischen Regierung zu politischen Veränderungen, die liberale Kräfte Russlands am Anfang des Krieges mit Begeisterung erwartet hatten, zwangen die progressive Öffentlichkeit zu handeln. Auch England als ein neues wissenschaftliches Bezugsland wurde nicht zufällig ausgewählt. Die Heimat der konstitutionellen Monarchie stellte nach wie vor ein großes Vorbild für russische liberale Kreise, vor allem für die Kadetten, dar. Die englischen Gesellschaften initiierten russlandweit sowohl öffentliche Veranstaltungen als auch private Treffen. Bei einem solchen Treffen am 17. Februar 1916 war Michail Rostovtzeff dabei, wie dies eine seiner Parteikollegen A. Tyrkova in ihren Memoiren beschrieb: „Gestern fand das Bankett der Gesellschaft der Englischen Flagge statt. Das erste Mal saß der Botschafter an einem Tisch mit der russischen Gesellschaft und zwar nicht mit den offiziellen Menschen. Und das erste Mal saß die freie russische Öf192 Ebd. 193 Der britische Botschafter George William Buchanan (1854–1924) war zwischen 1910 und 1917 in St. Peterburg tätig. Vgl. Buchanan, G.W.: My Mission to Russia and Other Diplomatic Memories, London 1923. 194 Vgl. Tumanova, A.: Obščestvennye organizacci Rossii v gody pervoj mirovoj vojny (1914–fevralʼ 1817 g.) [Gesellschaftsorganisationen Russlands während des Ersten Weltkriegs (1914–Februar 1917)], Moskau 1914, 60–71.

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fentlichkeit an einem Tisch mit dem Premier […]. Der Botschafter war aufgeregt. […] Und Rostovtzeff erzählte, dass der Botschafter sich das Bankett sehr zu Herzen genommen und ihm [dem Bankett] eine große Bedeutung beigemessen hatte.“ 195 Am 19. und 21. Oktober 1916 versammelten sich die Mitglieder der Gesellschaft der Englischen Flagge in Petrograd zu Wahlen. Es wurden der ehemalige Außenminister S. Sazonov zum ersten Ehrenmitglied, der Vorsitzende der Staatsduma M. Rodzjanko zum Vorsitzenden und der britische Botschafter G. Buchanan  196 zum Ehrenvorsitzenden gewählt. Dem Ausschuss der Gesellschaft war u. a. Michail Rostovtzeff beigetreten. Die Sitzungen der russisch-englischen Gesellschaft mit ihren Plänen für die Erweiterung sowohl der Tätigkeit als auch für die Steigerung der Mitgliederzahlen wurden in der Presse intensiv beleuchtet. 197 Inwieweit diese und die darauffolgenden Zusammenkünfte der Befürworter der englisch-russischen Annäherung die wohl bekannteste Rede P. Miljukovs am 1. November 1916 anspornten, darüber lässt sich nur spekulieren. 198 Es scheint aber sicher zu sein, dass die dort geführten Diskussionen das rein wissenschaftliche Feld relativ früh verließen und einen hoch politischen Charakter annahmen. In seinem drei Tage später in „Reč“ erschienenen Aufsatz blieb Rostovtzeff zunächst der Frage nach der Rolle Deutschlands in der Wissenschaft und dessen Schuld im Krieg thematisch treu. 3.1.2.2 Die Neuorientierung in der Praxis Die Auffassung, die Rostovtzeff in seinem Aufsatz „Die internationale Wissenschaftskommunikation“ vertrat, fand ihren praktischen Ausdruck bereits während des Ersten Weltkrieges. Es gab eine ganze Reihe von Maßnahmen zur akademischen Annäherung zwischen England und Russland: Im Mai 1915 schlug z. B. der Professor der Universität Oxford Frank A. Gold bei seinem Besuch in St. Petersburg vor, einen Sammelband zur Geschichte und Kultur Russlands auf Englisch herauszugeben; Ende 1915 wurde School of Slavonic Studies in London gegründet. 199 1916 wurde außerdem die Stundenzahl des Englischunterrichts in Schulen und Universitäten Russlands auf Initiative des Bildungsministeriums und der Russischen Akademie der Wissenschaften erhöht, die gegenseitigen Besuche der Wissenschaftler, die Zahl der Konferenzen und Publikationen vermehrt und 195 Kaniščeva, N. (Hg.): Nasledie Ariadny Tyrkovoj: Dnevniki. Pisʼma [Ariadna Tyrkovsʼ Nachlass: Tagebücher. Briefe], Moskau 2012, 168f. 196 Vgl. Buchanan 1929, Bd. 2, 29f. 197 Vgl. u. a. Obščestvo angliojskogo flaga [Die Gesellschaft der Englischen Flagge], in: Reč 21.10.1916; V Obščestve angliojskogo flaga [In der Gesellschaft der Englischen Flagge], in: Russkie vedomosti vom 19.10.1916; Tumanova 2014, 68f. 198 Vgl. Tumanova 2014, 69. 199 Vgl. Hughes, M./Pares, B.: Russian Studies and the Promotion of Anglo-Russian Friendship, 1907–14, in: The Slavonic and East European Review 78 (2000), 510–535; Roberts, I.: History of the School of Slavonic and East European Studies, 1915–1990. London 1991.

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der wissenschaftliche Austausch intensiviert. Im Sommer 1916 besuchte der Historiker A. Lappo-Danilevskij zusammen mit zwei Abgeordneten der Staatsduma, P. Miljukov und P. Struve, die Universität in Cambridge, wo sie Ehrendoktortitel erhielten. Während sich 1916 als das „englische“ Jahr in der Neuorientierung der russischen Wissenschaft bezeichnen lässt, wurden 1917 in Russland vor allem Maßnahmen zur Annäherung mit Frankreich unternommen. Bereits im Vorjahr soll Rostovtzeffs Aufsatz „Die internationale Wissenschaftskommunikation“ eine große Resonanz in Frankreich gehabt haben, wobei die Vorschläge des russischen Althistorikers in der französischen Presse sowie in offiziellen Kreisen Frankreichs diskutiert wurden. 200 Die Annäherungsversuche zwischen den beiden Ländern konzentrierten sich auf das Französische Institut in Petrograd, das 1911 gegründet war. So berichtete die Zeitung „Reč“ über die öffentliche Sitzung der russisch-französischen Gesellschaft des Institutes am 21. Februar 1917, bei der der Direktor des Instituts J. Patouillet  201 über die russisch-französische Geschichte und zukünftige Beziehungen beider Länder sprach. „Unter dem zahlreichen Publikum waren Professor Rostovtzeff, Kareev, Zelinskij, P. N. Miljukov […] und viele andere“ 202 anwesend. Auch während der revolutionären Erschütterungen blieb Rostovtzeff an der Annäherung mit Frankreich äußerst interessiert: Ende August 1917 nahm er zusammen mit A. Lappo-Danilevskij an der Sitzung des Französischen Instituts teil. Dabei wurden die Vorschläge der Akademiker genehmigt, den Austausch von wissenschaftlichen Arbeiten und Katalogen wissenschaftlicher Publikationen in die Wege zu leiten. Kurz vor der Oktoberrevolution wurde auf einer allgemeinen Versammlung der russischen Akademie der Wissenschaften der Brief des abwesenden Rostovtzeffs über die Errichtung des russischen Instituts in Paris erörtert. Im Oktober war außerdem eine dreimonatige Paris-Visite russischer Wissenschaftler (Olʼdenburg, Vernadskij und Lappo-Danilevskij) geplant. 203 Diese Pläne konnten aufgrund des bolschewistischen Umsturzes nicht realisiert werden. Rostovtzeff rollte dieses Thema erneut während seiner Emigration in Europa auf. In einem Memorandum versuchte er die Alliierten für eine engere kulturelle Zusammen-

200 Vgl. Ržeckij, V.: Francuzskij institut v Sankt-Peterburge (1911–1919) i russko-francuzskoe naučnoe sbliženie [Das Französische Institut in Sankt Peterburg (1911–1919) und die russisch-französische wissenschaftliche Annäherung], in: Čerkasov, P. (Hg.): Rossija i Francija, XVIII–XX veka, Moskau 2006, 317–321. 201 Der französische Slawist Jules Patouillet (1862–1941) leitete zwischen 1913 und 1919 das Französische Institut in St. Petersburg/Petrograd. In der Emigration hielt Rostovtzeff den Kontakt mit Patoulliet aufrecht und schrieb dazu: „Mit ihm arbeite ich mit Herz und Seele. Er ist ein wunderbarer Mensch!“. Brief M. Rostovtzeffs an A. Tyrkova -Williams vom 12.7.1919, in: Bongard-Levin 1997, 476, 465; Vgl. Mazon, A./ Marcelle, E.: Jules Patouillet, in: Revue des études slaves 21 (1944), 179–183. 202 In der russisch-französischen Gesellschaft, in: Reč vom 22.2.1917, 4. 203 Vgl. Dmitriev, A.: Pervaja mirovaja vojna: universitetskie reform i internacionalʼnaja transformacija rossijskogo akademičeskogo soobščestva [Der Erste Weltkrieg: universitäre Reformen und die internationale Transformation der russländischen akademischen Gemeinschaft], in: Kolčinskij, Ė. (Hg.): Nauka, technika i obščestvo Rossii i Germanii vk vremja Pervoj mirovoj vojjny, St. Petersburg 2006, 240–243.

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arbeit zu gewinnen. 204 Wenn die Intensivierung der Beziehung zur anglo-französischen Welt während des Ersten Weltkrieges auf der antideutschen Position basierte, wurde der Kampf gegen den Bolschewismus zum Leitmotiv für neue Verhandlungen: „Heute liegt Russlands nahe Zukunft im Dunkeln. Es besteht aber kein Zweifel, dass der russische Staat in der nächsten Zukunft wiederauflebt, eine mehr oder weniger feste russische Regierung gebildet wird und reguläre internationale Beziehungen wiederaufgenommen werden. Der Wiederaufbau des Russischen Staates gehört, so weit man nach Erklärungen der alliierten Staaten beurteilen kann, zum Friedensprogramm für Deutschland und ist, laut der allgemeinen Meinung der Alliierten, eine Sache der Zukunft. Unter diesen Umständen sollte über den Aufbau einer festen intellektuellen und wissenschaftlichen Kommunikation zwischen Russland und England nachgedacht werden.“ 205 Rostovtzeff verwies auf seinen Aufsatz „Die internationale Wissenschaftskommunikation“ von 1916 und seine Aktivitäten in der russisch-englischen Gesellschaft in Petrograd während des Krieges. Er war überzeugt, dass „vieles, was in der letzten Zeit geschehen ist“, von der „absoluten Unkenntnis“ 206 über Russland zu verantworten sei. Er bestand weiterhin auf der Gründung eines Britischen Instituts in Petrograd und eines Russischen Instituts in London. Für vorläufige Verhandlungen schlug der Althistoriker neben anderen sich selbst vor. Im Sommer 1919 nahm Rostovtzeff an der von Patouillet und dem Pariser Komitee „La France er lʼEffort des Allies“ organisierten Reise durch Südfrankreich teil. Dort hielt der Althistoriker Reden über Russland und über die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Beziehungen zu seinem Heimatland. Das Ziel dieser Reise war „die Kontaktaufnahme mit Universitäten Frankreichs für die Organisation der wissenschaftlichen Annäherung im großen Ausmaß und für die Vorbereitung der Tätigkeit des Russischen Instituts in Paris“. 207 Im Oktober 1919 repräsentierte Rostovtzeff darüber hinaus die Russische Akademie der Wissenschaften auf der Konferenz zur Organisation der neuen Union der Wissenschaftsakademien der alliierten Länder in Paris. 208

204 Vgl. Rostovtzeff, M.: Memorandum 1918–1919, in: Handschriftenabteilung The British Library. Mss. Funds. Add. 54436, undatiert, abgedruckt auf Russisch, in: Bongard-Levin 1997, 464f. 205 Ebd., 465. 206 Ebd. 207 Rostovtzeff M.: Otčet [Bericht] 1918–1919, zitiert nach: Bongard-Levin, G.: Otčet M.I. Rostovceva o zarubežnoj komandirovke v 1918–1919 gg, in: VDI 3 (1994), 232. Zum Teil wurden diese Ideen in der Gründung des Instituts des Études Slaves in Paris im Jahr 1919 realisiert. Vgl. Die offizielle Internetseite vom L’Institut d’études slaves, unter: http://institut-etudes-slaves.fr/ (letzter Abruf 2.10.1914). 208 Vgl. Bongard-Levin 1994, 232; Comptes rendusr de la seconde Conference Academique tenue a Paris les 16–18 octobre 1919, Paris 1919.

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Ausblick: Versöhnung mit deutschsprachigen Gelehrten und Wiederherstellung wissenschaftlicher Beziehungen

Der Krieg zerstörte vieles, führte jedoch nicht zum völligen Abbruch der Beziehungen Rostovtzeffs zu den deutschen Wisenschaftlern. Nach einigen Jahren konnte Michail Rostovtzeff das Trauma des Ersten Weltkrieges verarbeiten, seinen deutschen Kollegen die aktive Kriegsteilnahme verzeihen, wenn auch nicht vergessen, und die alten Kontakte wiederaufnehmen. Im Vorwort seiner „Social and Economic History of the Roman Empire“ schrieb Rostovtzeff über diese Erfahrung wie folgt: „At the end of his preface an author usually permits himself the pleasure and the privilege of mentioning those who were kind enough to help him in his work. My list is a long one. It shows how earnestly I have labored to make my information as complete as possible and how little the disasters of war and revolution have impaired the international solidarity of scholars.“ 209 Solche Versöhnung war erst möglich, als der russische Althistoriker im sicheren amerikanischen Exil war und sich wieder wissenschaftlicher Arbeit widmen konnte. Es ist schwer festzustellen, wann genau Rostovtzeff seinen Kollegen aus Deutschland „vergeben“ hat. Noch während seines Umherirrens und seiner intensiven antibolschewistischen Tätigkeit in Europa zwischen 1918 und 1920 war er von den Ereignissen des Ersten Weltkrieges nicht wirklich befreit und schrieb bezüglich seiner Reise nach England: „Nach England fahre ich mit großem Vergnügen. Ich weiß nicht, aber ich will die Deutschen fertig prügeln, obgleich nicht direkt, sondern indirekt“. 210 Während einer Reise nach Europa nahm Rostovtzeff u. a. im April 1923 an dem fünften und dem ersten nach dem Krieg stattfindenden internationalen Historikerkongress in Brüssel teil. Wie bekannt, waren deutsche bzw. österreichische Wissenschaftler zu diesem Wissenschaftstreffen nicht zugelassen. Sie durften erst fünf Jahre später am darauffolgenden Historikerkongress in Oslo teilnehmen. 211 Der emigrierte russische Althistoriker traf seine Bekannten aus Deutschland bei seinem Italienbesuch im Sommer 1923 wieder. Äußerst bewegend sollte Rostovtzeffs Wiedersehen mit seinen deutschen Kollegen aus DAI nach mehr als zehn Jahren in Rom gewesen sein. Seine Eindrücke über die Reise durch Italien, u. a. über sein geliebtes Pompeji, erschienen im gleichen Jahr in einer russischen Emigrantenzeitung. Dort sprach er wieder über seine „hiesigen Freunde, besonders die Deutschen“ 212. Zu diesen Deutschen in Rom gehörte vor allem Rostovtzeffs „naher 209 Rostovtzeff 1926. XV. 210 Brief M. Rostovtzeffs an A. Tyrkova -Williams vom 15.8.1918, in: Bongard-Levin 1997, 463. 211 Vgl. Pinwinkler, A.: Deutsche Geschichtswissenschaften und „Bevölkerung“ bei den Internationalen Historikerkongressen der Zwischenkriegszeit, in: Steidl, A. (Hg.): Übergänge und Schnittmengen. Arbeit, Migration, Bevölkerung und Wissenschaftsgeschichte in Diskussion, Wien 2008, 377f. 212 Rostovtzeffs zweiter Brief. Mystische Rom, in: Zveno 25.6.1923, 2, zitiert nach: Bongard-Levin 1997, 649.

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Freund“ 213 Walther Amelung, der zwischen 1921 und 1927 als Erster Direktor des Instituts tätig war. Der Kontakt zwischen den beiden sollte bereits bis 1921 wiederhergestellt worden sein. 214 1923 in Italien zeichnete sich nun ein Neuanfang in den Beziehungen zwischen dem russischen Althistoriker und den deutschen Gelehrten ab. 215 Am Beispiel des Schicksals Tatjana Warschers (1880–1960), einer Schülerin Rostovtzeffs, lässt sich der Austausch zwischen Rostovtzeff und den deutschen Wissenschaftlern in der Zwischenkriegszeit veranschaulichen. Nach der Abreise aus dem bolschewistischen Rusland 1921 gelangte Warscher über Berlin nach Paris, wo sie 1923 Rostovtzeff traf. Seinem nachdrücklichen Rat folgend siedelte sie nach Italien über, wo sie mithilfe ihres Lehrers eine Stelle im DAI in Rom bekam. Dort widmete sich Warscher der Pompeji-Forschung und fand ihre neue Heimat. 216 Sie betreute Rostovtzeffs Studenten und Doktoranden in der American Academy in Rom und wurde zu einem Bindeglied zwischen ihrem Lehrer und deutschen Gelehrten. Sie erlebte den Pompeji-Besuch von Wilamowitz-Moellendorff im Herbst 1927 und seine begeisterten Äußerungen über Rostovtzeff, den „größten Historiker unserer Zeit“ 217. 213 Warscher, T.: Akademik [Der Akademiker] M.I. Rostovtzeff, in: Posloednie novosti 22.6.1931, in: RAN SPb1054/1/69. 214 Vgl. Brief O. Kerns an M. Rostovtzeff vom 19.5.1921, in: Kreucher 2005, 184. Rostovtzeff beteiligte sich außerdem 1928 an der Festschrift zum 60. Geburtstag seines „römischen Freundes“. Vgl. Rostovtzeff, M.: Ein spätetruskischer Meierhof, in: Antike Plastik. Walther Amelung zum sechzigsten Geburtstag, Berlin 1928, 213–217. 215 1923 erschienen Rostovtzeffs Rezensionen zu Arbeiten der deutschen und österreichischen Kollegen in der englischsprachigen „The Journal of Roman Studies“; 1926 veröffentlichte er sein Gutachten in der deutschen Rezensionszeitschrift und 1929 bzw. 1931 wurden seine zwei Werke ins Deutsch übersetzt. Vgl. Rostovtzeffs Rezensionen: Die Kunst des Altertums von Anton Springer. 12. Aufl., bearbeitet von Paul Wolters . Leipzig 1923, in: JRS 13 (1923), 198–200; Die römischen Grabsteine von Noricum und Pannonien von Arnold Schober, Wien 1923, in: Ebd., 205–207; Griechische und griechisch-demotische Ostraka der Universitäts- und Landesbibliothek zu Strassburg in Elsass von P. Viereck, in: Gnomon 2 (1926), 173ff; Rostovtzeff, M.: Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich, 2 Bde., Leipzig 1929; Ders.: Skythien und der Bosporus, Bd. 1, Berlin 1931. 216 T. Warscher wurde zu einer bedeutenden Pompeji-Forscherin, was auch von ihrem Lehrer Rostovtzeff bestätigt wurde: „Meine frühere Liebe war Pompeji. Diese Liebe erbte von mir Tatjana Sergeevna. Ihr ganzes Leben untersuchte sie Pompeji. In Russland machte sie in ihren Vorlesungen Pompeji sowohl ihren Schüler und Schülerinnen als auch den breiten Massen der Intelligencija bekannt. Sie wurde vom Schicksal aus Russland herausgeworfen. Aber sie und Pompeji gingen nicht auseinander. Nach tausend Hindernissen und Entmutigungen richtete sie ihr Leben so ein, dass sie sich gänzlich ihrer Arbeit widmen kann, die Zeit zwischen Rom und Pompeji teilend. T.S. Warscher ist eine große Pompeji-Kennerin. Sie ist eine der besten [Kennerin] von allen bedeutenden europäischen und amerikanischen Wissenschaftlern!“. Zitiert nach: Trockij, I.: Tatiana Warscher (k 50-letiju ee naučnoj i literaturnoj dejatelʼnosti) [zu 50. Jahren ihrer wissenschaftlichen und literarischen Tätigkeit], in: Novoe russkoe slovo 16.5.1957; Warscher, T.: Pompeji. Ein Führer durch die Ruinen, Berlin 1925; Richardson, L./Welles, C.B.: Tatiana Warscher. Necrology, in: American Journal of Archaeology 66 (1962), 95f. 217 Warscher 1931. Wilamowitz erwähnte in einem Brief an Rostovtzeff diesen Aufenthalt in Pompeji: „In Pompeji machte Ihre lebenswürdige eigenartige Schülerin den Besuch noch fesselnder,

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Sie übersetzte außerdem ein Teil von Rostovtzeffs Werk „Antike dekorative Malerei im Süden Russlands“, die letzte Arbeit, die den russischen Historiker mit Deutschland vor dem Kriegsausbruch verband, für Gerhardt Rodenwaldt 218 und Ferdinand Noack. 219 In den 1920/30er Jahre hielt sich der Althistoriker mehrmals in Rom auf. Er schrieb, dass es für ihn „im Institut angenehm“ 220 zu arbeiten wäre. Warscher erinnerte sich an Rostovtzeffs öffentlichen Vortrag 1931 im DAI Rom und an den mit Interessenten überfüllten Raum, wo der Althistoriker über die Ergebnisse der Ausgrabungen in Dura Europos berichtete: „Rostovtzeff las auf Deutsch und las so, als ob er gerade vom Rednerpult einer der germanischen Universitäten heruntergestiegen wäre; dabei hält er Vorlesungen und leitet Seminare bereits seit elf Jahren nur auf Englisch.“ 221 Rostovtzeff begann außerdem wieder nach Deutschland zu reisen. So sprach er mit einer „große[n] Ehre und eine[r] große[n] Freude“ 222 am 2. Juli 1929 auf der Sitzung der archäologischen Gesellschaft in Berlin und war im Haus von Ulrich Wilcken zu Gast. 223 Ein Jahr später traf er während seiner Deutschlandreise erneut einige seiner alten Freunde, u. a. besuchte Rostovtzeff mit seiner Frau Friedrich Münzer, den dieser Besuch äußerst bewegte: „[…] Es ist wirklich an mir, Dir zu danken; denn du hast die Initiative zu diesem Wiedersehen ergriffen, ebenso wie Du nach der Unterbrechung aller alten Verbindungen während der Kriegszeit durch Deine wertvolle Zusendung den Anfang zur Wiederherstellung gemacht hast.“ 224 Rostovtzeffs Briefwechsel weist ähnliche Äußerungen seiner deutschsprachigen Kollegen auf und bezeugt die Wiederherstellung der gegenseitigen Kontakte der Wissenschaft-

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und wir haben Ihrer immer wieder gedacht“. In: Brief U. von Wilamowitz-Moellendorffs an M. Rostovtzeff vom 23.10.1927, in Calder III 1990, 251. Gerhardt Rodenwaldt (1886–1945), der Generalsekretär des DAI zwischen 1932 und 1936, gratulierte in einem Brief vom 21.10.1939 Rostovtzeff zum siebzigsten Geburtstag und schrieb, „dass jeder Ihrer Aufsätze nirgends mit grösserer Spannung erwartet und mit tieferem Dank gelesen und genutzt werden konnte als in der deutschen Wissenschaft“. Vgl. Kreucher 2005, 209; Sünderhauf, E.: Rodenwaldt, Gerhardt, in: DNP Suppl. 6 (2012), 1072–1075. Ferdinand Noack (1865–1931), der von 1916 bis 1931 als Professor für Archäologie an der FriedrichWilhelms-Universität in Berlin tätig war, hätte Rostovtzeff in Privatgesprächen sowie in seinen Vorlesungen als ein „Unicum“ bezeichnet. Vgl. Warscher 1931; Matz, F.: Ferdinand Noack, in: Gnomon 7 (1931), 670ff. Brief M. Rostovtzeffs an G. Vernadsky vom 21.7.1931, in: Bongard-Levin, 525. Warscher 1931. Rostovtzeffs Vortrag am 2.7.1929, in: Archäologischer Anzeiger 44 (1929), 431. Vgl. Brief U. Wilckens an M. Rostovtzeffs vom 5.8.1929, in: Kreucher 2005, 60f. Brief M. Rostovtzeffs an F. Münzer vom 14.6.1930, in: Kreucher 2005, 92; Rostovtzeff, M.: Note sur deux inscriptions latines de Trèvess et de Bonn, in: Comptes rendus des séances de l‘Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 1930, 250–260; Kreucher 2005, 61.

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Rostovtzeffs Beteiligung am „Krieg der Geister“

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ler seit den späten 1920er Jahren in Form von Besuchen und Zusendungen wissenschaftlicher Literatur. 225 Schließlich soll Rostovtzeffs Beziehung zu Wilamowitz und Ed. Meyer, seinen beiden Erzfeinden im „Krieg der Geister“, geklärt werden. Die Kontaktaufnahme zu Wilamowitz geschah spätestens 1926, als Rostovtzeffs „The Social and Economic History of the Roman Empire“ erschien. Seitdem korrespondierten die beiden Gelehrten regelmäßig miteinander. Der deutsche Altphilologe wusste dies zu schätzen: „Ich habe Ihnen so viel zu danken und lege auf unsere Beziehungen, die nun schon über 30 Jahre alt sind, den grössten Wert. Als ich Sie in Rom kennenlernte, habe ich richtig empfunden, daß Sie zu etwas Grossem berufen waren“. 226 Die Situation mit Ed. Meyer sah ganz anders aus. Der Kontakt zwischen ihm und Rostovtzeff blieb nach dem Kriegsende abgebrochen. Das hing nicht nur mit der extremen politischen Position Ed. Meyers im Ersten Weltkrieg zusammen, sondern sicherlich auch mit Meyers Verhältnis zur Rostovtzeffs Heimat in der Nachkriegszeit. Ed. Meyers Reisen in die Sowjetunion 1925 und 1928 und seine Äußerungen über die „gewaltige Bedeutung“ 227 Lenins, der seit Bismark „vielleicht der einzige“ 228 sei, der „den Namen eines Staatsmannes in vollem Sinne des Wortes verdient“, 229 machten die Versöhnung der beiden unmöglich. Nur noch einmal schrieb Rostovtzeff den Namen des deutschen Althistorikers: Er verfasste 1933 eine biographische Skizze über ihn, in der ausschließlich Meyers wissenschaftliche Tätigkeit vom Autor zusammengefasst wurde. 230 Das Ansehen des russischen Althistorikers war in der Nachkriegszeit in Deutschland dermaßen hoch, dass Gerüchte über seine Professur in Berlin weltweit im Umlauf waren. In Russland hieß es: „Eduard Meyer vererbte, nach Gerüchten, Rostovtzeff seinen Lehrstuhl, deutsche Wissenschaftler weigerten sich jedoch, den kämpferischen Feind des Pangermanismus zu akzeptieren“. 231 Und der amerikanische Papyrologe W. Westermann (1873–1954) schrieb Rostovtzeff in einem Brief von 1929, dass er gehört habe, dem Althistoriker wäre die Professur in Berlin angeboten worden. 232 Ein Jahr später fragte U. Wilcken Rostovtzeff vertraulich, ob er sich vorstellen könnte, seine „Stelle, die alte Pro225 Vgl. Kreucher 2005, 10–15. 1933 nahm Rostovtzeff am 3. Internationalen Papyrologentag in München teil. Vgl. Rostovtzeff, M.: Das Militärarchiv von Dura, in: Otto, W. (Hg.): Papyri und Altertums-wissenschaft. Vorträge des 3. Internationalen Papyrologentages in München, München 1934, 351–378; Bericht dazu in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 54 (1934), 486–490. 226 Calder 1990, 252. 227 Meyer 1925, 106. 228 Ebd. 229 Ebd. 230 Vgl. Rostovtzeff, M.: Meyer, Eduard (1855–1930), in: Encyclopedia of the Social Sciences 10 (1933), 402f. 231 Anziferov 1992, 162. 232 Brief W. Westermanns an M. Rostovtzeff vom 28.2.1929, in: Bongard-Levin 1997, 349.

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fessur von Mommsen und Hirschfeld“ 233, anzutreten. Rostovtzeffs Meinung zu diesem Vorschlag genauso wie die Hintergründe dieser Geschichte bleiben vorerst im Dunkeln.

3.2 Der Althistoriker im Krieg: Wohltätigkeit Ein äußerst interessantes Bild von Michail Rostovtzeff während des Ersten Weltkrieges liefert die Beschreibung eines Absolventen der historisch-philologischen Fakultät der Universität Petrograd: „Der Krieg gegen Deutschland warf Rostovtzeff aus der gewohnten Bahn. Er begann den Kampf gegen den Pangermanismus in seinen Vorlesungen zu verbreiten. Er sagte, dass nur die Völker über eine wahre Kultur verfügten, die ihre Kultur auf der Grundlage der antiken Kultur entwickelten. Die Deutschen wurden von der Welt der klassischen Völker durch die Verteidigungslinie Limes romanus (auf dem Rhein und Donau) getrennt. Währenddessen ist das Russische Land einst von der antiken Kultur gedüngt worden. Seine Südküste des Schwarzmeeres gehörte zur hellenistischen Welt. […] Der leidenschaftliche Rostovtzeff konnte sich während der Kriegsjahre nicht in das akademische Leben zurückziehen. Als Munitionsmangel bekannt wurde, stellte sich Michail Ivanovič an die Werkbank und fing an, Geschosse herzustellen.“ 234 Die Möglichkeiten des Kriegseinsatzes waren sowohl für Rostovtzeff als auch für die Mehrheit der russischen Universitätsangehörigen überschaubar. Während seine Freunde und Kollegen aus Deutschland – wie Theodor Wiegand als Hauptmann im Kriegspresseamt des Generalstabs in der Türkei oder Georg Karo als Fürsorger für die Denkmäler in Syrien und Palästina – sich unmittelbar am Kriegsgeschehen beteiligten, mussten sich der russische Gelehrte und seine Mitstreiter mit frontfernen Tätigkeiten begnügen. 235 Dies hing in erster Linie mit der 1874 im Zarenreich eingeführten allgemeinen Wehrpflicht zusammen, die u. a. die Verbreitung der Bildung in der russischen Bevölkerung zum Ziel hatte. Neben dem Familienstand war der Bildungsgrad potenzieller Rekruten bei der Berechnung der Dienstzeit von entscheidender Bedeutung. Die aktive Dienstdauer von sechs Jahren reduzierte sich entsprechend der nachgewiesenen Ausbildung: für Grundschulbesucher auf vier Jahre und für Universitätsabsolventen sogar auf sechs Monate. Studenten konnten ihren Wehrdienst bis zum 27. Lebensjahr aufschieben und für Lehrer war 233 Brief U. Wilckens an M. Rostovtzeff vom 30.11.1930, in: Kreucher 2005, 65. 234 Anziferov 1992, 162. 235 Vgl. Ungern-Sternberg, J.: Deutsche Altertumswissenschaftler im Ersten Weltkrieg, in: Maurer 2006, 242f; Maurer, T.: Fern der Front und fern vom „Volk“: Die „Verteidigung der Heimat“ durch Studenten und Professoren des Russischen Reiches, in: Erster Weltkrieg. Globaler Konflikt – lokale Folgen, Innsbruck 2014, 247–272.

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es möglich, direkt in die Reserve überzugehen. „Nirgendwo war es für einen jungen Mann weniger wahrscheinlich, Soldat werden zu müssen, als im Russischen Reich“. 236 Vielen russischen Studenten blieb die Einberufung im Herbst 1914 erspart. Sie wurden als Offiziersnachwuchs betrachtet. Diese Privilegien wurden zwar später aufgrund des für Russland ungünstigen Kriegsverlaufs eingeschränkt, jedoch nicht vollständig abgeschafft. Die 2.500 bis 3.000 Plätze in Offiziersschulen sollen von Freiwilligen, wie die beiden Söhne von P. Miljukov, besetzt worden sein. Demzufolge spricht man von im internationalen Vergleich geringen Verlusten der Angehörigen der russischen Hochschulen im Ersten Weltkrieg. 237 Die Hochschullehrer des Russischen Reichs waren von der Einberufung zum Militärdienst vollständig befreit. Im Unterschied zu Deutschland, wo die Professoren bis zum 45. Lebensjahr an die Front oder in die Militärhospitale einberufen werden konnten, waren die russischen Untertanen von einem ähnlichen Schicksal verschont. 238 Michail Rostovtzeff ist im Herbst 1914 erst 44 Jahre alt geworden und wäre noch in einem für Deutschland dienstpflichtigen Alter gewesen. Vor diesem Hintergrund wirken die oft wiederholten Aussagen der Professoren über die Einigkeit mit dem Volk in Russland und in Deutschland ganz unterschiedlich. Dessen waren sich ohne Zweifel auch die „verschonten“ russischen Gelehrten bewusst, was vermutlich eine stärkere Rechtfertigung ihrer Existenz unter Kriegsumständen forderte sowie eine intensive Tätigkeit im Hinterland zur Folge hatte. Wie konnte man sonst den Worten russischer Wissenschaftler Glauben schenken, während deutsche Gelehrten womöglich mit echten Waffen kämpften? Unter diesen Umständen erscheint die oben geschilderte Munitionsproduktion von Rostovtzeff als eine impulsive Tat recht glaubwürdig und durchaus nachvollziehbar. Nicht zufällig setzte Rostovtzeff 1916 in der Zeitung „Reč“ den Fokus auf den Zusammenhalt des russischen Volks: „Wissenschaftler sind dieselben Menschen, genauso leidenschaftliche Vertreter der gewissen Grundsätze und Prinzipien wie andere ideologische Anführer der Menschheit; sie erlebten und erleben den Krieg als einen Teil ihres Volkes und teilen seine [Volkes] begeisterte Laune.“  239 Das akademische Jahr 1914/15 fing in Russland vor dem Hintergrund des ausgebrochenen Weltkrieges an. Abgesehen von angepassten Vorlesungsinhalten einzelner Professoren, wie im Falle von Rostovtzeff, ging die Lehr- sowie Wissenschaftspraxis der hauptstädti-

236 Benecke, W.: Die Allgemeine Wehrpflicht in Russland: Zwischen militärischem Anspruch und zivilen Interessen, in: Journal of Modern European History 5 (2007), 252. 237 Vgl. Maurer 2014, 252, 257. 238 Vgl. Maurer, T.: Exclusiveness and Integration: Professors and Students in German Society during World War I, in: Bruch, R./ Bott, M.-L. (Hg.): Alltagswelt Universität, Stuttgart 2007, 216ff. 239 Rostovtzeff 1916, 1.

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schen Universität ihren gewohnten Gang. Im Laufe des Krieges stieg sogar die Zahl der Lehrkräfte sowie Studenten der Petrograder Universität. 240 Bereits zu Kriegsbeginn wurde durch die Universitätskollegien ein 3%-Gehaltsabzug zugunsten der Verwundeten, Soldatenfamilien sowie zur Erhaltung der Lazarette angeordnet. In den Gebäuden der Petrograder Universität wurden eigene Lazarette, wo Frauen von Professoren und Privat-Dozenten tätig waren, sowie eins der Reserve-Regimente untergebracht. Auch Studenten engagierten sich aktiv bei der Organisation der medizinischen Versorgung, u. a bei dem Transport der Verwundeten. Bemerkenswert war die Position dieser Hochschule bezüglich der Teilnahme an der Produktion von Medikamenten. Solch ein Wunsch wurde in einem Brief des Bildungsministeriums von August 1914 an alle Hochschulen des Landes gerichtet. Da die Petrograder Professorenschaft gegen die Einführung von stark praxisbezogenen Disziplinen in ihrer Universität war, wurde eine spezielle Medizingruppe bei der mathematisch-physikalischen Fakultät organisiert. Jedoch kam die Einrichtung einer Medizinfakultät an der Universität Petrograd im Laufe des Krieges nicht zustande. 241 Der Kern des Kriegsengagements von russischen Wissenschaftlern lag in der Wohltätigkeit. Die hauptstädtische Universität wurde im Krieg zum Zentrum zahlreicher wohltätiger Aktionen, die sowohl von Professoren als auch von Studenten veranstaltet wurden. So organisierte Michail Rostovtzeff auf dem Campus die Geldsammlungen zugunsten der Kriegsflüchtlinge. Die humanitäre Tätigkeit des Althistorikers brachte ihm Anerkennung in seinem Heimatland und im Ausland. Somit äußerte sich Rostovtzeffs praktische Tätigkeit während des Krieges in der Organisation von Spendensammlungen in Petrograd, zu welchen der Althistoriker mehrere Aufrufe verfasste. In diesen Schriften lassen sich drei Tätgikeitsbereiche herauskristallisieren, in denen Rostovtzeff während des Ersten Weltkrieges aktiv war.

3.2.1 Spendensammlungen 3.2.1.1 Flüchtlinge Die Flüchtlingsflut wurde bereits seit Beginn des Krieges zu einem akuten Problem des Zarenreiches. Die Bevölkerung aus den vom Feind besetzten russischen Territorien strömte in das Landesinnere. Die Mehrheit der Flüchtlinge kam aus den nordwestlichen 240 Bei Kriegsausbruch gab es 249 Lehrkräfte und 7.442 Studenten an der Universität Petrograd. Danach stieg die Zahl jeweils auf 256 und 6.904 (1915) sowie auf 280 und 7.780 (1916). Im Revolutionsjahr 1917 wurden 293 Hochschullehrer in Petrograd gezählt; dabei sank die Zahl der Studenten auf 5.964 Personen. Vgl. Rostovcev, E./Sidorčuk, I.: Petrogradskij universitet v period pervoj 1-j mirovoj vojny 1914–18 [Die Petrograder Universität während des Ersten Weltkrieges 1914–1918], in: Sorokin, A. (Hg.): Rossija v pervoj mirovoj vojne. 1914–1918. Enciklopedija, Bd. 2, Moskau 2014, 708. 241 Vgl. ebd., 708f.

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Gouvernements und aus dem Baltikum. Der höchste Zustrom von Flüchtlingen fiel auf die zweite Hälfte 1915: Man zählte zu diesem Zeitpunkt etwa 750.000 Flüchtlinge im ganzen Russischen Reich, etwa 100.000 davon befanden sich in Petrograd. 242 Die russische Regierung war in der Anfangsphase auf die Aufnahme von Flüchtlingen nicht vorbereitet. Die Versorgung sollte von gesellschaftlichen Organisationen, allen voran vom Zemstvoverband und vom Städtebund, übernommen werden. Sie wurden bereits in der ersten Augusthälfte 1914 gegründet, um die Hilfe für Soldaten und Kriegsopfer zu leisten. 243 Nach der gegnerischen Offensive im Frühjahr 1915 in Galizien im Westen Russlands wurde die Flüchtlingsfrage zum großen sozialen Problem. Am 30. August 1915 wurde das Gesetz „Über die Versorgung von Flüchtlingen“ verabschiedet, in dem der Begriff „Flüchtling“ und die diesen Menschen zustehende Hilfe und deren Durchführung genau definiert waren. Die Zemstvo- und Städteorganisationen hatten ihre Aufgaben in Kooperation mit und unter der Kontrolle des Innenministeriums und eines speziellen Gremiums aus Vertretern der Regierung, der Selbstverwaltungsorganisationen auf der Gouvernements-, Kreis- und Stadtebene sowie der Wohltätigkeitseinrichtungen zu bewältigen. 244 Der Zemstvoverband und der Städtebund, in denen die Vertreter der Kadettenpartei eine führende Rolle spielten 245, zeichneten sich durch eine gut organisierte Tätigkeit aus: Sie teilten die Aufgaben auf und versuchten die angebotene Hilfe zu individualisieren. Ihre Arbeit basierte auf dem Prinzip der absoluten Transparenz und stand unter ständiger Beobachtung der Öffentlichkeit. Die Finanzierung dieser Organisationen erfolgte sowohl aus der Staatskasse als auch durch Spenden. 246 Zu diesem Zweck wurden russlandweit zahlreiche Spendenkampagnen gestartet. In der russischen Hauptstadt übernahm das Petrograder Komitee des Allrussischen Städtebundes unter dem Vorsitz des Petrograder Stadtoberhaupts I. Tolstoj eine Primärversorgung von Flüchtlingen. Seit September 1915, dem Höhepunkt der Flüchtlingszuwanderung, fanden sich in der kadettischen Zeitung „Reč“ regelmäßig Annoncen zur Kampagne des Städtebundes „Petrograd für Flüchtlinge“. Solche Anzeigentexte wurden als Aufrufe verfasst, wie dies die Anzeige vom 16. September 1915 verdeutlicht: 242 Die Gesamtzahl der Flüchtlinge während des Ersten Weltkrieges im Russischen Reich variiert zwischen 5 bis 7,5 Mio. Menschen. Vgl. Tumanova, A.: Obščestvennye organizacii Rossii v gody Pervoj mirovoj vojny (1914–fevralʼ 1917) [Gesellschaftsorganisationen Russlands während des Ersten Weltkrieges (1914–Februar 1917)], Moskau 2014, 197f; Nadsadnyj, D.: Pomoščʼ bežencam v Petrograde vo vremja pervoj mirovoj vojny: dejatelʼnostʼ gorodskogo samoupravlenija i vserossijskogo sojuza gorodov pomošči bolʼnym i ranenym vojnam (1914–1917) [Flüchtlingshilfe in Petrograd während des Ersten Weltkrieges: Tätigkeit der Selbstverwaltung und des Allrussischen Städtebundes zur Hilfe für kranken und verwundeten Soldaten], in: Izvestija RGPU im. A.I. Gercena 162 (2013), 35. 243 Vgl. Tumanova 2014, 91–115; Neutatzt 2013, 142. 244 Vgl. Nadsadnyj 2013, 34. 245 Vgl. Tumanova 2014, 99, 264. 246 Die staatlichen Zuschüssen bildeten die Haupteinnahmequelle des Zemstvo- und des Städtebundes. Zwischen August 1914 und September 1916 erhielten sie aus der Staatskasse 1,5–2 Mrd. Rubel, von Spendern 9,6 Mio. Rubel. Vgl. Tumanova 2014, 97.

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„Der Allrussische Städtebund Petrograd für Flüchtlinge Sammlung von Sachen und Geld 14.–21. September 1915 Bürger von Petrograd! Denken Sie an elende, hungrige, frierende Flüchtlinge, vergessen Sie Ihre Pflicht nicht. Spenden Sie Geld, Kleidung, Wäsche und Gegenstände. Die Zeit drängt. Ihre Spenden werden unverzüglich unter Flüchtlingen verteilt, unabhängig von Glaubensbekenntnis und Nationalität.“ 247 Der Vorsitzende des Exekutivkomitees dieser Kampagne war Michail Rostovtzeff. Die Spendensammlung war auf mehrere Kreisstellen ‒ eine davon von Rostovtzeffs Frau Sofija geleitet ‒ innerhalb der Stadt verteilt. Die Kontaktnummern, Namen verantwortlicher Personen, die öffentlich bekanntgegeben waren, sowie regelmäßige Berichte über den Verlauf der Sammlungen schufen die notwendige Transparenz und sollten die Bevölkerung zur Teilnahme motivieren. Rostovtzeff selbst hinterließ zu dieser Frage einen kleinen Aufsatz, der eher einen Appell gleicht, „Warme Sachen für die Heimatverteidiger“. 248 Im ersten Teil dieses Appells schrieb er darüber, dass „es immer schwerer zu leben wird“ 249 und „jeder Tag […] die absolute Anstrengung aller Kräfte und den maximalen Energieaufwand“ 250 fordere. Daraufhin ging er auf das Flüchtlingsproblem ein: „Weit entfernt scheinen die Tage, als wir für unsere zerstörten Randgebiete, für das schmerzensreiche polnische Volk, für unsere unerwarteten Gäste aus dem türkischen Armenien mit Herzen mitfieberten. Der Krieg rückte uns ganz nah, im Herzen Russlands zeigten sich die Mengen erschrockener, verwirrter, hungriger, entkleideter Flüchtlinge. Sie zu erwärmen, zu sättigen und zu bekleiden ist unsere allerwichtigste und verantwortungsvollste Aufgabe und unsere Sorge.“ 251 Die vom Allrussischen Städtebund im September 1915 gesammelten Gelder wurden u. a. für die Organisation von Heimen für verlorene Flüchtlingskinder verwendet. 252 Der Tätigkeitsbereich dieser Organisation erstreckte sich von der Evakuierung und Versorgung der Flüchtlinge mit Nahrung und Medikamenten über deren Registrierung und Beherbergung bis hin zur Unterstützung bei der Suche nach einem Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz. In Petrograd entstand bereits in den ersten Kriegsjahren eine ganze Reihe von Stützpunkten für Flüchtlinge, wie Heime, Kantinen oder Ämter für die Arbeitsvermitt-

247 Reč vom 16.9.1915, 3. 248 Vgl. Rostovtzeff, M.: Tëplye vešči zaščitnikam rodiny [Warme Sachen für die Heimatverteidiger], in: Reč 23.9.1915, 2. 249 Ebd. 250 Ebd. 251 Ebd. 252 Vgl. Tumanova 2014, 113.

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lung. Die Bemühungen der wohltätigen Organisationen spielten dabei eine zentrale Rolle bei der Versorgung dieser Kategorie der Kriegsopfer während des Ersten Weltkrieges. 253 Ende 1915 ließ die Flüchtlingswelle allmählich nach. Die Regierung verschärfte die Finanzkontrolle über die Tätigkeit der verantwortlichen Organisationen und unternahm Schritte zur Begrenzung der Flüchtlingszahl in der russischen Hauptstadt: Seit Sommer 1916 war die Einreise nach Petrogard für neue Flüchtlinge verboten; der Anspruch der in der russischen Hauptstadt bereits lebenden Geflüchteten auf Hilfe wurde genauer überprüft. Somit wurde der Versuch unternommen, die Flüchtlingsfrage aus dem Tagesprogramm der zaristischen Regierung zu streichen. Auf diese Problematik ging Rostovtzeff in seinem Aufsatz vom Mai 1916 ein: „Es wird gesammelt, und wieder für Flüchtlinge! Einwohnern scheint vielleicht, dass die Schärfe der Flüchtlingsfrage und der Flüchtlingsnot vorüberging, dass keine Notwendigkeit besteht, die ungestüme Mitleidswelle, die sich allmählich beruhigte, wieder aufzuwirbeln. Das ist ein großer Fehler! Der Schmerz der Flüchtlingsfrage und der Flüchtlinge ist nicht mehr heftig und brennend, die Flüchtlingswelle zerbrach in Rinnsale, die vor Ort versumpften; der Schmerz ist jedoch genauso heftig geblieben, zudem ist er anhaltend und schleppend geworden. Und unsere Pflicht bleibt, diesen Schmerz, soweit es geht, zu erleichtern.“ 254 In diesem Aufsatz machte Rostovtzeff auf die Bildung von Flüchtlingskindern aufmerksam. Er betont, dass es Kindern und Jugendlichen unter den neuen Umständen schlechter als ihren Eltern gehe. Interessant ist, dass der Althistoriker dabei zwischen den Menschen, „die von körperlicher Arbeit leben“ 255, und den „Intellektuellen“ 256 unterscheidet. Dabei seien gerade Intellektuellen mit Familien besonders benachteiligt. Im Sommer sollten sich Kinder zuerst erholen, da „die erlebte Erschütterung die Gesundheit, Zartheit der kindlichen Organismen zerrüttete“ 257. Im neuen Schuljahr sollten sich ihre Eltern um Lernmaterialien, Schreibutensilien sowie Gebühren für die Berechtigung zum Schulbesuch kümmern. „Unvernünftig und nicht sparsam ist, unsere ohnedies schwachen kulturellen Kräfte zu vergeuden, künftige gebildete Beschäftigte außer Gefecht zu setzen“ 258, erklärt Rostovtzeff seine Motivation gerade für diese Kampagne und verweist auf die Initiative des Städtebundes, Geld und Bücher für Flüchtlingskinder zu sammeln. Das gesammelte Geld wurde für die Unterbringung der kranken und geschwächten Kinder in Sanatorien und Heilanstalten sowie als Unterhaltsbeihilfe während des Schul253 254 255 256 257 258

Vgl. Nadsadnyj 2013, 36. Vgl. Rostovtzeff, M.: Učaščiesja-bežensy [Schüler-Flüchtlinge], in: Reč vom 15.5.1916, 2. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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jahres geplant. Die gespendeten Lehrbücher sollten während der Sommerferien repariert, sortiert und im Herbst verteilt werden. Nur eine solche systematische, gezielte, gut geplante und organisierte Hilfe sei rational und sinnvoll. 3.2.1.2 Verkrüppelte Soldaten Die humanitäre Tätigkeit forderte viel Zeit und Hingabe. In einem Brief vom Oktober 1915 gesteht Rostovtzeff, mit „gesellschaftlichen Sachen überlastet“ 259 zu sein; und die ganze Sammlung für Flüchtlinge in Petrograd liege auf seinen Schultern. 260 Bei seiner Wohltätigkeit wurde der russische Historiker nicht bloß durch einen kurzen Impuls geleitet. Sein unermüdlicher Einsatz zeigte sich in der konsequenten Durchführung von einst angefangenen Projekten, so wie im Falle der oben dargestellten Spendenkampagnen zugunsten der Flüchtlinge. Dies beweist auch sein bewegendes Engagement für verkrüppelte Soldaten, wofür Rostovtzeff 1916 zum Ritter der Légion dʼhonneur in Frankreich ernannt wurde. 261 Bereits auf dem Höhepunkt der Hilfskampagne für Flüchtlinge im Herbst 1915 rief Rostovtzeff im zweiten Teil seines Appells „Warme Sachen für die Heimatverteidiger“ auf, die russische Armee, „unser eigen Fleisch und Blut“ 262, nicht zu vergessen. Die Flüchtlingsfrage sei in den Vordergrund gerückt und hätte volle Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gefordert. Aus diesem Grund habe sich der Zufluss an Gaben für Soldaten, „einer der Verbindungsfäden“ 263 zwischen Front und Hinterland, etwas verlangsamt. „So muss es aber nicht sein“ 264, kommentierte der russische Historiker. Er wies weiter auf den beginnenden Spätherbst und Winter sowie auf die damit verbundene Notwendigkeit großer Mengen an warmer Kleidung und Schuhen hin. In „diesen kalten Herbsttagen der Enttäuschungen und des Zusammenbruchs der Illusionen“ 265 sollte die Verbindung des gesamten Volkes mit denen, die auf dem Kriegsfeld kämpften, aufrechterhalten werden. Ständige Geschenksendungen für die Armee würden die russischen Soldaten „unsere ausdrückliche Fürsorge und unser unerschütterliches Vertrauen“ 266 spüren lassen. Wie im Falle der Flüchtlinge übernahmen der Zemstvo- und der Städtebund die Versorgung von verwundeten Soldaten und Kriegsinvaliden. Die Hilfe erfolgte sowohl im Hinterland als auch an der Front: Die Bedürftigen bekamen bei der Heimkehr notwendige Kleidung, Essen sowie Medikamente und wurden in Lazaretten und Hospitälern untergebracht. An der Frontlinie wurden Versorgungslager, spezielle mobile Krankenhäuser 259 Brief M. Rostovtzeffs an A. Orešnikov vom 9.10.1915, in: Handschriftenabteilung des Historischen Museums Moskau 136/1/41, zitiert nach: Bongard-Levin 1997, 72. 260 Ebd. 261 Vgl. Bongard-Levin 1997, 70. 262 Rostovtzeff 1915, 2. 263 Ebd. 264 Ebd. 265 Ebd. 266 Ebd.

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sowie Bade- und Waschhäuser für Soldaten organisiert. 267 Die finanziellen Mittel dafür wurden durch zahlreiche Spendensammlungen aufgestockt. Die Leitung der großen Spendenkampagne „Petrograd für verkrüppelte Soldaten“ des Allrussischen Städtebundes übernahm wieder Michail Rostovtzeff. Die Kampagne wurde kurz vor der Februarrevolution 1917 gestartet. Dank dem Archivmaterial und der zeitgenössischen Berichterstattung lassen sich die Vorbereitung und der Verlauf dieser Sammlung genau rekonstruieren. Im Vorfeld der Spendenaktion nutzte Rostovtzeff seine gesellschaftlichen Beziehungen, um diesem Vorhaben eine möglichst breite Resonanz zu sichern. So schrieb er am 7. Februar 1917 an den russischen Schriftsteller Leonid Andreev (1871–1919). Im Brief bat Rostovtzeff ihn darum, in der Tageszeitung „Russkaja volja“ (1916–1917), bei der Andreev als Lektor tätig war, eine Artikelreihe über verwundete Soldaten zu verfassen und über die organisierte Spendenkampagne zu berichten. Seine Bitte begründete der Althistoriker wie folgt: „Mit all diesem würden Sie der Sammlung, der ich eine große gesellschaftliche Bedeutung beimesse, sehr helfen“. 268 Zehn Tage später erschien in „Reč“ eine große Anzeige über die Spendenkampagne „Petrograd für verkrüppelte Soldaten“ vom 18. bis 20. Februar. An mehreren Stellen, die auf die ganze Hauptstadt verteilt worden waren, wurden die Geldsammlung sowie der Verkauf von speziell gedruckten Kalendern, Karten, Anstecknadeln, Lottoscheinen und Bastelarbeiten verstümmelter Soldaten organisiert. Es wurde dabei unterstrichen, dass die ganze Spendensammlung vom „unermüdlichen M. I. Rostovtzeff“ 269 geleitet würde. Er selbst war während dieser drei Tage in der Spendezentrale (Malaja Konjušennaja Str. 3) zu finden. Unmittelbar vor der Sammlung wurde die Broschüre „Verkrüppelte Soldaten“ mit einer Auflage von 200.000 Exemplaren von A. Tyrkova veröffentlicht. 270 Während der Kampagne, am 19. Februar, erschien außerdem die Eintageszeitung „Den verstümmelten Soldaten“ 271 mit einer Auflage von 400.000 Exemplaren. Für die Broschüre seiner Parteikollegin schrieb Rostovtzeff eine Einleitung; für die Zeitung verfasste er neben anderen Vertretern der russischen intelligencija einen Aufsatz. In der Einleitung zur Broschüre von A. Tyrkova, „dieser erprobten gesellschaftlichen Persönlichkeit und talentierten Schriftstellerin-Publizistin“ 272, legte Rostovtzeff die Ziele der Spendensammlung dar. Zunächst sollten die Formen der gesellschaftlichen Hilfe für verstümmelte Soldaten russlandweit geklärt werden. Diese Hilfe sollte staatlich, je267 1916 verfügte der Städtebund über 247 Heilanstalten und über 200.000 Betten; an der Front wurden zur Jahresmitte 1916 über 388 Verpflegungsstellen mehr als 50 Mio. Mahlzeiten ausgegeben. Vgl. Tumanova 2014, 101. 268 Brief M. Rostovtzeffs an L. Andreev vom 7.2.1917, in: IRLI 9/3/42. 269 Petrograd uvečnym voinam [Petrogard für verkrüppelte Soldaten], in: Reč vom 17.2.1917, 3. 270 Vgl.Tyrkova, A.: Uvečnye vouny [Verkrüppelte Soldaten], Petrograd 1917, 3ff. 271 Vgl. Rostovtzeff, M.: Pomoščʼ uvečnym voinam – vsenarodnoe delo [Die Hilfe für verwundete Soldaten ist eine allgemeine Sache], in: Letkova-Sultanova E.: Uvečnym voinam [Den verstümmelten Soldaten], Petrograd 19.2.1917, 1. 272 Tyrkova 1917, 5.

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doch nicht „fiskalisch“ 273, sondern „gesellschaftlich“ 274 sein und eine breite Anerkennung erhalten. Zu diesem Zweck hätten sich regionale sowie städtische Komitees des Allrussischen Städtebundes vereinigt und diese Spendensammlung organisiert. Zum einen sollte dadurch die Aufmerksamkeit der russischen Gesellschaft auf die dringende Notwendigkeit gelenkt werden, den verkrüppelten Soldaten mit persönlichem Einsatz und Geld zu helfen. Zum anderen sollten mit Spenden die „rein gesellschaftlichen Einrichtungen“ 275 für Kriegsinvaliden aufgebaut werden. Das Bestehen solcher Einrichtungen würde deutlich zeigen: „Die Gesellschaft will die Fürsorge für verstümmelte Soldaten nicht auf die Schulter des Staates abwälzen, sondern geht mit ihm [dem Staat] und scheut weder Mühe noch Mittel für diese erhabene Sache“. 276 Darüber hinaus kümmerte sich der Autor um das Problem der Kriegsgefangenschaft. Bereits in der ersten Jahreshälfte 1916 wurde Rostovtzeff zusammen mit seinem Freund Žebelev im Rahmen der Kollegien-Sitzungen an der Petrograder Universität zu den Initiatoren des Komitees zur Hilfe für kriegsgefangene russische Studenten in Deutschland. 277 In seiner Schrift von 1917 ging es in erster Linie um die kriegsgefangenen russischen Soldaten, die vor allem „moralisch verstümmelt“ 278 und aufgrund der Unterernährung, physischer sowie psychischer Erschöpfung in der Gefangenschaft von Verstümmelung gefährdet seien. Rostovtzeff war sich bewusst, dass die von den Organisatoren der Spendensammlung aufgestellten Ziele unrealistisch erschienen. Für ihn waren jedoch nicht primär die materiellen Ergebnisse der Kampagne von entscheidender Bedeutung: „Ob viel oder wenig mit gesammelten Mitteln verwirklicht werden kann, hat eine zweitrangige Bedeutung. Wichtig ist, dass nicht einzelne Personen und Zirkel, sondern das gesamte Petrograd, das gesamte Russland seinen Beitrag für die Hilfe für verkrüppelte Soldaten leisten wird und somit eine Zahl von gesellschaftlichen Organisationen, gestützt auf solche gesellschaftliche Organisationen wie Einrichtungen des Allrussischen Städtebundes, geschaffen werden.“ 279 Zum Schluss seines Aufsatzes bringt der Autor konkrete Beispiele für die Verwendung der Spendengelder, nämlich für Petrograd und die Region geplante berufliche sowie allgemeinbildende Schulen für verkrüppelte Soldaten. Die Schulen sollten den Kriegsin273 274 275 276 277

Ebd., 3. Ebd. Ebd., 4. Ebd. Die entsprechenden Sitzungen fanden im Februar und Mai 1916 statt. Vgl. Rostovcev, E./Barinov, D.: Stoličnyj universitet i mirovaja vojna: teorija i praktika „akademičeskogo patriotisma“ [Die hauptstädtische Universität und der Erste Weltkrieg: Theorie und Praxis des „akademischen Patriotismus“], in: Bylye gody 34 (2014), 598. 278 Ebd. 279 Ebd.

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validen helfen, nicht nur ihre „vorherige Tätigkeit wiederauf[zu]nehmen“ 280, sondern sie auch „auf der sozialen Leiter höher“ 281 zu bringen. Im Aufsatz „Den verstümmelten Soldaten“ 282 stellte Rostovtzeff seine Beweggründe für die Arbeit mit Kriegsinvaliden dar. Dabei sei solche Hilfe die Pflicht sowohl des Staates als auch jedes einzelnen Bürgers: „Die Verstümmelung eines Kämpfers, der für uns seine Gesundheit, seinen Körper, seine Seele geopfert hat, ist [auch] unsere Verstümmelung, unsere Wunde. Einen Verstümmelten nicht ausheilen lassen, ihm nicht die Möglichkeit geben, frei zu leben, d. h. gesund zu arbeiten und sich auszuruhen, bedeutet soviel wie eine Wunde seines Körpers aufzureißen, sklavische Strapazen der Krankheit zu nähren.“ 283 Die Hilfe für verkrüppelte Soldaten sei eine „große und schwere Aufgabe, die vor der ganzen Welt“ 284 in einem solchen Ausmaß noch nie gestellt worden wäre. Der Autor rief dazu auf, dieses Problem unermüdlich anzusprechen und durch gemeinsame Bemühungen zu versuchen, es zu lösen. Er spricht in seinem Artikel wiederholt von „moralischen und materiellen“ Opfern, die für verletzte Soldaten gebracht werden müssen. Diejenigen, die in einer „großen und aufopfernden Heldentat ihre Liebe zu Menschen und zur Heimat bewiesen hatten“ 285, sollten die Unterstützung des gesamten Volkes spüren, indem sie als Arbeiter in Fabriken und Werken russischer Städte demensprechend aufgenommen werden oder als Arbeitsunfähige auf dem Land würdig leben können. Am 25. Februar berichtete die „Reč“ über die „guten materiellen und noch besseren moralischen Ergebnisse“ 286 dieser Spendenkampagne. Der materielle Erfolg wäre vor allem der breiten Unterstützung der Banken, Versicherungsgesellschaften sowie Kreditgenossenschaften zu verdanken. Der Dank wurde außerdem allen Helfern u. a. vom Vorsitzenden des Exekutivkomitees M. Rostovtzeff auf den Seiten der Zeitung ausgesprochen. 3.2.1.3 Einigung mit den slawischen Völkern Während des Krieges war die Idee der Einigung mit slawischen Brudervölkern in der russischen Gesellschaft weit verbreitet. Der Krieg gab neue Impulse für die Tätigkeit slawischer, u. a. tschechischer, slowakischer, serbischer und polnischer, Gesellschaften im Zarenreich. Bereits am 30. Oktober 1914 wurde etwa das Allrussische Kuratorium für gefangene Slawen gegründet. Das Kuratorium suchte nach den in die Gefangenschaft 280 281 282 283 284 285 286

Ebd., 5. Ebd.,. Vgl. Rostovtzeff 1917, 1. Ebd. Ebd. Ebd. Petrograd uvečnym voinam [Petrograd für verkrüppelte Soldaten], in: Reč vom 25.2.1917, 6.

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geratenen Slawen und sorgte für ihren Unterhalt bzw. ihre Beschäftigung. Im Rahmen ihrer Aktivitäten versuchten solche Gesellschaften vielseitige Hilfe für slawische Völker zu leisten, womit das Bild Russlands als Beschützer der slawischen Interessen vermittelt werden sollte. 287 Die finanziellen Mittel dafür wurden wie im Falle der Unterstützung der Flüchtlinge und Kriegsinvaliden durch Spendenaktionen gesammelt. Sie fanden auch an mehreren Tagen statt und waren von dem Kriegsverlauf geprägt. So wurde die Spendenkampagne „Petrograd für Serbien“ zwischen dem 28. Februar und 1. März 1916 als Reaktion auf die Niederlagen der serbischen Armee in der zweiten Hälfte 1915–Anfang 1916 veranstaltet. 288 Am ersten Tag der Sammlungsaktion erschien der emotionale Aufsatz „Helft Serbien!“ von Michail Rostovtzeff. 289 Hier werden die Niederlage Serbiens und der Rückzug der serbischen Armee und der Regierung auf die Insel Korfu beschrieben: „Geschlagen und niedergeworfen ist noch ein kleines heldenhaftes Land, vorübergehend wurde noch ein mutiges, gegenüber seiner Heimat restlos ergebenes Volk in seinen Rechten angegriffen. […] Serbien ist geschlagen. Seine tapferen Verteidiger heilen Wunden, sammeln Kräfte fern auf Korfu, der ehemaligen Domäne des deutschen Kaisers, [und] bereiten sich vor, ihre Heimaterde von den Gewalttätern zurückzuerobern. Sein alter König und der grauhaarige, kampferprobte Heerführer entwerfen im Exil einen Plan zur Wiedergewinnung der geliebten Heimat.“ 290 Über die Lage im besetzten Serbien erfahre man aus vereinzelten Berichten derjenigen, die in neutrale oder verbündete Länder flüchten konnten. Die Augenzeugen würden über die Gewalt allerorts berichten. Zudem hatte Rostovtzeff seine eigene Vorstellung über das Regime der „Germanen“ 291 ‒ dieses „stählernen, kalten, seelenlosen, arroganten, selbstverliebten Volkes, das Barmherzigkeit und Menschlichkeit vergessen, seine Seele dem Militarismus geopfert, die Christus-Religion durch die Religion des Staates und Wilhelms getauscht hat“ 292 ‒ in Serbien: „Mit dem gleichem Genuss, mit der gleichen kalten Brutalität, mit welchen seine Verbündeten-Türken hunderttausende Armenier auf die Weisung seiner Lehrer und Herren niedermetzeln, mit welcher es selbst seine gefangenen tapferen Gegner hungern lässt und mit der Kräfte übersteigenden Arbeit abzehrt, versucht Deutsch287 Vgl. Tumanova 2014, 71–77. 288 Nach dem Kriegseintritt Bulgariens (Geheimvertrag mit den Mittelmächten vom 6. September 1915) konnte die serbische Armee keinen Wiederstand mehr leisten und zog sich im Winter 1915/16 zuerst an die Adriaküste zurück. Zusammen mit dem kranken König, Regierungs- und Generalstabmitgliedern wurden sie anschließend mit alliierten Schiffen auf die Insel Korfu gebracht. Vgl. Hösch, E.: Geschichte des Balkans, München 2007, 73f. 289 Vgl. Rostovtzeff, M.: Pomogite Serbii! [Helft Serbien!], in: Reč vom 28.2.1916, 3. 290 Ebd. 291 Ebd. 292 Ebd.

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land jetzt den Märtyrer Serbien zu vernichten. Aber die eiserne deutsche Herzlosigkeit ist nichts im Vergleich zum Racherausch der hungernden Österreicher, die den Krieg mit dem Ziel der Unterdrückung der Serben anfingen; das ist nichts im Vergleich zur bösen Brutalität derjenigen, die zweimal von Serben geschlagen wurden und ihnen für das Recht auf Rache mit einem abscheulichen Verrat zahlten. Ich spreche natürlich über Bulgaren.“ 293 Rostovtzeff hätte das Gefühl, dass ein Teil der Schuld für Serbiens Leiden bei ihm und bei „uns allen“ 294 liege. „Unsere Kurzsichtigkeit und diplomatische Verzögerung“ 295 konnten Russland von der Verantwortung für Serbien nicht befreien. Da eine Militärhilfe Russlands für Serbien zu diesem Zeitpunkt nicht möglich sei, sollte die „freundlich ausgestreckte Hand“ 296 des russischen Volkes dieses slawische Land unterstützen: „Wir müssen zeigen, dass wir unsere Verflichtung gegenüber diesem alten slawischen Kulturvolk, das die Sache des Slawentums in der eisernen Umklammerung des heimtückischen Bulgarien, des gegenüber dem ganzen Slawentum feindseligen Österreich und des fiktiv freundschaftlichen Griechenland mit so einem Ruhm verteidigte, nicht vergessen.“ 297 Dieser Aufsatz von Rostovtzeff liefert ein gutes Bespiel für das in der russischen Kriegspublizistik verbreitete Thema des Kampfes zwischen dem Germanen- und Slawentum sowie über eine besondere Mission der slawischen Völker im Krieg. Bereits im November 1914 wurde der neue Lehrstuhl für Geschichte der Slawen bei der historisch-philosophischen Fakultät der Universität Petrograd gegründet. 298

293 294 295 296 297 298

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Tichonov, V.: Evropeizm i panslavizm – dva napravlenija v russkoj naučno-istoričeskoj publicistike perioda Pervoj mirovoj vojny [Europäismus und Panslawismus in der russischen wissenschaftshistorischen Publizistik während des Ersten Weltkrieges], in: Polonskij, V. (Hg.): Russkaja publizistika ėpochi Pervoj mirovoj vojny, Moskau 2013, 44ff; Rostovcev, E.: Ispytanie patriotizmom. Professorskaja kollegija Petrogradskogo universiteta v gjdy pervoj mirovoj vojny [Probe des Patriotismus. Das Professorenkollegium ders Petrograder Universität in den Jahren des Ersten Weltkrieges], in: Repina, L. (Hg.): Dialog so vremenem, Moskau 2009, 318.

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3.2.2 Außenpolitik/Denkmalschutz In Rostovtzeffs Kriegspublizistik spiegelten sich auch die außenpolitischen Interessen des Zarenreichs wider. Im Aufsatz „Trapezunt“ 299 widmete sich der Althistoriker einem aktuellen Kriegsereignis, der Besetzung von Trapezunt im Nordosten der Türkei durch die russischen Truppen im April 1916: „Jeder neue Schritt unserer großen Armee in Transkaukasien entlang des Schwarzen Meeres, des alten Euxinus Pontus, zwingt unwillkürlich nicht nur in dunstige Zukunft, in kommende Schicksale Vorderasiens hineinzublicken, um das sich inzwischen nicht Türken mit Griechen, sondern europäische Nationen streiten, sondern sich mit gleicher Kraft auch an die Vergangenheit, an die große und berühmte Vergangenheit dieser Länder mit den ältesten Kulturen zu erinnern, wobei sich die Überreste dieser Vergangenheit mit der traurigen, dreckigen und armen Wirklichkeit verflechten. In dieser Vergangenheit sucht man unwillkürlich Lektionen und Hinweise für die Zukunft.“ 300 Rostovtzeffs schreibt in diesem Aufsatz darüber, dass Armeniens Vergangenheit sowie die Geschichte der gesamten Südküste des Schwarzen Meers von russischen Spezialisten zu wenig untersucht sei. Dabei seien Russlands Süden und Osten seit unvordenklichen Zeiten mit der kaukasischen sowie „mit der geheimnisvollen Welt der südlichen Stämme und der griechischen Kolonien“ 301 am Schwarzen Meer durch enge kulturelle Beziehungen verbunden. Die „engen Fäden der kulturellen Verbindung“ 302 würden sich durch die Kuban- und Tamansteppen, die Küsten des Asowschen Meeres sowie die Nordküste des Schwarzmeeres bis tief hinein in die Gebiete der in das Schwarze und Kaspische Meer fließenden, großen russischen Flüsse hundurch ziehen und somit die kaukasische und kleinasiatische kulturelle Welt mit der Welt der assyrisch-babylonischen, iranischen und ägyptischen Kulturen in Verbindung bringen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Chaldäer und Hethiter erlaube dabei die Vergangenheit des russischen Bodens besser zu verstehen. Unter griechischen Kolonisten seien diese Verbindungen noch stärker geworden: Das blühende Sinope und das wenig bedeutende Trapezunt seien mit den kaukasischen griechischen Kolonien, mit den großen Städten des Bosporanischen Reiches und dadurch mit der Chersones auf der Krim sowie mit Olbia verknüpft. Dies hätte seinen Ausdruck in der Einheit der halb griechischen, halb thrakischen und halb asiatischen Welt der pontischen Kultur gefunden. Dieser Exkurs in die antike Geschichte sollte die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Untersuchung des kürzlich eroberten Trapezunt begründen.

299 300 301 302

Vgl. Rostovtzeff, M.: Trapezond [Trapezunt], in: Reč vom 10.4.1916, 3. Ebd. Ebd. Ebd.

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In Trapezunt, in dieser „entfernten Ecke der pontischen Welt“ 303, hätten die letzten Reste des Byzantinischen Imperiums eine Zufluchtsstätte gefunden. Auf den darauffolgenden zwei Seiten bot der Althistoriker einen kurzen Abriss der Geschichte Trapezunts: von den Anfängen über die Blüte der Kolonie im 2. Jh. vor Chr. bis hin zur Gründung eines „neuen provinziellen Byzanzʼ, eines kleinen exotischen Konstantinopels“ 304 im 13. Jahrhundert: „Das Kernstück dieses kleinen Konstantinopels steht jetzt noch. Vieles ist zerstört, vieles ist abgeschlagen und alles oder fast alles, was mit Figuren verziert war, ist übermalt. Aber im Grunde ist alles da geblieben; Türken haben hier nichts Eigenes geschaffen, aber auch fast nichts Wesentliches zerstört. Jetzt ist diese Kopie des großen Konstantinopels in unseren Händen, in den Händen unserer Armee. Wird bald auch die Stunde des großen Konstantinopels schlagen? Wer weiß?“ 305 Die letzte Frage stand in Verbindung mit den außenpolitischen Zielen des Zarenreichs sowie mit dem außenpolitischen Programm der Partei der Konstitutionellen Demokraten im Ersten Weltkrieg. 306 Die Eroberung von Trapezunt begrüßte der Althistoriker in erster Linie als große Möglichkeit zur kulturellen Bereicherung. Gleichzeitig unterstrich er die damit verbundene Verantwortung und fragte: „Warum trat das […] Archäologische Institut auf den Fersen unserer heldenhaften Armee in dieses kleine Konstantinopel nicht ein? […] Warum waren wir auch hier zu spät?“ 307. Er war überzeugt, dass die Spezialisten zur Aufzeichnung, Sammlung und Beschreibung der Denkmäler rechtzeitig vor Ort anwesend sein sollten. Die Wissenschaftler wären bereit dafür. Das entscheidende Wort bleibe bei der Gesellschaft und der Regierung. „Nur die Eroberung ist sicher, bei der, wie bei Napoleon in Ägypten, den Waffen und Kanonen die Kultur und die kulturelle Arbeit der Forscher und Schöpfer folgen“, resümierte der Althistoriker. Der Denkmalschutz in Kriegsgebieten wird im Laufe des Krieges, vor allem während des Jahres 1917 zu einem der wichtigsten Tätigkeitsbereiche des Althistorikers.

303 304 305 306

Ebd. Ebd. Ebd. Im Frühjahr 1915 wurde das geheime Abkommen zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland abgeschlossen, demzufolge wurden Konstantinopel sowie die Meerengen dem Russischen Reich zugesprochen. Vgl. Šacillo, V.: Pervaja mirovaja vojna 1914–1918: fakty, dokumenty [Der Erste Weltkrieg 1914–1918: Fakten, Dokumente], Moskau 2003, 107. 307 Rostovtzeff 1916.

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3.2.3 Möglichkeiten von Reformen Die Darstellung des Engagements des Althistorikers im Ersten Weltkrieg wäre ohne die Erwähnung der innenpolitischen Konstellationen im Zarenreich nicht vollständig. Dies ist im Fall Rostovtzeffs vor allem im Kontext der Politik der Kadetten-Partei und der Tätigkeit der Petrograder Professorenschaft zu untersuchen. Zu Kriegsbeginn fehlte es den russischen liberalen Kreisen keineswegs an patriotischer Stimmung. Das Programm der Partei der Konstitutionellen Demokraten liefert hierfür ein gutes Beispiel. Im Programm wurden der sogenannte innere Frieden verkündet, die Zusammenarbeit mit der Regierung für den Sieg und gegen die Revolutionsgefahr ausgearbeitet sowie die außenpolitischen Ziele des Zarenreichs zum Schutz des gesamten Slawentums begründet. Die Kadetten sahen in diesem Krieg außerdem eine Möglichkeit der innenpolitischen Reformen, die zur weiteren demokratischen Transformation des Regimes in Russland führen sollten. 308 Die Hoffnung auf positive Veränderungen verband die hauptstädtische Professorenschaft nicht zuletzt mit einem neuen Projekt des Universitätsstatutes, das seit Sommer 1915 zur Diskussion in der breiten Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Der im Januar 1915 ernannte Bildungsminister Pavel Ignatʼev (1870–1945) galt als Befürworter der universitären Autonomie. Das universitäre Leben im Russischen Reich war zu diesem Zeitpunkt formell durch das konservative Statut von 1884 sowie die Vorläufigen Regeln von 1905 reguliert. Das Projekt sollte nun mehr Autonomie den Universitäten gewähren. 309 Das Projekt des neuen Universitätsstatutes wurde im Juni 1915 zur Begutachtung an die universitären Kollegien russlandweit versandt. Die Diskussion dauerte über ein Jahr an. Schließlich wurde der vom Ministerrat genehmigte Entwurf am 9. August 1916 in die Duma geleitet. Die wichtigsten Punkte der geplanten Universiätsreform konnten jedoch erst unter der Provisorischen Regierung realisiert werden. 310 Der Reflexion des hoffnungsvollen Projektes widmete Michail Rostovtzeff einen Aufsatz, der kurz nach der Verbreitung des Textes des ministeriellen Entwurfs in den russischen Hochschulen veröffentlicht wurde. 311 Der Althistoriker war dabei wenig optimistisch. Er glaubte nicht, dass dieses Projekt „in einer absehbaren Zeit“ 312 realisiert werden würde. Aber allein die Existenz eines solchen Projektes sei bezeichnend. Deswegen sollten die grundlegenden Prinzipien des geplanten Statuts geklärt werden. Der Althistoriker, der sich mit dem Projekt persönlich auseinandersetzte, erläuterte seinen Eindruck, dass „die Verfasser kein einheitliches und logisches Gebäude, sondern eine Reihe der miteinander schlecht verbundenen Anbauten verschiedener Stile und Epochen zu bauen versuchen“. 313 308 309 310 311

Vgl. Rostovcev 2014, 595. Vgl. Rostovcev 2009, 322; Rostovcev 2014, 709. Vgl. Dmitriev 2006, 246–255. Vgl. Rostovtzeff, M.: Projekt novogo universitetskogo ustava [Projekt des neuen universitären Statutes], in: Reč vom 5.6.1915, 1f. 312 Ebd. 313 Ebd., 2.

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Als gefährlich bezeichnete Rostovtzeff jenen Teil des Entwurfs, der sich mit dem Wesentlichen des wissenschaftlichen Lebens einer Universität befasste, nämlich mit der „Bewahrung und der Entwicklung des wissenschaftlichen Gedankenguts“ 314. Die Hochschule sollte sich keine „berufsbezogenen Ziele“ 315 stellen und auch nicht etwa eine „technische Vorbereitung“ 316 der Lehrer, Ärzte oder Beamten anstreben. Sie sollte vielmehr Personen zum „wissenschaftlichen Denken und zum wissenschaftlichen Schaffen“ 317 anleiten. Rostovtzeffs Hauptkritikpunkt war dabei die geplante Verkürzung des Studiums auf fünf Jahre für das Medizinstudium und auf drei Jahre für die übrigen Fächer. Der Althistoriker konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeine Fakultät in der Lage wäre, Studenten in nur drei Jahren die notwendigen Kenntnisse zu vermitteln. Er appellierte an die Leser, sich mit „realen Fakten“ 318 auseinanderzusetzen: „Ein junger Mann, der einen erleichterten und unsystematischen Kurs des siebenjährigen Gymnasiums absolviert hat, kommt an die philologische Fakultät und muss eine ‚allgemeine‘, wissenschaftliche, klassische, historische und sprachliche Bildung bekommen. Neue Sprachen kennt er nicht, von den alten [Sprachen] kann er vielleicht auf Latein lesen. Was kann er in diesen drei Jahren machen? Wo ist die Zeit, um ihn beizubringen, was eine Quelle ist und wie man sie zu lesen und zu analysieren hat; wo ist die Zeit, eine einfache wissenschaftliche Arbeit zu verstehen? Kann er eine wissenschaftliche Methode verstehen, originelle und schöpferische Gedanken seines Professors würdigen und sich davon anstecken lassen?“ 319 Aus diesem Grund war Rostovtzeff gegen die verbreitete Überlegung, Studenten in „ordentliche“ 320 mit einem dreijährigen Studium und in „nicht ordentliche“ 321 mit einem vierjährigen Studium zu teilen. Es gäbe keinen Platz für ein „erleichtertes und für ein echtes“ 322 Studienprogramm. Ein dreijähriges Studium wäre eine „Falsifikation der Wissenschaft“. 323 Die Universität sollte gleiche Anforderungen an alle stellen. Seine deutliche Position ergänzte der Autor durch die folgenden Vorschläge: Zum einen sollte jede einzelne russische Universität ihr eigenes Statut, das „individuell wie die Konstitution jeder einzelnen antiken griechischen Stadt“ 324 wäre, haben. Nur die grundlegenden Prinzipien sollten für alle gleich bleiben. Zum anderen sei die Vorbereitung der 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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wissenschaftlichen Arbeit das Recht und die Aufgabe der wissenschaftlichen Kollegien, die durch den Staat von materiellen Nöten befreit werden sollten. Gutes Personal, eine ausreichende Zahl von Lehrstühlen und wissenschaftlichen Einrichtungen sowie eine entsprechende Ausstattung würden zudem zur Schaffung einer positiven wissenschaftlichen Atmosphäre und zu einem natürlichen universitären Lebensstil beitragen. 325 In der Kriegspublizistik von Michail Rostovtzeff nimmt dieser Aufsatz eine gesonderte Stellung ein. Die anderen Schriften sind entweder in den Kontext seiner Auseinandersetzungen mit deutschsprachigen Wissenschaftlern oder seiner Wohltätigkeit in der Heimat einzuordnen. Dennoch lässt sich eine Kontinuität in Rostovtzeffs Aufsätzen, in denen sich die Veränderung der politischen Stimmung in der Kadetten-Partei im einzelnen und in der russischen Gesellschaft im allgemeinen widerspiegelt, feststellen. Der Nationalstolz und Patriotismus, die Hoffnungen auf ein neues Russland und das tiefe Mitgefühl mit den Kriegsopfern lagen Rostovtzeffs Engagement während des Ersten Weltkrieges zugrunde. Die Organisation der Hilfe für Soldaten und Invaliden hatte gleichzeitig die tiefe Krise, in der sich Russland bereits befand, sichtbar gemacht. Der Allrussische Zemstvo- und der Städtebund versuchten durch eine aktive Beteiligung am Krieg die Unfähigkeit bzw. Untätigkeit der autokratischen Verwaltung auszugleichen. Angefangen mit der Betreuung von Flüchtlingen und Verwundeten weitete er seine Tätigkeit bald auch auf die Versorgung der Armee aus. Dafür wurde im Juli 1915 ein gemeinsames Organ, das Hauptkomitee zur Armeeversorgung (Zemgor) gegründet. Das Komitee entwickelte sich zu einer beeindruckenden Verwaltungsstelle, zu deren Aufgabe u. a. Verteilung von Rüstungsaufträgen, Waffenlieferung sowie Evakuierung von Industriebetrieben zählten. Sie arbeitete eng mit den auf Initiative der Industrie- und Handelsvertreter kurz zuvor gegründeten Kriegsindustriekomitees (VPK) zusammen. Diese den konstitutionellen Kräften in der Duma nahe stehenden Organe wurden im Laufe des Krieges zur Festung der Opposition.  326 Kritische Stimmen auf Tagungen der neuen Gesellschaftsorganisationen wurden besonders nach den Misserfolgen der russischen Armee im Frühjahr–Sommer 1915 in Galizien zu lauten Protesten gegen die Unfähigkeit der zaristischen Regierung. Der im August des gleichen Jahres aus Kadetten, Oktobristen, Progressisten und den gemäßigten Nationalisten gebildete Progressive Block als „die erste förmliche Koalition der russischen Duma“ 327 sollte die katastrophale innenpolitische Entwicklung im Zarenreich stoppen. Der Initiator der Koalition war Pavel Miljukov, der selbst diese Gründung als „Höhepunkt“ 328 seiner Karriere bezeichnet hatte. Das Ziel dieses Blocks war die Bildung einer auf dem Vertrauen des Volkes basierten Regierung, die das Land zum Sieg führen sollte. 329 325 326 327 328 329

Ebd. Vgl. Tumanova 2014, 104–110; Hildermeier 2013, 1061f. Hildermeier 2013, 1063. Miljukov 1990, 177. Im Programm des Progressiven Blocks wurden u. a. die Beseitigung der militärischen und zivilistischen Doppelregierung und der Diskriminierung der nationalen Minderheiten, eine Amnestie für politische Gefangene, eine rechtliche Gleichstellung der Bauern sowie die Wiederherstellung der Gewerkschaften für Arbeiter zum Zweck des inneren Friedens gefordert. Vgl. Programm des

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Dieser letzte Versuch, das Land zu retten, war jedoch zum Scheitern verurteilt. Als Ursachen für den Niedergang Russlands sind die Politik des Selbstherrschers Nikolaus II., seit August 1915 der Oberbefehlshaber der Armee, mit seinen fatalen Entscheidungen und seiner verhängnisvollen Umgebung, das ministerielle „Bockspringen“ und die ständige Unterbrechung der Duma-Arbeit, die schweren Niederlagen an der Front und die katastrophale, sich rasch verschlechternde Versorgungslage im Hinterland anzusehen, die sich in der wohl bekanntesten Rede Miljukovs „Dummheit oder Verrat“ widerspiegelten. 330 Helfen konnte sie der russischen Monarchie jedoch nicht mehr. Im Rückblick widmete der erschöpfte Rostovtzeff diesen letzten Monaten vor den revolutionären Erschütterungen nur ein paar Zeilen: „Long years of war. Strenuous work of relief. Drive after drive to collect money for the sufferers of the war: the Poles, the Armenians, the wounded, the disabled. And in the background – the great fight of the frontiers, which moved nearer and nearer to Petersburg, the dark intrigues at the court, and the desperate struggle against the court in the Duma of national union. The atmosphere heavy with stormy clouds.“ 331

Progressiven Blocks, in: Pavlov, D. (Hg.): Russkie liberaly: Kadety i Oktjabristy, Moskau 1996, 76ff; Hildermeier 2013, 1063. 330 Vgl. Miljukov, P.: Vystuplenie v gisudarstvennoj dume 1 nojabrja 1916 g. [Rede in der Staatsduma am 1. November 1916], in: Šelochaev, V. (Hg.): Pervaja mirovaja vojna v ocenke sovremennikov, Bd. 3, Moskau 2014, 440–447. 331 Rostovtzeff 1930er, 3.

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4. 1917: Vom zaristischen zum bolschewistischen Russland Die beiden russischen Revolutionen von 1917 hatten tiefgreifende Folgen für den Verlauf der Geschichte. Innerhalb eines Jahres machte Russland einen unvergleichbaren Sprung von einem Zarenstaat zur Sowjetrepublik. Für Rostovtzeffs Generation bedeutete dies einen schnellen und gewaltigen Bruch mit der gewohnten Lebensweise und den traditionellen Werten. Die in der Duma vertretenen Parteien versuchten, die Anfang 1917 ausgebrochene Gewalt zu zügeln und das Land auf einen demokratischen Weg zu lenken. Der Kampf zwischen den Vertretern der intelligencija und den Volksmassen endete mit dem Sieg der letzten, was schließlich zur Vernichtung der ehemaligen Oberschichten führte. Der Althistoriker, der ein entschiedener Gegner jeglicher Gewalt war, versuchte sich zunächst von den allzu plötzlichen politischen Ereignissen zu distanzieren. Die wachsende bolschewistische Gefahr steigerte jedoch sein politisches Engagement und machte ihn zu einem aktiven Kämpfer gegen den Bolschewismus. Die letzten eineinhalb Jahre, die der Althistoriker in Russland verbracht hatte, stellten einen der wichtigsten Abschnitte seines Lebens dar, der sein weiteres Leben und seine wissenschaftliche Tätigkeit stark beeinflusste. Die Fülle der politischen Ereignisse fordert eine chronologische Rekonstruktion der Zeit zwischen der Februarrevolution und Rostovtzeffs Abreise im Juni 1918.

4.1 Februarrevolution 4.1.1 Februar 4.1.1.1 Im Vorfeld „The Revolution approaching. And yet nobody believed the revolution and the catastrophe to be so near“ 1, beschrieb Rostovtzeff die Zeit vor der Revolution im Februar 1917. Wenn Rostovtzeff und seine Zeitgenossen über den möglichen Zeitpunkt revolutionärer Unruhen unschlüssig waren, so konnten sie jedoch die sich rasch verschlechterte Lage im Land sowie die immer radikaler werdende Stimmung in der russischen Gesellschaft unmöglich übersehen. Der Althistoriker widmete sich in dieser Zeit vorwiegend der Kriegsinvalidenfürsorge und der Wissenschaft. In den beiden Tätigkeitsfeldern konnte er jedoch der Realität nicht entfliehen. 1 Rostovtzeff 1930er, 3.

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Politische, soziale sowie wirtschaftliche Probleme, die sich seit Jahrzenten in Russland gehäuft hatten, wurden durch den Ersten Weltkrieg erheblich verschärft. Das Zarenreich war auf diese militärische Auseinandersetzung in keiner Hinsicht vorbereitet. Der Dauer und dem Ausmaß des Krieges konnte die russische Industrie nicht standhalten. Dadurch litten sowohl das Millionenherr als auch die Zivilbevölkerung Russlands. Schlechte Trans­portmöglichkeiten sowie Probleme in der Agrarproduktion führten zur Lebensmittel- und Brennstoffknappheit. Das Finanzministerium versuchte die Kriegskosten durch die Ausgabe von Banknoten und Auslandskredite zu decken. Die sich schnell verbreitende Inflation erschwerte jedoch weiterhin die innenpolitische Lage. Die Preise stiegen in dieser Zeit drei Mal so schnell wie Löhne und Gehälter. 2 Die Auswirkung der Inflation und den Nahrungsmangel spürte vor allem die städtische Bevölkerung, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen sich drastisch verschlechtert hatten. Die Arbeitszeit betrug während des Krieges 11 bis 12 Stunden am Tag; die Nachtarbeit von Frauen und Kindern kehrte offiziell zurück. Erschwerend kam hinzu, dass wehrpflichtige Bauern sowie Flüchtlinge aus Kampfgebieten massenhaft in die Großstädte zogen. Dadurch veränderte sich das soziale Bild des Arbeiters, der nun für radikale Parolen noch anfälliger wurde. 3 Die gefährliche Lage ließ sich bereits 1915 erkennen und erreichte ihren Höhepunkt im Herbst 1916. Die ärmeren Stadtbewohner litten unter Hunger: Die Preise auf den Schwarzmärkten diktierten den Alltag; die Schlangen vor Geschäften wurden Tag für Tag länger. Unmittelbar vor der Revolution im Februar 1917 wurde das Brot auf ein Pfund pro Person am Tag rationiert. 4 Die zaristische Regierung erwies sich als unfähig, die Versorgungskrise zu bewältigen. Gesellschaftliche Initiativen zur Verbesserung der Lage wurden dabei als Eingriff in die staatliche Autorität wahrgenommen. Aus diesem Grund wurden sie von der offiziellen Macht wenig unterstützt, manchmal sogar behindert. 5 Genauso katastrophal waren die militärische Führung und die politischen Entscheidungen des letzten Zaren. Die Unzufriedenheit gegenüber der Zarenregierung weitete sich aus und fand ihren Höhepunkt in der historischen Rede des Kadettenführers Miljukov am 1. November 1916, die zum „Sturmsignal“ 6 zur Revolution wurde. Es war der Tag der Eröffnung der 5. Sitzungsperiode der IV. Staatsduma (1912–1917). Seine Ansprache begann Miljukov mit einem kurzen Überblick über die militärischen Niederlagen der russischen Armee im Jahr 1915 und die darauffolgende innenpolitische Krise. Seine Polemik stützte der Redner auf die berühmte Aussage des neu ernannten, unbeliebten Kriegsministers Dmitrij Šuvaev, der gesagt hatte: „Ich bin vielleicht ein

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Vgl. Pipes 1992, Bd. 1, 414. Vgl. Stöckl 1990, 629f. Vgl. Hildermeier 1983, 121. Vgl. Stöckl 1990, 632. Bohn, T.: „Dummheit oder Verrat“ – Gab Miljukov am 01. November 1916 das „Sturmsignal“ zur Februarrevolution? In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 41 (1993), 361.

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Dummkopf, aber ich bin kein Verräter“ 7. Die Gerüchte über die Korruption und den Verrat, die politischen Fehler der verantwortlichen Minister, die Zitate aus deutschsprachigen Zeitungen, seine Gespräche mit russischen Botschaftern in London, Paris und Stockholm analysierte Miljukov detailliert in dieser Rede und kam zum Schluss, dass sich die bestehende politische Konstellation im Russischen Reich „allein mit der Dummheit“ 8 schwer erklären ließe. Miljukov forderte den Rücktritt der Regierung Stürmers und die Bildung eines „verantwortlichen“ Kabinetts, das das Programm des Progressiven Blocks umsetzen und mit der Mehrheit der Duma kooperieren sollte. 9 Bezüglich des Krieges blieb die Haltung des Kadettenführers unverändert: „Wir sind im 27. Monat dieselben, die wir im zehnten sowie im ersten Monat des Krieges waren. Wir streben weiterhin nach vollem Sieg und sind nach wie vor bereit, alle notwendigen Opfer zu tragen, und wir wollen die nationale Einheit unterstützen. Aber ich muss offen sagen, dass es einen Unterschied in der Situation gibt. Wir haben den Glauben verloren, dass diese Regierung uns zum Sieg führen kann.“ 10 Die Rede Miljukovs bekam eine große Resonanz auf dem ganzen Gebiet des Zarenreichs. Die Veröffentlichung wurde zwar verboten, fand jedoch mittels der Durchschläge große Verbreitung. Die scharfen Aussagen und Vorwürfe entsprachen der allgemeinen Meinung der Mehrheit der russischen Gesellschaft am Vorabend der Februarrevolution. Das ganze Land befand sich nun in unzähligen politischen Diskussionen. Dabei wurden Stimmen der Opposition von Tag zu Tag radikaler. Als Beispiel hierfür kann die Tätigkeit des Allrussischen Städtebundes Ende 1916 dienen, der im Laufe des Krieges viele Verwaltungsaufgaben übernahm und dadurch ein beachtliches Ansehen genoß und einen bestimmenden Einfluss auf die Gesellschaft hatte. Rostovtzeff, wie bekannt, leitete das Exekutivkomitee der Spendenkampagnen zugunsten der Flüchtlinge und Kriegsopfer, die vom Allrussischen Städtebund organisiert worden waren. Am 9. Dezember 1916 wurde die Resolution des Allrussischen Städtebundes über die politische Situation verabschiedet. 11 Im Schreiben wurde die russische Regierung für die katastrophale Lage im Land verantwortlich gemacht. Es wurde dabei die Staatsduma aufgefordert, ihren Kampf gegen „das schändliche Regime“ 12 zu vollenden, da jegliche neue Maßnahmen des autokratischen Regimes den Niedergang des Landes beschleunigen und zur sozialen Anarchie führen würden. Der Ausweg sollte in der Bildung einer

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Vgl. ebd., 382. Vgl. Miljukov 1916, 185. Vgl. ebd., 186. Vgl. ebd., 176f. Rezoljucija o političeskom momente, prinjataja sʼʼezdom sojuza gorodov [Resolution über den politischen Zeitpunkt, verabschiedet vom Allrussischen Städtebund] am 9.12.1916, in: Grave, B. (Hg.): Buržuazija nakanune Fevralʼskoj revoljucii, Moskau/Leningrad 1927, 159; Tumanova 2014, 101–117. 12 Ebd.

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„verantwortlichen Regierung“ 13 gefunden werden. Diese Aufgabe sollte die Staatsduma übernehmen. Darüber hinaus appellierte man an „alle organisierten Gruppen der Bevölkerung“ 14, sich zur Regulierung der Versorgung im Land zu vereinigen, und an die russische Armee, den begonnenen Kampf bis zum Sieg zu führen. Der Text der Resolution ließ keine Zweifel an der Haltung dieser Gesellschaftsorganisation gegenüber der zaristischen Regierung: „In Russland ist allen Ständen, jeder Vereinigung ehrlicher Menschen klar, dass die verantwortungslosen, von der abergläubigen Angst getriebenen Verbrecher, grausamen Fanatiker, die Liebesworte über Russland lästerlich aussprechen, ihm [Russland] Niederlage, Schande und Sklaverei vorbereiten. Russland hat es endgültig begriffen und die bedrohliche Wirklichkeit offenbarte sich vor seinen [Russlands] Augen.“ 15 Tatsächlich gelang es dem Zaren und seiner Umgebung, sogar die der Monarchie treue Bevölkerung gegen sich einzunehmen. Nikolaus II., der keine starke Persönlichkeit war, geriet immer mehr unter den Einfluss seiner Frau und einer ihr vertrauten Person, des „Propheten“ Grigorij Rasputin. Er, der einfache Bauer, sollte dem Thronfolger Aleksej, der unter Hämophilie litt, immer wieder helfen können. Seine Kräfte versuchte Rasputin 1915 auch an Sofʼja Rostovtzeff zu demonstrieren: Der Versuch, Rostovtzeffs Frau zu hypnotisieren, war jedoch misslungen. 16 Rasputins Einfluss auf den Zaren hatte sich im Laufe des Krieges auf innen- und außenpolitische Angelegenheiten des Landes ausgeweitet, was zu einer ganzen Reihe fataler Entscheidungen führte. Die Ratschläge dieser Persönlichkeit führten u. a. zum sogenannten „Bockspringen der Minister“. 17 Unter dem Einfluss seiner Frau und Rasputins hatte Nikolaus II. den Oberbefehl über die Armee übernommen und damit einen weiteren Fehler begangen. Durch seine ständige Abwesenheit von der Hauptstadt verlor der letzte Zar jede Verbindung mit der politischen Realität in seinem Reich. Die Empörung über das Verhalten von Nikolaus II. spiegelte sich in zahlreichen Plänen der Opposition, entweder die Zarin zu verhaften oder gar ihren Gemahl abzuset-

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Ebd. Ebd. Ebd. Gespräche G. Vernadskys mit S. Rostovtzeff vom 12.3.1933 und 2.2.1961, in: Überblick über die Dokumentenkollektion G.V. Vernadskys im Bachmetev-Archiv der Rare Book and Manuscript Library der Columbia University, New York, unter: http://knigi.link/knigi-knistoriografiya/obzorkollektsii-dokumentov-vernadskogo-37247.html (letzter Abruf am 5.12.2016). 17 Zwischen 1914 und 1917 wechselten sich nacheinander vier Ministerpräsidenten, sechs Innen-, vier Landwirtschafts-, vier Justiz-, vier Kriegs- und drei Außenminister. Bei diesem „Bockspringen der Minister“ wurden die letzten patriotischen Beamten durch unfähige Personen, die jedoch ihre Loyalität zur Dynastie und zur autokratischen Regierungsmacht beweisen konnten, ersetzt. Der gesamte Verwaltungsapparat Russlands brach auseinander. Vgl. Torke 1997, 185f.

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zen, wider und erreichte ihren Höhepunkt im Mord an Rasputin durch Angehörige des Hochadels am 16. Dezember 1916. 18 Die Atmosphäre, die in diesen Tagen vor allem in der Hauptstadt herrschte, war höchst angespannt. Einer der Berichte Petrograder Polizei gibt die Stimmung der hauptstädtischen Bevölkerung kurz vor der Februarumwälzung wieder: „Alle erwarten irgendwelche außerordentliche Ereignisse und Aufmärsche sowohl von einer als auch von anderer Seite. Gleichermaßen ernst und mit Besorgnis werden sowohl scharfe revolutionäre Auftritte als auch zweifellos eine Palastrevolte bald erwartet, deren Vorbote, nach allgemeiner Überzeugung, der [Gewalt]akt gegen den ‚berüchtigten Greis‘ gewesen ist.“ 19 In den Weihnachtsferien 1917 waren politische Diskussionen aus dem Alltag Petrograder Bewohner nicht mehr wegzudenken: Jeder, der Lust hatte, kritisierte jeden Schritt der Regierung in „äußerst böswilliger Weise“ 20. Dies sei überall geschehen: auf offener Straße, in Straßenbahnen, Theatern, Geschäften. Rostovtzeff, der sich sicherlich solche politische Diskussionen z. B. bei Abendbesuchen nicht entgehen ließ, eilte tagsüber zu einem Stützpunkt der Spendensammlung. Der Althistoriker versuchte sich „nützlich zu machen“, indem er sich auf die wohltätige und wissenschaftliche Arbeit konzentrierte. Die politische Realität zog jedoch seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Der im Stadtzentrum wohnende Historiker konnte die sich rasch ändernde Situation aus dem Fenster seiner Wohnung wie auf einer Theaterbühne verfolgen. Was in diesen Tagen auf den Straßen in Petrograd geschah, beschrieb einer der engen Freunde Rostovtzeffs im Exil, der Petrograder Wissenschaftler P. Sorokin: „Die Straßendemonstrationen der Frauen und Kinder der Armen, die nach ‚Brot und Heringen‘ verlangen, werden immer zahlreicher und aufsehenerregender. Die rebellierende Menge, die einige Wagen umkippte, hielt heute den Straßenbahnverkehr auf. Sie zertrümmerte weiter eine Vielzahl von Geschäften und griff sogar die Polizisten an. Viele Arbeiter schlossen sich den Frauen an; Streiks und Unruhen verbreiten sich schnell. […] Die gewöhnliche Lebensordnung ist zerbrochen. Geschäfte und Institutionen sind geschlossen.“ 21

18 Vgl. dazu ausführlicher Pipes 1992, Bd. 1, 454–462. 19 Zapiska petrogradskogo ochrannogo otdelenija o Gosudarstvennoj Dume [Notiz der Dritten Abteilung über die Staatsduma] (Januar–Februar 1917), in: Grave 1927, 161. 20 Zapiska ob obščestvennych nastroenijach v svjazi s otsročkoj sozyva Gosudarstvennoj Dumy [Notiz über Gesellschaftsstimmungen infolge der Vertagung der Einberufung der Staatsduma], in: Ebd., 170. 21 Sorokin 1992, 73.

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Derselbe Augenzeuge berichtete, dass es im „Wirbel der Ereignisse“ 22 unmöglich wäre, sich auf wissenschaftliche Tätigkeit zu beschränken. Das akademische Jahr 1916/17 begann zwar wie gewöhnlich im September, der universitäre Alltag veränderte sich jedoch erheblich. Viele Räume der Universität Petrograd dienten seit dem Kriegsbeginn als Hospitäler für verwundete Soldaten, so etwa die Aula der Universität. Zudem musste sich die hauptstädtische Hochschule aufgrund der steigenden Inflation finanziell einschränken. Darüber hinaus halbierte sich die Zahl der Studierenden zwischen April und Oktober 1916: Die bislang verschonten Studenten wurden nun an die Front einberufen. Des Weiteren belasteten die stets steigenden Lebenskosten die russische Studentenschaft, deren Stimmung sich von einer patriotischen zu einer pazifistischen und sogar regierungskritischen Haltung wandelte. Es wurden an der Petrograder Universität immer öfter regierungskritische Zusammenkünfte organisiert; an den Toilettenwänden waren Parolen wie „Nieder mit dem Zaren“ 23 oder „Tod der Zarin Rasputins“ 24 zu lesen. 25 Aus diesem Grund konnte sich Rostovtzeff im ausgehenden Jahr 1916 bzw. im beginnenden Jahr 1917 nicht vollständig auf seine Lehrtätigkeit konzentrieren, noch weniger in den Universitätsräumen der politischen Realität entkommen. Dennoch war Rostovtzeff in diesen Tagen trotz alldem oder gerade deswegen außerordentlich beschäftigt. Wie bereits im vorherigen Kapitel dargestellt wurde, bemühte sich Rostovtzeff die Aufmerksamkeit der Gesellschaft für die Kriegsopfer aufrechtzuhalten. So musste der Althistoriker seinen Vortrag in der Archäologischen Gesellschaft am 24. Februar 1917 in Moskau ausfallen lassen, da er die Spendenaktion für verstümmelte Soldaten (18.–20. Februar) geleitet hatte. Im Brief an die Vorsitzende der Moskauer Archäologischen Gesellschaft erklärte er, dass die Spendensammlung seine ganze Zeit in Anspruch genommen hätte. 26 Jedoch waren die Kriegsjahre für den Althistoriker nicht nur mit gesellschaftlichen Tätigkeiten erfüllt, sondern auch durch eine außerordentlich intensive wissenschaftliche Arbeit gekennzeichnet. Er nahm gleichzeitig an verschiedenen Wissenschaftsprojekten teil: 1915 wirkte er als einer der Organisatoren des Russischen Instituts für Palästinakunde, ein Jahr später wurde er einer der Autoren der Verordnung für das geplante Russische Archäologische Institut in Rom. Außerdem begann er sich intensiv mit der Archäologie Südrusslands auseinanderzusetzen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden bis zu seiner Abreise aus dem bolschewistischen Russland in Form von kleinen Aufsätzen und großen Werken publiziert. Die vielseitige Tätigkeit des Historikers wurde dementsprechend gewürdigt. Für seinen Beitrag zur Entwicklung der russischen Archäologie erhielt Rostovtzeff 1915 eine Goldene Medaille des Grafen Aleksej Uvarov. Anfang 1917 wurde er zum Vorsitzenden der Klassischen Abteilung der Kaiserlichen Archäologischen Gesellschaft ernannt. 27 22 23 24 25 26 27

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Rostovcev/Sidorčuk 2014, 709. Vgl. Brief M. Rostovtzeffs an die Gräfin P. Uvarova vom Februar 1917, in: Bongard-Levin 1997, 70. Ebd., 70ff.

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Es ist bemerkenswert, dass in den Tagen, als Russlands Zukunft entschieden werden sollte, Mitglieder der noch Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften begannen, über Rostovtzeffs Aufnahme in ihre Reihen zu beraten. Auf der Sitzung der Akademie am 25. Januar 1917 stellte der Akademiker V. Latyšev die Kandidatur des Althistorikers vor, indem er einen Abriss von Rostovtzeffs Biographie und wissenschaftlicher Tätigkeit vorlas. 28 Latyšev sprach über die Notwendigkeit, einen Vertreter der lateinischen Philologie unter Akademikern zu haben. Die wissenschaftlichen Interessen von Michail Rostovtzeff, der bereits 1908 zum korrespondierenden Mitglied der Russischen und 1914 der Berliner Akademie der Wissenschaften gewählt worden war, seien „ungewöhnlich breit und vielfältig [und] seine literarisch-wissenschaftliche Tätigkeit [ist] in ihrer Intensität erstaunlich“ 29. Daraufhin charakterisierte Latyšev Rostovtzeffs wichtige Arbeiten zur griechischen und römischen Geschichte, Epigraphik, Papyrologie und Archäologie. Es wurden besonders Rostovtzeffs wissenschaftliche Untersuchungen der antiken Geschichte Südrusslands hervorgehoben. Neben seinem monumentalen Werk „Antike dekorative Malerei im Südrussland“ (St. Petersburg 1914) wurden im Wahlvorschlag insgesamt 26 Schriften zu dieser Thematik aufgelistet. Zum Schluss wies der Autor darauf hin, dass der 47-jährige Althistoriker gerade seine Glanzzeit erlebe: „Seine [Rostovtzeffs] Hingabe zur Wissenschaft, außerordentliche Breite der wissenschaftlichen Interessen, rastlose Energie, Initiativen sowie seine Fähigkeit zu einer äußerst intensiven Arbeit geben die Garantie, dass sein Eintritt in den Akademikerkreis einen neuen Impuls in der Klassischen Philologie und Archäologie auslösen und die Zeit des großen Progresses in der Geschichtsforschung unserer südlichen Grenzgebiete ‒ was eine direkte und natürliche Pflicht der russischen Wissenschaft ist ‒ bedeuten wird.“ 30 Offiziell wurde Rostovtzeff am 15. April 1917 zum ordentlichen Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Die Verordnung der Provisorischen Regierung vom 8. Mai 1917 bestätigte schließlich diese Wahl. 31 4.1.1.2 Umsturz Der Zusammenbruch des 300-jährigen Zarenreichs der Romanovs wurde zwar erwartet, geschah jedoch für viele plötzlich und unvorhersehbar. In nur wenigen Tagen machte Russland einen großen Sprung von einer Monarchie zur Republik. Die Frauendemonst28 Ljatyšev, V.: Zapiska ob učënoj ddejatelʼnosti [Notiz die wissenschaftliche Tätigkeit] M.I. Rostovtzeffs, in: VDI 2 (1991), 215–220. 29 Ebd., 217. 30 Ebd., 220. 31 Vgl. Tunkina 1997, 87.

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ration am 23. Februar (8. März) anlässlich des 1910 von Clara Zetkin ins Leben gerufenen Internationalen Frauentages wurde von Arbeitern der Putilov-Metallfabrik unterstützt und konnte sich in den nächsten Tagen zum Generalstreik ausweiten. Die Situation ähnelte auf den ersten Blick dem Ablauf der Revolution von 1905. Es gab allerdings einen wesentlichen Unterschied, der die Februarrevolution zum Erfolg führte: die Unterstützung der Massen durch Politiker und Armee. Das entschied den Verlauf der Ereignisse am 27. Februar. An diesem Tag meuterte die Petrograder Garnison und schloss sich den Demonstranten an. Fast gleichzeitig weigerten sich die Abgeordneten der Staatsduma, den Befehl des Zaren zur Selbstauflösung zu befolgen. In seiner Notiz skizzierte Vernadskij die Ereignisse von Februar 1917 im Rostovtzeffs Leben mit wenigen Worten: Der Althistoriker hätte an der Februarrevolution keinen aktiven Anteil genommen und wäre in keinen Versammlungen aufgetreten. Außerdem hätte er eine Beteiligung an der Provisorischen Regierung abgelehnt. 32 Es ist zu fragen, warum der sonst politisch so aktive Rostovtzeff bei der Neugestaltung seines Heimatlandes eher die Position eines Beobachters annahm. Dabei waren gerade seine Parteifreunde und Kollegen von der Möglichkeit, eine demokratische Staatsordnung nach dem Fall des Absolutismus einzurichten, in den ersten Revolutionstagen begeistert. Der Althistoriker beschrieb die Ereignisse vom Februar 1917 wie folgt: „The days of the first revolution. Excitements, hopes, despair. Murders in the streets“ 33. Betrachtet man die Erinnerungen der Zeitgenossen, ist Rostovtzeffs Skepsis gegenüber dem politischen Geschehen nachvollziehbar. Zwischen den Protestmärschen der Petrograder Arbeiterfrauen am 23. Februar und der Gründung der Provisorischen Regierung am 2. März und noch einige Tage darüber hinaus funktionierten Alltagsabläufe nicht mehr: Viele Einrichtungen und Geschäfte waren geschlossen, der Straßenverkehr war lahmgelegt. So waren etwa beinahe alle Veranstaltungen an der Universität Petrograd abgesagt, weil Studenten sich den Aufständischen anschlossen. Diejenigen Wissenschaftler, welche die Situation zu ignorieren versuchten und ihrer Tätigkeit nachgingen, riskierten viel, wie der Mathematikprofessor an der Petrograder Universität V. Steklov. Er erinnerte sich an seine Vorlesung am 25. Februar 1917 wie folgt: „Heute mitten in der zweiten Vorlesung stürmten Streikende [Studenten] in den Hörsaal hinein und forderten, die Veranstaltung zu beenden. Der Student Trofimov wallte in Zorn auf, schickte sie zum Teufel, sprang auf und packte einen an. […] Er wurde angegriffen, sie haben sich fast verprügelt. Ich erklärte, dass ich unter solchen Umständen keine Vorlesung halten will, hielt Trofimov an und wies die Menge ab. Es ging wohlbehalten aus, es könnte aber zur Schlägerei kommen!“ 34

32 Vernadsky 1986, 393. 33 Rostovtzeff 1930er, 3. 34 Erinnerungen V. Steklovs, zitiert nach: Znamenskij, O.: Intelligencija nakanune Velikogog Oktjabrja (fevral‘ - oktjabr‘1917 g.), Leningrad 1988, 67.

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Da nun „seine Majestät das Volk der Herrscher über die Situation“ 35 war, blieben die Vertreter der intelligencija in dieser unsicheren Zeit lieber zuhause. Aktuelle Nachrichten erfuhren sie telefonisch oder durch Bekanntenbesuche. In seiner Wohnung blieb höchstwahrscheinlich auch Rostovtzeff. Sein Parteikollege Vladimir Nabokov, der auf derselben Straße nur wenige Häuser weiter gelebt hatte, gab eine detaillierte Beschreibung dessen, was auf Petrograder Straßen geschah: „Am Abend [27. Februar] war Morskaja [Straße], soweit man aus Fenstern sehen konnte […], absolut ausgestorben. Panzerwagen rasten vorbei, Schieß- und Maschinengewehrschüsse ertönten, einzelne Soldaten und Matrosen, sich an Wänden drückend, liefen vorbei. Von Zeit zu Zeit gingen einzelne Schüsse in ein reges Feuergefecht über. Manchmal wurde alles still, jedoch immer für kurze Zeit.“ 36 Wer sich in diesen Stunden auf die Straße getraut hatte, musste sich vor den mit Soldaten und Matrosen vollgestopften Autos fürchten, die über Petrograder Straßen auf und ab rasten und aus denen blind geschossen wurde. Die angetrunkenen Rebellen suchten nach Feinden der Revolution und verbrannten Polizeistationen und andere staatliche Gebäude. Jedes Unwesen wurde mit den Worten „weil Freiheit, ist alles erlaubt“ 37 begleitet. Auf der Suche nach Reichtümern und Waffen durchsuchten die selbsternannten Revolutionsverteidiger Häuser und Wohnungen. 38 Rostovtzeff berichtete, dass die Soldaten auch in seine Wohnung kamen. Er bot ihnen den Tee an, sprach mit ihnen und fand „hopeless confusion in their minds“ 39. Den Februarumsturz bewerteten die Intellektuellen, die den Absolutismus genauso wie die Revolution ablehnten und fürchteten, unterschiedlich. V. Nabokov sprach über eine nie da gewesene beschwingte Stimmung, die er in diesen Stunden gespürt hatte. Es schien ihm, dass etwas „Großes und Heiliges“ 40 erschienen wäre: „Das Volk befreite sich von den Ketten, der Despotismus brach zusammen“ 41. Es gab innerhalb der Kadettenpartei von Anfang an auch skeptische Stimmen, wie die vom Redakteur der Parteizeitung „Reč“ I. Gessen: „Ich behaupte entschieden, dass ich keine einzige Sekunde glaubte, die Revolution könnte den Zerfall verhindern und die Gewalt zügeln. Ich spürte mit allen Fasern des Herzens, dass wir auf einer schiefen Ebene stehen, auf der es unmöglich war,

35 Sorokin 1992, 80. 36 Nabokov, V.: Veremennoe pravitelʼstvo i bolʼševistskij perevorot [Die Provisorische Regierung und der bolschewistische Umsturz], London 1988, 17. 37 Sorokin 1992, 83. 38 Vgl. Benois, A.: Dnevnik. [Tagebuch] 1916–1918, Moskau 2006, 110f, 116. 39 Rostovtzeff 1930er, 3. 40 Nabokov 1988, 19 41 Ebd.

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sich festzuhalten. Wohin wir rutschen, kann ich nicht sehen. Werden wir dabei unsere Köpfe auf den Schultern behalten? Das glaube ich nicht.“ 42 Für Rostovtzeffs Freund, den Soziologen P. Sorokin, war von Anfang an offensichtlich, dass „die Geisteshaltung des Pöbels sich ankündigte und im Menschen nicht nur ein Tier, sondern auch ein Narr erwacht, der bereit ist, die Oberhand über alle und alles sich zu nehmen“ 43. Für die Klärung der Einstellung Rostovtzeffs zu den Februarereignissen ist ein Gespräch zwischen dem Althistoriker und einem seiner Freunde kurz nach der Revolution bezeichnend: „‚Why are you so happy?‘ I [Rostovtzeff] asked. ‚Well‘, was the answer, ‚the mud will be swept away.‘ ‚Well‘, I said, ‚one will be swept away, another and a worse one will take its place‘.“ 44 Somit wird die Position von Rostovtzeff deutlich. Als Mitglied der Partei der Konstitutionellen Demokraten begrüßte der Althistoriker ohne Zweifel den Fall des Absolutismus in seinem Heimatland, als Vertreter der Bildungsintelligencija lehnte er die ausgebrochene Gewalt entschieden ab. Die Revolution, die aufgrund der vergleichsweise geringen Opferzahl von 433 Toten und 1135 Verwundeten „unblutig“ 45 genannt wurde, war ein erster Schritt auf dem Weg des Untergangs der gewohnten Lebensweise des russischen Historikers. Womöglich konnte Rostovtzeff dies schon im Februar 1917 wenn nicht wissen, doch zumindest vorahnen. Die äußere Verwandlung, welche Russland in nur wenigen Wochen durchgemacht hatte, ließ keinen der Intelektuellen gleichgültig: „Die Straßen waren nachts nicht so überfüllt und die Veränderungen, die sich im ersten Monat der Revolution ereignet hatten, ließen sich leichter erkennen. Das Bild ist nicht das angenehmste. Straßen sind mit Papier, Schmutz, Exkrementen und Sonnenblumenkernhülsen […] besudelt. Die durch Kugeln zerbrochenen Fenster sind mit Papier verklebt. Auf beiden Straßenseiten stehen Soldaten und Prostituierte, die Unanständigkeiten provokant betreiben.“ 46

42 Gessen, I.: V dvuch vekach: Žiznennyj otčët [In zwei Jahrhunderten: Lebensbericht], Berlin 1937, 356. 43 Sorokin 1992, 80. 44 Rostovtzeff 1930er, 3. 45 Vgl. Hildermeier 1998, 72. Pipes spricht von ca. 170 Toten und 1.280 Verwundeten. Vgl. Pipes 1992, Bd. 1, 522; Nabokov 1988, 11. 46 Sorokin 1992, 85.

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4.1.2 März 4.1.2.1 Die Bildung der Provisorischen Regierung und die Rolle der Kadetten-Partei Die Eindämmung der sich kontinuierlich verbreitenden Anarchie wurde in der nächsten Zeit zur Hauptaufgabe der russischen Politiker. Am 1. März bildeten elf Mitglieder des Progressiven Blocks und zwei Sozialisten das Provisorische Komitee, das die Zukunft Russlands entscheiden sollte. In der Tat wurde die weitere Entwicklung des Landes in zahlreichen privaten Versammlungen schon längst diskutiert. Die Liberalen verloren nicht die Hoffnung, die konstitutionelle Monarchie unter der Regentschaft entweder des Onkels des Zaren Michail Aleksandrovič oder des minderjährigen Thronfolgers Aleksej in Russland einzuführen. 47 Die Gespräche über die künftige Regierungsmacht führten aber auch die Vertreter der Massen, die Ende Februar auf Initiative von Menschewiki den Rat (Sowjet) der Arbeiter- und Soldatendeputierten organisiert hatten. Damit bildete sich ab März 1917 eine Art Doppelherrschaft in Russland heraus. Nachdem am 2. März zuerst Nikolaus II. für sich und seinen Sohn und ein Tag später sein Bruder Michail die Abdankungsurkunden unterzeichnet hatten, ging das Provisorische Komitee in die Provisorische Regierung unter der Führung des Fürsten L’vov über. Im ersten Kabinett der Provisorischen Regierung war der Einfluss der Kadetten unverkennbar. Fünf Minister kamen aus der Kadetten-Partei, darunter P. Miljukov als Außenminister und A. Manujlov als Bildungsminister. 48 Den Posten des Bildungsministers hatte Miljukov für Michail Rostovtzeff, den er gut kannte und sehr schätzte, vorgesehen. 49 Nachdem dieser das Angebot abgelehnt hatte, übernahm der Jura-Professor aus Moskau Aleksander Manujlov (1861–1929) die Leitung des neuen Bildungsministeriums. Er genoss jedoch keine Autorität bei den anderen Mitgliedern der Regierung und wurde als eine „glanzlose Gestalt“ 50 charakterisiert. Dies hätte man sicherlich nicht über Rostovtzeff ‒ wenn er die Stelle angenommen hätte ‒ behaupten können. Rostovtzeff charakterisierte später die Provisorische Regierung als „helpless, divided, quarrelling, but full of the best intentions and working hard“ 51. In der Tat fehlte es den Mitgliedern der neuen Regierung weder an hohen Zielen noch an Ausdauer. Die Sitzungen, die zweimal täglich stattfanden, dauerten bis tief in die Nacht an. Die Mi47 Torke, H.-J.: Die improvisierte Demokratie. Februar-Revolution und Provisorische Regierung in Rußland, in: Sundhaussen, H./ Torke, H.-J. (Hg.): 1917-1918 als Epochengrenze? Wiesbaden 2000, 33f. 48 Die Minister-Kadetten der Provisorischen Regierung (2. März–5. Mai 1917): P. Miljukov (Äußeres), N. Nekrasov (Transport), A. Manujlov (Bildung), A. Šingarev (Landwirtschaft), F. Rodičev (Finnlands Angelegenheiten) und V. Nabokov als Geschäftsführer. Vgl. Wittram, R.: Studien zum Selbstverständnis des 1. und 2. Kabinetts der russischen Provisorischen Regierung (März bis Juli 1917), Göttingen 1971, 20–45. 49 Vgl. Heinen 1986, 393; Bongard-Levin 1997, 73. 50 Nabokov 1988, 85. 51 Rostovtzeff 1930er, 3.

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nister, deren Arbeit „normale menschliche Kräfte überschritt“ 52, mussten in ihren Büros übernachten. Bereits durch die ersten Verordnungen der neuen Macht, wie die Abschaffung von ständischen Privilegien, der Todesstrafe, der religiösen und nationalen Diskriminierungen, die Abhaltung von allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlen sowie die Einführung anderer bürgerlicher Freiheiten, gelang es, die Grundlagen einer parlamentarischen Demokratie im Land einzuführen. Als ihre Hauptaufgabe verstand die Provisorische Regierung die Einberufung einer Konstituierenden Versammlung, die schließlich über die künftige Staatsform entscheiden sollte. 53 Gleichzeitig zeichnete sich das neue Kabinett durch Unentschlossenheit, Naivität und innere Fehden aus, die trotz all der guten Ansätze zu fatalen Entscheidungen der Provisorischen Regierung führten. Wie bereits erwähnt wurde, übernahm Rostovtzeffs Partei der Konstitutionellen Demokraten eine führende Rolle in der Regierung. „Die Kadetten-Partei wurde zur ministeriellen, fast offiziellen Partei“ 54, hieß es in der zeitgenössischen Presse. Das war die Partei, die eine historische Chance bekam, viele Punkte ihres Partei-Programms zu verwirklichen. Das Beharren auf den programmatischen Zielen stellte sich für den Parteiführer Miljukov als schwierig heraus und führte schließlich zu seinem Austritt aus der Provisorischen Regierung. Miljukov war derjenige, der für die konstitutionelle Monarchie nach Englands Beispiel ‒ was einer der Punkte des Kadetten-Programms war ‒ bis zum Ende kämpfte. Er versuchte am 3. März den Großfürsten Michail Aleksandrovič zu überzeugen, die Krone anzunehmen. Miljukov begründete seinen Standpunkt damit, dass die Monarchie die für das russische Volk gewöhnliche Regierungsform sei und das Land anderenfalls im Chaos versinken werde. 55 Obwohl Miljukov damit sichtlich in der Minderheit war, machte er aus dieser Frage ein Punctum saliens, von dem seine Beteiligung an der neuen Regierung abhinge. 56 Nach der ablehnenden Entscheidung des Großfürsten mussten Miljukov und seine Partei einige Kompromisse eingehen und sich auf die sich stets verändernde politische Situation einstellen. Kurz nach der Einberufung der Provisorischen Regierung begannen sich die Mitglieder der Partei der Konstitutionellen Demokraten über die Taktik und Programminhalte zu beraten. Zunächst fanden mehrere Sitzungen des Petrograder Zentralkomitees der Partei statt. 57 Es wurde einerseits über die Wege zur Unterstützung der neuen Regierung und die Stärkung der Kadetten-Position im beginnenden Demokratisierungsprozess, an52 53 54 55 56 57

Nabokov 1988, 55. Vgl. Hildermeier 1998, 68f; Donnert 1998, 267f. Russkoe slovo vom 17.3.1917, zitiert nach: Znamenskij 1988, 123. Vgl. Miljukov 2001, 577. Vgl. ebd., 577f; Nabokov 1988, 24. Auf dem VIII. Parteitag der Kadetten im Mai 1917 wurde das Zentralkomitee neu gewählt, darunter einige Freunde und Kollegen des Althistorikers. Rostovtzeff selbst war ‒ wie dies z. B. in Rosenbergs Monographie erwähnt wird ‒ kein Mitglied des ZK. Vgl. Rosenberg, W.: Liberals in the Russian revolution, London 1974, 84f; Šelochaev, V.: Sʺezdy i konferencii KonstitucionnoDemokratičeskoj Partii [Parteitage und Konferenzen der Konstitutionell-Demokratischen Partei], Bd. 3/1, Moskau 2000, 658.

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dererseits über die Möglichkeit einer Bekämpfung der Anarchie und der Beseitigung der Doppelherrschaft im Land diskutiert. Von 25. bis 28. März 1917 fand der siebte Parteitag der Konstitutionellen Demokraten in Petrograd statt. In der Begrüßung wurde auf die durch die Revolution hervorgerufenen Veränderungen in der Arbeit der Partei hingewiesen. Man rief auf, die Provisorische Regierung zu unterstützen, damit sie Russland bis zur Konstituierenden Versammlung problemlos führen könnte. Dafür sollten programmatische, taktische sowie organisatorische Fragen diskutiert werden. 58 Zunächst musste der 13. Programmpunkt bezüglich der Staatsform geändert werden. Es wurde nun das Streben nach einer demokratischen und parlamentarischen Republik im Programm proklamiert. In der Kriegsfrage unterstützte die Partei ihren Führer, den Außenminister Miljukov, indem die Bereitschaft, den Krieg bis zum Sieg zu führen, sowie die Verpflichtungen gegenüber den Verbündeten bestätigt wurden. Zur Lösung der Agrarfrage sollte eine spezielle Kommission gebildet werden, deren Ziel die Erarbeitung notwendiger Veränderungen im Agrarprogramm wäre. Zentral war außerdem die Frage nach der Taktik der Partei unter den neuen Umständen. Es wurde die Notwendigkeit einer „höchst aktiven Propaganda der Parteiideen in breiteren Bevölkerungsmassen“ 59 betont. Dafür sollten zunächst zwischen 100.000 und 200.000 Exemplare des veränderten Programms gedruckt und verteilt werden. Einen Tag später, am. 29. März, trafen sich die Mitglieder des Zentralkomitees der Kadetten-Partei in der Hauptstadt. Dort wurde eine spezielle Literaturkommission gegründet, zu der u. a. Tyrkova, Vernadskij und Rostovtzeff gehörten. Das Ziel dieser Kommission war es, populärwissenschaftliche Literatur sowie Agitationsmaterial „entsprechend der augenblicklichen Situation“ 60 anzufertigen. Als Material für Flugblätter und Broschüren sollten z. B. stenographische Vorträge in der Schule der Agitatoren dienen. 4.1.2.2 Rostovtzeffs politische Tätigkeit Rostovtzeff, der sich gegen eine führende Rolle in der Übergangsregierung entschieden hatte, blieb im Hintergrund der politischen Verhandlungen trotzdem sehr aktiv. Er beteiligte sich an landesweiten Initiativen der intelligencija, an neuen Kommissionen, Gesellschaften und sogar an der Arbeit der Ministerien für die Übernahme von Verwaltungsaufgaben der zaristischen Administration. Solche Gespräche fanden wenige Tage nach der Revolution statt. Diese Eile war vor allem durch die Angst vor wilden Plünderungen und Beschädigungen der Kulturdenkmäler begründet. Diese Befürchtungen waren durch Augenzeugenberichte hervorgerufen und durch alle möglichen Gerüchte 58 Vgl. ebd., 36f. 59 Vgl. ebd., 494. 60 Protokoll der Sitzung des Zentralkomitees der Kadetten-Partei vom 29. März 1917, in: Pavlov, D. (Hg.): Protokoly Centralnogo Komiteta i zagraninych grupp konstitucionno-demokratieskoj partii [Protokolle des Zentralkomitees und der ausländischen Gruppen der konstitutionell-demokratischen Partei], Bd. 3, Moskau 1998, 365.

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zugespitzt: So sollen massenhaft Adler als Herrschaftssymbol der Romanows von Gebäuden abgerissen worden sein; dabei erlitten historische Bauten ernste Schäden. Soldaten und Bauern sollen auf der Suche nach zaristischem Gold die der Zarenfamilie gehörenden Schlösser in Brand gesetzt haben. 61 Am 4. März fand in der Wohnung von M. Gorʼkij 62 eine Besprechung der Künstler statt. Es wurde über Maßnahmen zum Schutz der Kunst- und Altertumsdenkmäler diskutiert. Anschließend wurde eine Kommission unter Gorʼkijs Vorsitz gewählt. Die „Gor’kijs Komission“, wie sie im Volksmund bald genannt wurde, schickte am 6. März zwei Briefe mit den programmatischen Zielen, die diese Kommission anstrebte, einen an den Rat der Arbeiter- und Soldatendelegierten und einen an die Provisorische Regierung. Die zwei Adressaten spiegelten die politische Situation in Russland ‒ die Doppelherrschaft ‒ Anfang März deutlich wider. Fast gleichzeitig, am 7. März, versammelten sich die Intellektuellen im Institut für die Kunstgeschichte, das bereits 1912 gegründet wurde und seinen Sitz im Palais des Vorsitzenden, des Grafen V. Zubov 63, hatte. Man sprach über die Notwendigkeit der Gründung eines Ministeriums der „schönen Künste“ 64. Es wurde über die Aufgaben des geplanten Ministeriums, wie Schutz und Pflege von Denkmälern und Kunstschätzen, Gründung neuer Museen und Regulierung der Museumsarbeit sowie materielle und sonstige Unterstützung der Künstler, vorgetragen. 65 An den anschließenden Debatten nahm neben Kondakov und Zelinskij auch Rostovtzeff teil, der zum Mitglied der Kommission für die Ausarbeitung des Statuts der geplanten Institution wurde. Der dort anwesende Künstler Alexander Benois 66 schrieb auf: „Scharf, laut, munter und scharfsinnig antwortete M. I. Rostovtzeff. Er vertrat den Standpunkt, der meinem ziemlich ähnlich war. Er erkennt die Notwendigkeit der Kunst für den Staat (Staatsorganismus) an.“ 67 61 Vgl. Benois 2006, 151; Nabokov 1992, 31f; Gippius, Z.: Petersburger Tagebücher, 1914–1919, Berlin 2014, 117f. 62 Siehe Anm. 251. 63 Der Kunsthistoriker Valentin Zubov (1884–1969) leitete die Kommission für die Übernahme vom Schloss in Gattschina, dem ehemaligen Besitz der Zarenfamilie. Vgl. Zubov, V.: Stradnye gody Rossii. Vospominanija o revoljucii [Die leidenden Jahre Russlands. Erinnerungen an die Revolution], München 1968, 87–95. 64 Ebd. 65 Vgl. Znamenskij 1988, 203. 66 Alexander Benois (1870–1960) war ein angesehener russischer Maler, Kunstkritiker und -historiker. Er schuf Werke in Öl- und Aquarellmalerei zu Themen der westeuropäischen und russischen Geschichte sowie Darstellungen des alten Petersburgs; er erlangte außerdem als Theaterkünstler Bekanntheit, u. a. mit seinen Bühnen- und Kostümbilder zu Djagilevs „Ballets Russes“. Benois war einer der Gründer von „Mir iskusstva“ und beteiligte sich seit 1917 aktiv am Denkmalschutz und an der Reorganisation des Museumswesens in Russland. Von 1918 bis 1926 leitete er die Gemäldegalerie der Ermitage. 1926 emigrierte er nach Paris. Vgl. Leek, P.: Russische Malerei, Bournemouth 2005, 250; Puffert, R.: Die Kunst und ihre Folge. Zur Genealogie der Kunstvermittlung, Bielefeld 2013, 57. 67 Benois 2006, 149.

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Benois spielte eine zentrale Rolle bei der Etablierung des neuen Ministeriums und wurde durch seine Position zum Bindeglied zwischen Gor’kijs und Zubovs Kommissionen. Der angesehene Petrograder Kunsthistoriker war nicht nur der Hauptkunstkritiker in der Zeitung „Reč“, sondern strebte, wie er selbst zugab, eine ministerielle Leitung der Kunstangelegenheiten in seinem Land an. Benois war einerseits Vizevorsitzender Gor’kijs Kommission. Andererseits wollte man ihn auch für die Zubov-Kommission gewinnen. Diese Aufgabe übernahm Rostovtzeff und rief Benois am 10. März an. Der „gewöhnlich äußerst hartnäckige“ 68 Althistoriker bestand darauf, dass Benois den Vorsitz in der Zubov-Kommission übernehmen sollte. Rostovtzeff begründete dies damit, dass Benois die beiden Kunstkommissionen verbinden und dadurch die Koordinierung der Arbeit erleichtern könnte. Der Künstler musste versprechen, über Rostovtzeffs Vorschlag nachzudenken. Benois war jedoch, nach seinem eigenen Bericht, vor den damit verbundenen Komplikationen und dem Arbeitsvolumen erschrocken und versuchte einen Ausweg aus der Situation zu finden: „[…] Ich versuche es so zu machen, dass meine Genossen in der Gor’kijs Kommission mir Rostovtzeffs Vorschlag anzunehmen verbieten. Andererseits ist es sehr schade mit ihm zu brechen, weil M[ichail] I[vanovič] gerade der Künstler ist, für welchen ich eine besondere seelische Zuneigung und geradezu ‚grenzenlose‘ Achtung verspüre. Wäre es nicht besser, ihn für uns zu gewinnen?“ 69 Der Althistoriker konnte sich jedoch in dieser Situation durchsetzen. Am gleichen Tag, als Rostovtzeffs Anruf kam, wurde Benois zum Vorsitzenden und Rostovtzeff zusammen mit Zubov zu den Vizevorsitzenden der Zubovs Kommission gewählt. Das Ziel dieser Kommission war es, selbständige Kunstkommissionen zu gründen. Es wurden sieben solcher Kommissionen geplant, u. a. Kommission für den Denkmalschutz und die Museumsarbeit mit Zubov, Rostovtzeff und anderen fünf Mitgliedern. 70 Seine Position bezüglich dieser Frage erläuterte Rostovtzeff in seinem nach der Revolution ersten Aufsatz „Das Amt der schönen Künste“ 71. Für die Zukunft des „neuen“ 72 Russlands wäre die Frage der Bildung eines Amtes der schönen Künste eine der wichtigsten und seit den ersten Tagen der Revolution in der Presse detailliert diskutiert worden. In diesen „stürmischen Tagen“ 73 wäre zu fragen, wer große Kunstdenkmäler Russlands vor Hetzer, Räuber und Hooligans schützen wird. Viele würden sich wünschen, dass die Revolution sich durch Vandalismus-Akte diskreditieren werde. Der Althistoriker unterstützte die Tätigkeit der Provisorischen Regierung im Denkmalschutz. 68 Ebd., 155. 69 Ebd. 70 Vgl. Lapšin, V.: Chudožestvennaja žiznʼ Moskvy i Petrograda [Künstlerisches Leben Moskaus und Petrograds], Moskau 1983, 332ff; Znamenskij 1988, 203–210. 71 Rostovtzeff, M.: Vedomstvo izjaščnych iskusstv [Das Amt der schönen Künste], in: Reč vom 26.3.1917, 2. 72 Ebd. 73 Ebd.

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Nebenbei stelle sich eine andere Frage, die unverzüglich und ausdrücklich gelöst werden sollte. Die Frage verbindet der Autor mit der „historischen Evolution des russischen Lebens“ 74. Diese Evolution hätte zu einer „hässlichen“ 75 Beziehung zwischen dem Staat und der Kunst in Russland geführt. Die entstandene Verbindung habe keine organischen Formen angenommen. Die meisten Kunst-Institutionen hätten einen bürokratischen Charakter und stünden sowohl dem realen Leben und als auch den gesellschaftlichen Bedürfnissen fremd gegenüber. Dennoch sollte man solche Errungenschaften, wie die Kunstakademie, die ehemaligen kaiserlichen Theater, die Porzellanmanufaktur, große Staatsmuseen oder die Archäologische Kommission, nicht außer Acht lassen: „Jetzt sind die Ketten, die diese Einrichtungen fesselten, zerrissen und sie alle [Einrichtungen] müssen ihren eigenen echten volkstümlichen Charakter annehmen. Die Sache der Reform ist unverzüglich und zwangsläufig, man soll mit ihr nicht zögern, weil die kulturelle Arbeit nicht abgebrochen werden kann und darf, genauso darf kein Strahl des kulturellen Lebens sogar vorläufig im Land stehen bleiben, besonders in diesem Moment der fieberhaften Neugestaltung unserer ganzen Lebensweise.“ 76 Rostovtzeff gibt zu, dass die von ihm aufgestellten Ziele schwer zu erreichen seien. Er versucht sich wieder am Beispiel Westeuropas zu orientieren. Dort gäbe es Staatsinstitutionen zum Schutz von Denkmälern, die mit dem Ministerium für Volksbildung verbunden seien und eine Brücke zwischen dem Staat und der Kunst bilden würden. Gleichzeitig betont der Althistoriker, den Weg „eines der westeuropäischen Länder ohne Bedenken und ohne strenge Auswahl zu gehen wäre äußerst leichtsinnig“ 77. Die Lösung dieser Frage sah Rostovtzeff in einer öffentlichen Diskussion. Darunter stellte der Althistoriker sich jedoch nicht Diskussionen bei Kundgebungen vor, sondern auf Sitzungen kleiner Gruppen kompetenter Menschen, deren Arbeit für eine breitere Diskussion veröffentlicht werden sollte: „Wenn die Gesetzgeber eine Reihe berechtigter und aus verschiedenen Blickwinkeln durchdachter, kollektiver Projekte in den Händen haben, wird ihre Sache leichter und schneller gehen. Wenn es auch eine Vielzahl solcher Projekte gibt, wenn auch jeder diese Frage auf seine eigene Art löst, wird die in einer gesetzgebenden Einrichtung konzentrierte kollektive Weisheit des Volkes das Beste verwirklichen.“ 78 Rostovtzeff begrüßte die Initiativen einzelner Arbeitsgemeinschaften in der Kunstakademie, im Institut der Künste unter dem Grafen Zubov und in der Gor’kijs Kommis74 75 76 77 78

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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sion, wo Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen dem Staat und der Gesellschaft bezüglich der Kunstangelegenheiten bereits besprochen wären. Der Autor bedauert, dass es solche Initiativen zu wenig gäbe. Den Grund dafür sieht er im Verbleiben der „bürokratischen Beamtenordnung“ 79 in Russland, die Eigeninitiativen verhindert hätte. Seinen Aufsatz beendet Rostovtzeff optimistisch, indem er schreibt: „Ich bin mir sicher, dass die Seelen der Menschen und ihre Energie sowie ihr Durchhaltevermögen in den Kriegsjahren stärker wurden und dass die ganze Gesellschaft in einer einmütigen Arbeit den künftigen Schöpfern des neuen Russlands ihre große und verantwortungsvolle Aufgabe erleichtern wird.“ 80 Am 13. März wurde die „Spezielle Beratung für Kunstangelegenheiten“ gegründet, die als ein beratendes Organ bei dem Kommissar der Provisorischen Regierung für das ehemalige Ministerium des Kaiserhofs F. Golovin tätig sein sollte. Der neu gegründeten Beratung traten die Mitglieder der beiden Kommission sowohl Gor’kijs als auch Zubovs bei. Zum Vorsitzenden wurde M. Gorʼkij und zu den Vizevorsitzenden wurden A. Benois und N. Rerich 81 ernannt. Zu den ersten Maßnahmen der neuen Institution zählten zahlreiche Aufrufe zur Bewahrung der Kunstwerke an die Bevölkerung, Evakuierung einzelner Sammlungen, Ausweisungen der Soldaten aus Schlössern sowie die Überwachung verlassener Kunstgebäude. 82 An den Diskussionen über das zukünftige Amt der schönen Künste nahm Rostovtzeff aktiv teil. So forderte er Ende März A. Benois als Mitglied der Kommission für Kunst und Theater auf, einen Reformentwurf im Bereich der Kunst vorzubereiten. 83 Wenn auch Rostovtzeffs Hartnäckigkeit Benois schließlich ärgerte, wusste er doch für eine der führenden Positionen in der Beratung für Kunstangelegenheiten keinen besseren Kandidaten als den Althistoriker: „Die ganzen eineinhalb Stunden, bis um ein Uhr nachts dachten und rieten wir, wen wir auf den Platz des zweiten Kommissars setzen müssen, und endlich, durch die Suche nach einem passenden Menschen verzweifelt einigten wir uns auf M. Rostovtzeff. Na, das ist einer, durch den nichts belebt werden kann, mit dem nicht zu rechnen ist, aus der Ermitage einen lebendigen Organismus zu machen!“ 84 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Nikolaj Rerich (Roerich; 1874–1947) war ein berühmter russischer Maler, Philosoph und Archäologe. Nach der bolschewistischen Revolution emigrierte er zunächst in die USA und ließ sich schließlich in Indien nieder. Ausführlicher dazu siehe Decter, J.: Nicholas Roerich: Leben und Werk eines russischen Meisters, Basel 1989. 82 Vgl. Žukov, J.: Stanovlenie i dejatel‘nost‘ sovetskich organov ochrany pamjatnikov istorii i kul‘tury [Entstehung und Tätigkeit sowjetischer Organe für den Schutz historischer und kultureller Denkmäler] 1917–1920, Moskau 1989, 46f. 83 Vgl. Benois 2006, 228. 84 Notiz vom 30. März 1917, in: Ebd., 238.

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Nach zahlreichen Besprechungen wurde schließlich ein Entwurf für die Reorganisation der Kunstberatung bei dem Kommissar der Provisorischen Regierung vorbereitet. Laut diesem Entwurf war Rostovtzeff für die gesamte künstlerische Bildung in Petrograd verantwortlich. 85 Die geplanten Neuerungen zu realisieren war jedoch viel schwieriger als sie zu entwerfen. Dies hing mit den chaotischen Zuständen im Land zusammen. Parallel zu den oben beschriebenen Kommissionen schlossen sich zahlreiche weitere Künstler und Artisten zusammen und präsentierten ihre Visionen der Leitung der Kunstbereiche. Diese Vereinigungen spielten sich gegenseitig aus, was die Arbeit verantwortlicher Institutionen störte und im manchen Fällen sogar unmöglich machte. Dies führte zur Auflösung der Speziellen Beratung für Kunstangelegenheiten im April 1917. Schließlich wurde Mitte Juni 1917 der Rat für Kunstangelegenheiten bei dem Kommissar der Provisorischen Regierung F. Golovin ins Leben gerufen, der aus 38 Fachleuten bestand und seinen Sitz im Winterpalais hatte. Am 29. Juni wurde das Präsidium des Rates gewählt: als Vorsitzender S. Šidlovskij 86 und als Vizevorsitzende A. Tamanov 87 und M. Rostovtzeff. 88 Darüber hinaus engagierte sich der Althistoriker bei der Russischen Archäologischen Kommission. Er nahm an einem Projektentwurf teil, der bald nach der Februarrevolution von Wissenschaftlern erarbeitet wurde. Es handelte sich um eine strukturelle Teilung der ehemaligen Kaiserlichen Archäologischen Kommission in eine Kommission für die Überwachung und Durchführung archäologischer Tätigkeiten im Land und ein Wissenschaftszentrum, wo Ergebnisse landesweiter Ausgrabungen von Fachleuten bearbeitet und veröffentlicht werden sollten. Außerdem wurde ein Gesetz vorbereitet, das die Einführung von Stellen archäologischer Kommissare auf der Gouvernementsebene vorsah. 89

85 Notiz vom 2. April 1917, in: Ebd., 245. 86 Sergej Šidlovskij (1861–1922) war Mitglied der Oktobristen-Partei, Abgeordnete der III. und IV. Staatsduma und einer der führenden Politiker des Progressiven Blocks; er nahm im August 1917 an der Moskauer Staatsberatung und an der Arbeit des Demokratischen Rates teil. 1920 emigrierte er nach Estland. Vgl. Šelochaev, V.: Gosudarstvennaja Duma Rossijskoj Imperii 1906–1917, Moskau 2008, 699. 87 Alexander Tamanov (Tamanjan; 1878–1936), ein russischer Architekt armenischer Abstammung, studierte Architektur an der Kaiserlichen Kunstakademie in St. Petersburg. Nach der Oktoberevolution blieb Tamanov in Russland; seit 1923 lebte und arbeitete er in Jerewan, wo er zum leitenden Ingenieur der Armenischen SSR wurde. Vgl. Šidlovskij Sergej Iliodorovič, in: Ivanov, B. (Hg.): Gosudarstvennaja Duma Rossijskoj imperii 1906–1917, Moskau 2008, 699f. 88 Während seiner dreimonatigen Tätigkeit konnte der Rat nur wenig in die Tat umsetzen. Zu den vollendeten Projekten zählte das Abtransportverbot von Kunstschätzen aus Russland. Vgl. Žukov 1989, 52f.; Lapšin 1983, 377. 89 Diese Pläne konnten unter der Provisorischen Regierung nicht realisiert werden. Erst 1919 kamen die Bolschewiki zur Reorganisation dieser Institution wieder, indem sie eine Russländische Akademie für Geschichte materieller Kultur gründeten. Vgl. Brief M. Rostovtzeffs an A.M. Tallgren vom 9.4.1917 und vom 18.8.1918, in: RAN SPb 1054/1/72; Musin, A./Nosov, N.: Imperatorskaja archeologičeskaja kommissija [Die Kaiserliche Archäologische Kommission] (1859–1917), St. Petersburg 2009, 1066; Bongard-Levin 1997, 70f.

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4.1.2.3 Verschärfung der innenpolitischen Krise Die etablierte Doppelherrschaft in Russland spiegelte die im Land existierende soziale Kluft wider. Einerseits gab es die Provisorische Regierung, die aus Repräsentanten gebildeter Schichten bestand und demokratische Ideale verkörperte. Nach der Abschaffung der Monarchie versuchten diese Kräfte die Bildung des seit der Revolution 1905 ersehnten Rechtsstaates zu vollenden. Andererseits repräsentierten die Sowjets die Mehrheit der russischen ungebildeten Bevölkerung. Diese Bevölkerungsgruppen verbanden mit der Revolution ihre Ansprüche auf die Gleichberechtigung bzw. auf die Abschaffung der hierarchischen Gesellschaft sowie auf eine „gerechte“ Umverteilung der Güter, was für die Bauern vor allem eine Landverteilung bedeutete. 90 Die Provisorische Regierung hatte die Legitimation, stellte jedoch nur noch ein Symbol der Macht dar. Die Sowjets verfügten über die reale Macht sowohl in Städten als auch auf dem Land. Bereits am 3. März wurde die Polizei durch eine Volksmiliz abgelöst. Darüber hinaus begann die Bewaffnung der Arbeiter in Fabriken. Durch den berühmten Befehl Nr. 1 vom 5. März 1917 wurden die Wahl von Soldatenkomitees, Waffen- und Gewehrverteilung sowie Truppenteile den Sowjets unterstellt. 91 Somit war die Provisorische Regierung in gewisser Weise von den Sowjets abhängig, was die Entscheidungen der Übergangsregierung stark beeinflusste. Die Sowjets ließen die provisorischen Kommissare in der Phase der „bürgerlichen“ Revolution regieren, was der sozialistischen Ideologie entsprach. Gleichzeitig ist es nicht auszuschließen, dass die Repräsentanten der Massen nicht bereit waren, die Macht zu übernehmen. Sie ließen die Intellektuellen das Chaos im Land bewältigen. Diese Aufgabe konnte das Februarregime aus verschiedenen Gründen nicht erfüllen und scheiterte schließlich daran. Die Mitglieder der Provisorischen Regierung blieben eher Theoretiker, die zwar Russland mit einer demokratischen Hülle versahen, jedoch die Kernprobleme des Landes nicht lösen konnten. Es handelte sich in erster Linie um die Agrar-, Kriegs- und Versorgungsfrage. Die Lösung der Agrarfrage wurde bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung verschoben. Die russischen Bauern wollten aber nicht warten. Sie begannen ihre Erwartungen an die Revolution selbst zu erfüllen, indem sie Grundeigentümer enteigneten oder auch Häuser der Gutsbesitzer in Brand setzten. Im Frühjahr nahm diese Bewegung auf dem Land einen Massencharakter an. 92 Mit der Agrarfrage hing nicht zuletzt die Kriegsfrage zusammen, da Bauern die Mehrheit der russischen Armee ‒ die Ende Februar etwa neun Millionen Soldaten zählte 93 ‒ darstellten. Dass der Krieg bis zum Sieg geführt werden sollte, bezweifelten weder der Außenminister Miljukov noch die Mitglieder seiner Partei. Diesem Kurs blieb die Provisorische Regierung aus zwei Gründen treu: die Verpflichtungen gegenüber den Alliier90 91 92 93

Vgl. Luks, L.: Geschichte Russlands und der Sowjetunion, Regensburg 2000, 19f. Vgl. ebd., 21; Hildermeier 2004, 15; Torke 2000, 35ff. Vgl. Figes, O.: Die Tragödie eines Volkes, Berlin 2014, 99. Vgl. Luks 2000, 21.

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ten und der Kampf gegen Deutschland sowie die Perspektive, ein siegreiches, patriotisch vereintes Land zu stabilisieren und demokratisch zu festigen. Die russische Armee, deren Disziplin durch den Befehl Nr. 1 geschwächt worden war und deren Bauern-Soldaten sich nach der Landverteilung sehnten, war für dieses Ziel allerdings kaum geeignet. Die Lebensmittelversorgung, die bereits während des Krieges kritisch war, verschlechterte sich rasch nach der Revolution. Vor allem russische Städte litten an Hunger. Es wurde nicht nur die Rationierung für Brot und weitere Lebensmittel, sondern auch das Staatsmonopol auf den Getreidehandel eingeführt. Diese Maßnahmen konnten den Hunger jedoch nicht lindern. 94 Infolge dessen gingen die Arbeiter, deren Gehalt zwar erhöht wurde, aber aufgrund der Inflation nicht ausreichend war, auf die Straßen. Somit waren bereits einige Wochen nach dem Februarumsturz alle wichtigen Akteure der Revolution mit der neuen Regierung höchst unzufrieden. Rostovtzeff beschrieb die Situation, die Ende März 1917 in seinem Heimatland herrschte, wie folgt: „Meanwhile, all over Russia anarchy was gaining ground daily. The country was full of propaganda“. 95 Die Massen waren soweit aufgebracht, dass sie bereit waren, jeglichen radikalen Parolen zu folgen. Hierfür war die Rückkehr von Vladimir Lenin am 3. April von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf der Revolution.

4.1.3 April bis Juni 4.1.3.1 Lenins Rückkehr und Rostovtzeffs Rolle im Propagandakrieg Bereits im Manifest vom 3. März verkündete die Provisorische Regierung eine vollständige Amnestie aller politischen Gegner des zaristischen Regimes. Zahlreiche russische Emigranten machten sich auf den Weg nach Hause. Der Außenminister telegrafierte russischen Botschaften im Ausland über eine notwendige Unterstützung dieser Personen bei der Heimkehr. 96 In seinen Erinnerungen gibt Miljukov zu, dass er auch die Bolschewiki nach Russland zurückkehren ließ. Im Falle von Trotzkij begründete er seine Entscheidung mit der verkündeten Amnestie. Im Falle von Lenin war der Parteiführer der Kadetten überzeugt, dass dieser sich durch seine eigenen Auftritte diskreditieren werde. 97 In der Tat wurde Vladimir Lenin, der Parteiführer der Bolschewiki, von vielen unterschätzt. Er lebte seit vielen Jahren im Exil und spielte, genauso wie seine Partei, bei den Februarereignissen keine Rolle. In den Sowjets hatten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Oberhand. 98 Nach der Februarrevolution begann sich die bolschewistische 94 95 96 97 98

Vgl. Hildermeier 2004, 18. Rostovtzeff 1930er, 4. Vgl. Dumova 1988, 108f. Vgl. Miljikov 2001, 607f. Die 1898 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei spaltete sie sich auf dem zweiten Parteitag 1903 in den linken radikalen Flügel, in den „Bolschewiki“ (vom russischen Wort „mehr“), unter der

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Partei jedoch wiederzubeleben: Anfang März erschienen erste Ausgaben der Parteizeitung „Pravda“; in der Villa der Ballerina Ksešinskaja wurde das bolschewistische Hauptquartier eingerichtet. Vor Lenins Ankunft orientierten sich die Bolschewiki in ihrer momentanen Unterstützung der bürgerlichen Provisorischen Regierung an den in den Sowjets führenden Parteien. Lenins radikale Parolen, die er aus Zürich nach Petrograd schickte, stießen unter den Mitgliedern seiner Partei hingegen auf Unverständnis. 99 Somit wurde Lenin weder von der eigenen Partei noch von der Provisorischen Regierung ernst genommen und konnte nach Russland zurückkehren. Der plombierte Waggon mit 32 Insassen kam dank einer aktiven Unterstützung Deutschlands am 3. April in der russischen Hauptstadt ungehindert an. 100 Jahre später wurde dieser Fehler von den politischen Hauptakteuren eingestanden. Nabokov schrieb über die Illusionen, die die Provisorische Regierung gegenüber den Passagieren dieses Zuges hätte: „[Sie] dachten, dass selbst der Fakt des ‚Imports‘ von Lenin und Co. durch die Deutschen sie [die Bolschewiki] völlig diskreditieren und jeglichen Erfolg ihrer Predigten verhindern werde“. 101 Rostovtzeff, der gerade nach einer kurzen Finnland-Reise am Finnischen Bahnhof in Petrograd eintraf, erinnerte sich gut an diesen Tag: „I witnessed the triumphant arrival of Lenin and of his crowd. Curious concidence: the moment of Leninʼs arrival I was robbed of my pocketbook and my passport“. 102 Am nächsten Tag formulierte Lenin seine bekannten „Aprilthesen“, die ein radikales Zehn-Punkte-Programm der Machtergreifung darstellten. Er proklamierte u. a. den Übergang zur zweiten Phase der Revolution, in der die Macht den Sowjets übergeben werden sollte. Außerdem trat er für die Antikriegspropaganda in der Armee und gegen die Unterstützung der Provisorischen Regierung ein. Das Ziel des Kampfes war, nach Lenins Plänen, die Ausrufung einer Republik der Arbeiter- und Soldatendeputierten, in der Großgrundbesitz konfisziert, Boden verstaatlicht und Armee, Polizei und Beamtenschaft beseitigt werden sollten. 103 Zunächst distanzierte sich das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei von Lenins radikalen und ‒ wie es der Mehrheit der Bolschewiki schien ‒ realitätsfernen Parolen und kritisierte sie. Allerdings änderte sich bald die Stimmung innerhalb der Partei aufgrund

99 100 101 102

103

Führung von V. Lenin und in den gemäßigten Flügel, in den „Menschewiki“ (aus dem Russischen „weniger“) unter der Führung von Ju. Martov. Die Sozialrevolutionäre vertraten die Interessen der russischen Agrarbevölkerung. Vgl. Luks 2000, 20. Vgl. Pipes 1992, 92–101. Vgl. Lukašev, A.: Vozvraščenie V.I. Lenina iz Emigracii v Rossiju v aprele 1917 [Rückkehr V.I. Lenins 1917 aus dem Exil nach Russland], in: Istorija SSSR 5 (1963), 3–22; Hahlweg, W.: Lenins Reise durch Deutschland im April 1917, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4 (1957), 307–333. Nabokov 1988, 107. Rostovtzeff 1930er, 4. Interessant ist, wie eng menschliche Schicksale manchmal miteinander in Verbindung stehen. Die bekannte Tatsache, dass der künftige bolschewistische Volkskommissar A. Lunačarskij Rostovtzeffs Vetter war, wird durch die Ähnlichkeit der Karrieren Rostovtzeffs und Lenins Väter ergänzt. Die beiden waren Inspektoren der Bildungseinrichtungen im russischen Zarenreich. Vgl. Gavrilov 2006, 255. Vgl. Lenin, V.: Aprelʼskie tezisy [Aprilthesen], in: Pravda vom 7.4.1914; Pipes 1992, 102f.

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der Radikalisierung der politischen Situation und nicht zuletzt dank Lenins Durchsetzungsvermögens. Mitte April wurde Lenins Programm vom Petrograder Zentralkomitee und bis Ende April von der Allrussischen Parteikonferenz übernommen. 104 Lenins gedruckte Parolen überschwemmten nun das ganze Land. Rostovtezff schrieb dazu: „As soon as Lenin was there, tremendous propaganda was spreading all over the country, the slogan being: ‚rob the robbers.‘ I understood well whom Lenin meant in his talks from the balcony of Mrs. Ksesinskiʼs house. One of these terrible robbers was I, though I never in my live robbed anybody, and Lenin had organized hundreds of murders and robberies in his previous career.“ 105 Zu einem zunehmenden Erfolg der radikal linken Partei trug auch die Erklärung des Außenministers Miljukov an die Verbündeten vom 18. April bei. Die Kriegsfrage rückte seit Anfang April in den Mittelpunkt der politischen Diskussionen. Die Sowjets, die einen Frieden „ohne Annexionen und Kontributionen“ proklamierten, forderten von der Regierung eine deutliche Positionierung in der Kriegsfrage. Einer kompromissreichen Erklärung an das russische Volk vom 27. März folgte Miljukovs Note an die Alliierten, in der die alten Verpflichtungen und Vereinbarungen, einschließlich eines Siegfriedens, bestätigt wurden. Somit waren alle Besprechungen mit der Sowjetführung völlig ignoriert worden. Als zwei Tage später der Text der Note Miljukovs öffentlich bekannt wurde, gingen die Massen gegen die Provisorische Regierung und speziell gegen Miljukov auf die Straße. Es gab blutige Auseinandersetzungen zwischen den Gegnern der Provisorischen Regierung und deren patriotisch gesinnten Befürwortern. 106 Miljukov, der den vorgeschlagenen Wechsel zum Bildungsminister entschieden ablehnte, verließ die Regierung. Es kam am 5. Mai zur Bildung der ersten Koalitionsregierung unter Beteiligung der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre. Auf dem 8. Parteitag der Kadetten (9. bis 12 Mai 1917) wurde die Aprilkrise als die Grenze zwischen der ersten und zweiten Etappe der Revolution bezeichnet. In dieser zweiten Etappe sprach sich die Partei trotz des Austritts von Miljukov aus dem Kabinett für die Unterstützung der Provisorischen Regierung mit den verbleibenden KadettenMinistern aus. Die Partei blieb bei der Kriegsfrage ihrem Führer treu und forderte Angriffshandlungen an der Front sowie die Einhaltung der Verpflichtungen gegenüber den Alliierten. Interessant ist, dass Rostovtzeff einer der entschiedenen Verteidiger der vorrevolutionären Kriegsziele war. Die Position des Althistorikers war vielen in Petrograd bekannt, man sprach über die „Clique der Patrioten à la Rostovtzeff“ 107. Die Ursache der Aprilunruhen sahen die Parteimitglieder in der existierenden Doppelherrschaft. Die Situation im Lande wurde durch die Ankunft der Emigranten „des

104 105 106 107

Vgl. Luks 2000, 25. Rostovtzeff 1930er, 4. Vgl. Altrichter, H.: Rußland 1917, Paderborn 1997, 152–157. Vgl. Benois 2006, 246.

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leninistischen Typusʼ“ 108 mit ihren Aufrufen zum „Anarcho-Kommunismus“ 109 äußerst erschwert. Daher wurde der kadettischen Gegenpropaganda neben der zentral diskutierten Agrar- und Nationalitätenfrage eine wichtige Bedeutung beigemessen. Bereits im Vorfeld des Parteitages, am 6. Mai, tagte das Zentralkomitee der Kadetten-Partei. Es wurde eine gesonderte Kommission gewählt, die für die Verwaltung der Parteidruckerei und für die Herausgabe der Parteiorgane ‒ der Tageszeitung „Svobodnyj narod“ [„Das freie Volk“] und der Wochenzeitschrift „Vestnik partii narodnoj svobody“ [„Bote der Partei der Volksfreiheit“] ‒ zuständig war. Dieser vierköpfigen Kommission gehörte auch Michail Rostovtzeff an. Als Vorsitzender der Literaturkommission berichtete der Althistoriker später auf dem Parteitag über die eingeführte Regelung für den Nachdruck der Parteiliteratur russlandweit. 110 Somit spielte Rostovtzeff eine zentrale Rolle im Propagandakrieg, den die KadettenPartei gegen bolschewistische und anarchistische Parteien führte. Beinah in jeder russischen Stadt, in der die Kadetten-Partei aktiv war, wurden Parteizeitungen herausgegeben: Im Mai 1917 gab es etwa 20 davon. In zwei Monaten, März bis April 1917, verbreitete das Zentralkomitee außerdem mehr als 2 Mio. Plakate und Flugblätter. 111 Bezeichnend für Rostovtzeffs Engagement ist die Aussage seines Freunds und Kollegen S. Žebelev. Er erklärte die Abwesenheit des Althistorikers bei einer Sitzung der Kunstakademie am 16. Mai damit, dass Rostovtzeff sich politischen Tagungen und Konferenzen vollständig gewidmet hätte. 112 Der Althistoriker beschrieb diese Tätigkeit wie folgt: „Freedom of speech, freedom of propaganda. We all took active part in it. I was writing article after article in the newspaper. The answer to our propaganda were acts: violence, robbery, threatening letters. Modest as my contributions to the propaganda for freedom, quiet, and constitution were, I was honoured by many a letter where soldiers were menacing me to let me enjoy half an hour on the points of their bayonets.“ 113 4.1.3.2 Politische Entwicklung nach der Aprilkrise Die Zeit nach der Aprilkrise stand im Zeichen der Radikalisierung. Die Lebensmittelund die Rohstoffknappheit diktierten weiterhin den Alltag. 114 In den Städten, vor allem in Petrograd, radikalisierten sich die Arbeiter unter dem wachsenden Einfluss der bolschewistischen Partei weiter. Die Zahl der Bauernunruhen stieg kontinuierlich: Wenn im 108 Protokoll des Parteitages der Kadetten-Partei vom 8. Mai 1917, in: Šelochaev 1997, 497. 109 Ebd. 110 Vgl. Protokoll der Sitzung des Zentralkomitees der Kadetten-Partei vom 6.5.1917, in: Pavlov 1998, 377; Protokoll des Parteitages der Kadetten-Partei vom 8.5.1917, in: Šelochaev 1997, 640. 111 Vgl. Dumova 1988, 122; Šelochaev 2015, 544. 112 Vgl. Benois 2006, 339. 113 Rostovtzeff 1930er, 4. 114 Ausführlicher siehe dazu Rosenberg 1974, 117f.

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April 1917 etwa 190 Bauernunruhen registriert waren, stieg deren Zahl im Mai auf 250 und im Juli auf mehr als 1.000 Fälle. Dabei ging es im Unterschied zu spontanen Zerstörungen im Februar in den darauffolgenden Monaten meistens um die Enteignung der Landgüter. 115 Aus Angst vor zunehmender Anarchie und möglichen Maßnahmen der mit den Sozialisten neu gebildeten Koalitionsregierung begannen sich die wohlhabenden Schichten zu organisieren, wie z. B. Gutsherren im Verband der Grundbesitzer. 116 Viele von ihnen traten der Kadetten-Partei ‒ in der sie die letzte Rettung sahen ‒ nach der Aprilkrise bei. Dies führte sowohl zum Zuwachs der Kadetten-Organisationen landesweit 117, als auch zur Verlagerung der parteilichen Zusammensetzung nach rechts, was vor allem in den Provinzen und in Moskau der Fall war. 118 Die Hauptstadt blieb selbstverständlich von dieser Entwicklung nicht unbeeinflusst. Die von Kadetten propagierte überparteiliche sowie klassenneutrale Politik verlor angesichts der politischen Lage an Überzeugungskraft. Innerhalb der Partei der Konstitutionellen Demokraten wurden Diskussionen bezüglich der politischen Taktik erneut eröffnet. Die Spaltung der Kadetten in zwei Lager war seit April 1917 so deutlich wie nie. Der rechte Flügel der Partei, zu dem auch Michail Rostovtzeff angehörte 119, bildete sich um Pavel Miljukov. Sie betrachteten die bolschewistische Propaganda als eine Vorwarnung einer neuen Revolution und traten für radikale Schritte gegen die linken Parteien auf. Die Kadetten des linken Flügels, wie Vladimir Nabokov und Maksim Vinaver 120, sahen demgegenüber in einer Koalition aus liberalen und sozialistischen Parteien eine Möglichkeit, weitere sozial-politische Erschütterungen im Staat zu vermeiden. Der Standpunkt, der von Miljukov und seinen Anhängern vertreten wurde, begann innerhalb der Partei Sympathien zu gewinnen. Die soziale Polarisierung schien für viele Kadetten-Parteimitglieder nicht mehr überwindbar zu sein. Die Parteisprecher, die demokratische Ideen unter den breiten Bevölkerungsschichten zu verbreiten versuchten, bekamen oft zu hören: „Wir sind Bauer und Sie sind Bourgeois (buržuj)“ 121 sowie „Genug habt ihr unser Blut gesaugt“. 122 Die Propaganda der Kadetten-Partei scheiterte, was die Stadtparlamentswahlen in Petrograd und Moskau im Mai und Juni bestätigten. Trotz des erheblichen materiellen Aufwands und 115 Vgl. Luks 2000, 27. 116 Vgl. Hildermeier 2001, 82. 117 Man zählte Ende Mai 183 und im Herbst 1917 etwa 370 Organisationen der Kadetten-Partei. Die Mitgliederzahl sollte dabei etwa 70.000 Menschen betragen. Vgl. Dumova 1988, 165. 118 Vgl. Rosenberg 1974, 120–124. 119 Vgl. ebd., 85. 120 Maksim Vinaver (1862/63–1926) kämpfte als Jurist für die Rechte der Juden im vorrevolutionären Russland; er war einer der Gründer der Kadetten-Partei und galt als enger Mitstreiter Miljukovs. Nach der Februarrevolution beteilgte er sich aktiv an der Arbeit der Provisorischen Regierung, u. a. an der Ausarbeitung des Wahlgesetzes zur Konstituierenden Versammlung, und leitete die Agitationskommission der Kadetten. Vinaver wurde im November 1917 in die Konstituierende Versammlung gewählt und kurz darauf verhaftet. Nach einem kurzen Arrest reiste er zunächst auf die Krim und 1919 nach Paris, wo er weiterhin politisch aktiv blieb. Vgl. Volobuev 1993, 65f. 121 Dumova 1988, 125 122 Ebd., 126.

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persönlichen Einsatzes waren die Wahlergebnisse für die Kadetten ernüchternd: In der Hauptstadt erreichte die Partei 21,9% der Stimmen. Dies entsprach etwa dem Ergebnis der bolschewistischen Partei und nur der Hälfte der erreichten Stimmen der Sozialrevolutionäre. Wenn man dieses Ergebnis etwa mit den Wahlen der vierten Duma 1912 vergleicht, in der die Kadetten 58% der Stimmen hatten, lässt es sich nur als eine schwere Niederlage für Miljukovs Partei bezeichnen. 123 Einen Monat später folgte der Rücktritt der Kadetten-Minister aus der Provisorischen Regierung. Der Grund für diese Entscheidung waren die unüberwindbaren Gegensätze zwischen sozialistischen und kadettischen Ministern in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zum direkten Anlass wurde jedoch die Zustimmung zur ukrainischen Autonomie durch die Mitglieder der Übergangsregierung. Für die Kadetten-Partei, die das Projekt regionaler Autonomie für die Ukraine vorbereitete 124, gingen die Vereinbarungen zwischen der ukrainischen Rada und den sozialistischen Ministern der Provisorischen Regierung zu weit. Nach Miljukovs Bezeichnung „verriet [das vereinbarte Dokument] Russlands Interessen und war juristisch fehlerhaft“. 125 Die Kadetten-Minister forderten die Überprüfung der Beschlüsse zur Ukraine. Nachdem am 2. Juli den Vereinbarungen mit der Ukraine mit 10 gegen 5 Stimmen zugestimmt worden war, traten die Kadetten aus dem Kabinett aus. 126 Die politische Entwicklung beeinflusste die gebildeten Schichten in zweierlei Hinsicht. Vor allem kam es zu einer gewissen Radikalisierung der Intellektuellen, die sich immer lauter für härtere Maßnahmen gegen die Anarchie im Lande aussprachen. Innerhalb der Kadetten-Partei äußerte sich das in deren Annährung an die Offiziersverbände. Es wird außerdem auf Miljukovs Verabredungen mit russischen Generälen hingewiesen. 127 Die kadettischen Klubs in der Hauptstadt wurden immer mehr zu geschlossenen elitären Versammlungen. 128 Die Skepsis gegenüber der Fähigkeit der Übergangsregierung, eine Ordnung im Lande herzustellen, wuchs in der Gesellschaft allgemein stark an. Daher ergriffen die Vertreter der bürgerlichen Schichten die Initiative, indem sie sich zielabhängig zusammenschlossen. Ein Beispiel dafür liefert die am 7. Juni 1917 gegründete „Liga der russischen Kultur“. Die Liga war als eine kulturell-aufklärerische Organisation gegründet worden, die die Stärkung der russischen nationalen Kultur zum Ziel hatte. Die Gründer der Liga waren mit wenigen Ausnahmen die Vertreter der Petrograder intelligencija, die den Verlust 123 Vgl. Dumova 1988, 166–169; Rosenberg 1974, 157–167. 124 Vgl. Protokoll der Sitzung des Zentralkomitees der Kadetten-Partei vom 2.7.1917, in: Pavlov 1998, 380f. 125 Miljukov 2001, 631. 126 Vgl. Ebd.; Wittram 1971, 81–84. 127 Vgl. Dumova 1988, 170f. 128 So wurde z. B. entschieden, die Mitgliederzahl im neu errichteten Parteiklub in Petrograd auf 200–250 Menschen zu begrenzen. Dem Klub konnten die Mitglieder des Zentralkomitees sowie der Kreis- und Stadtkomitees beitreten. Alle anderen konnten auf Empfehlung aufgenommen werden. Es wurden außerdem der Mitgliedschaftsbeitrag sowie ein Eintrittspreis für Gäste festgelegt. Vgl. Protokoll der Sitzung des Zentralkomitees der Kadetten-Partei vom 7.4.1917, in: Pavlov 1998, 368.

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von Patriotismus unter den breiten Massen der russischen Bevölkerung beklagten. Da sie die Bewahrung der russischen Kultur als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die weitere politische Entwicklung ihres Heimatlandes ansahen, wollten sie die übrige Bevölkerung von ihren Ideen mittels der Verteilung von Büchern und Broschüren, der Organisation von Vorlesungen und Exkursionen sowie der Gründung von verschiedenen Bildungsorganisationen überzeugen. Die Liga, deren Gründer P. Struve der liberal-konservativen und slawjanophilen Tradition nah stand, unterstrich ihren überparteilichen Charakter. Die Aufnahme in die Organisation geschah jedoch auf Empfehlung eines der Mitglieder. Es folgten persönliche Einladungen an die Vertreter der russischen Intellektuellenwelt, u. a. an Rostovtzeff sowie an seine Kollegen und Freunde. Im September 1917 wurden einige von ihnen, wie S. Žebelev, V. Zubov oder A. Lappo-Danilevskij, zu Liga-Mitgliedern. Rostovtzeff war in der Mitgliedschaftsliste zwar nicht zu finden, die Tatsache, dass er zwei von insgesamt vier Aufsätzen des Jahres 1917 in den Presseorganen der Liga veröffentlichte 129, spricht jedoch für seine aktive Teilnahme an diesem elitären Unternehmen. 130 Trotz der Aktivitäten der Petrograder intelligencija in verschiedenen Organisationen ist nicht zu übersehen, dass sich in den intellektuellen Schichten eine wachsende Apathie verbreitete, vor allem in der Hauptstadt. In einer Zeitung hieß es: „Nicht in Moskau, noch weniger in der Provinz gibt es so eine Bedrückung wie in Petrograd“. 131 Viele versuchten der Realität durch Beschränkung auf ihre professionelle Tätigkeit zu entfliehen oder Petrograd mindestens für einige Zeit zu verlassen. 132 Diese Stimmung teilte Rostovtzeff, der in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit Zuflucht aus seinem politisch ereignisreichen Alltag suchte und das hungernde Petrograd verlassen wollte. Es existieren nur weniger Nachweise über die wissenschaftliche Tätigkeit des Althistorikers nach der Februarrevolution. Dies hängt in erster Linie mit den seit dem Kriegsausbruch sich verschlechternden Bedingungen für die wissenschaftliche Arbeit zusammen. In einem Brief an den finnischen Archäologen Arne Tallgren (1885–1945) schrieb Rostovtzeff, dass er eine ganze Menge an fertigen Manuskripten hätte. Leider gäbe es keine Möglichkeit, sie zu veröffentlichen. 133 Aus dem Briefwechsel zwischen den beiden lässt sich entnehmen, dass Rostovtzeff sich bereits im Frühjahr 1917 intensiv dem Buch über die Geschichte Skythiens und des Bosporus widmete. 134 Der Althistoriker beklagte das 129 Vgl. Rostovtzeff, M.: Nemedlennyj mir [Ein unverzüglicher Frieden], in: Russkaja svoboda 24/25 (1917), 3–5; Ders.: Nauka i revoljucija [Wissenschaft und Revoution], in: Russkaja myslʼ 9/10 1917, 1–16. 130 Vgl. Znamenskij 1988, 225ff; Žerdeva, J.: „Roždennye“ v 1917-m: Obščestvenno-političeskoe dviženie „Liga russkoj kulʼtury“ [„Die Geborenen“ 1917: Gesellschaftlich-politische Bewegung „Liga der russischen Kultur“], in: Druzin, M.: Problemy otečestvennoj istorii: Istočniki, istoriografija, issledovanija, St. Petersburg 2008, 532–543. 131 Russkie vedomosti vom 23.5.1917, zitiert nach Znamenskij 1988, 235. 132 Vgl. ebd., 243f. 133 Vgl. Brief M. Rostovtzeffs an A. Tallgren vom 11.5.1917, in: RAN SPb 1054/1/72. 134 Das Buch wurde erst 1925 von S. Žebelev unter dem Titel „Skifija i Bospor. Kritičeskoe obozrenie pamjatnikov literaturnych i kritičeskich“ [„Skythien und der Bosporus. Kritische Übersicht der

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Ausbleiben neuester Untersuchungen auf seinem Fachgebiet, womit er zurechtkommen musste. Da er zur Fortsetzung seiner Untersuchungen eine Reise nach Finnland plante, erkundigte er sich bei Tallgren, inwieweit die Gerüchte über den dortigen Boykott der Russen der Realität entsprochen hätten. Schließlich unternahm er die geplante Reise und hielt sich Ende Juli–Anfang August 1917 im finnischen Punkaharju auf. 135 Bemerkenswert ist, dass Rostovtzeff, der bereits im April zum ordentlichen Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften gewählt worden war, zum ersten Mal am 9. August an der Mitgliederversammlung der Akademie teilnahm. Dabei wurde Rostovtzeff in seiner Abwesenheit am 27. Mai zusammen mit zwei anderen Akademikern für die Teilnahme an der Moskauer Staatskonferenz im August 1917 und zusammen mit A. Lappo-Danilevskij in die Kommission für die Übernahme des Eigentums der Petrograder Schlossverwaltung gewählt. Rostovtzeffs politisches Engagement in der Zeit zwischen Februar und Juli lässt sich nur schwer ermitteln. Es gibt viele Einzelhinweise auf Rostovtzeffs Initiativen in unterschiedlichen Bereichen und seine Teilnahme an zahlreichen Kommissionen zur Unterstützung der Provisorischen Regierung. In den Memoiren seiner Zeitgenossen und Protokollen der Sitzungen seiner Partei taucht der Name des Althistorikers jedoch kaum oder nur selten auf. Es entsteht der Eindruck, dass Rostovtzeff sich in dieser Zeit bewusst im Hintergrund des politischen Geschehens aufgehalten hätte. Das wird besonders im Vergleich mit seinem Engagement im Ersten Weltkrieg deutlich. In einer Situation, in der Rostovtzeff seine wissenschaftliche Arbeit aufgrund der Isolierung nur eingeschränkt fortsetzen konnte, schien es für ihn folgerichtig zu sein, sich der Politik zu widmen. Aber genau in diesem Moment beharrte Rostovtzeff auf seine Zugehörigkeit zur Wissenschaft, indem er sich um Russlands Kulturschätze kümmerte und versuchte, sich in die Forschung der Geschichte des Schwarzmeergebietes zurückzuziehen. Rostovtzeffs Unterstützung der Provisorischen Regierung erscheint dabei als ein politischer Akt eines pflichtbewussten Bürgers, der insgesamt sehr skeptisch gegenüber der Revolution und deren Folgen stand.

schriftlichen und archäologische Quellen“] in Leningrad herausgegeben. Dieser Thematik wurde außerdem der im Frühjahr 1918 von Rostovtzeff geschriebene Aufsatz für den Sammelwerk „Russkaja nauka“ [„Die russische Wissenschaft“] der Russischen Akademie der Wissenschaften gewidmet. Die Arbeit wurde nie veröffentlicht. Vgl. Heinen 1993; Zuev, V.: M.I. Rostovcev i neizvestnye glavy knigi „Skifija i Bospor“ [M.I. Rostovtzeff und die unbekannten Kapitel des Buches „Skythien und der Bosporus“], in: VDI 1 (1989), 208–210; Tunkina, I.: Neizdannaja rabota M.I. Rostovceva „Klassičeskie i skifskie drevnosti severrnogo poberežʼja Černogo morja“ [M.I. Rostovtzeffs unveröffentlichte Arbeit „Klassische und skythische Altertümer der Nordküste des Schwarzmeeres“], in: Bongard-Levin, G./Zuev, V. (Hg.): ΣΚΥΘΙΚΑ. Izbrannye raboty akademika [Die ausgewählten Arbeiten des Akademikers] M.I. Rostovtzeff, St. Petersburg 1993, 22–24. 135 Vgl. Briefe M. Rostovtzeffs an A. Tallgren vom 9.4.1917 und 17.5.1917, in: RAN SPb 1054/1/72; Bongard-Levin 1997, 504.

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4.1.4 Bolschewistischer Juli-Aufstand Zum entscheidenden politischen Ereignis, das Rostovtzeff politisch stärker mobilisierte, wurde der Juli-Aufstand. Bereits Anfang Juni plante die bolschewistische Partei Demonstrationen in Petrograd. Die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung wegen der Nahrungsknappheit und wegen des andauernden Krieges lenkten die Bolschewiki gegen die „kapitalistische“ Regierung. Die bolschewistischen Pläne wurden jedoch aufgedeckt und stießen auf einen ernsten Widerstand der Sowjets. Unter solchen Umständen musste der für den 10. Juni vorgesehene Protestmarsch bewaffneter Arbeiter und Soldaten abgesagt werden. Am 18. Juni wurde nun eine Demonstration auf die Initiative der Sowjets organisiert, nicht zuletzt um die angesammelte und aufgebrachte Menge zu beruhigen. Die Parolen, die während des Demonstrationszugs ausgerufen wurden, hatten einen unverwechselbaren bolschewistischen Charakter. Die Beteiligung anarchistischer Gruppen an der Demonstration sowie die darauffolgenden Maßnahmen gegen sie spitzten die Lage in der Hauptstadt weiter zu. Einen unmittelbaren Anlass zu den Juli-Unruhen gab die misslungene Kerenskij-Offensive. Die auf den Befehl des Kriegsministers am 18. Juni begonnene Militäroperation sollte die Regierung Russlands sowohl außen- als auch innenpolitisch stärken. Nach nur drei Tagen, die einen bescheidenen Landgewinn für die russische Armee brachten, musste die Operation abgebrochen werden. Die Anfang Juli beginnende Gegenoffensive der Mittelmächte führte zum Rückzug und schließlich zur Flucht der russischen Soldaten. Das Militärdesaster fand ein großes Echo im Landesinneren. 136 Die Entscheidung, die Provisorische Regierung zu stürzen, entstand im 1. Maschinengewehrregiment der Petrograder Garnison, dessen Ausrüstung an die Front abgeliefert werden sollte. Der bewaffnete Aufstand, der von Lenin als verfrüht erklärt wurde, fand jedoch mit einer aktiven Unterstützung der Militärorganisation der Bolschewiki und der Anarchisten statt. Am 3. Juli begaben sich bis zu 70.000 Demonstranten zum Taurischen Palais und forderten die Übergabe der Macht an die Sowjets. Schließlich stellte sich die bolschewistische Partei hinter diesen spontanen Putsch. V. Nabokov berichtete über „die gleichen unbesonnenen, stumpfsinnigen und tierischen Gesichter […] aus Februartagen“ 137, die er an diesem Tag auf Petrograder Straßen gesehen hatte: „Den Lauf der Ereignisse an den folgenden Tagen habe ich nur verschwommen in Erinnerung. Die Physiognomie der Stadt veränderte sich schnell. Die Automobile von Privatpersonen verschwanden, durch die Straßen brausten Panzerwagen und Lastautos, vollgepfropft mit bewaffneten Arbeitern und Soldaten. Immer wieder kam es an verschiedenen Stellen zu Schußwechseln, von allen Seiten hörte man Gewehrschlüsse. Das zahlreiche Publikum, das sich auf den Bürgersteigen des News136 Vgl. Altrichter 1997, 170–174; Hildermeier 1989, 172f. 137 Nabokov 1992, 136ff.

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kij-Prospektes drängte, wich hier und da plötzlich zur Seite und fing kopflos an zu rennen, wobei es die Entgegenkommenden fast zu Boden riß. Immer wieder tauchten größere Gruppen auf, die mit roten Fahnen und Plakaten, auf denen die schon erwähnten Parolen [‚Nieder mit den kapitalistischen Ministern!‘, ‚Alle Macht den Sowjets!‘] standen, irgendwohin zogen.“ 138 Die Dichterin S. Gippius, die von Petrograd abwesend war, erhielt zahlreiche Briefe von Augenzeugen, aufgrund derer sie den 3., 4. und 5. Juli als „die Tage des Schreckens“ 139 bezeichnete. Es gäbe um die tausend Opfer, und die Aufständischen seien die Kronstädter Anarchisten, Diebe, Räuber, eine dunkle Garnison. 140 Die Lage war prekär. Es kam jedoch nicht zum Umsturz, da die Bolschewiki zögerten, den Befehl zum Aufstand zu geben. Die Aufständischen, die ohne Unterstützung der übrigen Garnisonsregimenter blieben, mussten sich nun vor den annähernden regierungstreuen Fronttruppen fürchten. 141 Der Juli-Putsch, der als „Kostümprobe“ 142 für die Oktoberrevolution bezeichnet wird, offenbarte den Ernst der politischen Lage in Russland. Rostovtzeff konnte sich an den Juliputsch gut erinnern: „The first attempt at seizing the power was abortive. I shall remember the wave of indignation which spread all over Russia when the little secret of Bolshevik propaganda was devulged: the Germans were giving money for it. In panic the Bolsheviks fled. Lenin was in hiding.“ 143 Nachdem die Zeitungen am 5. Juli die beweisenden Dokumente für die Verbindung der Bolschewiki zu Deutschen veröffentlicht hatten, war die Hauptstadt von antibolschewistischer Stimmung erfasst. Die bolschewistische Partei und ihre Presseorgane wurden verboten; es gab Verhaftungen führender Bolschewiki, ihre Büros sowie ihr Hauptquartier wurden geräumt. 144 An diesem Tag kam auch der Befehl der Regierung an die Petrograder, zu Hause zu bleiben, damit die Stadt „gereinigt“ 145 werden könnte. Der Althistoriker schätzte die von der Provisorischen Regierung unternommenen Maßnahmen gegen die Bolschewiki jedoch als unzureichend ein. 146 Der Rücktritt der Kadetten-Minister sowie der bolschewistische Juli-Aufstand trugen zur Vertiefung der Regierungskrise enorm bei. Erst am 24. Juli wurde die zweite Koalitionsregierung unter Kerenskij als Ministerpräsident gebildet. Dieser Bildung gingen 138 139 140 141 142 143 144 145 146

Ebd., 139–141. Gippius 2014, 147. Ebd. Altrichter 1997, 190f. Moritz, V./Leidinger, H. (Hg.): Die Russische Revolution, Köln 2011, 50. Rostovtzeff 1930er, 5. Vgl. Moritz/Leidinger 2011, 50f. Tyrkova-Williams 1998, 189. Rostovtzeff 1930er, 5.

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zahlreiche Besprechungen und auch Ultimaten aus verschiedenen Parteien voraus. In der neuen Regierung, der nur noch vier Kadetten angehörten, wurden die Sozialrevolutionäre zur dominierenden Macht. Die Erklärung des Übergangsregimes vom 8. Juli, in der u. a. eine Bodenreform und damit verbunden eine Landübergabe an diejenigen, die den Boden bebauten, vorgesehen war, verstand Kerenskij als Regierungsprogramm. 147 Gleichzeitig, zwischen 23. und 28. Juli, fand der 9. Kadetten-Parteitag statt. In seiner Rede charakterisierte Miljukov die Beteiligung der Kadetten in der neuen Koalitionsregierung als Hilfe für ihre Heimat: „Russland macht eine schwere innere Krankheit durch, die vom beispielslosen äußeren Kampf erschwert wird. Jetzt droht uns keine Katastrophe, wir befinden uns bereits in ihrem Wirbel. […] Bewusste Urheber der entstandenen Situation gingen zur Seite und vielleicht freuen sie sich. Unbewusste Urheber sind ratlos und versuchen die Schuld für diesen Zustand, den wir erleben, auf andere zu schieben. Sie wenden sich an uns als Rettungsquelle. […] Wir müssen der Heimat helfen […].“ 148 Miljukov musste auf diesem Parteitreffen die Entscheidung für die Teilnahme der Kadetten an der Koalitionsregierung begründen. Als Grundlage für die Zusammenarbeit nannte der Parteichef die Distanzierung der Regierung von den Sowjets nach dem bolschewistischen Aufstand. Dies wäre eine gute Voraussetzung für die Stabilisierung der Macht, für eine erfolgreiche Vorbereitung der Konstituierenden Versammlung sowie die Stärkung der kadettischen Position innerhalb der Regierung. Er sprach außerdem darüber, dass der Bolschewismus zu diesem Zeitpunkt keine Gefahr darstelle. Schließlich wurde die Kandidatenliste für die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung zusammengestellt. Bemerkenswert ist, dass Rostovtzeff im Gegensatz zu Miljukov an eine vollständige Niederlage der Bolschewiki im Juli 1917 nicht glaubte: „Our ultimate hope was the general election to the constituent assembly. The Assembly, we thought, would put an end to anarchy and give a legal gouvernment to Russia. However, this was not the idea of the Bolsheviks. They did not want to know the will of the people. They wanted power at once, regardless of the will of the Russian people. And they acted accordingly.“ 149 Genauso skeptisch war Rostovtzeff gegenüber der neuen Koalitionsregierung: „Kerenskyʼs great preoccupation was to fight the alleged attempts at restoring to monarchy. No action, speeches and shouts. Kerenskyʼs situation was undermined.

147 Vgl. Hildermeier 1989, 180f. 148 P. Miljukovs Rede auf dem Kadetten-Parteitag am 25.7.1917, in: Šelochaev 1997, 497. 149 Rostovtzeff 1930er, 4.

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We saw it and knew well that was coming. We knew that nobody will fight for the provisional government […].“ 150

4.1.5 August: Moskauer Staatsberatung Michail Rostovtzeff, der von Tag zu Tag gegenüber der Provisorischen Regierung immer skeptischer wurde, verließ in der zweiten Julihälfte die Hauptstadt, um sich der wissenschaftlichen Arbeit in Finnland zu widmen. Er kehrte jedoch im August nach Russland zurück, um als Repräsentant der Russischen Akademie der Wissenschaften an der Moskauer Staatsberatung vom 12. bis zum 15. August teilzunehmen. Ca. 2.500 Delegierten aus staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen Russlands trafen sich im Bolšoj-Theater in Moskau. Im Hintergrund verlief der von den Bolschewiki organisierte Streik. Diese Zusammenkunft wurde als Forum für die Besprechung eines neuen Regierungsprogramms und die Stärkung nationaler Solidarität betrachtetet. Der Ministerpräsident Kernskij unternahm den Versuch, eine größere Akzeptanz der Provisorischen Regierung in der Gesellschaft zu schaffen sowie einen Kompromiss in der schwierigen Situation zu finden. Die dreitägigen Diskussionen über die Finanz-, Militär-, Produktions- und Versorgungsangelegenheiten brachten jedoch keine deutlichen Ergebnisse. Stattdessen traten die Polarisierung der Gesellschaft sowie die Widersprüche zwischen den verschiedenen politischen Gruppen deutlich zutage. In Moskau begriff Rostovtzeff, nach seiner eigenen Aussage, die Hoffnungslosigkeit der Lage in seinem Heimatland: „The streets of Moscow I found full of an angry mob. A general strike was launced by the Bolsheviks. The deputies marched through the crowded streets greeted by threats and curses. And in the theatre where the meeting was held no ray of light. The famous hysterical speech of Kerinsky produced a depressing impression on me; the dignified, wonderful speech of Korniloff brought no relief and made the situation still more acute. The provisional gouvernement was doomed.“ 151 Die Meinung des Althistorikers entsprach der allgemeinen Stimmung. So notierte A. Tyrkova am 16. August in ihrem Tagebuch: „Alle meinen, dass Kerenskij scheiterte“. 152 Die darauffolgenden Ereignisse bestätigten pessimistische Voraussagen. Am 19. August wurde die Evakuierung der Stadt Riga bekanntgegeben. Somit rückte der Krieg Petrograd immer näher. Diese Nachricht trieb die Bevölkerung aus der Hauptstadt. Als Folge davon stieg die Zahl der leer stehenden Wohnungen in Petrograd beträchtlich, vor allem in reichen Stadtteilen. 150 Ebd. 151 Rostovtzeff 1930er, 5. 152 Tyrkova-Williams 1998, 208.

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Vor dieser Kulisse verlief die Wahlkampagne für die Stadtparlamentswahlen in Petrograd am 20. August. Auf Apathie und Gleichgültigkeit trafen die Bemühungen der Kadetten, Stimmen für sich zu gewinnen. Ihre Auftritte auf Meetings endeten fast immer mit der Drohung versammelter Soldaten und Arbeiter, Miljukov und seinen Anhängern „Köpfe abzudrehen“ 153. Die Ergebnisse der Wahlen sprachen für sich: Miljukovs Partei bekam nur 20,9% der Stimmen. Demgegenüber sorgte Lenins Partei, die immer noch verboten war, mit ihren 33,4 % der Stimmen für eine Überraschung. 154 Zum Höhepunkt der alarmierenden Ereignisse im August 1917 wurde die sogenannte Kornilov-Affäre. Um die Figur des im Juli ernannten Oberbefehlshabers der russischen Truppen Lavr Kornilov sammelten sich die konservativen Kräfte, die sich Ordnung im Staat wünschten. Der General wurde durch seine harten Maßnahmen zur Wiederherstellung der Disziplin in der Armee bekannt. Nicht nur in konservativen Kreisen wurde immer häufiger über die Einführung einer Militärdiktatur zur Bekämpfung der Anarchie im Lande gesprochen. Auch bei Kadetten wuchs die Zustimmung für eine solche vorübergehende Lösung. Die ergebnislose Staatsberatung in Moskau mit Kerenskijs enttäuschendem Auftritt und Kornilovs charismatischer Rede ließ viele glauben, dass die militärische Einmischung die einzige Möglichkeit zur Rettung Russlands wäre. Ende August‒Anfang September 1917 wurden neue Unruhen erwartet, sei es wegen der wachsenden Versorgungskrise oder der bolschewistischen Rebellion zum Halbjahrestag der Revolution. Am 20. August trafen sich die Mitglieder des Zentralkomitees der Kadetten-Partei. Die aktuelle politische Situation und die erwartete Militäreinmischung standen im Mittelpunkt der Diskussionen. Miljukov sprach vorsichtig über die Unvermeidbarkeit eines „chirurgischen Eingriffs“ 155: „Dieser Prozess geschieht ohne uns, aber wir sind ihm gegenüber nicht neutral: Wir wünschen ihn herbei und sympathisieren ihm gewissermaßen […]“. 156 Kornilovs Marsch auf Petrograd, den manche Kadetten als „einen Hoffnungsfunken zur Änderung der trübseligen Situation“ 157 ansahen, wurde sowohl von Zeitgenossen als auch später von Historikern unterschiedlich beurteilt. 158 Sicherlich spielten Missverständnisse zwischen Kornilov und Kerenskij eine gewisse Rolle bei den Entscheidungen, welche die beiden in den letzten Augusttagen trafen. In der höchst angespannten Atmosphäre konnte bereits ein geringer Verdacht zum Putschversuch führen. Der ließ auf sich nicht lange warten. Der Ministerpräsident verdächtigte Kornilov, hinter seinem Rücken eine Militärdiktatur zu planen. Infolgedessen wurde der Oberbefehlshaber am 27. Au-

153 Protokoll der Sitzung des Zentralkomitees der Kadetten-Partei vom 20.8.1917, in: Pavlov 1998, 398. 154 Altrichter 1997, 205; Hildermeier, M.: Die Sowjetunion, München 2001, 102. 155 Protokoll der Sitzung des Zentralkomitees der Kadetten-Partei vom 20.8.1917, in: Pavlov 1998, 401. 156 Ebd. 157 Gessen 1937, 373. 158 Vgl. Kerensky, A.: Die Kerenski-Memoiren. Russland und der Wendepunkt der Geschichte, Wien/ Hamburg 1966, 366–375; Gippius 2014, 179–185; Sorokin 1992, 97f; Luks 2000, 40ff; Hildermeier 2001, 99ff; Altrichter 1997, 203–209.

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gust des Verrats beschuldigt und seines Amtes enthoben. Kornilov weigerte sich jedoch und erteilte den Befehl zur Besetzung von Petrograd. Dank dem Agieren der Eisenbahner erreichte schließlich nur ein Bruchteil der Truppen Kornilovs die Hauptstadt. Dort erwarteten sie Arbeiter, Matrosen und Soldaten, die Ihresgleichen auf ihre Seite zu gewinnen wussten. Der ruhmlos beendete Versuch eines Militärputsches war vor allem für die Bolschewiki von Vorteil. Sie durften dem „Komitee für den Kampf gegen die Konterrevolution“, das am 27. August auf Initiative der Sowjets gegründet worden war, beitreten. Dadurch kamen nicht nur Tausende Arbeiter an die Waffen. Auch die bolschewistische Partei ließ sich nun als Verteidiger der Revolution feiern. Kurz nach der Kornilov-Affäre wurden die Teilnehmer des Juli-Aufstandes freigesprochen. Michail Rostovtzeff, der ohne Zweifel ein Befürworter radikaler Schritte gegen bolschewistische und anarchistische Gruppierungen war, verband mit der gescheiterten Militäraktion die Hoffnung auf die Bekämpfung der Anarchie in seinem Heimatland. Er beurteilte das Geschehene wie folgt: „Instead of supporting Korniloff in his attempt to save Russia the government called back the bolshevik leaders from theit prisons and hiding places and practically gave them free hand to overthrow the government at the first opportunity.“ 159 Nun stürzte die Regierung in eine neue Krise. In dieser Situation wurde ein fünfköpfiges Direktorium unter der Leitung von Kerenskij mit zusätzlichen Vollmachten eingerichtet. Am 1. September erklärte er Russland zur Republik. Die weitere Zusammenarbeit mit den Kadetten war fraglich, da die Gerüchte über die Verbindungen zwischen Miljukov und Kornilov nach dem gescheiterten Putschversuch im Umlauf waren. Miljukov musste sogar aus Sicherheitsgründen Petrograd verlassen und einige Zeit auf der Krim verbringen. Über die Zusammensetzung der neuen Übergangsregierung sollte die einberufene Demokratische Konferenz (14.–23. September) ‒ diesmal ohne Beteiligung der Kadetten ‒ entscheiden. Schließich konnten die Delegierten gerade noch von der Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien überzeugt werden. Am 25. September stellte Kerenskij das dritte Koalitionskabinett vor. Die neue Regierung war nun dem neu gegründeten Demokratischen Rat, dem sogenannten „Vorparlament“, unterstellt: 160 „Nach der Julikrise, nach der Bildung eines neuen Kabinetts und der Einberufung der Moskauer Staatskonferenz, der Kornilow-Affäre und der zeitweiligen Machtausübung eines sogenannten ‚Direktoriums‘ waren die Organisierung des ‚Rates der Russischen Republik‘ und die Kooptierung von Vertretern aus Handel und Industrie (Tretjakow, Smirnow, Konowalow) sowie bekannter Mitglieder der

159 Rostovtzeff 1930er, 6. 160 Vgl. Hildermeier 1989, 224ff; Luks 2000, 46f; Šelochaev 2015, 586f.

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Konstitutionell-Demokratischen Partei (Kischin) in die Regierung der letzte Versuch, der wachsenden Woge des Bolschewismus etwas entgegenzusetzen.“ 161 Trotz des schweren Schlags Ende August 1917 bemühte sich die Kadetten-Partei den Einfluss auf die politische Situation beizubehalten. Miljukovs Partei war in der Koalitionsregierung durch fünf Minister vertreten. Die Mitglieder des Zentralkomitees trafen sich regelmäßig zu Besprechungen mit den Kadetten-Ministern. Im Demokratischen Rat wurde die Partei der Konstitutionellen Demokarten mit 75 Vertretern präsentiert. Zu ihren wichtigsten Aufgaben in dieser Zeit zählten die Stärkung der Kampffähigkeit der Armee, Bekämpfung der Anarchie sowie die Gewährleistung der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung. 162

4.1.6 Am Vorabend der Katastrophe Die beiden Herbstmonate vor dem bolschewistischen Umsturz waren für Rostovtzeff wie für die Mehrheit der hauptstädtischen bürgerlichen Schichten durch eine Stimmung voller Hoffnungen, Erwartungen und Ängste gekennzeichnet. Für den Althistoriker waren September und Oktober in publizistischer Hinsicht jedoch die fruchtbaren Monate, was nachstehend detailliert dargestellt wird. 4.1.6.1 September 4.1.6.1.1 Rostovtzeffs Tätigkeit in der Akademie der Wissenschaften Aufgrund des zunehmenden Lebensmittel- und Kraftstoffmangels wurde der Semesterbeginn auf den 2. Oktober festgelegt. Für September lässt sich Rostovtzeffs aktive Arbeit in der Russischen Akademie der Wissenschaften nachweisen. Anfang September wurde auf die Initiative des Landwirtschaftsministeriums eine spezielle Kommission bei der Akademie der Wissenschaften einberufen. Diese Kommission, der auch Rostovtzeff angehörte, sollte ihre Vorschläge in Bezug auf den Denkmalschutz in Verbindung mit der geplanten Bodenreform erläutern. Die Sorgen über die Zukunft der betroffenen Ländereien hingen nicht zuletzt mit dem Landwirtschaftsminister der zweiten Koalitionsregierung V. Černov zusammen. Dem Sozialrevolutionär wurde unterstellt, die Enteignung der Gutbesitzer durch Bauern zu befürworten. 163 Aus diesem

161 Nabokov 1992, 141. 162 Vgl. Protokoll der Sitzung des Zentralkomitees der Kadetten-Partei vom 4.10.1917, in: Pavlov 1998, 407f; Šelochaev 2015, 589ff. 163 Vgl. Wittram 1971, 85ff.

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Grund fühlten sich die Wissenschaftler der Provisorischen Regierung verpflichtet, den Denkmalschutz ausführlich zu begründen. Die Kommission der Akademie bereitete die entsprechenden Erläuterungen vor, die bei der Sitzung am 20. September präsentiert wurden. Jeder Spezialist war dabei für einen bestimmten Bereich der historischen und archäologischen Denkmalpflege verantwortlich. Schließlich wurden einzelne Erläuterungen zusammen mit einer Präambel über die Wichtigkeit des Schutzes historischer und kultureller Monumente auf dem russischen Territorium veröffentlicht.  164 Rostovtzeff übernahm zusammen mit dem Kollegen Latyšev den Abschnitt über Denkmäler im nördlichen Schwarzmeerraum. Die Historiker verwiesen auf die kommende Bodenreform, die ohne Zweifel auch die Territorien mit historischem Hintergrund betreffen werde: „Übergabe dieser manchmal großen Grundstücke in jemandes Eigentum oder eine langfristige Nutzung droht der Wissenschaft das Material zu nehmen, ohne welches die Erforschung der Vergangenheit Russlands, der vergangenen Schicksale zahlreicher, es [Russland] bewohnenden Stämme unmöglich gemacht wird.“ 165 Die Ruinen antiker griechischer Städte an der Schwarzmeerküste sowie am Asowschen Meer würden sich nur teils auf Territorien moderner Städte befinden, wie die Ruinen der antiken Pantikapaion in Kertsch, Gorgippa in Anapa, Tyras in Akkerman sowie Chersones in der Umgebung von Sewastopol. Der überwiegende Teil dieser alten Stätten befinde sich als Ackerland im Besitz einzelner Gutsherren oder Bauern. Dies betreffe vor allem die antike ionische Kolonie Olbia in der Nähe vom heutigen Dorf Parutino. Die systematische Untersuchung der Nekropolis von Olbia erlaubten es, so Rostovtzeff und Latyšev, die Evolution einer antiken ionischen Stadt zu verfolgen. „Deren [Nekropolis] systemlose Plünderung würde eine der wichtigsten Seiten der Menschheitsgeschichte für immer schließen“, hieß es in der Erläuterung. 166 Genauso ginge es den griechischen Städten des Bosporanischen Reiches: Phanagoreia, Kimmerikon und Nymphaion, die im Privatbesitz wären und noch nicht systematisch erforscht seien. Die Akademiemitglieder betonten, dass es unmöglich sei, alle schutzbedürftigen Denkmäler Russlands aufzuzählen. Es sollte jedoch für den Schutz der unumstrittenen archäologischen Schätze schon jetzt gesorgt werden. Sie erwähnten weiterhin skythische Grabhügel in den Steppen Südrusslands, die kaum untersucht seien, sowie Siedlungen mit Grabstätten im Dneprraum, die fortschreitend ausgeplündert würden. Ohne jeden 164 Vgl. Dʼjakonov, M./Latyšev, V./Rostovtzeff, M./Marr, Ja./Bartolʼd, V.: Über den Schutz der Grundstücke mit historischen und archäologischen Denkmälern (auf Russisch), in: IAN 11 (1917), 1221–1230. 165 Über den Schutz der Grundstücke mit historischen und archäologischen Denkmälern. Protokoll der 11. Sitzung der Abteilung historischer Wissenschaften und Philologie der Russischen Akademie der Wissenschaften vom 20. September 1917, in: RAN SPb 1/1a/164, zitiert nach: BongardLevin 1997, 113. 166 Ebd.

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Schutz würde auch die Siedlung Mangup-Kale auf der Krim stehen, die ein einzigartiges Beispiel für die Vermischung der armen Kultur eines germanischen Stammes mit der orientalischen Kultur der Sarmaten und der glänzenden byzantinischen Staatlichkeit darstelle. Die Ruinen der antiken Städte des nördlichen Schwarzmeerraums sollten weder ungeschützt noch im Privatbesitz bleiben. Die Historiker forderten die Übergabe dieser Denkmäler an den Staat. Im Bewusstsein einer großen „Verantwortung vor zukünftigen Generationen und vor der Weltkultur“ 167 riefen die Autoren zum schnellen Handeln auf. Leider konnten die Initiativen der russischen Akademie zum Schutz historisch-archäologischer Denkmäler aufgrund der weiteren politischen Entwicklung nicht realisiert werden. 4.1.6.1.2 „Wissenschaft und Revolution“ Ende September‒Anfang Oktober 1917 erschien ein bemerkenswerter Aufsatz von Rostovtzeff. 168 Es waren die Überlegungen des Althistorikers bezüglich der Stellung der russischen Wissenschaft sowohl vor als auch nach der Februarrevolution. Hier erklärt Rostovtzeff die Gründe für die tiefe Polarisierung der Gesellschaft an einem Beispiel, das ihm am nächsten lag. In diesem Aufsatz erweist er sich weiterhin als ein überzeugter Anhänger der Weiterführung des Krieges und als Gegner des Bolschewismus. Das Schreiben wirkt dank der sachlichen Darstellung des Historikers sehr überzeugend. Rostovtzeff fängt mit der Feststellung an, dass das 19. und noch mehr das 20. Jahrhundert im Zeichen der Wissenschaft gestanden hätte. Er wiederholt nun – nach drei Kriegsjahren ‒ die Frage, welches Schicksal die gesamte internationale res publica litterarum erwarten würde. Unter internationalen Gelehrten hätte sich trotz allem das Bewusstsein einer Einheit der weltweiten wissenschaftlichen Arbeit gestärkt. Das konsequente Streben nach der Aufhebung der Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft wäre, nach Rostovtzeff, das bedeutendste Zeichen für „die Einheit und Ganzheit des weltweiten Schöpfungsprozesses“ 169. Als eins der mächtigsten Mittel des internationalen Austausches bezeichnet Rostovt­ zeff internationale Kongresse, die trotz all ihrer Nachteile, wie z. B. große Teilnehmerzahl und Spezialisierung bzw. Zerkleinerung von Fachdisziplinen, eine große Bedeutung für die Vereinigung internationaler Wissenschaftler gehabt hätten. Dank dieser internationalen Zusammenkünfte sei das Streben nach einer gemeinsamen koordinierten Arbeit gestärkt worden. Viele Fachzeitschriften hätten darüber hinaus einen internationalen Charakter entwickelt. Der Wunsch, die Sprache bedeutender Untersuchungen innerhalb der einen oder anderen Disziplin zu lernen, wäre gewachsen. 167 Ebd., 114. 168 Vgl. Rostovtzeff, M.: Nauka i revoljucija [Wissenschaft und Revoution], in: Russkaja myslʼ 9/10 1917, 1–16. 169 Ebd., 1.

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Diese Entwicklung sei 1914 gestoppt worden. Der begonnene Krieg hätte Deutschlands Streben nach wissenschaftlicher Hegemonie, nach einer Mechanisierung der Wissenschaft offenbart. Aus diesem Grund hätten die Alliierten die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit im Wissenschaftsbereich erkannt. Solche Gedanken blieben jedoch im Rahmen theoretischer Überlegungen. Dafür sei „die innere wissenschaftliche Selbstbestimmung“ 170 jedes einzelnen Landes von großer Relevanz. Dies gelte für Länder mit einer längeren kulturellen Tradition, wie England und Frankreich, in höherem Maße jedoch für Länder, wie Italien und Russland, die lange Zeit unter dem Einfluss der deutschen Wissenschaft standen. Rostovtzeff schrieb, dass Russlands Lage besonders schwer gewesen wäre und momentan sei. „Nirgendwo zeigte sich so deutlich das primäre Leid Russlands, seine angeborene Sünde, sein organisches Elend, die durch die verderbliche Politik des Absolutismus verstärkt wurden“, fuhr der Althistoriker fort. Er spricht über eine Hürde zwischen „der russischen Intelligencija und den Bevölkerungsmassen“ 171, welche der russischen Wissenschaft ein notwendiges Fundament entziehe: „Man muss offen zugeben, dass die Wissenschaft in Russland sich als eine in Gewächshäusern der Universitäten und Akademien aufgehende Blume zeigte, die mit keinen organischen Fäden sogar mit der Intelligencija, geschweige mit den Bevölkerungsmassen verbunden war.“ 172 Die Wissenschaft Russlands würde nur dank der Unterstützung des russischen Staates aufrechterhalten werden. Seine Ausführungen verdeutlicht Rostovtzeff am Beispiel des Buchhandels, der in Deutschland, Frankreich und England ein Merkmal für das Interesse an der Wissenschaft im jeweiligen Land sei. Als Träger der Kontinuität der wissenschaftlichen Arbeit nannte der Althistoriker wissenschaftliche Fachzeitschriften, die sich in vielen Fällen durch eigenen Vertrieb rentierten. Genauso würden archäologische Expeditionen und Ausgrabungen mit Privatmitteln durchgeführt. Dies alles ließe sich kaum in Russland entdecken. Russische Verlage, so Rostovtzeff, „meiden und fürchten wissenschaftliche Bücher, [und] gehen nicht weiter als Herausgabe von Schulbüchern und […] Übersetzungen wissenschaftlicher Werke“. 173 Auch wissenschaftliche Zeitschriften und Unternehmungen hätten außer staatlicher keine Unterstützung in der russischen Gesellschaft gefunden. Daher stellt Rostovtzeff die Frage, welche Gründe es für diesen unbestimmten und beunruhigenden Zustand der russischen Wissenschaften gäbe? Den Hauptgrund sieht der Historiker darin, dass die Wissenschaft „dem offiziellen Russland“ 174 immer fremd 170 171 172 173 174

Ebd., 2. Ebd., 3. Ebd. Ebd., 4. Ebd.

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gewesen wäre. Keiner hätte sich bemüht, die Verbindung zwischen der Wissenschaft und der Bevölkerung herzustellen. Zudem käme die Freiheitsbeschränkung der russischen Wissenschaft, besonders in philosophischen, politischen und wirtschaftlichen Disziplinen hinzu. „Traurige Früchte ernten wir nun in der unendlichen Unwissenheit, die alle in Russland [in dem Moment], in dem das Schicksal Russland vor den wichtigsten Fragen seines künftigen Baus stellt, zeigen“ 175, resümiert er. Die Wissenschaft sei für den russischen Staat nur ein decorum. Dies äußere sich in einem bedauerlichen Zustand russischer Universitäten, technischer Fachschulen sowie theologischer Akademien. Der Staat hat, nach Rostovtzeffs Meinung, verhindert, dass die russische Wissenschaft beim Volk ankommt. Die russische intelligencija hätte die Notwendigkeit einer stärkeren Verbreitung der Wissenschaft „instinktiv“ 176 begriffen; sie sei jedoch gegen Staatspolitik machtlos gewesen. Des Weiteren sprach Rostovtzeff über die Unansehnlichkeit einer wissenschaftlichen Karriere in Russland, über die schwierige materielle und moralische Lage eines russischen Wissenschaftlers. Dies beruhe auf der Wahrnehmung eines Wissenschaftlers als einen „Herrn“ oder, „wie man jetzt sagt, einen buržuj“ 177: „Das alte Russland hatte Angst vor Wissenschaftlern, traute ihnen nicht, stellte sie in eine erniedrigende und schwere Lage. Nicht groß war die ‚Ehre‘ als ein Puffer zwischen dem Staat, dem das gelehrte Russland nicht traute und den sie zusammen mit der gesamten intelligencija bekämpfte, […] und der Studentenschaft […] zu dienen. Die Entfremdung der Wissenschaft von den Massen ist in keinem Fall die Schuld der Wissenschaftler, sondern allgemein die Schuld der missgestalteten Entwicklung des kulturellen Lebens in Russland.“ 178 Auch innerhalb der Universitäten konnten russische Gelehrte keine stärkende Unterstützung finden. Dies hinge damit zusammen, dass viele wissenschaftliche Kräfte sich in politischen Kämpfen verloren hätten. Aber auch die intelligencija „sank entweder bis zum Marasmus oder befand sich im Zustand des poltischen Fiebers“ 179: „Alle diese traurigen Existenzbedingungen der russischen Wissenschaft wurden in diesen Jahren des großen Krieges besonders deutlich erkannt, wenn im Bewusstsein von allen die Fragen über Russland schlechthin, über sein Existenzrecht als eine große Macht, über seine Ehre und Würde, über die Legitimität seines Kampfes gegen die Versuche seiner kulturellen und materiellen Versklavung, in den Vordergrund rückten.“ 180 175 176 177 178 179 180

Ebd., 5. Ebd. Ebd., 6. Ebd., 6f. Ebd., 7. Ebd.

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Rostovtzeff sprach darüber, dass die russischen Gelehrten ihre Liebe für die Heimat in den Kriegsjahren gezeigt hätten. Nun kommt der Althistoriker zu den „drohenden Revolutionstagen“. 181 In dem ersten Augenblick schien es, dass die Revolution für die Wissenschaft eine positive Rolle spielen würde. „Aber dann kamen die Tage der großen Trauer“ 182. Es hätte sich der Abgrund zwischen der intelligencija und dem russischen Volk mit einer „erschütternden Realität“ 183 gezeigt. Dabei weist Rostovtzeff darauf hin, dass in den „Volksmassen“ 184 die Liebe für ihre Heimat durch „materielle Instinkte und tierische Interessen“ 185 ersetzt worden wäre: „Einen unerwarteten, spontanen Erfolg bekam die Predigt begrenzter und blinder Theoretiker, die die ganze kulturelle Vergangenheit Russlands, seinen zurückgelegten Weg, über das Bord geworfen hatten und die versuchen, auf den Ruinen des intelligenten Russlands, das der Absolutismus eines einzelnen nicht erdrosseln konnte, einen Absolutismus der weniger gebildeten Schichten ‒ Bauern, Knechte und Arbeiter ‒ aufzurichten.“ 186 Der Versuch, eine „unmögliche soziale und kulturelle Gleichheit“ 187 zu erreichen, würde schließlich zur Rückkehr einer noch schlimmeren Sklaverei führen. Der Autor warnt die neue Regierung, sich von den Massen leiten zu lassen: „Eine Diktatur der Massen ist nicht Russlands Rettung, sondern sein Untergang. Die Rettung liegt nur in der Verbreitung und dem Aufstieg der Kultur in Russland, was ohne einen starken, wohlhabenden und einheitlichen Staat undenkbar ist. Aber das kann nur das Volk erreichen, das nicht die äußere, materielle Ungleichheit ‒ ein direktes Ergebnis der kulturellen Ungleichheit ‒ erkennt, sondern vor allem die Notwendigkeit eines kulturellen Aufstiegs, dem auch langsam eine soziale und wirtschaftliche Ausgleichung folgt, versteht.“ 188 Dieses Ziel sollte „in diesem Moment“ 189 erreicht werden, meinte der russische Historiker. Als eine notwendige Voraussetzung für den sozialen und wirtschaftlichen Frieden sowie für eine erfolgreiche Entwicklung des Landes nannte Rostovtzeff den Sieg im Krieg. Dabei seien die Ziele, die Russland an der Seite der Alliierten verfolgt hatte, nach der Februarrevolution nicht mehr relevant. Das Hauptziel in diesem Krieg sei nun die Stär181 182 183 184 185 186 187 188 189

Ebd. Ebd., 8. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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kung Russlands: „Bei einem Sieg Deutschlands gleichwie einem Sieg der Alliierten ohne Russland drohen Russland gleichermaßen Erniedrigung und Abschwächung für viele Jahrzehnte“. 190 Bei dem Wiederaufbau seines Heimatlandes sollte, nach Meinung von Rostovtzeff, die russische Wissenschaft eine entscheidende Rolle spielen. Dabei wiederholt er die von ihm bereits erläuterte Tatsache, ‒ die nur „radikale Prediger der Rückkehr zum Urzustand“ 191 bestreiten ‒ dass ein technischer und materieller Aufschwung der wissenschaftlichen Entwicklung im Land direkt proportional sei. Er erwähnt dabei das antike Griechenland als Vorbild, wo die Entwicklung der Wissenschaft und Kultur den Aufschwung der materiellen Kultur bedingten. Aber die normale Entwicklung der modernen Wissenschaft sei schließlich nur im Rahmen eines starken und freien Staatswesens möglich. Die Notwendigkeit der angewandten Naturwissenschaften würde sogar von Vertretern radikaler sozialistischer Bewegungen, wie die Leninisten, nicht bestritten. Demgegenüber würde die materielle Unterstützung von Gesellschaftswissenschaften durch den Staat eine stärkere Begründung benötigen. Daraufhin kommt der Autor zu den aus seiner Sicht wichtigsten Fundamenten der Wissenschaft. Zuerst beschreibt er das Bibliothekswesen, das im vorrevolutionären Russland außerordentlich schlecht organisiert gewesen sei. Außer den hauptstädtischen Bibliotheken hätte es an solchen in den russischen Provinzen weitgehend gefehlt. Aus diesem Grund sei es die Aufgabe des „neuen Russlands“ 192, das Bibliothekswesen weiterzuentwickeln und zu stärken. Dafür sei die Entwicklung des Buchwesens grundlegend. Es gäbe in Russland weder einen echten Buchhandel noch solide wissenschaftliche Verlage. „Es gibt kein wohlhabendes Bürgertum, das für die Wissenschaft arbeiten würde und für dieses Ziel sein privates Kapital auszugeben bereit wäre“ 193, setzt Rostovtzeff fort. Der ausländische Buchmarkt sei aufgrund der auf der schwachen russischen Kultur und Wissenschaft basierenden Unkenntnis des Russischen wiederum geschlossen. Da Rostovtzeff an das „schöpferische Genie des russischen Volkes“ 194 glaubte, zweifelte er nicht, dass sich die genannten Mängel mit der Unterstützung der neuen Regierung beheben ließen. Dafür sollte ein Buchverlag-Fond zur Finanzierung spezieller Wissenschaftspublikationen geschaffen werden. Als Hauptaufgabe bezeichnete der Autor dabei die Bildung einer „Armee der Wissenschaftler“ 195, die nur im Rahmen eines entwickelten Netzes von Forschungsinstituten erfolgreich wäre. Bezeichnend im Hinblick auf Rostovtzeffs eigener wissenschaftlichen Laufbahn ist seine Aussage bezüglich der Auslandsreisen zur Fortbildung junger Wissenschaftler wie auch für die Arbeit erfahrener Spezialisten. Dies sei irrational und unerwünscht: „Der 190 191 192 193 194 195

Ebd., 9. Ebd. Ebd., 10. Ebd. Ebd., 11. Ebd.

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wissenschaftliche Austausch ist notwendig, gegenseitige Hilfe der Länder ist sinnvoll und erwünscht, aber die Grundlage des wissenschaftlichen Lebens jeder kulturellen Nation soll national sein“. 196 Das neue Russland sollte ein Netz der wissenschaftlichen Einrichtungen russlandweit schaffen. Die Universitäten sollten die russische intelligencija erziehen und wissenschaftlichen Nachwuchs in Russland vorbereiten. Die große Aufgabe der Zeit sei die Entwicklung der Wissenschaft und Kultur in Russland: „Man hört überall darüber, dass Russland zuerst lese- und schreibkundig gemacht werden soll, es sollen soziale und wirtschaftliche Fragen gelöst werden, Russland soll frei und wohlhabend werden, und dann kann man über so einen ‚Luxus‘ wie die Entwicklung des wissenschaftlichen Lebens nachdenken. Das ist ein schwerer und grundlegender Irrtum. Wir brauchen nicht ein lese- und schreibfähiges Russland, sondern ein kulturelles.“ 197 Rostovtzeff war überzeugt, dass nur das Volk, das über eine echte Wissenschaft verfügt, auch eine echte intelligencija haben würde. Der russische Historiker warnt vor der Verwechslung der Begriffe „intelligencija“ und „bourgeoisie“: „Wenn der Sieg über die Bourgeoisie eine Voraussetzung für das Entstehen einer gerechten sozialen Ordnung ist, ‒ ob das so ist, ist eine große Frage ‒ dann ist der Sieg über die intelligencija, wozu grausame Fanatiker der Revolution aufrufen, ein Schlag des Volkes in sein eigenes Herz, [das wird] kein Anfang einer gerechten Ordnung sein, sondern die Zerstörung jeder Ordnung und das Versenken in die Anarchie und Barbarei.“ 198 Rostovtzeff resümiert, dass sein Heimatland jetzt, nach der Revolution, eine entwickelte Wissenschaft und Kultur braucht. Von diesen hänge direkt der wirtschaftliche Aufschwung in Russland ab: „Russland ist nur bei der vollen Vereinigung aller seiner Klassen und Nationalitäten in der Lage, sich von der Stelle zu bewegen und einen schwierigen, aber notwendigen Weg der kulturellen Entwicklung anzufangen oder besser fortzusetzen. Nur in solch einem Russland ist ein gesundes und schöpferisches Wissenschaftsleben denkbar. Deutschlands, Frankreichs, Englands, Italiens und Amerikas Vorbild zeige, welche Kraft die nationale und staatliche Einheit in der kulturellen Arbeit [besitze]; Gott bewahre, dass Russland zeigen wird, zu welcher Schwäche und zu welchem Marasmus die Abtrennung und Zerstörung führen. Die Lektionen sind genügend, die das 196 Ebd., 12. 197 Ebd., 14. 198 Ebd., 15.

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im Moment des Weltkampfes gespaltete Russland Europa zeigte. So eine Rolle des Lehrers für Europa verdiente Russland nicht. Alle, die Russland diesen Weg zeigen, sind die ärgsten Feinde Russlands und der ganzen Menschheit.“ 199 4.1.6.2 Oktober: Kriegsfrage Der zweite Herbstmonat zeigte, dass Rostovtzeffs schlimmste Befürchtungen zur Realität wurden. Bereits am 3. Oktober wurde Reval evakuiert, was den Vormarsch der Deutschen nach Petrograd erleichterte. In der Hauptstadt herrschte Anarchie. Tägliche Berichte über Bauernunruhen, Plünderungen und Überfälle, ergänzt durch steigende Kosten für den Lebensunterhalt und Lebensmittelknappheit, bildeten den Alltag der Petrograder. Ein Augenzeuge berichtete: „Ich musste täglich den Anblick meiner Frau und Freunde, die an Hunger litten, aushalten. […] In allen Regimentern organisierten die Bolschewiki Militär-Revolutionäre Komitees. Das sind Samen neuer Aufstände. Ich erwarb einen Revolver, aber werde ich jemanden erschießen? Kaum. Tausende Menschen flüchten aus Petrograd und, wirklich, warum sollen sie, nachdem sie den Hunger und die Morde der bolschewistischen Horden erlebt hatten, in der Stadt bleiben?“ 200 Der unaufhaltsame Aufstieg der bolschewistischen Partei war alarmierend. Bereits bei den Wahlen zu den Stadtbezirksräten in Moskau, Samara und Tomsk Ende September– Anfang Oktober wurden die Bolschewiki zur stärksten Partei. 201 Gleichzeitig unternahmen sie einige Schritte, um die bestehende Macht zu provozieren und zu diskreditieren. So warfen sie der Übergangsregierung vor, die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung absichtlich zu verschleppen oder die Hauptstadt den deutschen Truppen übergeben zu wollen. Der demonstrative Auszug der Bolschewiki aus dem am 7. Oktober versammelten Demokratischen Rat war ein weiterer Schritt in die Richtung des Staatstreichs. Inzwischen kehrte Lenin nach Petrograd zurück und begann seine Partei zum unverzüglichen Aufstand zu bewegen. Am 10. Oktober war in einem geheimen Treffen des bolschewistischen Zentralkomitees die Entscheidung über die Machtergreifung gefallen. Die Bolschewiki nutzten das einen Tag zuvor von den Sowjets gegründete „Militärische Revolutionskomitee“ als Zentrale für den Aufstand sowie die Einberufung des zweiten Sowjetkongresses am 25. Oktober als Stichtag für die geplante Machtergreifung. 202

199 200 201 202

Ebd., 16. Sorokin, P.: Dalʼnjaja doroga [Der weite Weg], Moskau 1992, 98. Vgl. Altrichter 1997, 217f. Vgl. ebd., 219f; Hildermeier 2001, 109f; Pipes 1992, 242–255.

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Vor diesem Hintergrund wurde der 10. Parteitag der Kadetten (14.–16. Oktober) in Petrograd einberufen. 203 Das Hauptthema dieser Zusammenkunft waren die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung am 12. November. In der Tat verbanden viele Parteimitglieder damit ihre Hoffnung auf einen Ausweg aus der politischen Krise. Womöglich war auch Rostovtzeff im überfüllten Saal des Filmtheaters „Kolizej“ [„Kolosseum“] anwesend. Immerhin sah der Althistoriker in diesem politischen Akt eine letzte Chance für sein Heimatland: „However there was still some hope. The great day of the general elections was approaching“. 204 Auf dem Parteitag wurde die Unterstützung der Parteimitglieder in der Provisorischen Regierung sowie im Demokratischen Rat proklamiert. Miljukov präsentierte dabei das taktische Programm für die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung. Die ersten der sechs Punkte des Programms waren der Kriegsfrage gewidmet. Der auf seinem Standpunkt beharrende Parteiführer forderte die Fortsetzung des Krieges „in voller Übereinstimmung mit den Alliierten bis zum erfolgreichen Ende“ 205 sowie die Herstellung der Kampffähigkeit der Armee durch die Stärkung der Disziplin. V. Nabokov schrieb später, dass eine der praktischen Aufgaben der Kadetten im Demokratischen Rat gewesen sei, den Rücktritt des Kriegsministers Verchovskij ‒ „eine Art Psychopath, der keinerlei Vertrauen verdiente“ 206 ‒ zu erreichen. Der neue Kriegsminister sprach offen darüber, dass Russland nicht in der Lage wäre, den Krieg fortzusetzen. 207 Aus diesem Grund trat er für die Reorganisation der Armee und den Friedenschluss ein. Wenn Miljukov und andere Kriegsbefürworter innerhalb der Partei alle Argumente gegen die Fortsetzung des Krieges scharf ablehnten, gab es unter Kadetten jedoch auch diejenigen, die im unversöhnlichen Kurs Miljukovs eine Gefahr für die Zukunft des Landes sahen. Zu diesen gehörte z. B. der Rechtswissenschaftler Boris Nolʼde 208, der in seinen Memoiren über die Dominanz der Konzeption Miljukovs sowie dessen „hartnäckigen Widerstand“ 209 gegenüber anderen Meinungen schrieb. Bereits Ende September sollte Nolʼde in den Sitzungen des Zentralkomitees einen Vortrag über die Folgen des Krieges für die innere politische Lage halten. Er war überzeugt, dass es unmöglich wäre, gleichzeitig den Krieg zu führen und die Revolution zu zügeln. Deswegen sollten die Alliierten 203 Vgl. Der 10. Parteitag der Konstitutionell-Demokratischen Partei 14.–16.10.1917, in: Šelochaev 1997, 730–756. 204 Rostovtzeff 1930er, 6. 205 P. Miljukovs Vortrag auf dem 10. Parteitag der Konstitutionell-Demokratischen Partei 14.–16.10. 1917, in: Šelochaev 1997, 590. 206 Nabokov 1992, 144. 207 Vgl. ebd., 145, 148; Dumova 1990, 215. 208 Boris Nolʼde (1876–1948) war einer der Hauptexperten für Außenpolitik in der Kadetten-Partei und Berater des Außenministers S. Sazonov während des Ersten Weltkrieges. In der Provisorischen Regierung bekleidete er den Posten des stellvertretenden Außenministers. Nach der Oktoberrevolution trat Nolʼde dem „Rechten Zentrum“ bei und in der Emigration war er in der Pariser Gruppe der Kadetten-Partei unter der Leitung von Miljukov tätig. Vgl. Volobuev 1993, 238f. 209 Nolʼde, B.: Dalëkoe i blizkoe. Istoričeskie očerkie [Das Ferne und Nahe. Historische Skizzen], Paris 1930, 149.

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zu Friedensverhandlungen veranlasst werden. 210 Eine derartige Meinung galt in der Kadetten-Partei jedoch „eher als ein frevlerischer und verbotener politischer Irrglaube“ 211. An dieser sowohl innerparteilichen als auch gesamtpolitischen Auseinandersetzung nahm Michail Rostovtzeff auch teil. Er veröffentlichte kurz vor der Oktoberrevolution den Aufsatz „Ein unverzüglicher Frieden“ 212, in dem er seine Meinung bezüglich der Fortsetzung des Krieges sowie der Folgen der Machtergreifung durch die Bolschewiki unmissverständlich darlegte. Die Situation in der zweiten Oktoberhälfte beschreibt Rostovtzeff wie folgt: „Immer bestimmter und bestimmter klopft der grauenhafte Geist der bolschewistischen und defätistischen Macht an unsere Türen“. 213 Der Autor stellt die Frage: Warum sei dieser Geist so furchtbar? Der bolschewistischen Machtergreifung würde, so Rostovtzeff, unvermeidlich ein Terror folgen, sei es in Form eines Feldgerichts oder eines typischen Pogroms. Dabei bezeichnet der Autor das „Leninsche Ministerium“ 214 als „primitive Jakobiner“ 215. Lenins Anhängern würde jedoch im Vergleich zum französischen Pendant die Liebe für ihre Heimat fehlen. „Das ist schrecklich, aber nicht in dem Maße, wie es scheint“ 216, schreibt Rostovtzeff weiter und erklärt seinen Standpunkt. Pogrome und Selbstjustiz gäbe es in Russland bereits seit einiger Zeit und Rostovtzeff hielt Lenin und seine Anhänger für unfähig, einen konsequenten Terror durchzuführen. Der Althistoriker fürchtete sich viel mehr vor der Abschwächung des „ohnedies winzigen Vorrats an kulturellen Kräften“ 217 in seinem Heimatland. Er stellt die Frage: „Was wird, wenn ein gebildetes Gesicht zu zeigen bedeuten wird, sich gleich offen als Bourgeois zu bekennen, d. h. sich als einen Kandidat für den Galgen oder für das Schafott [zu erklären]?“ 218 Rostovtzeff verweist darauf, dass es immer schwieriger würde, wissenschaftlich zu arbeiten. Es gäbe keine Möglichkeit, wissenschaftliche Forschungsergebnisse zu publizieren. Russische Wissenschaftler seien gezwungen, zu Gutenbergs Zeiten zurückzukehren, indem sie Lithographie wieder verwenden. Der Autor vermutet, dass es bald zu einem mündlichen Austausch, wie in den Zeiten der Rhapsoden und der ersten ionischen Denker kommen würde. Bald würde auch die Mehrheit der Fachzeitschriften geschlossen werden. „Was kann uns Lenins Ministerium geben?“ 219, fragt Rostovtzeff rhetorisch. Es sei nicht in der Lage, ein Buch statt ihrer sozialistischen Broschüren herauszugeben oder Schule und Universitäten mit notwendigen Materialien auszustatten. Dafür sollte das 210 Vgl. Nabokov 1992, 146. 211 Nolʼde 1930, 149. 212 Vgl. Rostovtzeff, M.: Nemedlennyj mir [Ein unverzüglicher Frieden], in: Russkaja svoboda 24/25 (1917), 3ff. 213 Ebd., 3. 214 Ebd. 215 Ebd. 216 Ebd 217 Ebd. 218 Ebd. 219 Ebd.

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Wirtschaftsleben im Land geheilt werden. Mit Terror und Plünderei könnten keine positiven Ergebnisse erzielt werden. Er nimmt die Stellung bezüglich bolschewistischer Parolen und betont, dass „der Geist des organisierten staatlichen Raubs der Besitzenden“ 220 ihn nicht mehr erschreckt: „Kein Raub stoppt einen gesetzmäßigen Wirtschaftsprozess. Wenn die Entwicklung des Kapitalismus in Russland eine nächste Wirtschaftsphase ist, dann wird der Raub von Wertgegenständen – der einige elend macht und [diese Wertgegenstände] in die Hände der anderen verschiebt – das Schicksal eines wirklich starken Kapitals nicht beeinflussen: Es werden kleine Rentiers leiden, [und] vorübergehend diejenigen, deren schöpferische Kräfte versiegten. Die Starken werden aus dem Existenzkampf hinausschwimmen.“ 221 Nach dieser langen Einführung kommt der Autor zum Kerngedanken seines Aufsatzes, zu der Frage des Friedens. Er spricht über die „Perspektive des morgigen Tages“ 222. Er ist überzeugt, dass Lenin oder ähnliche Kräfte keinen Tag an der Macht bleiben könnten, wenn sie nicht einen separaten Frieden abschließen würden. Rostovtzeff betont, dass dieser „keinen Frieden für Russland, sondern einen Frieden für Westeuropa“ 223 bedeuten würde. Die Initiative eines separaten Friedens wäre für die Regierung eines Lenin oder Černov unvermeidbar. Daraufhin erwähnt der Autor die „Zimmerwalder“ 224, die die russische Armee mit der Friedensidee endgültig demoralisiert hätten. Rostovtzeff warnt in seiner Schrift vor den Folgen eines solchen Friedens. Dazu zählte er den Verlust der politischen Selbständigkeit Russlands und dessen Verwandlung in einen Vasallenstaat sowie die Kriegführung in den östlichen Randgebieten. Einen Frieden ohne eine kampffähige Armee zu schließen würde Russland zu einem Objekt der Aktion für westeuropäische Länder machen: „Diese grauenhafte Perspektive, der Russland sich nicht fügen wird und die eine brutalste Ära der Bürgerkriege eröffnet, ist das Wichtigste, was die kommende 220 221 222 223 224

Ebd. Ebd., 4. Ebd. Ebd. Als „Zimmerwalder“ wurden die Gegner des Krieges bezeichnet, die einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen forderten. Das entsprechende Manifest wurde auf der Konferenz der Linkssozialisten im Schweizer Dorf Zimmerwald (5.–8. September 1915) verabschiedet. Die Delegierten aus elf europäischen Ländern riefen u. a. das Proletariat auf, sich gegen den kapitalistischen Krieg zu entscheiden, indem sie die Waffen niederlegen und einen sofortigen Frieden verlangen. Der dort anwesende Lenin wurde mit seinem Vorschlag für die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg bekannt, der jedoch abgelehnt wurde. Vgl. Der Text des Manifestes, in: Balabanoff, A.: Die Zimmerwalder Bewegung 1914–1919, Leipzig 1928, 17–20; Lademacher, H. (Hg.): Die Zimmerwalder Bewegung. Protokolle und Korrespondenz, 2 Bde., Den Haag 1967; Reisberg, A.: Lenin und die Zimmerwalder Bewegung, Berlin 1966.

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Macht der Zimmerwalder zur schwierigsten Prüfung für Russland macht. Die Sanktionierung dieser Macht gleicht einem Todesurteil, das Russland sich selbst unterzeichnet, einer Zerstörung von allem, was scheinbar fest aufgebaut wurde, einer Sicherung der Anarchie in Russland für viele Jahre.“ 225 Rostovtzeff prophezeit eine Vergeltung für die „Zimmerwalder“, für ihre Demagogie und die Zerstörung der Armee. Gleichzeitig wollte der Althistoriker lieber zulassen, dass diese Menschen Erfolg haben, anstatt dass sie zusammen mit Russland zu Grunde gehen. Auch Miljukovs strategischer Plan der Fortsetzung des Krieges bis zum Sieg implizierte den Kampf gegen das „Zimmerwaldertum“ 226. Rostovtzeff zeigt in seinem Aufsatz, dass er die Position von Miljukov teilte und seinen Prinzipien trotz der seit dem Ausbruch des Krieges veränderten politischen Situation in Russland treu blieb. Der Unterschied zeigt sich nun in seiner Argumentation für die Kriegführung. Es spielten ‒ zumindest in der Veröffentlichung ‒ seine persönlichen Auseinandersetzungen mit den Deutschen sowie die territorialen Ansprüche und die Positionierung Russlands als Verteidiger von Interessen des Slawentums keine zentrale Rolle mehr. Es waren Rostovtzeffs berechtigte Sorgen über den Einfluss dieses Krieges auf die innere Entwicklung des Landes. Sein Bild der Zukunft Russlands nach dem Abschluss eines Separatfriedens zeigt, dass Rostovtzeff sich über die politische Lage im Oktober 1917 keine Illusionen machte und in vielen Punkten seines Szenarios schließlich Recht behielt. 227

4.2 Oktoberrevolution 4.2.1 Umsturz Anfang Oktober 1917 und trotz der politischen Krise begannen die Veranstaltungen an der Universität Petrograd. Rostovtzeffs Name taucht bei den Wahlen des Rektors der hauptstädtischen Hochschulen am 16. Oktober auf. Zusammen mit vier Kollegen wurde er für die Rektorstelle vorgeschlagen. Schließlich wurde Ė. Grimm 228 als Rektor wieder225 Rostovtzeff 1917, 4f. 226 Vgl. P. Miljukovs Vortrag auf dem 10. Parteitag der Konstitutionell-Demokratischen Partei 14.–16. 10.1917, in: Šelochaev 1997, 590. 227 Am 3. März 1918 unterzeichnete die bolschewistische Regierung den Separatfrieden von Brest-Litowsk. Demzufolge verlor Russland etwa 750.000 km2 an Territorien (Estland, Lettland, Litauen, Polen; Finnland und die Ukraine wurden als selbständige Staaten anerkannt; Erdehan, Kars und Batum bekam die Türkei und Rumänien erhielt Bessarabien). Russische Armee und Marine sollten demobilisiert werden. Die Deutschen sicherten sich außerdem wirtschaftliche Sonderrechte auf dem sowjetischen Gebiet. Vgl. Pipes 1992, 387–436. 228 Der Historiker Ėrvin Grimm (1870–1940) war zwischen 1911 und 1918 Rektor an der Universität Petersburg. Als Mitglied der Kadetten-Partei lehnte der den Oktoberumsturz ab und beteiligte sich aktiv an der antibolschewistischen Bewegung. Schließlich emigrierte er 1920 nach Bulgarien,

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gewählt. 229 Am 22. Oktober verteidigte Georgij Vernadskij, der Autor von Rostovtzeffs biographischer Notiz, seine Magisterarbeit über die russische Freimauerei unter Katharina II. 230 Von außen schien es, als ob das Leben in der russischen Hauptstadt seinen gewöhnlichen Gang gehen würde. Gleichzeitig war jedoch die innere Spannung der Petrograder unverkennbar. Sie äußerte sich in diesen Oktobertagen bei vielen in einem „nervösen, aufgeregten Zustand“ 231. Er wurde sowohl durch die Bedrohung der deutschen Besatzung als auch durch die Erwartung eines neuen bolschewistischen Aufstandes hervorgerufen. In zahlreichen Sitzungen Petrograder Museen und wissenschaftlicher Einrichtungen stand die Frage der Evakuierung an der ersten Stelle. Die Panik führte dazu, dass wissenschaftliche Bibliotheken in Petrograd für Spottpreise verkauft wurden, wie im Falle der Privatbibliotheken von Rostovtzeffs Kollegen Latyšev und Veselovskij. 232 Menschen verließen die Hauptstadt. Diejenigen, die blieben, spürten nach Rostovtzeffs Aussage, wie „der grauenhafte Geist der bolschewistischen Macht“ 233 an ihre Türe klopfte. Diese Erwartungen wurden in zeitgenössischen Memoiren bestätigt, wie die von der Dichterin S. Gippius, dem englischen Botschafter G. Buchanan sowie dem führenden KadettenPartei Mitglied V. Nabokov: „Die, die sich einen Rest von Vernunft und Sehvermögen bewahrt haben, sehen, wie all dies zu Ende geht. […] Wann genau es das Gemetzel, die Schießerei, den Aufstand, das Pogrom in Petersburg geben wird, ist noch unbestimmt. Es wird sie geben.“ 234

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wo er etwa drei Jahre an der Universität Sofia lehrte. Im Jahr 1923 kehrte er jedoch nach Russland zurück, wo er innerhalb 15 Jahren verschiedene wissenschaftliche Tätigkeiten zunächst in Moskau und danach in Leningrad ausübte; 1938 wurde er verhaftet. In der Untersuchungshaft verlor Grimm den Verstand und wurde zwischen 1939 und 1940 eines Zwangsaufenthalts in einer Psychiatrie unterzogen. Kurz nach seiner Entlassung 1940 verstarb er. Vgl. Beljaeva, O.: Ėrvin Davidovič Grimm: Sudʼba učënogo na perelome ėpoch [Schicksal des Wissenschaftlers an der Epochenwende], in: Istoričeskie zapiski 12 (2009), 308–351; Sosnickij, D./Rostovcev, E.: Grimm Ėrvin Davidovič, in: Biografika SPbGU, unter: http://bioslovhist.history.spbu.ru/component/ fabrik/details/1/343.html (letzter Abruf am 18.4.2016). Rostovtzeff bekam 23 Stimmen „für“ und 32 „gegen“; Grimm erhielt 43 Stimmen „für“ und 13 „gegen“. Vgl. Protokoll der Ratssitzung der Petrograder Universität vom 16.10.1917, 30; Krivonoženko, A.: Petrogradskij universitet 1917–1922 godach: ot universiteta imperatorskogo k universitetu sovetskomu [Petrograder Universität in den Jahren 1917–1922: von der kaiserlichen zur sowjetischen Universität] (Dissertation), St. Petersburg 2004, 52, unter: http://history.museums.spbu.ru/ (letzter Abruf am 13.12.2015). Vernadskij, V.: Dnevniki [Notizbücher] 1914–1921, Kiew 1994, 217. Ebd., 24. Vgl. ebd., 27. Rostovtzeff 1917, 3. Gippius 2014, Notiz vom 30.9.1917, 201.

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„Die Gerüchte über den bolschewistischen Aufstand gingen bereits mehrere Wochen herum und alle haben erwartet, dass er einige Tage vor dem Allrussischen Sowjetkongresses geschieht.“ 235 „[…] die Zeit verging, die Bolschewisten arbeiteten, was das Zeug hielt, und genierten sich immer weniger. Die Lage wurde von Tag zu Tag bedrohlicher. In der Stadt gingen Gerüchte um über eine in den nächsten Tagen bevorstehende Aktion der Bolschewisten, die jedermann in Aufregung und Unruhe versetzten.“ 236 Den Zustand gleichzeitiger Gewissheit und Machtlosigkeit bezeugte der Graf V. Zubov in seinem Tagebuch. Er beschrieb die letzte Sitzung des Rates für Kunstangelegenheiten, wo Rostovtzeff eine der führenden Rollen spielte. Die Mitglieder des Rates hätten gewusst, dass die Sitzung am 18. Oktober die letzte sein würde. Das Gespräch zwischen Zubov und Rostovtzeff auf dem Heimweg war ein Meinungsaustausch, wie es in diesen Tagen wohl viele gegeben hat. Es ging um die Frage, ob und für wie lange die Bolschewiki zur Macht kommen könnten. Die damalige Prognose des Althistorikers war eine der pessimistischen: „Den Bolschewiki gelingt es, die Macht zu ergreifen. Sie bleiben sehr lange und bringen viel Schaden“. 237 Seit Mitte Oktober wurde Kerenskij über die Vorbereitungen der Bolschewiki unterrichtet. Er unternahm jedoch keine entscheidenden Schritte, um die näher rückende Katastrophe zu verhindern. Hat Kerenskij die Kräfte der Provisorischen Regierung überschätzt oder die von den Bolschewiki ausgehende Gefahr unterschätzt? Eine von beiden oder beide Möglichkeiten lagen dem Zögern Kerenskijs zugrunde und das spielte Lenin in die Hände. Am 22. Oktober riskierten die Bolschewiki einen ersten, wichtigen Schritt gegen die Übergangsregierung, indem sie die Petrograder Soldaten ihrer Gewalt unterstellten und außerdem die Gegenzeichnung aller Befehle des Stabes im Petrograder Militärbezirk forderten. Die Gegenmaßnahmen der Regierung, wie die Befehle zur Schließung von zwei bolschewistischen Zeitungen und zur Ablösung der Kommissare des Revolutionskomitees, konnten den Verlauf des Aufstandes nicht mehr ändern. Bereits ein Tag später wurde von den Bolschewiki die Peter-und-Paul-Festung eingenommen. Dies war der Anfang der systematischen Besetzung strategischer Posten in der Hauptstadt. 238 Rostovtzeff erinnerte sich: „Few days before we heard the noise of rushing autos, full of soldiers, of shooting etc. At first we paid little attention to it. We gradually got used to it. This time however it was serious“. 239 Der Ablauf des Oktoberaufstandes ist heute Stunde für Stunde bekannt. Die Besetzung der strategischen Punkte der Stadt, von Post- und Telegrafenamt, der Elektrizitäts235 Buchanan, G.: Moja missija v Rossii: Vospominanija diplomata [Meine Mission in Russland: Erinnerungen eines Diplomaten], Moskau 2006, 82. 236 Nabokov, V.: Petrograd 1917, Berlin 1992, 149. 237 Zubov 2004, 46f. 238 Vgl. Altrichter 1997, 221; Hildermeier 2001, 110f. 239 Rostovtzeff 1930er, 6.

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werke sowie einiger wichtiger Brücken, das durch den Kanonenschuss des Kriegsschiffs „Aurora“ gegebene Signal für den Sturm des Winterpalais, die Verhaftung der im Malachitsaal versammelten Minister der Provisorischen Regierung und die anschließende Proklamation über das Ende des alten Regimes in Russland waren die Etappen einer „kaltblütig inszenierten Verschwörung“ 240. Michail Rostovtzeff, der Wissenschaftler und Vertreter der intelligencija, Mitglied der Konstitutionell-Demokratischen Partei, der Wissenschaftler verurteilte im Rückblick die Ereignisse der 25. und 26. Oktober auf folgender Weise: „The Bolsheviks who had summoned the cruiser Aurora to Petersburg seized the power, arrested the government and killed off the few defenders of the provisional government: a company of woman-soldiers in the Winter Palace and a little later a group of heroic cadets, who succeeded for a while, using their armored cars in seizing the Telephone Station. I will never forget what I saw this sad day. Poor heroic lads stripped of their clothes and boots marching in groups to the place of their execution – the dirty waters of the river Moika. I see a nurse rushing into the street and talking hold of a wounded youngster. Her brave action impressed ever the Bolsheviks. They let her take the lad to on of the hospitals.“ 241 Wie bekannt scheiterte der Versuch des Ministerpräsidenten Kerenskij, die regierungstreuen Truppen nach Petrograd zu holen. Die Verhaftung der Minister der Provisorischen Regierung im Winterpalais krönte am 26. Oktober den Erfolg des bolschewistischen Staatstreichs. In diesen Tagen ging das Russland, in dem der Historiker geboren und aufgewachsen war und sich Schritt für Schritt zu einem international bekannten Wissenschaftler entwickelt hatte, unter. Die Welt Rostovtzeffs existierte nicht mehr.

4.2.2 Acht Monate im bolschewistischen Petrograd Rostovtzeff verbrachte unter der Herrschaft der Bolschewiki etwa acht Monate. Diese Erfahrung prägte den Rest seines Lebens und die spätere wissenschaftliche Arbeit des Althistorikers. Die Tatsache, dass er mit seiner Frau im Sommer 1918 wohlwollend zunächst nach Europa und schließlich nach Amerika emigrieren konnte, ist einem glücklichen Zufall zu verdanken. Mehrere Umstände machten Rostovtzeffs Leben im bolschewistischen Petrograd lebensgefährlich: seine Zugehörigkeit zur Kadetten-Partei und zur bürgerlichen Schicht sowie seine öffentliche Ablehnung der Kooperation mit der neuen Machthabern und unverhohlener Hass gegen die Bolschewiki. Die Rekonstruktion dieser Monate im Leben von Rostovtzeff ist aufgrund der spärlichen Quellenlage eine schwierige Aufgabe. In den ersten zwei Monaten nach der Macht240 Vgl. Hildermeier 1989, 229. 241 Rostovtzeff 1930er, 6.

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ergreifung der Bolschewiki zeigt der Althistoriker seine politische Position noch sehr aktiv. Nachdem die Konstituierende Versammlung aufgelöst und Lenins Partei gestärkt wurde, verliert sich Rostovtzeffs Spur im Überlebenskampf. Aus diesem Grund lässt sich die Darstellung seiner letzten Zeit in Russland in zwei Perioden teilen: Ende Oktober bis Dezember 1917 und Januar bis Juni 1918. 4.2.2.1 Ende Oktober bis Dezember 1917: Die ersten Monate der bolschewistischen Herrschaft (Behauptung und Widerstand) Das Hauptziel der Bolschewiki nach der Machtergreifung war es, ihre Macht zu behaupten. Dies war im Notzustand, in welchem sich Russland befand, keine leichte Aufgabe. In der Nacht auf den 27. Oktober wurden die drei wichtigen Dekrete erlassen: über den Frieden, über das Land und den Boden sowie über die Bildung einer provisorischen Arbeiter- und Bauernregierung, des sogenannten Rates der Volkskommissare unter dem Vorsitz Lenins. 242 Die ersten Dekrete der Bolschewiki brachten ihnen zwar eine größere Zustimmung der Bauern, Arbeiter und Soldaten, bedeuteten jedoch nicht, dass die Position der neuen Machthaber sicher war. Im Gegenteil war Russlands Zukunft im Spätherbst 1917 noch lange nicht entschieden. Die Bolschewiki mussten zunächst Anarchie und Hunger und nicht zuletzt ihre zahlreichen Gegner bekämpfen. Nach dem Oktober Umsturz glaubten ‒ im Gegensatz zu Rostovtzeff ‒ viele, dass es den Bolschewiki nicht gelingen werde, die Macht länger zu erhalten. Die allgemeine Stimmung beschrieb der Petrograder Professor N. Losskij 243 so: „Die ganze gebildete Gesellschaft, die außerhalb revolutionärer Kreise stand, war sicher, dass die Partei, die sich für Lenins utopischen Plan, den Sozialismus im wirt242 Das Dekret über den Grund und Boden, das an das Agrarprogramm der Sozialrevolutionäre anknüpfte, bestimmte die entschädigungslose Enteignung des Privateigentums. Das enteignete Land sollte bis zum Zusammentreten der Konstituierenden Versammlung den Landkomitees der Bauerndeputierten übergeben werden. Die Resolution über den Frieden verkündete einen sofortigen Frieden „ohne Annexion und ohne Kontributionen“. Darüber hinaus wurde die Bereitschaft der neuen Regierung für Friedensverhandlungen bekannt gegeben. Laut dem dritten Dekret durfte der Rat der Volkskommissare nur bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung regieren. Der Rat bestand aus 15 Mitgliedern der bolschewistischen Partei. Unter dem Vorsitz Lenins übernahm Trotzkij das außenpolitische Amt, Lunačarskij das Volksbildungskommissariat und Stalin war für Nationalitätenfragen zuständig. Vgl. Stöckl, G.: Russische Geschichte, Stuttgart 1990, 651ff. 243 Nikolaj Losskij (1870–1965) war als Philosophieprofessor an der Universität St. Petersburg tätig. Er gehörte zu den bedeutendsten Repräsentanten der russischen religiösen Philosophie und war außerdem mit seinem vielfältigen sozialen und politischen Engagement (als Kadett) in Russland bekannt. Nachdem er im November 1922 aus Russland ausgewiesen worden war, setzte Losskij seine Lehrtätigkeit an verschiedenen Einrichtungen Europas und Amerikas fort. Vgl. Tribunskij, P./Sidorčuk, I./Rostovcev, E.: Losskij Nikolaj Anufrievič, in: Biografika SPbGU, unter: http:// bioslovhist.history.spbu.ru/compone-nt/fabrik/details/1/426.html (letzter Abruf am 18.4.2016).

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schaftlich rückständigen Land durchzuführen, hinreißen ließ und die aus den sich in der Praxis der Staatstätigkeit nicht auskennenden Personen besteht, sich nicht mehr als zwei–drei Wochen an der Macht halten wird. Es fingen kleine Streiks an […].“ 244 Der Widerstand gegen die bolschewistische Macht fand unverzüglich und auf mehreren Ebenen, die miteinander eng verbunden waren, statt: auf politischer, sozialer und militärischer. 245 Dabei spielten die Mitglieder der Kadetten-Partei als unversöhnliche Gegner der Bolschewiki eine führende Rolle. Die Mitglieder des Zentralkomitees V. Nabokov, S. Panina 246 und V. Obolenskij 247 traten dem in der Nacht auf den 26. Oktober gegründeten „Komitee zur Rettung des Vaterlands und der Revolution“ bei. Bestehend aus Vertretern der Petrograder Stadtduma, des Zentralexekutivkomitees des Sowjets, des Allrussischen Kongresses der Bauernsowjets, der Gewerkschaften der Bediensteten und Angestellten sowie der Kadetten und der sozialistischen Parteien koordinierte das Komitee antibolschewistische Aktivitäten, deren Ziel der Sturz der illegalen Machthaber war. 248 Der Aufruf des Komitees an das Volk, die Zusammenarbeit mit den Bolschewiki zu verweigern und sich am Kampf für die Demokratie zu beteiligen, führte zum anhaltenden Streik der Beamten und Angestellten. Lehrer, Eisenbahner, Post- und Telegrafenmitarbeiter, Bankiers sabotierten jegliche Anordnungen der Bolschewiki. Gleichzeitig unterstützte die Kadetten-Partei die in Südrussland entstehende Freiwilligenarmee. Die Parteimitglieder sammelten Gelder für sie; Miljukov reiste zur Unterstützung der antibolschewistischen Kämpfer Anfang November in das Don-Gebiet.

244 Losskij, N.: Vospominanija. Žiznʼ i filosofskij putʼ [Erinnerungen. Leben und philosophischer Weg], München 1968, 203f. 245 Vgl. Hildermeier, M.: Russische Revolution, Frankfurt am Main 2004, 100. 246 Die Gräfin Sofija Panina (1871–1956) war im zaristischen Russland für ihre Wohltätigkeit bekannt. Nach der Februarrevolution wurde sie politische aktiv: Im Frühjahr 1917 wurde sie in Petrograder Stadtsduma und in das Zentralkomitee des Kadetten-Partei gewählt. Als einzige Frau trat sie der Provisorischen Regierung bei: zunächst als stellvertretende Ministerin für Staatsfürsorge und später für Bildung. Im November 1917 wurde sie von den Bolschewiki verhaftet, weil sie sich geweigert hatte, das Geld des Bildungsministeriums der neuen Macht zu übergeben. Sie wurde jedoch im Dezember frei gelassen und reiste nach Südrußland, um die Weiße Bewegung zu unterstützen. 1920 emigrierte sie zuerst nach Tschechoslowakei und schließlich in die USA. Vgl. Biographie von S.V. Panina, in: Das Internet-Museum der Gräfin S.V. Panina, unter: http://sof-panina.ru/biogr. htm (letzter Abruf am 31.3.2016); Lindenmeyr, A.: The First Soviet Political Trial: Countess Sofia Panina before the Petrograd Revolutionary Tribunal, in: The Russian Review 60 (2001), 505–525. 247 Vladimir Obolenskij (1869–1950) war seit 1905 Mitglied der Kadetten-Partei und seit 1910 das Mitglied des Zentralkomitees; er war außerdem als Abgeordneter in der ersten russischen Staatsduma (1906) tätig. In der Kadetten-Partei gehörte er dem linken Flügel an. Nach dem Oktoberumsturz kämpfte er gegen die Bolschewiki, z. B. als Mitglied des Komitees zur Rettung des Vaterlands und der Revolution sowie seit dem Dezember 1917 als Unterstützer der antibolschewistischen Bewegung auf der Krim. 1920 emigrierte er. Vgl. Volobuev 1993, 239f. 248 Vgl. Pipes 1992, 320f.

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In Petrograd versammelte sich das Zentralkomitee der Kadetten in den nächsten zwei Wochen nach dem Umsturz täglich in wechselnden Privatwohnungen der Mitglieder. In den Aufrufen der Partei vom Oktober, November und Dezember 1917 verurteilten die Kadetten die gewaltsame Ergreifung der Macht durch Lenins Anhänger und forderten die Bürger auf, den Bolschewiki zu widerstehen.  249 Michail Rostovtzeff leistete auch seinen Beitrag im antibolschewistischen Kampf. Er äußerte sich jedoch nicht in einer aktiven Teilnahme an politischen Maßnahmen seiner Partei und überhaupt nicht in Aktionen zur Unterstützung der entstehenden Weißen Armee. 250 Sein Ressentiment gegen die Bolschewiki zeigte sich im Arbeitsalltag des Althistorikers. In zeitgenössischen Memoiren taucht Rostovtzeff nach den Ereignissen vom Oktober 1917 am 10. November wieder auf. Es war die Abendsitzung der Akademie der Wissenschaften, auf welcher die wiederkehrenden Unruhen um den zaristischen Weinkeller in der Ermitage und Maßnahmen zum Schutz der Denkmäler diskutiert worden waren. Anwesend waren auch die Mitglieder der noch unter der Provisorischen Regierung ins Leben gerufene Kommission für Denkmalschutz und Museumsarbeit. Die Meinungen über die weitere Tätigkeit waren gespalten: Einige unter der Führung des Kunsthistorikers Benois waren zur Rettung der Kunstschätze bereit, mit der neuen Regierung zusammenzuarbeiten. Andere, unter der Leitung von Rostovtzeff, lehnten jeden Kompromiss mit den Bolschewiki ab und weigerten sich, „zu diesen Halunken und Schuften zu gehen“. 251 A. Benois rief die Kollegen auf, die politischen Ereignisse objektiv zu beurteilen und als Wissenschaftler eine gewisse Neutralität zu bewahren. Den Aufruf richtete Benois, nach seiner eigenen Aussage, „direkt an den zornigen, sehr wütenden, mich kaum begrüßenden M. I. Rostovtzeff“. 252 Unter Akademikern entstand die Idee, eine Art „weißer Garde“ 253 zum Denkmalschutz zu bilden. Benois, der gegen diese Idee war, wurde nun von Rostovtzeff unterstützt. Der Althistoriker, der „vor Hass gegen die Bolschewiki ganz brannte“ 254, hat direkt erklärt, dass eine solche Maßnahme für die Bolschewiki von Vorteil wäre, weil „sie sich die Aufgabe gestellt hatten, die intelligencija auszurotten“. 255

249 Vgl. Šelochaev 1997, 5. 250 Die Weiße Armee bildete sich im Winter 1917/18 aus den Teilen des russischen Heeres und verschiedenen antibolschewistischen Gruppen. Sie stellte zu keinem Zeitpunkt des Bürgerkrieges eine Einheit dar und wurde von mehreren Generälen (Kornilov, Alekseev, Denikin, Kolčak) sowie kosakischen Hetmans (Kaledin, Krasnov) geführt. Im Bürgerkrieg kämpfte sie gegen die bolschewistischen Truppen, auch als die Rote Armee bekannt. Vgl. Torke 1993, 54–57. 251 Benois 2006, 491. 252 Ebd., 488. In Petrograd sprach man zu diesem Zeitpunkt über eine enge Zusammenarbeit Benois mit dem Kommissar für Bildung Lunačarskij. 253 Ebd. 254 Ebd. 255 Ebd.

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Am 14. November notierte V. Vernadskij Rostovtzeffs Worte über den „Selbstmord (kulturellen Tod)“ 256 unter der neuen Macht. Am nächsten Tag nahm der Althistoriker an der Sitzung der Alliance Française teil, bei der er darauf hinwies, dass er die gegenwärtige politische Entwicklung bereits vor zwei Monaten in einem der Aufsätze vorausgesagt habe. 257 Die Mehrheit der Petrograder Wissenschaftler weigerte sich, die Macht der Bolschewiki zu akzeptieren und leistete Widerstand, indem sie alle Annäherungsversuche des Volkskommissars für Bildung entschieden ablehnten und nach den alten Vorschriften weiter arbeiteten. Dieser Boykott war in den ersten Monat nach dem Umsturz erfolgreich. Es folgte zunächst eine Reihe offizieller Aufrufe gegen die Machtergreifung durch die Bolschewiki. Am 18. November 1917 wurde die außerordentliche Gesamtkonferenz der Russischen Akademie der Wissenschaften einberufen. Es wurde eine sechsköpfige Kommission ‒ inklusive Rostovtzeff ‒ gewählt, deren Aufgabe die Erarbeitung der offiziellen Stellungnahme der Akademie bezüglich des bolschewistischen Staatstreichs war. Drei Tage später, auf der zweiten außerordentlichen Sitzung, wurde der Text vorgelesen und in dieser Fassung auch durch den Rat der Petrograder Universität unterstützt: „Ein großes Unheil suchte Russland heim: Unter dem Joch der Gewalttäter, die die Macht ergriffen, verliert das russische Volk seine Persönlichkeit und seine Würde; es verkauft seine Seele und ist bereit, durch einen schädlichen und unhaltbaren Frieden die Alliierten zu verraten und sich in die Hände der Feinde zu begeben. Was bereiten für Russland diejenigen vor, die seine kulturelle Bestimmung und die Volksehre vergessen? [Sie bringen] innere Schwäche, harte Enttäuschung und Verachtung Russlands durch die Alliierten und die Feinde. Russland hat solche Schande nicht verdient: Der Volkswille überreicht die wichtige Entscheidung über Schicksale [des Volkes] der Konstituierenden Versammlung, die es [Volk] vor der inneren und äußeren Gewalt schützen, das Wachstum seiner Kultur sichern und seine Position unter aufgeklärten Staaten stärken wird. In der festen Verbundenheit erkennen die Wärter der Wissenschaft und Aufklärung seine [Volks] Kraft und verbeugen sich vor seinem Willen; sie sind bereit, mit allen ihren Kenntnissen und Kräften die große schöpferische Arbeit, die das freie Russland auf die Konstituierende Versammlung überträgt, zu unterstützen.“ 258 An der hauptstädtischen Universität wurde die Zusammenarbeit mancher Dozenten mit der neuen Macht scharf kritisiert. Diesen Personen wurde von Kollegen keine Hand 256 Vernadskij 1994, 43. 257 Vgl. Benois 2006, 507. Es handelt sich vermutlich um Rostovtzeffs Aufsatz „Wissenschaft und Revolution“ (Russkaja myslʼ 9/10 1917, 1–16). 258 Der Aufruf der Akademie der Wissenschaften vom 21.11.1917, in: Archiv RAN SPb 1/164/148, zitiert nach: Sobolev, V.: Dlja buduščego Rossii [Für die Zukunft Russlands], St. Petersburg 1999, 60.

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mehr gereicht. Mit der Hoffnung auf einen baldigen Sturz der Regierung Lenins verlief der universitäre Alltag nach der Absprache mit dem aufgelösten Ministerium für Volksbildung. 259 Der gewohnte Ablauf wurde auch in der Petrograder Akademie der Wissenschaften beibehalten. So fasste das Akademiemitglied Rostovtzeff am 29. November die wissenschaftlichen Verdienste des Papyrologen G. Cereteli 260, der zur Mitgliedschaft in der Akademie vorgeschlagen worden war, zusammen. Außerdem las der Althistoriker den Nachruf für den im Oktober verstorbenen französischen Archäologen Maxime Collignon (1849–1917) vor. 261 Seine ausführliche Darstellung des Lebens und der wissenschaftlichen Tätigkeit Collignons beendete Rostovtzeff mit den folgenden Worten: „Das einheitliche und schöne wissenschaftliche Leben, gefüllt mit Arbeit und Errungenschaften, brach im schweren und kritischen Moment des Umbruchs in der Geschichte der Weltkultur ab. Die alten Schöpfer gehen, werden an ihre Stelle die neuen treten?“ 262 Dieser Schluss enthält nicht nur Rostovtzeffs Einschätzung der entscheidenden Ereignisse des Jahres 1917, zu welchen er sicherlich den Ersten Weltkrieg sowie die beiden russischen Revolutionen zählte, sondern auch seinen tiefen Zweifel an der Zukunft der russischen Wissenschaft und Kultur. Es gab jedoch in Rostovtzeffs insgesamt pessimistischer Zukunftsprognose einen Funken der Hoffnung. Diese „letzte Hoffnung“ 263 verband der Althistoriker mit den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung. In den Augen der Intellektuellen waren diese Wahlen eine „Antwort des Landes auf die bolschewistische Revolution“ 264 und sie sollten zeigen, wer das Recht auf seiner Seite habe. Die Bolschewiki, deren Macht noch 259 Vgl. Krivonoženko 2004, 53–56. 260 Der bekannte Altphilologe und Papyrologe Grigorij Cereteli (1870–1938(9)) wurde Anfang Dezember 1917 zum korrespondierenden Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Er absolvierte die historisch-philologische Fakultät der St. Petersburger Universität, lernte die Papyrologie in Berlin. Als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Papyrologie (1919) sowie des DAI (1927) verfasste er viele Arbeiten auch auf Deutsch. Seit 1914 leitete er den Lehrstuhl der Klassischen Philologie an der hauptstädtischen Hochschule. Seit 1920 siedelte er nach Georgien über und war dort bis zur seiner Verhaftung 1937 als Professor für Klassische Philologie an der Universität Tiflis tätig. Er starb in der Haft. Vgl. u. a. Zereteli, G.: Berliner griechische Urkunden. Bd. III/5, Berlin 1900/ Bd.V/2, Berlin 1904; Papyri russischer und georgischer Sammlungen, Bd. 1–5, Tbilisi, 1925–1935; Der Koridethi-Kodex und seine griechischen Beischriften, Tbilisi 1937; Sidorčuk, I./ Rostovcev, E.: Cereteli, Grigorij (Grigol) Filimonovič, in: Biografika SPbGU, unter: http://bioslovhist.history.spbu.ru/component/fabrik/details /1/686.html (letzter Abruf am 19.4.2016). 261 Vgl. Rostovtzeff, M.: Maxime Collignon. Nekrolog (auf Russisch), in: Izvestija Rossijskoj Akademii Nauk 12 (1917), 1503–1506. Zu Colllignon vgl. Gran-Aymerich, É.: Collignon, Maxime, in: DNP Suppl. 6 (2012), 242f. 262 Vgl. ebd., 1506. 263 Rostovtzeff 1930er, 6. 264 Sorokin 1992, 100.

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sehr schwach war, riskierten zunächst nicht, sich gegen die Volksentscheidung zu stellen. Michail Rostovtzeff schrieb: „The Bolsheviks did not und could not stop the elections. They hoped, they will get the popular vote. Sixty millions voted in the most democratic elections the world has seen. And the Bolsheviks were badly beaten. They got less than 10% of the seats in the Constitutional assembly. An overwhelming majority was on the side of the milder socialists. Petersburg elected constitutional democrates.“ 265 Die Wahlen fanden am 12. November in der russischen Hauptstadt und im Laufe der zweiten Novemberhälfte in anderen Gebieten Russlands statt. Die Wahlbeteiligung lag bei mehr als 70%. Zu den absoluten Gewinnern der Wahlen wurden die Sozialrevolutionäre mit mehr als 40% der Stimmen. Die Bolschewiki bekamen etwa 24% der Stimmen und damit 168 von 703 Sitzen in der Konstituierenden Versammlung; die Kadetten-Partei erreichte landesweit keine 5%. 266 Dabei fielen die Wahlergebnisse in Petrograd und Moskau anders als im übrigen Russland aus: Die Bolschewiki schnitten dank der Unterstützung der Arbeiter und Matrosen gut ab. Auch Miljukovs Partei konnte in den beiden größten russischen Städten gute Ergebnisse erzielen und lag knapp hinter der bolschewistischen Partei. 267 Somit schien die Zukunft der Konstituierenden Versammlung sowie der Partei der Konstitutionellen Demokraten entschieden zu sein. Zunächst verschob die bolschewistische Regierung die Einberufung der Konstituierenden Versammlung auf unbestimmte Zeit. Das rief Proteste hervor: Am 28. November, dem Tag der geplanten Eröffnung der Versammlung, fanden Demonstrationen zur Unterstützung der Konstituante statt. Die Abgeordneten, die sich im Tauirischen Palais versammelten, wurden jedoch kurz darauf von Soldaten auseinandergetrieben. Schließlich wurde die Eröffnung der verfassunggebenden Versammlung auf den 5. Januar 1918 angesetzt. Diese Zeit benötigten Lenin und seine Anhänger, um ihre Gegner aus dem Weg zu räumen. Bereits in der ersten Novemberhälfte kam es im Laufe der Liquidierung des Komitees zur Rettung des Vaterlands und der Revolution sowie der Petrograder Stadtduma zu Verhaftungen der Mitglieder des Zentralkomitees der Kadetten-Partei. Am 28. November wurde Miljukovs Partei als erste politische Partei in Russland zu „Volksfeinden“ erklärt und verboten. Alle führenden Mitglieder der Partei sollten verhaftet und Militärgerichten übergeben werden. Am gleichen Tag wurden vier Kadetten ‒ die Abgeordnete der Konstituierenden Versammlung waren ‒ unter Arrest genommen. 268

265 Rostovtzeff 1930er, 6f. 266 Vgl. Hildermeier 1998, 130; Pipes 1992, 345–348. 267 Die Bolschewiki gewannen mit 47,9% die Wahlen in Moskau und mit 45% in Petrograd. Die Kadetten lagen mit 34,5% in Moskau und 26,2% in der Hauptstadt hinter Lenins Partei. Vgl. Hildermeier 1998, 130. 268 Vgl. Šelochaev 2015, 614ff.

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Dieses Dekret bedeutete nicht nur den Übergang der Partei zur illegalen Arbeit, sondern auch eine Gefahr für die konstitutionellen Demokraten: „[…] Es erschien ein Dekret, das die Mitglieder des ZK der Partei der Volksfreiheit ‚außer Gesetz‘ erklärte. Diese Worte wurden nicht weiter erläutert, aber ihre Bedeutung war quasi, dass jeder, der will, uns entweder schlagen oder töten, in jedem Fall aber verhaften konnte. Es mussten Sicherheitsmaßnahmen unternommen werden: Einige ZK-Mitglieder (Miljukov, Vinaver, Nabokov) reisten aus Petersburg ab, andere zogen zu Bekannten um, die sie versteckten.“ 269 Rostovtzeff gehörte nicht dem Zentralkomitee seiner Partei an. Der alleinige Besitz von einem Partei-Buch der Kadetten stellte jedoch schon eine Gefahr dar. 270 Rostovtzeffs aktive Rolle in der Partei der Konstitutionellen Demokraten vor dem Oktoberumsturz war kein Geheimnis in Petrograd. Selbst in der näheren Umgebung konnte es zum Verrat kommen, wie dies weniger Häuser entfernt in der Familie Nabokov geschah. Der Sohn Vladimir Nabokov, der im Haus in der Morskaja Straße 47 aufgewachsen war, erinnerte sich, wie der Pförtner Ustin „persönlich das aufständische Volk“ 271 im November 1917 zum Schmuckversteck von Nabokovs Mutter führte. Nach den November-Ereignissen wurde nicht nur ein entscheidender Schlag gegen die Kadetten-Partei geführt, sondern auch der Mehrheit der intelligencija jede Hoffnung auf eine legale Bekämpfung der Bolschewiki genommen. Petrograds prekäre Lage wurde nun durch allgemeine Stimmung der Aussichtslosigkeit weiter verschärft: „Überall in der Stadt Raub und Schießerei. (Heute bereits den achten Tag). Maschinengewehre rattern. An sie und die Orgien, die inzwischen auf Geschäfte und Häuser übergreifen, hat man sich bereits gewöhnt. Die Verwundeten und Toten sind gar so zahlreich: etwa 10 Tote und 50 Verletzte. Die Haustüren sind überall verschlossen, aber die Hoftore stehen die ganze Nacht weit offen. Die Prawda hat verkündet: ‚Offiziere, Kadetten und Bourgeoise haben die Weinkeller zur konterrevolutionären Umwandlung des Volkes in Idioten eingerichtet‘ (sic!).“ 272 Verhaftungen, Haussuchungen, Überwachungen von Mitgliedern der „volksfeindlichen“ Kadetten-Partei wurden immer häufiger. Auch im Kampf gegen den anhaltenden Streik der Beamten und Angestellten ergriff die bolschewistische Regierung härtere Maßnahmen. Dafür wurde am 7. Dezember die Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage (VČK) unter dem Vorsitz von F.

269 Obolenskij, V.: Moja žiznʼ. Moi sovremenniki [Mein Leben. Meine Zeitgenossen], Paris 1988, 565. 270 Vgl. Izgoev, A.: Pjatʼ let v Sovetskoj Rossii [Fünf Jahre im Sowjetischen Russland], in: Gessen, I. (Hg.): Archiv russkoj revoljucii, Bd. 1, Berlin 1921, 24, 271 Nabokov, V.: Dalʼnie berega [Entfernte Ufer], Moskau 2013, 47. 272 Gippius 2014, Notiz vom 5.12.1917, 256.

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Dseržinskij 273 gegründet. Zu den erstrangigen Aufgaben der Kommission zählten die Beseitigung der Sabotage und Bekämpfung der Regimegegner. Zu Maßnahmen der neuen Organisation zählten in der Anfangsphase Vermögenskonfiszierung, Zwangsräumung, Entziehung der Lebensmittelkarten, Veröffentlichung der Listen der „Volksfeinde“. 274 In Petrograd zu bleiben stellte nun eine direkte Gefahr dar. Viele Bewohner verließen die Hauptstadt. Der Althistoriker entschied sich zunächst zu bleiben. Hatte er seine Meinung über die längere Herrschaft der Bolschewiki geändert und auf einen baldigen Sturz Lenins gehofft? Hatte er keine Möglichkeit bzw. keine Mittel zur Abreise gefunden? Oder hatte er den Abschied mit seiner Heimat schlicht hinausgezögert? Die Antwort auf diese Fragen gibt Rostovtzeff in seinen autobiographischen Notizen nicht. Vielsagend für das Befinden des Althistorikers Anfang Dezember 1917 ist die Erinnerung des Kunsthistorikers Benois an das Treffen mit Rostovtzeff am dämmernden Freitagabend des 8. Dezember. Benois bestaunte einen über die Ermitage kreisenden Schwarm von Dohlen und machte den ihn begegnenden Althistoriker darauf aufmerksam: „Rostovtzeff […] wunderte sich auch über den Anblick [und fragte:] ‚Warum sind sie so?‘ ‒ ‚Offensichtlich bereiten sie sich zum Festmahl‘, [antwortete Benois] ‒ ‚Ja, ja, wir werden dem nicht entgehen; wobei ich vergessen habe, dies droht nur mir, Sie aber sind sicher, da Sie ihre Gnade genießen‘. ‒ ‚Wenn es dazu kommt, dann sind wir zusammen‘, ‒ das waren meine letzten Worte dieses kuriosen Dialogs. Das ganze Bild prägte sich tief in mein Gedächtnis: Und die kreisenden Dohlen über uns, und das kalmückische listige und traurige, mich von unten nach oben beobachtende Gesichtchen von Michail Ivanovič, und seine untersetzte Figur, und die Festungsspitze auf der anderen Seite des weißen Feldes der Newa, und der traurige Petersburger Horizont […].“ 275 Die Wissenschaft wurde für Rostovtzeff, wie für viele seiner Kollegen, zur Zufluchtsstätte jenseits von traurigem Alltag. 276 Der Althistoriker widmete sich eifrig seinen wissen273 Die Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage (VČK) stellte eine frühere Form der sowjetischen Geheimpolizei dar, deren Befugnisse im Laufe des Bürgerkrieges stark ausgedehnt wurden. Sie wurde u. a. zum Instrument des Roten Terrors. Feliks Dseržinskij (1877–1926), der aus dem polnischen Kleinadel stammte, schloss sich bereits in den jungen Jahren den linken Sozialdemokraten und widmete sein Leben der illegalen politischen Arbeit. Es folgten lange Jahre der Gefängnisaufenthalte und Verbannungen. Nachdem er sich 1907 der bolschewistischen Partei angeschlossen hatte, gehörte er zum ständigen Mitglied deren Zentralkomitees. Dseržinskij spielte einer der führenden Rollen beim Oktoberumsturz. Als Vorsitzender der VČK blieb er in Erinnerungen der Zeitgenossen als grausamer Vertreter der Machthaber. Bis zu seinem Tod bekleidete er verschiedene Posten im Sowjetstaat: vom Volkskommissar für Inneres und Verkehr bis zum Vorsitzenden des Volkswirtschaftsrat. Dabei leitete er weiterhin die sowjetische Geheimpolizei. Vgl. Torke 1993, 90, 75f. 274 Vgl. Ratkovskij, I.: Krasnyj terror i dejatelʹnostʹ VČK» [Der roter Terror und die Tätigkeit der VČK], St. Petersburg 2006, 19–28; Medwedjew, R.: Oktober 1917, Hamburg 1979, 130f. 275 Benois 2004, 574. 276 Vgl. Vernadskij 1994, 32.

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schaftlichen Verpflichtungen. Das für seine Recherchen notwendige Material versuchte er sich mit allen Mitteln zu verschaffen, wie dies der Brief an seinen Freund Vjačeslav Ivanov vom 27. Dezember bestätigt: „Lieber Vjačeslav Ivanovič! Ich habe gehört, dass Sie wieder in Moskau sind, und wollte fragen, ob Sie mir irgendwie, zum Beispiel per Post, den zehnten Band der Oxyrhynchus Papyri übermitteln könnten. Ich brauche ihn sehr. In Petersburg gibt es kein zweites Exemplar. Wie geht es Ihnen? Wie vertragen Sie den Zerfall? Wenn Sie Zeit finden, schreiben Sie mir ein paar Worte. Ich würde Sie gerne treffen, damit wir uns unterhalten können. Aber das ist offenbar etwas aus einem Traumland. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es Zeiten in der Geschichte gab, in denen es den Menschen noch schlechter ging. Es ist jedoch kaum möglich, eine Epoche zu finden, in der sich so viel Niedertracht an einem Ort konzentrierte. Wir halten einen Rekord. Alles Beste. Ihr ergebener M. Rostovtzeff.“ 277 Der Winter 1917/18 zeichnete sich durch außerordentlich niedrige Temperaturen aus. Die Zeitgenossen erinnerten sich an den kalten und dunklen ‒ aufgrund der unregelmäßigen Stromversorgung ‒ Silvester. 278 Am Ende des revolutionären Jahres 1917 fror höchstwahrscheinlich auch Michail Rostovtzeff. Der Althistoriker musste jedoch noch nicht hungern: Laut dem Protokoll der Sitzung des Rates der Universität Petrograd konnten alle Gehälter dem gesamten Personal im Dezember ausbezahlt werden. Jedoch befand sich die hauptstädtische Hochschule bereits in einer sehr schwierigen finanziellen Lage. Die Prognosen für das kommende Jahr 1918 waren kritisch. 279 4.2.2.2 Januar bis Juni 1918 Zur Darstellung Rostovtzeffs letzter Monate in Russland werden seine politischen Artikel aus den ersten Emigrationsjahren herangezogen. Dies ist zu einem durch das Ausbleiben der politischen Publizistik des Althistorikers in der ersten Hälfte 1918, zum anderen durch die aufschlussreichen Hinweise auf Rostovtzeffs eigene Erlebnisse im bolschewistischen Staat in diesen Schriften zu begründen.

277 Brief M. Rostovtzeffs an V. Ivanov vom 27.12.1917, in: Bongard-Levin 1997, 252. 278 Vgl. u. a. Sorokin 1992, 101f; Gippius 2014, 263–267. 279 Vgl. Protokoll der Ratssitzung der Petrograder Universität vom 18.12.1917, 7; Balašov, E. (Hg.): Materialy po istorii Sankt-Peterburgskogo Universiteta 1917–1965 [Quellen zur Geschichte Sankt Petersburger Universität], St. Petersburg 1999, 12f.

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4.2.2.2.1 Rostovtzeffs Alltag a) Entscheidung, das Heimatland zu verlassen Die rasche Verschlechterung der politischen Lage im Lande bereits im ersten Monat des Jahres 1918 brachte den Althistoriker schließlich zur Entscheidung, Russland zu verlassen. Michail Rostovtzeff beschrieb genau zwei Ereignisse in der ersten Januarhälfte, die diese Entscheidung stark beeinflussten. Das waren die endgültige Auflösung der Konstituierenden Versammlung und die grausame Ermordung der zwei Kadetten-Minister F. Kokoškin und A. Šingarev. Die Konstituierende Versammlung wurde am 5. Januar eröffnet. Im Taurischen Palais versammelten sich mehr als 400 Abgeordnete. Die Mehrheit bildeten mit 240 Sitzen ‒ doppelt so viel wie bei den Bolschewiki ‒ die Sozialrevolutionäre. Die Kadetten als „feindliche Partei“ fehlten vollständig. Lenin und seinen Anhängern gelang es nicht, den Verlauf der Sitzung unter ihre Kontrolle zu bringen: Es wurde sowohl der bolschewistische Antrag auf die Proklamierung Russlands als Sowjetrepublik und die nachträgliche Sanktionierung aller sowjetischen Dekrete als auch die von den Bolschewiki vorgeschlagene Kandidatur einer linken Sozialrevolutionärin zur Vorsitzenden der Konstituierenden Versammlung durch Abstimmung abgelehnt. Die Delegierten der bolschewistischen Partei und kurz danach auch der linken Sozialrevolutionäre verließen daraufhin die Versammlung. 280 Der gewählte Vorsitzende V. Černov ‒ der Führer der Sozialrevolutionäre und der ehemalige Landwirtschaftsminister in der Provisorischen Regierung ‒ leitete die Verhandlungen der verbleibenden Abgeordneten, die bis zum Morgengrauen andauerten. Schließlich wurden die Beschlüsse über einen sofortigen Waffenstillstand und anschließenden „gerechten“ Frieden, die Abschaffung des Privatbesitzes an Grund und Boden sowie über die Ausrufung einer demokratischen föderativen Republik gefasst. 281 Dies entsprach jedoch nicht dem bolschewistischen Plan. Rostovtzeff beschrieb dieses entscheidende Ereignis wie folgt: „If the Bolsheviks were honest they would submit to the will of the people. However they cared very little for it. […] Lenin finally made a decision. The day of the first regular meeting he sat in a box at the Palace, hiding behind his comrades, laughing a diabolical laugh when speeches were delivered and still more when a group of armed sailors bid the deputies leave the house. No doubt he also laughed when a procession of intellectuals of many thousands which moved to support the assembly was shot at and disperced by his faithful soldiers.“ 282

280 Vgl. Hildermeier 1998, 131f; Luks 2000, 72f; Rauch von, G.: Geschichte des sowjetischen Russland, Frankfurt am Main 1963, 77f. 281 Vgl. Altrichter 1997, 248–251. 282 Rostovtzeff 1930er, 7f.

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In der Tat wurde die Konstituierende Versammlung am nächsten Tag durch das Dekret des Rates der Volkskommissare aufgelöst. Den Abgeordneten, die am 6. Januar ihre Arbeit fortsetzten wollten, wurde der Zugang zum Palais von bewaffneten Truppen versperrt. Auch die Demonstration zur Unterstützung der Konstituierenden Versammlung, die aus etwa 50 bis 60 Tausend Menschen ‒ meist Studenten, Angestellten und anderen Vertretern der intelligencija ‒ bestand, blieb ohne jede Wirkung. Das Mitglied des Zentralkomitees der Kadetten-Partei A. Izgoev 283 nahm an der Manifestation teil und berichtete enttäuscht: „[…] ich erinnere mich sehr gut, dass ich während der ganzen vier Stunden, die ich in den Reihen der Manifestanten verbrachte, keine einzige Sekunde zweifelte, dass nichts passieren wird, dass dies nur ein feierliches Begräbnis ersten Ranges ist. In der Menge ließ sich kein Enthusiasmus merken. Kein Feuer der Selbstaufopferung wehte über die Menschenmenge, obwohl deren [Menschenmenge] Zusammentreffen mit bolschewistischen Truppen an zwei–drei Stellen durch die Schießerei mit Verletzten und Toten begleitet wurde. Für die ‚Konstituierende Versammlung‘ wollte niemand sterben. […] [Das war] der hundertjährige Traum mehrerer Generationen der intelligencija. Was ist aus ihm geworden?“ 284 Die anschließend erfolgte Ermordung von zwei Kadetten-Ministern der Provisorischen Regierung rief das Entsetzen in der Hauptstadt hervor. In der Nacht vom 6. auf den 7. Januar wurden F. Kokoškin und A. Šingarev 285, die aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes aus der Peter-und-Paul-Festung in das Mariinskij Gefängniskrankenhaus verlegt worden waren, von einer Gruppe von Rotgardisten und Matrosen brutal überfallen. Diese Episode spiegelte sich in Rostovtzeffs Notizen wider:

283 Alexander Izgoev (Aron Lande; 1872–1935) gehörte dem rechten Flügel der Kadetten-Partei an und unterstützte den außenpolitischen Kurs Miljukovs. Zusammen mit Struve gründete er die „Liga der russischen Kultur“; nach der Oktoberrevolution gab er zusammen mit Tyrkova-Williams die Zeitung „Kampf“ [borʼba] heraus, in der zum bewaffneten Widerstand gegen die Bolschewiki aufgerufen wurde. In der Sowjetrepublik wurde Izgoev mehrmals verhaftet und im November 1922 mit anderen Schriftstellern, Wissenschaftlern und Journalisten aus dem Land ausgewiesen. Vgl. Volobuev 1993, 122f. 284 Izgoev 1921, 24f. 285 Fëdor Kokoškin (1871–1918) lehrte als Professor für Staatsrecht an der Moskauer Universität und war außerdem in der zemstvo-Bewegung aktiv, er wurde in die I. Staatsduma gewählt und galt in der Kadetten-Partei als Fachmann auf dem Gebiet der Nationalitätenkonflikte. Nach der Februarrevolution wurde er zum Vorsitzenden des Juristischen Rates; nach der Oktoberrevolution nahm er an den Vorbereitungen der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung aktiv teil. Andrej Šingarev (1869–1918) war Mitglied des Bundes der Befreiung und Abgeordneter der II.–IV. Staatsduma. In der Provisorischen Regierung leitete er nacheinander das Landwirtschafts- und Finanzministerium. Kokoškin und Šingarev wurden in die Konstituierende Versammlung gewählt; am 28. November, dem Tag der Eröffnung der Versammlung, wurden sie verhaftet. Vgl. Volobuev 1993, 155f.; 359f.

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„A few days later came the treacherous murder in the hospital of the leaders of the Russian democrats, the noble Shingarev und Kokoshkin, sick in bed. With this murder the illegal gouvernement of the Bolsheviks was finally established: from treachery to murder, from murder to treachery! And how much more was to follow!“ 286 Der letzte Versuch, die Bolschewiki mit legalen politischen Mitteln zu besiegen, scheiterte am 6. Januar. Die oppositionellen Kräfte schlossen sich den Truppen der Kosaken und Generäle im Dongebiet und an der mittleren Wolga an, um Lenins Herrschaft nun militärisch zu beseitigen. Dort bildete sich der Ausgangspunkt für den blutigen Bürgerkrieg. 287 Die in der Hauptstadt Verbliebenen mussten die Etablierung eines „echten Bolschewismus der breiten Massen“ 288 miterleben. Kurz nach den geschilderten Ereignissen wurde die durch die Konstituierende Versammlung abgelehnte „Deklaration der Rechte des werktägigen und ausgebeuteten Volkes“ 289 auf dem III. Allrussischen Sowjetkongress angenommen. Somit war die Sowjetrepublik unter der Leitung der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernregierung proklamiert. b) Lenins „blutloser“ Terror Inzwischen verschlechterte sich die Lebenssituation in der neuen Sowjetrepublik erheblich. Die gezielte Klassenverhetzung, die ihren Höhepunkt in der Selbstjustiz gegenüber den Kadetten-Ministern gefunden hatte, breitete sich weiter aus. In der neuen Ordnung wurde Rostovtzeffs Milieu nun zur unterdrückten Klasse. Das neue Schimpfwort „buržuj“ ‒ das russische Pendant zu „Bourgeois“ ‒ charakterisierte u. a. den Althistoriker, der seinen Unterhalt mit der intellektuellen Arbeit bestritt. Der Prozess der Ersetzung der alten russischen Eliten durch die neuen wurde von Erniedrigungen jeglicher Art begleitet. Der Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten Lev Trotzkij schrieb: „Jahrhundertelang haben unsere Väter und Großväter den Dreck der herrschenden Klasse weggemacht, jetzt werden wir dafür sorgen, dass sie unseren Dreck wegmachen. Ihr Leben muss so unbequem werden, dass sie die Lust verlieren, bourgeois zu bleiben.“ 290 Die Maßnahmen der bolschewistischen Regierung gegen die ehemaligen gehobenen Schichten hatten zum Ziel die Unzufriedenheit der Bevölkerungsmassen mit der katast286 Rostovtzeff 1930er, 8. 287 Vgl. Hildermeier 1998, 134–137. 288 Sokolov, B.: Zaščita Vserossijskogo Učreditelʼnogo sobranija [Die Verteidigung der Allrussischen Konstituierenden Versammlung], in: Gessen, I. (Hg.): Bd. 13, Berlin 1924, 54. 289 Der Text in Altrichter, H.: Die Sowjetunion, Bd. 1, München 1986, 140–143. 290 Trockij, L.: Sočinenija [Werke], Bd. 17/1, Moskau 1925–1927, 290f, zitiert nach: Figes 2014, 126.

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rophalen Lebenslage in den Griff zu bekommen und den Rest der oppositionellen Kräfte zu demütigen und zu vernichten. Zunächst wurde den bürgerlichen Schichten die wirtschaftliche Sicherheit beraubt. Die Basis bildeten die bolschewistischen Dekrete: von dem Dekret über die Enteignung des Privateigentums (26. Oktober 1917) über die Nationalisierung der Privatbanken (14. Dezember 1917) und die Konfiszierung des Aktienkapitals der ehemaligen Privatbanken (26. Januar 1917) bis hin zum Verbot der Veräußerung des städtischen Grundbesitzes (14. Dezember 1917) und dessen anschließende Enteignung (24. August 1918). Eine begrenzte Geldabhebung von Privatkonten sowie Durchsuchungen und Konfiszierungen von Schließfächern erschwerten den Überlebenskampf. 291 Zudem kamen immer neue Beschlüsse, die das Leben der „Expropriateure“ noch unerträglicher machten. Bereits am 8. Januar wurde überall in Petrograd ein Befehl ausgehändigt, dem zufolge alle Erwachsenen zwischen 18 und 50 Jahre zum Schneeräumen verpflichtet waren. Die Anfertigung von Listen der arbeitsfähigen Bewohner lag in den Händen der Hauskomitees, die überwiegend aus der Arbeiterklasse zusammengesetzt worden waren. Daher ist nicht verwunderlich, dass die Zuständigen ihre ehemaligen Arbeitgeber zu solchen Arbeiten schadenfroh bestimmten. Als Gegenmaßnahme wurde versucht, sich ein ärztliches Attest über die Unfähigkeit zur schweren Tätigkeit rechtzeitig zu besorgen. 292 Genauso erfinderisch mussten die Vertreter der intelligencija bei anderen Maßnahmen des „gegenwärtigen Wahnsinns“ 293 sein. Es ging um die „sofortige Unterbringung der Arbeiter in bürgerlichen Wohnungen“ 294. Angefangen als Gerücht und mit vereinzelten Einquartierungen im Januar–Februar 1918 wurde die Verdichtung der Wohnungsfläche spätestens seit Frühlingsanfang zur Realität. Durch das Dekret vom 1. März 1918 wurde die Wohnungsfläche streng normiert: Für einen Erwachsenen wurde nicht mehr als ein Zimmer festgelegt. Dabei wurden zwei Kinder bis zehn Jahren einem Erwachsenen angeglichen. Demzufolge sollten Arbeiterfamilien in die Wohnungen der wohlhabenden Menschen einziehen. Die Miete für die konfiszierte Fläche fiel zu Lasten der ehemaligen Mieter.  295 Es gibt zurzeit keine Nachweise bezüglich des Schicksals der Wohnung Rostovtzeffs. Wenn man jedoch bedenkt, dass der Historiker mit seiner Frau sechs Zim-

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Vgl. Rosenfeld, G.: Geschichte der Sowjetunion, Berlin 1961, 135ff; Pipes 1992, 559. Vgl. Benois 2006, 659–663. Ebd., 685. Gippius 2014, Notiz vom 16.2.1918, 325. Dass diese Maßnahme einen Propagandacharakter hatte, zeigte die Wohnungszählung vom Mai– Juni 1918. Es wurden 8.258 freie Wohnungen in Petrograd ermittelt. Die Wohnungen im Stadtzentrum waren von Fabriken weit entfernt. Aufgrund eines schlecht funktionierenden öffentlichen Verkehrs und der Kraftstoffkrise bevorzugten die Petrograder Arbeiter Holzhäuser am Rande der Stadt. Dort konnten sie Nutzgärten organisieren und zur Beheizung brauchte man weniger Holz. Vgl. Knjazev, G.: Iz zapisnoj knižki russkogo intelligenta za vremja vojny i revoljucii [Aus dem Notizbuch eines Intellektuellen in der Zeit des Krieges und der Revolution] 1918, in: Russkoe prošloe 4 (1993), 132f; Tunkina 2002, 126.

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mer besaß, kann man die Möglichkeit nicht ausschließen, dass bis zu vier Mitbewohner in seine Wohnung einquartiert werden konnten. Die Betroffenen versuchten, Verwandte oder Bekannte in die Zimmer, die nach bolschewistischen Normen überflüssig waren, einzuquartieren. Es ist unbekannt, wie Rostovtzeff dieses Problem, vor dem er sicherlich spätestens seit dem März 1918 stand, löste. Der Althistoriker musste aber ‒ seinen späteren Aussagen zufolge ‒ sowohl von der Zwangsarbeit als auch von der Einquartierung in irgendeiner Weise betroffen sein. Das wird von Rostovtzeff selbst in seinem kurz vor der deutschen Novemberrevolution 1918 erschienenen Aufsatz „Praxis und Ziele des Bolschewismus“ 296 bestätigt. Der Aufsatz, der einen Aufruf an die Alliierten zur Bekämpfung des Bolschewismus sowohl in Russland als auch in Deutschland darstellt, beschreibt im ersten Teil die Methoden der bolschewistischen Herrschaft in Rostovtzeffs Heimat. Diese Methoden werfen Licht auf den ansonsten unbekannten Alltag des Althistorikers im Jahr 1918. „Ich habe das innerhalb der acht Monate persönlich gesehen und an meinen Freunden und Bekannten sowie am eigenen Leibe erfahren“ 297, schreibt Rostovtzeff. Rostovtzeff nennt die wichtigsten Methoden der „militärischen Tyrannei“ 298 ­der Bolschewiki. Dazu würden drei Arten der „Auszehrung“ 299 gehören: wirtschaftliche, physische und moralische. Die wirtschaftliche Auszehrung hätte diejenigen eingeholt, „die irgendwas besaßen, dank persönlicher schwerer intellektueller Arbeit auskömmlich lebten“. 300 Neben der Kontrolle der Banken, der Konfiszierung der Aktienpapiere und Wertsachen aus Tresoren, der Vernichtung der Industrie 301 sowie der Enteignung des Landes und der Häuser nennt Rostovtzeff auch solche Maßnahmen, die erst nach seiner Abreise ihre Verbreitung fanden, wie etwa die Geiselnahme der Verwandten. Die physische Auszehrung würde mittels der Zwangsarbeiten, der Beschlagnahmung von Lebensmitteln und des Ausverkaufs dessen, was noch übrig geblieben sei, erreicht. Parallel verlief die moralische Auszehrung, deren Ziel der Verlust von Selbstbewusstsein der Intellektuellen wäre: „Die hungernde, sterbende intelligencija war unbeschreiblichen moralischen Foltern ausgesetzt. […] Dafür wurden alle Mittel benutzt, wie die erniedrigende militärische Einquartierung: der Einzug grober, schmutziger, anspruchsvoller und 296 Vgl. Rostovtzeff, M.: Praktika i celi bolʼševizma [Praxis und Ziele des Bolschewismus], Oktober– November 1918, in: Yale University Library 1113/1/14/139, abgedruckt in: Tunkina 2002, 41–48. 297 Ebd., 42. 298 Ebd., 41. 299 Ebd. 300 Ebd., 42. 301 Mit der am 27. November 1917 eingeführten Arbeiterkontrolle wurde die bereits seit der Oktoberrevolution weit verbreitete Einmischung der Arbeiter in Produktion- und Verwaltungsabläufe in Betrieben institutionalisiert. Dafür wurden spezielle Komitees mit Kontrollfunktion von Arbeitern gewählt. Die Tätigkeit dieser Kontrollorgane trug zur Zerstörung der Betriebe bei. Zudem verlief die Nationalisierung der Großunternehmen. Vgl. Altrichter 1987, 36f; Torke, H.-J.: Historisches Lexikon der Sowjetunion, München 1993, 28f, 114; Hildermeier 1998, 124–127.

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betrügerischer Menschen. […] Die andere Lieblingsmethode war der Zwang der weniger geeigneten Personen ohne jede Notwendigkeit zur schweren und schmutzigen Arbeit. Ich kann Medizinprofessoren nennen, die gezwungen waren, den Mist in Kasernen wegzuräumen, und Künstler, die nachts Gräber für Gefangene außerhalb der Stadt graben sollten. Verhaftungen, Konfiskation der Klaviere und der Privatbibliotheken, ständige Durchsuchungen ohne jeden Grund und mit dem Raub und der Verhöhnung, dann die Inhaftierung und Forderung nach Anerkennung der neuen Macht unter der Androhung der Erschießung […] wurden zum notwenigen Lebensaccessoire jedes Vertreters der intelligencija […].“ 302 Die in Russland entstandene Ordnung bezeichnete Rostovtzeff als Lenins „System des ‚blutlosen‘ Terrors“. 303 Die russische Gesellschaft hätte sich dabei in zwei Gruppen aufgeteilt: „in satte, reich werdende Verräter und in hungernde, sterbende ehrliche Menschen“. 304 Die letzten, die sich der bolschewistischen Regierung nicht unterwerfen wollen, seien zum Aussterben verdammt. Die Petrograder litten in der Tat immer stärker an Hunger, da sich die Getreidevorräte schnell erschöpften. Die sowjetische Macht war nicht in der Lage die Getreideversorgung der Hauptstadt zu organisieren. Der entsprechende Versorgungsplan der bolschewistischen Regierung konnte in Petrograd und Moskau im Januar nur zu 7% und im Februar zu 16% erfüllt werden. 305 Das Brot, das mit Stöckchen und Stroh vermischt war, wurde unregelmäßig ausgegeben. Die tägliche Portion schwankte im Januar und Anfang Februar 1918 zwischen etwa 60 und 130 Gramm pro Kopf. 306 Der Kampf gegen den Hunger wurde nun zur Hauptbeschäftigung der hauptstädtischen Bevölkerung: „[Es ist] ermüdend, dass man überall über Essen spricht. Und denkt natürlich auch. Anderes ist unmöglich. Wie dies das Bewusstsein sinken lässt. Jetzt können wir uns alle vorstellen, wie viel Platz die Gedanken über das Essen im Gehirnen des größten Teils der Menschen annehmen.“ 307 Auch der Althistoriker stellte keine Ausnahme dar. Rostovtzeff konnte sich gut an die Hungerzeiten erinnern: „I know what it means to get 1/8 lb. of bread per diem, how terrible it is to think of nothing but food all day, to run about from morning till night looking for illegal sellers of foodstuffs. I know how deeply demoralising is the necessity of obtaining

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Rostovtzeff 1918, 42f. Ebd., 43. Ebd. Vgl. Medwedew 1979, 152. Vgl. Benois 2006, 660; Gippius 2014, 306. A. Tyrkovas Notiz vom 27.1.1918, in: Kaniščeva 2012, 213.

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unheard-of sums of money in order to buy food for oneself and oneʼs family, how politics and morality shrink into background at the masterful voice of famine.“ 308 Es gab kein Brot. Aber wenn es davon genug gäbe, hätte man es ohnehin nicht bezahlen können. In der ersten Hälfte des Jahres 1918 stieg die Geldmenge im sowjetischen Russland um 60%, und die Preise stiegen sogar um 327%. 309 Um zu überleben, wurde alles verkauft, was noch in Besitz übrig blieb: Man bekam 5.000 Rubel für eine Diamantbrosche, ein Betrag, der schließlich für einen Sack Mehl reichte. 310 Danach standen die Intellektuellen entlang den Petrograder Straßen und verkauften Zeitungen, Gebäck und Kleinkram. Im Unterschied zum organisierten bolschewistischen Terror, der sich seit der zweiten Hälfte 1918 verbreitete, wurde zu diesem Zeitpunkt mit den Volksfeinden oft in Form der wilden Selbstjustiz abgerechnet. Unter die Bezeichnung „buržuj“ konnte jeder gepflegt gekleidete Petrograder fallen. Die Gewalttaten in den ersten Monaten der bolschewistischen Herrschaft waren unberechenbar und besonders brutal. So berichtete die Zeitung „Naš vek“ (die umbenannte „Reč“) am 24. Januar 1918 über den Überfall auf den bekannten Kritiker F. Batjuškov. Als er gegen 11 Uhr abends von der Sitzung des Schriftstellerverbandes auf dem Weg nach Hause war, wurde er von drei unbekannten Personen angehalten und durchgesucht. Als der Kritiker sich zu wehren versuchte, wurde er angeschossen und schwer verletzt. Dieser und ähnliche Vorfälle stellten den neuen Alltag des Althistorikers dar. Die Bolschewiki hatten zum Ziel ‒ wie dies in einer bolschewistischen Zeitung formuliert worden war ‒, „der Bourgeoisie endgültig den Garaus [zu] machen“ 311. Dazu kamen unzählige Nachtdurchsuchungen bürgerlicher Häuser mit Lebensmittelkonfiskationen und unverhohlenem Raub. Dies alles traf ohne Zweifel auch Rostovtzeff, der sich zu diesem Zeitpunkt endgültig gegen eine solche Existenz entschied: „My desicion was formed. I was not willing to see the work of my life destroyed, and worse than that, to be forced to take part in this destruction. I tried hard to get out of the country“. 312 Für die Abreise brauchte er zunächst offizielle Papiere der neuen Macht sowie Geld. Am 17. Januar 1918 stellte der Historiker bei der Sitzung der Akademie der Wissenschaften den Antrag auf seine „Kommandierung für die wissenschaftliche Arbeit ab dem 1. April für sechs Monate in Museen und Bibliotheken Schwedens und Englands“. 313 Die rasch wachsende Inflation machte Rostovtzeffs Professorengehalt an der Universität wertlos. Der Wissenschaftler suchte nach anderen Geldquellen. Er drängte darauf, 308 Rostovtzeff, M.: Feeding Russia, in: The New Europe 11 (1919), 64. 309 Vgl. Jurovskij, L.: Denežnaja politika sovetskoj vlasti [Geldpolitik der sowjetischen Macht] (1917– 1927), Moskau 1928, 72. 310 Figes 2008, 561. 311 Gippius 2014, Notiz vom 23.2.1918, 335. 312 Rostovtzeff 1930er, 8. 313 Protokoll der Sitzung der Russischen Akademie der Wissenschaften vom 17.1.1918. Abteilung der historischen Wissenschaften und Philologie, in: OR RNB 117/135, 10.

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seine wissenschaftlichen Schriften publizieren zu lassen. In einem Brief an die Verleger vom 23. Januar 1918 teilt Rostovtzeff mit, dass er seine Arbeiten „Die Entstehung des Römischen Imperiums“ und „Hellenismus und Iranismus im Süden Russlands“ zur Veröffentlichung überreicht hatte. Im Schreiben spricht Rostovtzeff sein Honorar an und bestätigt den Erhalt von 1.000 Rubel als Honoraranzahlung. 314 Ende Januar setzte das Tauwetter ein. Petrograd, nach Berichten der Augenzeugen, sah „verwahrlost und entsetzlich“ 315 aus. Vor diesen Kulissen begegnete Rostovtzeff, der „sehr traurig, ganz zusammengeschrumpft, verrunzelt“ 316 war, seinen Zeitgenossen. Der Althistoriker, der nun einen konkreten Plan vor Augen hatte, musste jedoch zunächst alltägliche Probleme bewältigen und vor allem überleben: „Meanwhile, famine which began long ago with the first exploits of the Bolsheviks grew worse and worse. I spent my days in hunting food; my nights in writing books and guarding our house against robbers thieves with a revolver in my pocket. I expected the Bolsheviks to come to arrest me. After I declined to collaborate with them, my arrest was only a matter of time“. 317 4.2.2.2.2 Rostovtzeffs wissenschaftspolitische und wissenschaftliche Tätigkeit a) Rostovtzeff vs. Lunačarskij: Bildungspolitik In der Notiz zum 60. Geburtstag von Rostovtzeff berichtet G. Vernadskij über den Vorschlag zur Zusammenarbeit mit der sowjetischen Regierung, den der Althistoriker „indirekt“ 318 erhalten haben soll. Der Inhalt dieses Vorschlages wurde weder von Rostovtzeff noch vom Autor seines Lebenslaufs oder sonstigen Forschern präzisiert. 319 Dabei war eine Veränderung in der Stimmung der hauptstädtischen Wissenschaftler zum Frühjahr 1918 zu beobachten. Immer mehr Intellektuelle sprachen über die Unvermeidbarkeit der Kooperation mit den Bolschewiki. Zu dieser Schwankung trugen einerseits die politische Stärkung der Partei Lenins nach der Auflösung der Konstituierenden Versammlung und andererseits die Verschlechterung der finanziellen Lage der wissenschaftlichen Einrichtungen bei, die nun vollständig von der neuen Regierung abhängig waren. Am 19. Februar 1918 tagte die spezielle Kommission der Akademie der Wissenschaften, der außer Rostovtzeff einige seiner Kollegen angehörten. Auf dieser Sitzung wurde der 314 Brief M. Rostovtzeffs an den Verlag „P.P. Lugovoj, N.B. Glazberg und Co.“ vom 23.1.1918, in: IRLI 212/143. 315 Gippius 2014, Notiz vom 29.1.1918, 305. 316 Benois 2006, Notiz vom 27.1.1918, 709. 317 Rostovtzeff 1930er, 8. 318 Vernadsky 1986, 393. 319 V. Zuev schrieb z. B.: „Im Jahre 1917 schlug die sowjetische Regierung Rostovtzeff vor, im Volkskommissariat für das Bildungswesen mitzuarbeiten“. Vgl. Zuev, V.: M.I. Rostovtzeff und die unbekannten Kapitel des Buches „Skythien und des Bosporus“, in: Heinen 1993, 25.

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Vorschlag des Volkskommissariats für Bildung über „die Mobilisierung der russischen Wissenschaft“ 320 diskutiert und die folgende Resolution beschlossen: „Die Akademie glaubt, dass ein überwiegender Teil der Aufgaben vom Leben selbst gestellt wird; und die Akademie ist immer bereit, auf Verlangen des Lebens und des Staates mit der Ausarbeitung einzelner Aufgaben, die durch Bedürfnisse des Staatsaufbaues entstehen, nach Kräften zu beginnen. Gleichzeitig stellt [die Akademie] das organisierende und wissenschaftliche Kräfte heranziehende Zentrum des Landes dar.“ 321 Eine Woche später trat der Rat der Petrograder Universität weiterhin gegen jede Zusammenabreit mit der bolschewistischen Regierung ein. Gleichzeitig begann die Hochschule der Hauptstadt Verhandlungen mit dem Kommissariat für das Bildungswesen über die Auszahlung der Professorenrenten und Stipendien für Nachwuchswissenschaftler. 322 Dies war der Ausgangspunkt für weitere Annäherungsschritte zwischen der neuen Macht und der alten Bildungsintelligencija. Es steht jedoch fest, dass Michail Rostovtzeff sich jeder Kooperation mit den verhassten Bolschewiki hartnäckig verweigerte. Wie im Falle seines politischen Engagements im Ersten Weltkrieg, das durch die Beteiligung seiner deutschen Kollegen und Freunde an der Kriegspublizitik des Deutschen Reiches für ihn zur persönlichen Angelegenheit wurde, konzentrierten sich Rostovtzeffs antibolschewistische Ressentiments nicht zuletzt auf die Figur des Volkskommissars für das Bildungswesen, mit dem der Althistoriker verwandt war. Anatolij Vasilʼevič Lunačarskij (1875–1933) war der Sohn von Alexandra Jakovlevna Rostovtzeff. Der Vetter des Althistorikers verbrachte seine jungen Jahre in Kiew und wurde sogar einige Zeit in einem Haus zusammen mit Michail Rostovtzeff erzogen. Bereits als Schüler beteiligte sich Lunačarskij an sozialistischen Bewegungen, weswegen ihm der Zutritt zu allen russischen Hochschulen verboten wurde. Aus diesem Grund setzte er seine Bildung an der Universität Zürich fort, wo er Veranstaltungen in Biologie und Philosophie besuchte. Nach zwei Jahren der Emigration kehrte Lunačarskij nach Russland zurück und nahm weiterhin an der illegalen revolutionären Arbeit teil. Nach der Oktoberrevolution gehörte er zu den engsten Anhängern Lenins und übernahm für zwölf Jahre den Posten des Volkskommissars für Bildung und Aufklärung in der sowjetischen Regierung. 323 320 Levšin, B. (Hg.): Dokumenty po istorii Akademii nauk SSSR [Quellen zur Geschichte der Akademie der Wissenschaften]. 1917–1922, Leningrad 1986, 28. 321 Sitzungsprotokoll der Kommission „zur Prüfung der Frage über den Vorschlag des Kommissariats für Volksbildung bezüglich der Mobilisierung der russischen Wissenschaft“ vom 19.2.1918, in: Ebd., 28f. 322 Vgl. Krivonoženko 2014, 58. 323 Vgl. Leischnitzer, F. (Hg.): Anatoli Lunatscharski. Das Erbe, Dresden 1965, 236-243; Torke 1993, 189f.

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In seinen Memoiren erwähnt Lunačarskij sein Verhältnis zur Familie seines Onkels, darunter auch zum Althistoriker mit keinem Wort. 324 Im Gegensatz dazu verpasste Rostovtzeff keine Gelegenheit, seine Meinung über seinen Cousin zu äußern. In Petrograd war bekannt, dass Rostovtzeff zum Zeitpunkt des Oktoberumsturzes bereits etwa fünf Jahre Lunačarskij keine Hand mehr gereicht hatte. 325 Der Historiker zweifelte außerdem an der Rolle Lunačarskijs in der bolschewistischen Partei und an seinen Absichten. Rostovtzeff wollte mit dem Volkskommissar nicht in Berührung kommen und bat Menschen, die mit Lunačarskij arbeiteten, seine unmissverständlichen Grüße weiterzugeben: „Sein [Lunačarskijʼs] Vetter, Professor Rostovtzeff, der ihn nicht ausstehen konnte, sagte mir eines Tages ‚Spucken Sie ihm in meinem Namen in die Fresse. Er ist ein ebensolcher Bolschewik wie ich, ich kenne ihn!‘“ 326 Nach zeitgenössischen Beobachtungen war der Volkskommissar Lunačarskij trotz seiner Leichtsinnigkeit kein schlechter Mensch. Er wurde mit einem „gutmütigen Kind“ 327 verglichen, das immer bereit war zu helfen. Aus diesem Grund wandten sich die Bekannten und Verwandten der verhafteten Intellektuellen oft an ihn und er machte alles, was in seiner Macht stand, um den einen oder anderen aus dem Gefängnis zu befreien. Lunačarskij selbst bezeichnete sich als ein „Intelligenzler unter den Bolschewiki und ein Bolschewik in der intelligencija“. 328 Die Reform des Bildungswesens im Sinne der politischen „Diktatur des Proletariats“, vor allem im Bereich der Hochschulbildung, begann der Volkskommissar sehr vorsichtig. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die sowjetischen Bildungspolitiker in der ersten Zeit selbst keine konkreten Pläne für die Umsetzung ihrer theoretischen Vorstellungen hatten. Dafür benötigten sie alte Fachexperten. Lunačarskij bemühte sich sehr, die Zusammenarbeit mit Petrograder Wissenschaftlern zu organisieren. Das Bildungskommissariat erwies sowohl der Akademie der Wissenschaften als auch der Petrograder Universität „außerordentliche Reverenzen“ 329. Dies äußerte sich vor allem in der Nichteinmischung der neuen Regierung in die inneren Angelegenheiten beider Institutionen in der ersten Hälfte 1918. Hauptstädtische Akademiker und Professoren erhielten ihr Gehalt regulär und durften sogar eine Gehaltserhöhung erwarten, was in dieser Zeit das

324 325 326 327

Vgl. Lunačarskij, A.: Vospominanija i vpečatlenija [Erinnerungen und Eindrücke], Moskau 1968. Vg. Benois 2006, S. 489. Zubov 2004, 65. Čukovskij, K.: Dvnevnik [Tagebuch] 1901–1969, Bd. 1, Moskau 2003, 102f. Vgl. auch Benois 2006, 532f; Zubov 2004, 65f. 328 Byčkova, N./Lebedev, A. (Hg.): Pervyj narkom prosveščenija [Der erste Volkskommissar für das Bildungswesen], Moskau 1960, 23. 329 Brief V. Steklovs an A. Ljapunov vom 25.4.1918, in: Vladimirov, V. (Hg.): V.A. Steklov: Perepiska s otečestvennymi matematikami. Vospominanija, Leningrad 1991, 130.

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Überleben sicherte. 330 Des Weiteren präsentierte sich Lunačarskij als „liberaler“ Politiker, der für Vorschläge offen war. Im Februar 1918 wurde der hauptstädtischen Universität angeboten, die Organisation der Einberufung der Vertreter aller Hochschulen zur Besprechung der künftigen Universitätsreform zu übernehmen. Es fanden insgesamt zwei Konferenzen zur Hochschulreform im Juli und September 1918 in Moskau statt. Dort zeigten sich die unüberwindbaren Gegensätze zwischen den Professoren und der bolschewistischen Regierung, die die universitäre Autonomie nicht dulden wollte und die im Volkskommissariat erarbeiteten Schritte zur Sowjetisierung der Hochschulen des Landes hartnäckig fortsetzte. Solche Dekrete, wie über die unbeschränkte Aufnahme an die Hochschulen vom 2. August 1918 oder die Abschaffung aller akademischen Grade vom 1. Oktober 1918, vervollständigten die ersten Verordnungen der Sowjetmacht zur Beseitigung des alten Bildungssystems. 331 Die Konturen der neuen Bildung und Kultur der Volksmassen wurden bereits drei Tage nach der Oktoberrevolution im „Aufruf des Volkskommissars für das Bildungswesen A. V. Lunačarskij“ 332 skizziert: „[…] Die werktägigen Volksmassen, die Arbeiter, Bauern und Soldaten lechzen nach Unterricht im Lesen und Schreiben und nach allem Wissen Sie lechzen aber auch nach Bildung. Diese kann ihnen weder der Staat noch die Intelligenz noch irgendwelche Macht außerhalb ihrer selbst geben. Schule, Buch, Theater, Museum usw. können hier nur Hilfsmittel sein. Die Volksmassen werden selbst ihre Kultur bewußt oder unbewußt ausarbeiten. Sie haben ihre eigenen Ideen, ihrer sozialen Lage entstammend, die sich völlig von der Lage unterscheidet, die bisher die Kultur der herrschenden Klasse und der Intelligenz geprägt hat.“ 333 Die Vorstellung über die schöpferische Kraft der Massen hatte ihre Wurzeln in der noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Lunačarskijs Schwager A. Bogdanov 334 ins Leben gerufenen Bewegung der proletarischen Kultur, abgekürzt „Proletkulʼt“. Die Bolschewiki betrachteten die kulturelle Revolution als einen Bestandteil der sozialen Umwandlung. 330 Das Jahresbudget der Akademie wurde bis zu 5 Mio. Rubel und das Gehalt der Akademiker bis 1.000 Rubel erhöht. Vgl. ebd. 331 Dazu gehörten u. a. Dekrete „Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“ vom 3.1.1918, „Über die Einführung des obligatorischen Gemeinschaftsunterrichts“ sowie „Über die Abschaffung der Noten“ vom 31.5.1918. Vgl. Krivonoženko 2004, 58–78; Anweiler, O./Meyer, K. (Hg.): Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917. Dokumente und Texte, Heidelberg 1961, 23ff, 60f. 332 Der Text des Aufrufs vom 29.10.1917 in Anweiler/Meyer 1961, 55–60. 333 Ebd., 57. 334 Aleksandr Bogdanov (1873–1928) war ein gelernter Arzt, Philosoph, Ökonom und Soziologe, nach der Oktoberrevolution einer der Organisatoren der „Proletkulʼt“-Bewegung und Mitbegründer der Sozialistischen Akademie der Sozialwissenschaften. Später widmete er sich der Medizin. 1926 gründete er das Institut für Blutinfusionen. Zwei Jahre später starb Bogdanov bei einem wissenschaftlichen Selbstversuch. Vgl. Goluba, P. (Hg.): Ėnciklopedija. Velikaja oktjabrʼskaja socialisitčeskaja revoljucija, Moskau 1987, 63.

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Die Kultur sollte von nun an propagandistischen Zwecken dienen; Literatur, Kunst und das Bildungswesen sollten der kommunistischen Ideologie untergeordnet werden. Die Popularisierung der Kultur war eine der Aufgaben des Volkskommissariats. Dafür wurde das sowjetische Russland mit einem Netz der Proletkulʼt-Organisationen überzogen. Im Herbst 1917 zählte man allein in Petrograd bis zu 120 kulturell-aufklärende Klubs. 335 Hier konnte jeder Bürger die Grundlagen der Malerei, Skulptur, Dichtung sowie Theaterkunst lernen. Zu den anderen Zielen der kulturellen Revolution gehörten die Beseitigung des Analphabetismus, Reformierung des Bildungssystems nach Erfordernissen der kommunistischen Ideologie, Einführung eines obligatorischen und unentgeltlichen Unterrichts und der Aufbau einer einheitlichen und weltlichen Schule. Den Kern der neuen Schule sollte polytechnischer Unterricht in einer unmittelbaren Verbindung mit der produktiven Arbeit darstellen. Der bürgerliche Individualismus sollte aus den Kultur- und Bildungssphären verdrängt werden. Darüber hinaus sollten russische Hochschulen ihren elitären Charakter verlieren, indem sie die proletarisch-bäuerlichen Massen, die Träger der neuen Kultur, aufzunehmen gezwungen waren. 336 Mit der Schöpfung seines Vetters, der proletarischen Kultur, setzte sich Rostovtzeff in den ersten Emigrationsjahren in England auseinander. Sein Schreiben „Proletarian Culture“ wurde in Emigrantenzeitungen mehrmals publiziert. 337 Das war zunächst Rostovtzeffs Reaktion auf die Glorifizierung der bolschewistischen Kulturpolitik in England. „The things I had seen were so unlike the things I read about here“, diese Worte wurden zum Ausgangspunkt Rostovtzeffs enger Auseinandersetzung mit dieser Frage. Der Text besteht aus einer Einleitung und zwei großen Abschnitten über die Theorie und Praxis der kulturellen Arbeit der Bolschewiki. Der Autor führt die Leser zuerst in die Problematik des Themas ein: „When I lived in Russia, under the rule oft he Bolsheviks, I heard not a little from them of the support and protection rendered by them to art and Culture. They granted big sums for the needs of cultural work and tried hard to secure for it the co-operation of some of the most intellectual workers. And yet the result of all their smooth talk and a certain activity was only destruction, partly wilful and partly involuntary destruction which, once started by the Bolshevist leaders, they were powerless to stop. Institutions, built up by centuries of creative work and carefully supported during the first Revolution by the Provisional Government, weakened and perished one after the other, notwithstanding the large sums of money sometimes granted to them. And nothing was created to take their place. I cannot, in335 Vgl. ebd., 423. 336 Vgl. Anweiler/Meyer 1961, 55–60. 337 Vgl. Rostovtzeff, M.: Proletarian Culture, in: The Russian Liberation Committeeʼs Publications 11 (1919), 3–18. Unter dem Titel „‚Proletarian Culture‘ in Bolshevist Russia“, in: Struggling Russia 1 (1919), 459–462; auf Französisch „La ‚culture proletarienne‘ dans la Russie bolchéviste“, Paris 1919.

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deed, consider the cinema in the Winter Palace (and that was all that I saw with my own eyes) as the alpha and omega of cultural creative work.“ 338 Für seine Bewertung des Proletkulʼts 339 wollte der Historiker nicht nur seine persönlichen Erfahrungen, sondern aus Gründen der Objektivität und Gerechtigkeit auch solche offiziellen Quellen wie die Dekrete und Schriften aus Sowjetrussland, heranziehen. In seinen Recherchen sollte Rostovtzeff die Bestätigung dafür finden, dass sich die Lage in Russland nach seiner Abreise verschlechtert hatte. Im ersten Teil widmete sich der Althistoriker der Theorie der proletarischen Kultur. Dabei weist er darauf hin, dass keine einheitliche bolschewistische Theorie der Kultur existiere. Die Bolschewiki hätten sich darüber nicht einigen können, was die proletarische Kultur sei und welche Formen sie in einer sozialistischen Kommune annehmen sollte. Rostovtzeff stellte nun zwei gegenseitige Auffassungen, die bezüglich dieser Frage in der bolschewistischen Führung verbreitet waren, gegenüber. Eine Gruppe, unter der Führung von Lunačarskij, beharrte auf der Existenz einer speziellen Kultur, die durch und für das Proletariat erschaffen worden wäre. Die Anhänger einer anderen Gruppe, deren Standpunkt vom russischen Historiker M. Pokrovskij 340 vertreten werde, behaupteten vielmehr, dass es nur eine Kultur gäbe. Pokrovskijʼs Standpunkt ‒ „the progressive democratic point of view adopted by whole cultural world“ ‒ sei unorthodox und habe mit dem radikalen Sozialismus nichts zu tun. Da jedoch der Standpunkt von Rostovtzeffs Vetter zum offiziellen politischen Kurs gemacht worden sei, wurde er vom Autor im Folgenden detaillierter untersucht. „From the point of view of Lunacharsky and the Proletcult all culture is essentially a class-product“, stellt Rostovtzeff fest. Die alte Kultur, deren Vertreter er selbst war, sei dementsprechend ein Produkt der Bourgeoisie. Dem Proletariat Russlands sei diese Kultur fremd. Aus diesem Grund hätte es seine eigene Kultur erschaffen müssen, deren Grundlage in Marxʼs Lehre verankert sei. Dieser und andere Gedanken fand Rostovtzeff im Lunačarskijʼs Pamphlet „Self-Education of the Workers“, das 1918 in London erschien. 341 Im Versuch Lunačarskijs, eine proletarische Kultur auf den Arbeiten der NichtProletarier aufzubauen, entdeckte der Althistoriker einen grundlegenden Widerspruch.

338 Ebd., 3. 339 Es hat sich die maskuline Form der Abkürzung für die proletarische Kultur „Proletkulʼt“ im Russischen etabliert. Vgl. Anweiler, O./Ruffmann, K.-H.: Kulturpolitik der Sowjetunion, Stuttgart 1973, 134. 340 Michail Pokrovskij (1868–1932) war ein russischer Marxist und Historiker. Im August 1917 kehrte er nach neun Jahren der Emigration nach Russland zurück. Nach der bolschewistischen Machtergreifung wurde er zu einem aktiven Unterstützer des neuen Regimes. Im Mai 1918 wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden des Kommissariats für das Bildungswesen ernannt. Er war außerdem Leiter der Sozialistischen Akademie der Sozialwissenschaften und anderer sowjetischer Wissenschaftseinrichtungen. Vgl. Goluba 1987, 407. 341 Vgl. Lunačarskij, A.: Self-Education of the Workers: The Cultural Task of the Struggling Proletariats, London 1918.

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Denn „the works of Marx are, surely, just as much a product of bourgeois culture as the work of Treitschke and Bismarck“. 342 Rostovtzeff stellt weiter die Frage, wie die Bolschewiki die Ideen der Kultur der Proletarier realisieren wollten. Dabei interessierte ihn besonders, was sie mit der alten Kultur vorhatten. Abgesehen von den radikalsten Stimmen, die die Vernichtung der bürgerlichen kulturellen Werte verlangen, spreche die Mehrheit der bolschewistischen Denker davon, die alte Kultur zu absorbieren. Sie sollte nach einer Anpassung an den Marxismus schließlich als Instrument zur Schaffung der proletarischen Kultur dienen: „The culture of the proletariat has to be created according to the new communistic way, to a certain extent by a factory process, by means of the co-operation of the whole commune, in which the creative individuality is diluted. Individuality is terrifying, as synonymus with the bourgeoisie, with a bourgeois anarchy. Everything must be fettered by the iron chains of enforced communism. Special organisations are to be created with this object, such as the Proletcult itself and its departments ‒ clubs, so-called seminares, etc.“ 343 Die Inhalte der neuen Kultur suchte Rostovtzeff in Erläuterungen der Allrussischen Konferenz der proletarischen Kultur- und Bildungsgesellschaften vom September 1918. Im Bogdanovs Programm „Science and the Working Class“ seien Vorschläge zur Transformation der Naturwissenschaften und der Philosophie entsprechend der kommunistischen Ideologie dargestellt. So sollten etwa die Astronomie zur Orientierungslehre im Raum und Zeit und die Logik zur Theorie der sozialen Koordination von Ideen als organisierenden Instrumenten der Arbeit transformiert werden. Die neuen Definitionen der Wissenschaftsdisziplinen konnten, nach Rostovtzeff, das Wesentliche nicht ändern, nämlich, dass es weder eine speziell proletarische noch eine bourgeoise Physik gäbe. Lunačarskijs Programm „The Proletariat and Art“ konnte der Althistoriker nicht ernst nehmen, da er dort nur wenig Sinn gefunden hätte. Er verwies nur auf den Kerngedanken seines Vetters über die Abhängigkeit der Kunst und deren Entwicklung von der sozialen Struktur einer Gesellschaft. Dieses und andere Programme begründeten die neue bolschewistische Kultur, die dem Autor völlig fremd war: „The ‚proletarian culture‘, according to the ideal on which it is based, is a great setback, a great regress in comparison with the cultural ideal created by Humanity by centuries of creative work. None of the creators of culture ever thought even for a moment that they worked, or could work, only for one particular part of Humanity, for one special class, for factory operatives only, as the Bolsheviks themselvs explain the expression ‚proletariat‘. Art, Science, and Instruction took for their

342 Rostovtzeff 1919, 5f. 343 Ebd., 7.

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object not a ‚proletarian‘ but a ‚human being‘, for whom they created and worked ‒ Humanity as a whole.“ 344 Rostovtzeff betont, dass Kultur und kulturelle Arbeit immer frei waren. Die Grundlage der ihm vertrauten kulturellen Ideale bildete eine freie Individualität. Nun sei die freie schöpferische Arbeit nicht mehr möglich, weil die Bolschewiki allgemein gültige Werte gegen ihre eigenen ausgetauscht hätten. Der Althistoriker warnt in seinem Aufsatz vor möglichen Folgen der bolschewistischen Bildungs- und Kulturpolitik. Für ihn steht außer Frage, dass diese Politik nur zum Rückschlag in seinem Heimatland führen würde: „There is only one possible result of the Bolshevist theory ‒ the fall of creative power and the degeneratio of culture, a return to barbarism. The proletarians are setting themselves apart from Humanity, the result will be a return to the conditions of beasts. Russia has already gone that way and the results were seen very quickly! They want to turn us forcibly into the road which was followed by the weakening Roman Empire. Instead of Plato, Aristotle, Eratosthenes, Aristarchus of Samos, we shall have in the nearest future the Hellei and the Athenaei, and after that we shall sleep the sleep of the earlier Middle Ages.“ 345 Im zweiten Teil seines Aufsatzes geht Rostovtzeff auf die Praktiken der Bolschewiki im Bildungs- und Kulturbereich ein. Die aus dem Zentrum gesteuerte Politik der Bolschewiki sei stark bürokratisiert und erlaube nur eingeschränkte Initiativen und Aktivitäten der Anhänger der Bolschewiki. Dabei sprach der Althistoriker aus eigener Erfahrung und erwähnte die Sitzungen der Petrograder Universität, bei denen er bestimmte Praktiken selbst beobachtet hätte. Die Aufgabe der einberufenen Konferenz wäre es, die vorweg entschiedenen Angelegenheiten nur „abzustempeln“ 346. Wenn sich die Konferenzmitglieder dagegen entschieden hätten, würde eine oder andere Reform trotzdem durchgeführt werden. Des Weiteren stellte Rostovtzeff die Strukturen der Bildungs- und Kulturbürokratie dar. An der Spitze stünden gleich zwei Institutionen mit enormen Verwaltungsapparaten: Der Proletkulʼt und das Kommissariat für die Volksbildung. Theoretisch hätten sie verschiedene Aufgaben. Der Proletkulʼt widme sich der kulturellen Arbeit und Selbstbildung der Arbeiterklasse. Das Volkskommissariat leite die alten und neuen Bildungseinrichtungen. „But in reality, as the Bolsheviks themselves state, both institutions are doing the same thing, i. e. they create great numbers of officials who draw their pay and do no work“. 347 Die beiden Organisationen würden parallel und nicht miteinander arbeiten, was zum andauernden Streit zwischen ihnen und zur Verwirrung in den Köpfen der proletarischen Massen führte. Der Autor behauptet, dass die ganze kulturelle Arbeit der Bolschewiki unter Personalmangel leide. Der Grund dafür sei, dass niemand diesen Institutionen 344 345 346 347

Ebd., 8. Ebd., 9. Ebd., 10. Ebd.

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beitreten wolle. Arbeiter hätten kein Interesse und die verbliebenen Intellektuellen seien nur wegen der Hungerlöhne dabei. Nach einer Auswertung offizieller Berichte aus Moskau und Petrograd sowie aus russischen Provinzen zeichnete Rostovtzeff das gleiche Bild für den untersuchten Bereich russlandweit: „The activity of the Proletcult and the Commissariat is dead: there are no results and there never will be any“. 348 Eine neue Kultur sei nicht erschaffen worden. Diese Feststellung stützt der Autor u. a. auf Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften, bei denen er auch 1919 auf die ihm bekannten Namen stieß. Diese Wissenschaftler bezeichnet Rostovtzeff als Deserteure, die vom Proletariat missachtet und als Heloten und Sklaven angesehen würden. Dabei werden ein paar Namen genannt, u. a. sein Bekannter, der Kunsthistoriker A. Benois, mit der Anmerkung, dass dieser bereits von den Bolschewiki ausgewiesen worden wäre. Das gleiche Schicksal erwarte andere „alte“ 349 Intellektuelle in Russland, weil sie trotz ihrer Bereitschaft zur Anpassung für die Bolschewiki „insufficiently orthodox“ 350 seien. Aus diesem Grund würden sie nacheinander aus dem bolschewistischen System vertrieben werden. Die Bolschewiki hätten, nach Rostovtzeff, mit keiner Kultur irgendwas zu tun und würden nur zur Vernichtung und Plünderung der Bourgeoisie aufrufen. Von der Bourgeoisie sollten sie jedoch z. B. die Fähigkeit zur schöpferischen Arbeit übernehmen: „There are not many people at this moment in Russia who want to work, they prefer moneygetting and feeding and holiday-making“. 351 Der Versuch der Bolschewiki, ihre eigenen Wissenschaftsinstitutionen aufzubauen, wie die Sozialistische Akademie der Sozialwissenschaften 352, sei fehlgeschlagen. Aus diesem Grund konnten die alten Organisationen weiter existieren. Die Russische Akademie der Wissenschaften sowie die Universität Petrograd hätten ihre Tätigkeit fortgesetzt, trotz der Emigration sowie des frühzeitigen Todes vieler Akademiker, die Rostovtzeff persönlich kannte. 353 Der Autor beurteilte das Dekret über die uneingeschränkte Aufnahme an die Hochschulen vom 2. August 1918 als erfolglos: „The illiterate people, who are pressed into the Universities almost by force, do not want to go, finding, as might be expected, that they have nothing to do there. Some 348 349 350 351 352

Ebd., 12. Ebd. Ebd., 13. Ebd. Die Sozialistische Akademie der Sozialwissenschaften wurde im Juni 1918 für die Untersuchung und Verbreitung der marxistischen Theorie sowie die Vorbereitung der entsprechenden Fachkräfte gegründet. Vgl. Goluba 1987, 493. 353 Laut Statistik starben 1918 17 korrespondierende Mitglieder der Akademie der Wissenschaften Russlands. In den ersten drei Monaten des darauffolgenden Jahres kamen vier russische Akademiker ums Leben. Seinen Kollegen und Freunden, darunter J. Smirnov und A. Lappo-Danilevskij, widmete Rostovtzeff die Artikel „Martyrs of Science in Soviet Russia“, in: The New Russia vom 1.7.1920, 275–278 (I. Teil); 23.9.1920, 113–116 (II. Teil) und „Pominki (pamjati zagublennych druzej I kolleg)“ [Gedenkfeier (zum Andenken an vernichtete Freunde und Kollegen)], in: Sovremennye zapiski 2 (1920), 235–241.

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old students and professors continue to work, as much as their strength allows, as they worked in olden times for all, for humanity, for Science.“ 354 Da der Autor erwähnt, dass er keine Briefe von ehemaligen Kollegen bekommen kann, muss er die Meinung über die Zustände in seiner Universität anhand der Mitteilungen in bolschewistischen Presseorganen bilden. Dazu zitiert er den Aufruf der sozialistischen Studenten vom März 1919, in dem sie sich über die Mehrheit der bourgeoisen Studenten und Professoren im Rat und Zentralkomitee beklagt hätten. Dies bedarf keine ausführlich Erläuterung von Rostovtzeff, er schrieb dazu nur: „Will our Science survive this mockery? God grant it!“. 355 Weit schrecklichere Umstände sollten in sowjetischen Schulen herrschen. Rostovtzeff zitiert sehr ausführlich den Bericht einer Lehrerin, aus dem der Verfall der Schulen deutlich wird. Die hungernden Kinder hätten kaum Kraft, den Schultag durchzustehen. Geschwächt seien sie allen möglichen Krankheiten ausgesetzt und zum Tod verurteilt. Die Moral der Kinder leide darunter: Diebstähle seien zum Alltag geworden. Der Lehrstoff im Geschichtsunterricht laufe zur primitiven Darstellung der Geschichte als einen Kampf des Proletariats mit der Bourgeoisie hinaus. Der Althistoriker fragt: „Will it be possible, indeed, for the younger generation to live in spite of all these experiments on its minds and bodies?“. 356 Zum Schluss seines ausführlichen Aufsatzes mit langen Zitaten will der Althistoriker die kulturelle Arbeit der Bolschewiki zusammenfassen. Seine Bewertung basiert auf einer Auswahl der zeitgenössischen Presse und lässt sich von Lesern gut nachvollziehen: „And now let us sum up the results. In the creative area the result NIL, in the sphere of destruction there is enormous progress, and the same results are obtained in all the domains of State life, social life, and economics. […] It is terrifying to think of the mass of books, ikons, and sacred vessels that have perished during the persecution of the Church and the plunder of country houses. Such is the cruel reality. A sickly, contradictory, reaktionary class-ideology, a total impotence in creative work and great virtuosity in destruction. May God save Russia; and may He protect the rest of the civilised world from the same sufferings!“ 357

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Rostovtzeff 1919, 14. Ebd., 15. Ebd., 17. Ebd., 18.

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b) Die letzten Tage in Russland Die letzten Monate, die Michail Rostovtzeff in Russland verbrachte, sind kaum mit einer politischen Tätigkeit in Verbindung zu setzten. Dies war im entstehenden Einparteiensystem schlicht unmöglich. Der russische Philosoph Nikolaj Berdjaev 358 beschrieb vielleicht am zutreffendsten Rostovtzeffs einzige Möglichkeit, in der ersten Hälfte 1918 den Bolschewiki Widerstand zu leisten: „Mit dem Kommunismus führte ich keinen politischen, sondern einen geistigen Kampf […]“. 359 Dass sogar ein geistiger Kampf nicht mehr lange geführt werden konnte, sollte der Althistoriker anhand der weiteren Verwandlung seiner Heimat erahnen. Dieses Land wurde für ihn immer fremder. Der 31. Januar 1918 war der letzte Tag des alten Kalenderstils in Russland. Darauf folgte der 14. Februar. Die Abneigung des Althistorikers gegen die Bolschewiki und ihre Reformen war so stark, dass Rostovtzeff sogar in der Emigration seinen Geburtstag nach dem julianischen Kalender feierte. 360 In der zweiten Februarhälfte begann die deutsche Offensive im Osten und Nordosten, nachdem die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk weiter verzögert worden waren. Petrograd stand wieder im Epizentrum des Krieges. Auch nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags am 3. März 1918 blieb die Besatzungsgefahr durch die deutschen Truppen bestehen. Im zerstörten und leeren ‒ aufgrund der Massenabwanderung der Bewohner 361 ‒ Wohnsitz von Rostovtzeff war die glänzende europäische Hauptstadt nicht mehr zu erkennen. Die Verlegung der Hauptstadt nach Moskau und der Umzug der Sowjetregierung dorthin im März 1918 vollendeten den Niedergang von Petrograd. Auch die in Petrograd verbliebenen Mitglieder der Kadetten-Partei verlegten ihre Tätigkeit nach Moskau. In der neuen Hauptstadt versuchten sie noch bis zum Herbst 1918 die antibolschewistische Bewegung unter ihrer Führung zu konsolidieren. 362 358 Nikolaj Berdjaev (1874–1948) studierte an der juristischen Fakultät der Kiewer Universität, wo er sich der revolutionären Studentenschaft anschloss. Anfang des 20. Jahrhunderts wandte er sich vom Marxismus ab und wurde zum Anhänger des christlichen „mystischen Realismus“. Er war einer der Initiatoren der Sammelschrift Vechi und der „Liga der russischen Kultur“.1918/19 gründete Berdjaev die „Freie Akademie für Geisteskultur“ in Moskau; hier hielt er Vorlesungen zur Philosophie und Theologie. Nachdem er im September 1922 von den Bolschewiki ausgewiesen worden war, lebte und arbeitete er zunächst in Berlin und danach in Paris. Vgl. Volobuev 1993, 30f. 359 Berdjaev, N.: Samopoznanie (opyt filosofskoj avtobiografii) [Selbsterkenntnis (Der Versuch einer philosophischen Autobiographie)], Moskau 1990, 214. 360 Vgl. Shaw 1992, 222. 361 Die Entvölkerung von Petrograd hing in erster Linie mit der Lebensmittelkrise zusammen. Die Bevölkerung wanderte massenhaft aufs Land ab, um sich ernähren zu können. Die Einwohnerzahl sank 1920 im Vergleich zum Jahr 1915 um dreifach: von 2,347.851 (1915) auf 667.963 (1920). Im Juli 1918 zählte man in Petrograd und seinen Vororten 1,468.845 Einwohner. Vgl. Schlögel, K.: Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909–1921, Wien 2002, 567; Knjazev 1993, 133. 362 Die Kadetten spielten z. B. eine führende Rolle in der Untergrundorganisation, der sogenannten Moskauer „Neun“, der außer der Kadetten-Partei Vertreter oppositioneller gesellschaftlicher und handelsindustrieller Organisationen angehörten. Im Frühjahr 1918 wurde auf der Basis von Moskauer „Neun“ zusammen mit monarchistischen Gruppen das „Rechte Zentrum“ gegründet. Im

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Der Umzug der bolschewistischen Regierung war nicht nur von symbolischer Bedeutung. Mit dem Status einer Hauptstadt verlor Petrograd mit seinen Einwohnern einen gewissen Schutz und wurde der lokalen Regierung ‒ den Kommissaren der Petrograder Arbeiterkommune 363 ‒ überlassen. Ein Augenzeuge berichtet über eine „absolute Gesetzlosigkeit“ 364 in Petrograd und verweist auf die Anordnung vom 15. März 1918, die nicht nur jede Klage gegen Hausdurchsuchungen unterbunden, sondern betroffenen Personen für ihre Beschwerde sogar mit der Verhaftung bedroht hätte. 365 Wie gefährlich das Leben eines Professors in jener Zeit im bolschewistischen Russland war, zeigt das Schicksal des Physikers Andrej Kolli (1874–1918). In die russische Stadt Rostow am Don gelangte der Physikprofessor zusammen mit der evakuierten Warschauer Universität. Dort spielte Kolli eine aktive Rolle bei der Bildungsreform und wurde im Sommer 1917 von der Kadetten-Partei in die Stadtduma gewählt. Ende Februar 1918 wurde die Wohnung des Professors auf Verdacht, in Besitz von Waffen zu sein, durchsucht. Nachdem nichts gefunden worden war, nahmen die Rotgardisten Kolli dennoch fest. Auf der Straße wartete eine aufgebrachte Menschenmenge auf sie und forderte den Tod für diesen „Kadetten, Konterrevolutionär und Millionär“ 366, der immer „vorbei geht und sich als Professor wichtig tut“ 367. Kolli versuchte Menschen zu beruhigen und zu überzeugen, dass er sich als Wissenschaftler in die Politik nicht einmische. Trotzdem wurde der Physiker an der Stelle erschossen; der Pöbel schändete seine Leiche und ließ sie mehrere Tage auf der Straße liegen. Was konnte einen Professor in Petrogard vor demselben Schicksal retten? Vor allem, wenn nur wenige Tage später die Aufforderungen, wie z. B. alle „Buržuji“ in ein Konzentrationslager zu versammeln und in die Luft zu sprengen, zum Alltag wurden? 368 Der Slogan „Tod der Bourgeoisie!“ war auch in den Vernehmungsräumen der berüchtigten Außerordentlichen Kommission für den Kampf gegen die Konterrevolution und Sabotage (ČK/Tscheka) zu lesen. Der am 10. März 1918 zum Leiter der Petrograder Tscheka er-

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Mai 1918 fand in Moskau die Konferenz der Kadetten-Partei statt, bei der die Taktik des antibolschewistischen Kampfes, die außenpolitische Orientierung sowie Unterstützung der Freiwilligen Armee diskutiert worden waren. Die im Sommer von Kadetten gegründete neue Organisation „Das nationale Zentrum“ leitete die antibolschewistische Bewegung und entwickelte Programme für einen künftigen Aufbau des Landes. Nach der Abreise der kadettischen Aktivisten im Herbst 1918 nach Südrussland wurde die antibolschewistische Bewegung in einzelne regionale Zentren landesweit zerstreut und später ins Ausland verlegt. Vgl. Šelochaev 2000, 6–9. Am 12. März 1918 wurde die Führung der Petrograder Arbeiterkommune dem Rat der Kommissare unter dem Vorsitz von G. Zinovʼev übergeben. Vgl. Jarov, S. (Hg.): Petrograd na perelome ėpoch. Gorod i ego žiteli v gody revoljucij i Graždanskoj vojny [Petrograd im Epochenumbruch. Stadt und ihre Bewohner in den Jahren der Revolution und des Bürgerkrieges], Moskau 2013, 40f. Knjazev 1993, 38. Ebd. Vgl. Rešetova, N.: Žiznʼ i gibelʼ professora Kolli [Leben und Tod des Professors Kolli], in: Donskoj vremennik vom 18.4.2012, unter http://www.donvrem.dspl.ru/Files/article/m14/2/art.aspx?art_ id=227 (letzter Abruf am 8.3.2016). Knjazev 1993, Notiz vom 24.3.1918, 42. Ebd., Notiz vom 17.3.1918, 39.

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nannte M. Urickij 369 zog Anfang April in das Haus von V. Nabokov ein und damit in die unmittelbare Nachbarschaft mit M. Rostovtzeff. 370 Die Lage des Althistorikers wurde noch gefährlicher und aussichtsloser. Er blieb in seinem Überlebenskampf nun auf der Peripherie politischer Ereignisse, auf einem „von Wellen umtost[en] Inselchen“ 371: „Dabei muss man wissen: In der Stadt herrscht absoluter Hunger. Nicht einmal Brotersatz ist mehr zu haben. Auf den Straßen hat es schon Hungertoten gegeben. Petersburg ist von allen Seiten eingeschlossen – von Deutschen und Finnen im Norden, den Deutschen und Ukrainern im Süden […]. Das Pfund Butter kostet 18 Rubel. Eine einzelne Kartoffel 1 Rubel 50 Kopeken. Bekommen kann man das, wenn man die Voraussetzungen und das Glück hat. Märchenhaft.“ 372 Bis zum Sommer 1918 verschlechterte sich die Lebensmittelversorgung erheblich. Es gab im Frühling mehrere Hungerdemonstrationen in Petrograd und in der Umgebung. Am 1. Juli 1918 wurden alle erwachsenen Bewohner Petrograds in vier Kategorien eingeteilt: Zu den ersten zwei gehörten Arbeiter mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden ihrer Tätigkeit, zur dritten die Arbeit im geistigen Bereich und zur letzten Verkäufer, Häuservermieter und andere. Auf der Grundlage dieser Aufteilung wurden die Lebensmittel in der Proportion 8:4:2:1 verteilt. Eine „akademische“ Monatsration bestand im Jahre 1918 aus 40 Pfund Schwarzbrot, vier Pfund Öl oder Fett, 15 Pfund Heringe, 12 Pfund Grütze, sechs Pfund Erbsen oder Bohnen, zweieinhalb Pfund Zucker, ein Viertel Pfund Tee und zwei Pfund Salz. 373 Auch den Brennstoffmangel spürten die Petrodrader am eigenen Leib. Beinah alle Häuser in Petrograd mussten deswegen zur Ofenheizung übergehen. Das Brennholz wurde schnell aufgebraucht, was bald zum Verbrennen aller möglichen Sachen führte, so etwa teurer Möbel und ganzer Bibliotheken. Ab 1918 wurde die Straßenbeleuchtung mit Kerosin eingestellt. Mitte 1918 kostete ein Pfund Kerosin auf dem Markt 800 Rubel, eine

369 Moisej Urickij (1873–1918) war der Vorsitzende der Petrograder Außerordentlichen Kommission (ČK) und gleichzeitig der Kommissar für interne Angelegenheiten in der Petrograder Arbeiterkommune. Somit war enorme Macht in Urickijs Händen konzentriert. Er wurde am 30. August von einem Sozialrevolutionär erschossen. Zusammen mit dem Attentat auf V. Lenin markierte diese Ermordung den Beginn des Roten Terrors im bolschewistischen Russland. Ausführlicher siehe dazu Volkov, P./Gavrilov, P. (Hg.): Pervyj predsedatelʼ Petrogradskoj ČK [Der erste Vorsitzende der Petrograder ČK], Leningrad 1968. 370 Vgl. Benois 2006, 821; Figes 2008, 556. 371 Gippius 2014, Notiz vom 26.4.1918, 347. 372 Ebd., Notiz vom 14. und 17.4.1918, 345f. 373 Vgl. Černych, A.: Meždu teoriej i doktrinoj: ėkonomika pered sudom politiki [Zwischen der Theorie und Doktrin: Die Wirtschaft vor dem Gericht der Politik], in: Anašvili, V. (Hg.): „Ėkonomist“. Izbrannoe 1921–1922, Moskau 2008, 11; Sorokin 1992, 288.

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Kerze 500 und eine Streichholzschachtel 80 Rubel. Dabei betrug das monatliche Durchschnittseinkommen wenige Tausend Rubel. 374 Die gesundheitswidrigen Verhältnisse in Petrogard, die u. a. durch den Mangel an Hygieneartikel, Medikamenten, Warmwasser sowie das Verbleiben der Leichen von Menschen und Tieren auf den Straßen hervorgerufen worden waren, führten unvermeidlich zu Epidemien. Der erste große Ausbruch des Flecktyphus fiel auf Februar und erreichte seinen Höhepunkt im März–April 1918. 375 c) Publikationen Unter solchen Umständen und in der Erwartung der ersehnten Forschungsreise setzte Rostovtzeff seine wissenschaftliche Tätigkeit fort. Besonders aktiv war der Althistoriker in der Akademie der Wissenschaften, was die Sitzungsprotokolle belegen. Am 15. März trat Rostovtzeff in seinem Namen und auch in Namen seiner Kollegen V. Latyšev und A. Nikitskij mit dem folgenden Antrag auf: „Das völlige Ausbleiben ‒ aufgrund der Auflösung der Zeitschrift des Ministeriums für Volksaufklärung und seiner speziellen klassischen Abteilung ‒ eines Organs, in dem russische wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der klassischen Philologie und Geschichte publiziert werden konnten, zwingt uns trotz der von der Akademie durchlebten schwierigen Zeit über die Wiederaufnahme der seinerzeit abgebrochenen Mélanges greco-romains (der russische Titel ‚Sammelband der Aufsätze der griechisch-römischen Philologie und Geschichte‘) zu beraten. Solche Wiederaufnahme wäre natürlich nur eine Palliation, weil in ‚Izvestija‘ der Akademie nur Aufsätze mit einem Umfang von nicht mehr als zwei Seiten gedruckt werden können; aber auch das würde in diesem Moment zur großen Stütze für alle, die im Bereich der klassischen Philologie arbeiten.“ 376 Daher wurde vorgeschlagen, eine neue Serie der alten „Mélanges greco-romains“ unter dem Titel „Griechisch-römischer Sammelband“ herauszugeben. Der Vorschlag stieß auf eine Zustimmung der Akademiemitglieder; er konnte jedoch aufgrund der fehlenden Finanzierung und des Chaos in Petrograder Druckereien nicht realisiert werden. 377 Am 10. April 1918 trat Rostovtzeff zusammen mit sechs anderen Fachleuten der ständigen Kommission für die Untersuchung und Übersetzung ins Russische der Werke des Konstantin Porphyrogennetos als wichtiger Quelle zur Geschichte des Byzanz und der

374 Vgl. Jarov 2013, 98f. 375 Vgl. Knjazev 1993, 137; Jarov 2013, 175. 376 Protokoll der Sitzung der Russischen Akademie der Wissenschaften vom 15.3.1918. Abteilung der historischen Wissenschaften und Philologie, in: OR RNB 117/135, 43; Bongard-Levin 1997, 90. 377 Ebd.

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Kiewer Rusʼ bei. 378 Der Althistoriker stellte außerdem regelmäßig auf den Sitzungen der Akademie Arbeiten seiner Kollegen für die Publikation vor. 379 Darüber hinaus spielte Rostovtzeff weiterhin eine aktive Rolle in der Archäologischen Kommission und in der Russischen Archäologischen Gesellschaft, in denen er als Leiter der klassischen Abteilung und als stellvertretender Vorsitzender bis zu seiner Abreise im Juni 1918 tätig war. In dieser Rolle bat der Althistoriker auf der Akademiesitzung am 24. April seine Kollegen um die finanzielle Unterstützung der Gesellschaft durch den Zuschuss von 50.000 Rubel für das Jahr 1918. Es wurde beschlossen, den entsprechenden Antrag bei dem Narkompross zu stellen. 380 Es gelang dem Althistoriker, trotz der schwierigen Lage einige wissenschaftliche Untersuchungen zu vollenden. Im Band 65 der Nachrichten der Archäologischen Kommission war Rostovtzeff mit drei Aufsätzen vertreten. 381 Dazu gehörte seine Rezension der Dissertation des klassischen Philologen Ivan Tolstoj, des Sohnes des ehemaligen Bildungsministers Grafen Tolstoj. 382 Bemerkenswert an dieser Arbeit über griechische Mythen mit Bezug auf das Schwarze Meer ist, dass der Autorenname mit dem abgekürzten Titel „Graf“ im Jahr 1918 gedruckt wurde. Auch Rostovtzeff nimmt keine Rücksicht auf das Dekret vom November 1917 über die Aufhebung der Stände und der staatsbürgerlichen Rangbezeichnungen und benennt den Autor mehrmals in seiner ausführlichen Rezension als Grafen Tolstoj. In einer anderen Rezension übt Rostovtzeff eine vernichtende Kritik an der Forschung des griechischen Numismatikers I. Svoronos. 383 Der Althistoriker bezeichnet die

378 Zu den wichtigsten Werken des Konstantin „des Purpurgeborenen“ (905–959) zählen „De Administrando Imperio“, „De Ceremoniis“ und „De Thematibus“. Vgl. Savvides, G./Hendrickx, B. (Hg.): Encyclopaedic Prosopographical Lexicon of Byzantine History and Civilization, Bd. 2, Turnhout 2008, 249–251. 379 Vgl. OR RNB 117/135, 108f, 220f. 380 Vgl. ebd., 144; Tunkin, I.: M.I. Rostovtzeff i Rossijskaja Akademija nauk [und die Russische Akademie der Wissenschaften], in: Bongard-Levin 1997, 90. 381 Vgl. Rostovtzeff, M.: Bronzovye fibuly s nadpisjami iz Donskoj oblasti [Bronzefibel mit Inschriften aus dem Dongebiet], 22ff; Učenye fantazii [Wissenschaftliche Phantasien], 72–78; Novaja kniga o Belom ostrove v Tavrike [Das neue Buch über die Weiße Insel in Taurien], 177–179, in: IAK 65 (1918). 382 Vgl. Rostovtzeff, M.: Novaja kniga o Belom ostrove v Tavrike [Das neue Buch über die Weiße Insel in Taurien], 177–179, in: Ebd., 177–197. Ivan Tolstoj (1880–1964) war einer der Schüler Rostovtzeffs an der historisch-philologischen Fakultät. Tolstoj blieb bis zu seinem Tod im bolschewistischen Russland, wo er griechisch-römische Geschichte und alte Sprachen an der Universität und anderen Bildungseinrichtungen in Petrograd/Leningrad lehrte. Mit seiner Lehrtätigkeit errang er trotz der falschen Anschuldigung und Verhaftung in den 1930er Jahren mehrere Auszeichnungen des sowjetischen Staates, z. B. die Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften SSSR 1946. Vgl. Sidorčuk, I. (Hg.): Tolstoj Ivan Ivanovič, in: Biografika SPbGU, unter: http:// bioslovhist.history.spbu.ru/component/fabrik/details /1/1071.html (letzter Abruf am 12.3.2016). 383 Es handelte sich um I. Svoronos „Explication des trésors de la tombe royale de Solokha“, in: Journal International d’Archéologie Numismatique 17 (1915), 1-51. Zu I. Svoronos (1863–1922) in: DNP Suppl. 6 (2012), 1206f.

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„wissenschaftlichen Phantasien“ 384 des Griechen als unbegründet und erfolglos und bedauert darüber hinaus, dass er für seine Besprechung „das Papier und den jetzt so teuren Druck umsonst verbraucht“ 385 hätte. Am 18. Mai 1918 wurde auf der Gesamtkonferenz der Akademie der Wissenschaften über die Fertigstellung von Rostovtzeffs Beitrag „Die klassischen und skythischen Altertümer der Nordküste des Schwarzmeeres“ referiert. 386 Er sollte zusammen mit dem Aufsatz von S. Žebelev den Abschnitt über die klassische Archäologie und Kunstgeschichte im noch Februar 1917 geplanten Band zur Entwicklung der russischen Wissenschaft in den letzten zwei Jahrhunderten darstellen. In seiner Schrift charakterisiert Rostovtzeff die Entwicklung der klassischen und skythischen Archäologie in Russland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Jahr 1917. Dies war einer der insgesamt 30 druckfertigen Sammelbandbeiträge; nur vier davon konnten schließlich veröffentlicht werden. Rostovtzeffs Aufsatz gehörte nicht dazu. Diese Arbeit geriet für lange Zeit in Vergessenheit und wurde im Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften bis zu ihrer Entdeckung aufbewahrt. 387 Eine interessante Beobachtung machte der russische Historiker V. Zuev, als er sich mit dem Originaltext dieser Arbeit auseinandersetzte. Das Manuskript war von Rostovtzeff auf der Rückseite der zerrissenen Blätter einer der für die verstümmelten Soldaten organisierten Spendenkampagnen geschrieben worden. Die Schrift für die Unterstützung der russischen Kämpfer hatte Rostovtzeff viel bedeutet, Anfang 1918 wurde das Formular für sein neues Werk benutzt. Denn zu diesem Zeitpunkt existierte keine russische Armee mehr. 388 Rostovzeff versuchte, soweit es noch möglich war, seine Arbeiten zu publizieren. Da die Zukunft äußerst unsicher war und vom Althistoriker selbst sehr pessimistisch eingeschätzt wurde, ließ er sogar unvollendete Schriften veröffentlichen. Dies geschah mit seiner Untersuchung über die hellenistischen Hügelgräberfunde im Gebiet Orenburg, die Ende 1918 erschien. 389 Das Vorwort, das im Buch auf Oktober 1918 datiert ist, war sicherlich vom Althistoriker noch in seiner Anwesenheit in Russland verfasst.

384 Rostovtzeff, M.: Učenye fantazii [Wissenschaftliche Phantasien], in: IAK 65 (1918), 72. 385 Ebd. 386 Vgl. Rostovtzeff, M.: Klassičeskie i skifskie drevnosti severnogo poberežʼja Černogo morja [Die klassischen und skythischen Altertümer der Nordküste des Schwarzmeeres], in: Bongard-Levin/ Zuev 1993, 25–38. 387 Vgl. Tunkin, I.: Neizdannaja rabota M.I. Rostovtzeff „Klassičeskie i skifskie drevnosti severnogo poberežʼja Černogo morja“ [Die unveröffentlichte Arbeit M.I. Rostovtzeffs „Die klassischen und skythischen Altertümer der Nordküste des Schwarzmeeres“], in: Bongard-Levin/Zuev 1993, 22–24. 388 Vgl. Zuev, V.: O pervom sbornike rabot akademike M.I. Rostovtzeff [Über den ersten Sammelband der Werke M.I. Rostovtzeffs], in: Bongard-Levin/Zuev 1993, 5–8. 389 Vgl. Rostovtzeff, M.: Kurgannye nachodki Orenburgskoj oblasti epochi pozdnego i rannego ellinizma [Hügelgräberfunde im Gebiet Orenburg während des späten und frühen Hellenismus], Petrograd 1918.

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In Orenburg, dem Wohnsitz seiner Eltern, war Rostovtzeff zum letzten Mal im Sommer 1915. Dort besuchte er Museen der Orenburger Archivkommission und wurde von der Bedeutung der Exponate für die Geschichte des Südrusslands während der skytho-sarmatischen Epoche überzeugt. In Kooperation mit Orenburger Historikern und Archäologen entstand die Idee, die wichtigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu veröffentlichen. Der Krieg und die Revolution hinderten Rostovtzeff daran, noch einmal nach Orenburg zu reisen oder Exponate nach Petrograd schicken zu lassen. Der Althistoriker, der unter anderen Umständen „sich nie erlaubt“ 390 hätte, unvollendete Studien zu publizieren, entscheidet sich kurz vor seiner Abreise dies zu tun. Der Autor erklärt seine Eile wie folgt: „Wer weiß, wann so eine Zeit kommt, wann es wieder möglich wird, die immer teurer werdenden archäologischen Publikationen zu veröffentlichen? Ich bin mir auch nicht sicher, ob es für mich möglich sein wird, meine Arbeiten im Bereich der Archäologie Südrußlands fortzusetzen. Spätere Untersuchungen werden zeigen, inwieweit meine Vergleiche und Schlussfolgerungen richtig waren. Ob die Zeit bald kommt, wann solche Untersuchungen möglich sein werden, weiß ich nicht, genauso weiß ich nicht, ob es mir gelingt, das Material und die daraus stammenden Schlussfolgerungen persönlich zu überprüfen und zu ergänzen. Gib Gott, dass ich mich als Pessimist erweise.“ 391 Zum letzten fundamentalen Werk, das Rostovtzeff in Russland verfasste, gehört die zweibändige Monographie „Untersuchungen zur Geschichte des Skythiens und des Bosporanischen Reiches“. 392 Das Manuskript war im Frühjahr 1918 vollendet, und Rostovtzeff begann die Herausgabe des Atlasses vorzubereiten. Dafür präsentierte er auf der akademischen Gesamtkonferenz am 20. April den Kostenplan in Höhe von 35.000 Rubel für das Jahr 1918, von denen 15.000 Rubel für 100 Tabellen unverzüglich benötigt wurden. Der Kostenplan wurde bewilligt. Am 6. Juni legte Rostovtzeff außerdem einen detaillierten Entwurf für seinen Atlas vor, dessen Anfertigung in der Zusammenarbeit mit der Archäologischen Kommission erfolgen sollte. Er bat für dieses Vorhaben um einen Kredit von 65.000 Rubel ab dem 1. Januar 1919 zusätzlich zur bereits genehmigten Summe, dem wiederum zugestimmt wurde. 393 Der Sekretär der Akademie S. Olʼdenburg unterstrich die Bedeutung dieser Untersuchung des Althistorikers: 390 Ebd., 2. 391 Ebd. 392 Das Buch erschien erst 1925 unter dem Titel „Skythien und der Bosporus. Ein kritischer Überblick der literarischen und archäologischen Monumente“. In den Jahren 1918/19 konnten nur 22 Seiten der Untersuchung gedruckt werden. Erst im November 1924 konnten die Mittel zur Fertigstellung des Manuskriptes im Umfang von mehr als 600 Seiten bereitgestellt werden. Vgl. Rostovtzeff, M.: Skifija i Bospor. Kritičeskoe obozrenie pamajtnikov literaturnych i archeologičeskich [Skythien und der Bosporus. Ein kritischer Überblick der literarischen und archäologischen Monumente], Leningrad 1925. 393 Vgl. Tunkina 1997, 90f; Zuev, V.: M.I Rostovtzeff i neizvestnye glavy knigi „Skifija i Bospor“ [M.I. Rostovtzeff und die unbekannten Kapitel des Buches „Skythien und der Bosporus“], in:

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„Die Ausgabe soll aus drei Bänden bestehen und die Tabellen sind für den Druck bereits vorbereitet: Der I. Band wird die wichtigsten Monumente von Nekropolen der griechischen Städte des Bosporanischen Reiches enthalten, die II. und III. Bände werden die Denkmäler der Skythen einschließen. Diese Ausgabe soll die Lücke in der Wissenschaftsliteratur, die bis heute keine allgemeine zusammenfassende Ausgabe der Altertümer ‒ von denen viele überhaupt noch nicht veröffentlicht wurden ‒ hat, schließen. Das gegenwärtige Werk stellt die Ergebnis der Arbeit von M. I. Rostovtzeff in den letzten Jahren dar.“ 394 Aus ähnlichen Gründen konnte auch dieses Projekt nicht realisiert werden. Als ob Rostovtzeff an der Verwirklichung dieses grandiosen Vorhabens im bolschewistischen Chaos selbst nicht geglaubt hätte, entschied er sich für eine kurze populärwissenschaftliche Darlegung der Hauptthesen der Untersuchung über Skythien und den Bosporus. So entstand das Buch „Hellenismus und Iranismus im Süden Russlands“. 395 Bemerkenswert ist dabei, dass das Vorwort zu dieser Ausgabe als auch zum Buch „Die Geburt des römischen Imperiums“ 396 mit demselben Tag, dem 25. Mai 1918, datiert ist. Die beiden Arbeiten des Althistorikers wurden im Verlag „Ogni“ veröffentlicht. Es ist offensichtlich, dass die beiden Einleitungen ‒ jeweils zwei Seiten ‒ vom Autor in Eile geschrieben worden waren. Die geplante Abreise aus Russland konnte am 1. April nicht realisiert werden; Rostovtzeff wartete auf eine baldige Zusage und war bereit aufzubrechen. Diese Wartezeit nutze er, um seine Arbeiten zu veröffentlichen, nicht zuletzt um das für die Reise benötigte Geld zu beschaffen. Den entsprechenden Hinweis liefert Rostovtzeffs Schreiben vom 25. Juni 1918, in dem das Autorenhonorar für die beiden Bücher genannt wird. 397 Interessant in Bezug auf die Wechselwirkung zwischen dem Leben Rostovtzeffs und seinen wissenschaftlichen Arbeiten ist vor allem das Buch „Die Geburt des römischen Imperiums“. Die politischen Ereignisse der zweiten Hälfte 1917 bis zur ersten Hälfte 1918 veranlassten den Althistoriker zu einer detaillierten Untersuchung der Geschichte

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VDI 1 (1989), 208–210; Ders.: Tvorčeskij putʼ M.I. Rostovtzeff [Der schöpferische Weg von M.I. Rostovtzeffs], in: VDI 4 (1990), 148–153, VDI 1 (1991), 166–176; Heinen 1993. Olʼdenburg, S.: Otčët o dejatelʼnosti Rossijskoj Akademii nauk po otdelenijam fiziko-matematičeskich i istoričeskich nauk i filologii za 1918 god, čitannyj v publičnom na zasedanii 29 dekabrja 1918 [Bericht über die Tätigkeit der Russischen Akademie der Wissenschaften für die Abteilungen der physisch-mathematischen und historischen Wissenschaften und Philologie, gelesen auf der Gesamtkonferenz am 29. Dezember 1918], Petrograd 1919, 35f, zitiert nach: Zuev 1990, 174. Vgl. Rostovtzeff, M.: Ėllinstvo i iranstvo na juge Rossii [Hellenismus und Iranismus im Süden Russlands], Petrograd 1918, 190 S. Im Vorwort schrieb Rostotzeff: „Der Weg, der mich zu meiner Konzeption führte, ist in meinen zahlreichen Artikel und Büchern über den Süden Russlands dargestellt; dieser Weg ist in der Gesamtform mit der Einbeziehung des gesamten Materials in meinem großen, sich im Druck befindenden Buch ‚Untersuchungen zur Geschichte Skythien und des Bosporus‘ zu erkennen“. Ebd., VI. Rostovtzeff, M.: Roždenie Rimskoj imperii [Die Geburt des Römischen Imperiums], Petrograd 1918, 145 S. Vgl. IRLI 212/143.

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der Bürgerkriege im antiken Rom. In der Einleitung dokumentierte er den Anlass dieser Schrift: „Ich verheimliche nicht, dass vor allem die von mir erlebten Ereignisse mich veranlassten, meine Gedanken über die Geburt des Römischen Imperiums zu publizieren. Diese Ereignisse zwangen mich, das Geschehene des hundertjährigen weltumfassenden Bürgerkrieges neu zu erleben. Ich bin weit entfernt, einen Vergleich anzustellen und ich denke, dass die Geschichte der Bürgerkriege in Rom niemanden zur Vernunft bringen und beeinflussen kann. Ich denke jedoch, dass es für jeden denkenden Menschen interessant und notwendig sowie psychologisch wichtig ist, beim Erleben der Gegenwart sich in die Vergangenheit zu vertiefen und zu versuchen, sie auch zu erleben. Politische Rezepte gibt die Vergangenheit nicht. Nur derjenige kann jedoch die Gegenwart bewusst erleben, der die Vergangenheit zu verstehen lernte. […] Meine Konzeption ist von mir fertig durchdacht. Ihre Grundlage bildet die Klärung der großen Bedeutung ‒ sowohl positiver als negativer ‒ der Bürgerkriege für die weiteren Schicksale der antiken und modernen Welt.“ 398 Bei der Analyse der Ursachen der römischen Bürgerkriege des 2. bis 1. Jahrhunderts v. Chr. betonte Rostovtzeff die besondere Rolle der Veränderung der sozialen Struktur der römischen Armee im 1. Jahrhundert v. Chr. Für diese neue „proletarische“ 399 Armee hätten materielle Anreize eine grundlegende Rolle gespielt. Daraus resultierend wäre sie in den Händen geschickter Führer zu einem für den Sieg entscheidenden Faktor geworden. 400 Es lässt sich zwischen den Zeilen lesen, dass der Autor sich beim Schreiben dieser Skizze die zum Aufstand angereizten Massen der russischen Bevölkerung vorstellte. Besonders lebhaft gelang Rostovtzeff die Beschreibung des moralischen Zustandes der römischen Bevölkerung nach dem Ende der Kriege „aller gegen alle“ 401: „Die Enttäuschung über die Politik, die Verdrängung aller anständigen Menschen vom Forum durch die Banden der Flegel und Gauner, ständige Gefahr und Besorgnis, erlebte Enttäuschungen von Freunden und Angehörigen, die Wunderrettung vor dem Tod und ständige, absolut unerwartete Verluste teurer Menschen und alles andere, was mit dem fieberhaften Leben der Zeit eng verbunden war und wovon niemand sich distanzieren oder wovor verbergen konnte, zwangen Menschen, sich in ihr Selbst zu vertiefen […].“ 402 Intuitiv projizierte Rostovtzeff die Ergebnisse der antiken Bürgerkriege auf mögliche Folgen des politischen Kampfes in Russland. Neben materiellen Zerstörungen bedauerte er 398 399 400 401 402

Rostovtzeff 1918, V. Rostovtzeff 1918, 21. Vgl. Rostovtzeff 1918, 14–21. Ebd., 27. Ebd., 117.

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den negativen Einfluss der Bürgerkriege auf die antike Kultur und befürchtete ähnliche Vorgänge in seinem Heimatland.

4.2.3 Dienstreise oder Exil? Die Zeitgenossen berichten über den panischen Zustand der Familie des Althistorikers am Vorabend der Abreise. Im Bekanntenkreis wollten Rostovtzeffs herausfinden, wie es Russen in Westeuropa gehe und wie sie angesehen würden. 403 Das Ehepaar fiel außerdem während Ostern 1918 in Petrograd auf. Es hieß: „In diesem Jahr auf der österlichen Frühmesse in der univ[ersit]ären Kirche waren Grevs, Rostovtzeff mit Frau, was zuvor nie gewesen war“. 404 Diese zwei Beispiele deuten auf das Befinden von Rostovtzeff und seiner Frau in den letzten Tagen vor der Abreise hin, vor allem aber auf ihre Ängste. Die bereits Anfang April ausgestellten Bescheinigungen für die Dienstreise des Althistorikers ins Ausland waren längst abgelaufen. Am 4. April 1918 bekam er die folgende Bescheinigung der Akademie der Wissenschaften in französischer Sprache: „L’Académie des Science de Russie certifie par la présente que Mr. Michel Ivanovic Rostovcev, member de lˊAcadémie, est envoyé per lˊ Académie des Sciences des Russie en Norvége, Angletterre et Suède pour un terme de six mois, à partir du 1 avril 1918, pour des travaux scientifiques dans les bibliothèques et musées des pays sus-mentionnés. LˊAcadémie des Sciences de Russie adresse à toutes les institutions gouvernementales et savantes ainsi quˊ à toutes les autorités et aux particuliers la demande de vouloir bien accorder leur concours éclair au success de la mission scientifique don’t lˊAcadémie a chargé Mr. M. I. Rosotvcev. Le Secrétaire Perpétuel, Membre de lˊ Académie ‚Serge dˊ Oldenrburg‘. Le chef de la Chancellerie/ p.i/ A. de Petroff.“ 405 Die schwedische Botschaft in Petrograd weigerte sich jedoch, das Visum für den Wissenschaftler aufgrund der in Schweden herrschenden Hungersnot auszustellen. Darauf reagierte Rostovtzeff, indem er sich am 17. April an Oscar Montelius (1843–1921) wandte.

403 Notiz im Tagebuch N.N. Platonovoj vom 19.3.1918, zitiert nach: Rostovcev 2006, 312. 404 Notiz im Tagebuch N.N. Platonovoj vom 24.7.1918, zitiert nach: Ebd., 311. Das Ostern 1918 fiel auf den Anfang Mai. 405 Certificat Akadémie impériale des Sciencea de Petrograd Nr. 584, in: RAN SPb 1054/1/30.

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In seinem Brief bat er den schwedischen Prähistoriker um die Unterstützung seiner wissenschaftlichen Arbeit in Bibliotheken in Uppsala und Stockholm für sechs Wochen. 406 Am nächsten Tag beantragte Rostovtzeff ein Visum für sich und seine Frau in der Botschaft Norwegens und gab dort außerdem einen Brief an den Slavisten, Professor der Universität Oslo Olaf Broch (1867–1961) ab: „Hochverehrter Kollege! Entschuldigen Sie, dass ich Sie mit einem persönlichen Anliegen belästige. Meine wissenschaftlichen Studien, die spezielle Arbeit zur Geschichte Südrußlands, die ich schon zu publizieren anfing, sind unterbrochen, weil es keine Möglichkeit gibt, notwendige Bücher und Zeitschriften zu erwerben. Deswegen träumte ich davon, ein paar Wochen in diesem Sommer in einem neutralen Land zu verbringen, um meine Arbeit fortzusetzen. Am bequemsten und angenehmsten schien es mir, diese Zeit in Christiania zu verbringen. Dort kann man Bücher aus England, Frankreich und Deutschland leichter bekommen und sich mit vielen Spezialisten, von denen ich gerne einige Informationen bekommen würde, in Kontakt setzen. Vieles finde ich ohne Zweifel in Ihren Bibliotheken, in denen das wissenschaftliche Leben nicht wie bei uns unterbrochen wurde. Ich weiß jedoch, dass Lebensmittelprobleme Norwegen zwangen, die Einreise einzuschränken. Aus diesem Grund zögerte ich einen Antrag auf ein Visum direkt in der norwegischen Botschaft in Petrograd zu stellen. Ich nehme mir die Freiheit, Sie zu bitten, mir eine Einreiserlaubnis in Norwegen zu erwirken. Wenn das Ihnen gelingt, bitte ich Sie, die norwegische Botschaft in Petrograd und mich persönlich zu benachrichtigen. Ich muss hinzufügen, dass ich von der Akademie abkommandiert bin und dass meine Frau Sofija Mich[ajlovna] Rostovtzeff mitreist. Ich kann sie unter diesen Umständen nicht allein in Russland zurücklassen. Ich bitte sehr um Ihr Verständnis und Ihre Hilfe. Ihr ergebener M. Rostovtzeff.“ 407 Seitdem figurierte Norwegen neben England und Schweden als ein drittes Zielland der Dienstreise Rostovtzeffs. Dementsprechend bekam der Wissenschaftler schon am 18. April 1917 einen neuen Nachweis der Akademie. 408 Nachdem sich kein Fortschritt in dieser Angelegenheit gezeigt hatte, wandte sich Rostovtzeff an den Professor der Petrograder

406 Vgl. Brief M. Rostovtzeffs an O. Montelius vom 16.4.1914 (auf Französisch), abgedruckt in: Wes 1990, 93f. 407 Brief M. Rostovtzeffs an O. Broch vom 17.4.1917, in: RAN SPb, abgedruckt in: Bongard-Levin 2003, 699f. 408 Im Dokument Nr. 861 (auf Französisch) im Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften wird Folgendes bestätigt: „La porteur du present, M. Michel Rostovtzeff, membre de lʼ Académie des Sciences de Russie et professeur ordinaire en philologie classique de lʼ Université de Pétrograd, se rend en Norvège, Suède et Angleterre à la recherche de matériaux indispensables pour lʼachèvement dʼun grand travail scientifique quʼil a entreprise“. In: RAN SPb 1054/1/30.

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Universität Aleksej Šachmatov 409, bei dem O. Broch Ende 1890er Jahre studiert hatte. Am 15. Mai schrieb Šachmatov seinem Studenten und jüngeren Freund wie folgt: „Sehr geehrter Olaf Ivanovič! Wir haben die Verbindung ganz verloren. Man sagt, Briefe erreichen Sie nicht, man muss sich an die Botschaft wenden. […] Ich habe eine große Bitte an Sie. Ich schreibe Ihnen auf Ansuchen unseres Akademiemitglieds, des hervorragenden Wissenschaftlers, Archäologen und Altphilologen Mich[ail] Iv[anovič] Rostovtzeff. Er hat vor, nach Norwegen zu fahren, und will dort den Sommer verbringen. Hier ist es unmöglich, zu arbeiten. Er braucht einen Bekannten, der ihm in der ersten Zeit helfen kann, unter anderem mit einem Geldakkreditiv. Schreiben Sie mir, ob Sie unserem berühmten Wissenschaftler helfen können. Kann er sich an Sie bei der Ankunft wenden?“ 410 Bald sandte Broch seinem russischen Lehrer eine Antwort, in der er seine Unterstützung für Michail Rostovtzeff versprach: „Ihr Brief ist das größte Ereignis in der letzten Zeit. […] Ich habe mich selbstverständlich M. Rostovtzeff zu Verfügung gestellt. Ich habe ihm eine Einwilligung verschafft, hierher zu reisen und bis September zu bleiben. Dann werden wir sehen. Ich habe ihm empfohlen, die Bibliotheken in Schweden zu besuchen. Darüber habe ich ihm schon in einer Antwort auf seinen noch vor Ihrem angekommenen Brief geschrieben. […] Ich habe eine Bitte an Sie: Verlieren Sie den Mut nicht. Sicherlich ist das bei solch schrecklichen Umständen sehr schwer, aber ich bitte sie: Halten Sie durch! Von Menschen, wie Ihnen, hängt schließlich die Zukunft Russlands ab.“ 411 Wann die Dienstreise von Michail Rostovtzeff begann, lässt sich nicht genau sagen. Er musste jedoch um Mitte Juni 1918 herum die für seine Abreise notwendigen Dokumente erhalten haben, da das Datum in der neuen Bescheinigung der Petrograder Akademie der Wissenschaften von dem 1. April auf den 15. Juni geändert wurde. 412 In „Adventures of a College Professor“ beschrieb Rostovtzeff seinen letzten Tag in Russland wie folgt:

409 Aleksej Šachmatov (1864–1920) war ein berühmter russischer Sprachwissenschaftler. Seit 1910 war er als Professor für russische Sprachwissenschaft an der Universität St. Petersburg tätig. Set 1906 war Šachmatov Mitglied des Staatsrates und der Duma. Er beteiligte sich u. a. an der Vorbereitung der Rechtschreibreform, die 1917 durchgeführt wurde. 1920 starb er an Unterernährung. Vgl. Makarov, V.: Aleksej Aleksandrovič Šachmatov, in: Bogatova, G. (Hg.): Otečestvennye leksikografy: XVIII–XX veka [Einheimische Lexikographen: 18.–20. Jahrhundert], Moskau 2000, 187–218. 410 Brief A. Šachmatovs an O. Broch vom 15.5.1918, in: Die Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek in Oslo aufbewahrt, abgedruckt in: Bongard-Levin 2003, 700. 411 Brief O. Brochs an A. Šachmatov vom 9.6.1918, in: RAN SPb 134/3/186. 412 Vgl. Bongard-Levin 2003, 710.

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„My last vision. A bright day in Juni 1918. I am boarding a steamer bound for Sweden. Last trial. Search of my luggage and of my body. Few friends on the landing place who came to see me off. Last whistle. I left my country, never to see it again.“ 413 In einem Brief an N. Kondakov wies er auf ein genaueres Abreisedatum hin: „Ich persönlich sammelte einige Brocken auf und verließ Ende Juni 1918 mit Sofija Michajlovna Russland“. 414 Daher kann angenommen werden, dass die Familie Rostovtzeff in der zweiten Junihälfte die schwedische Grenze überquerte. Diese Tatsache wird indirekt durch den ersten bekannten Brief des Historikers aus dem Exil bestätigt, der auf den 3. Juli 1918 datiert ist. 415 An dieser Stelle ist die Frage aufzuwerfen, ob Rostovtzeff im Sommer 1918 nur eine Dienstreise oder eine Emigration plante. Diese Frage lässt sich nur schwer beantworten, da eine ganze Reihe widersprüchlicher Informationen existiert. M. Wes vertrat in seiner Monographie über Rostovtzeff, ohne auf Einzelheiten einzugehen, folgende Auffassung: „It is unlikely that Rostovtzeff wanted to stay several weeks in Sweden purely for research purposes. On the other hand, it is also highly unlikely that in April 1918 he knew that his intended trip to Uppsala and Stockholm would be the start of a life-long exile from Russia“. 416 Die russischen Forscher bestehen darauf, dass die Reise des Historikers einen wissenschaftlichen Charakter hatte und Rostovtzeff ursprünglich nach Russland zurückkehren wollte. 417 Diese These wird zunächst damit begründet, dass Rostovtzeff nur das Notwendigste auf diese Reise mitnahm. Die Möglichkeit, dass der Wissenschaftler seine Privatbibliothek einfach zurücklassen konnte, ohne wichtige Schriften und Bücher in Sicherheit zu bringen, hielten viele für unwahrscheinlich. An dieser Stelle wird der aufschlussreiche Bericht einer Bekannten Rostovtzeffs als Beweis geliefert: „In meiner Abwesenheit aus Petrograd 1918 reisten Rostovtzeffs ins Ausland. Als ich zurückkam, traf ich in ihrer Wohnung andere Einwohner an. Sie sagten mir, 413 Rostovtzeff 1930er, 8. 414 Brief M. Rostovtzeffs an N. Kondakov vom 2.3.1919, in: RAN SPb 1054/1/74. 415 Der Brief M. Rostovtzeffs wurde am 3.7.1918 seiner Freundin A. Tyrkova-Williams aus Stockholm nach London gesandt. Der Brief ist abgedruckt in: Bongard-Levin 1997, 463. 416 Ebd. 417 Vgl. Bongard-Levin, G.: Akademik M.I. Rostovtzeff i russkaja ėmigracija [Der Akademiker M.I. Rostovtzeff und die russische Emigration], in: Ders 2002, 177; Ders.: Otʼʼezd akademika Rostovtzeff iz Rossii (novye archivnye materialy) [Die Abreise des Akademikers M.I. Rostovtzeff aus Russland (neue Archivmaterialien), in: Panejach, V. (Hg.): Stranicy rossijskoj istorii. Problemy, sobytija, ljudi, St. Petersburg 2003, 289–300; Vgl. Zuev, V.: Kratkij obzor fonda M.I. Rostovtzeff iz centralʼnogo gosudarstvennogo istoričeskogo archiva SSSR (Leningrad) [Der kurze Überblick der Bestände M.I. Rostovtzeffs im Zentralen Historischen Staatsarchiv der UdSSR (Leningrad)], in: VDI 4 (1991), 145–151.

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dass sie beim Aufräumen des Wohnraums viele verschiedene Briefe und Papiere verbrannt hatten.“ 418 Die geretteten Schriften wurden in der Folgezeit an das Zentrale Historische Staatsarchiv und Archiv der Akademie der Wissenschaften übergeben. Die Publikationen zur Geschichte des Klassischen Altertums, Klassischen Philologie und Archäologie der Antike aus Rostovtzeffs Privatbibliothek wurden später der wissenschaftlichen Bibliothek der Leningrader Universität überreicht und bilden dort seitdem einen gut geordneten Fundus der Bücher zur Alten Geschichte. 419 Die Historiker weisen darüber hinaus auf Rostovtzeffs Antrag zur Verlängerung des Auslandsaufenthalts ab dem 1. Januar 1919 für weitere sechs Monate hin. Diese Angelegenheit wurde bei der Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 18. September 1918 diskutiert. Die Verlängerung der Dienstreise wurde Rostovtzeff verweigert. Außerdem wurde beschlossen, keine Unterhaltskosten für alle nicht zur festgelegten Frist am 1. Januar 1919 zurückgekehrten Wissenschaftler zu bezahlen. Dennoch bekam Rostovtzeff sein Gehalt bis zum 1. April 1919. Am 6. Juli 1919 schickte er an die Akademie der Wissenschaften einen ausführlichen Bericht über seine wissenschaftliche Tätigkeit vom Juni 1918 bis Juli 1919 in Europa. 420 Die oben genannten Argumente sind auf den ersten Blick überzeugend, können jedoch widerlegt werden. Es ist in Betracht zu ziehen, dass eine strenge Kontrolle der Abreisenden keine Möglichkeit ließ, mehr Gepäck mit sich zu nehmen, als ein Mensch für eine kurze Reise gebraucht hätte. Dem Wissenschaftler war dies ohne Zweifel bewusst und er wollte sicherlich seine schwer erarbeitete Chance, das bolschewistische Russland zu verlassen, dadurch nicht verlieren. Im herrschenden Chaos konnte er außerdem keine Zeit sowie keine Möglichkeit finden, seine Bibliothek in Sicherheit zu bringen. Seine Berichte aus Europa konnten die Tat eines gewissenhaften Wissenschaftlers sein, der sich gegenüber seinen Kollegen verpflichtet fühlte, die versprochenen Aufgaben zu erfüllen. Wenn Michail Rostovtzeff nur eine Dienstreise plante, wie könnte man dann seine letzten Worte „Bleibt, wenn ihr könnt. Seid Sklaven, aber werdet keine Diener“ 421, die er seinen Freunden am Tag seiner Abreise am Hafen sagte, erklären? Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage nach den Motiven von Rostovtzeff. Es scheint, dass er Ende 418 Kuprina-Iordanskaja 1960, 354. 419 Die universitäre Bibliothek erhielt die Bücher aus der Kollektion Rostovtzeffs im Jahr 1929. Sie bekamen eine spezielle Signatur „R“ und zählten zu den wichtigsten Beständen der Universität Leningrad. Vgl. Gorfunkelʼ, A./Nikolaev, N. (Hg.): Neotčuždaemaja cennostʼ. Rasskazy o knižnych redkostjach universitetskoj biblioteki [Ein unveräußerlicher Wert. Erzählungen über Βuch-Raritäten der universitären Bibliothek], Leningrad 1984, 174. 420 Vgl. Bongard-Levin, G.: Otčët M.I. Rostovtzeff o zarubežnoj komandirovke [Bericht M.I. Rostovtzeffs über die ausländische Dientsreise], in: VDI 3 (1994), 230–238; Protokolle der Sitzungen der Russischen Akademie der Wissenschaften 1918/19 in: RAN SPb, auszugsweise in: Ebd., 237. 421 Vaneev, A.: Dva goda v Abezi: V pamjatʼ o L.P. Karsavine [Zwei Jahre in Abez: Zum Andenken an L.P. Karsavin], Brüssel 1990, 113.

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1917 tatsächlich eine Reise zu wissenschaftlichen Zwecken plante. Unter den sich rasch verschlechterten Lebens- und Arbeitsbedingungen änderten sich seine Prioritäten. Der Überlebensinstinkt stellte nur ein Ziel in den Vordergrund: aus Russland zu fliehen. Die Entscheidung, das Heimatland nicht mehr zu betreten, sollte er später unter der Berücksichtigung der politischen Ereignisse in Russland treffen. 422 Kurz nach der Abreise Rostovtzeffs, am 5. Juli 1918, erschien als letzter politischer Aufsatz in seinem Heimatland „Russlands Fassade“ 423. „Glänzend und repräsentativ war diese Fassade“ 424, stellt der Autor fest. Zu dieser Fassade gehörten sowohl die äußeren Erscheinungen, wie Petersburg, der Moskauer Kreml, die Uferpromenade in Odessa, „bequeme Waggons der I. und II. Klasse“ 425, luxuriöse Wolgaschiffe, als auch die inneren Merkmale, wie die „mächtige Literatur, wundervolle flexible Sprache, tiefsinnige Musik, raffinierte Malerei, prächtige und bedeutende Leistungen“ 426 der russischen Wissenschaft. Aber was sich hinter dieser glänzenden Fassade verborgen hätte, wussten nur wenige Russen. Viele Rostovtzeffs Zeitgenossen begnügten sich damit, ausschließlich das äußere Erscheinungsbild des Landes zu bewundern. Der Krieg und die Revolution hätten alle gezwungen, hinter die Fassade Russlands zu blicken: „Es wurde sofort deutlich, dass sich ein in Eile errichtetes Bauwerk […] hinter der Fassade versteckt. Die Armee, die die Heimat verriet; Arbeiter und Bauern, die für die Mirage des Raubs und der vorübergehenden Bereicherung ihre mit Mühe angesammelten Güter aufgaben; die intelligencija, die sich vor der Größe der AufbauAufgabe verlor, in gekünstelten Theorien verlief, ihre Kraft in Arbeitskreisdiskussionen verbrauchte und so schnell vom Siegesrausch zur tiefen Verzweiflung, zum 422 Als Rostovtzeff im Sommer 1918 sein Heimatland verließ, befand sich die bolschewistische Regierung in einer schweren Krise. Sie musste gegen die äußeren und inneren Gegner kämpfen. Die gegenrevolutionären Kräfte organisierten den Widerstand im Ural und in Sibirien unter der Führung von Admiral Kolčak und in Südrussland von General Denikin. Die Weiße Armee bekam finanzielle Unterstützung von den Alliierten, die selbst eine bewaffnete Intervention begannen. Die Sowjets mussten auf mehreren Fronten kämpfen. Die beträchtlichen Gebietsverluste, die durch die Besatzung der Truppen der Alliierten und der verschiedenen antibolschewistischen Einheiten verursacht worden waren, führten zur Verschärfung der Wirtschaftskrise. Darüber hinaus wurde ein Aufstand gegen das Regime von den Sozialrevolutionären im Juli 1918 organisiert. Einen Monat später, am 30.8.1918, wurde das Attentat auf Lenin unternommen und der Chef der ČK in Petrograd ermordet. Das Ende der Herrschaft der Bolschewiki schien für viele unvermeidlich zu sein. Es geschah jedoch das Gegenteil. Im Herbst 1918 führte Lenins Partei neue kriegswirtschaftliche Organisationen ein und reformierte die Rote Armee. Die Aufhebung der Wirtschaftsblockade durch die Alliierten und Fehler der Gegenrevolutionäre, die sich nicht bei der Führung der militärischen Operationen sowie bei politischen Zielen einigen konnten, verhalfen den Bolschewiki zum Sieg. Bis zum Frühjahr 1920 wurde der größte Teil der Weißen Armee zurückgeschlagen. Vgl. Haumann, H.: Sozialismus als Ziel: Probleme beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung (1918–1928/29), in: Schramm 1983, 624–649. 423 Vgl. Rostovtzeff, M.: Fasad Rossii [Russlands Fassade], in: Naš vek vom 5.7.1918, 3. 424 Ebd. 425 Ebd. 426 Ebd.

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Verlust von allem, an das sie glaubte und was sie für ihre Ideale hielt, übergegangen ist.“ 427 Rostovtzeff kritisiert die Versuche, die Ursachen für das Geschehene in der Besonderheit des russischen Volkes zu suchen. Er war überzeugt, die Gründe dafür seien in den Voraussetzungen, unter welchen sich die russische Gesellschaft entwickelt hatte, und in der „infolge dieser Entwicklung entstandenen Mentalität des Volkes“ 428 sowie in der jüngsten Vergangenheit zu finden. Der Althistoriker schlägt vor, sich „die einzelnen Bestandteile des Volkes“ 429 näher anzusehen. Er beginnt mit der intelligencija. Dabei will er sich nicht mit den „Spitzen der intelligencija“ 430, sondern mit ihren „millionenfachen Massen“ 431 befassen. Die grundlegende Eigenschaft dieser intelligencija-Schicht besteht darin, dass sich ihre äußere Bildung mit der absoluten Unkenntnis des Alphabets und der Ignoranz des eigenen Berufes vermischt. „Ein Lehrer hasst seine Klasse genauso wie ein Beamter seine Kanzlei, ein Verkäufer seinen Laden und sogar ein Arzt seine Patienten“, stellt Rostovtzeff fest. Für die Vertreter der intelligencija-Masse sei die tägliche Berufsausübung eine corvée, die ihre Wurzeln in der Leibeingenschaft hätte: „Deswegen sind wir alle faul und lieben keine Arbeit, [wir] arbeiten selbstvergessend, wenn es dringlich wird, und nicht systematisch und regelmäßig. So arbeitet ein Schüler von der Dorfschule bis zur Universität während anstrengender Prüfungszeit, genauso arbeitet ein Bauer nur während der Erntezeit; einer [macht das] unter dem Druck eines möglichen Durchfallens, ein anderer aus Angst vor Hunger. Das ist kein Defekt des Intellekts, sondern ein Defekt des Willens. Vor langweiliger Arbeit läuft man davon, aber es gibt doch auf der Welt keine amüsante Arbeit. Eine Schaffensminute wird mit langen Jahren schwerer mühsamer Arbeit bezahlt.“ 432 Aus diesem Grund hätte man Angst vor dem Klassizismus und den alten Sprachen. Rostovtzeff bestreitet ihren reaktionären Charakter und wirft den Kritikern den Mangel an Selbstdisziplin vor. „Die Freiheit, die wissenschaftliche Weltanschauung verlangen eine Willensausdauer und eine große bewusste Kraft. Der Stock und die Sklaverei sind die bequemsten Formen der Lebensweise für alle schwachen und willenlosen“, so war Rostovtzeffs Überzeugung. Der Autor beklagt den „religiösen Ritus“ 433 statt einer „echten Religion“ 434 bei der russischen Bevölkerung. Weil echter Glaube eine anstrengende seelische Arbeit verlange, sei427 428 429 430 431 432 433 434

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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en vereinfachte Ideen in Russland verbreitet. Aus diesem Grund gäbe es viele Sozialisten im Land: Vereinfachte Hypothesen würde man leichter wahrnehmen. Rostovtzeff fasst die oben aufgeführten Beobachtungen als eine „Krankheit des Willens“ 435 zusammen; diese verbindet er mit der Leibeigenschaft. Die Geschichte der Leibeigenschaft würde ihn schon seit längerer Zeit interessieren. Im Laufe der Entstehung, des Verlaufs sowie der Abschaffung der Leibeingenschaft hätte sich immer die gleiche Mentalität gezeigt. Zunächst erklärt der Autor die Unterschiede zwischen einem Sklaven und einem Leibeigenen. Ein Sklave zu sein wäre ein vorläufiger Zustand. Ein Sklave sei zuvor ein freier Mensch gewesen. Ein Leibeigener sei auf den ersten Blick ein freier Mensch, jedoch ohne sein eigenes Eigentum. Aus diesem Grund würde er weder seinen Acker noch seine Arbeit lieben. Die tägliche Arbeit sei für Leibeigene eine Last, die sie zu tragen hätten. Die Freiheit und der Bürgersinn seien in Griechenland und Italien ‒ in der Welt des Privateigentums, der kleinen Gemeinde, der individuellen Götter ‒ und nicht etwa im Orient mit seinem Absolutismus und seiner Theokratie entstanden. Ein Leibeigener verstehe nicht, was die Freiheit bedeutet, und könne keine Heimat haben. Aus Leibeigenen könnte keine Armee gebildet werden; sie seien schließlich zur Bildung einer guten Bürokratie tauglich. Dabei sei die Leibeigenschaft imstande, ihre eigene besondere, wenn auch unpersönliche und abstrakte, Kultur und Religion zu erschaffen. Ein Leibeigener hätte also weder den Willen noch die Freiheit. „Der Wille und die Freiheit sind wie der Bruder und die Schwester, der dritte in diesem Bündnis sind das Eigentum, das Haus und die Familie“, fuhr der Althistoriker fort. Er war der Meinung, dass die Leibeigenschaft sowohl in Russland als auch in Westeuropa ein Staatsprodukt sei. Im Gegensatz zu Franzosen, die ihre Freiheit erlitten hätten, hätten die Russen ihre Freiheit geschenkt bekommen. Deswegen sei man in Russland nicht gewohnt, frei zu sein. Rostovtzeff ist überzeugt, dass man die Freiheit nur durch „eine vorübergehende Entziehung der Freiheit, eine Probezeit in der Sklaverei“ 436 erlernen würde. Nur auf diese Weise könnten der Wille und die Freiheit gewonnen werden: „Wenn wir Kraft haben, ‒ und dafür spricht unsere glänzende Fassade ‒ dann werden wir diese Prüfung in der Mehrheit bestehen; viele werden fallen. Aber in den Strahlen der Freiheit wird sich der Nebel der Leibeigenschaft verziehen, auch in ihrer modernsten Form, in der Form des wissenschaftlichen Sozialismus.“ 437 Im Sommer 1918 war der russische Lebensabschnitt Rostovtzeffs zu Ende. Er war ein Wissenschaftler, der sich zunächst nur etwas für die Politik interessierte. Die Ereignisse der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts verwandelten ihn in einen aktiven Teilnehmer am politischen Leben in Russland. Die bolschewistische Revolution im Oktober 1917 vertrieb den Historiker aus seinem Heimatland. Er ging einen neuen Weg und wusste 435 Ebd. 436 Ebd. 437 Ebd.

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Nach der Abreise: Ausblick

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damals noch nicht, wie und wo er enden würde. Bereits in den ersten Tagen seiner Emigration beschäftigte sich Michail Rostovtzeff mit solchen Gedanken. In einem Brief an seinen Freund Nestor Kotljarevskij 438 schrieb er im Juli 1918: „Ich nutze die Möglichkeit, dir eine Nachricht über uns zu schicken. Ich weiß nicht, ob sie dich erreicht. Es gibt keine direkten Verbindungsmöglichkeiten. Man ist gezwungen, Gefälligkeiten verschiedener fragwürdiger Menschen zu nutzen. Das Verlassen der Reichweite der geliebten Bolschewiki war für uns natürlich ein angenehmes Ereignis. Menschen verhalten sich uns gegenüber insgesamt gleichgültig: nicht schlecht, nicht gut. Kollegen und Bekannte zeigen eher mehr Mitgefühl und sogar etwas herzliches Entgegenkommen. Übrigens habe ich solche [Freunde] hier nicht viele, deswegen kann ich darüber nicht viele Beobachtungen machen. Insgesamt waren alle, mit denen ich verkehrte, jedoch entgegenkommend und nett. Sie helfen gern, wenn du Hilfe brauchst […] Die Seelenruhe habe ich aber auch hier natürlich nicht gefunden […]. Gruß an alle Kollegen. Meine weitere Zukunft liegt noch im Dunkeln.“ 439

4.3 Nach der Abreise: Ausblick Im Schicksal von Michail Rostovtzeff spielte sein Wahlwohnort St. Petersburg sowie die Zeit, in der seine Entwicklung als Wissenschaftler verlief, eine eminente Rolle. Genauso groß war die Bedeutung des Zeitpunktes, an dem der Althistoriker das bolschewistische Petrograd verließ. Dass ihm dies im Juni 1918 gerade noch rechtzeitig gelang, kann nicht genug unterstrichen werden. Auch Rostovtzeff wurde die Richtigkeit seiner Entscheidung bewusst: „Es gab in Russland entschieden nichts zu tun, es gab nichts, womit man kämpfen konnte; und unnötigerweise zur Freude der Bolschewiki zu sterben, hielt und halte ich für überflüssig. Wenn ich selber will und die Natur das fordert, dann sterbe ich, aber nicht dann, wann sich die Bolschewiki das wünschen.“ 440 Kurz nach Rostovtzeffs Abreise brach die Cholera in Petrograd aus. Die Krankheit verbreitete sich so schnell, dass zum 21. Juli bereits 1.611 von den 4.668 in Petrograder Kran438 Nestor Kotljarevskij (1863–1925) war ein russischer Literaturhistoriker und Akademiker der Russischen Akademie der Wissenschaften. Ausführlicher siehe dazu Rosanov, M.: N.A. Kotljarevskij. Nekrolog (auf Russisch), in: Izvestija Akademii Nauk SSSR 20 (1926), 461–471. 439 Brief M. Rostovtzeffs an N. Kotljarevskij vom Juli 1918 ist abgedruckt in: Bongard-Levin 2003, 701. 440 Brief M. Rostovtzeffs an N. Kondakov vom 19.9.1919, in: Ebd., 434.

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kenhäusern registrierten Patienten starben, u. a. der Professor der Bestužev-Kursen Nikolaj Karcev (1856–7.7.1918).  441 „Die ‚Bourgeosie‘ soll vor die Wagen für den Abtransport der Leichen gespannt und gezwungen werden, Gräber für die Cholera-Opfer auszuheben“. 442 Im September 1918 wurde der sogenannte Rote Terror in Russland proklamiert. Das war die Reaktion der Bolschewiki auf die Ermordung des Leiters der Petrograder Tscheka M. Urickij sowie auf das Attentat auf Lenin am 30. August. Die Dekrete vom 4. und 5. September 1918 führten den Roten Terror sowie die Praxis der Geiselnahme ein. Menschen, die irgendwelcher Verbindung mit konterrevolutionären Kräften verdächtigt wurden, sollten auf der Stelle erschossen werden. Nach einem ähnlichen Zufallsprinzip wurden auch die Geiseln genommen. Zum Opfer konnten beliebige Vertreter des alten Regimes bzw. Kritiker der bolschewistischen Herrschaft fallen. Wie bereits erwähnt wurde, wohnte der ermordete Leiter der Petrograder ČK in der Nachbarschaft von Rostovtzeff, dessen aktive, wenn auch ehemalige Teilnahme an der Politik der KadettenPartei ein ausreichender Grund für eine Geiselnahme oder gar Erschießung in diesem Herbst gewesen wäre. Laut der offiziellen Statistik der Bolschewiki wurden allein im September 1918 500 Geiseln in Petrograd erschossen; inoffiziell sprach man über 1.000 Getöteten. 443 Dies war der Anfang einer grausamen Gewaltwelle, die russlandweit losbrach. R. Pipes betont, dass der bolschewistische Terror seit jenen Ereignissen einen neuen, „systematischeren, stärker politisch geprägten“ 444 Charakter angenommen hätte. Selbst ein gegenüber der bolschewistischen Regierung loyaler Zeitgenosse, der 1918 im Kriegskommissariat arbeitete, war vom Geschehen schockiert: „Jeder, der in jenen grausamen Tagen in Petrograd war, weiß, welche wilde Zügellosigkeit, welcher Eigenwille damals in der Hauptstadt herrschten. […] Bewaffnete Rotgardisten stürmten in Häuser hinein und verhafteten Personen nach ihrem eigenen Ermessen. Es konnte keine Rede sein, dass die Verhafteten auch eine entfernteste Beziehung zum Mord oder zum Attentäter selbst hätten. […] Die Verhafteten wurden ohne jedes Verhör ins Gefängnis geschickt, obwohl deren Schuld nur darin bestand, ‚buržuji‘ oder Intellektueller zu sein. Und diese unschuldige Menschen galten als Geiseln.“ 445 Viele Petrograder Intellektuellen wurden zu Opfern der verschärften Politik der Bolschewiki. Darüber hinaus starben Wissenschaftler entweder an Hunger und Krankheiten oder 441 442 443 444 445

Vgl. Knjazev 1993, 137; Jarov 2013, 175. Gippius 2014, Notiz vom 5.7.1918, 371. Vgl. Jarov 2013, 418; Gippius 2014, Notiz vom 1.9.1918, 375. Pipes 1992, 797. Smilg-Benario, M.: Na sovetskoj službe [Im sowjetischen Dienst], in: Gessen 1921, 149. Bereits 1919 flüchtete der Jurist Michail Smilg-Benario (1895–1977) nach Berlin, wo er u. a. als Publizist tätig war. Zu ihm vgl. kurze biographische Notiz, unter: http://www.dommuseum.ru/index.ph p?m=dist&pid=13444&PHPSESSID=da6e293f80df7744931d451004f6ae4b (letzter Abruf am 2.3.2016).

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Nach der Abreise: Ausblick

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nahmen sich aus Hoffnungslosigkeit das Leben. Nacheinander verlor Petrograd die Historiker und Akademiker A. Lappo-Danilevskij (1863–7.2.1919) und M. Dʼjakonov (1855– 10.8.1919), den Geologen A. Inostrancev (1843–31.12.1919), den Philologen A. Šachmatov (1864–16.8.1920), den Politologen M. Ostrogorskij (1854–10.2.1921) und viele andere. Pitirim Sorokin, der zwischen 1919 und 1922 als Professor der Soziologie in Petrograd tätig war, erinnerte sich an die universitären Sitzungen in dieser Zeit wie folgt: „Die Sitzungen der Lehrkörper unterscheiden sich jetzt kaum von Gedenkfeiern für unsere Kollegen. Am Ende einer solchen Sitzungen wandte sich der Rektor Šimkevič an die Anwesenden mit seinem düsteren Humor: ‚Meine Herrschaften, Ich bitte Sie ergebenst, nicht so schnell zu sterben. Wenn Sie in eine andere Welt übergehen, finden Sie eine Beruhigung für sich, aber für uns bereiten sie damit eine Menge von Unannehmlichkeiten. Sie wissen doch, wie schwierig es ist, Sie mit Särgen zu versorgen, [und] dass es keine Pferde zum Transport Ihrer Reste zum Friedhof gibt und wie teuer es ist, ein Grab für Ihre ewige Ruhe auszugraben. Denken Sie bitte zuerst an Ihre Kollegen und versuchen Sie, so lange wie möglich, auszuhalten.‘“ 446 Es dauerte wenige Jahre nach Rostovtzeffs Abreise, bis das ihm vertraute Petersburg vollständig ausgelöscht worden war. Rostovtzeff und andere Vertreter der russischen intellektuellen Welt, die vor und nach ihm vor den Bolschewiki geflüchtet hatten, verkörperten die glänzende europäische Kultur Russlands Ende des 19.‒Anfang des 20. Jahrhunderts. Dieser Teil der russischen Gesellschaft mit ihren Werten und ihrer Lebensweise ging in die Emigration. Was blieb von dem alten Russland? Noch im Juli 1918 wurde die Zarenfamilie erschossen. Rostovtzeffs Wohnung besetzten neue Bewohner, die die letzten Spuren des Althistorikers aus Not verbrannten. Auch die Straße Bolšaja Morskaja, wo Rostovtzeff 15 Jahre gelebt hatte, wurde 1918 nach dem Begründer des sogenannten „russischen Sozialismus“, dem Schriftsteller Aleksander Gerzen (Herzen 1812–1870) 447 unbenannt. Schließlich wurde Michail Rostovtzeff 1928 aus der Akademie der Wissenschaften UdSSR ausgeschlossen. In seinen „Seiten der Erinnerung“, die zum 80. Geburtstag von N. Kondakov verfasst wurden, zog der Althistoriker das Fazit seines „russischen“ Lebensabschnittes mit den folgenden Worten: „Wir alle ‒ sowohl diejenigen, die unter dem bolschewistischen Joch ein trauriges Leben fristen, als auch diejenigen, wie ich und N. P. [Kondakov], die aus diesem Joch ausbrachen, ‒ wurden für Russland, für das wir gelebt und gearbeitet hatten, nutzlos. Unsere Arbeit in Russland ist zertrampelt und zerschlagen.“ 448

446 Sorokin 1992, 132; vgl. Jarov 2013, 110. 447 Vgl. Hildermeier 2013, 864–867. 448 Rostovtzeff 1924, in: Kondakov 2002, 215.

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1917: Vom zaristischen zum bolschewistischen Russland

Mit der Emigration im Sommer 1918 begann ein neuer Abschnitt im Leben des Althistorikers. Das Leben eines Emigranten fiel ihm schwer, vor allem in den ersten Jahren. Da Mitte 1918 der Bürgerkrieg in Russland noch nicht entschieden und die Hoffnung auf den Sturz der Bolschewiki realistisch war, begann Rostovtzeff gleich nach der Flucht aus Russland eine gegen den Bolschewismus gerichtete politische Arbeit. Er wurde zu einem der namhaften Repräsentanten der russischen Wissenschaft im Ausland, der seine Landsleute organisierte, Vorlesungen über die Situation im Sowjetrussland hielt („The Contribution of Russia to learning“ 449) sowie zahlreiche politische Schriften verfasste. 450 Bereits im Februar 1918 war das Russian Liberation Committee, eine der einflussreichsten sozialpolitischen Organisationen der Russen in dieser Zeit in England, gegründet worden. Rostovtzeff wurde zum Vorsitzenden des neunköpfigen Zentralkomitees, dem u. a. auch seine alten Parteikollegen P. Miljukov und A. Tyrkova-Williams angehörten. Der Althistoriker verfasste außerdem das Statut dieser Organisation. Das Ziel des Committees war es, die europäische Öffentlichkeit über die reale Lage im bolschewistischen Russland zu informieren sowie die Weiße Bewegung durch die Koordination und die Informationen zu unterstützen. Neben verschiedenen Propagandabroschüren und -bulletins gab das Russian Liberation Committee unter der Redaktion Miljukovs die Wochenzeitschrift „The New Russia“ (1919–1920) heraus. 451 In dieser Zeitschrift und auch auf den Seiten der anderen Emigrantenperiodika, wie „Struggling Russia“, „The New Europe“, „Russian Life“ oder „Sovremennye zaspiski“, entfesselte Rostovtzeff einen publizistischen Krieg gegen die Bolschewiki. Rostovtzeffs erste Artikel in der Emigration stammen aus dem Herbst 1918. In diesen drei Schriften ‒ „Praxis und Ziele des Bolschewismus“, „Intervention und ‚laissez-aller‘“ und „World Bolshevism“ 452 ‒ werden die bolschewistische Politik und ihre Durchsetzung vom Augenzeugen entlarvt. Der Autor rief die Alliierten zur Bekämpfung der Bolschewiki auf. Die Notwendigkeit der Intervention begründet er sowohl mit der begonnenen Vernichtung der russischen Kultur und ihrer Träger in Russland als auch mit möglichen Folgen der Festigung und Verbreitung des Bolschewismus für Europa. Der Althistoriker

449 Diese Vorlesung, die Rostovtzeff am 25. April 1919 an der Universität Manchester gehalten hatte, wurde ein Jahr später in London veröffentlicht. Vgl. Rostovtzeff, M.: The Contribution of Russia to learning, in: The Quarterly Review 233 (1920), 272–287. 450 Vgl. Tunkina 1997, 94f; Heinen 1986, 393; Bongard-Levin, G.: M.I. Rostovtzeff in England: A personal Experience of West and East, in: Tsetskhladze, G.: Ancient Greeks west and east, Brill 1999, 1–45. 451 Vgl. Kaniščeva, N. (Hg.): Dnevnik P.N. Miljukova [Tagebuch P.N. Miljukovs]. 1918–1921, Moskau 2004, 350–360; Tinkina 2002, 7ff. 452 Vgl. Rostovtzeff, M: Praktika i celi bolʼševisma [Die Praxis und Ziele des Bolschewismus] (undatiert, Oktober 1918?), in: Yale University Library. Manuscripts and Archives. Mikhail I. Rostovtzeff Papers: Manuscript group Nr. 1113. Series 1. Box 14, Folder 139 (Political articles about Russia), abgedruckt in: Tunkina 2002, 41–48; Intervencija i „laissez-aller“ [Die Intervention und „laissez-aller“] (undatiert, November 1918?), in: Ebd., 49–54; World Bolshewism, in: The New Europe vom 5.12.1918, 169–173.

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Nach der Abreise: Ausblick

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vergleicht den russischen Bolschewismus mit einem Abszess, der nur mittels eines chirurgischen Eingriffs beseitigt werden könnte. 453 1919 schrieb Rostovtzeff seinen in der Emigration wohl bekanntesten politischen Artikel „Proletarian Culture“ 454, in dem er sich mit der bolschewistischen Politik im Wissenschafts- und Bildungsbereich auseinandersetzte. Im gleichen Jahr verfasste er weitere Schriften, in denen er als Augenzeuge die Herrschaft Lenins scharf verurteilte („Bolshevist Rule. What it means to Culture. Campaign of Distruction“, „Feeding Russia“ 455). Ein genauso scharfes Urteil gab der Althistoriker über die zögerliche Politik der Westmächte gegenüber seinem Heimatland ab und forderte diese direkt auf, den antibolschewistischen Kräften in Russland mit der Besetzung von Petrograd und Moskau zu helfen („A Nightmare“ 456). Im Artikel „Organisation des futures relations scienifiques entre les pays allies“ 457 griff Rostovtzeff die Frage der Organisation der wissenschaftlichen Kontakte zwischen Russland und den Alliierten-Ländern wieder auf, mit der er sich während des Ersten Weltkrieges viel beschäftigt hatte. 1920 war für Rostovtzeff als politischen Publizisten das ertragreichste Jahr schlechthin. Auch thematisch wurde die Auseinandersetzung des russischen Historikers mit den Bolschewiki ausgeweitet. Besonders auffallend sind die Schriften, die Rostovtzeff seinen verstorbenen Kollegen widmete („Gedenkfeier (zum Andenken an vernichtete Freunde und Kollegen)“, „Martyrs of Science in Soviet Russia“ 458). Äußerst emotional erinnerte der Autor an die Verdienste der russischen Wissenschaftler, die zu Opfern des bolschewistischen Regimes wurden. Mit diesem Schreiben ehrte Rostovtzeff seine Freunde und Kollegen namentlich: „Their lives had been arduous, and their death war tragic. Their ideals of freedom and their quest für knowledge and for the truth, for the preachings of science untrammelled by the blinkers of theory ‒ proved incompatible with the sad realities of Russian reaction, black … and even more so in its recent red variety. In justice to the old régime, it must be said that however adverse it may have been to men of science, and however much the latter may have suffered, it never reached the Herculean pil453 Vgl. Rostovtzeff 1918 (World Bolshevism), 171. 454 Rostovtzeff, M.: Proletarian Culture, London 1919 und in: The Russian Liberation Committee’s Publications 11 (1919), 3–18; „Proletarian Culture“ in Bolshevist Russia, in: Strugglung Russia vom 27.9.1919, 459–462 und vom 25.10.1919, 484–487. 455 Vgl. Rostovtzeff, M.: Bolshevist Rule. What it Means to Culture. Campagne of Destruction, in: The Times vom 10.1.1919, 1f; Feeding Russia, in: The New Europe 11 (1919), 64–67. 456 Vgl. Rostovtzeff, M.: A Nightmare (undatiert, April–Juni 1919?), in: Yale University Library 1113/1/14/139, in russischer Übersetzung in: Tunkina 2002, 61–65. 457 Vgl. Rostovtzeff, M.: Organisation des futures relations scientifiques entre les pays allies (undatiert, Juni–Juli 1919?), in: Ebd., 65–72. 458 Vgl. Rostovtzeff, M.: Pominki (pamjati zagublennych druzej I kolleg) [Gedenkfeier (zum Andenken an vernichtete Freunde und Kollegen)], in: Sovremennye zapiski 2 (1920), 235–241; Martyrs of Science in Soviet Russia, in: The New Russia vom 1.7.1920, 275–278 (I. Teil); 23.9.1920, 113–116 (II. Teil).

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1917: Vom zaristischen zum bolschewistischen Russland

lars of arbitrariness and oppression so easily attained by the Bolshevik Commissars. […] It never dawned upon these Ministers of the old régime that a prominent scientist could be shot without trial on the strength of a spyʼs report, as the Bolsheviks did with the well-known Slav scholar, Professor Florinski, of the Kiev University, and with the mild, timorous, true Christian in the best sense of the word, Professor of the Petrograd University and historian of the Church, I. D. Andreev, who was shot not long ago at Yeletz. […] Is one to wonder that in such an atmosphere scientists die one after another, not so much of hunger as of complete nervous exhaustion, or commit suicide, as the prominent professor of law at Moscow, V. Khvostov, the Moscow philosopher Viktorov and my colleague of the Academy of Science, the famous mathematician Liapounov, have done?“ 459 In den weiteren Aufsätzen werden die Gründe für die Ablehnung bzw. für die Akzeptanz des bolschewistischen Regimes durch die Vertreter der intelligencija erörtert („Die Bolschewiki und intelligencija“, „Why the Russian Inteligentsia Is Opposed to the Bolshevist Regime“ 460). Daran knüpfen seine Schriften über die Entwicklung der Bildung und Wissenschaft in der „Lunačarskijʼs ‚aufgeklärten‘ Diktatur“ 461 an. Die Veränderungen in Sowjetrussland verfolgte Rostovtzeff mittels der Berichte der neu angekommenen Emigranten und der offiziellen bolschewistischen Verordnungen („Schools and Education in Bolshevist Russia“, „Bolshevist as Educationalists“, „The Present State of the Russian Universities“ 462). Bereits in den genannten Artikeln wird die Frage über die Zukunft der jüngeren Generation der emigrierten Russen angedeutet und im Artikel „Russian Youth Abroad“ 463 in den Fokus gerückt. Rostovtzeff beklagt allgemein die mangelnde Unterstützung der aus dem bolschewistischen Russland geflüchteten Wissenschaftler in Europa. Der Althistoriker war überzeugt, dass die Bolschewiki irgendwann gestürzt werden müssen. Da er dies nicht für die Zeit seiner Generation vermutete, trat er für die Vorbereitung der jungen Russen auf die Rückkehr in die Heimat ein. Diese Vorbereitung sollte in Form einer speziellen ergänzenden Ausbildung erfolgen, deren Ziel die Aufrechterhaltung der russischen Sprache und Kultur sein sollte. Eifrig verfolgte Rostovtzeff darüber hinaus jede Meinung der Europäer über sein Heimatland unter der Herrschaft der Bolschewiki und setzte sich damit in entsprechenden

459 Rostovtzeff 1920 (Martyrs of Science in Soviet Russia), 275. 460 Vgl. Ders.: Bolʼševiki i intelligenzija [Bolschewiki und intelligencija], in: Rodnaja zemlja 1 (1920), 30–37; Why the Russian Intelligensia Is Opposed to the Bolshevist Regime, in: Struggling Russia vom 6.3.1920, 792–795. 461 Rostovtzeff 1920 (Pominki), 235. 462 Vgl. Rostovtzeff, M.: Schools and Education in Bolshevist Russia, in: Struggling Russia vom 10.1.1920, 672–675; Bolshevists as Educationalists, in: The New Russia vom 22.4.1920, 364–367; The Present State of the Russian Universities, in: Struggling Russia vom 19.6.1920, 172–174. 463 Vgl. Ders.: Russian Youth Abroad, in: The New Russia 1 (1920), 202–203.

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Berichten auseinander („Noch einmal Wells – Gorʼkij und Russland“ 464). Des Weiteren kam es zu einem publizistischen Gefecht zwischen Rostovtzeff und dem bekannten russischen Neurologen Vladimir Bechterev 465. In seiner ersten Antwort auf Bechterevs Aufruf „An die russischen Wissenschaftler im Ausland“ 466, nach Russland zurückzukehren, brachte Rostovtzeff lange Passagen aus den Briefen seiner im bolschewistischen Russland gebliebenen Kollegen als Gegenargument vor. Im Juli 1920 schrieb Rostovtzeff zu einem solchen Vorschlag folgendes: „I do not know what my colleagues will say, but I will answer Prof. Bekhterev and his like. No, I will not return to Bolshevist Russia. Not, because there is cold and famine in Russia, not because Russia is ruled by one party or another, but because Russia is completely enslaved, because liberty is dead there, because culture and religion are being exterminated, because all morality is being driven out of the souls of the children. I do not believe that one can forward culture and liberty by working in Russia at present. I should be only too glad to form again one of the happy family of my friends and colleagues, but I know that at present any collaboration with them woud be useless. Where a man is terrorised or shot for defending his ideas, there can be no possibility of working either for or against the ruling party. To work with them, as Prof. Bekhterev wants us to do, only means to assist in diabolic destruction. I will not, and cannot, be an acomplice in such a crime against my beloved native country.“ 467 Auf diese Erklärung Rostovtzeffs regierte Bechterev Anfang September auf den Seiten der „Petrogradskaja pravda“ („Petrograder Wahrheit“). Daraufhin folgte eine weitere Stellungnahme des Althistorikers, in der er den sowjetischen Wissenschaftler der verbrecherischen Anpassung beschuldigte.  468 464 Vgl. Ders.: Ešče raz Vellz – Gorʼkij i Rossija [Noch einmal Welles – Gorkij und Russland] (undatiert, Dezember 1920?), in: Yale University Library 1113/1/14/139; in russischer Übersetzung in: Tunkina 2002, 73–75. 465 Der bereits im zaristischen Russland berühmt gewordene Neurologe und Psychiater, der Gründer des Psychoneurologischen Institutes in St. Petersburg (1907) Vladimir Bechterev (1857–1927) erkannte nach dem Oktoberumsturz die Macht der Bolschewiki an und setzte danach seine Untersuchungen im Namen der sowjetischen Wissenschaft fort. Er starb 1927, vermutlich an einer Vergiftung. Vgl. u. a. Pfrepper, R.: Vladimir Michajlovič Bechterev (1857–1927): neue Materialien zu Leben und Werk, Herzogenrath 2007. 466 Vgl. Bechterev, V.: K russkim učënym za granicej [An die russischen Wissenschaftler im Ausland], in: Petrogradskaja pravda vom 24.6.1920. 467 Rostovtzeff, M.: Should Scientist Return to Russia? A Reply to Prof. Bekhterev, in: The New Russia 2 (1920), 372. 468 Vgl. Bechterev, V.: S narodom ili bez naroda [Mit Volk oder ohne Volk], in: Petrogradskaja pravda vom 7.9.1920; Rostovtzeff, M.: Ešče odin otvet professoru Bechterevu [Noch eine Antwort an Professor Bekhterev], in: Poslednie novosti vom 4.11.1920.

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1917: Vom zaristischen zum bolschewistischen Russland

Der Verlauf des Bürgerkrieges, vor allem aber die Niederlagen der Weißen Bewegung, spiegelte sich in anderen politischen Schriften von Rostovtzeff wider. Mit seiner Analyse des Geschehens hoffte der Autor weiterhin auf die militärische Unterstützung der antibolschewistischen Kräfte in Russland durch die europäischen Mächte („The Worship of Success“) oder durch die amerikanische Regierung („Memorandum“). 469 Hin und wieder nutzte der Althistoriker in seiner politischen Publizistik Beispiele aus der Geschichte und vergaß dabei nicht dies zu rechtfertigen: „Historical analogies have lost credit, particulary those which seem far distant, and analogies with the classical epoch of mankindʼs history are apt to be treated with a contemptuous smile. This is a mistake. Men always were men […].“ 470 Im August 1920 bestieg Rostovtzeff erneut ein Dampfschiff, das ihn mit seiner Frau nun zum amerikanischen Kontinent bringen sollte. Somit war der zweijährige europäische Abschnitt im Rostovtzeffs Exilleben beendet. In diesen zwei Jahren konnte der Althistoriker keinen festen Boden unter die Füße bekommen; England blieb für ihn, nach seiner eigenen Aussage, „fremd und kalt“. 471 Dennoch verließ er Europa ungern, um ein neues Leben in den Vereinigten Staaten anzufangen: „[…] es ist traurig, von hier aus nach irgendwelcher Neuen Welt abzureisen. Nicht für uns, die vieljährigen Greise, ist die Reise zur Entdeckung Amerikas. Das ist gut für die Jüngeren. Nach Amerika muss man mit dem Wunsch zu kämpfen, mit Energie, mit einem besonderen Vorrat an Kräften fahren, um zu erobern. Ich will aber nicht kämpfen. Ich würde gerne mich in irgendeiner guten Bibliothek hinsetzen und sie nicht verlassen. Deswegen liebe ich so Oxford.“ 472 Der Althistoriker konnte jedoch den Vorschlag der University of Wisconsin, die Lehrveranstaltungen zur antiken und russischen Geschichte zunächst nur für das akademische Jahr 1920/21 zu übernehmen, nicht ablehnen. Er war im Frühjahr 1920 mit seinen Vorlesungen an der Oxford University und im Collège de France fertig und es gab keine Perspektive für eine Stelle an einer europäischen Hochschule. Außerdem brachten Rostovtzeffs politische Anstrengungen keine wesentlichen Ergebnisse: Die Macht der Bolschewiki wurde von Tag zu Tag größer. In den ersten zwei Jahren seines „amerikanischen“ Lebens blieb Rostovtezff politisch noch sehr aktiv. Seit 1920 war er der Vorsitzende der Filiale des Russian Liberation Committees in New York. 473 Er schrieb weiterhin politische Artikel gegen die Bolschewiki, 469 Vgl. Rostovtzeff, M.: The Worship of Success, in: Struggling Russia vom 20.3.1920, 815f; Memorandum, in: The New Russia vom 28.10.1920, 283–285. 470 Rostovtzeff 1920 (The Worship of Success), 815. 471 Brief M. Rostovtzeffs an M. Vinaver vom 29.10.1920, in: Bongard-Levin 1997, 137. 472 Brief M. Rostovtzeffs an A. Tyrkova-Williams, undatiert (1920?), in: Ebd. 473 Vgl. Tunkina 2002, 9f.

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nun für das amerikanische Publikum. 474 Da er im Januar 1921 die Professur an der University of Wisconsin erhalten hatte, begann der Althistoriker, sich stärker auf die wissenschaftliche Tätigkeit zu konzentrieren und seinen Alltag in Amerika zu organisieren. Somit rückte die Politik im Rostovtzeffs Leben in den Hintergrund. 1925 wurde Rostovtzeff an die Yale University berufen. Hier, im amerikanischen Exil, in dem er sich eine „künstliche luftleere Atmosphäre der Wissenschaft“ 475 aufgebaut hatte, schaffte der Althistoriker mit seinen beiden monumentalen Werken zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Antike sowie mit seiner Lehr- und Forschungstätigkeit im Bereich der Alten Geschichte einen bemerkenswerten Durchbruch. Dabei ließ er die Politik nie ganz aus den Augen. Seine Meinung zu großen politischen Ereignissen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tauschte Rostovtzeff mit seinen Freunden aus, äußerte sich darüber in Interviews und in der politischen Publizistik. 476 Somit blieb er sich als ein Wissenschaftler in der Politik treu.

474 Z. B. „Bolshevist Russia and Civilized Mankind“, in: The Journal of International Relations 11 (1921), 517–528; „Universitety i bolʼševiki“ [„Universitäten und Bolschewiken“] (undatiert, Herbst 1921?), in: Yale University Library 1113/1/14/ 139; „Russian Science in Exile“ (undatiert, Januar 1922?), in: Ebd.; „Science in Bolshevist Russia“, in: Ebd., 86–94; „The Passing of the Czars“ (Rev.: The Memoires of Count Witte, Toronto 1921), in: The Forum 65 (1921), 668–672; „Novosti archeologičeskoj literatury v Rossii“ [„Nachrichten archäologischer Literatur in Russland“], in: Sovremennye zapiski 11 (1922), 397–402; „Amnesty“, in: Russian Life 5 (1922), 170–172; „Russian Art and the Bolsheviks“, in: Ebd., 174–176. 475 Brief M. Rostovtzeffs an N. Kondakov aus dem Jahr 1922, in: RAN SPb 1054/1/74. 476 Vgl. u. a. Rostovtzeffs Briefwechsel mit N. Kondakov, in: Archiv RAN SPb 1054/1/74 sowie seine Artikel und Interviews in der „Yale Daily News“ („Prof. Rostovtzeff Notices Lack of Politics in Yale as Compared to Western Colleges“ vom 18.11.1925, „Europe Faces Extremes Under Present Situation. Prof. Rostovtzeff Discussees the Various Aspects of Polish and German Problems“ vom 14.5.1926, „Professor Rostovtzeff Depicts Bolshevik Government as Worst Ever Seen in His Native Russia; Economic Conditions Are Bad and Morality Degenerate“ vom 19.3.1927 usw.).

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Zusammenfassung „Ich beeile mich zu schreiben und zu arbeiten, sobald man mich noch publizieren lässt. Ich mache das mit der Hoffnung, dass irgendwann, ungefähr zwei Tausend Jahre später, die Überreste meiner Werke gefunden werden. Es werden Dissertationen geschrieben darüber, zu welcher Nation Rostovtzeff gehörte. Ein Teil seiner Schriften wird bei Ausgrabungen einer geheimnisvollen großen Stadt an der Newa gefunden. Sie [die Schriften] waren in einer Sprache geschrieben, vermutlich aus der indoeuropäischen Sprachfamilie, aber mit vielen fremden Elementen. […] Die Nationalität dieses Rostovtzeffs war noch geheimnisvoller, weil einige Blätter seiner Arbeiten in den Ruinen eines vermutlich den Bildungszielen dienenden Gebäudes der kleinen dorfähnlichen Stadt im westlichen Teil Amerikas entdeckt wurden. […]“ 1 Michail Rostovtzeff schrieb diese Worte vier Jahre vor der Veröffentlichung seiner bahnbrechenden „The Social and Economic History of the Roman Empire“ nieder und wusste damals noch nicht, dass seine Werke bereits kurz nach ihrer Publikation im Fokus der Untersuchungen stehen würden. Es bedurfte auch keiner zweitausend Jahre, bis man sich mit dem Schicksal des russischen Gelehrten auseinanderzusetzen begann. Die ersten biographischen Aufzeichnungen wurden bereits zu Lebzeiten des Althistorikers von seinen Kollegen, Freunden und Schülern in den USA und Westeuropa verfasst. Eine intensive Erforschung von Rostovtzeffs Wirken begann in seinem Heimatland – symbolischerweise nach dem Zusammenbruch des von ihm verhassten Sowjetregimes. Die Öffnung der russischen Archive löste eine neue Welle des Interesses an der Persönlichkeit des Althistorikers aus, was in der Forschung zu speziellen Fragen zu seinen Arbeiten, aber auch in den Versuchen, sein Leben und seine wissenschaftliche Karriere darzustellen, zum Ausdruck kam. Hierfür sind die Untersuchungen des russischen Forscherteams unter der Leitung von G. Bongard-Levin sowie des niederländischen Historikers M. A. Wes von großer Bedeutung. Auch Deutschland, wo die wissenschaftshistorische Forschung innerhalb der Altertumswissenschaften seit den 1970er Jahren einen Aufschwung erlebte, leistet einen wichtigen Beitrag zur Würdigung des russischen Gelehrten. Eine Lebensgeschichte von Michail Rostovtzeff zu schreiben ist keine leichte Aufgabe, was mit verschiedenen Faktoren zusammenhängt. Neben dem Fehlen seiner Memoiren stellt die Vielzahl seiner Schriften und deren Themenvielfalt eine Herausforderung für Wissenschaftshistoriker dar. Zudem lassen sich sowohl Rostovtzeffs aktive Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben seiner Heimat, die durch seinen leidenschaftlichen Charakter bestimmt war, als auch sein politisches Engagement, das aufgrund der Dichte 1 Brief M. Rostovtzeffs an A. Tyrkova-Williams vom 26.8.1922 (auf Russisch), in: The British Library. G. Williams Papers 54/436/28, abgedruckt in: Bongard-Levin 1997, 8.

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Zusammenfassung

an wichtigen Umbrüchen der russischen Geschichte in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kontinuierlich gestiegen ist, nur schwer überblicken. Dennoch zeigt die Auseinandersetzung mit dem Schicksal des russischen Historikers, dass ohne die Berücksichtigung aller Bereiche seines Lebens kein einheitliches Bild von ihm entstehen kann. Denn seine Entwicklung und Aktivitäten im wissenschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Leben, die durch eine bemerkenswerte Dynamik gekennzeichnet waren, standen stets in enger Wechselwirkung zueinander. Die Untersuchung von Rostovtzeffs gesellschaftspolitischen Schriften im zeitgenössischen Kontext ergab ein Bild der Entwicklung und Aktivitäten des Althistorikers vor 1918, welches gleichermaßen durch Kontinuität und Krisen gekennzeichnet ist. Die wichtigsten Meilensteine des entstandenen Bildes werden im Folgenden resümierend zusammengefasst. Der familiäre Hintergrund prägte grundlegend den Lebenslauf des Althistorikers. Als Repräsentant der vierten Generation der Familie Rostovtzeff, deren Aufstieg innerhalb der russischen Gesellschaft eine Erfolgsgeschichte darstellte, gehörte der künftige Althistoriker von Geburt an zur provinziellen Bildungselite des Zarenreiches. Er wuchs in der Familie eines klassischen Philologen auf, dessen Tätigkeitsbereich das Unterrichten der alten Sprachen, die Leitung der Lehrerausbildung sowie die Mitarbeit bei Gesetzesentwürfen des Ministeriums für Volksbildung umfasste. Auch die Mutter des russischen Historikers arbeitete nicht nur als Deutschlehrerin am Gymnasium, sondern war auch sozial sehr aktiv, wodurch sie das traditionelle Frauenbild im 19. Jahrhundert im Zarenreich korrigierte. Somit können Ivan und Marija Rostovtzeff für ihre Zeit als progressive Eltern bezeichnet werden. Die Kinder- und Jugendwelt Michail Rostovtzeffs wurde durch Weltoffenheit, Gleichstellung von Männern und Frauen, bemerkenswerte Bildungsbreite und Mehrsprachigkeit sowie eine aktive gesellschaftliche und politische Position seiner Eltern geprägt. Der Umzug 1890 nach St. Petersburg erwies sich für den jungen Rostovtzeff als schicksalhaft. Denn die russische Hauptstadt, die sich erheblich von den übrigen russischen Städten unterschied, verkörperte mit ihrem europäischen Lebensstil das moderne Russland. In der friedlichen Zeit konnte der angehende Wissenschaftler alle Vorteile St. Petersburgs mit seinen einzigartigen historischen Sammlungen, Museen, wissenschaftlichen Zentren, einer guten Eisenbahnverbindung ins Ausland und dem Postverkehr sowie einem umfangreichen kulturellen Angebot genießen. Später wurde St. Petersburg zum Epizentrum aller wichtigen politischen Ereignisse. Auch der Zeitpunkt des Beginns seiner wissenschaftlichen Karriere hatte eine eminente Bedeutung für den Althistoriker. Das war die Zeit, als die traditionelle ständisch-korporative Ordnung Russlands im Zuge des sozialen Wandels immer mehr an Bedeutung verlor. Sie wurde durch die Entstehung neuer Gesellschaftsschichten, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Laufe der wirtschaftlichen Modernisierung herausgebildet hatten, nach und nach ersetzt. Dazu gehörte neben der Arbeiterschaft und dem Unterneh-

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mertum auch die intelligencija, zu deren Elite der Althistoriker im Laufe seines Lebens gehörte. Aus diesem Grund spielte Rostovtzeffs gebürtige Zugehörigkeit zum erblichen Adel eine eher untergeordnete Rolle für seine Stellung in der russischen Gesellschaft. Während Rostovtzeffs Studienzeit wurde der universitäre Alltag vom konservativen Universitätsstatut von 1884 reglementiert. Es sah u. a. ein vertieftes Erlernen der klassischen Sprachen für Studenten der historisch-philologischen Fakultät vor. Denn die zaristische Regierung sah in den klassischen Philologen ihre sicherste Stütze. Charakteristisch für Rostovtzeff als Studenten waren sein Fleiß und Arbeitsvermögen. Er nahm an den zusätzlichen Angeboten wissenschaftlicher Weiterbildung teil, wie z. B. an den Übungen im universitären Altertumsmuseum unter Kondakovs Leitung oder an der Auswertung der griechischen Inschriften im Kreis der Faktenverehrer. Daraus entstanden seine ersten Verbindungen innerhalb der Petersburger Wissenschaftskreise. So unterstützten die beiden Mentoren Rostovtzeffs, N. Kondakov und F. Zelinskij, seine erste Qualifizierungsarbeit über die Ausgrabungen in Pompeji. In seiner Studienzeit zwischen 1890 und 1892 verinnerlichte der Nachwuchswissenschaftler die Bedeutung der Archäologie für die althistorischen Studien, was für Rostovtzeffs spätere Forschung eine eminente Rolle spielen wird. Ende des 19. Jahrhunderts kam es zur Herausbildung der Elite der russischen Altertumswissenschaft. Zu deren älteren Generation und somit zu Rostovtzeffs Lehrern gehörten der Begründer der russischen epigraphischen Schule F. Sokolov, der bekannte Kulturhistoriker F. Zelinskij und der Kunsthistoriker N. Kondakov. Michail Rostovtzeff wurde zur Schlüsselfigur der sozial-wirtschaftlichen Studien an der Petersburger Universität, die neu und an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Russland außerordentlich aktuell waren. In der bekannten Diskussion über die Einordnung der antiken Wirtschaft innerhalb der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte vertrat der Althistoriker die modernistische Auffassung der Entwicklung der antiken Wirtschaft. Die ersten beiden Auslandsreisen Rostovtzeffs 1893 und 1895‒1898 spielten eine große Rolle für seine Entwicklung als Wissenschaftler. Das Hauptziel von Rostovtzeffs Auslandsaufenthalt von 1893 war Pompeji. Während der wenigen Monate kamen die ersten Kontakte Michail Rostovtzeffs zu internationalen Gelehrten, u. a. zu A. Mau, W. Amelung und Ch. Hülsen, zustande. Im Laufe seiner zweiten Auslandsreise zwischen 1895 und 1898 konnte er seine wissenschaftlichen Kompetenzen vertiefen sowie seine Bekanntschaften mit führenden Gelehrten Westeuropas intensivieren. Auf der Grundlage von Rostovtzeffs Teilnahme am epigraphischen Seminar von E. Bormann an der Wiener Universität kam sein erster Aufsatz in deutscher Sprache heraus. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts war Michail Rostovtzeff ein anerkanntes Mitglied der westeuropäischen Wissenschaftswelt. Die Voraussetzung dafür bildeten sicherlich seine überdurchschnittliche Intelligenz und exzellente Beherrschung mehrerer Sprachen, sein

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Durchsetzungsvermögen, aber auch seine Geschicklichkeit und Geselligkeit. Nicht zuletzt Rostovtzeffs Fähigkeit, Sympathien und Achtung zu gewinnen, verhalf ihm zur Anerkennung seines wissenschaftlichen Potenzials. Die wissenschaftlichen Erfolge im Ausland sowie die Bekanntschaften mit internationalen Gelehrten hatten eine unmittelbare Auswirkung auf Rostovtzeffs Wissenschaftskarriere in seinem Heimatland. Als er im Frühjahr 1898 nach Russland zurückkehrte, enthielt seine Publikationsliste bereits mehr als 20 Arbeiten in russischer, deutscher, französischer und italienischer Sprache in renommierten Fachzeitschriften. Im gleichen Jahr bekam er den Lehrstuhl für Römische Geschichte an den Höheren Frauenkursen und ein Jahr später übernahm Rostovtzeff als Privatdozent auch Veranstaltungen an der Universität. Als Hochschullehrer hinterließ Rostovtzeff sehr positive Eindrücke bei seinen Studenten bzw. Hörerinnen. Bereits als Gymnasiallehrer bemühte er sich, das Pflichtprogramm für russische Schüler interessant zu machen. In seiner Lehrtätigkeit richtete sich Rostovtzeff nach dem Prinzip der akademischen Freiheit und betrachtete seine Studenten an der Petersburger Universität sowie die Hörerinnen an den Frauenkursen als jüngere Kollegen bzw. Kolleginnen. Die Erinnerungen seiner Studierenden sind voller begeisterter Äußerungen über Rostovtzeffs Vorlesungen und Seminare. Gleichzeitig erlangte der Althistoriker aufgrund seines hitzigen Charakters und seines oft kompromisslosen Standpunktes gegenüber der Forschung seiner Kollegen eine nicht immer positive Bekanntheit an der Universität. Die Zeit um 1900 war durch Rostovtzeffs Aufstieg zum markanten Vertreter der hauptstädtischen intelligencija Russlands gekennzeichnet. Innerhalb der Petersburger Professorenschaft hatte Rostovtzeff den Ruf eines Westlers, der sich an Westeuropa orientierte. Zum einen unterstrich er in seinen Arbeiten und Vorlesungen Russlands Erbe der griechisch-römischen Kultur und begründete dadurch die Zugehörigkeit Russlands zur westlichen Welt. Weiterhin nutzte er zur Begründung seiner Position als Westler die Erfahrungen westeuropäischer Länder, wie etwa bei der Frage der Zulassung von Frauen zur Hochschulbildung. 1901 heiratete der 31-jährige eine seiner Schülerinnen der Bestužev Kurse, Sofija Kul’čickij. Die Ehe mit dieser gebildeten und vielseitigen Frau vervollständigte Rostovtzeffs Entfaltung zum bekannten Vertreter des öffentlichen Lebens der Hauptstadt. Die Zugehörigkeit zur hauptstädtischen Elite äußerte sich zum einen im Freundesund Bekanntenkreis des Althistorikers, zu dem die bedeutendsten Künstler des Silbernen Zeitalters, wie V. Ivanov, I. Bunin, A. Kuprin oder A. Benois, gehörten. Aus persönlichem Interesse wurde er Mitglied der führenden kulturellen Vereinigungen der Hauptstadt, so etwa der Petersburger Religiös-Philosophischen Gesellschaft. Zum anderem hatte Rostovtzeff einen für die Petersburger Elite typischen Lebensstil. Die im Zentrum der Stadt liegende Wohnung des Althistorikers gehörte dank seiner berühmten Dienstagsempfänge zu den bekanntesten Adressen St. Petersburgs. Rostovtzeffs politische Position, die auf den liberalen westlichen Werten basierte, wurde sowohl durch seinen familiären Hintergrund als auch durch seinen Bekanntenkreis, zu dem Po-

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litiker wie P. Miljukov und V. Nabokov gehörten, seine Auslandsreisen sowie die Politik der zaristischen Regierung geprägt. Die ersten politischen Erfahrungen machte Rostovtzeff in der Zeit der studentischen Unruhen von 1899. Als Lehrender musste er sich mit der Entlassung der am Aufstand beteiligten oder mit dem Aufstand sympathisierenden Kollegen auseinandersetzen. Dieser Fall musste ihm deutlich vor Augen geführt haben, dass eine Karriere im zaristischen Russland ohne eine gewisse Loyalität dem Staat gegenüber kaum möglich war. Daher musste der Wissenschaftler versuchen, für seinen weiteren Weg eine Balance zwischen den Anforderungen des autokratischen Regimes und seinen persönlichen Überzeugungen zu finden. In Hinblick auf die oben skizzierte Entwicklung lässt sich Rostovtzeffs entstandene politische Überzeugung gut nachvollziehen. Ihre weitere Transformation vor dem Hintergrund der wichtigsten politischen Geschichtsereignisse Anfang des 20. Jahrhunderts erscheint daher nur folgerichtig und wird nachstehend in ihren wichtigsten Etappen zusammengefasst: Rostovtzeff war ein Gegner der uneingeschränkten Autokratie; aus diesem Grund war er im Herbst 1904 an der vom liberalen Bund der Befreiung organisierten Bankettkampagne, die das ganze Land umfasste, beteiligt. Die Professoren schlossen sich im Akademischen Bund zusammen, welcher der ganzen liberalen Oppositionsbewegung das geistige Profil verlieh und zum unmittelbaren Vorläufer der Partei der Konstitutionellen Demokraten wurde. Rostovtzeff war an der Vorbereitung des Gründungsmemorandums des Professorenbundes beteiligt und gehörte zu dessen Erstunterzeichnern. Während der Revolution von 1905 begrüßte Rostovtzeff das Zarenmanifest über die Einberufung der gesetzgebenden Versammlung und distanzierte sich von der Revolution. Sein politisches Engagement äußerte sich im Eintritt in die Partei der Konstitutionellen Demokraten und in der Teilnahme an der entstandenen publizistischen Öffentlichkeit. Die Kadetten, die zum linksliberalen Flügel des russischen Parteiensystems gehörten, rekrutierten sich überwiegend aus der intelligencija; die Elite der Bildungsintelligencija übernahm darin die führenden Positionen. In der Kadetten-Partei spielten viele Wissenschaftler eine aktive Rolle, sie war als Professorenpartei bekannt. Die Hochschullehrer, die ihre Teilnahme an der Politik in dieser Zeit als ihre Bürgerpflicht wahrnahmen, engagierten sich 1906 in der Wahlkampagne zur ersten Duma. Auch die Ehefrau des Historikers, Sofija Rostovtzeff, nahm an diesem Ereignis aktiv teil. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang sein Aufsatz von 1906, den er Professoren-Abgeordneten widmete. Das Ausscheiden aus der Universität und der durch die Tätigkeit in der Duma entstandene Zeitmangel sollten für ihn die wichtigsten Argumente gegen eine führende Rolle in der Politik in dieser Zeit gewesen sein. Und obgleich der Althistoriker an die Vereinbarkeit von wissenschaftlicher und politischer Tätigkeit glaubte, zeigten die Schicksale seiner Kollegen an der Universität, dass eine oppositionelle Tätigkeit in der Duma zu einem Hindernis für die wissenschaftliche Karriere werden konnte.

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In der Zeit zwischen dem Ende der Ersten Russischen Revolution und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist Rostovtzeffs Abkehr von der Politik festzustellen. Er blieb jedoch weiterhin publizistisch aktiv. Dies wurde zum einen durch seine Enttäuschung über die politische Entwicklung in seinem Heimatland allgemein und über den politischen Kurs der Kadetten-Partei speziell, zum anderen durch seine Ablehnung der zunehmenden Gewalt an der Petersburger Universität verursacht. Die Universitäten in Russland wurden zwischen 1908 und 1914 von den konservativen Zarenministern geleitet, was vor allem die Einschränkung der vor kurzem errungenen Autonomie zur Folge hatte. Die Reaktion darauf äußerte sich in der gegenseitigen Kritik der Hochschullehrer und Minister in Form von offiziellen Erklärungen und Forderungen sowie demonstrativen Amtsniederlegungen und sogar Versetzungen der regierungskritischen Professoren. Rostovtzeffs Haltung war bei den Ultimaten der Hochschullehrer in dieser Zeit, vor allem 1911, sehr zurückhaltend. Sein größtes Problem war der universitäre Alltag, der zeitweise einem Ausnahmenzustand glich. In die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg fallen auch seine ersten Engagements für den Schutz der russischen Denkmäler in Südrussland. In den Zeiten der politischen Wirren versuchte Rostovtzeff die russische Gesellschaft von der Wichtigkeit der Bewahrung des historischen Erbes zu überzeugen. Somit übte er einen indirekten Einfluss auf die entsprechenden Gesetzinitiativen in der Staatsduma aus. Der 1908 zum ordentlichen Professor berufene Althistoriker genoss ein hohes wissenschaftliches und gesellschaftliches Ansehen in Russland. Er wurde als Gutachter beim Erwerb von Sammlungen für Staatsmuseen eingeladen und figurierte als wissenschaftlicher Berater bei Privatausgrabungen der antiken Stätten in Südrussland. Aus dem letzten Unternehmen gehen die ersten Bekanntschaften des russischen Gelehrten mit Mitgliedern der Zarenfamilie hervor; sie entwickelten sich zu einer engen Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, dem Großfürsten Konstantin Konstantinovič, und fanden ihren Höhepunkt 1914 im persönlichen Treffen mit Nikolaus II., worauf die Finanzierung von Rostovtzeffs Werk über die antike dekorative Malerei im Schwarzmeergebiet folgte. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges stellte eine wichtige Zäsur in Rostovtzeffs Leben dar. Seine enge Beziehung zu deutschen Wissenschaftlern und seine Bemühungen um die Anerkennung der russischen Altertumswissenschaften durch die weltweite Gelehrtengemeinschaft in der Vorkriegszeit verliehen diesem Ereignis eine zusätzliche Tragik. Bis zum Kriegsausbruch erreichte Rostovtzeffs internationaler Ruf einen Höhepunkt, der sich 1914 in seiner Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften äußerte. Der russische Historiker setzte seine bereits Ende des 19. Jahrhunderts geknüpften internationalen Kontakte gekonnt ein, um die Westeuropäer mit seinen Arbeiten bekannt zu machen. Sein reger und vertraulicher Briefwechsel bezeugt die enge Zusammenarbeit mit ausländischen Kollegen. Dank diesem Austausch kam es u. a. zur Veröffentlichung der größeren Werke Rostovtzeffs, die zunächst in seiner Muttersprache erschienen, vor 1914 in Deuschland. Der Althistoriker hatte die russischen Originale an ihm bekannte deutsche Wissenschaftler geschickt. Angespornt durch die

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Themen, das begleitende Bildmaterial und nicht zuletzt durch die wissenschaftliche Autorität des Autors verhalfen sie ihrerseits zur Publikation der deutschen Übersetzung. Bekannt wurde Rostovtzeff außerdem dank seinen Rezensionen zu Arbeiten deutscher, französischer sowie russischer Kollegen in westeuropäischen Fachorganen. In seinen Besprechungen verwies der russische Historiker gekonnt auf seine eigenen Untersuchungen und bemühte sich stets, die europäischen Wissenschaftskreise über aktuelle Forschungen in Russland zu informieren. Da der Althistoriker großen Wert auf persönliche Kontakte unter Fachleuten legte, ist es kein Zufall, dass er bei den wichtigsten internationalen Wissenschaftstreffen mitwirkte. Zwischen 1903 und 1913 nahm er an sechs internationalen Kongressen teil. Während er 1903 bei dem Historikerkongress in Rom noch eine passive Rolle gespielt hatte, entwickelte sich Rostovtzeff zum Mitglied des Ehrenpräsidiums des Historikertreffens 1913 in London und zu einem der Hauptorganisatoren des für 1918 geplanten Historikerkongresses in St. Petersburg. Der Althistoriker leistete einen großen Beitrag zur Anerkennung der russischen Altertumswissenschaften in der internationalen Wissenschaftswelt. Er trug dank seines wissenschaftlichen Ansehens und seiner Aktivitäten unter den deutschsprachigen Gelehrten erheblich zur Entscheidung bei, den fünften Historikerkongress in Russland zu veranstalten. Rostovtzeffs Engagement in den Kriegsjahren 1914–1917 äußerte sich in seiner Teilnahme am „Krieg der Geister“, der Neuorientierung bzw. Umstrukturierung der russischen Wissenschaft sowie an der Organisation der Spendenkampagnen für Flüchtlinge, Kriegsgefangene und verstümmelte Soldaten. Der Althistoriker vertrat im Krieg eine äußerst patriotische Position. Sein Engagement stand mit dem der russischen intelligencija im Einklang, hatte jedoch aufgrund seiner engen Kontakte zu deutschen Wissenschaftlern einen persönlichen Bezug. Genauso wie in Deutschland herrschte in Russland zu Beginn des Krieges in der Bevölkerung eine große Zustimmung zur Teilnahme an diesem Krieg. Der patriotische Enthusiasmus des liberalen russischen Bürgertums beruhte dabei auf dem Verständnis, an der Seite der westlichen Demokratien gegen das wilhelminische Deutschland und für die Befreiung der slawischen Völker auf dem Balkan zu kämpfen. In den Jahren 1915/16 erreichten die schriftlichen Auseinandersetzungen mit deutschen Gelehrten sowie die antideutsche Propaganda im Zarenreich ihren Höhepunkt. Vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Distanzierung von den deutschen Bildungstraditionen formulierte Rostovtzeff zwischen 1916 und 1917 Thesen zur Stärkung der wissenschaftlichen Kontakte mit den Alliierten und zur Neuorientierung der russischen Wissenschaft. Die erste Reaktion des russischen Historikers auf die Äußerungen seiner deutschen Kollegen erfolgte wenige Tage nach der Bekanntmachung des berühmten Aufrufs „An die Kulturwelt!“. Rostovtzeff war einer der sieben Professoren, die eine spezielle Mitteilung, in der die Kriegsschuld Deutschlands bestätigt und die Unterstützung des Militarismus seitens der deutschen Gelehrten bedauert wurde, unterzeichneten. Trotz der zunehmenden Ressentiments gegen Deutschland wehrten sich die Petersburger Professoren gleichzeitig gegen die geplanten Maßnahmen der russischen Regierung, alle deutschen

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und österreichischen Gelehrten und Künstler aus russischen Wissenschaftsorganisationen auszuschließen. Seit dem Herbst 1915 begann Rostovtzeff seine Meinung zu diesem Konflikt in der russischen Presse zu äußern. In seiner wissenschaftlichen Rezension vom Oktober 1915 unterstrich er die überwältigende Bedeutung des Krieges für jeden einzelnen Bürger, auch für jeden Historiker. Rostovtzeffs Beteiligung am „Krieg der Geister“ äußerte sich noch stärker 1916 in den schriftlichen Auseinandersetzungen mit Ed. Meyer und U. von Wilamowitz-Moellendorff. In seinen sehr emotionalen Schriften wurden zunächst die wissenschaftliche Autorität der beiden deutschen Gelehrten und seine damit verbundenen Erwartungen einer objektiven, historisch fundierten Analyse des Krieges hervorgehoben. Das Buch Ed. Meyers über England war in Rostovtzeffs Augen ein durchschnittliches chauvinistisches Pamphlet, das für ihn ein Beweis für die Unterwerfung dieses deutschen Wissenschaftlers unter die politische Staatspropaganda speziell und die Militarisierung des Intellektes in Deutschland allgemein war. Zum gleichen Ergebnis kam Rostovtzeff nach der Auseinandersetzung mit den Kriegsreden von Wilamowitz-Moellendorff. In beiden Fällen bedauerte er erbittert die Aberkennung von Russlands Zugehörigkeit zur europäischen Kulturwelt durch die deutschen Gelehrten. Er war überzeugt, dass Deutschlands Sieg zum unaufhaltsamen Niedergang Europas führen würde. Der Sieg der Alliierten zusammen mit Russland sollte im Gegenteil weitere Fortschritte der neuen slawischen und romanischen Renaissance sichern. Neben den Diskussionen über die Rolle Deutschlands im Weltkrieg beteiligte sich der russische Historiker während des Krieges an der Arbeit zur Neuorientierung der russischen Wissenschaft. Da Deutschland traditionell ein wissenschaftliches Bezugsland Russlands gewesen war, sollte die russische Wissenschaft einer tiefgreifenden Umstrukturierung unterzogen werden. Rostovtzeff, der die führende wissenschaftliche Position Deutschlands vor 1914 anerkannt hatte, war überzeugt, dass eine vollständige Wiederherstellung der einst bestandenen internationalen Beziehungen unmöglich sein würde. Er strebte daher eine wissenschaftliche Allianz mit den verbündeten Ländern an, die sich zu Beginn der Friedenszeit der wissenschaftlichen Hegemonie der Deutschen entgegenstellen sollte. Für Rostovtzeff war vor allem wichtig, dass sein Heimatland in der wissenschaftlichen Nachkriegsordnung eine angemessene Position einnähme. Der Kern von Rostovtzeffs Engagement im Krieg lag jedoch in seiner humanitären Tätigkeit, der er selbst eine große Bedeutung beimaß und die ihm Anerkennung sowohl in seinem Heimatland als auch im Ausland einbrachte. Die organisatorische Arbeit Rostovtzeffs wurde durch seine pathetisch-patriotischen Aufrufe an seine Landsleute begleitet, wobei er auf die Einigkeit des russischen Volkes sowie auf die Pflichten der im Hinterland Gebliebenen gegenüber den Soldaten auf Schlachtfeldern hinwies. Er trat für die Geflüchteten und für verstümmelte Soldaten, ferner für eine Bildung der Flüchtlingskinder und Integration der Kriegsinvaliden ein. Darüber hinaus beschäftigte sich Rostovtzeff mit dem Problem der Kriegsgefangenschaft und initiierte die Gründung des Komitees zur Hilfe für kriegsgefangene russische Studenten in Deutschland. Einen anderen Zweig in Rostovtzeffs Wohltätigkeit bildete

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seine Teilnahme an den Spendenkampagnen zugunsten der in den Krieg involvierten slawischen Völker. Im Februar 1917 nahm Rostovtzeff eine zurückhaltende Position gegenüber der Februarrevolution ein, die ausgebrochene Gewalt lehnte er mit Nachdruck ab. Er entschied sich gegen eine führende Rolle in der Provisorischen Regierung, unterstützte jedoch seine Partei bei der Neugestaltung Russlands. Der Hauptbeweggrund dazu war für ihn sicherlich die Gefährdung der demokratischen Zukunft seines Heimatlandes durch die seit dem März 1917 etablierte Doppelherrschaft in Russland. Rostovtzeffs politisches Engagement zeigte sich in dieser Zeit in seiner Beteiligung an der Propagandaarbeit der Kadetten-Partei, deren vorrangige Aufgabe die Eindämmung der Anarchie und die Aufklärung der breiten Bevölkerungsmassen war. Ferner spielte der Althistoriker eine aktive Rolle bei der Übernahme von Verwaltungsaufgaben der zaristischen Administration. Er plädierte für die Gründung eines Kunstministeriums, zu dessen Aufgaben der Schutz und die Pflege von Denkmälern und Kunstschätzen, die Gründung neuer Museen und die Regulierung der Museumsarbeit sowie materielle und sonstige Unterstützung der Künstler zählen sollten, und nahm an der Ausarbeitung des Statutes des geplanten Ministeriums teil. Die fortschreitende Radikalisierung nach der Rückkehr Lenins im April 1917 sowie die misslungenen Versuche, demokratische Ideen in den Bevölkerungsmassen zu verbreiten, lösten Diskussionen über die weitere politische Strategie in der Kadetten-Partei aus. Rostovtzeff gehörte dem rechten, um Miljukov gebildeten Flügel der Partei an, der in der bolschewistischen Propaganda die Vorausdeutung einer neuen Revolution sah und sich für radikale Schritte gegen die linken Parteien aussprach. Der bolschewistische Putschversuch vom Juli 1917 misslang zwar, zeigte aber mit aller Deutlichkeit den Ernst der politischen Lage in Russland, was Rostovtzeffs politisches Engagement verstärkte. Das Verbot der Partei der Bolschewiki und andere Maßnahmen gegen die Anführer des Aufstandes beurteilte Rostovtzeff als unzureichend. Genauso skeptisch war er gegenüber der zweiten Koalitionsregierung, die unter Kerenskijs Ministerpräsidentschaft gebildet wurde und in der nun die Sozialrevolutionäre dominierten. Als Repräsentant der Russischen Akademie der Wissenschaften nahm der Wissenschaftler an der Moskauer Staatsberatung vom 12. bis zum 15. August teil. Diese Zusammenkunft der 2.500 Delegierten aus staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen Russlands war als Forum für die Besprechung eines neuen Regierungsprogramms und für die Stärkung nationaler Solidarität seitens des Ministerpräsidenten gedacht und wurde als ein letzter Versuch betrachtet, eine größere Akzeptanz der Provisorischen Regierung in der Gesellschaft zu schaffen sowie einen Kompromiss in der schweren Situation zu finden. In Moskau begriff Rostovtzeff die Hoffnungslosigkeit der politischen Lage in seinem Heimatland. In den Herbstmonaten vor der Oktoberrevolution erreichte Rostovtzeffs politisches Engagement in Russland seinen Höhepunkt. Er beteiligte sich aktiv an den Initiativen der Russischen Akademie der Wissenschaften zum Denkmalschutz in Bezug auf die geplante

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Bodenreform. Seine Vorschläge bezogen sich auf die Kulturdenkmäler des nördlichen Schwarzmeerraums. Da der überwiegende Teil der dortigen Ausgrabungsstätten auf dem Ackerland einzelner Grundbesitzer und Bauern lag, forderte der Althistoriker ihren Schutz und ihre Übergabe in den staatlichen Besitz. In der Schrift „Wissenschaft und Revolution“ sucht Rostovtzeff nach den Wurzeln der unüberwindbaren Kluft zwischen der intelligencija und den Massen der russischen Bevölkerung. Die Schuld dafür gab er der zaristischen Bildungspolitik, welche keine Verbindung zwischen der Wissenschaft und der Bevölkerung hergestellt hätte. Als eine notwendige Voraussetzung für den sozialen und wirtschaftlichen Frieden sowie für die erfolgreiche Entwicklung des Landes sah Rostovtzeff weiterhin die siegreiche Beendigung des Krieges. Der für ihn zentralen Kriegsfrage widmete Rostovtzeff den Aufsatz „Ein unverzüglicher Frieden“. Er war überzeugt, dass der Abschluss eines Separatfriedens zum Verlust der politischen Selbstständigkeit Russlands und zu einem brutalen Bürgerkrieg führen würde und dass dies den Bolschewiki Möglichkeiten eröffnen würde, ihre Macht zu sichern. Der bolschewistische Umsturz im Oktober 1917 darf als die wichtigste und traurigste Zäsur im Schicksal von Michail Rostovtzeff gelten. Mehrere Umstände machten Rostovtzeffs Leben nach der Oktoberrevolution gefährlich: seine Zugehörigkeit zur intelligencija und zur Kadetten-Partei, seine öffentliche Ablehnung der Kooperation mit den neuen Machthabern sowie sein unverhohlener Hass gegen die Bolschewiki. Rostovtzeff verbrachte etwa acht Monate unter der Herrschaft der Bolschewiki. Die Darstellung dieser Zeit lässt sich in zwei Perioden unterteilen: Ende Oktober bis Dezember 1917 und Januar bis Juni 1918. Rostovtzeffs Beitrag zum Widerstand gegen die Bolschewiki zeigte sich in seinem Arbeitsalltag. Zusammen mit anderen Professoren verfasste er Aufrufe, in denen der Oktoberstreich aufs Schärfste verurteilt wurde. Der Widerstand äußerte sich außerdem in der Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit mit dem bolschewistischen Volkskommissariat für Bildung. Rostovtzeff lehnte auch Vorschläge mancher seiner Kollegen zu einer gewissen Neutralität gegenüber dem politischen Geschehen scharf ab. Ein für Rostovtzeff entscheidendes politisches Ereignis war das Verbot der KadettenPartei; die Mitglieder des Zentralkomitees wurden verhaftet oder flohen aus Petrograd. Rostovtzeff gehörte zwar nicht dem Zentralkomitee seiner Partei an, allein der Besitz eines Partei-Buches stellte jedoch eine Gefahr dar. Denn die Mitglieder der oppositionellen Partei wurden von den Machthabern überwacht. Zudem gehörten Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Vermögenskonfiszierung, Zwangsräumung, Entziehung der Lebensmittelkarten, Veröffentlichung der Listen der Volksfeinde zu den Maßnahmen der bolschewistischen Machtbehauptung. Zwei Ereignisse brachten den Althistoriker zum Entschluss, Russland zu verlassen: die endgültige Auflösung der Konstituierenden Versammlung am 6. Januar und die grausame Ermordung der zwei Kadetten-Minister am 7. Januar 1918. Es wurde die Sowjetrepublik unter der Leitung der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernregierung ausgerufen. Seitdem verliert sich Rostovtzeffs Spur im Überlebenskampf.

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In der neuen Gesellschaftsordnung gehörte Rostovtzeffs Milieu zur unterdrückten Klasse. Durch die verstärkte Klassenhetze versuchte Lenins Partei die Bevölkerungsmassen, die mit der katastrophalen Lebenslage unzufrieden waren, im Klassenkampf zu mobilisieren und den Rest der oppositionellen Kräfte zu beseitigen. Diese systematische Vernichtungspolitik erfuhr der Althistoriker am eigenen Leib. Durch die Reihe der bolschewistischen Enteignungsdekrete wurde er zunächst seiner wirtschaftlichen Existenz beraubt. Der Prozess der Ersetzung der alten Eliten durch die neuen wurde zusätzlich von Maßnahmen begleitet, die in erster Linie eine bloße Erniedrigung der intelligencija zum Ziel hatten. Die Verdichtung der Wohnungsfläche durch Einquartierungen der Arbeiterfamilien, die Verrichtung schwerer körperlicher Zwangsarbeiten, wilde Wohnungsdurchsuchungen mit Konfiskationen, Verhöhnungen und Inhaftierungen wurden zum neuen Alltag innerhalb von Rostovtzeffs Milieu. Darüber hinaus zeichnete sich der bolschewistische Terror im ersten Regierungsjahr durch seine Unberechenbarkeit und besondere Brutalität aus. Der alles umfassende Hunger in Petrogard diktierte den Alltag des Althistorikers, der tagsüber auf die Suche nach Nahrung ging und nachts bewaffnet die Wohnung überwachte und seine wissenschaftlichen Arbeiten schleunigst zur Veröffentlichung vorbereitete. Er nutzte die begrenzten Publikationsmöglichkeiten, um das Geld für die Ausreise zusammenzubekommen. Die notwendigen Papiere ersuchte er bereits Mitte Januar 1918 mit seinem Antrag auf eine Wissenschaftsreise bei der Akademie der Wissenschaften. Rostovtzeff musste jedoch ein halbes Jahr auf die Ausreise warten. In der Emigration setzte sich Rostovtzeff mit der „proletarischen Kultur“ detailliert auseinander und kam zu dem Schluss, dass die bolschewistische Bildungs- und Kulturpolitik bisher die Vernichtung von Errungenschaften der russischen Wissenschaft zur Folge hatte und unausweichlich zum Verfall von Wissenschaft und Bildung führen würde. Dabei teilte Rostovtzeff die Wissenschaftler, die mit den Bolschewiki kooperierten, in diejenigen, die dies taten, um zu überleben, und in die Deserteure ein, die sich vergeblich an das Proletariat anzupassen versuchten. Im Frühjahr 1918 wurde Petrograd erneut durch die Besatzung der deutschen Truppen bedroht. Gleichzeitig wurde die Hauptstadt nach Moskau verlegt, was zur Etablierung einer beinah unkontrollierten Gesetzlosigkeit in der Petrograder Arbeiterkommune führte. Der Umzug des Leiters der berüchtigten Tscheka in die unmittelbare Nachbarschaft des Althistorikers machte seine Situation noch gefährlicher. Die Hungersnot, unbezahlbare Preise für die nötigsten Waren, der Brennstoffmangel und Epidemien kennzeichneten das Leben der Petrograder Bevölkerung im bolschewistischen Russland. Dennoch war selbst diese Zeit durch Rostovtzeffs aktive wissenschaftliche Tätigkeit in der Akademie der Wissenschaften, der Archäologischen Kommission sowie in der Archäologischen Gesellschaft geprägt. Es gelang dem Althistoriker, trotz der schwierigen Lage mehrere wissenschaftliche Beträge zu vollenden. Zum letzten fundamentalen Werk, das Rostovtzeff in Russland verfasste, gehört die zweibändige Monographie „Untersuchungen zur Geschichte der Skythien und des Bosporanischen Reiches“. Was den Einfluss seines Lebens und seiner politischen Erfahrungen auf seine historischen Konstruktionen anbetrifft, ist das Buch „Die Geburt des römischen Imperiums“ von Interesse. In der in Eile verfassten Einleitung unterstrich Rostovtzeff, dass die gegenwärtigen Erleb-

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nisse ihn veranlasst hätten, die Entstehung des Imperium Romanum zu untersuchen und die Bürgerkriege des 2. bis 1. Jahrhunderts v. Chr. im antiken Rom neu zu erleben. Nach großen Anstrengungen gelang es dem Althistoriker Mitte Juni 1918, die Ausreiseerlaubnis für eine Dienstreise zu bekommen. Unter strengen Vorsichtsmaßnahmen verließen Rostovtzeff und seine Frau Russland, in der Hoffnung im Falle des Sturzes der bolschewistischen Macht in ihre Heimat zurückzukehren. Der letzte politische Aufsatz Rostovtzeffs „Russlands Fassade“, der kurz nach seiner Abreise in der Sowjetrepublik veröffentlicht wurde, stellt einen symbolischen Abschied von seinem Heimatland dar. Hier wurde der Versuch unternommen, die Gründe für die unheilvolle Entwicklung Russlands herauszufinden. Diese suchte er in der spezifischen Entwicklung der Gesellschaft in Russland und in der in diesem Prozess entstandenen Mentalität des russischen Volkes, die stark durch die Leibeigenschaft geprägt und der Freiheit dementsprechend fremd war. Er bedauerte zudem, dass die intelligencija nicht in der Lage gewesen sei, ihre Aufgabe zur Demokratisierung des Landes zu erfüllen. Die Untersuchung der politischen Tätigkeit Michail Rostovtzeffs eröffnete die neuen Facetten dieses großen Wissenschaftlers. Die Darstellung seines politischen Engagements in Russland in Form einer Grafik würde eine Kurve aufweisen, die zwischen seiner Ankunft in der russischen Hauptstadt 1890 bis zum Ende der Ersten Russischen Revolution steigen und im Zeitraum von 1907 bis 1913 sinken würde. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 würde die Kurve allmählich nach oben gehen und ihren absoluten Höhepunkt im Herbst 1917 erreichen. Dabei lässt sich Rostovtzeffs politische Tätigkeit zu keiner dieser Zeitperioden isoliert betrachten, sondern befindet sich stets in einer dynamischen Wechselwirkung mit anderen Tätigkeiten des russischen Historikers. Rostovtzeffs Leben vor 1918 spiegelt die Geschichte seiner Heimat am Ende des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in vielfältiger Weise wider. Als Repräsentant der Elite der hauptstädtischen intelligencija erlebte und gestaltete er die Erfolge der russischen Wissenschaft und Kultur mit. In den Reihen der konstitutionell-demokratischen Partei unterstützte der Althistoriker Russland auf seinem Demokratisierungsweg und als dieser in Gefahr geriet, kämpfte er für die Freiheit seiner Heimat. Seine patriotische Position äußerte sich sowohl in den Auseinandersetzungen gegen den äußeren Feind als auch in der Verteidigung seiner Ideale gegen die inneren Widersacher. Für seine wissenschaftliche Karriere und aus der Ablehnung jeder Gewalt war er bereit, das Zarenregime nach dem Oktober 1905 zu akzeptieren. Einen unversöhnlichen politischen Standpunkt zeigte Rostovtzeff, indem er die bolschewistische Herrschaft mit aller Schärfe ablehnte. Nach dem verlorenen Kampf gegen die Bolschewiki wurde Rostovtzeff zum Augenzeugen des Untergangs der glänzenden europäischen Metropole und seiner eigenen Gesellschaftsschicht. Die Erweiterung des Horizonts über Rostovtzeffs Leben vor 1918 hinaus kann zu neuen Auffassungen seiner Werke führen und somit zum Ausgangspunkt des Interesses an der Persönlichkeit dieses Gelehrten. Denn sowohl sein modernistisches Bild der Antike mit der auffallenden Begrifflichkeit als auch seine leidenschaftliche Darbietung der antiken Geschichte waren nie die Folge eines einzigen Erlebnisses in seinem Leben, sondern das Resultat der langjährigen Entwicklung und der ereignisreichen Erfahrungen des russischen Althistorikers.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Abb. 2

Collection Elisabeth H. Gilliam, nach Bongard-Levin, G.: Skifksij roman, Moskau 1997, Bildtafel. Rostovtzeff, M.: August Mau. Nekrolog, in: Germes 7 (1909), nach Bongard-Levin, G.: Skifskij roman, Moskau 1997, Bildtafel.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen Archivbestände Russisches Historisches Staatsarchiv in St. Petersburg (RGIA): 1041/1. Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg (RAN SPb): 1054/1,2, 134/3. Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek in St. Petersburg (OR RNB): 608/1, 585/1, 117/135. Handschriftenabteilung des Instituts für Russische Literatur in St. Petersburg (IRLI): 9/3/42, 212/143, 661/941, 9923/1/14.

Zeitungen, Zeitschriften und Lexika Aftenposten Archäologisch-epigraphische Mitteilungen aus Österreich-Ungarn Archäologischer Anzeiger Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete Berliner philologische Wochenschrift Bolʼšaja sovetskaja ėnciklopedija (BSĖ) Byzantinische Zeitschrift Denʼ Deutsche Literaturzeitung Enciklopedičeskij slovarʼ Brockhaus-Efron (ĖSBE) Filologičeskoe obozrenie Germes Gnomon Göttingische Gelehrte Anzeiger Gymnasium Historische Vierteljahrsschrift Istoričeskij Vestnik Izevstija Imperatorskoj Archeologičeskoj Komissii (IIAK) Izvestija archeologičeskoj komissii (IAK)

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Personenindex Amelung, W.  128, 134, 135, 140, 141, 142, 146, 147, 171, 207, 333 Andreev, I.  326 Andreev, L.  217 Anziferov, N.  26, 51, 348 Babelon, E.  133, 141, 153 Baccelli, G.  138, 139, 354 Barnabei, F.  137, 138, 139, 140, 359 Batjuškov, F.  293 Bayer, G.  118 Bechterev, V.  327 Benndorf, O.  132, 153, 356 Benois, A.  26,63, 242, 243, 245, 280, 285, 302, 334, 348 Berdjaev, N.  62, 304, 348 Bethmann-Hollweg, Th.  160 Birch, S.  134 Bobrinskij, A.  101, 165, 168, 348 Bogdanov, A.  297, 300 Boni, G.  164, 360 Bormann, E.  132, 133, 144, 333 Broch, O.  314, 315 Bubnov, N.  168, 169 Buchanan, G.  202, 203, 275, 348 Bücher, K.  123, 124 Bulygin, A.  75 Bunin, I.  26, 61, 62, 66, 143, 177, 334 Buzeskul, V.  16, 122, 348, 353 Cereteli, G.  282 Černov, V.  262, 273, 287 Collignon, M.  127, 282 Crusius, O.  145 Diels, H.  171 Dʼjakonov, M.  323

Dörpfeld, W.  131, 153 Dseržinskij, F.  285 Erman, A.  147, 148, 159 Farmakovskij, B.  26, 37, 42, 152 Fimmen, D.  149 Florinski, T.  326 Georgievskij, A.  35 Gerzen, A.  323 Gessen, I.  26, 237, 349 Gippius, Z.  59, 257, 275, 349 Goleniščev, V.  91 Golovin, F.  245, 246 Gorʼkij, M.  63, 242, 245, 327 Graeven, H.  146 Grevs, I.  43, 44, 46, 47, 123, 124, 313 Grimm, D.  95, 96 Grimm, Ė.  46, 47, 48, 49, 179, 274 Großfürst Alexander Michajlovič 100 Großfürst Konstantin Konstantinovič 98, 99, 100, 349 Großfürst Michail Aleksandrovič 239, 240 Harnack, A.  153 Helbig, W.  137, 138, 139, 140, 141 Hirschfeld, O.  59, 61, 144, 146, 171, 210 Hülsen, Ch.  130, 134, 135, 137, 142, 144, 153, 333 Inostrancev, A.  323 Ivanov, S.  135, 136, 137 Ivanov, V.  26, 59, 60, 61, 64, 286, 334, 349 Izgoev, A.  96, 97, 288 Karcev, N.  322

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Personenindex

Kareev, N.  26, 43, 44, 48, 49, 66, 85, 87, 204, 349 Karo, G.  147, 149, 210 Kasso, L.  93 Kaufman, P. von 80, 93 Kerenskij, A.  55, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 276, 277, 339 Khvostov, V.  326 Kizevetter, A.  176 Kokoškin, F.  287, 288 Kolli, A.  305 Kondakov, N.  36, 37, 38, 39, 49, 54, 115, 125, 133, 170, 242, 316, 323, 333 König Georg I.  166 Kornemann, E.  145, 146, 154 Kornilov, L.  260, 261, 280 Kotljarevskij, N.  66, 77, 321 Kulakovskij, Ju.  48, 49, 114, 115 Kuprin, A.  26, 62, 63, 334 Kutorga, M.  120

Miljukov, P.  26, 33, 34, 68, 70, 71, 81, 82, 84, 88, 97, 174, 178, 180, 202, 203, 204, 211, 226, 227, 230, 231, 239, 240, 241, 247, 248, 250, 252, 253, 258, 260, 261, 271, 274, 279, 283, 284, 324, 335, 339, 349, 350, 356 Mommsen, Th.  1, 4, 59, 60, 61, 86, 114, 119, 127, 141, 144, 190, 193, 210 Montelius, O.  313 Münzer, F.  141, 142, 208 Muromcev, S.  94 Murray, G.  134 Nabokov, V.  26, 82, 84, 85, 237, 239, 249, 252, 256, 271, 275, 279, 284, 306, 335, 349 Nikitin, P.  35 Nikitskij, A.  121, 307 Nolʼde, B.  271, 350 Obolenskij, V.  279 Olʼdenburg, S.  204, 310 Ostrogorskij, M.  323

Lappo-Danilevskij, A.  168, 169, 204, 254, 255, 323 Latyšev, V.  121, 235, 263, 275, 307, 349 Lecius, I.  114 Lenin, V.  209, 248, 249, 250, 257, 270, 272, 273, 276, 278, 282, 283, 285, 287, 289, 292, 306, 318, 322, 325, 339 Löschke, G.  171 Losskij, N.  278, 349 Löwy, E.  140, 149, 171 Lunačarskij, A.  60, 116, 249, 278, 280, 294, 295, 296, 297, 299, 300, 326, 349 Lurje, S.  180

Panina, S.  279 Patouillet, J.  204, 205 Pergament, M.  95 Petersen, E.  134, 135, 140, 153 Petražickij, L.  85, 87 Pirogov, N.  110, 111, 112, 350 Pleve, V.  68, 73 Pokrovskij, I.  96 Pokrovskij, M.  170, 299 Pomjalovskij, I.  35, 39, 116 Pridik, E.  131, 144 Prou, M.  44, 133, 141, 145

Manujlov, A.  239 Maspero, G.  158 Mau, A.  127, 128, 129, 136, 140, 143, 333, 343 Merežkovskij, D.  59 Meyer, Ed.  2, 9, 123, 124, 142, 154, 156, 161, 166, 171, 175, 177, 180, 181, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 195, 196, 209, 338, 347, 349

Rasputin, G.  232, 233, 234 Rerich, N.  245 Rodbertus, K.  123, 124 Rodičev, F.  84, 239 Rostovtzeff, D.  70 Rostovtzeff, F.  66, 69, 350 Rostovtzeff, I.  40, 82, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 116, 332, 350

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Personenindex

Rostovtzeff, J.  105, 106, 107 Rostovtzeff, M.  110, 332, 350 Rostovtzeff, P.  104, 105, 113 Rostovtzeff (Kul’čickij), S.  53, 62, 65, 84, 214, 314, 316, 334, 335 Šachmatov, A.  179, 315, 323 Schiff, A.  148, 170 Ščukarev, A.  49 Šeremetʼev, S.  91 Sergeenko, M.  52 Šidlovskij, S.  246 Siebourg, M.  142, 146 Sieveking, J.  146 Šingarev, A.  239, 287, 288 Sipjagin, D.  68, 73 Smirnov, J.  17, 37, 131, 302 Sokolov, F.  37, 42, 47, 49, 121, 122, 333 Somov, K.  63 Sonni, A.  114, 115, 350 Sorokin, P.  233, 238, 323, 350 Spinazzola, V.  164 Steklov, V.  236 Struve, P.  62, 68, 96, 97, 177, 204, 254, 288, 348, 350 Struve, V.  187, 188 Šwarz, A.  93 Tallgren, A.  254, 255 Tamanov, A.  246 Tarle, E.  71 Tolstoj, I.  26, 80, 89, 112, 213, 308, 350 Tolstoj, L.  94 Trotzkij, L.  248, 278, 289 Tyrkova(-Williams), A.  26, 97, 202, 217, 241, 259, 288, 324, 350, 351

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Urickij, M.  306, 322 Uvarov, A.  234 Uvarov, S.  118 Vernadskij, G.  15, 236, 275, 281, 294, 351, 362 Vernadskij, V.  204, 241, 281, 351 Vinaver, M.  252, 284 Virchow, R.  86 Warscher, T.  26, 52, 207, 208 Weber, M.  154, 155, 363 Westermann, W.  209 Wiegand, Th.  153, 172, 210 Wilamowitz-Moellendorff, U. von 9, 26, 119, 141, 152, 153, 154, 156, 161, 166, 170, 171, 172, 177, 179, 180, 181, 186, 189, 193, 195, 207, 338, 351 Wilcken, U.  150, 172, 208, 209 Wissowa, G.  147, 153 Wolters, P.  131, 146, 148, 171 Wundt, W.  144 Wünsch, R.  146 Zar Alexander I.  105 Zar Alexander II.  112 Zar Alexander III.  108 Zar Nikolaus I.  107, 135 Zar Nikolaus II.  64, 68, 88, 100, 101, 110, 179, 227, 232, 239, 336 Zar Peter der Große 107, 117 Žebelev, S.  17, 26, 36, 37, 42, 46, 49, 54, 121, 133, 180, 218, 251, 254, 309, 351 Zelinskij, F.  26, 38, 39, 41, 42, 50, 54, 60, 61, 76, 82, 114, 121, 122, 130, 144, 163, 204, 242, 333, 351 Zubov, V.  26, 242, 243, 244, 254, 276, 351

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