Denkmal und Energie 2020: Energieeffizienz, Nachhaltigkeit und Nutzerkomfort [1. Aufl. 2020] 978-3-658-28752-8, 978-3-658-28753-5

In zahlreichen Beiträgen namhafter Autoren aus Wissenschaft und Praxis werden aktuelle Fragestellungen rund um das Theme

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Denkmal und Energie 2020: Energieeffizienz, Nachhaltigkeit und Nutzerkomfort [1. Aufl. 2020]
 978-3-658-28752-8, 978-3-658-28753-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden (Stephan Schütz, Christian Hellmund)....Pages 1-21
Die Hightech-Mühle – eine denkmalgeschützte Mühle wird zu einem Forschungsgebäude (Danyel Pfingsten, Uwe Kind, Antonio Mühlner, Susanne Weidelt, Heiko Bernhardt, Dominik Schilling)....Pages 23-34
Aktiv Stadthaus im Bestand (Johannes Hegger, Gerhard Greiner, Thomas Wilken, Mathias Schlosser)....Pages 35-54
Sanierung und Umbau der Orangerie in Greiz (Friedhelm Haas)....Pages 55-68
Elemente aus technischer Kaltkeramik | Nachhal(l)tige Innovation im Denkmal (Matthias Oppe, Thorsten Helbig, Florian Scheible)....Pages 69-83
Auseinandersetzung mit dem Begriff „Besondere Leistungen“ in der Denkmalpflege (Manfred v. Bentheim)....Pages 85-92
Sanierung der 6. Grundschule „Am Großen Garten“ Dresden (Claudia Klinkenbusch)....Pages 93-110
Akustische Verfahren zur Ermittlung der Luftdichtheit von Bestandsgebäuden (Peter Holstein, Nicki Bader, Steffen Moeck, Hans-Joachim Münch, Dirk Döbler, Alexander Jahnke)....Pages 111-123
Akustische Tomografie und Raumklimatisierung (Armin Raabe, Peter Holstein)....Pages 125-137
UV- und Infrarot-Schutz mit mundgeblasenem Flachglas – Die moderne Weiterentwicklung eines historischen Materials (Michael Brückner)....Pages 139-149
Das neue Dach – brand- und klimawandelsicher mit GUTEX Pyroresist® (Walter Leo Meyer)....Pages 151-168
Grundlagen für die energetische Verbesserung von Burgen und Schlössern (Olaf Freytag, Norbert Lange, Rene Hoch)....Pages 169-186
Entwicklung des Energieverbrauches im Bestand am Beispiel des TU Dresden-Campus (Annina Gritzki, Julia Seeger, Clemens Felsmann)....Pages 187-202
Denkmalpflegerische Entscheidungen über Solaranlagen in Sachsen – ein Rückblick (Ralf-Peter Pinkwart)....Pages 203-216
Solarsysteme in Bestandsfassaden (Franziska Rehde, Leonie Scheuring, Bernhard Weller)....Pages 217-228
Back Matter ....Pages 229-232

Citation preview

Bernhard Weller Leonie Scheuring Hrsg.

Denkmal und Energie 2020 Energieeffizienz, Nachhaltigkeit und Nutzerkomfort

Denkmal und Energie 2020

Bernhard Weller · Leonie Scheuring (Hrsg.)

Denkmal und Energie 2020 Energieeffizienz, Nachhaltigkeit und N ­ utzerkomfort

Hrsg. Bernhard Weller Institut für Baukonstruktion Technische Universität Dresden Dresden, Deutschland

Leonie Scheuring Institut für Baukonstruktion Technische Universität Dresden Dresden, Deutschland

ISBN 978-3-658-28753-5  (eBook) ISBN 978-3-658-28752-8 https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Frieder Kumm Springer Vieweg ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort Das Vereinbaren denkmalpflegerischer Aspekte mit nachhaltigen Planungskonzepten stellt Architekten, Ingenieure und Denkmalpfleger vor ganz besondere Herausforderungen: Gilt es sowohl den kulturellen Wert der Gebäude zu erhalten als auch die Ressourcen der Erde zu schützen. Energetische Ertüchtigungen müssen den individuellen Charakter unserer Bestandsbauten bewahren aber zugleich den Energieverbrauch soweit senken, dass wir unserem Ziel eines nahezu klimaneutralen Gebäudebestandes bis zum Jahre 2050 näherkommen. Die Reihe Denkmal und Energie zeigt aktuelle Lösungen, Planungsempfehlungen, Materialien und Forschungsergebnisse, die individuell eine ganz besonders gelungene Symbiose zwischen dem behutsamen Umgang mit dem Gebäude und der energetischen Ertüchtigung möglich machen. Im Teil „Bauten und Projekte“ dieses Bandes werden Beispiele jüngster Sanierungen beschrieben, die den Spagat zwischen dem Erhalt der Bausubstanz und einer energetischen Ertüchtigung jedes auf seine Weise hervorragend meistern. Die Sanierung des Kulturpalastes in Dresden, ein Werk aus jüngerer Vergangenheit, reiht sich hier neben Bauten der Gründerzeit und des Klassizismus ein. Eine Sanierung eines Wohnblocks der 50er Jahre zu einem Aktivhaus zeigt eindrucksvoll die heutigen Möglichkeiten auf. Die Rubrik „Planung im Detail“ geht auf Problemstellungen und Lösungen in der denkmalpflegerischen und energetischen Planung ein – von innovativen Lösungen für die Nachhallgalerie der Staatsoper in Berlin über Honorarempfehlungen in der denkmalpflegerischen Planung und gelungene ganzheitliche Lösungen in Schulbauten der Nachkriegsjahre. Der Teil „Material und Technik“ stellt in der Sanierung erfolgreich verwendete Materialien vor. Möglichkeiten und Grenzen sowohl neuartiger als auch etablierter Materialien werden diskutiert und zukünftige Entwicklungen abgeschätzt. In diesem Band steht neben mundgeblasenen Schutzgläsern und besonderen Dachdämmungen die Frage der Messung von Luftdichtigkeit im Vordergrund. Abschließend werden im Teil „Forschung und Entwicklung“ Handlungsempfehlungen für den Erhalt besonders alter Bausubstanz – Burgen und Schlösser – gegeben. Die Aktualität dieses Themas zeigt ein Beitrag über die Entwicklung des Energieverbrauchs im Gebäudebestand am Beispiel eines frühen Universitätscampus in Deutschland. Mit einem Rückblick über den denkmalpflegerischen Umgang mit Solaranlagen und aktueller Forschung zur konstruktiven Integration von Solaranlagen in Bestandsfassaden möchte dieser Band der Reihe Denkmal und Energie einen Fokus auf die Nachhaltigkeit setzen. Die Herausgeber danken den Autoren, welche mit ihren Beiträgen dem Leser einen vielfältigen Einblick in das Themenfeld der energetischen Sanierung von Baudenkmalen ermöglichen. Ein besonderer Dank gilt Frau Merit Engels am Institut für Baukonstruktion in Dresden für ihre engagierte Mitarbeit an der Drucklegung des Buches sowie Herrn Kumm bei Springer Vieweg für die angenehme Zusammenarbeit. Prof. Dr.-Ing. Bernhard Weller Dipl.-Ing. Leonie Scheuring Dresden, Februar 2020

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bauten und Projekte Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden . . . . . . . . . . . . . . Stephan Schütz, Christian Hellmund Die Hightech-Mühle – eine denkmalgeschützte Mühle wird zu einem Forschungsgebäude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danyel Pfingsten, Uwe Kind, Antonio Mühlner, Susanne Weidelt, Heiko Bernhardt, Dominik Schilling

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Aktiv Stadthaus im Bestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Hegger, Gerhard Greiner, Thomas Wilken, Mathias Schlosser

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Sanierung und Umbau der Orangerie in Greiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedhelm Haas

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Planung im Detail Elemente aus technischer Kaltkeramik | Nachhal(l)tige Innovation im Denkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Oppe, Thorsten Helbig, Florian Scheible

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Auseinandersetzung mit dem Begriff „Besondere Leistungen“ in der Denkmalpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred v. Bentheim

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Sanierung der 6. Grundschule „Am Großen Garten“ Dresden Claudia Klinkenbusch

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Material und Technik Akustische Verfahren zur Ermittlung der Luftdichtheit von Bestandsgebäuden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Peter Holstein, Nicki Bader, Steffen Moeck, Hans-Joachim Münch, Dirk Döbler, Alexander Jahnke

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Akustische Tomografie und Raumklimatisierung Armin Raabe, Peter Holstein

Inhaltsverzeichnis

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UV- und Infrarot-Schutz mit mundgeblasenem Flachglas – Die moderne Weiterentwicklung eines historischen Materials Michael Brückner

. . . . . 139

Das neue Dach – brand- und klimawandelsicher mit GUTEX Pyroresist® . . . . . . . . . . . 151 Walter Leo Meyer

Forschung und Entwicklung Grundlagen für die energetische Verbesserung von Burgen und Schlössern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Olaf Freytag, Norbert Lange, Rene Hoch Entwicklung des Energieverbrauches im Bestand am Beispiel des TU Dresden-Campus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Annina Gritzki, Julia Seeger, Clemens Felsmann Denkmalpflegerische Entscheidungen über Solaranlagen in Sachsen – ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Ralf-Peter Pinkwart Solarsysteme in Bestandsfassaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Franziska Rehde, Leonie Scheuring, Bernhard Weller Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Schlagwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden Dipl.-Ing. Architekt Stephan Schütz1, Dipl.-Ing. Architekt Christian Hellmund1 1 gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Elbchaussee 139, 22763 Hamburg, Deutschland

Der Umbau und die Sanierung des Kulturpalastes Dresden umfassten den Neubau eines Konzertsaales für 1.750 Besucher im Kern des denkmalgeschützten Bestandsgebäudes von 1969, das als herausragendes Beispiel der DDR-Moderne gilt. Mit den Hauptnutzern Dresdner Philharmonie, städtischer Zentralbibliothek und Kabarett „Herkuleskeule“ entstand ein neues Miteinander von Kultur, Bildung und Unterhaltung innerhalb des Gebäudes. Dabei wurde die originäre Bausubstanz rekonstruiert und in die Neugestaltung integriert, die Fassaden wurden energetisch saniert. Die äußere Konstruktion ist erhalten geblieben, nur bei Tragwerk und Brandschutz wurden einige wenige Dinge angepasst. Mit einer komplett neuen Struktur wurde der Konzertsaal geometrisch und statisch in den Bestand eingefügt. Dresden verfügt jetzt über einen Konzertsaal von internationalem Rang in einem konzeptionell offenen Haus der Kultur und des Wissens, das als Ort bürgerschaftlicher Begegnung und Kommunikation an die gelebte Tradition des Gebäudes anknüpft. Schlagwörter: Kulturpalast, Konzertsaal, DDR-Moderne, Dresden, Akustik, energetische Sanierung

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Der Kulturpalast – damals und heute

Keine architektonische Typologie, kein klar umrissenes Nutzungsspektrum lässt sich generell mit dem Begriff „Kulturpalast“ in Verbindung bringen. Immerhin zielte der Superlativ „Palast“ auf eine gewisse Steigerung zum weit verbreiteten „Kulturhaus“ ab, was sich nicht zuletzt in den äußerst prominenten Lagen dieser Häuser innerhalb der Städte widerspiegelte. Mit unterschiedlichsten Programmen von Kunst-, Bildungs- und Unterhaltungseinrichtungen stellen sich die verschiedenen „Kulturpalast“ genannten Häuser kaum weniger vielfältig und wandelbar dar als die Kultur selbst, der sie Raum und Entfaltungsmöglichkeiten bieten. So definiert sich auch der Kulturpalast Dresden in erster Linie durch seine eigene spezifische Geschichte, durch seine Konzeption und Nutzung im Wandel der Zeit. Hinter der Aufgabe „Umbau und Sanierung Kulturpalast Dresden“, wie sie im Architekturwettbewerb 2008 formuliert war, verbarg sich daher nicht weniger, als auf Grundlage der gewachsenen Identität des Ortes das Gebäude äußerlich zu rekonstruieren und gleichzeitig von innen heraus neu zu denken. Der Umbau und die Sanierung des Gebäudes umfassten den Neubau eines Konzertsaales für 1.750 Besucher im Kern des denkmalgeschützten Bestandsgebäudes. Dabei wurde die originäre Bausubstanz rekonstruiert und in die Neugestaltung integriert, die Fassaden wurden energetisch saniert. Während der Bau als herausragendes Beispiel der DDR-Moderne äußerlich weitgehend entsprechend dem Ursprungszustand von 1969 wiederhergestellt ist, sind im Inneren in der räumlichen Organisation und der Erschließung neue Akzente gesetzt worden. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_1

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Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden

Im Kern des Gebäudes ist der Konzertsaal, der auch für andere Nutzungen konzipiert wurde, in einer Weise neu entwickelt, die weder auf gestalterische Unterordnung noch auf gewollten Kontrast, sondern vielmehr auf den respektvollen und spannungsreichen Dialog mit dem Bestand setzt. Mit der Neukonzeption des Kulturpalastes verfügt Dresden nun nicht nur über einen Konzertsaal von internationalem Rang, sondern auch über ein konzeptionell offenes Haus der Kultur und des Wissens sowie einen Ort der zwanglosen bürgerschaftlichen Begegnung und Kommunikation, der an die gelebte Tradition des Gebäudes anknüpft.

Bild 1-1 Kulturpalast bei Nacht (Foto: © Christian Gahl/gmp Architekten).

1 Der Kulturpalast – damals und heute

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Bild 1-2 Der Konzertsaal bietet Platz für 1.750 Besucher. (Foto: © Christian Gahl/gmp Architekten).

1.1 Historie Als der Kulturpalast 1969 nach nur knapp drei Jahren Bauzeit fertiggestellt wurde, lagen seine ideellen Ursprünge schon mindestens anderthalb Jahrzehnte zurück. Bereits Anfang der 1950er-Jahre waren im Zuge des Architekturwettbewerbs zur Neugestaltung des Dresdner Altmarkts erste Entwürfe zu einem „Haus der Kultur“ an dessen Nordseite entstanden, deren monumentale neoklassizistische Hochhausarchitektur sich noch an einschlägigen Vorbildern aus Warschau oder Moskau orientierte. Als dann 1959 ein offener Ideenwettbewerb zu einem „Haus der sozialistischen Kultur“ für diesen Standort ausgelobt wurde, war in der DDR die ideologische Kehrtwende zum industrialisierten und ästhetisch der Moderne verpflichteten Bauen bereits vollzogen. Städtebaulich war das Leitbild jedoch keineswegs so eindeutig, auch wenn die eingereichten Entwürfe nahezu einheitlich wiederum Hochhausbauten für den Kulturpalast vorschlugen, nun allerdings in modernem Gewand. Einzig der Beitrag des Architekten Leopold Wiel wich von diesem Schema ab. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass ausgerechnet dieser Entwurf dann Grundlage für den ausgeführten Bau wurde: Moskauer Gutachter, die hinzugezogen wurden und denen

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Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden

Wiels Arbeit mehr beiläufig gezeigt worden sein soll, intervenierten überraschenderweise zu deren Gunsten. 1962 übernahmen Wolfgang Hänsch und sein Planungsteam den Entwurf zur weiteren Bearbeitung und Ausführung. Optimierung der Funktionen und vor allem Kürzungen des Etats sorgten bis zum Baubeginn für vielfache Überarbeitungen und Abstriche, in deren Zuge u. a. ein Kuppelaufbau für ein Planetarium, eine volle Geschossebene sowie die Ehrentribüne zur Wilsdruffer Straße gestrichen wurden. Am Ende dieses Prozesses stand der Kulturpalast mit seiner geschätzten stereometrisch einfachen Form und Sinnfälligkeit, mit der er seitdem prominent die nördliche Platzkante des Altmarktes besetzt. Wegen seiner vielfältigen Nutzungen wurde der Bau rasch zu einem selbstverständlichen und identitätsstiftenden Teil der Dresdner Kulturlandschaft. Seine explizit moderne Architektur, der man die Widrigkeiten ihrer Entstehungsgeschichte keineswegs ansieht, fand dabei auch in der internationalen Fachwelt allgemein große Anerkennung. Der große Mehrzwecksaal ermöglichte mit einer für seine Zeit beeindruckenden Technik Anpassungen an unterschiedlichste Veranstaltungen, wie es damals hieß für „Philharmonische Konzerte, Estraden, Ballett- und Opernaufführungen, Kongresse, Sport- und Theaterveranstaltungen und Filmaufführungen.“ Wie anderswo zeigten sich jedoch auch in Dresden die Grenzen einer technisch verstandenen Multifunktionalität, sodass spätestens ab Ende der 1980er-Jahre deutlich Stimmen der Kritik zu vernehmen waren. Gerade als Konzertsaal der Philharmoniker wies der Saal gravierende akustische Einschränkungen auf, die ganz elementar in der ausgeprägten Breite des Raumes begründet waren. Hinzu kam ein allgemeiner Sanierungs- oder Nachbesserungsbedarf im gesamten Haus – ein Problem, das generell die Bauten der Moderne besonders beeinträchtigt. Denn oft wurden experimentelle und wenig erprobte Bautechniken für eine minimalistisch reduzierte Architektur eingesetzt, die ihre Qualität gerade aus dem konstruktiven Detail heraus entwickelt. Als Drittes traf den Kulturpalast nach dem Ende der DDR die gewissermaßen nachgeholte ideologische Moderne-Kritik einer Zeit, die nun architektonisch und städtebaulich ganz auf unkritische Rekonstruktionen setzte. Vor diesem Hintergrund wurde schon früh der Ruf nach einem neuen Konzertsaal für die Philharmonie laut, während das Votum für den Erhalt des Kulturpalastes zunächst weniger eindeutig war. Erst 2008, nach eher halbherzigen Schritten zur Sanierung, sorgte sowohl der Denkmalschutz als auch die Auslobung des Architekturwettbewerbs der Landeshauptstadt Dresden zur Sanierung des Gebäudes und zum Neubau des Konzertsaales für ein Ende der Debatten. Im Zuge des Umbaus sollten nun Instandsetzung und Modernisierung mit maßgeschneiderten Räumen für die zukünftigen Hauptnutzer, die Dresdner Philharmonie, die Zentralbibliothek der Städtischen Bibliotheken und das Kabarett „Herkuleskeule“ sowie ergänzend für das Kulturhauptstadtbüro sowie Galerie- und Gastronomienutzungen verbunden werden.

1 Der Kulturpalast – damals und heute

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Bild 1-3 Kulturpalast Dresden, 1972 (Foto: © Jürgen Huhn).

Bild 1-4 Restauriertes Wandmosaik „Der Weg der Roten Fahnen“ von Gerhard Bondzin (Foto: © Christian Gahl/gmp Architekten).

1.2 Städtebau Auf die einzigartig zentrale Lage zwischen Altmarkt, Schlossareal und Neumarkt antwortet der realisierte Entwurf mit einem allseitig orientierten Haus, das von allen drei Hauptfassaden direkt zugänglich ist. Das Miteinander von Kultur, Bildung und Unterhaltung,

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Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden

das für eine durchgehende Belebung des Hauses durch ganz unterschiedliche Nutzergruppen sorgt, verdichtet sich räumlich in dem großen zum Altmarkt orientierten Südfoyer, das nun als Erschließung aller drei Hauptnutzungen dient und so zu einem hoch frequentierten und belebten Ort wird.

Bild 1-5 Lageplan (Quelle: © gmp Architekten).

Bild 1-6 Gesamtansicht vom Altmarkt (Foto: © Christian Gahl/gmp Architekten).

1 Der Kulturpalast – damals und heute

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1.3 Architektur Der Kulturpalast Dresden ist durch die Sanierung und mit dem Neubau des Konzertsaales im Kern des Bestandsgebäudes von 1969 gemäß den denkmalpflegerischen Vorgaben als herausragendes Beispiel der DDR-Moderne strukturell erhalten worden. Es galt zum einen, den Bau auf Grundlage der gewachsenen Identität des Ortes äußerlich zu rekonstruieren, die originäre Bausubstanz behutsam zu sanieren und in die Neugestaltung zu integrieren, die Fassaden energetisch zu sanieren. Zum anderen bedeutete die Aufgabe, den Kulturpalast typologisch von innen heraus neu zu denken, maßgeschneiderte Räume für die zukünftigen Hauptnutzer zu generieren. Mit Dresdner Philharmonie, städtische Zentralbibliothek und Kabarett „Herkuleskeule“ entstand so ein neues Miteinander von Kultur, Bildung und Unterhaltung innerhalb des Kulturpalastes, das sich räumlich in dem großen Südfoyer verdichtet, welches als gemeinschaftliche Erschließung dient. Über die beiden sogenannten Schmetterlingstreppenhäuser ist dieses Hauptentrée auch von den Eingängen an der Schlossstraße und der Galeriestraße erreichbar. Der Saal des Kabaretts „Herkuleskeule“ befindet sich unterhalb des Konzertsaales, der in den beiden Obergeschossen passgenau von den Räumen der Bibliothek umschlossen wird wie von einem Futteral. Diese sind in ihrer Materialität mit einer eigens konzipierten Möblierung einfach und reduziert gestaltet. Einen farblichen Akzent setzt hier der an den Ursprungsbestand angelehnte Rot-Ton der textilen Oberflächen, der sich als Leitmotiv in allen Hauptnutzungsbereichen wiederfindet. Der eigentliche Bauprozess des neuen Konzertsaals für 1.750 Besucher gestaltete sich geradewegs andersherum, indem dieser in das „Baufenster“ des alten Saalkörpers hineingebaut wurde. Der Saal ist dabei in einer Weise neu konzipiert, die weder auf gestalterische Unterordnung noch auf gewollten Kontrast, sondern vielmehr auf den respektvollen und spannungsreichen Dialog mit dem Bestand setzt. Statt des einen großen Mehrzweckraumes, der allen Nutzungen dient – und damit keiner richtig –, weist der Bau nun ähnlich wie in der ursprünglichen Konzeption eine Reihe von einzelnen Nutzungsbausteinen mit spezifischen Räumen auf, die ganz unterschiedliche Zielgruppen rund um die Uhr ansprechen und damit in der Summe eine durchgehende Belebung des Hauses versprechen. Ergänzend zu den drei Hauptnutzern sind dies das Kulturhauptstadtbüro sowie Galerie- und Gastronomienutzungen. Deren jeweilige Räume konnten mit der Sanierung in Lage, Größe, Orientierung, Proportion, Ausstattung, Akustik und Belichtung ganz spezifisch auf ihre Funktionen zugeschnitten werden. Gleichzeitig war es möglich, für die Identität des Gebäudes wichtige Elemente des Baubestandes zu erhalten. So nutzt die Zentralbibliothek die ehemalige Studiobühne im ersten Obergeschoss als Medienbibliothek bei Erhalt der ursprünglichen Deckenkonstruktion weiter. In gleicher Weise ist im Lesesaal im zweiten Obergeschoss die sogenannte »Kranichdecke« des Bestandes in die Neugestaltung integriert.

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Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden

Bild 1-7 Hauptfoyer (Foto: © Christian Gahl/gmp Architekten).

Bild 1-8 Foyer im 1. Obergeschoss (Foto: © Christian Gahl/gmp Architekten).

1 Der Kulturpalast – damals und heute

Bild 1-9 Arbeitsplätze in der Bibliothek (Foto: © Christian Gahl/gmp Architekten).

Bild 1-10 Lesesaal im 2. Obergeschoss mit „Kranichdecke“ (Foto: © Christian Gahl/gmp Architekten).

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Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden

Bild 1-11 Grundriss Untergeschoss mit dem neu errichteten Saal des Kabaretts „Herkuleskeule“ (Quelle: © gmp Architekten).

Bild 1-12 Grundriss Erdgeschoss (Quelle: © gmp Architekten).

1 Der Kulturpalast – damals und heute

Bild 1-13 Grundriss 1. Zwischengeschoss mit dem großen Konzertsaal (Quelle: © gmp Architekten).

Bild 1-14 Grundriss 2. Obergeschoss mit dem großen Konzertsaal und den Räumen der Zentralbibliothek (Quelle: © gmp Architekten).

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Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden

Bild 1-15 Konzertsaal – Querschnitt (Quelle: © gmp Architekten).

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Umbau und Sanierung

Im Rahmen der Instandsetzung und Modernisierung des denkmalgeschützten Kulturpalastes ist die äußere Konstruktion weitestgehend erhalten geblieben, nur bei Tragwerk und Brandschutz gab es einige wenige Anpassungen. Die Konstruktion ist in ihrer Gesamtgestalt bewahrt, indem mit einer Vielzahl an kleinmaßstäblichen Maßnahmen die einzelnen Bauteile, Anschlüsse und Knotenpunkte bauklimatisch und statisch ertüchtigt wurden. Mit einer komplett neuen Struktur wurde der Konzertsaal geometrisch und statisch in den Bestand eingefügt. In den beiden Obergeschossen ist er von der Bibliothek umschlossen, darunter befindet sich der Kabarettsaal. Der eigentliche Bauprozess gestaltete sich jedoch geradewegs andersherum, indem der neue Konzertsaal in das „Baufenster“ des alten Saalkörpers hineingebaut wurde. Sukzessive wurde so die Geschichte des Gebäudes, im wahrsten Sinne, freigelegt. Grundlage waren aufwendige Bestandsanalysen, Ertüchtigungen und Berechnungen von Brandszenarien. Darüber hinaus sorgt die Neubetrachtung bestehender Flächen für eine wirtschaftliche Ausnutzung mit öffentlichen Funktionen. So ist im Bereich der ehemaligen Technikzentrale im Untergeschoss der Saal des Kabaretts „Herkuleskeule“ entstanden.

2 Umbau und Sanierung

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2.1 Tragwerk und Nachhaltigkeitskonzept Bei der Sanierung des Kulturpalastes griffen die planerischen Erwägungen zu Tragwerk und Nachhaltigkeit auf besonders enge Weise im Sinne einer integralen Vorgehensweise ineinander. Denkmalpflegerische Gründe, aber auch die grundsätzlich kosten- und ressourcenschonende Herangehensweise an die Bauaufgabe legten nahe, die vorhandene Glasfassade mit den gestaltprägenden tragenden Aluminiumelementen zu erhalten. Vonseiten der Fachplaner wurden dabei ungewöhnliche und zum Teil neue Wege beschritten: In aufwendigen Simulationsverfahren wurden die Detailpunkte der Bestandsfassade einzeln auf ihre thermischen und statischen Eigenschaften hin untersucht und beurteilt. Auf diese Weise konnte nachgewiesen werden, dass mit der vorgefundenen Werkstoffgüte der Materialien heutige Anforderungen erfüllt werden können. Im Ergebnis war es so möglich, die Fassade in ihrer Gesamtgestalt zu erhalten, indem mit einer Vielzahl an kleinmaßstäblichen Maßnahmen die einzelnen Bauteile, Anschlüsse und Knotenpunkte bauklimatisch und statisch ertüchtigt wurden.

Bild 2-1 Ertüchtigte Fassade (Foto: © Christian Gahl/gmp Architekten).

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Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden

Bild 2-2 Details ertüchtigte Fassade, Material (links), Temperatur (rechts), (Quelle: © DS-Plan Ingenieurgesellschaft für ganzheitliche Bauberatung und Generalfachplanung mbH, Stuttgart).

Auch in Bezug auf das Innere des Gebäudes war von Beginn an das wesentliche Ziel der Planung, die vorhandene Bausubstanz weitgehend zu erhalten bei gleichzeitiger Ertüchtigung des Gebäudes für die zukünftige Nutzung. Damit einher ging die Frage, ob das vorhandene Tragwerk über dem Hauptsaal diesem zukünftigen Nutzungsziel noch gerecht werden könnte. Normgerecht wäre für den neuen Saal ein als F90 klassifiziertes Tragwerk gewesen. Diese Klassifizierung war allerdings für das Bestandstragwerk nicht nachweisbar. Auf Anregung des verantwortlichen Tragwerksplaners wurde daher eine am

2 Umbau und Sanierung

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Schutzziel orientierte Prüfung der Tauglichkeit des Tragwerkes vonseiten des Brandschutzplaners erstellt, die im Ergebnis den Erhalt des vorhandenen Haupttragwerkes – und somit des vorhandenen Baukörpers – möglich machte. Hierfür wurden zwei Schutzziele festgelegt: zum einen die ausreichende Rauchableitung zur Ermöglichung wirksamer Löscharbeiten und Gewährleistung der Personalsicherheit, zum anderen der Nachweis, dass die vorhandene Stahlfachwerkträgerkonstruktion unter Berücksichtigung der vorhandenen Nutzung über 30 Minuten ausreichend standsicher ist. Für den Nachweis dieser Schutzziele wurden vier Brandszenarien festgelegt und per CFD-Simulation geprüft. Im 3D-Modell wurde dazu der Konzertsaal flächen- und volumengleich mit den tatsächlichen Gegebenheiten abgebildet. Die Auswertung erfolgte anhand von Einzelbildern und Zeitverlaufskurven, die bewertet wurden: Die Prüfung konnte nachweisen, dass die Temperatur im Raum 30 Minuten lang 200 °C Grad nicht überschreitet, ein Stabilitätsversagen des vorhandenen Tragwerkes somit ausgeschlossen ist und die thermische Beanspruchung des Tragwerkes als unkritisch angesehen werden kann. Dieser zielorientierte Nachweis trug maßgeblich dazu bei, dass der Kulturpalast in seiner Gestalt erhalten und das vorhandene Tragwerk weiterhin genutzt werden konnte.

Bild 2-3 3D-Modell mit CFD-Simulation, thermische Beanspruchung der Tragkonstruktion (Quelle: © hhpberlin · Ingenieure für Brandschutz GmbH, Berlin).

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Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden

Bild 2-4 3D-Modell mit CFD-Simulation, Beispiele dreier Szenarios zum Nachweis ausreichender Rauchableitung. Optische Dichte im Horizontalschnitt 1 m (jeweils links oben) und 2,50 m (jeweils links unten). Optische Dichte im Vertikalschnitt (jeweils rechts oben), Temperatur im Vertikalschnitt (jeweils rechts unten), (Quelle: © hhpberlin · Ingenieure für Brandschutz GmbH, Berlin).

2 Umbau und Sanierung

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2.2 Konzertsaal Innerhalb des Baufensters im Kern des Gebäudes wurde der neue Konzertsaal in einer Weise neu entwickelt, die weder auf gestalterische Unterordnung noch auf gewollten Kontrast, sondern vielmehr auf den respektvollen und spannungsreichen Dialog mit dem Bestand setzt. Neben der durchgehend einfachen reduzierten Gestaltung, die dem Charakter der Architektur entspricht, wird dabei insbesondere das an den ursprünglichen Bestand angelehnte Rot zu einem verbindenden Element, das sich als identitätsstiftendes Leitmotiv im gesamten Haus wiederfindet. Die Architektur des Konzertsaales, der im Übrigen auch für vielfältige andere Nutzungen entworfen und geplant wurde, folgt dem Typus des „Weinbergs“ mit einer in die Geometrie des hexagonalen Baufensters eingepassten terrassenartigen Anordnung der Zuhörerplätze, die gestaltprägend für den gesamten Saal ist. Im Kontrast zum warmen Ton der hölzernen Terrassen schieben sich die weißen Wellen der Wände langsam aus der regelmäßigen Geometrie des Grundrisses heraus, bis sie sich in der Saaldecke verbinden. Die romantische Konzertorgel ist mit ihren 55 Registern einmalig in der Dresdner Orgellandschaft und besonders für das sinfonische Repertoire des 19. und 20. Jahrhunderts geeignet. Durch die Anordnung ihrer Pfeifen verbindet sie sich optisch mit den bewegten Bändern der horizontalen Wandstruktur und lässt sie so zum integralen Bestandteil der Saalarchitektur werden.

Bild 2-5 Konzertsaal, Blick auf Konzertorgel mit 67 Registern (Foto: © Christian Gahl/gmp Architekten).

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Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden

2.2.1 Akustik Die neuen Dimensionen des Raumes und die differenzierten Strukturen der Oberflächen, von denen nahezu jede eine akustische Funktion hat, sind wesentliche Elemente der raumakustischen Auslegung des neuen Philharmonischen Konzertsaales. Um insbesondere die gewünschte Kombination aus Transparenz und Klangwärme zu erzeugen, die den traditionell etwas dunkleren Klang der Dresdner Philharmonie unterstützt, gab es über die gesamte Planungszeit eine intensive Zusammenarbeit von Akustiker, Architekt und Orchester. Schon im September 2012 wurde nach einem ersten Entwurf der Architekten ein begehbares akustisches Model gebaut, anhand dessen erstmals die akustische Wirkung der Ausgestaltung von Sitzrängen, Wänden, Decken und Akustikpaneelen über dem Orchesterspielort geprüft werden konnten. Erkenntnisse aus dieser Prüfung flossen unmittelbar in die weitere Planung und Raumgestaltung ein. Es folgten – nach z.T. erheblichen Änderungen in der Ausformung der Geometrie, vor allem bei der Decke und den Wandoberflächen – zwei weitere begehbare Modelle im Oktober 2013 und Oktober 2014. Unterstützt wurde dieser Prozess zudem durch Simulationen an einem digitalen Modell.

Bild 2-6 Digitales Simulationsmodell der Akustik (Quelle: © Peutz Consult Gmbh, Düsseldorf).

Am Ende dieses Prozesses steht ein Konzertsaal, der alle Anforderungen für konzertante Nutzungen erfüllt, von der Nachhallzeit über den akustischen Raumeindruck und eine gute Verständlichkeit der Musiker untereinander bis hin zur Dynamik des Saals, auf die besonders großer Wert gelegt wurde. Mit dieser akustischen Disposition sind auch andere Formate wie Konzerte der Unterhaltungsmusik, Shows oder auch Kongressveranstaltungen möglich. Die gesamte Ausstattung des Saales ist individuell konzipiert bis zur eigens entwickelten und akustisch abgestimmten Bestuhlung, deren Farbigkeit das traditionelle Rot des ursprünglichen Bestandes aufgreift, das so zu einem identitätsstiftenden Leitmotiv im gesamten Haus wird. Für die Materialität der Oberflächen fiel mit der Roteiche die

3 Fazit

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Wahl auf eine robuste Holzart, die einen angenehmen warmen Raumeindruck und gleichzeitig das Gefühl der Dauerhaftigkeit vermittelt und sich gut in die Ästhetik der vorhandenen Furniere fügt.

Bild 2-7 Akustikmodelle, 2012 (oben), 2013 (Mitte), 2014 (unten), (Fotos: © gmp Architekten).

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Fazit

Mit der Neukonzeption des Kulturpalastes verfügt Dresden über einen Konzertsaal von internationalem Rang in einem Haus der Kultur und des Wissens, das als Ort bürgerschaftlicher Begegnung und Kommunikation an die gelebte Tradition des Gebäudes anknüpft. Ein konzeptionell offenes Gebäude, das sich seit dem ersten Wettbewerbsentwurf vor über fünfzig Jahren seine zurückhaltende architektonische Geste bewahrt hat und das, indem es die gelebte Tradition des Hauses fortsetzt, einen wertvollen Teil des Erbes der Moderne darstellt. Ein wesentlicher Grund für den vergleichsweise reibungslosen Bauablauf bei diesem komplexen Bauvorhaben lag in der hervorragenden Zusammenarbeit mit dem Bauherrn sowie den übrigen Planungsbeteiligten. Der Kulturpalast stellt nach dem Umbau einen altbekannten und gleichzeitig neuen Baustein in der Dresdner Kulturlandschaft dar. Un-

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Umbau und Sanierung des Kulturpalastes Dresden

verkennbar bleibt die besondere Qualität der Architektur, wie sie Wolfgang Hänsch entworfen hatte, ihre neu akzentuierte klare und einfache Gliederung und die insgesamt zeitlose architektonische Erscheinung. 4

Projektdaten und -beteiligte Internationaler Wettbewerb

2009 – 1. Preis

Entwurf

Meinhard von Gerkan und Stephan Schütz mit Nicolas Pomränke

Projektleitung

Wettbewerb Clemens Kampermann

Mitarbeit Wettbewerb

Verena Coburger

Projektleitung

Christian Hellmund

Mitarbeiter

Clemens Ahlgrimm, Roman Bender, Stephan Both, Stephanie Brendel, Verena Coburger, Ivanka Perkovic, Annette Löber, Anna Liesicke, Ursula Köper, Tiago Henriques, Laia Caparo, Julius Hüpeden, Patrick Machnacki, Giuseppina Orto, Michael Scholz, René Wiegand, Dörte Groß, Florian Illenberger, Sonja Kautz, Laura Warskulat (Studentin), Ralitsa Bikova (Studentin), Robin Lauritzen (Student), Jessika Krebs (Studentin)

Bauleitung

gmp Bernd Adolf, in Zusammenarbeit mit phase 8

Tragwerk

Professor Pfeifer und Partner PartGmbB, Ingenieurbüro für Tragwerksplanung, Cottbus

Bauphysik

Bau- und Raumakustik Peutz bv, Mook, Niederlande; ADA Acoustic Design Ahnert, Prof. Dr.-Ing. habil. W. Ahnert, Berlin

Brandschutz

hhpberlin Ingenieure für Brandschutz GmbH, Berlin

Bühnentechnik

theapro, theater projekte daberto + kollegen planungsgesellschaft mbh, München

TGA

Planungsgruppe M+M AG, Dresden (bis LPH 3); ARGE IB Rathenow BPS und Solares Bauen GmbH (ab LPH 5)

Lichtplanung

gmp in Zusammenarbeit mit Conceptlicht GmbH, Traunreut

Bauherr

KID Kommunales Immobilienmanagement Dresden GmbH & Co KG

4 Projektdaten und -beteiligte

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BGF

37.062 m²

Konzertsaal Dresdner Philharmonie

1.750 Sitzplätze, inkl. 18 Rollstuhlplätze

Kabarettsaal »Die Herkuleskeule«

240 Sitzplätze, inkl. 2 Rollstuhlplätze

Zentralbibliothek

5.463 m²

Die Hightech-Mühle – eine denkmalgeschützte Mühle wird zu einem Forschungsgebäude Danyel Pfingsten1, Uwe Kind1, Antonio Mühlner1, Susanne Weidelt1, Heiko Bernhardt1, Dominik Schilling2 1 IPROconsult GmbH, Schnorrstraße 70, 01069 Dresden, Deutschland 2 schilling pr, Regerstraße 12, 01309 Dresden, Deutschland Im Industriegebiet des Dresdner Nordens wurde das ehemalige unter Denkmalschutz stehende Mühlengebäude saniert und als Ergänzung ein modernes Pendant geschaffen: das Technikum. So entstand für die Novaled GmbH ein neues Büro- und Forschungsgebäude. In der alten Mühle sitzt jetzt die Verwaltung und in den Reinräumen und Laboren des Technikums wird geforscht. Die äußere Kubatur des neuen Firmensitzes entwickelte sich aus den Gegebenheiten: Zum einen galt es, das historische Mühlengebäude zu integrieren, zum anderen ließen die Form des Grundstücks und der Bebauungsplan nur einen winklig angeordneten, zweigeschossigen und langgestreckten Baukörper zu. In der Folge entstand ein gelungener Kontrast zwischen Denkmal und Hightech – der aufgrund der hochwertig gedämmten Gebäudehülle und effizienten Anlagentechnik auch energiesparend und ökologisch ist. Schlagwörter: Novaled, Mühlengebäude, Energieeinsparverordnung, Denkmal

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Alt und Neu – das Büro- und Forschungsgebäude im Dresdner Norden

Im Dresdner Norden, wo einst Getreide gemahlen wurde, entwickeln heute Forscher der Novaled GmbH die organischen Leuchtdioden (OLED) der Zukunft. IPROconsult hat hierfür in den vergangenen Jahren aus einer ersten Idee konkrete Pläne für die denkmalgerechte Sanierung der Mühle und den Neubau des angeschlossenen Technikums entstehen lassen. Insgesamt arbeiteten bei IPROconsult rund 40 Planer und Architekten, Zeichner an dem Projekt. Neben dem Fachbereich Architektur waren Mitarbeiter aus den Bereichen Tragwerksplanung, Technischer Ausrüstung, Verkehrs- und Freianlagen, Brandschutz und Umweltgenehmigungsplanung involviert. In der alten Mühle der Heeresbäckerei wurde ab 1903 bis in die 1980er Jahre Getreide gemahlen. In diesem Bauwerk sind jetzt besondere Arbeitsplätze für die Verwaltung der Novaled GmbH entstanden. Mit bis zu 4,5 Meter Höhe wurden hier einzigartige Räume geplant. Zur Erinnerung an die ursprüngliche Funktion der Mühle sind darin Förderschnecken und andere historische Produktionsteile präsent. Zu diesem unter Denkmalschutz stehenden Gebäude wurde ein modernes Pendant geschaffen: das Technikum. Hier wird in Reinräumen und Laboren geforscht.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_2

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Die Hightech-Mühle – eine denkmalgeschützte Mühle wird zu einem Forschungsgebäude

Das Grundstück mit der historischen Mühle befindet sich im Dresdner Norden in einem heutigen Industriegelände. Auf dem Weg vom Flughafen in die Innenstadt kommt man sowohl mit dem Auto als auch mit der S-Bahn an dem großen Areal vorbei: Hier lag über mehr als hundert Jahre eine der größten Kasernenanlagen Deutschlands. Auch heute noch befinden sich die Offiziersschule des Heeres und das Militärhistorische Museum mit seinem Libeskind-Keil in der Nachbarschaft in der Albertstadt. Aufgrund der prominenten Lage des Grundstücks und der historischen Bausubstanz wurde gleich zu Beginn der Planungen das städtische Amt für Kultur und Denkmal einbezogen.

Bild 1-1 Das Grundstück mit der historischen Mühle im Dresdner Norden, einem heutigen Industriegelände, (Foto: Tobias Ritz).

Als Verbindung zum neu geplanten Technikum wird zwischen den beiden Gebäudekomplexen ein eingeschossiger gläserner Verbindungsbau errichtet. Dieser dient als Hauptzugang und beinhaltet die Funktionen Empfang, Rezeption, Umkleideräume mit entsprechenden WCs und Nassräumen sowie den sich aus dem Altbau übergehende Cafeteriabereich. Über den Umkleidebereich gelangt man in das Technikum. Das Technikum erstreckt sich als zweigeschossiger Baukörper über eine Länge von knapp 118 Metern bei einer Breite von gut 25 Metern. Im Erdgeschoss erreicht man über einen lang gestreckten Flur den Reinraum mit ISO-7- und ISO-5-Bereichen, die Laborbereiche und im hinteren Gebäudeteil die Anlieferung mit Versand und Lagerhaltung sowie einem Technikbereich für die Wasseraufbereitung und die Stromversorgung. Daran

1 Alt und Neu – das Büro- und Forschungsgebäude im Dresdner Norden

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angrenzend wurde ein eingeschossiger Lagerbereich für Chemikalien geplant. Über zwei notwendige Treppenhäuser und einen Aufzug gelangt man in das Obergeschoss. Zum Altbau ausgerichtet erstreckt sich über die gesamte Gebäudelänge ein Bürobereich. Dieser wird an der Südfassade durch einen Besprechungsbereich ergänzt. Die restliche Fläche des Obergeschosses wird in einem Teilbereich für eine frostfreie RLT-Zentrale genutzt, in dem anderen Teil als Dachfläche für eine eventuelle Erweiterung sowie als Aufstellfläche für die Kältemaschinen.

Bild 1-2 Der eingeschossige gläserne Verbindungsbau dient als Haupteingang und verbindet das alte Mühlengebäude mit dem neuen Technikum, (Foto: Tobias Ritz).

Als eine Herausforderung galt es, Dach und Fassade des Neubaus zu lösen: Das Gebäude liegt in Relation zur vorbeiführenden Haupteinfallstraße relativ tief und „duckt“ sich vor der dahinterstehenden Mühle. Auf zwei Dritteln der Dachfläche des schlichten, langgestreckten Technikums mussten aber Technikaufbauten für Lüftung, Klimatisierung und andere technische Anlagen geplant werden. Wegen der prominenten Lage des Bauwerks legte das Stadtplanungsamt jedoch Wert auf eine ruhige Gestaltung des Äußeren ohne sichtbare Technikelemente. Deshalb entwarfen die Architekten der IPROconsult die moderne Fassade aus weißen Lamellen, die über die Dachkante hochgezogen wurde und somit die Gebäudetechnik verbirgt. Gleichzeitig ermöglichen die Lamellen eine Permeabilität, sodass ungewöhnliche Einblicke in das Technikum ermöglicht werden.

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Die Hightech-Mühle – eine denkmalgeschützte Mühle wird zu einem Forschungsgebäude

Bild 1-3 Hinter der Fassade aus weißen Lamellen, die über die Dachkante hochgezogen wurde, verbirgt sich die Gebäudetechnik, (Foto: Tobias Ritz).

Dabei war für den Auftraggeber Novaled zu Beginn der Planungen noch nicht einmal klar, wo und wie das neue Forschungs- und Laborgebäude entstehen sollte. Im November 2014 untersuchte IPROconsult zuerst mehrere Standorte und erstellte im Anschluss für zwei Grundstücke Vorentwürfe. Im Frühjahr 2015 fiel dann die Entscheidung für den jetzigen Standort. Die äußere Kubatur des neuen Firmensitzes entwickelte sich schnell aus den Gegebenheiten: Zum einen galt es das historische Mühlengebäude mit seiner unter Denkmalschutz stehenden Gebäudehülle zu integrieren, zum anderen ließen die Form des Grundstücks und der Bebauungsplan nur einen winklig angeordneten, zweigeschossigen und langgestreckten Baukörper zu. In der Folge entstand ein gelungener Kontrast zwischen Denkmal und Hightech. Deutlich aufwändiger war die innere Gliederung: Bis zum Umzug saßen Verwaltung, Forscher und Entwickler von Novaled als ehemaliger Start-up in einem standardisierten Gründerzentrum mit vielen kleinen Büros und Laboren. Jetzt galt es logistische Abläufe, strategische Überlegungen und individuelle Forderungen der Bereiche unter ein neues Dach zu bringen. In der Vor- und Entwurfsplanung gab es ungezählte Meetings mit Verantwortlichen der einzelnen Bereiche, die ihre jeweiligen Vorstellungen, Wünsche und

2 Denkmalgrechte Sanierung des Mühlengebäudes

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Ideen äußerten. Schließlich gelang es uns, aus dieser Gemengelage das optimale Raumprogramm mit einer sinnvollen Raumabfolge herauszuarbeiten und dieses mit den Rahmenbedingungen der Konzernmutter Samsung aus Südkorea in Einklang zu bringen. Im März 2019 bezogen die rund 135 Mitarbeitenden von Novaled den Gebäudekomplex. 2

Denkmalgrechte Sanierung des Mühlengebäudes

2.1 Geschichte des Mühlengebäudes Die Alte Mühle, auch Garnisonsmühle genannt, gehörte mit dem Kornsilo und dem Mehlmagazin zur ehemaligen Heeresbäckerei und damit zu den sogenannten Versorgungsbauwerken in der Albertstadt, auch als Provianthof der Sächsischen Armee bezeichnet. Die Albertstadt wurde 1873 nach dem deutsch-französischen Krieg als eine nach einem sächsischen Monarchen benannte Vorstadt im Norden Dresdens gegründet, nahm aber als Militärstadt eine Sonderrolle ein und war ein der größten zusammenhängenden Kasernenanlagen Deutschlands. Die Albertstadt sollte als Garnison weitgehend funktionieren und deshalb wurden verschiedene Versorgungsbauwerke im zentralen Bereich des Militärkomplexes um das Arsenal entlang der Königsbrücker Straße und an die schon existierende Eisenbahnstrecke gebaut. Die Anlieferung des Getreides zur Verarbeitung in Schrot, Dunst, Grieß und Mehl erfolgte mit der Eisenbahn, ebenso der Abtransport des Proviants für das Militär nach ganz Sachsen. 1902/03 ließ der sächsische Kriegsminister A. Graf v. Fabrice ein eigenes Körner- und Mehlmagazin mit einer hochmodernen Dampfmühle errichten, das Mühlengebäude. 1904 erfolgte der Einbau einer elektrischen Roggenmühle durch die Mühlenbauanstalt Gebrüder Seck in Dresden. Nach der militärischen Nutzung der Anlagen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde nach 1945 die Mühlentechnik ausgebaut und das Gebäude als Speicher genutzt. Größere Kriegsschäden mussten nicht verzeichnet werden, jedoch führte mangelhafte bzw. unterlassene Instandhaltung zu fortwährenden Schäden an der Bausubstanz. So ging der Turmaufsatz an der Südost-Ecke sowie Teile der Fassadenplastik verloren und die Fassaden mit den Putzgliederungen und Sandsteinteilen wurden zunehmend schadhaft. Ein Teil der originalen Fenster und Türen wurde aufgearbeitet und im Objekt wieder eingebaut.

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Die Hightech-Mühle – eine denkmalgeschützte Mühle wird zu einem Forschungsgebäude

Bild 2-1 Königliche Garnisionsmühle, um 1907 (Foto: © SLUB / Deutsche Fotothek / Rapp, Günter).

2.2 Das Gebäude vor der Sanierung 2016 wurde gemäß der Forderung der Denkmalschutzbehörde das Gebäude vollständig erfasst. Das Mühlengebäude ist nicht unterkellert und erhebt sich mit vier Geschossen über eine Fläche von 44,20 x 12,10 m2, wobei die Längenausrichtung parallel zur Eisenbahn in nahezu Nord-Süd-Richtung liegt. Auf der Westseite zur Eisenbahn, jetzt an der Elisabeth-Boer-Straße, waren noch Laderampen und Reste einer nachträglich angebrachten Schutzverdachung des inzwischen rückgebauten Eisenbahnanschlusses vorhanden, an denen größere Bogentore zur Be- und Entladung lagen. Die durch die Lisenengliederung neobarock anmutenden Fassaden werden im Erdgeschoss aus massivem Sandsteinmauerwerk Eckquaderung und unregelmäßigem Quadermauerwerk in der Fläche mit Sockel und Gurtgesims im klassischen Sinn gebildet, wobei die horizontalen Gesimse und Eckquader aus Postaer Sandstein dunkel patiniert waren und Quadermauerwerk und Fenster- und Türgewände aus weicherem Sandstein bewusst heller verblieben sind. Die innere Gebäudestruktur war gekennzeichnet durch im Erdgeschoss ca. 80 cm dicke und nach oben dünner werdende Außenwände sowie eine mittige Teilung der Grundrisse in Gebäudelängsrichtung. Im dritten Obergeschoss trugen völlig unverkleidet gebliebene Gusssäulen das Dachtragwerk mit geneigten Stahlprofilträgern und Kappengewölben. Zusätzliche Stahlträger waren für die zum Teil noch erhaltene Mühlentechnik eingebaut.

2 Denkmalgrechte Sanierung des Mühlengebäudes

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Bild 2-2 Die unverkleidet gebliebene Gusssäulen tragen das Dachtragwerk mit geneigten Stahlprofilträgern und Kappengewölben, (Foto: Ringo Lösel).

Bild 2-3 Treppenhaus mit der zwei-flügeligen Hauptzugangstür, diese wurde als schwere Rahmenfüllungstür aus Holz mit Farbanstrich gefertigt., (Foto: Ringo Lösel).

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Die Hightech-Mühle – eine denkmalgeschützte Mühle wird zu einem Forschungsgebäude

Das Treppenhaus besteht aus massiv gemauerten Pfeilern und Pfeilerbögen mit Abdeckgesimsen und Pfeilerpostamenten aus Sandstein. Die zum Teil gewendelten Treppenstufen sind aus massivem Granit und werden von handgeschmiedeten Ziergeländern und Rundstab-Handläufen flankiert. Im dritten Obergeschoss ist eine Ganzmetall-Wendeltreppe erhalten, die ins Dachgeschoss des Südost-Turmdaches führt, wo die hölzerne Dachkonstruktion und Holzschalung des Schieferdaches zu sehen ist. Die zwei-flügelige Hauptzugangstür wurde als schwere Rahmenfüllungstür aus Holz mit Farbanstrich gefertigt, ebenso das segmentbogenförmige Oberlicht mit Einfachverglasung und schlanken Holzsprossen. Die ursprünglichen Außenfenster des Mühlengebäudes waren Metallfenster aus schlanken Stahlprofilen und Einfachverglasung sowie nur anteilig mit Öffnungsflügeln und schlanker Sprossengliederung. Im Treppenhaus sind schwere zum Teil zwei-flügelige Stahlblechtüren mit Kastenschlössern und Anstrich an den Geschosszugängen erhalten. In verschiedenen Räumen sind noch Reste der ursprünglichen und später eingebauten Mühlentechnik vorhanden. 2.3 Planungskonzept 2.3.1 Sanierung Gebäudehülle Die Außenwände bestanden aus 38 bis 77 cm dickem Vollziegelmauerwerk mit Kalkmörtel. Im Erdgeschoss sind die Außenwände mit Zyklopenmauerwerk aus Sandstein bekleidet. Hier mussten einzelne Steine besonders im Laibungsbereich der Fenster und Gebäudeecken erneuert bzw. mit Vierungsergänzungen saniert werden. Der größere Teil der Sandsteingesimse wurde aufgearbeitet teilerneuert und neu verfugt. Im Bereich des abzubrechenden eingeschossigen Anbaus ist an der zukünftigen Außenwand Nordseite eine Sandsteinbekleidung hergestellt worden. Der vorhandene schadhafte Außenputz musste entfernt und durch einen neuen Putz in einer mit dem Denkmalamt abzustimmenden Struktur mit Glattputzlisenen- und Streifen und Strukturputzbrüstungen und -wandflächen ersetzt werden. Gemäß den restauratorischen Untersuchungen wurden Putzmusterproben einschließlich eines vermuteten Farbanstriches an den Rauhputzflächen zur Entscheidungsfindung angefertigt. Dies erfolgte in enger Abstimmung mit der Denkmalbehörde. Da die Außenfenster nicht original erhalten waren, wurden diese durch neue fein profilierte Stahlfenster, thermisch getrennt mit Zwei-Scheiben Isolierverglasung und Sprossengliederung nach historischem Vorbild ersetzt. Im dritten Obergeschoss konnten die noch relativ vollständig erhaltenen Einfachfenster mit Metallrahmen aufgearbeitet und an den jeweiligen Fensteröffnungen eingesetzt werden. Auf der Rauminnenseite wurde jeweils ein neues Aluminiumfenster mit Zwei-Scheiben-Wärmeschutzverglasung eingesetzt. Die Außentüren wurden durch neue, thermisch getrennte Aluminiumrahmentüren mit Zwei-Scheiben-Wärmeschutzverglasung ersetzt.

2 Denkmalgrechte Sanierung des Mühlengebäudes

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Bei der inneren Gestaltung wurden ebenfalls mit feststehenden Gegebenheiten spannende Lösungen gefunden: So wurde die Außenwand der historischen Mühle im Erdgeschoss zu einer Art Raumteiler im Foyer. Um die Nutzung des Raumes als Anschluss an den Verbindungsbau zu gewährleisten wurden in enger Abstimmung mit dem Denkmalamt im Erdgeschoss vier Fensterbrüstungen auf der Ostseite auf Fußbodenniveau geöffnet. Exemplarisch blieben zwei Fensterbrüstungen bestehen, in die auch historische Bestandsfenster eingebaut wurden. Die restaurierte Mauer gewährt damit interessante Ein- und Ausblicke zwischen dem eingeschossigen Verbindungstrakt mit dem Haupteingang und dem Altbau. Die Cafeteria erstreckt sich beidseits dieser Schmuckwand.

Bild 2-4 Die Außenwand des alten Mühlengebäudes wurde zu einer Art Raumteiler für Foyer und Cafeteria, (Foto: Tobias Ritz).

Auf der Innenseite der Außenwände wurde eine mineralische Innendämmung und ein neuer Innenputz mit Anstrich hergestellt. Im historischen Treppenhaus sowie einigen anderen Räumen wurde die originale Farbigkeit an den Wänden mit Begleitstrichen und Sockel wiederhergestellt. Die Fenster an Süd-, Ost- und Westfassade erhielten einen innenliegenden textilen Sonnen-/Blendschutz. Material und Farbe wurden dabei nach restauratorischer Befunduntersuchung festgelegt. Die Fenster im Bereich des Aufzugsschachts erhielten Blindfelder.

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Die Hightech-Mühle – eine denkmalgeschützte Mühle wird zu einem Forschungsgebäude

Bild 2-5 Loftartige Großraumbüros im alten Mühlengebäude, auch die alten gusseinsernen Pfeiler wurden saniert, (Foto: Tobias Ritz).

Die neu zu errichtenden Außentüren wurden als thermisch getrennte Metallrahmentüren mit Zwei-Scheiben Isolierverglasung ausgeführt. Die repräsentative ehemalige Haupteingangstür aus Holz wurde geborgen und im Gebäude eingelagert, anschließend aufgearbeitet, ergänzt und ist nun in der zentral gelegenen Cafeteria sichtbar. Sie ist wegen des Dekors als Hinweis auf die ehemalige Mühlennutzung besonders wichtig. Die Türflügel bleiben nun geöffnet, vorgelagert befindet sich eine neue Türanlage mit der erforderlichen Brandschutzfunktion, Objektbändern, modernen Türdrückern und Obentürschließern. Eine weitere gleichgestaltete Holztür ist von der Ostseite erhalten. Diese wurde holztechnisch saniert, der Rahmen ausgebaut und in eine benachbarte Türöffnung an der Erdgeschoss-Außenwand zum Verbinden eingebaut. Auch diese Tür verbleibt dauerhaft im geöffneten Zustand. In den Treppenhäusern wurden die vorhandenen zweiflügeligen Stahlblechtüren auf Wiederverwendbarkeit untersucht und ertüchtigt, ergänzt durch nachempfundene Neubautüren mit Brandschutzfunktion. In der Mühle selbst wurden die Zwischenwände beseitigt und es entstanden loftartige Großraumbüros – jeweils praktisch über die gesamte Etage. Im obersten Stock wurden zudem Glaskuben als akustisch abgeschirmte Besprechungsräume installiert.

2 Denkmalgrechte Sanierung des Mühlengebäudes

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2.3.2 Anlagentechnik Für die Wärmeversorgung steht Fernwärme aus dem Fernwärmenetz der Dresdner Stadtwerke zur Verfügung. Diese hat einen Primärenergiefaktor von fP,FW = 0,23 und einen Kraft- Wärmekopplungsanteil von 89,2 %. In den Räumen kommen Plattenheizkörper mit einer Vorlauf-/Rücklauftemperatur von 60/40 °C zum Einsatz. Diese Verteilleitungen und Heizkörperanbindungen im Fußboden sind nach gültiger EnEV zu 100 % gedämmt, um minimale Leitungsverluste beim Wärmetransport zu realisieren. Die Steigleitungen und Heizkörperanbindeleitungen im Altbau wurden nicht gedämmt, sondern mit einem Farbanstrich versehen. Sie liegen im sichtbaren Bereich vor der Wand. Das Warmwasser für die Küche wird ebenfalls über die Fernwärmestation bereitgestellt. In den Sanitäranlagen kommen elektrische Durchlauferhitzer für die Warmwasserbereitung zum Einsatz. Für die Küche wird eine Lüftungsanlage als Zu- und Abluftanlage mit Wärmerückgewinnung vorgesehen. In den Sanitärbereichen kommen Einzelabluftventilatoren zum Einsatz. Die Büros und Besprechungsräume werden manuell über Fenster gelüftet. Zur Beleuchtung werden durchgängig LEDs eingesetzt. Diese werden manuell geschaltet. WCs, Flure und Treppenhäuser werden über Präsenz-/Bewegungsmelder geschaltet. 2.3.3 Energie- und Wärmeschutz Da es sich bei dem Büro- und Forschungsgebäude der Novaled GmbH um zwei Gebäude handelt, werden diese hinsichtlich des Wärmeschutzes getrennt voneinander behandelt. Für den Neubauteil war ein EnEV-Nachweis nach den Anforderungen für Neubauten notwendig. Auf die Maßnahmen, die bei dem Neubau des Technikums umgesetzt wurden, wurde in dem vorliegenden Artikel nicht näher eingegangen, da der Fokus auf dem Denkmal lag Das Mühlengebäude muss als separates Gebäude die Anforderungen der Energieeinsparverordnung (EnEV) an Bestandsgebäude erfüllen. Diese dürfen 40 Prozent höheren Energiebedarf haben, als das Referenzgebäude. Bei der Planung war außerdem der Mindestwärmeschutz nach DIN 4108-2 einzuhalten. Da das Erneuerbare-Energien-Wärme-Gesetz nur für Neubaugebäude Gültigkeit besitzt, muss die Mühle dies nicht erfüllen, könnte dies jedoch problemlos aufgrund des Fernwärmeanschlusses mit Kraft-Wärme-Kopplung. Das gleiche gilt für den sommerlichen Wärmeschutz, der nur für Neubaugebäude geführt werden muss. Mit dem innenliegenden Sonnenschutz und den Raffstoren in den Obergeschossen haben die Planer von IPROconsult diesen für den Komfort wichtigen Punkt dennoch erfüllt. Das sanierte Mühlengebäude unterschreitet die Anforderungen an die EnEV an Bestandsgebäude um 60 Prozent. Die Außenbauteile wurden stärker gedämmt, als es die EnEV fordert, so dass diese ca. 1/3 weniger Energieverlsute zulassen als nach gesetzlichem Standard. Die Außenwände wurde mit einer Innendämmung versehen, um das Erscheinungsbild der denkmalgeschützten Fassade nicht zu beeinträchtigen und dennoch den Komfort der Nutzer durch angenehmeres Temperaturempfinden zu gewährleisten. Dafür

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Die Hightech-Mühle – eine denkmalgeschützte Mühle wird zu einem Forschungsgebäude

wurde von den Planern eine diffusionsoffene Calziumsilikatplatte ausgewählt, die speziell für das Einsatzgebiet an den historischen Mauerwerkswänden geeignet ist, um durch seine dampf-, und wasserleitende Eigenschaft das Mauerwerk vor Kondensatschäden zu schützen. Die Planer von IPROconsult legten auch ein spezielles Augenmerk auf die Minimierung von Wärmebrücken, die für kritische Situationen speziell berechnet wurden. Die Anlagentechnik ist mit LED-Beleuchtung und dem Verzicht auf Kühlung und maschinelle Lüftung sehr effizient. Der Einsatz der Fernwärme mit sehr niedrigem Primärenergiefaktor und einem hohen Anteil an Kraft-Wärme-Kopplung gewährleistet eine sehr positive Bewertung des Primärenergiebedarfs. Zusammen mit der hochwertig gedämmten und luftdichten Gebäudehülle wurden somit die Anforderungen der EnEV an den Bestand übererfüllt.

Bild 2-6 Im Treppenhaus des alten Mühlengebäudes wurden die noch relativ vollständig erhaltenen Einfachfenster mit Metallrahmen aufgearbeitet und an den jeweiligen Fensteröffnungen eingesetzt. Auf der Rauminnenseite wurde jeweils ein neues Aluminiumfenster mit Zwei-ScheibenWärmeschutzverglasung eingesetzt. Die zweiflügeligen Stahlblechtüren wurden durch Neubautüren mit Brandschutzfunktion ergänzt, (Foto: Tobias Ritz).

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Danksagungen

Danke an den Geschäftsführer und die Mitarbeiter der Novaled GmbH in das Vertrauen unserer Arbeit. Wir sind stolz darauf, gemeinsam so eine schöne Verbindung zwischen Alt und Neu geschaffen zu haben. Ein besonderer Dank geht auch an alle Mitarbeiter der IPROconsult, die an diesem Projekt mitgewirkt haben.

Aktiv Stadthaus im Bestand Johannes Hegger1, Gerhard Greiner1, Thomas Wilken², Mathias Schlosser² 1 HHS PLANER + ARCHITEKTEN AG, Habichtswalder Straße 19, 34119 Kassel, Deutschland 2 energydesign braunschweig GmbH, Mühlenpfordtstraße 23, 38106 Braunschweig, Deutschland Prototypische Sanierung eines 50er Jahre MFH zum Effizienzhaus Plus Standard als millionenfach übertragbarer Baustein zur Erreichung der globalen Klimaziele. Mehrfamilienhäuser können unter Verzicht auf fossile Energieträger klimaneutral betrieben werden. Der gefundene Ansatz wird prototypisch umgesetzt. Dies bildet Anreiz zur Multiplikation. Die bestehende Bausubstanz wird fast vollständig erhalten und auf das Niveau des Effizienzhaus Plus Standards gebracht. In Hinblick auf die Ziele für 2050 kann diese prototypische Sanierung einen weitgehend klimaneutralen Gebäudebestand ermöglichen. Der historische Duktus der 50er Jahre Fassaden bleibt erhalten und wird behutsam modernisiert. Die Dachneigung wird geringfügig angepasst, um die Nutzbarkeit für den Dachausbau zu verbessern. Als Synergie erhöht sich der Ertrag aus der dachintegrierten PV-Anlage. Das Konzept zur Energieversorgung des Gebäudes verfolgt das Prinzip des Nur-Strom-Hauses und berücksichtigt in der ganzheitlichen Bilanz zusätzlich den Strom von Nutzerausstattung und Haushalten. Konsequent wird der Einsatz fossiler Brennstoffe und lokaler Emissionen vermieden. Durch die Eigenstromnutzung kann eine solare Deckung von ca. 45 % bezogen auf den Gesamtenergiebedarf inkl. Nutzerstrom erreicht werden, neben dem, dass eine ausgeglichene Jahresbilanz von regenerativem Ertrag und Verbrauch erzielt wird. Schlagwörter: Sanierung, Mehrfamilienhaus, Energieeffizienz, Nachverdichtung, Graue Energie, CO2-neutral

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Ziele

Die Energiewende ist eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Mit diesem Projekt sollen Antworten für eine zukunftsfähige Sanierung von Mehrfamilienhäusern der 50er und 60er Jahre aufgezeigt werden. Zielsetzung ist es, die beiden Gebäudezeilen auf einen zukunftsfähigen Standard zu heben, CO2-Emissionen zu vermeiden und schlussendlich die Betriebskosten für die Bewohner kalkulierbar und bezahlbar zu halten. Nur dies wird es allen Gesellschaftsschichten ermöglichen, in Gebäuden zu leben, die im Zuge der Umsetzung des Energiekonzepts der Bundesregierung in den kommenden Jahrzehnten saniert werden müssen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_3

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Aktiv Stadthaus im Bestand

Bild 1-1 Bestandssituation Westzeile (unsaniert).

Das entwickelte Sanierungskonzept ermöglichte es, die Bewohner in ihrer gewohnten Umgebung zu belassen. Die Sanierung der Ostzeile fand im bewohnten Zustand statt und konnte größere soziale Verwerfungen vermeiden. Dies trägt dazu bei, die mit der Energiewende verbundene Gefahr sozialer Ungleichgewichte zwischen Bewohnern von Neubauten und Bestandsgebäuden zu kompensieren bzw. aufzuheben. Vergleichend hierzu wurde die gegenüberliegende Westzeile im leeren Zustand saniert. Hierdurch konnten zeitgemäße Anpassungen der Grundrisse, Erweiterungen der Wohnfläche und Verbesserung der Tageslichtnutzung umgesetzt werden. Nicht zuletzt lässt sich ein Kostenvergleich dieser Sanierungsarten ziehen. Der gefundene Ansatz wurde prototypisch umgesetzt, sodass Anreiz dazu gegeben wird, diese Sanierungsstrategie vielfältig anzuwenden. Von den rund drei Millionen Mehrfamilienhäusern in Deutschland (mit drei und mehr Wohnungen) sind rund eine Million aus der Baualtersklasse der 50er bis 60er Jahre. Diese sind überwiegend unsaniert und bieten sich für eine direkte Übertragung der hier entwickelten Sanierungsstrategien an. 2

Innovation und Anpassungsfähigkeit

Das entwickelte, technisch robuste Energiekonzept erzielt eine ausgeglichene Jahresbilanz, indem Wärme- und Stromverbrauch durch regenerative Energien vor Ort erschlossen werden. Zugleich liegen die Investitions- und Betriebskosten in einem Rahmen, der eine sozial gerechte Nutzung zulässt. Zu den Konzeptbausteinen gehört eine wirtschaftliche Sanierung der Gebäudehülle (Westzeile KfW 70, Ostzeile KfW 55) und damit verbunden eine erhebliche Reduzierung der Transmissionsverluste sowie eine Verbesserung des sommerlichen Wärmeschutzes.

2 Innovation und Anpassungsfähigkeit

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Bild 2-1 Sanierte Ostzeile, (Foto: Constantin Meyer).

Eine Erhöhung des Wohnkomforts wird unter anderem durch Erhöhung des Schallschutzes und gute Luftqualität in den Wohnräumen mittels wohnungsweiser kontrollierter Lüftungen bzw. Abluftanlagen erreicht. Die Wohnungszuschnitte der Westzeile wurden im Zuge der Sanierung den heutigen Bedürfnissen angepasst und ein direkter Außenbezug der Wohnungen durch neue Loggien und Terrassen geschaffen. Die bisher nicht ausgebauten Dachgeschosse der Gebäude wurden nutzbar gemacht. Zusätzliche Anbauten brechen die Serialität der westlichen Gebäudezeile. Auf einer Südfassade kommt eine experimentelle Organische Photovoltaik Anlage (OPV) zum Einsatz. Die geplante Anlage wurde im Ideenwettbewerb Klimaschutz 2016 von der Stadt Frankfurt unter anderem mit der Begründung ausgezeichnet, dass eine gute Übertragbarkeit möglich ist und hohe Potentiale für eine dezentrale regenerative Eigenstromerzeugung gesehen werden.

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Aktiv Stadthaus im Bestand

Bild 2-2 Organische Photovoltaik Anlage (OPV) auf der Südfassade der Westzeile, (Foto: Constantin Meyer).

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Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Klimafolgenanpassung

Die bestehende Bausubstanz wurde fast vollständig erhalten und deutlich über das Niveau eines Neubaus nach gültiger EnEV (2016) hinaus saniert. Im Vergleich zu einem Abriss und Neubau ist nur eine geringe Menge an grauer Energie für die Sanierung und Erweiterung eingesetzt worden. Lediglich die abgängigen Dachstühle wurden erneuert, um eine Photovoltaikanlage tragen zu können, attraktive Wohnungszuschnitte zu ermöglichen und das Erscheinungsbild des Gebäudes aufzufrischen. Diese Erhöhung der Wohnfläche sowie der Anzahl an Wohneinheiten stellen im Zuge der Sanierung eine sehr ökonomische Lösung dar und schaffen es, einen Beitrag zur Entlastung des angespannten Wohnungsmarktes in Frankfurt am Main zu leisten. Zudem musste zur Erhöhung der Wohnungsanzahl keine neue Infrastruktur geschaffen werden. Entsprechende Aufwendungen, Flächenversiegelungen und Energieeinsatz konnten vermieden werden. Die durchschnittliche Wohnfläche je Wohneinheit erhöhte sich nur geringfügig. Folglich ist die Wohnfläche je Bewohner nur leicht gestiegen und die Effizienzsteigerung des Gesamtgebäudes nicht durch Zugewinn an Fläche negativ beeinflusst worden. Durch das entwickelte Energiekonzept wird im Betrieb die benötigte Energie überwiegend aus lokal verfügbaren erneuerbaren Quellen am Gebäude gewonnen. Die Gebäude-

4 Sanierungsverfahren Gebäudehülle Westzeile

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sind netzdienlich und mit der öffentlichen Infrastruktur verbunden. Überschüsse im Sommer werden eingespeist. Der Bedarf zur Versorgung wird über das Stromnetz gedeckt. Grundsätzlich ist die Jahresbilanz aus Erzeugung und Verbrauch positiv. Die bisher durch den Betrieb emittierten CO2-Emissionen werden zukünftig vermieden. Entsprechend werden nicht nur der Anspruch an das Projekt, sondern vielmehr die Ziele der Bundesregierung für den Gebäudebestand im Jahre 2050 bereits jetzt vorbildlich erfüllt. 4

Sanierungsverfahren Gebäudehülle Westzeile

Der bauliche Wärmeschutz wird im Projekt an den energetischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten orientiert und bewertet. Mit der Zielgröße das Neubauniveau um ca. 30 % zu unterschreiten werden die Bauteile dimensioniert. Dabei erfolgt eine Differenzierung nach Bestandsbauteilen und Konstruktionen, die durch das Konzept ergänzt bzw. erneuert werden. Der schematische Schnitt zeigt die thermische Gebäudehülle in der Übersicht. Der mittlere Wärmedurchgangskoeffizient liegt für die Westzeile bei 0,351 W/m²K und unterschreitet das Niveau des EnEV Referenzgebäudes um ca. 25 %.

Bild 4-1 Verlauf der thermischen Gebäudehülle und Qualität des baulichen Wärmeschutzes (Westzeile).

40

Aktiv Stadthaus im Bestand

Tabelle 4-1 Übersicht der Wärmedurchgangskoeffizienten nach der Sanierung. Bauteil Außenwand Fenster Kellerdecke Bodenplatte Dachterrasse Dach

Sanierter Bestand rot [W/m²K]

Erweiterung/ Erneuerung gelb [W/m²K]

0,17 0,95 0,19 0,14

0,16 0,95 0,17 0,18 -

Aus Gründen der Wirtschaftlichkeit wurde der Standard KfW 70 umgesetzt. Eine weitere Erhöhung der Dämmstärke hätte den Energiebedarf nur unwesentlich verringert, die Kosten für den Wärmeschutz aber erheblich erhöht und die konstruktiven Details sowie Anschlüsse im Sinne einer wirtschaftlichen und gestalterisch hochwertigen, bzw. übertragbaren Lösung unmöglich gemacht. Die Differenz wird durch die Nutzung erneuerbarer Energien kompensiert und zeigt sich, bezogen auf die spezifischen Kosten in EUR pro eingesparter kWh, als wirtschaftlichere Lösung. Der Wärmebrückenzuschlag wird detailliert ermittelt und mit 0,053 W/m²K ausgewiesen, was der Situation im Umgang mit der Bausubstanz Rechnung trägt. Bei der Konstruktion des Dachs wird die luftdichte Ebene sowie die Dampfbremse durch die OSB Platte erstellt, die statisch gleichzeitig als aussteifende Scheibe wirksam ist. Nach außen schließt der Aufbau mit einer diffusionsoffenen Holzweichfaserplatte ab, die bei der gewählten Dachneigung die Eigenschaften eines Unterdachs erfüllt. Im Aufbau kann daher auf Folien komplett verzichtet werden. Luftdichte Anschlüsse zwischen OSB Platte und Mauerwerk können konstruktiv einfach und sicher hergestellt werden. Die Fehleranfälligkeit ist äußerst gering. Das Blower Door Ergebnis bestätigt den Ansatz für die bauphysikalisch wärmebrückenreduzierte Konstruktion. Die gewählten Materialien zur Dämmung sind frei von Schadstoffen wie Halogenen oder Formaldehyden und würden nach den Standards der DGNB die Qualitätsstufe 3 erfüllen. Im Sinne der Risiken für die lokale Umwelt wurde die Auswahl bewusst getroffen. Die Wärmedämmfassade wird auf der Basis von Mineralwolle erstellt. Das Konzept zum baulichen Wärmeschutz ist bestimmt durch eine wirtschaftlich sinnvolle Reduzierung der Transmissionswärmeverluste und der Integration von regenerativen Energiequellen in die Gebäudehülle. 5

Gebäudetechnik / Energieversorgung

Das Konzept zur Energieversorgung des Gebäudes verfolgt das Prinzip des Nur-Strom-Hauses. Konsequent wird der Einsatz fossiler Brennstoffe und lokale Emissi-

5 Gebäudetechnik / Energieversorgung

41

onen vermieden. Alle technischen Komponenten zur Versorgung des Gebäudes verwenden Strom als Primärenergieträger, der überwiegend durch die gebäudeintegrierte Photovoltaik-Anlage regenerativ erzeugt wird. Das Ergebnis ist ein klimaneutrales Bestandsgebäude, was sich auf eine Vielzahl von Wohnungsbauten ähnlicher Typologie übertragen lässt.

Bild 5-1 Prinzip EnergiePLUS im Bestand.

Durch die Eigenstromnutzung kann ohne Einsatz von Batteriespeichern eine solare Deckung von ca. 45 % bezogen auf den Gesamtenergiebedarf inkl. Nutzerstrom erreicht werden. Im Jahreszyklus wird end- und primärenergetisch eine ausgeglichene Bilanz zwischen Bedarf und erneuerbarer Erzeugung erreicht.

42

Aktiv Stadthaus im Bestand

Luft WP

RLT

Haushalt

Sole WP

PV

Luft WP

RLT

Haushalt

PV

120

16,1 1,8

38,4

11,5 8,6

Strommenge [MWh/a]

spez. Strombilanz [kWh/m²a]

Sole WP 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0

100 80 60 40 20

43 5

102

30 23

0 Strombedarf

Photovoltaik

Strombedarf

Photovoltaik

Bild 5-2 Flächenbezogene Endenergiebilanz von regenerativer Erzeugung und Gesamtstrombedarf (Gebäudebetrieb und Nutzerstrom) (links) und Endenergiebilanz von regenerativer Erzeugung und Gesamtstrombedarf mit absoluter Dimension (Gebäudebetrieb und Nutzerstrom) (rechts).

Durch integrale Planung und eine bereits auf Konzeptebene erstellte Berechnung und Bilanzierung wurden die relevanten Anlagenkomponenten frühzeitig im Planungsverlauf dimensioniert. Die erforderliche Peak-Leistung der PV-Anlage konnte mit dem architektonischen Entwurf abgestimmt werden, sodass durch die Erhöhung der Dachneigung neben der verbesserten Nutzungsqualität im Dachgeschoss die Modulfläche auf das erforderliche Maß vergrößert werden konnte. Abmessungen und Abstände von Öffnungen und Fenstern wurden so gewählt, dass ein gleichmäßiger Rhythmus für die gewünschte gestalterische Integration entsteht. Photovoltaik wird damit zum Bestandteil der Gebäudehülle und ist nicht mehr als additives Element auf dem Dach zu verstehen.

Bild 5-3 Gestaltungsprinzip gebäudeintegrierter Photovoltaik.

Die Wärmebereistellung für das Gebäude erfolgt durch eine bivalente Anlage aus Soleund Luft-Wasser Wärmepumpen. Auf dem Grundstück können zu Erschließung der oberflächennahen Geothermie je Gebäudezeile sieben Erdsonden mit einer Tiefe von 100 m abgesenkt werden. In Kombination mit Luft als Umweltwärme wird die erforderliche Leistung für die Raumwärme und die zentrale Trinkwarmwasserbereitung bereitgestellt. Der Bivalenzpunkt zwischen den beiden Aggregaten wird so gewählt, dass bei Temperaturen unter 5 °C überwiegend das Erdreich als Energiequelle genutzt wird. Im Winterbetrieb bestimmt damit die Sole-Wasser-Wärmepumpe die Lauf- und Schaltzeiten der Erzeuger. Bei höheren Außenlufttemperaturen im Sommer und in der Übergangszeit kann

5 Gebäudetechnik / Energieversorgung

43

das Erdreich regenerieren und die Luft-Wasser-Wärmepumpe übernimmt den überwiegenden Teil der Arbeit. Eine monatliche Aufteilung der Wärmelieferung differenziert nach Erzeuger zeigt die nachfolgende Grafik.

Heizwärme bedarf Gebäude [MWh] WW- Bedarf Gesamt [MWh]

Wärmebedarf [MWh]

Wärmelieferung [kWh]

Wärmelieferung Luft-/Wasser Wärmepumpe [kWh] Wärmelieferung Sole-/Wasser Wärmepumpe [kWh] 35 000 30 000 25 000 20 000 15 000 10 000 5 000 0

35 30 25 20 15 10 5 0

Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez

Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez

Bild 5-4 Prognostizierte monatliche Wärmemengen der bivalenten Wärmepumpenanlage differenziert nach Erzeuger (links) und prognostizierter monatlicher Wärmebedarf differenziert nach Heizung und Trinkwarmwasserbedarf bezogen auf den Standort Frankfurt Riederwald (rechts) (Basis: stündliche Wetterdaten).

Durch den baulichen Wärmeschutz nach Sanierung lässt sich der Jahresheizwärmebedarf auf 31 kWh/m²a verringern. Die Heizperiode beginnt im November und endet im März. Zwischen einem Normal- und einem Extremjahr sind dabei Abweichungen von bis zu 2 % möglich. Die Grundlast mit monatlich ca. 4,3 MWh ist zur Deckung des Warmwasserbedarfs erforderlich. Haushalt [MWh] Sonstiges [MWh] WP Luft-Wasser [MWh]

Lüftung [MWh] WP Sole-Wasser [MWh]

PV Ertrag [MWh] 20,0

PV-Ertrag [MWh]

Strombedarf [MWh]

20,0 15,0 10,0 5,0 0,0

15,0 10,0 5,0 0,0

Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez

Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez

Bild 5-5 Strombedarf Gebäudebetrieb und Nutzerstrom (links) und Stromertrag aus Photovoltaik (rechts).

Aktiv Stadthaus im Bestand

Strombedarf Luft-/Wasser Wärmepumpe [kWh] Strombedarf Sole-/Wasser Wärmepumpe [kWh]

Strombedarf [MWh]

8.000 6.000 4.000 2.000

PV Ertrag [MWh]

20,0

10.000

PV-Ertrag [MWh]

Strombedarf WP + ST [kWh]

44

0

15,0 10,0 5,0 0,0

Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez

Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez

Bild 5-6 Strombedarf Wärmepumpen (links) und Bilanz aus Ertrag und Bedarf (rechts).

Der monatliche aufgelöste Strombedarf für den Gebäudebetrieb sowie den Haushaltsstrombedarf und der regenerative Stromertrag werden in den Grafiken 5-5 und 5-6 gegenübergestellt. In Verbindung mit einem Modell zur Eigenstromnutzung durch den lokalen Versorger sowohl für die Anlagentechnik wie für den Nutzerstrom lässt sich die vor Ort erzeugte Energie direkt nutzen. Ein Ausbau der E-Mobilität, die aktuell noch nicht berücksichtigt ist, wird die Überschusseinspeisung im Sommer weiter verringern. Der Einsatz eines Batteriespeichers wurde nicht vorgesehen.

Tabelle 5-1 Übersicht Anlagenkomponenten und Systeme der Westzeile

Erzeugung

Wärme

Strom

Luft-Wasser Wärmepumpe,

dachintegriere und ostwest orientierte PV-Anlage mit 120 kWp

Sole-Wasser Wärmepumpe

Speicherung

Pufferspeicher mit ca. 4.500 l

organische Photovoltaik auf der Südfassade mit 5 kWp -

Verteilung

Trinkwasserspeicher mit 750 l leitungsgebunden mit doppelter EnEV Dämmung

Eigenstromnutzung und Mieterstrommodell

Warmwasserzirkulation Fußbodenheizung

-

Übergabe

kontrollierte feuchtegeführte Abluftanlage, Nachströmung über Außenluftdurchlässe

6 Technische Innovationen

45

Bild 5-7 Energiekonzept Zeile West zeigt die Wärme- und Stromerzeugung sowie die Systeme zur Speicherung, Verteilung und Übergabe.

6

Technische Innovationen

Innovativ ist der Ansatz, den Anspruch der Klimaneutralität auf den Gebäudebestand zu übertragen. Die durchgeführten Berechnungen und Studien zeigen, dass Sanierungsvarianten für die Gebäudehülle und Anlagenkonzepte möglich sind, auch wenn Grenzwerte

46

Aktiv Stadthaus im Bestand

in Teilen nicht zu 100 % erreicht werden können. Gestaltung, Umsetzbarkeit und Übertragbarkeit sollten Priorität haben und das Potential für eine Vielzahl von Lösungen erweitern. Das Anlagenkonzept mit einer bivalenten Lösung aus Luft- und Sole-Wasser Wärmepumpen wird als energetische und wirtschaftliche Lösung optimiert. In Verbindung mit den thermischen Speichern und dem Mieterstrommodell zur Eigenstromnutzung gelingt es, regenerative Erträge vor Ort nutzbar zu machen. Die Innovation liegt im Besonderen in dem hohen Maß an übertragbaren Ansätzen, die für ein Gelingen der Energiewende unerlässlich sind. Robuste und nutzerfreundliche Konzepte mit einfacher Anlagentransparenz durch ein Monitoring bieten das Potential, den Gebäudebestand für den überwiegenden Teil der vorhandenen Typologien klimaneutral werden zu lassen. Eine Erweiterbarkeit z. B. um elektrische Batteriespeicher ist jederzeit gegeben, sodass eine Anpassung technischer Komponenten zukünftig möglich ist. Die Berechnung erfolgt in diesem Fall nicht nach DIN V 18599, da eine Abbildung der Hybridanlage nicht möglich war und die Ergebnisse unplausibel erschienen. Die durchgeführten Berechnungen zur Energiebilanz basieren auf stündlichen Werten aus dem für den Standort relevanten Wetterdatensatz und erzielen damit eine deutlich höhere Genauigkeit, vergleichbar mit denen dynamischer Simulationen. 7

Erläuterung zu den Betriebskosten

Die Sanierung bringt Vorzüge für die Bewohner. Diese werden mit zunehmendem regenerative Energie- und solaren Eigenstrom-Nutzungsanteil des Gebäudes weitgehend unabhängig von steigenden Energiepreisen. Im Bereich der Nebenkosten werden die Bewohner je Wohneinheit um ca. 660 € jährlich entlastet. Dies setzt sich aus Energiekosteneinsparungen in Höhe von 720 € sowie zusätzlichen Ausgaben für Wartungen der Technischen Gebäudeausrüstung in Höhe von ca. 60 € zusammen. Die Betriebskosten konnten durch die Sanierung um rund 60 % reduziert werden. Mieter können über ein Mieterstrommodell von den günstigen Konditionen des auf ihrem Gebäude erzeugten PV-Stroms profitieren. 8

Ressourceneinsparung / CO2-Reduktion

Mit dem gewählten Konzept, das in der Jahresbetrachtung eine ausgeglichene Energiebilanz von Bedarf und regenerativer Erzeugung erzielt, werden primärenergetische Einsparungen nach EnEV von 92 % erreicht. Unter der Berücksichtigung der Faktoren für den Verdrängungsstrom-Mix wird aus dem 50er Jahre Wohnungsbau ein Plusenergiegebäude. Die C02-Emissionen reduzieren sich um 90 % von 52 auf 5 kg/m²a bezogen auf die Gebäudenutzfläche nach EnEV.

9 Innenraumqualität

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Mit dem Angebot von flächeneffizienten Grundrissen wird der nachhaltige Ansatz der Planung unterstützt. Durch den Erhalt der Bausubstanz wird graue Energie, die für einen Ersatzneubau notwendig gewesen wäre, eingespart. Die Baumaterialien werden unter Berücksichtigung des PE-Inhalts gewählt. Als Dämmstoff wird im Wesentlichen Mineralwolle eingesetzt. Die Fußbodenaufbauten erfolgen als Leichtbaukonstruktion. Auf einer gebundenen Schüttung werden in der Westzeile Trockenbaukomponenten mit integrierter Flächenheizung verbaut. Durch die Übertragbarkeit des Konzepts lassen sich Auswirkungen auf das Quartier hochrechnen. Im Riederwald gibt es bereits jetzt eine Vielzahl von Aktivitäten und Sanierungsplänen, für die das beschriebene Konzept als beispielgebend gesehen wird. 9

Innenraumqualität

Die thermische Behaglichkeit im Gebäude ist nach der Sanierung durch den gewählten baulichen Wärmeschutz mit einem Effizienzhaus 55 vergleichbar. Hohe Oberflächentemperaturen, überwiegend in Verbindung mit einem Niedertemperaturheizsystem (Fußbodenheizung) und kontrollierter Lüftung ermöglichen ein hohes Komfortniveau. Das Konzept zum sommerlichen Wärmeschutz sieht einen ausgewogenen Flächenanteil von opaker und transparenter Fassade vor. Die Fenster erhalten einen Lamellen-Raffstore als außenliegenden Sonnenschutz, der in Verbindung mit der Verglasungsqualität den Wärmeeintrag nutzerabhängig steuerbar macht. Fenster im Bereich von Loggien werden durch den baulichen Überhang verschattet und machen einen zusätzlichen Behang verzichtbar. Die massiven Bauteile der Wände und Decken bieten eine thermisch nutzbare Speicherkapazität, die durch manuelle Nachtlüftung wirksam erschlossen werden kann. Mit den Qualitätsanforderungen an ein Effizienzhaus steigt die Dichtheit der Gebäudehülle. Die Infiltration wird planerisch durch ein Konzept zur Luftdichtheit reduziert, was die Lüftungswärmeverluste entsprechend verringert. Zur Sicherstellung eines ausreichenden Feuchteschutzes und einer guten Luftqualität wird der erforderliche Luftwechsel mechanisch generiert. Dezentrale drehzahlgeregelte Abluftventilatoren in den Bädern erzeugen einen Unterdruck, sodass frische Außenluft über kontrollierte Öffnungen an den Fenstern der Wohnräume nachströmt. Die Abluftanlage läuft dauerhaft und reguliert feuchteabhängig den Luftaustausch, um thermische Verluste gering zu halten, gleichzeitig aber für hervorragende Lufthygiene zu sorgen. Die Abluftanlage findet eine hohe Nutzerakzeptanz, da die selbstregulierenden Durchlässe in der Fassade den Luftwechsel an den Bedarf anpassen. Eine Fensterlüftung ist uneingeschränkt möglich. In Verbindung mit dem robusten System und konventionellen Radiatoren (Ostzeile) bzw. thermostatisch geregelten Fußbodenheizung (Westzeile) erhalten die Mieter eine einfach zu bedienende technische Ausstattung, die eine hohe Zufriedenheit erwarten lässt. Das

48

Aktiv Stadthaus im Bestand

überwiegend verbesserte Tageslichtangebot trägt zusätzlich zur Erhöhung der Behaglichkeit bei.

Bild 9-1 Ausstattungsmerkmale der Wohnungen (Westzeile).

10 Außenraumqualität

10

49

Außenraumqualität

Das Sanierungsprojekt steht im städtebaulich verdichteten Standort Frankfurt Riederwald. Der Stadtteil aus den 50er Jahren zeigt einen Wechsel aus Zeilenbebauung und Blockstrukturen und ist mit baumbewachsenen Grünflächen durchzogen. Im Bestandsgebäude (Westzeile) sind keine Balkonanlagen vorhanden. Mit der Erweiterung der Wohnflächen wird die Aufenthaltsqualität um das Angebot von Loggien und Dachterrassen daher konsequent verbessert. Die Grundstücksflächen erhalten eine dem Quartier entsprechende zurückhaltende Aufwertung. Der Gestaltungsspielraum wird durch neue Bäume, Bänke und Wege mit wassergebundener Decke genutzt. Abstellflächen für Fahrräder werden in die Außenanlagen integriert. Die Möglichkeit Ladestationen für E-Bikes nachzurüsten ist gegeben. Der Riederwald ist hervorragend durch den öffentlichen Nahverkehr erschlossen, sodass der Individualverkehr im Stadtgebiet Frankfurt eine untergeordnete Rolle spielt.

Bild 10-1 Ausblick aus einer Loggia der Westzeile, (Foto: Constantin Meyer).

50

Aktiv Stadthaus im Bestand

Bild 10-2 Lageplan Gebäudezeilen im Stadtteil Riederwald, Frankfurt am Main.

11

Akzeptanz, Partizipation, soziale Innovation

Bei der Auswahl der Sanierungsobjekte wurden durch den Bestandshalter, die ABG FRANKFURT HOLDING, die Übertragbarkeit und die sozialen Randbedingungen nach dem Umbau diskutiert. Entscheidend war eine deutliche Verbesserung der Wohn- und Aufenthaltsqualität bei erheblich niedrigeren Betriebskosten. In Abstimmung mit dem örtlichen Energieversorger wird dem Kunden ein Mieterstrommodell angeboten, sodass der nachhaltige Umbau und die Nutzung erneuerbarer Energie unmittelbar erfolgen kann. Klimaneutrale Gebäude lassen sich mit dem hier angewendeten Konzept auch für den Markt mit geringem bis mittleren Mietzins umsetzen. Die Aufwertung der Anlage sowie des Quartiers wird durchweg positiv bewertet. Das Konzept der Umbauplanung wurde auf Informationsveranstaltungen im Stadtteil an die Mieter und Interessierte kommuniziert. Dem interdisziplinären Team konnten Fragen zum Prinzip bis zum Detail gestellt werden. Es konnte verdeutlicht werden, dass auch nach der Sanierung bezahlbare Wohnungen zur Verfügung stehen. Die Anpassung der Grundrisse (Westzeile) hatte vor diesem Hintergrund das Ziel, auf einer kompakten Fläche familientauglich und flexibel zu sein. Gleichzeitig kann dem Anspruch an moderne Wohnformen entsprochen werden.

12 Prozessqualität

51

Bild 11-1 Anbauten zur Erweiterung der Wohnfläche an der Westzeile, (Foto: Constantin Meyer).

Bild 11-2 Regelgrundriss Westzeile.

12

Prozessqualität

Für die Sanierung der Gebäudezeilen im Frankfurter Riederwald wurden als Bauteam interdisziplinär denkende Planer ausgewählt. Fachübergreifend wurden vor Festlegung einer Variante die Ansätze und Ziele diskutiert und nach Einbeziehung der Nutzer nach

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Aktiv Stadthaus im Bestand

energetischen, ökologischen und wirtschaftlichen Kriterien entschieden. Damit wurde ein transparenter und nachvollziehbarer Prozess gewählt. An der Umsetzung ist das Bauteam durchgehend beteiligt. Mit der Vorbereitung und Planung eines Monitoringkonzepts lassen sich die Ergebnisse nach Wiederbezug quantifizieren. Nutzerbefragungen werden nach Fertigstellung und Inbetriebnahme in mehreren Durchläufen erfolgen und dokumentiert.

Bild 12-1 Balkone der Bewohner, (Foto: Constantin Meyer).

13

Mehrwert

Das Aktiv-Stadthaus im Bestand zeichnet sich durch eine gute Übertragbarkeit aus. Alle gewählten Komponenten von der Erzeugung bis zur Übergabe sind auf hohe Nutzerakzeptanz und Robustheit ausgelegt. Angeboten wird eine einfache Lösung, die auf der Basis der Nutzung erneuerbarer Energien eine regenerative Versorgung ermöglicht. Der Fokus wird dabei auf die Deckung des Gesamtenergiebedarfs inklusive Nutzerstrom gelegt, um dem Ziel eines klimaneutralen Gebäudebestands bereits jetzt Rechnung tragen zu können. Die Vermeidung übermäßig komplexer Lösungen und Systeme kann als vorbildhaft für eine beschleunigte Umsetzung der Energiewende gesehen werden.

14 Städtebau und Architektur

14

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Städtebau und Architektur

Der historische Duktus der 50er-Jahre-Fassaden wurde erhalten und behutsam modernisiert. Mit der Aufbringung von Wärmedämmung und der Erneuerung der Fenster wurde eine neue, freundliche, hellere Farbwahl in feinerem Putz getroffen. Die Dachneigung wurde geringfügig angepasst, um die Nutzbarkeit für den Dachausbau zu verbessern. Als Synergie erhöht sich der Ertrag aus der PV-Anlage. Diese ist in Farbigkeit und Detaillierung nahezu flächenbündig in die Dachhaut integriert. Insbesondere die Erweiterungsbauten der Westzeile haben das zuvor monoton wirkende Fassadenbild dieser Gebäudezeile belebt. Die vor die langgestreckten Baukörper gestellten Kuben erhalten Faserzementplatten in gleicher Farbigkeit wie der Putz des Hauptbaukörpers. Durch das Fugenbild und die Exaktheit der werkseitig hergestellten Fassadenplatten werden sich die Erweiterungsbauten vom verputzen Bestand ohne kontrastreiche Farbigkeit absetzen. Die Länge des historischen Baukörpers wird dadurch gebrochen. Die Fensterflächen wurden zudem vergrößert, um die Tagelichtversorgung in dieser Gebäudezeile zu verbessern. Hiermit und mit der Ergänzung einer Loggia oder Terrasse für jede Wohnung wird der direkte Außenbezug das Angebot von Wohn- und Aufenthaltsqualität deutlich erhöhen. 15

Daten

Standort Fertigstellung 16

Projektbeteiligte

Bauherr Architektur Energiekonzept, Bauphysik, TGA 17

Nebeniusstraße / Schlettweinstraße 60386 Frankfurt am Main 2017 Ostzeile 2018 Westzeile

ABG FRANKFURT HOLDING GmbH, Frankfurt am Main HHS PLANER + ARCHITEKTEN AG, Kassel energydesign braunschweig GmbH, Braunschweig

Preise / Auszeichnung

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) prämierte das Aktiv-Stadthaus im Bestand, Frankfurt-Riederwald beim Ideenwettbewerb „EnEff.Gebäude.2050“. Die fünfköpfige Jury prämiert das Konzept mit folgender Beurteilung: „Das von HHS Planer + Architekten eingebrachte Projekt [...] zeichnet sich in hohem Maße durch seine

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Aktiv Stadthaus im Bestand

Beispielhaftigkeit aus. Die sich daraus ergebende Übertragbarkeit adressiert einen Gebäudetypus, der in Deutschland in vielfacher Art und Weise auf eine Sanierung wartet. Dies lässt gute Möglichkeiten für Nachahmer erwarten, schon allein deswegen, weil sich die Komplexität der Sanierungsmaßnahmen sowohl im Bereich der Qualität der Gebäudehülle als auch jener des Energiesystems in einem guten Gleichgewicht mit der angestrebten Effizienz der energetischen Sanierung befindet.“

Sanierung und Umbau der Orangerie in Greiz Friedhelm Haas1 1 Haas | Architekten BDA, Pariser Straße 6, 10719 Berlin, Deutschland Das Orangeriegebäude liegt im Fürstlich Greizer Park, einer barocken Gartenanlage, nur wenige Meter vom Flusslauf der Weißen Elster entfernt. Es entstand nach der Fertigstellung des dortigen Sommerpalais. Zahlreiche Umbauten prägen dieses Haus. Bis 1945 wurden ein Theater, Wohnungen und ein Warmhaus gebaut. Nun soll das Gebäude grundlegend saniert werden. Zwei neu zu errichtende Kalthäuser machen es wieder als Orangerie nutzbar. Ziel der Sanierung ist die Annäherung des Bauköpers an seine klare, längsrechteckige, kompakte Kubatur zur Entstehungszeit. Hierzu zählt auch die Wiederbelebung der repräsentativen Südfassade des Gebäudes mit den großen Orangeriefenstern und Kalthauszugängen. Entlang der historischen Öffnungsachsen werden hohe Stahlfenster eingesetzt, die mit einer Dreiteilung die historischen Orangeriefenster auf zeitgenössische Art und Weise zitieren. Im Osttrakt wird das große Kalthaus, im Westtrakt das kleine Kalthaus untergebracht. Beide bieten als Überwinterungshaus in der kalten Jahreszeit Platz für den Kübelpflanzenbestand des Fürstlich Greizer Parks. Das große Kalthaus wird in den Sommermonaten für Veranstaltungen und Ausstellungen genutzt. Schlagwörter: Orangerie, Denkmal, Ausstellung, Kalthaus-Warmhaus, Stadtpark

1

Allgemeines

Bild 1-1 Bestandsaufnahme Südwest (Foto: Dipl.-Ing. Torsten Lieberenz).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_4

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Sanierung und Umbau der Orangerie in Greiz

Das Orangeriegebäude liegt im Fürstlich Greizer Park, einer barocken Gartenanlage, nur wenige Meter vom Flusslauf der Weißen Elster entfernt. Es wurde in seiner Geschichte bereits mehrfach baulich verändert. Heute dienen die Räumlichkeiten im Erdgeschoss und Obergeschoss in erster Linie der Parkverwaltung. Im Obergeschoss des Mitteltrakts befindet sich eine Wohnung zur freien Vermietung. Ziel der Sanierung ist der Wiedergewinn der ursprünglichen Kompaktheit und die Ausweitung der Nutzung als Orangerie. 2

Historische Bauphasen

2.1 Orangerieneubau (1779-1782/83)

Bild 2-1 Südansicht zur Entstehungszeit.

Nach dem Bau des Greizer Sommerpalais veranlasste Graf Heinrich XI. den Bau des Orangeriegebäudes. Es wurde in nüchtern klassizistischer Formensprache im nordöstlichen Teil der barocken Gartenanlage errichtet. Dieser Baukörper beherbergte neben der Orangerie auch Funktionsräume. 2.2 Osttrakt zum Theater (1835 bzw. 1843)

Bild 2-2 Südansicht nach Theatereinbau.

Unter Fürst Heinrich XIX. wurde im Osttrakt des Gebäudes ein Liebhabertheater mit 250 Sitzplätzen fertiggestellt.

2 Historische Bauphasen

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2.3 Umbau Mitteltrakt (1854/56)

Bild 2-3 Südansicht nach Umbau.

1854/56 erfolgte der Einbau einer großen Wohnung im Obergeschoss des Mitteltrakts. Die großen Fenster in Richtung Süden wurden aufgegeben und kleinteilige Rechteckfenster an der Südfassade geschaffen. Im darunterliegenden Erdgeschoss müssen ebenfalls bauliche Veränderungen erfolgt sein, u. a. die Schaffung einer großen Rundbogenöffnung im zuletzt als Speiseraum für die Parkgärtner genutzten Zimmer und ein Rundbogendurchgang in der Massivwand zum rückwärtigen Flur an der Nordseite. 2.4 Anbau eines Warmhauses (1877/79)

Bild 2-4 Südansicht mit Warmhaus.

Zwischen 1877 und 1879 entstand durch den Parkdirektor Hermann Rudolf Reinecken rechtwinklig zum Mitteltrakt ein Warmhaus. Zu dieser Zeit erfolgten sowohl Veränderungen im Erdgeschoss als auch im als Wohnung genutzten Obergeschoss, wie z. B. die Schließung von Fensteröffnungen im Bereich des Warmhausanbaus. Zudem darf angenommen werden, dass Teile der wandfesten Ausstattung der Wohnung im Obergeschoss zu dieser Zeit entstanden sind.

58

Sanierung und Umbau der Orangerie in Greiz

2.5 Umbau des Osttraktes in Wohnungen (nach 1945)

Bild 2-5 Südansicht Bestand.

Ein Hochwasser beschädigte 1954 das Haus und dies war wahrscheinlich der Grund für die Schließung des Theaters im Osttrakt. Unter vollständigem Rückbau der Süd- und der Nordwand im Bereich des Obergeschosses wurden hier 1965 im Erdgeschoss Räume für die Parkverwaltung und Garagen geschaffen sowie im Obergeschoss drei Wohnungen eingebaut. Die Decke über dem Erdgeschoss besteht aus Stahlträgern mit Ortbeton. Der Dachstuhl von 1782 einschließlich der Deckenbalkenlage über dem Obergeschoss verblieb. Das ursprüngliche Erscheinungsbild mit einst langgestreckten, regelmäßigen Öffnungen ging durch den Bau des Warmhauses 1879 gänzlich verloren. Ausgenommen der Nord- und Giebelwand des Osttrakts, an denen der Spritzbewurf von 1934 erhalten blieb, wurden zur Zeit des letzten Umbaus 1965 alle Fassaden neu mit Kratzputz auf Kalkzementbasis abgeputzt. 3

Denkmalschutz

Die Orangerie ist gemäß des §2 Abs. 1 Satz 1 des Thüringer Denkmalschutzgesetzes ein Kulturdenkmal. In Zusammenarbeit mit Torsten Lieberenz und Dr. Anja Löffler wurden ein Untersuchungsbericht des Baukörpers und eine denkmalpflegerische Zielstellung für die Orangerie erstellt. Ziel der anstehenden Sanierung des mehrfach nutzungsbedingt umgebauten Hauses ist die Annäherung an seine klare, längsrechteckige, kompakte Kubatur zur Entstehungszeit. Hierzu zählt auch die Wiederbelebung der repräsentativen Südfassade des Gebäudes mit den großen Orangeriefenstern und Kalthauszugängen. Der überkommene, äußerst beachtliche Dachstuhl ist im Bestand zu erhalten und zu restaurieren. Ergänzungen im Bereich des verlorengegangenen Dachtragwerkes über dem Osttrakt, auch in einer zeitgenössischen Formensprache, sind notwendig. Erhaltenswert ist die Substanz des Mitteltrakts. Durch die geplante Fassaden- und Fenstergliederung sind die baugeschichtlichen Nutzungsänderungen gut ablesbar. Von besonderem Interesse für das Thüringische Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie waren Farbigkeit und Körnigkeit des Außenputzes, die historischen Plattenbeläge im Erdgeschoss und der Erhalt und die Reparatur des bauzeitlichen Dachwerkes.

4 Zielplanung

4

59

Zielplanung

Das Gebäude wird wieder als Orangerie nutzbar gemacht. Der westlich gelegene Anbau wird mit reduzierter Kubatur bis auf Teile des Erdgeschosses abgebrochen. An seiner Stelle wird ein nach Süden und über Kopf verglastes Warmhaus mit einem massiven Abschluss im Westen errichtet. Die Umbauten von 1965 werden rückgebaut, der Dachstuhl von allen nachträglichen Einbauten befreit und saniert. Der niedrige, im Osten der Orangerie befindliche, neuzeitliche Anbau wird abgerissen. Im Osttrakt ist das große Kalthaus (ausgelegt auf 8 °C) und im Westtrakt das kleine Kalthaus (ausgelegt auf 10 °C) unterbracht. Beide bieten als Überwinterungshaus in der kalten Jahreszeit Platz für den Kübelpflanzenbestand sowie neun Pflanztische. Das große Kalthaus wird in den Sommermonaten für Veranstaltungen und Ausstellungen mit einer maximalen Anzahl von 99 Personen genutzt. Erschlossen werden die Kalthäuser über zwei große Zugänge auf der Südseite der Fassade. Für den Nutzer besteht über den Betriebshof im Norden die Zugänglichkeit und die Möglichkeit der Anlieferung in den Garten. Hier ist auch der barrierefreie Zugang angeordnet, um den Weg zum barrierefreien Stellplatz auf dem Betriebshof zu verkürzen. Im Erdgeschoss des Mitteltrakts sind eine Werkstatt, eine Tischlerei und Lagerflächen der Parkverwaltung untergebracht. Der westliche Anbau der Orangerie wird als Warmhaus (ausgelegt auf 18 °C) genutzt und ist mit acht EbbeFlut-Rolltischen ausgestattet. Im Obergeschoss befinden sich Büronutzungen der Parkverwaltung sowie eine frei vermietbare Wohnung. 5

Geplante bauliche Anlagen

5.1 Osttrakt In der ersten Bauphase werden die Wohnungen rückgebaut und durch das große Kalthaus mit Lager- und Sanitärräumen ersetzt. Die Dach- und Deckenkonstruktion wird ertüchtigt und saniert, um im Anschluss die Lasten mit unterstützenden Konstruktionen auf die Decke des Erdgeschosses und die Querwandscheiben abzustützen. Daraufhin kann die Südfassade des Osttrakts rückgebaut und nach Herstellung einer neuen Gründung mit neuen Wandpfeilern und Traufbalken wiederaufgebaut werden.

Bild 5-1 Abbruch und Neubau der Südfassade im Osttrakt.

60

Sanierung und Umbau der Orangerie in Greiz

Zwischen die Pfeiler werden entlang der historischen Öffnungsachsen aus der Entstehungszeit 1,75 m breite und 5,20 m hohe Stahlfenster gesetzt. Die Dachkonstruktion wird auf die neue Südtragachse abgelastet und die Stahlbetondecken und tragenden Wände aus den 60er Jahren können rückgebaut werden.

Bild 5-2 Einbau Stahlfenster.

Bild 5-3 Innenraumperspektive Kalthaus.

An der Südseite entsteht das große Kalthaus, welches sich mit einer lichten Höhe von etwa 6,30 m über zwei Geschosse erstreckt. Zur Ausstattung des großen Kalthauses gehören ein Topftisch und fünf fahrbare Pflanzentische. Im Norden des Osttrakts entsteht eine Funktionsschiene, die die Grundrissorganisation des Erdgeschosses fortsetzt und sich über die gesamte Länge des Gebäudes erstreckt. Hier werden Lagerflächen und ein neues Treppenhaus untergebracht. Das Lager für Bänke soll mit einer faltbaren Wand vom Bereich des Kalthauses abgetrennt oder im Fall von Veranstaltungen geöffnet und für Catering genutzt werden.

5 Geplante bauliche Anlagen

61

Über das Treppenhaus gelangt man in das Obergeschoss und in den Galeriegang, von dem aus man in das große Kalthaus blicken kann. Hier befinden sich Umkleiden und Sanitärbereiche für die Angestellten der Parkverwaltung sowie Lager- und Archivflächen. Die nördliche Außenwand des Obergeschosses muss aus bauphysikalischen Gründen mit einer Innendämmung aus Silikatplatten verstärkt werden. Aufgrund der neuen Höhenlage der Stahlbetondecke wird ein Zugang zum Mitteltrakt ermöglicht. 5.2 Mitteltrakt

Bild 5-4 Baustellenaufnahme Erdgeschoss Mitteltrakt.

Bild 5-5 Baustellenaufnahme Erdgeschoss Rundbogen (Foto: Dipl.-Ing. Torsten Lieberenz).

Da die Substanz des Mitteltrakts besonders gut erhalten ist, finden hier geringere bauliche Veränderungen statt. Teppichböden, Kunststoffböden, beschichtete Platten, Tapeten,

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Sanierung und Umbau der Orangerie in Greiz

Vertäfelungen und Fußbodenleisten werden entfernt. Historischer Bodenbelag im Obergeschoss wird nach Möglichkeit freigelegt und saniert. Intakte historische Deckenaufbauten (Lehm- Sandschüttungen) bleiben erhalten. Abgehängte Decken im Obergeschoss werden entfernt und die sich eventuell darunter befindlichen Stuckdecken freigelegt. Wände und Decken werden neu verputzt und gestrichen, sowie neue Bodenbeläge verlegt. Im Erdgeschoss des Mitteltrakts entstehen Sanitärbereiche für Besucher sowie barrierefreie Sanitärbereiche, Lagerflächen der Parkverwaltung und eine Werkstatt. Teilweise werden Wände rückgebaut, um eine offene Grundrissgestaltung zu ermöglichen und Flächen besser nutzbar zu machen. Zudem ist hier ein Durchgang zwischen Ost- und Westtrakt möglich. Diese Trennwände zu Räumen mit wesentlich geringeren Innentemperaturen haben besonders hohe Anforderungen an den Wärmschutz. (R ࡅ 0,25 m²K/W). Dies wird durch die Stärke der Bestandsmauer von 38-40 cm zum großen Kalthaus und durch die Aufdopplung der weniger starken Bestandswand in Richtung des kleinen Kalthauses erreicht. Im Norden befindet sich der Eingang für die Parkverwaltung. Er ist gleichzeitig Wohnungs- und Anlieferungszugang. Über eine bestehende Treppe gelangt man in das Obergeschoss. Hier sind Aufenthaltsbereiche und Büroflächen der Parkverwaltung untergebracht. An der Südseite befindet sich eine frei vermietbare Wohnung mit einer Größe von 96,35 m2, die den Anforderungen für Wohnungsbau (DIN 18015) entspricht. Ein zweiter Fluchtweg wird über eine nichtabschließbare Tür mit Türwächter zum Bereich der Parkverwaltung gewährleistet. Die Südfassade des Mitteltrakts soll mit ihrer Aufteilung der Fensteröffnungen aus dem 19. Jhd. erhalten bleiben. Die zum Teil sehr dünn gemauerten Bereiche zwischen den Fenstern und Pfeilern der Südfassade müssen mit einer Innendämmung verstärkt werden. Alle Fenster der Orangerie werden, bis auf die Kalthausfenster, durch neue Holzfenster ersetzt. 5.3 Westtrakt Um das kleine Kalthaus im Westtrakt unterzubringen und den Zugang von Süden entsprechend der Achseneinteilung des ursprünglichen Gebäudes zu rekonstruieren, wird das Haus im Westen um ca. 4,20 m erweitert. Neue Außenwände und Decken sowie eine neue Dachkonstruktion mit Krüppelwalm werden errichtet. Das kleine Kalthaus ist ebenfalls nach Süden orientiert und erstreckt sich über zwei Geschosse. Große Stahlfenster sorgen wie im großen Kalthaus für die Belichtung der Pflanzen. Der jeweils mittlere Fensterflügel des inneren und äußeren Fensters lässt sich motorisiert aufklappen. Eine innenseitig am Sturz angebrachte, senkrechte Markise sorgt für eine automatisierte Verschattungsmöglichkeit. Zur Ausstattung des kleinen Kalthauses gehören ein Topftisch und vier fahrbare Pflanzentische.

5 Geplante bauliche Anlagen

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Im Norden des Obergeschosses sind Besprechungs- und Büroflächen der Parkverwaltung geplant. Von dort aus hat man über innenliegende Fenster einen Einblick in das kleine Kalthaus. 5.4 Warmhaus

Bild 5-6 Blick auf das Warmhaus.

Das neue Warmhaus wird durch eine Tür mit dem kleinen Kalthaus verbunden. Nach dem Rückbau des bisherigen Anbaus ist ein Warmhausneubau geplant, der sich mit den erhaltenswerten Bestandswänden im nördlichen Bereich des Erdgeschosses verbindet. Die bestehende Konche bleibt erhalten und wird saniert. Der historische Klinkerboden soll später wieder in Bereichen des Warmhauses verlegt werden. Über einen Treppenneubau entlang der Nordwand wird eine Galerie mit Lagerflächen erschlossen. Hier befindet sich ein Grauwassertank. Um dessen Lasten aufnehmen zu können, soll der Deckenbereich darunter verstärkt werden. Das Stahltragwerk des Warmhauses besteht aus T-Stützen, die auf den Nord-, West- und Südseiten aufstehen. Darüber liegen T-Träger, die über die kurze Seite des Warmhauses spannen und die Verglasung tragen. Uges der Stehwandverglasung: 1,4 W/m2K Uges der Überkopfverglasung: 3,0 W/m2K Zur Ausstattung des Warmhauses gehören ein Topftisch und acht Rolltische für die Pflanzenaufzucht. Der Zugang befindet sich an der Westseite, ein zweiter nördlicher Zugang führt in das tiefer liegende Erdlager.

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Sanierung und Umbau der Orangerie in Greiz

5.5 Dachkonstruktion

Bild 5-7 Bestandsaufnahme Dachstuhl, Blick nach Osten (Foto: Dipl.-Ing. Torsten Lieberenz).

Der erhaltenswerte Dachstuhl soll saniert, ertüchtigt und in den ursprünglichen Zustand gebracht werden. Die Zugbalken bzw. Deckenbalken werden von Hängesäulen, die über Stahlschlaudern mit den Längsunterzügen verbunden sind, gehalten. Die Deckenlasten werden über die Hängesäulen nach oben und über Druckriegel und Streben zu den Außenseiten hingeleitet. Ursprünglich wurden die wesentlichen Lasten durch diese HängeSprengwerk-Konstruktion über die Gebindeachsen auf die Außenwände (Nord/Süd) abgetragen und nur geringe Lastanteile auf die inneren Gebäudelängswände. In einigen Bereichen wurde dieses System verändert, gestört oder rückgebaut und mit Provisorien ausgebessert. Durch die Tragwerkseingriffe und den Einbau zusätzlicher Tragelemente werden am heute vorliegenden Bauwerk wesentlich mehr Lasten über die inneren Gebäudelängswandachsen und Gebäudequerwandachsen abgetragen. Durch Sanierungs- und Ertüchtigungsarbeiten am Dach und der Deckenebene über dem Obergeschoss soll die Konstruktion soweit befähigt werden, dass die Querwände weitgehend nichttragend werden und ein planmäßiger Lastabtrag über die zur Verfügung stehenden Längswände realisiert werden kann. Defekte oder fehlende Tragwerksteile werden wieder kraftschlüssig eingebaut. Nicht mehr benötigte Wände oder Einbauten im Dachgeschoss und Sekundärkonstruktionen in der Decke werden rückgebaut. Bauschutt in den Deckenzwischenräumen wird beräumt, um das Eigengewicht der Deckenkonstruktion zu minimieren und eine grundlegende Zugänglichkeit für die Sanierung zu schaffen. Alle Verkabelungen, Einbauten und Schrottteile werden vor der Sanierung entfernt. In Fällen von tierischem Befall müssen Bauteile gesundgeschnitten und wieder tragfähig gemacht werden. Schornsteineinbauten werden abgerissen und geschwächte bzw. durch-

6 Bodenplatte

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trennte Deckenbalken saniert. Bodenaufdopplungen, Sekundärkonstruktionen, nichtragende Verkleidungen und Verkofferungen werden entfernt. Traufbereiche werden geöffnet und Dacheindeckung in den entsprechenden Bereichen heruntergenommen. Eventuelle Schäden im Traufbereich müssen begutachtet und saniert werden.

Bild 5-8 Bestandsaufnahme Dachstuhl, Blick nach Westen (Foto: Dipl.-Ing. Torsten Lieberenz).

Vorhandener Asbest im Dachgeschoss oder andere Schadstoffe werden fachgerecht entsorgt. Zur Bestimmung weiterer Schadstoffbelastungen und zur Definition von zu treffenden Schutzmaßnahmen bei der Entsorgung, wird eine Schadstoffbegutachtung erfolgen. Zusätzlich wird ein Holzschutzgutachter die Dachkonstruktion punktuell prüfen und ggf. zusätzlich notwendige Sanierungsmaßnahmen ableiten. Die Entlüftungs- und Entrauchungskanäle verlaufen durch den Dachraum und werden zur Nordseite des Daches verzogen, um die Schaufassade im Süden nicht zu stören. 6

Bodenplatte

Die bestehenden Bodenplatten der Orangerie sind sehr unregelmäßig und weisen eine hohe Anzahl an Niveausprüngen auf, die für die Organisation des Erdgeschosses und für die Nutzung der Parkverwaltung von großem Nachteil wären. Um ein durchgängiges Bodenniveau im Erdgeschoss zu erreichen, werden die bestehenden Bodenplatten komplett rückgebaut und durch eine neue 20 cm starke Betonbodenplatte ersetzt. Erhaltenswerte Klinker oder Steinplatten werden in Teilen des Warmhauses wieder verlegt und über einen Versprung der Bodenplatte auf das gleiche 0,00 Niveau gebracht. Die Bodenplatte soll mit den Bestandswänden verzahnt werden. Durch das Einbinden der Bodenplatte wird die Mindestdichtigkeit erzeugt. Die neue Bodenplatte hat also auch eine wichtige Funktion des Hochwasserschutzes. Das 0,00 Niveau der OKF liegt auf 257,688 m NHN und dadurch ca. 15 cm über dem HQ100 (257,53m NHN).

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7

Sanierung und Umbau der Orangerie in Greiz

Fassade

Bild 7-1 Vergleich zwischen Planung (unten) und Fassade von 1879.

Die Brandwände nehmen Bezug auf die ursprüngliche Mittelachse der Orangerie und erinnern an den rechtwinklig angeordneten Warmhausanbau auf der Südseite. Zudem wird die circa 60 m lange Dachfläche durch die Brandwände rhythmisch gegliedert. Aufgrund von denen im Bestand vorgefundenen unterschiedlichen Firsthöhen ist die Brandwandführung unterhalb der Dachoberfläche nur mit großen Eingriffen an den Dachsparren umzusetzen, da die angrenzenden Dächer auf eine durchgehende Höhe gebracht werden müssen. Um die zukünftige Wirkung der Fassade vorausschauend zu planen, wurde eine Bemusterung vorgenommen. Verschiedene Putzfarben wurden jeweils als Glatt- und Spritzputz aufgetragen. Die Entscheidung wurde auch in Abstimmung mit dem Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie getroffen.

Bild 7-2 Fassadenbemusterung.

8 Energetische Anforderungen

8

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Energetische Anforderungen

Da die geplante Wohnung im Obergeschoss nur einen geringen Anteil der Nutzfläche ausmacht, kann das Gebäude als Nichtwohngebäude gemäß EnEV 2014 betrachtet werden. Die Befreiung nach EnEV 2014 §1 Abs. 3 Pkt. 4 „Unterglasanlagen und Kulturräume für Aufzucht, Vermehrung und Verkauf von Pflanzen“ trifft nicht zu, da es sich bei der Orangerie hauptsächlich um ein frostfreies Winterquartier für die nicht winterharten Kübelpflanzen des angrenzenden Parks handelt und nicht um ein Gewächshaus. Auch eine Befreiung nach EnEV 2014 §1 Abs. 3 Pkt. 9 „sonstige landwirtschaftliche Betriebsgebäude, die nach ihrer Zweckbestimmung auf eine Innentemperatur von weniger als 12 °C oder jährlich weniger als 4 Monate beheizt werden“ trifft nicht zu, da zwar die beiden Kalthäuser mit einer Innentemperatur von 6-10 °C betrieben werden, diese Räume aber keine eigenständigen Betriebsgebäude darstellen, sondern in das Orangeriegebäude integriert sind. Da gemäß EnEV 2014 §24 Abs. 1 die Anforderungen der Energieeinsparverordnung die Substanz und das Erscheinungsbild des Gebäudes beeinträchtigen können, kann auf Antrag von der Einhaltung der Anforderungen der EnEV 2014 abgewichen werden. 9

Orangeriefenster

Bild 9-1 Detailzeichnung.

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Sanierung und Umbau der Orangerie in Greiz

Die Wahl des Materials wurde in Anlehnung an das historische Erscheinungsbild getroffen; die Breite der Ansichtskanten und die Sprossenaufteilung hatten dabei einen hohen Stellenwert. Die neuen Stahlfenster nähern sich optisch an den ursprünglichen Ausdruck der Südfassade an. Die historische Fünferteilung der Fenster wird durch eine Dreierteilung auf zeitgenössische Weise zitiert. Die Wärmeanforderungen an die neuen Fenster sind mit einem Wärmedurchgangskoeffizienten Uges (Gesamtelement) von ca. 1,5 W/m2K sehr gut. Durch eine thermische Trennung der Profile, sowie eine doppelte Verglasung kann dieser Wert erreicht werden. Um der Überhitzung der Kalthäuser vorzubeugen, wird innenseitig eine elektrische Verschattung eingebaut, die durch einen Kettenmotor betrieben wird. Zur natürlichen Lüftung kann der mittlere Teil des Fensters gekippt werden. 10

Aktuell

Bild 10-1 Querschnitt mit Darstellung der Umgebung.

Der Osttrakt befindet sich aktuell im Bau. Ziel ist die Fertigstellung dieses Bauabschnitts bis zur BUGA im April 2021. Das große Kalthaus soll anlässlich der Ausstellung als Veranstaltungsort genutzt werden. 11

Danksagung

Ein herzlicher Dank gilt dem Bauherrn, Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten in Rudolstadt und Dr. Anja Löffler und Dipl.-Ing. Torsten Lieberenz, auf deren Ausarbeitungen wir uns in Abschnitt 2 und 5.5 beziehen.

Elemente aus technischer Kaltkeramik | Nachhal(l)tige Innovation im Denkmal Matthias Oppe1, Thorsten Helbig1, Florian Scheible2 1 Knippers Helbig GmbH, Tübinger Straße 12-16, 70188 Stuttgart, Deutschland 2 Knippers Helbig GmbH, Zehdenicker Straße 21, 10119 Berlin, Deutschland Einer der prägenden Teile des generalsanierten Innenraums der Staatsoper Unter den Linden in Berlin ist die Nachhallgalerie. Hoch über den Köpfen der Zuschauer stellt sie als praktisch einziges wirklich neues, sichtbares Bauteil in der ansonsten unter Maßgabe des Denkmalschutzes wieder hergestellten Oper gestalterisch und technisch eine Verbindung zwischen der bewegten Geschichte des Hauses und der Gegenwart her. Unter der Leitung von Prof. HG Merz erfolgte in den Jahren von 2009 bis 2017 die Generalinstandsetzung, welche neben der umfangreichen technischen Aufwertung und denkmalgerechten Sanierung auch die Entwicklung und den Einbau der Nachhallgalerie umfasste. Diese wurde erforderlich, da das von Akustikern und Architekten entwickelte Konzept eine Anhebung der Saaldecke vorsah, um die Nachhallzeit zugunsten eines bessern Klangvolumens zu verlängern. Die hierdurch entstandene Fuge wurde mit einem Rautenmuster belegt, das durch die Anwendung robotergestützter Fertigung und innovativer Materialtechnik im Kontrast zur ansonsten historischen Rekonstruktion steht. Durch die Verwendung einer glasfaserverstärkten Phosphat-Keramik (CBPC) in Verbindung mit dem Einsatz modernster Fabrikationstechniken sowie hinsichtlich des Tragverhaltens des Materials wurde Neuland beschritten. Schlagwörter: Phosphat-Keramik (CBPC), Glasfaser, Staatsoper, Nachhallgalerie, robotergefertigt, innovatives Material

1

Einführung – Drei Jahrhunderte gebaute Operngeschichte

Die Staatsoper Unter den Linden (vgl. Bild 1-1) blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Der junge Kronprinz Friedrich II. skizzierte mit Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff erste städtebauliche Pläne für das Forum Friderizianum – eine große symmetrische Anlage bestehend aus verschiedenen Gebäuden am Beginn des Prachtboulevards Unter den Linden gelegen. Dabei war das Opernhaus des 1740 gekrönten Königs liebstes und höchstes Anliegen. Es wurde nach nur zwei Jahren Bauzeit feierlich eröffnet. Zum ersten Mal übernahm ein Architekt die Gesamtplanung eines Theaterbaus, denn üblicherweise entwarf ein Theaterarchitekt das Innere und ein Hochbaumeister das Äußere. So war es Knobelsdorff möglich die neopalladianische Fassade und den reduziert verspielten friderizianischen Rokoko des Innenraums meisterhaft und höchst spannungsvoll miteinander zu verknüpfen. In der 200-jährigen Geschichte bis zur Kriegszerstörung 1944 erfuhr die Oper im Wesentlichen fünf Veränderungen. 1843 zerstörte ein großer Brand das Innere des Gebäudes. Alle weiteren Umbauten waren Ausdruck des Modernisierungswillens: die kontinuierliche Vergrößerung des Opernhauses war den steigenden Anforderungen an

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_5

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Elemente aus technischer Kaltkeramik | Nachhal(l)tige Innovation im Denkmal

Besucherkomfort und Bühnentechnik geschuldet. Dabei sind die immer wieder vorgenommenen Änderungen an der Gebäudekubatur – bis auf die Ausnahme des übermächtig wirkenden Bühnenturms von 1910 – sanft in das städtebauliche Erbe in Berlins Mitte eingebettet worden [1].

Bild 1-1 Denkmalgerechter Umbau der Staatsoper Unter den Linden, (Foto: HG Merz).

Nach der Kapitulation 1945 lag das Opernhaus in Schutt und Asche. Die historischen Außenmauern des Zuschauerhauses hatten die Bombardements zwar überstanden, der Saal jedoch war zerstört worden. Dies veranlasste die Staatsführung der DDR gemeinsam mit dem Architekten Richard Paulick zur Umplanung der Lindenoper in ein Konservatorium und zur Planung einer neuen, „Großen Staatsoper" am geplanten Marx-Engels-Platz. Der designierte Generalmusikdirektor Erich Kleiber knüpfte jedoch seine Berufung an die Bedingung, die Lindenoper wieder als Opernhaus aufzubauen Auf seinen massiven Widerstand hin beschloss Staatspräsident Wilhelm Pieck im Juni 1951 höchstpersönlich, „dass die Lindenoper unter Wahrung der Knobelsdorffschen Architektur wiederhergestellt werden soll" [1]. Kleiber hatte damit eine weitere Umgestaltung nach sozialistischem Vorbild in Berlins historischer Mitte erfolgreich abgewendet. Bei der Gestaltung des Außenbaus orientierte sich Paulick weitgehend am Knobelsdorffschen Vorbild. Eine lang ersehnte Verbesserung brachte der neue Bühnenturm, der in intensiver Zusammenarbeit mit dem Bühnenfachmann Kurt Hämmerling um fünf Meter abgesenkt werden konnte. Durch die Verringerung seiner übermäßigen Dimension fügte er sich nun subtil in die Einheit des Gesamtbaus ein. Paulick selbst bezeichnete seine Entwurfssystematik als ein „bewusstes Weiterentwickeln Knobelsdorffscher Formgedanken" [1]. Er griff «nationale Traditionen» auf und widersetzte sich damit der westlichen, international orientierten Moderne. Es gelang Paulick im vollständig entkernten Operninnenraum durch die

1 Einführung – Drei Jahrhunderte gebaute Operngeschichte

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„Übernahme und Kombination von Versatzstücken ein stilistisch vollkommen harmonisch erscheinendes Ganzes zu entwerfen" und ein Meisterwerk des Wiederaufbaus zu vollbringen [1]. Von 2009 bis 2017 wurde die notwendige Generalinstandsetzung der seit 1979 unter Denkmalschutz stehenden Oper unter der Leitung von Prof. HG Merz gestemmt. Dabei wurde die Bauform des Operngebäudes renoviert und die Infrastruktur hinsichtlich Barrierefreiheit, Klimatechnik, Sicherheit und Brandschutz zeitgemäßen Anforderungen angepasst. Die äußere Bauform des Operngebäudes wurde dabei bewahrt und in Details sensibel restauriert. Im Innenraum wurden denkmalpflegerische Entscheidungen in einer stetigen Abwägung zwischen den Anforderungen an einen modernen Theaterbetrieb und dem Erhaltungsinteresse getroffen. Ein Kernaspekt der Sanierung stellte die Verbesserung der akustischen Qualitäten und Anforderungen des Zuschauersaals dar. Hierfür gelten zwei Faktoren als entscheidend: die Raumgröße und die Absorptionseigenschaften der Oberflächen. Hinzu kommt die besondere Herausforderung eines Opernsaales hinsichtlich Sprachverständlichkeit und Klangfülle. Der bestehende Saal wies im besetzten Zustand eine vergleichsweise kurze Nachhallzeit von 1,1 Sekunden auf. Eine wesentliche Ursache hierfür stellte das im Verhältnis zur Anzahl der Zuschauer geringe Raumvolumen dar.

Bild 1-2 Innenraum der Staatsoper Unter den Linden mit Nachhallgalerie, (Foto: Marcus Ebener).

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Elemente aus technischer Kaltkeramik | Nachhal(l)tige Innovation im Denkmal

Das von den Akustikern und Architekten entwickelte Konzept sah schließlich eine Anhebung der Saaldecke um fünf Meter vor. Dadurch konnte ein zusätzliches Raumvolumen von ca. 3.000 m³ erzeugt und die Nachhallzeit auf 1,6 Sekunden erhöht werden. Die äußere Gestalt des Opernhauses wurde nicht beeinträchtigt. Im Innenraum entstand jedoch eine horizontale Fuge, die so genannte Nachhallgalerie über die sich nun ein Rautenmuster (vgl. Bild 1-2) legt, das als eines der auffälligsten, neuen Bauteile im Denkmal mit modernster Fabrikation und Materialität Neuland beschreitet. 2

Material und Form

Die Struktur der Nachhallgalerie gliedert sich in 13 sphärisch gekrümmte Segmente, welche das friderizianische Rautenmuster der Deckenstruktur aufgreifen (Bild 2-1). In ihrer organischen Formensprache und komplexen Geometrie machten sie die Verwendung eines gießförmigen Materials erforderlich.

Bild 2-1 Sphärische Rautenmuster der Deckenstruktur, (Foto: Marcus Ebener).

2 Material und Form

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Angesichts des geengten Bauraumes zwischen Dachkonstruktion und Beleuchtergalerie (Bild 2-2) waren sowohl die Planung als auch die Montage der Elemente eine echte Herausforderung für die Projektbeteiligten.

Bild 2-2 Vertikalschnitt | Dach – Beleuchtergalerie, (Quelle: HG Merz).

Zunächst wurde die Geometrie der Segmente so vereinfacht, dass für die 13 Abzüge nur noch fünf verschiedene Formen erforderlich waren (Bild 2-3). Zur Erreichung geeigneter Transportmaße wurden die Segmente dann mittig geteilt und mit einer Stoßfuge versehen. Da für den Fertigungsprozess sicher zu stellen war, dass die Formen zwängungsfrei ausgeformt werden konnten, wurden die Flankenwinkel optimiert. Des Weiteren wurden im Labor anhand von Kleinproben Methoden entwickelt, durch welche die Robotereinsatzund Standzeiten minimiert werden konnten. Für die Materialwahl kamen diverse, auch marktübliche Lösungen in Frage. Allerdings war neben der Gießfähigkeit auch zu berücksichtigen, dass die Struktur neben ihrem eigenen Gewicht auch Anpralllasten beispielsweise von der Beleuchtergalerie standhalten muss und daher eine gewisse Schlagzähigkeit aufweisen sollte. Des Weiteren waren hohe Anforderungen an den Brandschutz (Klassifizierung A1 – gemäß DIN EN 13501-1 [3]) zu erfüllen und schließlich sollte sich das Material nahtlos in die Materiallogik des historischen Saales einfügen. Schlussendlich fiel die Wahl auf eine druckfeste und spröde Phosphat-Keramik (CBPC), die bislang im Bauwesen so noch nicht eingesetzt wurde. Um die mechanischen Eigen-

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Elemente aus technischer Kaltkeramik | Nachhal(l)tige Innovation im Denkmal

schaften zu verbessern, entstand im Zusammenspiel mit alkali-resistenten (AR) Glasfasern ein Verbundwerkstoff, bei dem die Fasern als Biegezugbewehrung dienen und auch helfen Rissbildungen zu vermeiden.

Bild 2-3 Grundsegmentierung und Teilung durch Stoßfugen, (Quelle: Knippers Helbig).

3

Tragkonzept und Dimensionierung

Das statische System ist prinzipiell für alle Teilsegmente der gesamten Rautenstruktur identisch und sieht eine Lagerung in radialer sowie vertikaler Richtung am Fuß- und Kopfpunkt vor. Die somit aktivierte Schalentragwirkung ist jedoch gering und es sind zusätzliche vertikale Abhängungen über Pendelstäbe nahe der Kopfpunkte erforderlich, um die äußeren Beanspruchungen über Biege- und Druckspannungen abtragen zu können (Bild 3-1).

3 Tragkonzept und Dimensionierung

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Bild 3-1 Statisches System – beispielhafter Vertikalschnitt Segment B, (Quelle: Knippers Helbig).

Eine eigens entwickelte Schnittstelle zur CAD-Software Rhinoceros diente zur Generierung der Finite-Elemente Modelle im Programmsystem Sofistik [4]. Die komplexen 3DGeometrien der einzelnen Bauteile konnten somit präzise und mit geringem Aufwand in die Berechnungssoftware eingelesen werden. Eine Optimierung der Geometrien sowie die Festlegung der erforderlichen Faserverstärkungen nach tragwerkstechnischen Gesichtspunkten waren nun einfach möglich. Die Systemlinien wurden dabei auf Basis der von den Architekten als offene Flächenverbände zur Verfügung gestellten Liniengeometrien erstellt. Um die freigeformte Volumengeometrie möglichst exakt abbilden zu können, mussten die komplexen und über die Stablängen veränderlichen Querschnitte für die Generierung der FE-Modelle entsprechend definiert werden. Durch eine Überlagerung von Originalgeometrie (3D-Flächenverband) und Stabmodell (mit idealisiertem Querschnitt) konnte die konservative Modellierung grafisch veranschaulicht werden (Bild 3-2).

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Elemente aus technischer Kaltkeramik | Nachhal(l)tige Innovation im Denkmal

Bild 3-2 Vergleich zwischen idealisierten (rot) und tatsächlichen (schwarz) Querschnitten, (Quelle: Knippers Helbig).

Das kontinuierliche Erscheinungsbild der organischen Elemente, die sich harmonisch in den Zuschauersaal einfügen, sollte möglichst nicht durch sichtbare Details gestört werden. Des Weiteren ist bei Faserverbundwerkstoffen eine materialgerechte konstruktive Durchbildung der Anschlusspunkte von wesentlicher Bedeutung, ein nachträgliches Einbringen von Bohrlöchern führt beispielsweise zu einer Durchtrennung von Fasern und anders als bei metallischen Werkstoffen ist eine gleichmäßige Lastumleitung dann nicht mehr möglich. Derartige Materialschwächungen sollten demnach möglichst vermieden werden. Am Kopfpunkt werden daher alle Kräfte nur über Kontakt in eine Auflagerkonsole eingeleitet (Bild 3-3 rechts). Lediglich am Fußpunkt ist eine Schraube zur Lagesicherung und zur Lastweiterleitung von geringen lateralen Kräften erforderlich (Bild 3-3 links). Zur Anbindung der Pendelstäbe werden BigHeads®, bestehend aus einer Grundplatte mit einem aufgeschweißten Gewindebolzen, in die Keramikmatrix eingebettet (Bild 3-3 mittig).

Bild 3-3 Obere, mittlere und untere Auflagerpunkte, (Quelle: HG Merz).

4 Vorversuche und Genehmigungsprozesse

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Bei diesen Einbauteilen handelt es sich um in der Automobilindustrie häufig verwendete Befestigungselemente. Generell können die Materialeigenschaften von Faserverbundwerkstoffen zum Beispiel an Anschlusspunkten durch Anpassungen des Fasergehalts je nach Anforderung zusätzlich lokal beeinflusst werden. 4

Vorversuche und Genehmigungsprozesse

Aufgrund überzeugender Vorteile bei speziellen Anforderungen ist der Einsatz von faserverstärkten Verbundwerkstoffen im Bauwesen in den letzten Jahren erheblich gewachsen. Da die eingesetzte Phosphat-Keramik „Vubonite®“ erstmalig für ein architektonisches Bauteil dieser Größe Verwendung finden sollte und es sich um ein bauaufsichtlich nicht zugelassenes und nicht geregeltes Material handelt, waren neben einer Zustimmung im Einzelfall (ZiE) zahlreiche weitere Untersuchungen erforderlich. Um die Verarbeitbarkeit des Materials im Hinblick auf Fließfähigkeit und Faserverstärkung zu untersuchen, wurde die Entwurfsplanung vom Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart und der Vrije Universiteit Brussel begleitet. Dabei erkannte man, dass die Keramikmatrix mit einem ThixotropieMittel zu versetzen ist, um sie dickflüssiger zu machen und so die komplexen Geometrien überhaupt herstellen zu können.

Bild 4-1 Verschiedene 1 m² Musterstücke, (Fotos: HG Merz).

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Elemente aus technischer Kaltkeramik | Nachhal(l)tige Innovation im Denkmal

Mit der Durchführung der im Rahmen der ZiE erforderlichen experimentellen Untersuchungen, der Erstellung einer gutachterlichen Stellungnahme sowie fertigungsbegleitender Untersuchungen wurde die MPA Stuttgart betraut. Ziel des Zustimmungsverfahrens war die versuchsgestützte Ermittlung von charakteristischen Materialkennwerten fk0,05 gemäß DIN EN 1990 [5] sowie die Festlegung von Bemessungswerten fRd für die statischen Nachweise der Raumschalenstrukturen und deren Befestigungselementen. Die statischen Berechnungen wurden in Anlehnung an das Bemessungskonzept für faserverstärkte Kunststoffe der BÜV-Richtlinie ´Tragende Kunststoffe im Bauwesen´ [6] unter Berücksichtigung der üblichen Lasten gemäß DIN EN 1991 [7] geführt. Nach Erteilung der ZiE durch die oberste Bauaufsichtsbehörde konnte mit der Fertigung durch die Firma FIBER-TECH Construction GmbH begonnen werden.

Bild 4-2 Biege- und Auszugsversuche am Befestigungselement BigHead, (Fotos: FIBER-TECH).

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Fertigung und Montage

5.1 Fertigung Auf Basis der im Planungsprozess generierten 3D-Modelle wurden die Positivformen von der Firma FIBER-TECH Construction GmbH mit einem Fünfachs-Portalroboter aus Brettschichtholz gefräst und anschließen händisch geglättet (Bild 5-1 links). Von der Positivform wurde anschließend ein Silikonabdruck (Bild 5-1 rechts) genommen und auf eine tragende Holz-Unterkonstruktion aufgelegt. Durch Verwendung der Silikonform als flexiblem Liner konnten die in Teilen nicht ganz vermeidbaren hinterschnittigen Geometrien dennoch problemlos ausgeformt werden.

5 Fertigung und Montage

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Bild 5-1 Positiv- und Negativformen, (Fotos: FIBER-TECH).

Vor der eigentlichen Fertigung wurde zunächst ein Trennmittel auf die Form aufgebracht. In einem ersten Arbeitsschritt wurde anschließend der sogenannte „Gel-Coat“ aufgetragen, der später charakteristisch für die Oberflächenqualität der Bauteile ist. Die Form wird mit der Matrix aus Phosphat-Keramik, in welche Kurzfasern integriert sind, um eine rissfreie Optik zu gewährleisten, ausgestrichen. Die Glasfasern werden in Form von kontinuierlichen Strängen, sogenannten „textuierten Rovings“, mit der Keramikmasse vorgetränkt und anschließend als gestreckte Bündel in mehreren Lagen entlang der Stabzüge in die Keramikmasse einlaminiert (Bild 5-2 links).

Bild 5-2 Einbringen der Rovings und Entformen, (Fotos: FIBER-TECH).

Dabei wurden die Stränge an den Knotenpunkten schichtweise kreuzend übereinandergelegt sowie an den Enden und den Big-Heads verschlauft. Um eine ebene Rückseite zu erhalten, wurde die Oberfläche zum Abschluss abgezogen. Direkt nach der Fertigstellung wird das Bauteil mit Kunststofffolie luftdicht verschlossen (Bild 5-2 rechts) und härtet zunächst bei Raumtemperatur 24 Stunden aus. Nach dem Ausformen härtet der Abzug weitere 24 Stunden bei 60 °C nach.

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Elemente aus technischer Kaltkeramik | Nachhal(l)tige Innovation im Denkmal

5.2 Montage Durch das Anheben der Saaldecke unter Beibehaltung der Außenkubatur waren die Platzverhältnisse am Einbauort sehr begrenzt. Auch das Eintakten der Montage der sensiblen, jedoch großformatigen Bauteile in den Bauablauf erforderte genaueste Planung. Die Segmente wurden auf Transportgestellen mit dem Turmdrehkran durch eine Dachöffnung eingehoben und auf einem Raumgerüst, welches für die Restaurierung der Saaldecke vorgesehen war, verschoben (Bild 5-3). Die ausführende Firma nutzte hierfür ein eigens entwickeltes Transportgerät, den sogenannten Hoover, welcher mit Hilfe von großflächig angeordneten Luftkissen die Lasten gleichmäßig auf das Raumgerüst verteilte.

Bild 5-3

Manipulation der Elemente auf dem Raumgerüst, (Foto: FIBER-TECH).

Die Segmente wurden schließlich auf ihren Fußpunkten aufgesetzt und aufgerichtet. Die Justage erfolgte an den Kopfpunkten, wobei in erster Linie die Sollgeometrie einzustellen war. Nachdem die geometrische Ausrichtung erfolgt war, wurden die Auflagerlasten an den Kopfpunkten stichprobenartig geprüft. Hierzu wurden an den Hängepunkten Druckmessdosen unterlegt und die Befestigung gelöst. Hierdurch konnte festgestellt werden, dass die Auflagerlasten zwar Abweichungen aufweisen, diese sich aber innerhalb eines mit Bezug auf das erforderliche Sicherheitsniveau definierten Toleranzrahmens befinden.

6 Zusammenfassung

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Zusammenfassung

Die Staatsoper Unter den Linden war vom Beginn ihrer Entstehung bis heute ein Spiegelbild des technischen Fortschrittes der jeweiligen Epoche. Mit der Nachhallgalerie hat sie nun ein innovatives, neues Bauteil erhalten, das den großen Entwicklungssprung auch all der sonst eher verborgenen großen technischen Neuerungen der jüngsten Instandsetzung den Besuchern eindrücklich sichtbar macht (Bild 6-1). Durch die Kombination von neuem Material und bekannten Verfahren der Faserverstärkung konnte hier eine weitere Facette der Technologie der Faserverbundwerkstoffe aufgezeigt werden. Die lokale Anpassung der technischen Eigenschaften eines ansonsten homogenen Bauteiles an die Randbedingungen stellt dabei ein herausragendes Merkmal dieser Fertigungstechnologie dar, die unter Gesichtspunkten wie beispielsweise der Materialoptimierung unter Aspekten der Nachhaltigkeit sicher noch ein großes Entwicklungspotential hat.

Bild 6-1 Fertiggestellte Rautenstruktur, (Foto: Marcus Ebener).

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Elemente aus technischer Kaltkeramik | Nachhal(l)tige Innovation im Denkmal

Danksagung

Für die innovative Weiterentwicklung von Technologien im Bauwesen braucht es Innovation und für Innovationen braucht es günstige Randbedingungen. Neben der eigentlichen Aufgabenstellung sind das ein besonderes Engagement aller Planer sowie der ausführenden Firmen, ein auskömmlicher Zeitrahmen und vor allem ein mutiger Bauherr. Diesem gilt hier ein besonderer Dank, denn der Vertrauensvorschuss, den der Bauherr den Planern und den Ausführenden trotz aller Risiken gewährt hat, war eine wesentliche Voraussetzung, um das Vorhaben zum Erfolg zu führen. 8

Projektbeteiligte

Bauherr: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin Architekt: HG Merz Architekten, Stuttgart – Berlin Tragwerksplanung: Knippers Helbig GmbH, Stuttgart - Team: Thorsten Helbig, Jan Knippers, Florian Scheible, Laurent Giampellegrini, Markus Gabler, Matthias Oppe Ausführende Firma: FIBER-TECH Construction GmbH, Chemnitz – Dr.-Ing. Matthias Pfalz Gutachter ZiE: Materialprüfanstalt Universität Stuttgart – Team: S. Keller, D. Lotze Mitwirkende im Rahmen der Eigen- und Fremdüberwachung: Technische Universität Chemnitz, Fakultät für Maschinenbau, Professur Strukturleichtbau und Kunststoffverarbeitung, Fachgruppe: Leichtbau im Bauwesen – Team: Sandra Gelbrich, Andreas Ehrlich Erteilung ZiE: Oberste Bauaufsichtsbehörde Berlin 9

Literatur

[1]

Knippers, J.; Merz, H.G.: Drei Jahrhunderte gebaute Operngeschichte, Revue Technique Luxembourgeoise, Revue trimestrielle de l´association luxembourgeoise des ingenieurs, architects et industriels. 3/2012, Seite 36 – 39.

[2]

Helbig, T.; Peter, B.; Scheible, F.; Oppe, M.: Robotergefertigte Elemente aus technischer Keramik – Wiedereröffnung der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. In: Bautechnik. Berlin, Ernst & Sohn Verlag, Juni 2018, Seite 439 – 448.

[3]

DIN EN 13501-1: Klassifizierung von Bauprodukten und Bauarten zu ihrem Brandverhalten - Teil 1: Klassifizierung mit den Ergebnissen aus den Prüfungen zum Brandverhalten von Bauprodukten. Berlin, Beuth Verlag, 2007.

9 Literatur

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[4]

Sofistik (version 23). SOFISTIK AG, Oberschleißheim, Deutschland.

[5]

DIN EN 1990: Eurocode – Grundlagen der Tragwerksplanung. Berlin, Beuth Verlag, 2002.

[6]

Bau-Überwachungsverein (BÜV e.V.) (Hrsg.): Tragende Kunststoffbauteile, Entwurf – Bemessung – Konstruktion. Wiesbaden, Springer Vieweg, 2014.

[7]

DIN EN 1991: Eurocode – Einwirkungen auf Tragwerke. Berlin, Beuth Verlag, 2002.

Auseinandersetzung mit dem Begriff „Besondere Leistungen“ in der Denkmalpflege Dipl.-Ing. Manfred v. Bentheim 1 1 Architekt VFA; ö.b.u.v. Sachverständiger, Scheidertalstrasse 202, 65232 Taunusstein-Wingsbach, Deutschland Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, welche Besonderen Leistungen bei Projekten der Denkmalpflege erforderlich sein können und wie eine Vergütung vereinbart und berechnet werden kann. Dabei werden technische und wirtschaftliche Kriterien berücksichtigt, rechtliche Ausführungen werden nicht gemacht. Im Einzelnen kommt es immer auf die projektbezogenen Gegebenheiten und Umstände an, daher gelten die Empfehlungen und Hinweise generell und sind immer auf das aktuelle Projekt anwendbar. Schlagwörter: Denkmal, Dokumentation, Planung, Besondere Leistungen, Umbau und Instandsetzung, Honorar, AHO-Schriftenreihe

1

Definition

Grundleistungen, „… die zur ordnungsgemäßen Erfüllung eines Auftrags im Allgemeinen erforderlich sind, sind in Leistungsbildern zusammengefasst.“ (§ 3 Abs. 2 HOAI 2013). Dies gilt für Neubauten wie für das Bauen im Bestand [1], die Besonderheiten bei der Planung und Überwachung im denkmalgeschützten Bereich werden bei den Grundleistungen jedoch eher nicht berücksichtigt. Daher treten bei diesen speziellen Aufgaben „Besondere Leistungen“ nach § 3 Abs. 3 HOAI 2013: „Die Aufzählung der Besonderen Leistungen in dieser Verordnung und in den Leistungs-bildern ihrer Anlagen ist nicht abschließend. Die Besonderen Leistungen können auch für Leistungsbilder und Leistungsphasen, denen sie nicht zugeordnet sind, vereinbart werden, soweit sie dort keine Grundleistungen darstellen.“ hinzu. In der amtlichen Begründung zu § 3 Absatz 3 HOAI 2013 heißt es: „§ 3 Absatz 3 Satz 1 hebt nunmehr hervor, dass die Aufzählung der Besonderen Leistungen in der HOAI und ihren Anlagen beispielhaft ist und verdeutlicht, dass Auftraggeber und Auftragnehmer über die in den Leistungsbildern beispielhaft angeführten Besonderen Leistungen hinaus weitere Besondere Leistungen vereinbaren können. § 3 Absatz 3 Satz 2 stellt klar, unter welchen Voraussetzungen die Besonderen Leistungen für andere Leistungsbilder und Leistungsphasen vereinbart werden können…“ Dabei können bei der Objektplanung Gebäude und Innenräume objektbezogen weitere als die in Anlage 10 HOAI 2013 aufgeführten Besonderen Leistungen hinzutreten; insoweit ist die dortige Aufzählung weder vollständig noch abschließend. Gleiches gilt auch © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_6

86

Auseinandersetzung mit dem Begriff „Besondere Leistungen“ in der Denkmalpflege

für die Freianlagen nach Anlage 11 HOAI 2013, für die Tragwerksplanung nach Anlage 14 HOAI 2013 und für die Technische Ausrüstung nach Anlage 14 HOAI 2013. 2

Beispiel: Vorplanung

Am Beispiel der Leistungsphase 2 bei der Objektplanung Gebäude sollen die in der Anlage 10 Abschnitt 10.1 zur HOAI 2013 genannten Besonderen Leistungen aufgezeigt werden:

Energie

Denkmal

Besondere Leistungen bei der Leistungsphase 2 (Projekt- und Planungsvorbereitung) bei der Objektplanung Gebäude und Innenräume

1 Aufstellen eines Katalogs für die Planung und Abwicklung der Programmziele 2 Untersuchen alternativer Lösungsansätze nach verschiedenen Anforderungen einschließlich Kostenbewertung 3 Beachten der Anforderungen des vereinbarten Zertifizierungssystems 4 Durchführen des Zertifizierungssystems 5 Ergänzen der Vorplanungsunterlagen auf Grund besonderer Anforderungen 6 Aufstellen eines Finanzierungsplanes 7 Mitwirken bei der Kredit- und Fördermittelbeschaffung 8 Durchführen von Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen 9 Durchführen der Voranfrage (Bauanfrage) 10 Anfertigen von besonderen Präsentationshilfen, die für die Klärung im Vorentwurfsprozess nicht notwendig sind, zum Beispiel: - Präsentationsmodelle - Perspektivische Darstellungen - Bewegte Darstellung/Animation - Farb- und Materialcollagen - digitales Geländemodell 11 3-D oder 4-D Gebäudemodellbearbeitung (Building Information Modelling BIM) 12 Aufstellen einer vertieften Kostenschätzung nach Positionen einzelner Gewerke 13 Fortschreiben des Projektstrukturplanes 14 Aufstellen von Raumbüchern 15 Erarbeiten und Erstellen von besonderen bauordnungsrechtlichen Nachweisen für den vorbeugenden und organisatorischen Brandschutz bei baulichen Anlagen besonderer Art und Nutzung, Bestandsbauten oder im Falle von Abweichungen von der Bauordnung

Bild 2-1 Besondere Leistungen bei der Leistungsphase 2 (Projekt- und Planungsvorbereitung).

2 Beispiel: Vorplanung

87

Diejenigen Besonderen Leistungen, die eine Relevanz im Bereich Denkmal und/oder Energie haben können, sind besonders hervorgehoben. Hier fehlen für Projekte der Denkmalpflege spezielle Besondere Leistungen, wie z. B.: – – – – – – – – – – – –

Erstellung eines verformungsgerechten Aufmaßes steingerechtes Aufmaß Bestandserkundung Bauteilöffnungen dendochronologische Untersuchungen Bestandsdokumentation Fotodokumentation detailliertes Raumbuch Dokumentation historischer Befunde wissenschaftliche Begleitungen und Dokumentationen Abstimmung der Planungsziele mit der Denkmalpflege Erkundung von Zuschuss- und Förderprogrammen

Diese und viele andere Besondere Leistungen sind bei Projekten in der Denkmalpflege denkbar und/oder erforderlich, um Planungssicherheit und Kostensicherheit zu einem frühen Planungsstand (hier: Vorplanung [Projekt- und Planungsvorbereitung]) zu erlangen. Dies trifft im Übrigen auf alle Projekte im Bestand zu: eingehende Bestandsuntersuchungen und entsprechende Dokumentationen verhindern „Überraschungen“ während der weiteren Planungs- und Bauphasen und es können darüber (überraschend zusätzliche) finanzielle Aufwendungen vermieden werden. Letztendlich dienen diese Überlegungen und die Gründlichkeit von Voruntersuchungen einer gewünschten bzw. geforderten Energieeffizienz, einer umweltrelevanten Nachhaltigkeit und wirtschaftlich hohem Nutzerkomfort und können als spezielle Ziele bei Projekten in der Denkmalpflege definiert werden. Ähnliches gilt für die Besonderen Leistungen in der Leistungsphase 2 bei der Fachplanung Tragwerksplanung nach der Anlage 14 Abschnitt 14.1 zur HOAI 2013:

88

Auseinandersetzung mit dem Begriff „Besondere Leistungen“ in der Denkmalpflege

Energie

Denkmal

Besondere Leistungen bei der Leistungsphase 2 (Projekt- und Planungsvorbereitung) bei der Fachplanung Tragwerksplanung

1 Aufstellen von Vergleichsberechnungen für mehrere Lösungsmöglichkeiten unter verschiedenen Objektbedingungen 2 Aufstellen eines Lastenplanes, zum Beispiel als Grundlage für die Baugrundbeurteilung und Gründungsberatung 3 Vorläufige nachprüfbare Berechnung wesentlicher tragender Teile 4 Vorläufige nachprüfbare Berechnung der Gründung

Bild 2-2 Besondere Leistungen bei der Leistungsphase 2 (Projekt- und Planungsvorbereitung) bei der Fachplanung Tragwerksplanung.

Diese und viele andere Besondere Leistungen sind bei Projekten in der Denkmalpflege denkbar und/oder erforderlich, um Planungssicherheit und Kostensicherheit zu einem frühen Planungsstand (hier: Vorplanung [Projekt- und Planungsvorbereitung] bei dem Leistungsbild Tragwerksplanung) zu erlangen. 3

Vergütung

Nach den Vorschriften des § 3 Absatz 3 Satz 3 der HOAI 2013 gilt: „Die Honorare für Besondere Leistungen können frei vereinbart werden.“; insoweit tritt eine preisrechtliche Regelung nicht ein. Da die objektspezifisch erforderlichen Besonderen Leistungen jedoch selten vergleichbar sind und eine Orientierung an vollendeten Projekten kaum möglich ist, wird der Aufwand (und damit das Honorar) stets erneut kalkuliert werden müssen; auch die Bildung eines Pauschalhonorars ist bestenfalls erst möglich, wenn der erforderliche Zeitaufwand kalkuliert werden kann. Damit stellt sich die Frage nach den auskömmlichen Stundensätzen für Architekten und Ingenieure. Hierzu gibt die Fach- und Kommentarliteratur nur vage Hinweise (alle Beträge in netto), z.B. nach Löffelmann / Fleischmann „100,00 bis 220,00 € für den Auftragnehmer, 80,00 bis 140,00 € für den techn. und wirtschaftlichen Mitarbeiter, 60,00 bis 90,00 € für techn. Zeichner und sonst. Mitarbeiter“ [2], nach Empfehlung der Architektenkammer und Ingenieurkammer Bremen (als „Mindestmaß“) „113,00 € für den Inhaber/Abteilungsleiter, 90,00 € für den Projektleiter, 74,00 € für den Projektingenieur und 57,00 € für den Techniker/Zeichner/sonst. MA“ [3] nach dem Statusbericht 2000plus des BMWi „65,00 bis 140,00 € für den Auftragnehmer, 60,00 bis 120,00 € für den techn. und wirtschaftlichen Mitarbeiter und 40,00 bis 60,00 € für den Techniker“ [4] oder nach RA Siegburg (sog. „Siegburg-Tabelle“) [5], die nach den Kriterien Spezialkenntnisse, Schwierigkeitsgrad, Geistig Schöpferische Leistung, Berufserfahrung und Leistungsfä-

3 Vergütung

89

higkeit des Büros entsprechende Punkte vergibt und daraus einen Stundensatz „für Auftragnehmer 75,00 bis 300,00 €, für den Mitarbeiter/Architekt 65,00 bis 200,00 € und für sie sonstigen Mitarbeiter 45,00 bis 100,00 €“ [5] ermittelt. In der Argumentation mit dem Auftraggeber werden die vorgenannten Beträge und Spannen kaum weiterhelfen. Eine nachvollziehbare Ermittlung der Stundensätze für Mitarbeiter ist online mittels des Stundensatzrechners des AHO e.V. (Ausschuss der Verbände und Kammern der Ingenieure und Architekten für die Honorarordnung e.V.) [6] möglich. Für den Auftragnehmer/Inhaber empfiehlt der AHO e.V. einen mittleren Stundensatz in Höhe von 140,00 €. Für den Nachweis eines Zeithonorars nach Stundensätzen reicht es meist nicht, lediglich die angefallenen Stunden zu listen. Im Streitfall und um Nachfragen von vorneherein zu unterbinden, ist es nötig auch das jeweilige Erfordernis der angefallenen Stunden zu vermerken. Im folgenden Beispiel ist das jeweilige Erfordernis in der letzten Spalte begründet.

Leistungen zum Zeithonorar Projekt: Auftragnehmer MA_1 MA_2 MA_3

Datum

Umbau MFH (Denkmal), Düsseldorf Arch. XXX, Köln Name: Funktion: Name: Funktion: Name: Funktion:

Mitarbeiter AN 1 2 3

11.11.2017 x

Beginn

Ende

13:00 14:30

12.11.2007

x

19:15 19:30

13.11.2017

x

08:00 14:00

Zeit / AN

1,50

14.11.2017 x

07:00 09:00

2,00

15.11.2017 x

10:00 12:30

2,50

Summen:

0,00 0,00 0,00 0,00 6,00

Stundensätze (netto)

Summen (netto)

AN MA_1

Zeit / MA

Erfordernis

Inaugenscheinnahme der Überwachung der Schalung und Bewehrung Betonierarbeiten der Wand Kontrolle der Achse XY Unternehmerleistung Fa. XYZ Telefonat mit Unternehmer Klärung der Tätigkeiten in 0,25 XYZ der nächsten Woche Teilnahme an der 12. persönliche Anwesenheit 6,00 Baubesprechung erforderlich schriftl. Fixierung der Erstellung des Protokols Gesprächspunkte und zur 12. Baubesprechung Verteilung an die Gesprächsteinehmer Keine Leistungserbringung Fahrt zur Baustelle: keine und keine Alternativtätigkeit Bautätigkeiten mögliich

6,25 Stunden

187,00 145,00 1.122,00

Tätigkeit

906,25

Bild 3-1 Leistungen zum Zeithonorar mit Erfordernis.

90

4

Auseinandersetzung mit dem Begriff „Besondere Leistungen“ in der Denkmalpflege

Exkurs: EuGH-Urteil vom 04.07.2019

Mit Urteil vom 04.07.2019 [7] hat der Europäische Gerichtshof die Mindest- und Höchstsätze der HOAI „kassiert“. Dies bedeutet, dass die HOAI insgesamt erhalten bleiben kann, die Honorartafeln aber keine Mindest- und Höchstsätze enthalten dürfen und die Vorschriften nach § 7 HOAI 2013 Absatz 1 bis 5 zumindest neu formuliert werden müssen, da insbesondere die Mindestsatzfiktion (nach Absatz 5) nicht EU-konform ist.

Bild 4-1 § 7 HOAI 2013 Absatz 1 bis 5.

Neue Honorarempfehlungen gibt es aktuell (Stand 29.07.2019) noch nicht. Die Bundesarchitektenkammer hat schon mal die bisherigen Mittelsätze als Empfehlung angedacht, insbesondere um einen ruinösen Preiskampf unterhalb der bisherigen Mindestsätze zu verhindern.

5 Fazit und weitere Hinweise

91

Mit dem EuGH-Urteil werden damit auch die vorgenannten Stundensatzempfehlungen wieder hochaktuell und geben eine rechtssichere Verhandlungsbasis mit dem Auftraggeber. 5

Fazit und weitere Hinweise

Alle Empfehlungen basieren auf einer langjährigen Tätigkeit des Verfassers beim Planen und Bauen im Bestand, anderthalb Jahrzehnte Tätigkeit in der kirchlichen Denkmalpflege und seit 20 Jahren als von der AKNW ö.b.u.v. Sachverständiger für die Honorare und Leistungen der Architekten und Ingenieure. Letztendlich kommt es immer auf die „Umstände des Einzelfalles“ an, um zielorientiert alle Maßnahmen der Planungs- und Durchführungsvorbereitung zu treffen. Aus der Fachliteratur sei (nicht erschöpfend) auf folgende Veröffentlichungen hingewiesen: Bruschke, A. (Hg.): Bauaufnahme in der Denkmalpflege. Stuttgart, Fraunhofer IRB, 2005. Donath D.: Bauaufnahme und Planung im Bestand. Wiesbaden, Springer Vieweg, 2009. Klotz-Warislohner, G.; Saar, M.: Reparatur in der Denkmalpflege (Arbeitshefte des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege, Band 101). München, Lipp Verlag, 1999. Martin, D.; Krautzberger, M.: Handbuch Denkmalschutz und Denkmalpflege, 1. Auflage. München, C.H. Beck, 2004. Fraunhofer IRB Verlag; Fraunhofer-Informationszentrum Raum und Bau IRB (Hrsg.): Bausubstanz – Zeitschrift für nachhaltiges Bauen, Bauwerkserhaltung und Denkmalpflege. Stuttgart, Fraunhofer IRB Verlag. 6

Literatur

[1]

von Bentheim, M.: HOAI-Praxis – Bauen im Bestand. Beuth-Verlag. Berlin, 2016.

[2]

Löffelmann, P.; Fleischmann, G. (Hg.): Architektenrecht – Praxishandbuch zu Honorar und Haftung. Werner-Verlag. Düsseldorf, 2012 (für die HOAI 2009), rdnr. 1280.

[3]

Architektenkammer Bremen: Merkblatt „Empfehlungen für Stundensätze“. Bremen, Oktober 2017.

[4]

Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie: Statusbericht 2000plus Architekten/Ingenieure – Zwischenbericht Februar 2002. www.oeffentliche-auftraege.de/doc2/statusbericht2000plus-zwischenbericht02-02.pdf, abgerufen am 29.07.2019.

92

Auseinandersetzung mit dem Begriff „Besondere Leistungen“ in der Denkmalpflege

[5]

Siegburg, F.: Siegburg-Tabellen. www.siegburgtabelle.de/html/tabellen.html, abgerufen am 29.07.2019.

[6]

AHO-Stundensatzrechner. www.aho.de/service/stundensatzrechner, abgerufen am 29.07.2019.

[7]

EuGH, Urteil vom 4. Juli 2019, C-377/17, ECLI:EU:C:2019:562, Urteilstext. www.bak.de/w/files/bak/03berufspraxis/hoai/17377-urteil-040719.pdf, abgerufen am 29.07.2019.

Sanierung der 6. Grundschule „Am Großen Garten“ Dresden Claudia Klinkenbusch1 1 KKS Architektur + Gestaltung, Klinkenbusch-Kunze-Seidel, Louisenstr. 9, 01099 Dresden, Deutschland Die 6. Grundschule „Am Großen Garten“ ist einer der frühen großen Nachkriegs-Schulneubauten in Dresden und ein einzigartiges Architektur-Denkmal der späten 50er Jahre der DDR. Das Gebäude entstand in den Jahren 1957-1959 als Mittelschule im Rahmen der Neubauplanungen eines großen Wohn- und Geschäftsquartiers auf dem Areal eines kriegszerstörten ehemaligen Villenviertels in unmittelbarer Nähe zur innerstädtischen Parkanlage „Großer Garten“. Die denkmalgerechte Sanierung des Schulgebäudes stellte aufgrund der hohen Anforderungen eines modernen Schulbetriebs eine komplexe und herausfordernde Aufgabenstellung dar. Das Gebäude musste sowohl in Hinblick auf die heutigen Standards der Energetik, des Brandschutzes, der Barrierefreiheit, der Gebäudetechnik und der Sicherheit umfassend ertüchtigt, als auch den denkmalpflegerischen und vielfältigen funktionalen Anforderungen gerecht werden. Der Erhalt der schützenswerten bauzeitlichen Fassade hatte hohe Priorität und machte, vor allem hinsichtlich der Maßnahmen zur energetischen Ertüchtigung des Gebäudes, differenzierte Konzeptionen erforderlich. Das Bauvorhaben erfolgte in enger Abstimmung mit der Denkmalpflege und wurde mit Mitteln des Freistaates Sachsen gefördert. Bei der komplexen energetischen Sanierung ist es gelungen, unter vollständigem Erhalt der denkmalgeschützten Fassade das architektonisch anspruchsvolle Gebäude als Zeugnis seiner Erbauungszeit zu erhalten. Gleichzeitig konnte das Ziel, die Anforderungen der EnEV um 25 % zu unterschreiten, erfüllt werden. Schlagwörter: 6. Grundschule Dresden, Schulbau, Denkmalsanierung Schule, Innendämmung, energetische Sanierung, Architektur DDR

1

Ein Schulbau der DDR am Übergang zur Nachkriegsmoderne

Die auf einem Eckgrundstück errichtete Schule verfügt über mehrere Gebäudeteile: Ein dreigeschossiger Hauptklassentrakt mit flachem Satteldach, zwei Pavillonbauten mit flachen Pultdächern und eingeschossigen Verbindungsgängen und eine Turnhalle sind entlang der beiden, das Grundstück begrenzenden Straßen angeordnet. Hauptgebäude und Turnhalle bilden durch ihre rechtwinklige Anordnung einen Vorplatz, der sich unter Verzicht auf begrenzende Einfriedungen zum Straßenraum hin öffnet und in die stadträumliche Struktur einfügt. Wie das Hauptgebäude sind auch die Pavillonbauten mit ihrer Giebelseite zur verkehrsreichen Fetscherstraße hin ausgerichtet und rhythmisieren so mit einer kammartigen Struktur den Straßenraum. Diese aufgelockerte Gliederung ist ein weit verbreitetes städtebauliches Motiv der Nachkriegsmoderne.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_7

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Sanierung der 6. Grundschule „Am Großen Garten“ Dresden

Bild 1-1 Lageplan.

1.1 Gebäude Die Schule wurde vom Entwurfsbüro für Hochbau Dresden I beim Rat des Bezirkes Dresden unter Leitung der Architekten Gottfried Kintzer und Ehrenfried Kubin geplant und stammt aus der Zeit des Übergangs von der „Architektur der nationalen Tradition” zum Anschluss an die Nachkriegsmoderne. Das Gebäudeensemble wurde in mehreren Bauabschnitten errichtet. Im Hauptgebäude konnte der Unterricht mit Beginn des Jahres 1959 aufgenommen werden, die Fertigstellung der Pavillons und der Verbindungsgänge mit weiteren Klassenräumen und Sanitäranlagen erfolgte in einem zweiten Bauabschnitt Ende 1959. Die Turnhalle entstand in den Jahren 1963-1965 in einem dritten Bauabschnitt auf der Grundlage einer geänderten Planung, die statt eines ursprünglich vorgesehenen zusätzlichen Festsaales nun eine Doppelnutzung des Gebäudes als Turnhalle und Festsaal vorsah.

1 Ein Schulbau der DDR am Übergang zur Nachkriegsmoderne

95

Bild 1-2 Schulkomplex mit Hauptgebäude und Pavillonbauten von der Fetscherstraße. Neu errichtete, zurückhaltend eingefügte Rampe ermöglicht barrierefreien Zugang in das Schulgebäude. Ansicht Haupteingang mit der wiederhergestellten originalen Farbigkeit (Foto: N. Poggel).

Bild 1-3 Das Schulgebäude kurz nach seiner Errichtung Ende der 1950er Jahre (Foto: SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Heinz Nagel).

96

Sanierung der 6. Grundschule „Am Großen Garten“ Dresden

1.2 Bauhistorische Bedeutung Der Bau der Schule fiel in eine Zeit der zentralen Umgestaltung des Schulwesens und den Diskussionen zur Einführung einer allgemeinen 10-jährigen Schulpflicht. Bereits seit 1953 wurden in der DDR zentrale Typenprojekte für Schulen entwickelt, die jeweils Schulgebäude, Sporthalle, Hort, Küche und Speisesaal aufwiesen. Die standardisierten Schulbauten vom so genannten Typ SVB wurden in Ziegelbauweise mit Satteldach ausgeführt. Charakteristisch ist die pavillonartige Aufteilung der Funktionen in Einzelgebäude mit eingeschossigen Verbinderbauten, eine einhüftige Erschließung der Klassenräume und der Einbau einer großzügigen Treppenhalle. Die konkrete Anordnung und Ausgestaltung erfolgte dabei jeweils in Abhängigkeit der örtlichen Gegebenheiten. Die Schule an der Fetscherstraße war zunächst ebenfalls als reiner Mauerwerksbau geplant, die Ausführung erfolgte jedoch nach einem veränderten Entwurf in Teilen als massiver Mauerwerksbau und in Stahlbetonskelettbauweise. Die Hauptfassaden zeigen die Konstruktion aus Stahlbetonstützen und -trägern mit dazwischenliegender Ausfachung durch die Widerspiegelung des entstehenden Rasters in der Fassade. Der Sandstein stellt die Verbindung zur traditionalistischen Architektur der frühen 50er Jahre mit Vorbildern im Barock und im Klassizismus her, die formale Ausbildung und architektonische Gestaltung bildet jedoch den Übergang zur Nachkriegsmoderne. Die pavillonartige Aufteilung der unterschiedlichen Nutzungen, die Öffnung der Fassaden durch große Fensterflächen und nicht zuletzt der Einbau eines großzügigen Treppenhauses lassen einen Vergleich mit den zeitgenössischen Typenschulbauten zu. Mit der 6. Grundschule entstand jedoch sowohl durch die Anordnung der einzelnen Gebäudeteile als auch der grundrisslichen und innenräumlichen Ausführung, der Konstruktion und der architektonischen Gestaltung eine einzigartige, individuelle Lösung von hoher Qualität.

1 Ein Schulbau der DDR am Übergang zur Nachkriegsmoderne

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Bild 1-4 Hofseitiger Blick auf das Hauptgebäude und die Pavillonbauten (Foto: K.O. Gottschalk).

1.3 Sanierungsgeschichte Seit der Errichtung der Schule waren lediglich Sanierungsmaßnahmen im Zuge der Bauunterhaltung, seit 1982 zudem einige kleinere Umbaumaßnahmen durchgeführt worden, die bauliche Substanz blieb jedoch im Wesentlichen erhalten. In Folge gesunkener Schülerzahlen erfolgten 1982 Umbaumaßnahmen zur Einrichtung eines Hortes in den bislang für den Unterricht genutzten Pavillonbauten sowie in Teilen des zweiten Obergeschosses im Hauptgebäude. Diese beinhalteten im Wesentlichen den Einbau von (reversiblen) Trennwänden. Allein die Turnhalle wurde ab 1992 in Folge der veränderten Nutzung als reine Turnhalle grundlegend umgebaut, die für Festveranstaltungen benötigten Türen und Teile der Innenausstattung (Podium, Stuhllager) rückgebaut. Ebenso wurden die zuvor dem Schulgebäude angepassten Fenster zugesetzt bzw. durch Profilbauglas ersetzt und die Fassade durch Aufbringen eines Wärmedämmverbundsystems in ihrer Gesamterscheinung stark verändert. Aus diesem Grund war die energetische Sanierung der Turnhalle nicht Bestandteil der Aufgabenstellung.

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Bild 1-6 Grundriss 1. Obergeschoss (KKS und HF Architekten). 2

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98 Sanierung der 6. Grundschule „Am Großen Garten“ Dresden

Bild 1-5 Grundrissperspektive Erdgeschoss - Farbkonzept. Treppenhäuser erhielten historische Material- und Farbfassung (KKS und HF Architekten).

2 Sanierungsmaßnahmen

99

Bild 1-7 Querschnitt durch das Hauptgebäude (KKS und HF Architekten).

2

Sanierungsmaßnahmen

Zielstellung der umfassenden Gesamtsanierung war eine Anpassung des Gebäudes an die vielschichtigen und anspruchsvollen räumlichen, technischen und gestalterischen Anforderungen eines modernen Schulbetriebs. Hierbei spielten die seit den 1950er Jahren stark veränderten technischen und energetischen Standards ebenso eine Rolle, wie die räumliche Umgestaltung für zeitgemäße Lernbedingungen und die Integration von Schülern und Schülerinnen mit körperlichen Einschränkungen. 2.1 Denkmalpflegerische Voruntersuchungen Die Erarbeitung der Nutzungs- und Sanierungskonzeption erfolgte in enger Abstimmung mit der Denkmalpflege. Als Grundlage diente eine detaillierte denkmalpflegerische Zielstellung (Olav Helbig, im Auftrag des AHI Landeshauptstadt Dresden) und restauratorische Voruntersuchungen mit Objektdokumentation (Stenzel & Taubert GbR Büro für Bauforschung und Denkmalpflege Dresden). 2.2 Funktionale Neuordnung Räumlich war eine Neuorganisation und funktionale Optimierung des Gebäudes als Grundschule mit Hortbereich und integrativen Kooperationsklassen erforderlich. Die Neuordnung der einzelnen Funktionsbereiche ermöglichte die Zusammenlegung der Nut-

100

Sanierung der 6. Grundschule „Am Großen Garten“ Dresden

zungen in zusammenhängende Funktionsgruppen im großen Hauptbau und in den Pavillongebäuden. Das Erdgeschoss im Hauptbau nimmt dabei die gemeinschaftlich genutzten Bereiche wie Bibliothek, Mehrzweckraum und Speisesaal auf. Zeitgemäße Fach- und Informatikräume, Gruppenräume, die Mensa mit neuem Außensitzbereich und der großzügige Hortbereich ergänzen nun das Angebot für die Schüler und Schülerinnen. 2.3 Barrierefreiheit Die Schule ist als Integrationsschule mit Kooperationsklassen für 24 Schüler mit körperlichen Einschränkungen ausgelegt. In allen Etagen und Schulbereichen befinden sich nun behindertengerechte Sanitäranlagen, Pflegeräume sowie Rollstuhlabstellplätze. Für die täglichen Fahrdienste ist hofseitig eine direkte Vorfahrtsmöglichkeit geschaffen worden. Das Gebäude wurde mit neuen Rettungswegen ausgestattet und weist Barrierefreiheit in allen Bereichen auf. Automatische Türöffneranlagen unterstützen alle Hauptwege für den barrierefreien Durchgang. Die neu errichteten Rampenanlagen fügen sich zurückhaltend in das denkmalgeschützte Gebäudeensemble ein und ermöglichen den Schülern und Schülerinnen einen barrierefreien Haupt- und Hofzugang. Die bereits vorhandene Aufzugsanlage wurde bis in das Untergeschoss verlängert, um auch die handwerklichen Unterrichtsräume bzw. Horträume barrierefrei anzubinden. Die Horträume in den Pavillons verfügen nun ebenfalls über einen direkten, barrierefreien Außenzugang mit Rampe. 2.4 Brandschutz Für die brandschutztechnische Ertüchtigung war im Hauptgebäude der Einbau eines neuen Treppenhauses als zweiter, notwendiger Rettungsweg erforderlich. Zur Herstellung einer Brandsicherheit der Rettungswege wurden ergänzend baulich Rauchabschnitte hergestellt. Ein Pavillongebäude erhielt zusätzlich eine notwendige Außentreppe, die auch als direkter Pausenhofzugang genutzt werden kann. 2.5 Konstruktive Eingriffe Da es sich bei dem Gebäude um ein einzigartiges Architektur-Denkmal handelt, waren substanzverändernde Maßnahmen auf ein möglichst geringes Maß zu reduzieren. Die neue Nutzungsverteilung fügt sich, ebenso wie die energetisch-technischen Erneuerungsmaßnahmen, substanzschonend in den Baukörper ein. Deckendurchbrüche für die neue Gebäudetechnik (Heizung, Sanitär, Elektro und Lüftung) wurden in den Klassenräumen stirnseitig an je zwei Installationssträngen konzentriert. Notwendige bauliche Eingriffe

3 Energiekonzept und Maßnahmen der energetischen Sanierung

101

wie die Einpassung der neuen Treppenanlage erfolgten in der bestehenden Raumsystematik. In die vorhandene statische Konstruktion wurde mit dem vorgelegten Konzept somit nur sehr begrenzt eingegriffen, um aufwendige Umbaumaßnahmen zu minimieren. 3

Energiekonzept und Maßnahmen der energetischen Sanierung

Die stark gegliederte Baustruktur der Schule erforderte individuell abgestimmte, bauteilbezogene Maßnahmen, die jeweils mit zahlreichen bauphysikalischen Untersuchungen und einzelnen Bauteilnachweisen unterlegt wurden. Die vorhandene Baukörpergliederung und die vielschichtigen Nutzungsanforderungen der Schule ermöglichten eine Differenzierung einzelner Nutzungsbereiche in unterschiedliche Wärmezonen. So ist für die ständigen Aufenthaltsbereiche wie den Klassenräumen und Büros eine höhere Temperierung vorgesehen als im Bereich der Flure und Treppenhäuser oder der Treppenhalle, deren geplante Heizlast-Auslegung einen geringeren Wärmebedarf erfordert. Die Anwendung des Zonenmodells machte die Ausstattung der jeweiligen Übergangsbereiche mit neuen Innentüren erforderlich, die mit den brandschutztechnischen Gebäudeunterteilungen korrespondieren. Die Beheizung der Räume erfolgt über Radiatoren gespeist aus dem Fernwärmeanschluss. Lüftungsanlagen sind für die Aufenthaltsräume und die Küche eingebaut worden.

102

Sanierung der 6. Grundschule „Am Großen Garten“ Dresden

Fenster und Dachdämmung Intensive Dämmmaßnahmen Mineralische Innendämmung Trockenbau-Dämmplatten geringe Aufbauhöhe / Deckenhöhe KG

Heizungen auch im Wandabschnitt Sonnenschutz im Kastenfenster

Bild 3-1 Energetisches Grundkonzept (KKS und HF Architekten).

Schallschutz schallabsorbierende / -fenster

Bild 3-2 Maßnahmen zum Schallschutz (KKS und HF Architekten).

3 Energiekonzept und Maßnahmen der energetischen Sanierung

103

3.1 Außenwände Ein Schwerpunkt der denkmalpflegerischen Zielstellung lag darin, die historisch wertvolle Fassade in der Originalsubstanz und mit ihren spezifischen Gestaltungselementen der Nachkriegsarchitektur zu erhalten. Die energetische Ertüchtigung der Gebäude-Hüllfläche mit einer außen angebrachten Wärmedämmung war somit nicht vertretbar. Trotzdem konnten an den Gebäudehüllflächen energetisch verbessernde Maßnahmen durchgeführt werden. Ausgeführt wurde eine Innenwanddämmung der Außenwand mit einer KalziumsilikatDämmplatte, einem ökologischen, mineralischen Dämmstoff auf Basis der Rohstoffe Sand, Kalk, Zement und Wasser. Die bauphysikalisch schwierigen Räume in den Bereichen hinter der Sandsteinfassade (Gruppenräume, Treppenhalle) erhielten zur Vermeidung von Tauwasserbildung auf der Innenwand statt der Kalziumsilikat-Platten einen mineralischen Wärmedämmputz. Im Fundamentbereich wurde im Zuge der Vertikalabdichtung unter dem Gelände eine Perimeterdämmung angebracht. 3.2 Fenster Die vorhandenen Kastenfenster waren noch fast vollständig in ihrer bauzeitlichen Substanz vorhanden. Aus energetischen Gründen sollten sie durch moderne, hochgedämmte Fenster ersetzt, aus denkmalpflegerischer Sicht nach Möglichkeit jedoch erhalten werden. Es erfolgte eine Aufarbeitung der Außenfenster, während die Kasteninnenfenster durch neue, innenbündig ausgeführte Fenster mit hochwertiger Zweifachverglasung ersetzt wurden. Zur Vermeidung von Tauwasserbildung im Kastenzwischenraum erhielten die Außenfenster Lüftungsöffnungen. Der sommerliche Wärmeschutz wird durch Rollos aus reflektierender Spezialfolie im Kasteninnern gewährleistet. Die so aufgearbeiteten und modernisierten Kastenfenster der Unterrichtsräume erfüllen mit automatischen Sonnenschutzeinrichtungen und Isolierverglasungen aktuelle Standards des Wärme- und Schallschutzes und entsprechen gleichzeitig der denkmalpflegerischen Zielstellung. Die in den Flur- und Treppenhausbereichen vorhandenen bauzeitlichen Verbundfenster konnten durch die Anwendung des Zonenmodells erhalten werden, sie wurden lediglich aufgearbeitet.

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Sanierung der 6. Grundschule „Am Großen Garten“ Dresden

Bild 3-3 Klassenraum mit neuer Innendämmung, Akustikdecken und Lüftungsanlage. Erhalt der historischen Außenfenster und Ergänzung mit neuen, modernen Schallschutz-Innenfenstern (Foto: K.O. Gottschalk).

Bild 3-4 Mensa, um ein Klassenzimmer und eine Außenterrasse erweitert, nachträglich eingebaute Flurwand rückgebaut und durch eine großzügige Glaswand ersetzt (Foto: K.O. Gottschalk).

3 Energiekonzept und Maßnahmen der energetischen Sanierung

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Bild 3-5 Eingangshalle mit sichtbarer Betonrippendecke. Wiederherstellung der historischen Materialität und Farbigkeit (Foto: KKS).

Bild 3-6 Treppenhalle mit den erhaltenen und aufgearbeiteten Verbundfenstern (Foto: N. Poggel).

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Sanierung der 6. Grundschule „Am Großen Garten“ Dresden

3.3 Dach Dachstuhl und Dachdeckung des Hauptgebäudes mussten aus statischen Gründen neu errichtet werden. Eine Besonderheit ist die bauzeitliche Dachkonstruktion, die anstelle eines gezimmerten Dachstuhles Dachsparren aus gemauerten Trümmerziegeln aufweist. Dieses zeittypische Detail konnte an einer Stelle als Referenz erhalten werden, der Neubau erfolgte als Pfettendach. Die zwischenzeitlich aufgebrachte Dachdeckung aus Aluminiumblech konnte, dem bauzeitlichen Original entsprechend, durch Faserzement-Wellplatten ersetzt werden. Bei den Pavillonbauten konnte die Dachtragstruktur aus Fachwerkträgern erhalten und statisch-konstruktiv ertüchtigt werden. Die Dachdeckung wurde ebenfalls mit Faserzement-Wellplatten erneuert. Sowohl beim Hauptbau als auch bei den Pavillonbauten wurden die Dächer ungedämmt als Kaltdächer belassen. Jedoch erhielten die obersten Geschossdecken jeweils eine intensive und vollflächige Auflage aus mineralischer Dämmwolle. Der Dachüberstand aus scharriertem Sichtbeton an Traufe und Ortgang wurde zur Verringerung der Wärmebrückenproblematik oberseitig gedämmt, sodass dieses wichtige architektonische Detail in der Außenansicht vollständig erhalten werden konnte. 3.4 Decken Die Sohlplatten des Kellergeschosses im Hauptgebäude erhielten in den Aufenthaltsbereichen einen Trockenbauestrich mit unterseitig optimierter Wärmedämmung, da ein Austausch bzw. tieferer Einbau der Sohlplatten aus statischen Gründen nicht durchführbar war. Unter den Pavillonbauten sind nur Kriechkeller mit teilweiser Zugänglichkeit vorhanden. Unter den Flurbereichen wurden die Decken unterseitig mit mineralischen Dämmplatten belegt. Die Klassenraumbereiche sind hingegen überwiegend unterseitig nicht erreichbar. Da hier ein Teil der Kooperationsklassen untergebracht ist und die Schülerinnen und Schüler auch Liege- und Sitzflächen des Bodens nutzen, war die Ausstattung mit gedämmten Böden zwingend erforderlich. Hier wurden die vorhandenen Rippendecken (Menzel L) oberseitig kammerweise aufgebohrt und vollvolumig mit Einblasdämmung gefüllt.

3 Energiekonzept und Maßnahmen der energetischen Sanierung

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Wandaufbau Fenster - 2-fach Isolierverglasung (neu) - Sonnenschutz im Zwischenraum - 1-fach Verglasung hinterlüftet (alt)

Wandaufbau - 8mm Innenputz armiert - 100mm Kalziumsilikatdämmplatte - 15mm Ausgleichsputz - Nischen ausgemauert - Bestandsmauerwerk

Deckenaufbau - 4mm Linoleum - 5-10mm Ausgleichsschicht - Anhydritestrich (Bestand) - Gummischrot - Trittschalldämmung (Bestand) - Ortbeton (Bestand - Menzel-L-Decke (Bestand) - 50mm Kalziumsilikatdämmplatten (1m Streifen) - Abhanglochgipsdecke (Akustik)

Sandstein Bauteilerwärmung im Wärmebrückenbereich

Bild 3-7 Fassadenschnitt Wand- und Bodenaufbau KG zu EG (KKS und HF Architekten).

Bild 3-8 Verlegung der Innendämmung mit Kalziumsilikat-Dämmplatten (Foto: KKS).

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Sanierung der 6. Grundschule „Am Großen Garten“ Dresden

Anlagentechnische Maßnahmen

Die Anlagentechnik des 60 Jahre alten Gebäudes musste komplett zurückgebaut und erneuert werden, da sie marode war und nicht mehr den aktuellen Standards entsprach. 4.1 Wärmeerzeugung Der gesamte Komplex wird durch Fernwärme mit Kraftwärmekopplung beheizt und unterstützt die Zielstellung der EnEV - 25 %. Auch vor den Sanierungsmaßnahmen erfolgte die Wärmeversorgung durch Fernwärme, die Anlagen wurden jedoch durch effizientere Technik ersetzt. Die einzelnen hydraulisch abgeglichenen Heizkreise werden nun zentral mit einer digitalen Gebäudeautomationsanlage bedarfs- und verbrauchsabhängig vorgeregelt. 4.2 Lüftung Die Intensität der Schallbelastung durch die verkehrsreiche Fetscherstraße machte eine Unterrichtsführung bei geschlossenen Fenstern notwendig. Den erforderlichen Luftwechsel gewährleisten mehrere raumlufttechnische Anlagen. Sie sind mit je einer Wärmerückgewinnungsanlage ausgestattet, wobei die Zentralgeräte nach dem hocheffizienten Regenerationsprinzip mit Feuchterückgewinnung und einer eigenen Regelung versehen wurden. Damit können Betriebszeit, Dichteunterschiede, Temperaturen und Luftmengen bedarfsabhängig beeinflusst werden. Die Küchenlüftung wird ebenfalls mit identischer Regelungsanlage und einer Wärmerückgewinnung betrieben, hier kommt aus hygienischen Gründen noch ein Rekuperator zum Einsatz. 4.3 Beleuchtung Alle Beleuchtungsanlagen sind in Stromkreise gleicher Nutzung und voreingestellter Betriebszeit unterteilt. Die Beleuchtung der Klassenzimmer und Flure wird über Bewegungsmelder geschaltet, sodass hier eine direkte Bedarfsanpassung möglich ist. 5

Energetische Bewertung

Die bauphysikalisch thermische Sanierung umfasste das Hauptgebäude, zwei Pavillons sowie Verbindungsbauten. Es sollten die Belange des Denkmalschutzes, des Brandschutzes, der Barrierefreiheit und der Wirtschaftlichkeit beachtet werden. Daher wurde bei der Nachweisführung die Zonenbildung angewendet. Bei Wärmebrücken sowie bei den Anschlüssen der denkmalgeschützten Doppelfenster wurden Detailnachweise geführt. Durch umfangreiche Maßnahmen der Gebäudeheiztechnik, der kontrollierten Lüftung und der Wärmedämmung (mineralische Innendämmung der Gebäudeaußenwände, dämmtechnische Ertüchtigung der Sohlplatten und Dachflächen) wurde ein

6 Fazit

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Bestandsgebäude mit energetisch ungenügenden Werten umgewandelt in eines, das die Anforderungen der EnEV um ca. 36 % unterscheitet und somit zukünftig steigenden Ansprüchen langfristig gerecht wird. (Die Anforderungen an den Primärenergiebedarf von modernisierten Altbauten gemäß EnEV 2009 von 239 kWh/(m²a), was 239·4581,1=1.094.882,90 kWhth/a entspricht, wurden um ca. 36,4 % unterschritten. Der Primärenergiebedarf des Modells von 72 kWh/(m²a) – 72·4581,1=329.839,20 kWhth/a – liegt um ca. 17,2 % unter den realen nutzungsbedingten Verbräuchen.) 6

Fazit

Der Erhalt der Denkmalsubstanz hatte oberste Priorität und konnte trotz der heutigen Anforderungen an ein modernes Schulgebäude durch eine differenzierte Sanierungskonzeption mit jeweils individuell abgestimmten Maßnahmen realisiert werden. Die Gebäudehüllflächen stellten hierbei eine besondere Herausforderung dar und konnten dank vollständiger Innendämmung in ihrem Erscheinungsbild ungestört bleiben. Im Ergebnis ist es gelungen unter Erhalt der historischen Bausubstanz und unter Einbeziehung zeitgenössischer Elemente und Gebäudetechnik das architektonisch anspruchsvolle Gebäude als Zeugnis seiner Erbauungszeit zu erhalten. Das Projektziel, die Anforderungen der EnEV 2009 um 25 % zu unterschreiten, wurde erfüllt.

Bild 6-1 Detail Fassadenschmuck an einem der Pavillonbauten zur Fetscherstraße (Foto: N. Poggel).

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Sanierung der 6. Grundschule „Am Großen Garten“ Dresden

Projektbeteiligte

6. Grundschule „Am Großen Garten“ Fetscherstraße 2, 01307 Dresden Energetische Sanierung eines denkmalgeschützten Schulgebäudes der 1950er Jahre Behindertengerechte und energetische Komplettsanierung sowie Umbau zur Grundschule mit Kooperationsklassen und Hort. Einrichtung Informatikbereich, Bibliothek, Mensa. Auftraggeber:

Landeshauptstadt Dresden, Amt für Hochbau und Immobilienverwaltung

Leistungsumfang: LPH 2-9, Fertigstellung 2016 Architektur:

ARGE KKS Architektur + Gestaltung, Klinkenbusch-Kunze-Seidel, Dresden und Hänel + Furkert Architekten, Dresden Mitarbeit: Niklas Poggel, Matthias Lenk, Jens Lehmann

Fachplanung:

Thermische Bauphysik: Prof. Dr.-Ing. Roland Fink, Radebeul Statik: Ingenieurbüro für Baustatik Jörn Teichmann, Dresden Langebrück ELT/HLS: Ingenieurbüro Friemel + Partner, Dresden Freianlagenplanung: Freiraumplanung mit System. LandschaftsArchitekten

Akustische Verfahren zur Ermittlung der Luftdichtheit von Bestandsgebäuden Peter Holstein1, Nicki Bader1, Steffen Moeck1, Hans-Joachim Münch1, Dirk Döbler 2, Alexander Jahnke 2 1 SONOTEC GmbH, Nauendorfer Str. 2, 06112 Halle (Saale), Deutschland 2 GFaI, Gesellschaft zur Förderung angewandter Informatik e.V., Volmer Str. 3, 12489 Berlin, Deutschland Akustische Verfahren zeichnen sich dadurch aus, dass sie für vielfältige Einsatzgebiete modifiziert werden können. Sowohl Luft als auch andere Materialien kommen als Übertragungswege aber auch als Untersuchungsziele infrage. Das Spektrum der Methoden reicht dabei vom hörbaren bis in den Ultraschallbereich. Es wurde bereits in zwei Vorgängerbeiträgen auf die Möglichkeiten eingegangen, dass Ultraschallverfahren auch mit energetischen Fragestellungen in Zusammenhang gebracht werden können. Prominente Beispiele in diesem Beitrag sind Fragen der Dichtheit von Fenstern und Türen und innenklimatische Fragestellungen. Im Beitrag wird auf Vor- und Nachteile der akustischen Methoden eingegangen und gezeigt, dass die Ultraschalltechnologie andere bauphysikalische Verfahren ergänzen oder ersetzen kann. Um die akustischen Methoden zielführend einsetzen zu können, ist spezialisierte Prüftechnik erforderlich. Vorgestellt wird die Anwendung von Verfahren zur Bewertung der akustischen Dichtheit im Kontext der Vermeidung von Wärmeverlusten. Schlagwörter: Dichtheit, Ultraschall, akustische Kamera

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Allgemeines

Ein wichtiger Vorteil akustischer Methoden besteht in ihrer Skalierbarkeit. Die Variation der Wellenlängen erlaubt eine Anpassung der Methode gegenüber der Ausdehnung von Objekten, Fehlern, Durchbrüchen usw. Alle physikalischen Effekte, die bei der Wellenausbreitung eine Rolle spielen, können für Verfahrensentwicklungen und Optimierungen akustischer Methoden genutzt werden. Transmission, Reflexion, Beugung und Streuung müssen geeignet in Beziehung gesetzt werden, um das Potenzial der Methoden zu erschließen. Allerdings gibt es auch sehr einfache robuste Anwendungen – gerade für den Bereich der Dichtheit – die ihre Daseinsberechtigung in der Praxis haben. So war die Prüfung von undichten Stellen („offene“ Stellen = akustisch wirksame Lecks) mit einfacher Ultraschallprüftechnik Ausgangspunkt für weiterführende Betrachtungen und Entwicklungen. Es konnte gezeigt werden, dass sich aus der Nichtbeachtung des Verhältnisses von Ausdehnung und Geometrie von undichten Stellen schnell methodische Komplikationen der Methode ergeben, die zur erschwerten Interpretierbarkeit von Messergebnissen führen. Trotzdem gibt es eine Reihe wichtiger Anwendungen auf der Basis einfacher Ultraschalltechnik, wie die Prüfung der Dichtheit von Schiffsluken und ähnlichen Konstruktionen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_8

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Akustische Verfahren zur Ermittlung der Luftdichtheit von Bestandsgebäuden

Neben der funktionellen Dichtheit (Trennung von Medien, Sicherheit, akustische Dichtheit u. a.) rücken in letzter Zeit immer stärker energetische Fragestellungen in den Fokus. In den vorhergegangenen Beiträgen [1, 2] wurde die Übertragbarkeit der Ultraschalldichtheitsprüfung auf den Bau- und speziell auf den Denkmalbereich diskutiert. Traditionell werden im Baubereich auch andere Verfahren eingesetzt, um die Dichtheit zu prüfen. Bildgebende Thermografie und der Blower-Door-Test [3] sind hier Standardmethoden. Die Thermografie benötigt einen Temperaturgradienten. Die Blower-Door-Technik benötigt einen gewissen Überdruck (Druckgradienten). In beiden Fällen sind die Verfahren deshalb an Räume gebunden, die zur Erzeugung des physikalischen Gradienten geeignet sind. Akustische Methoden benötigen diese Gradienten nicht. Lediglich eine Quelle für das (definierte) Schallfeld und das Empfängersystem werden benötigt. Ein weiterer Vorteil der akustischen Methoden betrifft ihre Reziprozität. In den meisten Fällen spielt es keine Rolle, ob sich der Schallsender innen und die Mikrofone außerhalb befinden, oder ob eine umgekehrte Anordnung günstiger ist. Sender und Empfänger können in Fällen, wo dies baulich nötig ist, auch „vertauscht“ betrieben werden. Für die akustischen Verfahren ist es auch nicht notwendig geschlossene Räume zu haben. Gerade für noch nicht eingebaute Elemente (Fenster, Türen) können gewisse Prüfungen im Sinne einer Qualitätssicherung auch schon im ausgebauten (vorgefertigten) Zustand gemacht werden. Das Gleiche trifft auf die Prüfung von Elementen in freistehenden Wänden usw. zu. Dies ist bei der bildgebende Thermografie schwieriger und bei mit Druck zu beaufschlagenden Verfahren natürlich unmöglich. Die Betrachtung energetischer Fragestellungen spielt eine immer größere Rolle. Die Suche von Schwachstellen und deren Bewertung sind dabei gleichermaßen von Interesse. Hier sind unterschiedliche methodische Ansätze nötig, die sowohl eine Suche von Leckstellen aber auch die flächenbezogene Betrachtung größerer Bereiche ermöglicht.

Bild 1-1 Wirkung der Wellenlänge auf den Durchgang durch Materialien und Öffnungen. Die Effektivität des Durchgangs ist ein Interplay zwischen Transmission durch Materialien und „freie“ Wege, das durch Absorption, Beugung und Interferenzen generiert wird.

2 Das Rittergutsschloss Taucha

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Das Rittergutsschloss Taucha

Für methodische orientierte Arbeiten hat es sich als günstig erwiesen bereits durch vorherige Untersuchungen bekannte Objekte auszuwählen. Einige Fakten, Daten und Bilder wurden bereits im Beitrag „Akustische Verfahren zur Dichtheitsprüfung“ im Buch Denkmal und Energie 2018 [2] zusammengestellt, so dass wir uns auf ergänzendes und weiterführendes Material beschränken. Das Rittergutsschloss hat bereits ein ehrwürdiges urkundlich belegtes Alter erreicht. In diesem Jahr steht das 800-jährige Jubiläum an, das in günstiger Weise mit einem runden Stadtjubiläum von Taucha zusammenfällt und gemeinsame Feierlichkeiten zulässt.

Bild 2-1 Das Rittergutsschloss wird 800 Jahre alt (links) [4]. Der historische Grundriss stammt aus dem Jahre 1722 [5] (rechts).

Bereits im Jahre 974 erstmals urkundlich als Burgort in der Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg erwähnt entstand in den Folgejahren eine Burganlage, die ab 1542 durch Wilhelm v. Haugwitz schlossähnlichen Charakter erhielt. Mehrfach besuchte der sächsische Kurfürst Johann Georg I das 17.000 m2 große Areal, dessen Grundfläche sich im Laufe der Jahrhunderte kaum verändert hat. Während des Dreißigjährigen Krieges wechselnd als Quartier zahlreicher schwedischer und kaiserlicher Feldherren dienend übernachtete 1706 der schwedische König Karl XII. hier auf seinem Weg nach Altranstädt zur Unterzeichnung des Friedensvertrages nach dem großen Nordischen Krieg. Während der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 diente der Schlossturm als Beobachtungspunkt auf die Schlachtfelder, das Schloss selbst wurde zum Lazarett für über 1.000 preußische und russische Soldaten. In späteren Jahren wurde der Gebäudekomplex zunehmend landwirtschaftlich genutzt, bevor in den Jahren 2000–2008 die bauliche Sicherung abgeschlossen wurde und die schrittweise Sanierung der der Häuser begann: Neuanlage des historischen Weinberges, Wiederentdeckung des Schlossbrunnens, Sanierung und Um- und Ausbau der Häuser 2, 3, 5, 8 und 10.

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Akustische Verfahren zur Ermittlung der Luftdichtheit von Bestandsgebäuden

Im Folgenden geben einige Fotos einen „Rundumeindruck“ des Innenhofareals. Diese weisen darauf hin, dass bei allen durch den Schlossverein initiierten Sanierungsarbeiten für die nächsten 800 Jahre genügend Arbeit übriggeblieben ist.

Bild 2-2 Impressionen vom Schloss (in Panoramaanordnung). Die im Beitrag diskutierten Ergebnisse beziehen sich auf den als Kulturscheune genutzten Gebäudeteil (2. Foto von links).

Für die Anlage gibt es erste Nutzungskonzepte (Kulturscheune, Galerie, Weinkeller, Domizil für Spielmannszug) an deren Ausbau weitergearbeitet wird [6]. Nicht zuletzt hat sich die Anlage wissenschaftlich orientierten Arbeiten „zur Verfügung gestellt“ [7]. 3

Methodik

3.1 Ultraschalltechnologie Die Anpassbarkeit der akustischen Methoden lässt sich am vorgestellten Anwendungsfall gut demonstrieren. Die Skalierung betrifft den physikalischen Ansatz aber auch den technischen und finanziellen Aufwand. In vorhergehenden Beiträgen wurden bereits einige Grundlagen beschrieben. Es konnte gezeigt werden, dass sich mit der Durchschallung mit Ultraschallfrequenzen Leckstellen finden lassen. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass die Methode auch einige Herausforderungen bereithält, die sich auf die physikalischen Grundlagen der Wellenausbreitung beziehen. Interferenz und Beugung können die Interpretation erschweren oder bei Verwendung nicht-optimaler Prüffrequenzen sogar zu falschen Aussagen führen. In der Beherrschung dieser Schwierigkeiten liegt aber auch der Schlüssel zur methodischen Verbesserung. Die Variation der Frequenzen/Wellenlängen ermöglicht es, die Geometrie der Schwachstellen sozusagen abzutasten. Die methodischen Verbesserungen am Ultraschallmesssystem betreffen vor allem die Digitalseite der Prüfgeräte und die Auswertesoftware. In der Grundausstattung können Frequenzen von ca. 20 bis 100 kHz zur Prüfung bewertet werden. Das Prüfsystem kann inzwischen auch bei hörbaren Frequenzen eingesetzt werden, da es sinnvoll sein kann, bei etwas niedrigeren Frequenzen zu prüfen (Verfügbarkeit größerer Lautstärken und Reichweiten). Ein Vorteil des einkanaligen (und in der nächsten Ausbaustufe auch mehrkanaligen) Prüfgerätes im Vergleich zur im Folgenden beschriebenen akustischen Kamera ist die hohe Signaldynamik.

3 Methodik

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Bild 3-1 Elemente des Ultraschallprüfsystems SONAPHONE in der Ausstattung für Dichtheitsprüfungen. Die Ultraschalllautsprecher (hier die sphärische Ausführung) haben Sendefrequenzen von ca. 40 kHz. Rechts ist noch ein Spiegelsystem für Prüfaufgaben aus Distanzen abgebildet.

Als Schallquelle für die Ultraschallmessungen steht ein spezieller Ultraschallsender zur Verfügung. Als Sendefrequenz wurden 40 kHz gewählt. Dafür gibt es mehrere Gründe. Für diese Frequenz sind leistungsstarke und preiswerte Ultraschalllautsprecher verfügbar. Bei 40 kHz ist die Reichweite noch groß genug (die Dämpfung nimmt bei höheren Frequenzen in Luft stark ab). Die Richtwirkung des Ultraschalls kann die Lokalisation von undichten Stellen erleichtern, indem Winkelabhängigkeiten des empfangenen Schallsignals als zusätzliche Informationsquelle genutzt werden können. Bei der Quelle muss darauf geachtet werden, dass die Beschallung der zu bewertenden Fläche (des Volumens) möglichst gleichmäßig erfolgt. 3.2 Akustische Kamera Die sogenannte Akustische Kamera beruht auf einem Array von Mikrofonen. Die Firma GFaI war maßgeblich an der Entwicklung und Einführung der Akustischen Kamera beteiligt [8]. Ziel ist die simultane Abbildung der Schallerzeugung eines betrachteten Gebiets (Fläche), das (unterschiedliche) Schallquellen enthält. Dem Leser wird empfohlen, sein eigenes 2-Sensor-Array (Ohren) zu nutzen, um Schallquellen zu orten. Dies kann wellenlängenabhängig sehr schwierig sein. Nahezu unmöglich ist dies bei transienten Quellen und tieferen Frequenzen. Eine akustische Kamera besteht aus einer Vielzahl geeignet angeordneter (dies ist entscheidend für den zu implementierenden Algorithmus) Mikrofone. Eine (z. B. punktförmige) Schallquelle ist Ausgangspunkt einer Schallwelle. Diese Schallwelle kommt je nach Platzierung der Quelle in Relation zum Array mit leicht unterschiedlichen Laufzeiten an den Mikrofonen an. Diese geringen Laufzeit- und Phasenunterschiede werden gemessen.

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Akustische Verfahren zur Ermittlung der Luftdichtheit von Bestandsgebäuden

Bild 3-2 Verdeutlichung der Auswirkung der Quellenposition in Relation zur Anordnung der Mikrofone. Daraus resultieren die geringen Laufzeitunterschiede. Eine prinzipielle Formel zum Prinzip der Laufzeitunterschiede des Schalldrucks p(t) (Delay-And-Sum Beamforming) sei hier ohne weitere Erklärung gegeben [9].

Diese dienen damit als Input für die Verfahren, aus denen die Lage der Quelle rekonstruiert wird. Die rekonstruierten Bilder erlauben es, den ortsaufgelösten Positionen auch zugehörige Schalldruckpegel zuzuordnen. Im Ergebnis entsteht eine Art akustisches Bild, dass bei geeigneter Datenverarbeitung mit einem optischen Bild überlagert werden kann. Damit wird das Bild auch für „Nichtexperten“ (relativ leicht) interpretierbar. Die örtliche Auflösung, und damit auch die Kosten der Methode, hängen von der Anzahl der Mikrofone ab. Die Anordnung der Mikrofone wird für die jeweilige Aufgabe optimiert und geht in die Algorithmen für die Bildgenerierung ein. Die Auflösung hängt neben der Abtastrate (Frequenzauflösung) auch vom Abstand der Mikrofone (Relation Wellenlänge – Mikrofonabstand) und natürlich von der Leistungsfähigkeit des Rekonstruktionsalgorithmus ab.

4 Ergebnisse

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Bild 3-3 Die beiden für die Messungen verwendeten Varianten akustischer Kamerasysteme der Firma GFaI. Das große Array [10] mit 120 Mikrofonen (Fibonacci120 AC Pro Array) wurde einmal im Schlosshof (links) und dann im Inneren der Kulturscheune aufgestellt (Mitte oben). Unten rechts ist das kleinere System MIKADO (mit weniger Mikrofonen) abgebildet, dass seine Vorteile insbesondere bei Suchaufgaben in mobilen Einsätzen demonstrieren kann. Rechts befinden sich der Datenrekorder (bis zu 168 Kanäle, 192 kHz bei 24 bit) und die akustische Quelle für die Experimente (B&K Reference Sound Source - Typ 4204).

Mit modernen Algorithmen (welche wir auch in den gezeigten Beispielen verwendet haben) ist heute eine Dynamik von 20 dB bis 30 dB gut zu erreichen. Der simultane Nachweis lauter und leiser Quelle ist dadurch schwierig. Ein generelles Problem ist die Messung von Spiegelschallquellen. Die Unterscheidung von den direkten Schallquellen ist durch geeignete Messmethodik möglich. Zur akustischen Kamera gehört ein leistungsstarkes Softwaresystem (NoiseImage). Beliebige Filter, Zeitausschnitte, psycho-akustische oder umweltbezogene und bauphysikalisch interessante Auswertungen sind verfügbar oder können per Skript bereitgestellt werden. Die Überlagerung mit optischen Bildern oder CAD-Daten erlaubt es, für viele Anwendungen geeignete Prüf- und Reportszenarien zu erstellen. 4

Ergebnisse

4.1 Ultraschallmessungen Akustische Messungen haben oft den Nachteil, dass es ungewünschte Quellen gibt, die die Messungen verfälschen können. Ein Hund bellte, die Messung für die akustische Kamera musste wiederholte werden. Die Ultraschallprüfungen können dagegen in der Regel auch in akustisch belasteter Umgebung stattfinden, da im Umgebungslärm kaum Ultraschallquellen zu finden sind.

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Akustische Verfahren zur Ermittlung der Luftdichtheit von Bestandsgebäuden

Bild 4-1 Suche nach energetisch wirksamen Undichtigkeiten entlang der Türdichtungen der historischen Kulturscheune. Da das Ultraschallverfahren ein mechanisch scannendes ist, erfolgt das Abtasten entsprechend der konstruktiv bedingten Erwartung.

Bei den Prüfungen wird die Prüftechnik mit der Hand geführt (wie in Bild 4-1). Bei ungünstigen Erreichbarkeiten stehen Stangensystem und der Hohlspiegel zur Verfügung. Der Prototyp eines Koordinaten erfassenden Systems [2] steht ebenfalls zur Verfügung. Alle Messungen wurden von außen und innen durchgeführt. Die Ergebnisse waren im Rahmen der experimentellen Genauigkeit identisch.

Bild 4-2 Wiederholtes „Überstreichen“ einer gefundenen undichten Stelle (links) und das Vorgehen an einer ausgedehnteren undichten Stelle (rechts). Die Prüfung erfolgte hier mit der breitbandigen Rauschquelle. Die Ergebnisdarstellung zeigt den mittleren Schallpegel (20-100 kHz, grüner oberer Schrieb) und das zeitsynchron berechnete Spektrogramm (Zeit-Spektrum).

Die in Abbildung 4-2 gezeigte prinzipielle Vorgehensweise zeigt, dass die „Sicherheit bei der Bewertung durch die hier wiederholte und gespiegelte Datenerfassung hoch ist. In einen Spektrogramm (kombinierte Zeit-Frequenz-Darstellung) sind viele Daten verrechnet. Damit wird eine Art visuelle Mittelwertbildung erzeugt, die für den Nutzer leicht zu interpretieren ist und unvermeidbare Fluktuationen ausgleicht.

4 Ergebnisse

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Bild 4-3 Neben der Rauschquelle wurde hier die 40 kHz-Quelle (rote Markierung) eingesetzt. Man erkennt bei Betrachtung des Breitbandsignals, dass gewisse Frequenzvariationen der Intensität auftreten. Das 40 kHz-Band eignet sich zum robusten und sicheren Auffinden von Lecks.

4.2 Messungen mit der akustischen Kamera Die Kulturscheune bestand aus einem Raum ohne Zwischendecke. Es wurde deshalb erwartet, dass neben den zu suchenden Lecks im Bereich der Türen auch schalldurchlässige Stellen im Bereich des Dachkastens zu finden sind. Die akustische Kamera findet nicht nur die direkt durchlässigen („offenen“) Stellen sondern auch Bereiche, die für niederfrequente und im Alltag oft laute Schallquellen nicht dämmend wirken. Die Kulturscheune darf beispielsweise für Veranstaltungen nach 22 Uhr nicht genutzt werden. Aus Gründen des Denkmalsschutzes sind hier keine baulichen Maßnahmen möglich. In diesem Sinne dient der Einsatz der akustischen Kamera auch gleichzeitig bauakustischen Untersuchungen. Die kleinere Kamera kam zu Testzwecken zum Einsatz. Besonders interessant ist, dass bei (schon Ultraschall-) Frequenzen um 16 bis 20 kHz noch eine gute Quellensuche möglich ist. Ab 40 kHz lieferte der Algorithmus keine eindeutigen Resultate mehr. Die methodische Erweiterung der bildgebenden Verfahren auf die Ultraschallfrequenzen könnte angedacht werden. Die eingesetzten Kameras sind aufgrund der Konstruktion und Maße noch nicht für sehr hohe Frequenzen ausgelegt. Die Messungen und Diskussionen der Beispiele belegen dies. Simulationen zeigen, dass auch Array-Anordnungen möglich wären, die die Abbildungen von Ultraschallfeldern bei hinreichender Dynamik erlauben würden. Auch wenn die Abbildungen dadurch etwas klein sind, wurden trotzdem die unten gewählten Darstellungsformen gewählt, um die frequenzbezogenen Variation der Aussage zu verdeutlichen. Eindeutig erkennbar in allen Kameraaufnahmen ist, dass sich mit sich erhöhender Frequenz die undichten Stellen besser lokalisieren lassen.

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Akustische Verfahren zur Ermittlung der Luftdichtheit von Bestandsgebäuden

Die im Innen- und im Außenbereich platzierte „große“ Kamera (120 Mikrofone) hatte einen Fokus von 5,7 m. Damit stand ein Erfassungsbereich zur Verfügung, der die gesamte Tür der Kulturscheune in einem „Bild“ erfassen konnte.

Bild 4-4 Messungen mit der akustischen Kamera im Bereich des Dachkastens und im unteren Teil des Dachstuhls. Die Frequenzen erhöhen sich von links nach rechts (0.4, 0.5, 4, 16, 20 kHz). In der niedrigsten Terz ist deutlich zu erkennen, wo Lärm aus dem Bereich des Dachkastens dringt. Bei den höherfrequenten Terzen – und insbesondere den („niedrigen“) Ultraschallfrequenzen – sind echte offene Stellen für den Schalldurchgang zuständig. Diese haben auch unmittelbare energietechnische Konsequenzen. Rechts sind sowohl die Lecks in der Türdichtung als auch bei den Dachziegeln zu sehen. Im vorher akustisch durchlässigen Frequenzbereich tritt kein Hochfrequenzschall hindurch.

Für die methodisch orientierten Messungen war der Türbereich der interessanteste.

Bild 4-5 Messung mit der akustischen Kamera von Innen (1.25, 2.5, 4, 8, 16 kHz).

Bild 4-6 Die gleiche Messung mit der akustischen Kamera von außen (1.6, 5, 8, 20 kHz).

Ein wichtiger Vorteil der Akustik besteht, wie erwähnt, darin, dass Sender und Empfänger vertauscht werden können, wenn der Transferweg derselbe ist. In der nächsten Abbildung ist dies durch Hervorhebung der Symmetrie des Problems gekennzeichnet.

4 Ergebnisse

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Bild 4-7 Für jeweils zwei (vergleichbare) Terzen wird die Reziprozität demonstriert. Es werden die gleichen Fehlerstellen gefunden. Dies ist durch die roten Markierungen hervorgehoben. Auf diese Weise wäre auch eine Synthese von Fehlerbildern bei schwierigen Zugangsbedingungen möglich.

4.3 Vergleich der akustischen Methoden Interessant ist auch ein direkter Vergleich der beiden akustischen Verfahren. In dem kombinierten Mapping der beiden Verfahren zeigt sich, dass sich diese in sehr guter Genauigkeit aufeinander abbilden lassen. Im nachfolgenden Beispiel ist ein Bild der akustischen Kamera (5 kHz-Terz) mit einem (simultan gemessenen) Ultraschallbild verglichen worden. Die Verwendung der etwas niedrigeren Frequenz für das Bild der akustischen Kamera im Vergleich zum Ultraschallscan soll auch verdeutlichen, dass in der Frequenzskalierung noch weitere Informationen stecken. Letzteres ist insbesondere für quantifizierende Aspekte von Bedeutung. Dies ist Ausgangspunkt weiterführender Arbeiten.

Bild 4-8 Vergleich von Ultraschallmethode und des Bildes der akustischen Kamera (5 kHz) – Beide Verfahren haben ihre prinzipiellen Vorteile und ergänzen sich. Die gestrichelten Linien stehen für gleiche Messpositionen.

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Akustische Verfahren zur Ermittlung der Luftdichtheit von Bestandsgebäuden

Zusammenfassung

Akustische Methoden sind extrem flexibel einsetzbar, um einen Beitrag für bauphysikalische und energetische Fragestellungen zu liefern. Sowohl im experimentellen als auch bezüglich des softwaretechnischen Aufwandes sollte eine Anpassung an die Erfordernisse für Denkmale sinnvoll sein. Nicht alle Möglichkeiten für Weiterentwicklungen und Details können jedoch in einem kurzen Artikel dargestellt werden. Hier wird es Fortsetzungen geben. 6

Danksagungen

Wie bei den Arbeiten zum Beitrag aus dem Jahr 2017 hat uns auch diesmal wieder der Förderverein „Schloss Taucha“ e.V., speziell Herr Studienrat Jürgen Ullrich als Vorsitzender des Fördervereins, bei der Vorbereitung unserer Messungen unterstützt. Während der Messkampagne öffnete er uns organisatorisch (auch im Wortsinn) alle Toren und Türen. Herr Ullrich steuerte auch die Informationen rund um das Schloss bei, die im Text verankert sind. Wir sehen den Artikel auch als Beitrag zur Vorbereitung der 800-JahrFeier. 7

Literatur

[1]

Holstein, P.; Raabe, A.; Bader, N.; Tharandt, A.; Barth, M.; Münch, H.-J.: Energetische Probleme und akustische Verfahren. In: Weller, B.; Horn, S. (Hrsg.): Denkmal und Energie 2017. Wiesbaden, Springer Vieweg, 2016.

[2]

Bader, N.; Holstein, P.; Eckert, K.; Münch, H.-J.; Holtkamp, L.; d’Achrd van Eschut, T.: Akustisches Verfahren zur Dichtheitsprüfung. In: Weller, B.; Horn, S. (Hrsg.): Denkmal und Energie 2018. Wiesbaden, Springer Vieweg, 2017.

[3]

Weidner, T.: BlowerDoor Luftdichtheitsprüfung. https://www.bauthermografieluftdichtheit.de/38303.html, abgerufen am 17.09.2019.

[4]

Rittergutsschloss Taucha: Jahreslogo 2019/2020 und Doppeljubiläum 2020. https://schlossverein-taucha.de/aktuelles.html, abgerufen am 01.10.2019.

[5]

Stadtarchiv Leipzig: Historische Skizze der Schlossanlage Taucha.

[6]

Rittergutsschloss Taucha. https://rittergutsschloss-taucha.de/, abgerufen am 17.09.2019.

[7]

Barth, O.: Tauchas Schloss interessiert die Wissenschaft. https://rittergutsschlosstaucha.de/files/190801_LVZ_Tauchas-Schloss-interessiert-die-Wissenschaft.pdf, abgerufen am 17.09.2019.

7 Literatur

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[8]

Heinz, G.: Eine Einführung in die akustische Photo- und Kinematographie. https://www.acoustic-camera.com/fileadmin/acoustic-camera/press_old/english/Eine_Einfuehrung_in_die_akustische_Photo_und_Kinematographie.pdf, abgerufen am 17.09.2019.

[9]

Johnson, D. H.; Dudgeon, D. E.: Array Signal Processing: Concepts and Techniques. Upper Saddle River, PTR Prentice-Hall, 1993.

[10]

https://www.acoustic-camera.com/fileadmin/acoustic-camera/support/downloads/data-sheets/Arrays/V-VO-DatasheetFibonacci_04-016.pdf, abgerufen am 17.09.2019.

Akustische Tomografie und Raumklimatisierung Armin Raabe1, Peter Holstein2 1 Leipziger Institut für Meteorologie (LIM), Universität Leipzig, Stephanstr. 3, 04103 Leipzig, Deutschland 2 Steinbeis-Transferzentrum „Technische Akustik und angewandte Numerik“ (STZ TAAN), Margarethenweg 9a, 04425 Taucha, Deutschland Die physikalischen Eigenschaften der Luft modifizieren die Schallgeschwindigkeit in Abhängigkeit von Temperatur und Strömungsverhältnissen. Es wurde eine akustische Methode, die ursprünglich für meteorologische Anwendungen zur Messung der Lufttemperatur bzw. der Windgeschwindigkeit entwickelt wurde, für die Anwendung klimatischer Fragestellungen in Innenräumen beliebiger Größe modifiziert. Eine Kombination von mehreren Schallgeschwindigkeitsmesstrecken, die flächenhaft oder räumlich angeordnet werden, ermöglicht es, auf diese Weise die sich über die Zeit hinweg ändernden Schallgeschwindigkeitsfelder aufzuzeichnen. Mit Hilfe tomografischer Algorithmen kann aus den sich überschneidend angeordneten Messstrecken eine flächenhafte/räumliche Verteilungen der Lufttemperatur- bzw. der Strömungsverhältnisse berechnet werden. Das eignet sich insbesondere, um die durch Energieeinbringung verursachten Inhomogenitäten der Temperatur- und Strömungsverhältnisse darzustellen. In Räumen zeigen die Aufzeichnungen die zeitlich-räumliche Variabilität der Raumklimaparameter Temperatur und Strömung. Diese Angaben können Informationen für eine effektive Steuerung der Raumbelüftung liefern, z. B. um eine gleichmäßige Raumtemperaturverteilung sicherzustellen. Letztlich ermöglichen diese Informationen Eingriffe in die Raumklimatisierung, was auch für einen effizienten Energieeinsatz sorgen und werterhaltende Maßnahmen im Denkmalsbereich unterstützen kann. Schlagwörter: Raumklima, Akustik, Tomografie, Energieeffizienz

1

Allgemeines

Für die Klimatisierung von Räumen, in denen eine einheitliche Temperaturverteilung gewünscht ist, aber z. B. Installationen Wärme abgeben, ist eine erhebliche Menge an Energie erforderlich. Es ist dabei relativ einfach, die Raumtemperatur in einem bestimmten, engen Temperaturbereich zu halten, um den Betrieb der dort installierten Technik sicherzustellen oder die aufgestellten Utensilien nicht einem sich ständig verändernden Raumklima auszusetzen. Die Regelung der Temperatur im Raum erfolgt dabei üblicherweise über eine Kontrollmessung, die an einer exponierten Stelle im Raum durchgeführt wird und die darüber entscheidet, ob warme oder kalte Luft zugeführt wird. Andererseits können durch die Klimaanlage auch störende Luftbewegungen im Raum entstehen, die die Installationen oder auch den Raumkomfort ungünstig beeinflussen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_9

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Akustische Tomografie und Raumklimatisierung

Es ist nicht so einfach, sich einen Überblick über die Verteilung von kalter und warmer Luft im Raum und deren Zirkulation zu verschaffen. Dazu wäre eine ganze Anzahl von Temperatursensoren und Strömungssensoren notwendig. Eine Alternative bietet sich hier, wenn die Schallausbreitungsverhältnisse im Raum erfasst werden. Die Schallausbreitung wird durch Lufttemperatur und Luftbewegung beeinflusst und wenn man diesen Einfluss registriert, kann man sich einen Überblick über die Verteilung dieser Felder im Raum verschaffen. In der hier beschriebenen Form stammt das Verfahren aus dem Bereich der Meteorologie (s. [1], [2]). Die Entwicklung fand dabei vorwiegend im denkmalsgeschützten Leipziger Institut für Meteorologie (LIM) statt [3]. Es beruht auf der Abhängigkeit der Schallgeschwindigkeit von Temperatur und Strömung entlang des Ausbreitungsweges von Schallsignalen und wird dort für die Abbildung von Temperatur- und Windfeldern über komplex gestalteten Landschaftsausschnitten genutzt. Durch die Positionierung von mehreren Schallquellen und Schallempfängern am Rand des zu untersuchenden Gebietes gelingt es dabei durch die Anwendung tomografischer Verfahren, flächenhafte oder räumliche Verteilungen von Lufttemperatur und Wind im Messgebiet darzustellen, ohne dass die Messstellen selbst im Messgebiet positioniert sein müssen. Die tomografischen Verfahren sind aus der Medizin bekannt. Dort gelingt es, Bilder von der Struktur eines Körpers zu erzeugen, ohne die Beobachtung in den Körper selbst zu verlagern. Für raumklimatische Untersuchungen besteht dann der Vorteil darin, dass mit einer geschickt gewählten Messanordnung sich Informationen über das Raumklima ableiten lassen, wobei die Messtechnik nicht im Raum, sondern an den Raumwänden angebracht wird. D. h. die Nutzung des Raums wird nicht beeinträchtigt und die Raumklimaverhältnisse sind nicht durch das Aufstellen der notwendigen Messtechnik gestört [3]. 2

Schallausbreitung in Luft

Die Schallgeschwindigkeit in ruhender Luft beträgt etwa 330 m/s bei einer Lufttemperatur von 0 °C. Erhöht sich die Lufttemperatur auf 1 °C, dann erhöht sich die Schallgeschwindigkeit um ~0,6 m/s. Diese Temperaturänderung ist typisch für einen Lufttemperaturbereich zwischen -30 °C und 40 °C. Außerdem wird die Geschwindigkeit der Schallsignale durch eine Luftbewegung scheinbar erhöht (Mitwindrichtung), verringert (Gegenwindrichtung) oder gar nicht beeinflusst (Querwindrichtung). Die beobachtete Schallgeschwindigkeit ist eine Funktion von der Lufttemperatur und dem Einfluss einer Luftbewegung parallel zur Schallausbreitungsrichtung (Bild 2-1).

2 Schallausbreitung in Luft

127

Bild 2-1 Das akustische Verfahren nutzt reziproke Schallstrecken [4]. Die Schallgeschwindigkeit wird zwischen einem Sender und Empfänger auf einen Weg hin und zurück bestimmt. Strömung wirkt sich dabei im Gegensatz zur Temperatur nur mit dem Anteil auf die Schallgeschwindigkeit aus, der parallel zur Schallausbreitungsrichtung weist.

Auf einer Strecke zwischen einem Schallsender (S) und einem Schallempfänger (R) breitet sich der Schall also mit einer Geschwindigkeit aus, die durch eine möglicherweise unterschiedliche Lufttemperatur bzw. Luftströmung beeinflusst werden kann. Unter der Vorrausetzung, dass der Schall den direkten Weg zwischen Schallsender und Empfänger wählt, kann bei bekanntem Abstand D zwischen Sender und Empfänger die Schalllaufzeit tSR gemessen und so die effektive, temperatur- und strömungsbeeinflusste Schallgeschwindigkeit bestimmt werden: ܿ௘௙௙ ൌ

஽ ௧ೄೃ

ൌ ܿሺܶ௔௩ ሻ ൅ Strömungseinflussሺ‫ݒ‬ሻ

(1)

Um Strömungseinfluss und Temperatureinfluss auf die Schallausbreitungsgeschwindigkeit zu trennen, wird jetzt ausgenutzt, dass die Strömung entlang eines Ausbreitungsweges einerseits eine Erhöhung der effektiven Schallgeschwindigkeit bewirkt, in der Gegenrichtung jedoch eine Abschwächung. Durch Summation bzw. Subtraktion der effektiven Schallgeschwindigkeiten entlang der entgegengesetzten Schallausbreitungswege (Hinund Rückweg) ergibt sich für den temperaturabhängigen Anteil ܿሺܶ௔௩ ሻ ൌ

஽ ଶ

‫ڄ‬൬

ଵ ௧ೄೃǡಹ಺ಿ



ଵ ௧ೄೃǡೃo಴಼



(2)

bzw. für die Strömung: ‫ݒ‬ൌ

஽ ଶ

‫ڄ‬൬

ଵ ௧ೄೃǡಹ಺ಿ



ଵ ௧ೄೃǡೃo಴಼



(3)

Die von der Luftbewegung unbeeinflusste sog. Laplacesche Schallgeschwindigkeit steht mit der (akustischen virtuellen) Lufttemperatur Tav in Verbindung ܿ ଶ ൌ ߛ௅ ‫ܴ ڄ‬௅ ‫ܶ ڄ‬௔௩

(4)

128

Akustische Tomografie und Raumklimatisierung

wobei ܴ௅ ൌ ʹͺ͹ǡͲͷ᩸݉ଶ ‫ି ݏ‬ଶ ‫ି ܭ‬ଵ die spezifische Gaskonstante der (trockenen) Luft und ߛ௅ ൌ ͳǡͶ das Verhältnis zwischen den Wärmekapazitäten von (trockener) Luft bei konstantem Druck und konstantem Volumen ist. Dabei ist zur Kenntnis zu nehmen, dass diese so ermittelte (akustische virtuelle) Lufttemperatur in einem geringen Maße von dem Feuchtegehalt der Luft (spezifische Feuchte q) abhängt: ܶ௔௩ ൌ ܶ ‫ ڄ‬ሺͳ ൅ Ͳǡͷͳ͵ ‫ݍ ڄ‬ሻ

(5)

Der Einfluss der Feuchte verändert unter der Annahme einer weitgehend konstanten Raumluftfeuchte die berechnete Raumlufttemperatur in der Größenordnung von 1 K. Plausible Änderungen der Raumluftfeuchte von Ort zu Ort oder über die Zeit hinweg wirken sich auf die Lufttemperaturberechnung mit einem Fehler von weniger als 0,2 K aus. Deshalb wird hier im Folgenden die gemessene akustische virtuelle Temperatur als die Lufttemperatur angesehen. Genauere Betrachtungen zum Messfehler für die Schallgeschwindigkeitsmessungen findet man in [5]. Die Lufttemperatur auf einer Schallstrecke D ist dann: ܶሾι‫ܥ‬ሿ ൌ 3

௖మ ఊಽ ‫ڄ‬ோಽ ‫ڄ‬ሺଵା଴ǡହଵ‫ڄ‬௤ሻ

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௖ మ ൤ቀ ቁ ൨ ೞ ೘మ

ସ଴ଶ మ ೞ

‫ ܭ‬െ ʹ͹͵ǡͳͷ .

(6)

Akustische Tomografie

Die Rekonstruktion der zweidimensionalen Verteilungen von Wind und Temperatur erfolgt mittels tomografischer Verfahren, die auf der Verarbeitung akustischer Informationen beruhen. Tomografische Verfahren nutzen generell Messungen, die Informationen über die Eigenschaften eines räumlich oder flächenhaft ausgedehnten Gebietes auf verschiedenen Strecken durch dieses Gebiet zur Verfügung stellen. In unserem Fall hier sind das die (effektive) Schallgeschwindigkeiten auf verschiedenen Strecken durch das Messgebiet hindurch. Um schließlich aus diesen auf eine Strecke bezogenen Informationen eine räumliche oder flächenhafte Verteilung von Einflussgrößen (das sind hier Lufttemperaturänderungen bzw. Strömungsgeschwindigkeitsänderungen entlang der Messtrecke) zu rekonstruieren, wird das Messgebiet in Teilflächen unterteilt und die Eigenschaften entlang der Schallstrahlen (Temperatur, Strömung) auf diese Teilflächen rückprojiziert. Aus den Messungen bekannt sind die Laufzeiten der Schallsignale zwischen allen Messstellen. In dem Beispiel (Bild 3-1) sind 8 Sender-Empfänger-Kombination um die Messfläche herum positioniert. Jede Kombination sendet/empfängt die Signale für/von allen

3 Akustische Tomografie

129

anderen. Die Messtrecken zwischen den Kombinationen überdecken das gesamte Untersuchungsgebiet. Das tomografische Verfahren unterteilt nun das Untersuchungsgebiet in verschiedene Teilflächen (hier Fläche 1 bis 25). Mit numerischen iterativen Verfahren werden in den einzelnen Flächen die die Schallgeschwindigkeit beeinflussenden Parameter (also z. B. die Temperatur) solange verändert, bis sich aus der angenommen Verteilung der Temperaturwerte in den einzelnen Zellen gerade die beobachteten Schallaufzeiten auf den einzelnen Messstrecken ergibt. Die Rekonstruktion der skalaren Größe Temperatur erfolgt in Abhängigkeit der Strahlstückabschnitte pro Gitterzelle für jeden Schalllaufweg. Für die Rekonstruktion des Strömungsfeldes werden die Richtung zwischen Schallausbreitung und Strömung berücksichtigt. Numerische Verfahren sind u.a. in [4, 6, 7] beschrieben.

Bild 3-1 Schematischer Aufbau eines akustischen tomografischen Messsystems. An den Raumgrenzen werden Sender-Empfänger-Kombinationen so verteilt, dass möglichst die Schallausbreitungslinien (schwarz) alle Raumbereiche durchqueren. Die Anordnung kann in einer Fläche [8] aber auch räumlich erfolgen [4]. Für eine tomografische Rekonstruktion der Temperaturund Strömungsverteilung im Raum wird dieser in abgegrenzte Raumbereich (grünes Gitter) unterteilt. Innerhalb der so entstehenden Bereiche erzeugt der tomografische Algorithmus einen individuellen Wert für Temperatur und Strömung, der von Ort zu Ort variieren kann.

130

4

Akustische Tomografie und Raumklimatisierung

Technische Umsetzung einer akustischen Tomographie

4.1 Aufbau eines akustischen tomografischen Messsystems Das akustische tomografische Messsystem (Bild 4-1) besteht aus Schallsender und Schallempfänger, einer zentralen Steuereinheit, die die akustischen Signale erzeugt, an die Sender weitergibt und die empfangen Signale analysiert. Schließlich werden die beobachteten Temperatur- und Strömungsverteilungen dargestellt, was als Grundlage für weitere Auswertungen dient. Ein solches Messsystem wird in [9] beschrieben.

Bild 4-1 Ein akustisches tomografisches System zur Raumklimaüberwachung besteht aus der Verteilung der Sender/Empfängerkombinationen im Raum und einer Steuereinheit, mit der die Messungen ausgelöst und analysiert werden. Die Ergebnisse können als Entscheidungshilfe für den Betrieb von klimatisierten Räumen dienen [9].

Die akustischen Schallquellen müssen dabei so gestaltet sein, dass der Schall möglichst mit gleichbleibendem Schallpegel in alle Richtungen in den Raum abgegeben wird. Nur das garantiert, dass die Schallsignale von den in unterschiedlichen Entfernungen bzw. unter unterschiedlichem Blickwinkel im Raum angeordneten Empfängern auch registriert werden können. Für solche Sender sind verschiedene technische Lösungen realisiert worden (Bild 4-2, s.a. [10]). Sender (Lautsprecher), Empfänger (Mikrofone) oder Kombinationen beider Sensoren (Bild 4-1) werden in dem zu untersuchenden Raum verteilt und deren Positionen bzw. die gegenseitige Lage werden bis auf wenige Millimeter genau vermessen. Die Sender und Empfänger sind miteinander verbunden. Über eine zentrale Steuereinheit werden definierte Schallsignale zu bestimmten Zeiten ausgesendet [12] und, nachdem diese die Strecke zwischen Sender und Empfänger zurückgelegt haben, am Empfänger aufgezeichnet.

4 Technische Umsetzung einer akustischen Tomographie

131

Zwischen Senden und Empfangen ist auf jeder Strecke eine unterschiedliche Zeit vergangen, so dass im nächsten Schritt die Laufzeiten der Schallsignale zwischen allen SenderEmpfängerpunkten bestimmt werden. Dann wird aus diesen Laufzeiten unter zur Hilfenahme tomografischer Algorithmen die bestmögliche Verteilung der physikalischen Größen Temperatur und Strömung berechnet.

Bild 4-2 Verschiedene Schallsender und Empfänger bzw. Kombinaten (Schalllampe), die in Innenräumen eingesetzt wurden. Der Schallsender besteht aus zwei Lautsprechern, deren Schallsignale durch einen kugelförmigen Reflektor in den Raum gestreut werden [11]. Die Schallampe kombiniert diese Senderanordnung mit einem Mikrofon [9]. Ein separates Messmikrofon kann zur Aufnahme der Schallsignale verwendet werden.

4.2 Akustische Beobachtungen von Lufttemperaturschwankungen in einem klimatisierten Raum Die Lufttemperatur in klimatisierten Räumen wird häufig auf einen Wert (z.B. 19 °C, Bild 4-3) eingestellt. Durch den Betrieb von Technik in Raum entstehen aber von Ort zu Ort erhebliche Temperaturunterschiede. In dem hier gezeigten Beispiel ändert sich die aufgezeichnete Lufttemperatur im Rhythmus der Server-Aktivität. Die Änderungen der Raumtemperatur erreicht am Messort bis zu 5 K. Dieses Beispiel zeigt wie unterschiedlich die Raumtemperatur im Verlauf der Zeit sein kann. Ziel wäre es, den Regelbereich so einzustellen, dass er den Betrieb der Technik sicherstellt, aber die Kaltluftzufuhr minimiert, was Energie sparen würde.

132

Akustische Tomografie und Raumklimatisierung

Das Beispiel hier dient jedoch als Nachweis, dass die akustische Messtechnik als Basis für ein im Raum verteiltes tomografische Messverfahren vergleichbare Messwerte liefert wie herkömmliche Temperatursensoren (Testostor 171). Die akustische Messung registriert aufgrund des trägheitslosen akustischen Messverfahrens eine um bis zu 3 K höhere Schwankung der Lufttemperatur im Raum. Ein auf akustischen Messungen basierendes Regelsystem würde demnach eine größere Schwankungsbreite der Lufttemperatur im Raum registrieren und darauf reagieren.

Bild 4-3 Vergleich einer akustischen Lufttemperaturregistrierung mit vier konventionellen Temperaturmessgeräten (Testostor 171) in einem Serverraum. Die Lufttemperatur schwankt in der Nähe der Server auf der Strecke SR1-SR2 bis zu 5 K (A). Die konventionellen Sensoren registrieren träge und zeichnen eine Temperaturamplitude von etwa 3 K auf (T).

4.3 Raumtemperatur- und Raumströmungsverteilung – Darstellung mit akustischer Tomografie Exemplarisch wird hier ein Test eines akustischen tomografischen Messsystems in einem größeren Serverraum beschrieben. Ziel war es, die Lufttemperatur- und Luftströmungsverteilung in einer Fläche über den Serverschränken aufzuzeichnen. Die Verteilung der Schalllampen ist so ausgewählt, dass die Schallsignale möglichst alle Raumbereiche durchlaufen. Die Positionen (Bild 4-4, SR1 … SR8) werden vermessen und in einem für die tomografische Rekonstruktion verwendetem Gitter eingeordnet. Für Vergleichszwecke waren in diesem Beispiel noch sieben (T1 ... T7) Testostor 171 Sensoren in der Messfläche verteilt. Der Grundriss dieses Raums ist nicht quadratisch (15mx15m), sondern ein Teil des Raumes (grau) ist abgetrennt und nicht in die Klimatisierung einbezogen (Bild 44). Das bedeutet in dem Fall, dass mehrere Schallstrecken durch die Form des Raumes blockiert werden (zwischen SR1, SR2, SR3). Mit dieser Streckenreduzierung kommt das System zurecht. Das Messsystem misst nun mehrmals in der Minute die Schallgeschwindigkeiten auf allen Strecken zwischen den Sendern und Empfängern und berechnet für

4 Technische Umsetzung einer akustischen Tomographie

133

jede Zelle des tomografischen Gitters eine Raumlufttemperatur und eine Strömungsgeschwindigkeit. Hier in dem Beispiel ermittelt die tomografische Rekonstruktion bei jeder Messung für 56 Teilflächen eine Lufttemperatur und eine Strömungsgeschwindigkeit. Teilflächen, die nicht durch Schallwege berührt werden (z.B. Zelle 8 oder 51), werden plausibel mit Werten aus benachbarten Zellen ergänzt. Im Ergebnis hat man eine wesentlich detailliertere Aussage, die mit den sieben in der Fläche verteilten konventionellen Temperaturmessgeräten nicht erreichbar ist.

Bild 4-4 Akustische Messungen in einem Serverraum. Die Schall-Sender/EmpfängerKombinationen (Schalllampen Bild 4-2) werden an den Raumwänden angebracht. Die grünen Linien verdeutlichen die Schallausbreitungswege zwischen den Sender-Empfängerkombinationen (SR), die hier in einer Ebene über den Serverschränken angeordnet sind. Ein Teil des Raumes ist abgetrennt (dunkelgraue Fläche) und nicht in die Klimatisierung einbezogen. Die Gitterzellen zur tomografischen Rekonstruktion der Temperatur und Strömung werden durch Positionsnummern (1 … 56) identifiziert.

Bild 4-5 zeigt die in der Messfläche registrierten Unterschiede in der Raumluft über die Zeit der Messung hinweg. Zu bestimmten Zeiten werden in der Messfläche bis zu 4 K Temperaturunterschied beobachtet. Das akustische Verfahren liefert im Vergleich zu den konventionellen Sensoren übereinstimmende Werte (vgl. auch Bild 4-3). Parallel zu diesem Zeitverlauf bekommt der Beobachter auf einem Bildschirm die aktuellen Tomogramme für Lufttemperatur und Strömungsgeschwindigkeit präsentiert.

134

Akustische Tomografie und Raumklimatisierung

Bild 4-5 Der Rechner, der die Messung steuert, analysiert auch die aufgezeichneten akustischen Signale und stellt aktuelle Raumtemperatur- und Strömungsverteilungen bezogen auf die Messfläche dar. Im Verlauf der Messung wird im Bereich der Messfläche zeitweilig ein Temperaturunterschied bis zu 4 K registriert. Akustisches Messverfahren und konventionelle Sensoren zeichnen das gleiche Bild.

In Bild 4-6 sind für zwei Zeitpunkte die Tomogramme dargestellt. Man erkennt für den ersten Zeitpunkt (DT 4 K), dass die Raumtemperaturverteilung sehr inhomogen ist. Es gibt kältere und wärmere Raumbereiche, die später dann (Zeitpunkt DT 1 K) nicht beobachtet werden. Solche inhomogenen Temperaturverteilungen können Hinweise für die Regelung der Klimaanlage liefern. In den gezeigten Beispielen überschreitet die Strömungsgeschwindigkeit nicht den Betrag von 1 m/s. Für den Raumkomfort sind jedoch Hinweise auf Strömungsgeschwindigkeit oberhalb eines Wertes von 0,2 m/s von Interesse. Das Messverfahren liefert hier auch entsprechende Informationen. Generell werden durch das Messverfahren Lufttemperaturunterschiede von 0,3 K und Strömungsgeschwindigkeiten mehr als 0,2 m/s nachgewiesen.

5 Schluss

135

Bild 4-6 Beispiele für beobachte Raumtemperaturverteilungen (Abweichung in der Messfläche gegenüber dem Mittelwert) und Raumluftströmung zu zwei verschiedenen Zeitpunkten. Zum Zeitpunkt 04:10 (DT=4 K, Bild 4-5) gab es räumlich große Unterschiede. Wesentlich ausgeglichener stellte sich die Temperaturverteilung zum Zeitpunkt 10:30 dar (DT=1 K, Bild 4-5). Die beobachteten Strömungsgeschwindigkeiten sind in verschiedenen Messflächenteilen unterschiedlich, bleiben aber kleiner als 1 m/s.

5

Schluss

Das akustische tomografische Verfahren wurde am Institut für Meteorologie der Universität Leipzig im Rahmen mehrerer Projekte entwickelt. Gemeinsam mit verschieden Partnern (erwähnt sind hier RÖWAPLAN AG, Abtsgmünd, GED Gesellschaft für Elektronik und Design mbH, Ruppichteroth, STZ TAAN) wurde das oben beschriebene Messsystem für eine Installation in Innenräumen angepasst und als Möglichkeit zur Steuerung von Klimaanlagen getestet. Das Messsystem ist ein Unikat, was an jede neue Messsituation noch anzupassen ist. Zum Potenzial der Messmethode heißt es in [13]: Das beschriebene Verfahren stellt zu jedem Zeitpunkt Information bereit über die in einem Raum vorgefundenen Temperatur- und Strömungsverhältnisse. Erkennbar werden weniger gut klimatisierte Bereiche und eine mögliche Inhomogenität des Temperaturfeldes. Diese Informationen können in die Steuerung des Raumklimas einbezogen werden, was die Möglichkeit bietet, die für die Klimatisierung notwendigen Energieaufwendungen zu optimieren.

136

6

Akustische Tomografie und Raumklimatisierung

Literatur

[1]

Tetzlaff, G.; Arnold, K.; Raabe, A.; Ziemann, A.: Observations of area-averaged near-surface wind- und temperature-fields in real terrain using acoustic travel time tomography. Meteorol. Z., 11 (2002), S. 273-283.

[2]

Raabe, A.; Starke, M.; Ziemann, A.: Acoustic Tomography to detect temperature and wind-fields within the atmospheric boundary layer. In: Foken, Th. (ed.): Springer Handbook of Atmospheric Measurements. Kap. 33, (im Druck).

[3]

Holstein, P.; Raabe, A.; Bader, N.; Tharandt, A.; Barth, M.; Münch, H.-J.: Energetische Probleme und akustische Verfahren. In: Weller, B.; Horn, S. (Hrsg.): Denkmal und Energie 2017 – Energieeffizienz, Nachhaltigkeit und Nutzerkomfort. Wiesbaden, Springer Vieweg, 2016, S.189-199.

[4]

Barth, M.; Raabe, A.: Acoustic tomographic imaging of temperature and flow fields in air. Meas. Sci. Technol., 22 (2011), S. 1-13.

[5]

Ziemann, A.; Starke, M.; Schütze, C.: Line-averaging measurement methods to estimate the gap in the CO2 balance closure – possibilities, challenges, and uncertainties. Atmos. Meas. Tech., 10 (2017) S. 4165-4190.

[6]

Ostashev, V.E.; Vecherin, S.N.; Wilson, D.K.; Ziemann, A.; Goedecke, G.H.: Recent progress in acoustic travel-time tomography of the atmospheric surface layer. Meteorologische Zeitschrift, 18 (2009), S.125-133.

[7]

Fischer, G.; Barth, M.; Ziemann, A.: Acoustic Tomography of the Atmosphere: Comparison of Different Reconstruction Algorithms. Acta Acustica united with Acustica, 98 (2012), S. 534-545.

[8]

Barth, M., Raabe, A., Arnold, K., Resagk, C., Du Puits, R.: Flow field detection using acoustic travel time tomography. Meteorologische Zeitschrift, 16 (2007), S. 443-450.

[9]

SenDiServ: ZIM-Projekt RÖWAPLAN AG (KF2984401DF2), GED Gesellschaft für Elektronik und Design mbH (KF2468503DF2), LIM Universität Leipzig (KF2709802DF2): Sensormodul und Dispatcher-System zur intelligenten und autonomen Überwachung von Umgebungsbedingungen in Rechenzentren und Serverräumen. Abschlussbericht 2014.

[10]

Bleisteiner, M.; Barth, M.; Raabe, A.: Tomographic reconstruction of indoor spatial temperature distributions using room impulse responses. Meas. Sci. Technol., 27 (2016).

[11]

Barth, M.: Akustische Tomographie zur zeitgleichen Erfassung von Temperaturund Strömungsfeldern. Diss. LIM Univ. Leipzig. In: Wiss. Mitteil. Inst .f. Meteorol., Bd. 44, 178 S., 2009.

6 Literatur

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[12]

Holstein,P., Raabe, A., Müller, R., Barth, M., Mackenzie, D., Starke, E.: Acoustic tomography on the basis of travel-time measurement. Meas. Sci. Technol. 15 (2004), S.1420-1428.

[13]

Raabe, A., Barth, M., Holstein, P., 2014: Akustische Tomografie und Raumklimatisierung. Journal Scientific Reports, Journal of the University of Applied Sciences Mittweida, 5 (2014), S. 42-43.

UV- und Infrarot-Schutz mit mundgeblasenem Flachglas – Die moderne Weiterentwicklung eines historischen Materials Michael Brückner1 Glashütte Lamberts Waldsassen GmbH, Schützenstraße 1, 95652 Waldsassen, Deutschland Der Artikel behandelt das Thema Lichtschutz als essenzieller Bestandteil in der präventiven Konservierung von Kulturgütern vor dem Hintergrund einer kontinuierlich beschleunigten Erderwärmung und einer damit verbundenen intensivierten Sonneneinstrahlung. Er gibt einen Einblick in bestehende Möglichkeiten Lichtschutz umzusetzen und rückt dabei einen traditionellen Werkstoff in den Vordergrund, welcher in modern weiterentwickelter Form sowohl einen zeitlich unbegrenzten Lichtschutz als auch ein historisch adäquates Erscheinungsbild gewährleisten kann. Neben Erläuterungen zur Herstellungstechnik wird auf die Wirkungsweise eingegangen sowie Anwendungsmöglichkeiten anhand ausgewählter Praxisbeispiele vorgestellt. Schlagwörter: dauerhafter Lichtschutz, UV-Filterglas, Infrarot-Schutzglas, präventive Konservierung, traditionelle Flachglasherstellung, Restaurierungsglas

1

Bedeutung von Lichtschutz im Kulturgutschutz

Durch den weltweiten Anstieg umweltschädlicher Emissionen und eine damit verbundene kontinuierlich beschleunigte Erderwärmung begleitet von immer heißeren Sommern und einer intensiveren Sonneneinstrahlung kommt dem Thema Lichtschutz in der präventiven Konservierung eine immer größere Bedeutung zu. Der durch die Klimaveränderung intensivierte Einfluss des Sonnenlichts auf den Menschen spiegelt sich auch im Umgang mit sensiblen Materialien wertvoller Kunst- und Kulturgüter wider. Besonders der ultraviolette und infrarote Spektralbereich steht dabei im Fokus von Denkmalpflegern und Konservatoren. Dabei gilt, je kürzer die Wellenlänge, desto energiereicher und desto größer ist die Schadwirkung. Bei ungeschützter Exposition empfindlicher Objekte im Tageslicht lassen UV-Strahlen organische Farbstoffe ausbleichen und zerstören die Struktur von Bindemitteln und Lackschichten. Infrarote Strahlen führen aufgrund ihrer thermischen Wirkung zu Austrocknung und beschleunigter Alterung. Ein ständiger Temperaturwechsel auf der Objektoberfläche und damit einhergehende Ausdehnungs- und Kontraktionsbewegungen provozieren zudem auf Dauer Spannungen und Risse, die bei Malschichten zu Abplatzungen und damit zu einem unwiederbringlichen Verlust führen. Der Strahlungseintrag in Innenräume erfolgt primär durch die Fensteröffnungen und stellt Konservatoren im musealen, sakralen und profanen Bereich vor die Aufgabe, diesen durch adäquate Lichtschutzmaterialien zu minimieren.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_10

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UV- und Infrarot-Schutz mit mundgeblasenem Flachglas

Bild 1-1 Colditz, Schlosskapelle: Malschichtschäden durch ungehinderten Lichteinfall. Direkter Sonneneinstrahlung ausgesetzte Bereiche sind dabei besonders betroffen, (Fotos: Thomas Löther, IDK).

2

Gängige Lichtschutzmaterialien und deren Grenzen

Bisher bedient man sich in der präventiven Konservierung verschiedener Lösungsansätze. Anwendung finden hierbei sowohl vor die Fenster gespannte Spezialgewebe und vollverdunkelnde Vorhänge als auch Beschichtungen oder Folien auf dem Fensterglas. Allen gemeinsam jedoch ist eine glasexterne Wirkungsweise, die entweder mit baulichen Veränderungen am Fenster oder mit einer begrenzten Dauerhaftigkeit des Lichtschutzmaterials einhergeht. Eine Verschattung oder Vollverdunklung verändert den Raumeindruck und die Lichtverhältnisse. Der Blick nach draußen wird dabei gestört und der Bezug des Innenraums zu seiner baulichen Umgebung geht verloren. Notwendig werdendes Kunstlicht und die Frage nach dessen Eigenfarbigkeit und Abwärme provoziert zudem neue konservatorische Probleme.

3 Spezielles Fensterglas mit zeitlich unbegrenzter Lichtschutzwirkung

141

Bei Lichtschutzfolien stellt sich im Allgemeinen die Frage nach der Dauerhaftigkeit, da sie sich als organisches Material durch Sonnenlicht selbst verändern und damit ihre UVbzw. IR-Schutzwirkung mit der Zeit unkontrollierbar nachlässt. Bei selbstklebenden Folien kommt hinzu, dass durch Alterung oder atmosphärische Einflüsse ihre Adhäsionskraft verloren geht und infolge dessen Ablöseerscheinungen auftreten können. Im Falle von mit Lichtschutzfolien ausgestatteten Verbundgläsern erhöht sich aufgrund des doppelten Scheibenpakets sowohl das Gewicht der Verglasung als auch deren Dicke. Veränderungen am Fensterfalz oder eine Verstärkung der Sprossen und Beschläge sind dabei häufig unumgängliche Maßnahmen, welche vielfach einen nicht unerheblichen Eingriff in die originale Bausubstanz bedeuten. Gleiches gilt beim Einsatz von Isoliergläsern, die notwendig werden, wenn mit metallischen Beschichtungen auf dem Glas gearbeitet wird. Bei Bleiverglasungen lässt sich Lichtschutz mit Beschichtungen oder Folien nicht oder nur schwerlich realisieren. 3

Spezielles Fensterglas mit zeitlich unbegrenzter Lichtschutzwirkung

Agiert das Fensterglas allerdings selbst als Filter für UV- bzw. Infrarotstrahlen, ließen sich die negativen Begleiterscheinungen der vorgenannten Lichtschutzmaterialien vermeiden. Das Prinzip eines glasimmanenten Lichtschutzes bildet die Grundlage für zwei Spezialgläser, die von der Glashütte Lamberts in Waldsassen entwickelt wurden.

Bild 3-1 Ofenhalle einer der letzten Glashütten weltweit, die Flachglas noch im Mundblasverfahren herstellt, (Foto: Glashütte Lamberts).

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UV- und Infrarot-Schutz mit mundgeblasenem Flachglas

Spezielle metallische Komponenten in der Glasschmelze und die besondere Herstellungstechnik im Mundblasverfahren ermöglichen es, durch flexible Einflussnahme auf den Produktionsprozess Einfachglasscheiben mit integriertem UV- bzw. Infrarotschutz zu erzeugen. Angeboten unter den Namen restauro®UV und restauro®IR verstehen sich die beiden Schutzgläser als Weiterentwicklung traditionell gefertigter mundgeblasener Fenstergläser. Die Fertigung mundgeblasener Flachgläser gilt als die älteste Technik, Fensterglas mit beidseitig feuerpolierten Oberflächen zu erzeugen und erfolgt noch immer rein handwerklich. Seit dem Mittelalter hat sich die Produktionsweise und das optische Erscheinungsbild der Gläser kaum verändert. Glasmacher nehmen die zähflüssige Glasmasse aus dem Schmelzofen auf die Glasmacherpfeife auf und formen das heiße Glas durch gleichzeitiges Drehen und Blasen zunächst zu einem länglichen Glasballon. Beidseitig aufgeschnitten ergibt sich ein hohler Glaszylinder, weswegen diese Glassorte auch Zylinderglas genannt wird. Dieser Zylinder wird im abgekühlten Zustand längs aufgeschnitten und erneut erhitzt, sodass er geöffnet und zu einer flachen Glastafel gestreckt werden kann. Die Herstellung mundgeblasener Fenstergläser war bis in die 1920er Jahre weltweit verbreitet. Heute wird diese Handwerkstechnik nur noch von wenigen Manufakturen in Europa beherrscht.

Bild 3-2 Der Glasmacher formt den länglichen Glasballon in der Schwenkgrube, (Foto: Glashütte Lamberts)

4 Erscheinungsbild und Wirkungsweise

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Bild 3-3 Aufnahme der zähflüssigen Glasmasse auf die Glasmacherpfeife (rechts) und Auseinanderfalten und Glätten des zuvor aufgeschnittenen Zylinders (links), (Fotos: Glashütte Lamberts).

4

Erscheinungsbild und Wirkungsweise

Wie alle im Mundblasverfahren hergestellten Glastafeln zeichnen sich die beiden oben genannten Spezialgläser durch eine typische, leicht bewegte Oberfläche mit zarten Schlieren und vereinzelten Bläschen aus. Sie entsprechen damit dem Erscheinungsbild historischer Fenstergläser und fügen sich damit nicht nur optisch adäquat in die historische Bausubstanz. Aufgrund der speziellen Glasstruktur mit integrierter UV- bzw. Infrarotfilterwirkung garantieren die Spezialgläser als rein anorganisches Material einen zeitlich unbegrenzten und damit nachhaltigen Lichtschutz. Als Einfachglas mit einer Gesamtglasstärke von nur ca. 2-3 mm lassen sich die Gläser zudem substanzschonend ohne zusätzliche bauliche Veränderungen in schmale Glasfalze historischer Fenster einbauen und problemlos zu Bleiverglasungen verarbeiten. Der Fakt, dass bestimmte in die Glasschmelze eingebrachte metallische Inhaltsstoffe in der fertigen Flachglastafel Lichtschutz hervorrufen, trifft für die beiden Spezialgläser gleichermaßen zu. Sowohl in ihrer Wirkungsweise als auch ihrer Färbung unterscheiden sich restauro®UV und restauro®IR jedoch deutlich voneinander.

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UV- und Infrarot-Schutz mit mundgeblasenem Flachglas

Bild 4-1 Schematische Darstellung der Lichttransmission von restauro®UV im Vergleich zu Floatglas ohne UV-Schutz.

Bild 4-2 Schematische Darstellung von restauro®IR im Vergleich zu Floatglas ohne InfrarotSchutz. Die grau hinterlegte Fläche zwischen den Graphen umschreibt den Toleranzbereich der Lichttransmission dünnerer und dickerer Glasproben.

5 Infrarotschutzglas im Sakralbereich (Kirche St. Nikolaus, Wolfsbach/Bayern)

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Bei restauro®UV handelt es sich um ein Filterglas, welches den Lichtdurchlass im Spektralbereich bis 380 nm hindert. Die schädigende UV-Strahlung wird damit gerade soweit ausgegrenzt, dass das angrenzende für den Menschen sichtbare violette Licht möglichst unberührt bleibt und der wahrnehmbare Farbeindruck im Innenraum nicht verfälscht wird. Da eine saubere Trennung beider ineinander übergehender Farbbereiche nicht möglich ist, ergibt sich eine leichte Gelbtönung im Glas. Hergestellt wird restauro®UV als klassisches Überfangglas, bei dem zwei unterschiedliche Glassorten und in diesem Fall ein UV-Filterglas als mehr oder weniger dünne Schicht mit einem klaren Trägerglas innerhalb einer Glastafel kombiniert werden. Bei restauro®IR hingegen handelt es sich um ein Absorptionsglas, welches den Durchlass infraroter Strahlen (Wärmestrahlen) im Spektralbereich von 780-1500 nm um bis zu 80 % senkt. Im Gegensatz zu restauro®UV, bei dem die Filterwirkung nur in gewissem Maße von der Glasdicke abhängt, nimmt die Infrarotschutzwirkung mit steigender Materialstärke zu. Das mundgeblasene Infrarotschutzglas wird daher als massives Glas hergestellt und erscheint in seiner Farbtönung leicht bläulich. 5

Infrarotschutzglas im Sakralbereich (Kirche St. Nikolaus, Wolfsbach/Bayern)

Infrarotschutz wird im Denkmal meist dann notwendig, wenn sich Kunstwerke unmittelbar neben Fenstern befinden und vom Sonnenlicht direkt beschienen werden. Im sakralen Bereich betrifft dies sehr häufig gefasste Holzobjekte. Um punktuelle Aufheizungen zu vermindern und den Fortgang bereits entstandener Malschichtschäden einzudämmen, kam im Falle des Barockaltars in der Kirche St. Nikolaus in Wolfsbach/Bayern mundgeblasenes Infrarotschutzglas zum Einsatz. Dabei wurde die Bestandsverglasung des angrenzenden Fensters ausgetauscht und das einfache Fensterglas ohne Lichtschutzfunktion durch eine Waben-Bleiverglasung mit Infrarotfilterwirkung ersetzt.

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UV- und Infrarot-Schutz mit mundgeblasenem Flachglas

Bild 5-1 Kirche St. Nikolaus in Wolfsbach/Bayern; Schutz des barocken Altars aus dem 18. Jh. mit restauro®IR, (Foto: Johann Schober, Kath. Pfarrei Adlkofen).

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UV-Schutzglas im profanen Baudenkmal (Brentanohaus, OestrichWinkel)

Zu den besonders lichtempfindlichen Materialien zählen Textilen und Papier. In Form von Teppichen, Vorhängen, Wandbespannungen und Tapeten sind sie als Teil historischer Raumausstattungen häufig im profanen Bereich anzutreffen. Besonders die niedrigen und damit energiereichen Wellenlängenbereiche des Tageslichts führen bei ungeschützter Exposition zu teils gravierenden Materialveränderungen. Am Beispiel des Brentanohauses in Oestrich-Winkel (Rheingau) mit seinem Interieur aus dem frühen 19. Jh. hat der ungehinderte Lichteinfluss über die Jahre zu deutlichen Farbveränderungen geführt, sodass aus konservatorischer Sicht eine Ausgrenzung kurzwelliger Licht-

7 Außenschutzverglasung mit UV-Filterwirkung (York Minster, England)

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strahlen unumgänglich wurde. Gleichzeitig sollten jedoch das Tageslicht und der Sichtbezug des Innenraums zur umgebenden Landschaft beibehalten werden. Ebenfalls hatte der Erhalt der noch aus dieser Bauphase stammenden Einfachfenster mit Holzsprossenteilung oberste Priorität und verbot jegliche Veränderung an Glasfalz und Flügel. Aufgrund seiner UV-Filterfunktion und des hohen Durchlassgrades an sichtbarem Licht einerseits und der dem bauzeitlichen Glas entsprechenden Glasstärke und Oberflächenhaptik andererseits entsprach das mundgeblasene UV-Schutzglas den objektspezifischen Anforderungen.

Bild 6-1 Großer Salon, Brentanohaus, Oestrich-Winkel (Rheingau); Schutz des originalen Interieurs aus der Zeit des frühen 19. Jh. vor UV-Strahlung mit restauro®UV in den historischen Sprossenfenstern, (Foto: Glashütte Lamberts).

7

Außenschutzverglasung mit UV-Filterwirkung (York Minster, England)

Häufig können auch Verglasungen selbst denkmalpflegerisch wertvoll und schützenswert sein, insbesondere dann, wenn es sich um bauzeitliche Fenstergläser oder bleigefasste Glasmalereien handelt. Zum Schutz der Gläser vor mechanischen und atmosphärischen Einflüssen von außen sind Außenschutzverglasungen in der präventiven Konservierung schon längst gängige Praxis und kommen vor allem im sakralen Bereich bei historischen Bleiverglasungen zur Anwendung. Die historischen Glasfelder werden dabei einige Zentimeter in den Innenraum gerückt und an deren ursprüngliche Stelle tritt eine neu ange-

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UV- und Infrarot-Schutz mit mundgeblasenem Flachglas

fertigte Verglasung. Meist handelt es sich dabei um der Größe der Bleiglasfelder entsprechende Rechteckscheiben oder wie im Falle des Great East Window in der Kathedrale von York (England) um Bleiverglasungen, die die Bleilinien der originalen mittelalterlichen Glasmalereien in vereinfachter Form aufgreifen.

Bild 7-1 York Minster (England), Außenschutzverglasung des Great East Window mit restauro®UV als Bleiverglasung, (Foto: Glashütte Lamberts).

Bei dieser speziellen Außenschutzverglasung spielte neben der rein mechanischen Schutzfunktion zusätzlich auch Lichtschutz eine entscheidende Rolle. Das mit über 300 Einzelfeldern größte Werk mittelalterlicher Glasmalereikunst in England wurde über mehrere Jahre aufwändig restauriert und dabei Glasbrüche und Malschichten mit organischen Konsolidierungsmitteln gesichert. Während Farbglas im Tageslicht weitestgehend stabil ist, wirkt sich besonders der ultraviolette Lichtanteil negativ auf die Dauerhaftigkeit der Klebe- und Festigungsmaterialien aus. Ein beschleunigter Alterungsprozess sowie Vergilbung und Versprödung sind die Folgen, welche es galt, im Sinne einer nachhaltig durchgeführten Konservierungsmaßnahme mit einem geeigneten Lichtschutzmaterial zu

8 Fazit

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verlangsamen. Um zudem die authentische Außenansicht der bleiverglasten Fenster zu bewahren und nicht durch eine Schutzverglasung aus planen Oberflächen zu entstellen, empfahl sich die Verwendung des mundgeblasenen UV-Schutzglases. Aufgrund dessen einfacher Verarbeitbarkeit zu Bleiverglasungen in Kombination mit der typischen, leicht bewegten Oberfläche ließ sich der geforderte dauerhafte Lichtschutz mit dem Anspruch an ein historisch adäquates Erscheinungsbild gleichermaßen erfüllen. 8

Fazit

Mit restauro®UV und restauro®IR stehen der modernen Denkmalpflege zwei Spezialgläser zur Verfügung, in welchen sich die Erfahrung einer viele Jahrhunderte alten Handwerkstechnik und das technische Know-How der Gegenwart widerspiegeln. Das Wissen um das Hervorrufen von UV- bzw. IR-Schutz innerhalb der Glasmasse integriert in einen traditionellen Werkstoff ermöglicht es, wertvolle Kulturgüter vor einer zunehmend intensivierten Sonneneinstrahlung minimalinvasiv, optisch dezent und historisch adäquat zu schützen. Aufgrund seiner Beständigkeit gegenüber atmosphärischen Einflüssen und der zeitlich unbegrenzten Filterwirkung treten die Spezialgläser zudem als nachhaltiges Material der allgemeinen Tendenz kurzlebiger Produkte und somit der Kultur des Wegwerfens entschieden entgegen.

Das neue Dach – brand- und klimawandelsicher mit GUTEX Pyroresist® Dipl.-Ing. Walter Leo Meyer1 1 Ingenieurbüro für Holzsystembau, von-Loe-Str. 55, D-53639 Königswinter, Deutschland / und technischer Berater der Fa. GUTEX Holzfaserplattenwerk H. Henselmann GmbH & Co. KG, Gutenburg 5, D-79761 Waldshut-Tiengen Der verheerende Brand von Notre-Dame in Paris hat vor Augen geführt, was passieren kann, wenn mehr oder weniger ungeschützte Dachkonstruktionen unkontrollierten äußeren Brandquellen ausgesetzt sind. Weitere schlimme Bilder über zerstörte Dächer bedingt durch klimawandelbedingte Extremwetterlagen zeigen, dass Extremlasten aus Hitze, Sturm und Starkregen an Häufigkeit und Intensität unerbittlich zunehmen und das auch an Standorten, wo damit bisher kaum zu rechnen war. Die Neuentwicklung „GUTEX Pyroresist®“, eine als schwerentflammbar eingestufte Holzfaserdämmplatte, eröffnet neue Möglichkeiten zur Ertüchtigung des Daches. Auch bei Beaufschlagung mit hohen Brandlasten entflammt sie sehr schwer, verlöscht sofort von selbst und weist kein Glimmen auf, einzigartig für eine Holzfaserdämmplatte. Typisch für eine Holzfaserdämmplatte optimiert sie zudem Dachkonstruktionen auch im Hinblick auf die wesentlichen klimawandelbedingten Einflussfaktoren. Dieser Beitrag zeigt auf, wie zeitgemäße Dachkonstruktionen auszuführen sind, um in sämtlichen bauphysikalischen Disziplinen – Brandschutz, Schallschutz, winterlicher/sommerlicher Wärmeschutz und Feuchteschutz – optimale Ergebnisse zu erlangen.

Bild 0-1 Notre-Dame in Flammen, (Foto: Frankfurter Rundschau). Schlagwörter: Dach, Holzfaser, Brandschutz, Wärmeschutz, diffusionsoffen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_11

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Das neue Dach – brand- und klimawandelsicher mit GUTEX Pyroresist®

Das Bauteil Dach – unterschätzt und vernachlässigt

Das Bauteil Dach spielte bis in die jüngste Neuzeit eine nur untergeordnete Rolle. Nach dem Motto „Hauptsache ein Dach über dem Kopf“ wurden Dächer so konzipiert und ausgeführt, dass sie die darunter befindlichen Gebäude mehr schlecht als recht gegen die Unbilden der Natur – Hitze, Kälte, Regen, Schnee, Wind und Sonne –schützten. Die Konstruktionen waren in der Regel entsprechend einfach ausgeführt: relativ schwach dimensionierte Traghölzer, keine Auf- und Zwischendämmung und mehr oder weniger einfache Fixierungen der Dachdeckung. Die Anpassung an die Klimabedingungen erschöpften sich meist auf eine statische Auslegung nach einer normativ vorgegebenen Lastenberechnung. Berücksichtigung fanden dabei standortbezogene Besonderheiten: wenig Dachüberstand in wind- und sturmreichen Regionen (z.B. Eifel), hoher Dachüberstand in Gebieten mit hohen Schneelasten (z.B. Allgäu). Doch die Zeiten haben sich geändert. Andere Nutzungs- und Wohnbedingungen, ein erhöhtes Gesundheitsschutz- und Sicherheitsbedürfnis in der Gesellschaft und nicht zuletzt die durch den Klimawandel verursachten Extremnaturereignisse verlangen nach mehr. Gut bedacht heißt heute: viel mehr tun als früher.

Bild 1-1 Die Ruhe nach dem Sturm, (Foto: MOZ.de).

2 Gut bedacht: Schutz gegen hohe statische Lasten

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Insbesondere der Klimawandel sorgt dafür, dass sich die Grenzen verschieben. Wenn es in Griechenland schneit, wenn an der Nordsee über viele Tage Hitzewellen deutlich über 30 °C zur Regel werden und wenn es an Orten fast jährlich wiederkehrend Starkregen gibt, an denen es früher vielleicht einmal im Jahrhundert ein solches Extremnaturereignis gab, dann sollte das Folgen für die Auslegung der Gebäude haben. Konkret ausgedrückt heißt das: Wenn sich die Grenzen der einwirkenden Lasten verschieben, müssen sich zwangsläufig die Sicherheitsreserven der Dachkonstruktionen adäquat verschieben. Eine Zerstörung des Gebäudes oder weiterer Teile eines Gebäudes sollte unter Berücksichtigung einer angemessenen Eintrittswahrscheinlichkeit von Extremlasten – bezogen auf den jeweiligen Standort des Gebäudes – weitgehend ausgeschlossen werden können. 2

Gut bedacht: Schutz gegen hohe statische Lasten

2.1 Anforderungen Dachkonstruktionen haben gegenüber früher immer höhere Lasten zu tragen. Das gilt sowohl mit Blick auf die ständigen Lasten (Eigenlasten) der Konstruktion als auch auf die einwirkenden Kräfte (dynamische Lasten): Dachkonstruktionen werden zunehmend mit Solaranlagen – Photovoltaik und Solarthermie – ausgestattet. Diese weisen je nach Ausführung in der Regel ca. 10-20 kg/m² an Flächengewicht auf. Weitere Aufbauten in Form von Gauben, kleineren Windkraftanlagen etc. erhöhen die Eigenlasten zusätzlich. Dachräume werden außerdem vermehrt genutzt, häufig als Schlaf- und Kinderzimmer. Dies erfordert einen bauphysikalisch Komplettaufbau als vollausgedämmte und mindestens innenseitig beplankte/bekleidete Konstruktion. Der deutlich aufgestockte Materialeinsatz erhöht das Eigengewicht der Dachkonstruktion zum Teil erheblich. Auch wenn die durchschnittlichen Wind- und Schneelasten möglichweise nicht gestiegen sind, so nimmt doch die Zahl der Extremwetterlagen spürbar zu. Wie in Kapitel 1 dargelegt, empfiehlt sich daher, die Sicherheitsreserven mit Blick auf die klimawandelbedingten Extreme zu erhöhen, um einem frühzeitigen Bauteilversagen vorzubeugen. 2.2 Konstruktive Lösungen Um den genannten erhöhten Anforderungen Rechnung zu tragen, ist ein Bündel an Maßnahmen zu schnüren, mit denen die Dachkonstruktionen auf die „neuzeitlichen“ bzw. zukünftig sich abzeichnenden Belastungssituationen angepasst werden. Die Sparrenquerschnitte sind ggf. zu erhöhen, insbesondere die Sparrenbreite (Sparrenhöhe). Da eine gewisse Mindesthöhe erforderlich ist, um den geforderten Wärmeschutz zu erfüllen, ist im Regelfall eine ausreichende Sparrenbreite gegeben. Mit einer Verringerung der Sparren-Achsabstände und/oder der Sparren-Stützweiten lassen sich ebenfalls deutliche Verbesserungen der Tragfähigkeit erzielen.

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Das neue Dach – brand- und klimawandelsicher mit GUTEX Pyroresist®

Die Dachkonstruktion ist durch verstärkende bzw. zusätzliche aussteifende Maßnahmen wie Gefachstreben, Windrispenbänder oder Beplankungen mit Plattenwerkstoffen in horizontaler Ebene (Dachebene) zu versteifen; sie ist als möglich steife Scheibe auszuführen, um keine unzulässigen Verformungen in der horizontalen Ebene zu ermöglichen. Die Befestigungen der Dachkonstruktion in den Anschlussbereichen Traufe, Ortgang und First sind angemessen aufzurüsten. Die Dacheindeckung kann mittels spezieller Einhang- oder Einschlag-Sturmklammern gesichert werden, um auch bei extremen Windlasten ein Abdecken der Eindeckung ausschließen zu können.

Bild 2-1 Montage einer Einhängeklammer, (Foto: Fa. CREATON).

3

Gut bedacht: Schutz gegen Kälte und Hitze

3.1 Anforderungen Die Ansprüche an die Wärmeschutzqualität einer Dachkonstruktion haben erheblich zugenommen. Dies hängt damit zusammen, dass eine Reihe sich verstärkender Trends und Entwicklungen einwirken: – Durch die zunehmende Nutzung der Dachräume als Wohnraum ist es im Sinne eines angemessenen Wohnkomforts unumgänglich, dass die Dachkonstruktion grundsätzlich gegen das Eindringen von Kälte und Hitze ausreichend geschützt wird. – Der Klimawandel mit seiner deutlichen Zunahme an Hitzetagen forciert das Bedürfnis nach Konstruktionen mit einer hohen Qualität an ganzjährigem Hitzeschutz; nicht zuletzt auch deshalb, weil die Bereitstellung von Kühlenergie besonders aufwändig und teuer ist.

3 Gut bedacht: Schutz gegen Kälte und Hitze

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– U. a. als Folge des Klimawandels mehren sich die politischen Vorgaben zur Energieeinsparung und damit auch zum baulichen Wärmeschutz. – Die hohen Kosten für Bauen und Wohnen und die immer wieder mal hochschnellenden Kosten für Energie sensibilisieren den Blick auf die Energiekosten eines Gebäudes. Das gilt sowohl für die Heiz- als auch für die Kühlenergie. – Die Bedeutung des sog. Energiepasses für den Wert einer Immobile nimmt stetig zu und wirkt hier als Verstärker. 3.2 Konstruktive Lösungen Die konstruktiven Lösungsmöglichkeiten sind sehr vielfältig. Das gilt sowohl für die Verbesserung des winterlichen Wärmeschutzes als auch des ganzjährigen Hitzeschutzes.

Bild 3-1 Dämmmaßnahmen in drei Bauteilebenen, (Quelle: Fa. GUTEX).

Winterlicher Wärmeschutz Ein guter winterlicher Wärmeschutz setzt voraus, dass der Wärmedurchlasswiderstand der Dachkonstruktion auf ein hohes Niveau gehoben wird, sprich: man durch entsprechende Dämmmaßnahmen einen niedrigen U-Wert des Bauteils erzielt. Dämmmaßnahmen können in drei Bauteilebenen erfolgen, die zudem sinnvoll miteinander kombinierbar sind.

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Das neue Dach – brand- und klimawandelsicher mit GUTEX Pyroresist®

1. Besonders wirksam ist eine sog. Aufdämmung oberhalb der Sparrenkonstruktion. Sie überdämmt die Wärmebrücken „Holzsparren“. Zudem ist eine außenliegende Dämmung die bauphysikalisch sicherste Variante, da sich der Taupunkt nach außen verlagert. 2. Die Sparrengefache werden voll ausgedämmt; das Dach wird als sog. Warmdachkonstruktion ausgeführt. 3. Unterhalb der Sparren wird eine zusätzliche Dämmebene vorgesehen, häufig ausgeführt als Installationsebene. Ganzjähriger Hitzeschutz Ein guter ganzjähriger Hitzeschutz ist nur gegeben, wenn sowohl bei den transparenten als auch bei den opaken Flächenteilen eines Daches angesetzt wird. An allererster Stelle steht die weitgehende Vermeidung transparenter Flächen, da diese das mehr oder weniger ungehinderte Endringen der solaren Einstrahlung ermöglichen. Sofern transparente Flächen vorhanden sind, sind diese wirksam zu verschatten. Eine wirksame Verschattung ist insbesondere dann gegeben, wenn die Verschattung außen platziert ist und die Regelung der Verschattung möglichst automatisch erfolgen kann. Die opaken Bauteile sind hochgedämmt auszuführen. Besonders wirksam sind hochgedämmte Bauteile, in die möglichst viel Masse verbaut ist und deren Materialen eine hohe materialspezifische Wärmespeicherfähigkeit aufweisen. Dies ist die Paradedisziplin der Holzfaserdämmplatte: Holz als Rohstoff mit einer hohen materialspezifischen Wärmespeicherfähigkeit und einer relativ hohen Masse sowie einem hohen Wärmedurchlasswiderstand (niedriger Wärmeleitwert).

Bild 3-2 Außenverschattung Dachflächenfenster, (Foto: Fa. ROTO).

4 Gut bedacht: Schutz gegen Feuchteeintrag

4

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Gut bedacht: Schutz gegen Feuchteeintrag

4.1 Anforderungen Auch bezogen auf die Feuchteschutzqualität einer Dachkonstruktion sind die neuzeitlichen Ansprüche gestiegen, weil eine Reihe sich verstärkender Trends und Entwicklungen einwirken: – Die bereits mehrfach angesprochene zunehmende Nutzung der Dachräume als Wohnraum hat dazu geführt, dass die Dachkonstruktionen im Gegensatz zu früher komplex aufgebaut und geschlossen sind. Ein Eindringen von Feuchte führt heutzutage zu ungleich höheren Bauschäden als früher. – Der Klimawandel sorgt seit Jahren für eine deutliche Zunahme an Starkregenereignissen. Vor allem in Verbindung mit Sturm können übliche Dacheindeckungen überfordert sein. Die Folge: Es kommt unterhalb der Dacheindeckung zu einem erhöhten Feuchteeintrag in die Konstruktion in Form von Hagel und/oder Regen. – Aus wohngesundheitlichen und Umweltschutzgründen ist der chemische Holzschutz vollständig aus dem Wohnraum verbannt worden. Das setzt vor allem voraus, dass die Konstruktionen dauerhaft sicher gegen Feuchteintrag sind, da ansonsten Schimmelbefall droht. 4.2 Konstruktive Lösungen Nach dem bekannten Prinzip „Hosenträger plus Gürtel“ liegt die Lösung darin, unterhalb der Dacheindeckung (Dachsteine, Dachziegel o.ä.) eine zweite wasserableitende Schicht vorzusehen. Diese ist so auszuführen, dass sie dauerhaft eine sichere Ableitung der eindringenden Feuchte gewährleistet, wenn die Dacheindeckung selbst nicht ausreichen bzw. versagen oder zerstört werden sollte. Die zweite wasserableitende Schicht wird oberhalb der Dachsparren angeordnet. Sie besteht idealerweise aus einer vollflächig geschlossenen Lage druckfester und hydrophob eingestellter Dämmplatten, die über eine dicht schließende Profilverbindung miteinander verbunden sind und damit eine flächendeckende Dichtigkeit gegen Feuchteeintrag aufweisen.

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Das neue Dach – brand- und klimawandelsicher mit GUTEX Pyroresist®

Bild 4-1 Vollflächig geschlossene Unterdeckung, (Foto: Fa. GUTEX).

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Gut bedacht: Schutz gegen Feuer

5.1 Anforderungen Dass der Schutz gegen Feuer bei neuzeitlichen Dachkonstruktionen eine größere Rolle spielen muss, ist ebenfalls der Tatsache geschuldet, dass eine Reihe sich verstärkender Trends und Entwicklungen einwirken: – Die bereits mehrfach angesprochene zunehmende Nutzung der Dachräume als Wohnraum bedingt, dass unmittelbar unter der Dachhaut Leib und Leben sowie Sachwerte eines Schutzes bedürfen. – Die verdichtete Bauweise führt dazu, dass zunehmend Dachräume entstehen, die bei vielen Bewohnern das Bedürfnis wecken, das brandschutztechnische Sicherheitsniveau der Dachkonstruktion anzuheben. So ist der Grenzabstand zu Nachbargebäuden nicht selten derart gering, dass ein Brandüberschlag aus diesen – also von außen – nicht ausgeschlossen werden kann. Erfolgt die Verdichtung in Form von Dachaufstockungen in die Höhe hat das unweigerlich zur Folge, dass sich die Dachräume zunehmend in „kritischen“ Gebäudehöhen befinden können. Neuere statistische Auswertungen der Feuerwehren zeigen, dass Brände in Dachkonstruktionen häufig über Brandweiterleitungen aus hinterlüfteten Fassaden verursacht werden: Der Brandherd befindet sich in der Nähe der Fassade, entzündet diese, breitet sich in der Hinterlüftungsebene nach oben aus (Kaminsog-Effekt) und kann ggf. von außen in die Dachkonstruktion eindringen.

5 Gut bedacht: Schutz gegen Feuer

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5.2 Konstruktive Lösungen Ein optimaler Brandschutz der Dachkonstruktion ist gegeben, wenn sie sowohl von außen als auch von innen einen ausreichenden Feuerwiderstand aufweist. Gegen Brandeintrag von außen bildet eine harte Bedachung bereits eine brandschutztechnisch wirksame Schutzschicht. Eine oberhalb der Sparrenkonstruktion quasi als Brandschott angeordnete zweite Brandschutzschicht in Form einer Unterdeckung aus Holzfaserdämmplatten verleiht dem Gesamtbauteil weitreichende Eigenschaften einer hohen Feuerwiderstandsdauer: Der direkte Brandeintrag in die Dachkonstruktion wird derart behindert bzw. verzögert, dass die Standfestigkeit der Tragkonstruktion eine ausreichende Zeitdauer erhalten bleibt und das Dach nicht frühzeitig einstürzen kann. Der durch den Brand verursachte Wärmedurchgang wird außerdem durch eine ausreichende Wärmespeicherfähigkeit so verzögert, dass sich kritische Temperaturen im zu schützenden Dachinnenraum erst mit hoher zeitlicher Verzögerung ausbilden können. Die Lösung für optimalen Brandschutz im o.g. Sinne: Die Unterdeckung wird als brandschutztechnisch wirksame Bauteilschicht mit einem Dämmstoff ausgeführt, der schwerentflammbar, selbstverlöschend und nicht glimmend ist.

Bild 5-1 GUTEX Pyroresist® ¬ schwerentflammbar, selbstverlöschend, kein Glimmen, (Foto: Fa. GUTEX).

Die Brandeinwirkung von innen verdient ebenfalls eine besondere Beachtung. Für den Schutz von Leib und Leben sowie der Sachwerte ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Brandeintrag aus dem Dachinnenraum in die Dachkonstruktion so verzögert wird, dass ein vorzeitiges Versagen der Dachkonstruktion vermieden wird. Hierfür eignen sich Beplankungen z. B. aus Gipsfaserplatten in Verbindung mit einer untersparrenseitig angeordneten Dämmebene. Sie schotten die Dachkonstruktion gegen den Brandherd aus

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Das neue Dach – brand- und klimawandelsicher mit GUTEX Pyroresist®

dem Rauminnern ab und erhöhen den Feuerwiderstand von innen nach außen in erheblichem Maße. 6

GUTEX Pyroresist® – Universallösung für ein brand- und klimawandelsicheres Dach

6.1 Konstruktionsbeschreibung Vorbemerkungen In den vorangegangenen Kapiteln wurden konstruktive Maßnahmen bzw. Lösungen vorgestellt, mit denen sich die gestiegenen Bedürfnisse und Anforderungen der Neuzeit an das Bauteil Dach erfüllen lassen. Im Fokus der Lösungsfindung stand der Anspruch, dass ein Versagen der Dachkonstruktion über die technische Lebensdauer eines Gebäudes weitgehend ausgeschlossen werden kann, und zwar unter Berücksichtigung der durch den Klimawandel bedingten Extremnaturereignisse, die nachweislich in Häufigkeit und Intensität zunehmen werden. Die nachfolgenden Ausführungen sollen aufzeigen, dass sich die umfangreichen Anforderungen mit einer Universallösung aus GUTEX-Holzfaserdämmprodukten erfüllen lassen, die den notwendigen Marktgesetzen folgt: Sie entspricht weitgehend üblichen Standardaufbauten und den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Verarbeitbarkeit und Vorschriftenkonformität. Zur besseren Einschätzung der Leistungsfähigkeit wird an wesentlichen Stellen ein direkter Leistungsvergleich mit einem marktgängigen Standardaufbau durchgeführt. Hierzu sei angemerkt, dass die ausgewählte Universallösung eine Pyroresist®-Qualität vorsieht, die nur dann notwendig ist, wenn eine besonders hohe Brandschutzqualität erreicht werden soll. Der Dachaufbau mit Standard-Unterdeckplatten GUTEX Ultratherm® und GUTEX Multiplex® gewährleistet bereits einen hohen Brandschutz und erfüllt sämtliche andere Anforderungen zur Klimawandelsicherheit. Das ist insbesondere auch mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit der Konstruktion ein wichtiger Aspekt. Technische Daten Die vorgestellte Universallösung mit GUTEX Pyroresist® sieht im Vergleich zu einem marktüblichen Standard folgenden Dachaufbau vor (von außen nach innen):

6 GUTEX Pyroresist® – Universallösung für ein brand- und klimawandelsicheres Dach

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Tabelle 6-1 Der Vergleich – „Universallösung mit GUTEX Pyroresist®“ versus „Standardaufbau“ (Quelle: Fa. GUTEX). Universallösung mit GUTEX Pyroresist®

Marktüblicher Standard

Dachdeckung

Dachdeckung

Dachlattung

Dachlattung

Konterlattung

Konterlattung

Unterdeckplatte in Ultratherm® Pyroresist®Qualität, WLG 045, 60 mm

Unterspannbahn

Vollholzsparren, 60x200 mm / Holzfaser Thermofibre WLG 040, 200 mm

Vollholzsparren, 60x200 mm / Mineralfaser WLG 035, 200 mm

OSB-Platte 16 mm

Lattung, 60 x 40 mm / Mineralfaser WLG 035, 40 mm

Gipsbauplatte 12,5 mm

Gipsbauplatte 12,5 mm

U-Wert: 0,16 W/m²K

U-Wert: 0,17 W/m²K

Bild 6-1 Der Vergleich – „Universallösung mit GUTEX Pyroresist®“ versus „Standardaufbau“, (Quelle: Fa. GUTEX).

Die Universallösung zeichnet sich durch zwei wesentliche Eigenschaften aus: Ihr Konstruktionsaufbau entspricht quasi einer geneigten Außenwand; d.h. sie ist in etwa gleich konstruiert wie eine übliche Außenwand in Holztafelbauweise und unterscheidet sich lediglich in der Außenhaut ab der Aufdämmung. Zweitens ist sie so konzipiert, dass sie sämtliche Anforderungen nach den Kapitel 2 bis 5 erfüllt: – – – –

Schutz gegen hohe statische Lasten, Schutz gegen Kälte und Hitze, Schutz gegen Feuchteeintrag, Schutz gegen Feuer.

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Das neue Dach – brand- und klimawandelsicher mit GUTEX Pyroresist®

6.2 Schutz gegen hohe statische Lasten Der ausgewählte Sparrenquerschnitt reicht bei den üblichen Sparrenachsabständen und Stützweiten aus, um Solaranlagen, Gauben und die Eigenlasten des Komplettaufbaus zu tragen und darüber hinaus den Wetterextremen ausreichend zu trotzen. Durch eine Reduzierung der Sparren-Achsabstände oder Stützweiten lassen sich weitere Reserven erschließen, sollte dies notwendig sein. Der sparrenunterseitigen Beplankung mit einer OSB-Platte kommt eine hohe Bedeutung zu. Sie sorgt für eine besonders hohe horizontale Steifigkeit der Dachkonstruktion und somit dafür, dass auch bei Extremwinden (Sturm) keine nennenswerten Verformungen und damit Beschädigungen der Bausubstanz zu erwarten sind. Die GUTEX-Universallösung mit oberseitig angeordneter druckfester Holzfaserdämmplatte (Unterdeckplatte) hat nachweisbar eine mitaussteifende Wirkung, erhöht also die Steifigkeit der Dachkonstruktion zusätzlich. Der Verband Dämmstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen (VDNR) plant im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen, entsprechende Berechnungsparameter für den Eurocode 5 zu generieren. Weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Schutzfunktion gegen hohe statische Lasten sind in Kapitel 2.2 ausgeführt. 6.3 Schutz gegen Kälte und Hitze Winterlicher Wärmeschutz Die beiden ausgewählten Konstruktionen weisen einen ähnlichen U-Wert in Höhe von 0,16 W/m²K (Universallösung) bzw. 0,17 W/m²K auf. Sie liegen deutlich besser als die in der Energieeisparverordnung vorgeschriebenen „Höchstwerte der Wärmedurchgangskoeffizienten bei erstmaligem Einbau, Ersatz und Erneuerung von Bauteilen“ in Höhe von 0,24 W/m²K. Die technischen Mindestanforderungen für die Umsetzung von Einzelmaßnahmen zum KfW-Effizienzhaus liegen bei 0,14 W/m²K. Dieser Wert wird mit dem ausgewählten Lösungsvorschlag zunächst nicht erreicht. Die GUTEX-Universallösung würde den KfWAnforderungswert einhalten, wenn zusätzlich ein 40 mm Dämmpaket aufgerüstet wird: Die Aufrüstung ist in allen drei Dämmebenen möglich: – Erhöhung der Dicke der Aufdämmung, – Erhöhung der Sparrenbreite von 200 auf 240 mm und entsprechend der Dämmdicke im Gefach, – Neuaufbau einer Untersparrendämmung.

6 GUTEX Pyroresist® – Universallösung für ein brand- und klimawandelsicheres Dach

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Je nach bauvorhabenspezifischen Gegebenheiten kann mal die eine, mal die andere Aufrüstungsvariante sinnvoll sein. Ganzjähriger Hitzeschutz Wie unter Kapitel 4.2 ausgeführt sind zuvorderst Maßnahmen zur Vermeidung bzw. Verschattung transparenter Flächen zu treffen. Ohne diese ist kein wirksamer sommerlicher Wärmeschutz der Dachkonstruktion zu erreichen. In der Disziplin Hitzeschutz entfaltet die Holzfaserdämmplatte ihre besondere Stärke. Sie hat die Eigenschaft, die drei maßgeblichen bauphysikalischen Kenngrößen niedrige Wärmeleitfähigkeit, hohe Masse und hohe materialspezifische Wärmespeicherfähigkeit optimal miteinander zu vereinen. Die drei genannten positiven Kenngrößen gehen proportional in die sog. Temperaturleitzahl ein und sorgen dafür, dass diese besonders klein ausfällt. Eine kleine Temperaturleitzahl bedeutet, dass die hohen Außentemperaturen nur sehr verzögert in den Dachinnenraum eindringen. Dies wiederum hat zur Folge, dass der Raum noch relativ kühl ist, bevor es am Abend zu einer wetterbedingten Abkühlung kommt. Der Dachinnenraum heizt sich tagsüber weniger auf. Die Universallösung mit GUTEX Pyroresist® weist eine Phasenverschiebung von 12,9 Stunden auf, die Standardlösung von nur 7,1 Stunden. D.h. bei der Universallösung würde sich die Tageshöchsttemperatur erst 5,8 Stunden später einstellen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass sich der Dachinnenraum tagsüber weniger aufheizt und die Innenraumtemperatur entsprechend kühler bleibt. Dieses fühlbare Ergebnis spiegelt sich auch in dem Temperatur-Amplituden-Verhältnis (TAV) wider. Es bezeichnet das Verhältnis der maximalen Temperaturschwankung an der inneren Bauteiloberfläche zur maximalen Schwankung an der äußeren Bauteiloberfläche. Ein TAV-Wert in Höhe von 100 % bedeutet, dass die Temperaturschwankung auf der Innenseite genauso hoch ist wie außen. Der TAV-Wert der Universallösung ist mit 3 % extrem niedrig (Standardaufbau: 16 %), was nochmals belegt, wie verhältnismäßig wenig sich die Raumluft des Dachinnenraumes aufheizt. Weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Schutzfunktion gegen Kälte und Hitze sind in Kapitel 3.2 ausgeführt.

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Das neue Dach – brand- und klimawandelsicher mit GUTEX Pyroresist®

Bild 6-2 Der Vergleich – Phasenverschiebung und TAV-Wert, (Quelle: Fa. GUTEX).

Bild 6-3 Qualitativer Effekt – lange Phasenverschiebung und niedriges TAV, (Quelle: Fa. GUTEX).

6 GUTEX Pyroresist® – Universallösung für ein brand- und klimawandelsicheres Dach

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6.4 Schutz gegen Feuchteeintrag Mit der vollflächig verlegten Unterdeckplatte wird quasi eine zweite regensichere Dachhaut oberhalb der Sparrenebene geschaffen, die sogar bei einem Totalausfall der eigentlichen Dachdeckung das Gebäude vor Feuchteeintrag schützt. Garant für die Regensicherheit ist vor allem die patentierte Profilierung der Platten. Sie sorgt dafür, dass die Funktionalität der Regensicherheit sogar bei einer witterungs- und schwundbedingten Fugenbildung von bis zu 3 mm gewährleistet bleibt. Obendrein bietet die oberseitige Unterdeckplatte ein hohes Maß an Hagelsicherheit: die 60 mm Holzfaserdämmplatte in Ultratherm®-Qualität und 60 mm Dicke wurde nach TÜV-Prüfung in HW 5 eingestuft. Die zweite Dachhaut wirkt wie ein Hosenträger, wenn der Gürtel reißt. Auch bei einem Totalausfall der Dachdeckung, kommt es durch Hagel und Regen zu keinem Schaden im Dachraum . Die Unterdeckung kann bis zu 12 Wochen als Behelfsdach dienen. Für die Unterdeckplatte existiert eine Garantiehinterlegung beim ZVDH.

Bild 6-4 Dicht schließende Profilverbindung, (Quelle: Fa. GUTEX).

Weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Schutzfunktion gegen Feuchteeintrag sind in Kapitel 4.2 ausgeführt. 6.5 Schutz gegen Feuer Die Universallösung mit GUTEX Pyroresist® punktet in zweifacher Hinsicht: Durch die vollflächige außenseitige Bekleidung mit der schwerentflammbaren Holzfaserdämmplatte wird ein Eindringen des Brandes von außen in die Konstruktion über längere Zeit wirksam verhindert. Zudem weist die Dachkonstruktion durch die Kombination mit der Gefachdämmung aus Thermofibre Holzfasern eine sehr hohe Wärmespeicherfähigkeit

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Das neue Dach – brand- und klimawandelsicher mit GUTEX Pyroresist®

auf, die wiederum dafür sorgt, dass die durch den Brand einwirkenden hohen Temperaturen erst sehr spät in den zu schützenden Dachinnenraum eindringen können. Technisch drücken sich die beschriebenen Schutzfunktionen im sogenannten Feuerwiderstand der Dachkonstruktion aus. Der Dachaufbau weist von außen einen Feuerwiderstand von mindestens 60 Minuten auf. Ergänzend ist anzumerken, dass eine Brandentstehung durch Funkenflug o.ä. in Anbetracht der Schwerentflammbarkeit und Robustheit der Außenhaut nahezu ausgeschlossen ist. Die marktübliche Standardlösung besteht oberseitig lediglich aus einer Unterspannbahn. Unterspannbahnen bieten nur einen schwachen Schutz gegen eindringende Brandherde. Die relativ geringe Wärmespeicherfähigkeit der Unterspannbahn im Besonderen und der Gesamtkonstruktion im Allgemeinen bedingt, dass der Feuerwiderstand der Dachkonstruktion von außen nicht annähernd das Niveau der Universallösung erreichen kann. Der Feuerwiderstand von außen wird unter 30 Minuten liegen.

Bild 6-5 GUTEX Pyroresist® im Glimmtest nach DIN EN 16733, (Quelle: Fa. GUTEX).

Die Brandeinwirkung von innen wird durch die Kapselung mittels doppelter Beplankung aus 16 mm OSB-Platte und 12,5 mm Gipsbauplatte (optimal: Gipsfaserplatten) wirksam abgeschirmt. Eine Feuerwiderstandsdauer von mindestens 30 Minuten erreicht die Universallösung damit ohne Probleme. Wird unterhalb der OSB-Platte eine zusätzliche Dämmebene mit einer druckfesten Holzfaserdämmplatte oder eine mit Holzfasern ausgedämmte Installationsebene angeordnet, ist auch mehr möglich. Weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Schutzfunktion gegen Feuer sind in Kapitel 5.2 ausgeführt.

7 Fazit

7

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Fazit

Wer ein brand- und klimawandelsicheres Dach erreichen möchte, kommt nicht umhin, die am Markt üblichen Dachkonstruktionen an einigen Stellen aufzurüsten. Ohne eine Aufrüstung entsprechen die Dachkonstruktionen zwar den bauaufsichtlichen und normativen Vorgaben, dennoch besteht zunehmend die Gefahr, dass die Dachkonstruktionen während der eigentlich erwarteten und kalkulierten technischen Lebensdauer ihre Gebrauchstauglichkeit einbüßen. Schuld an diesem Umstand sind vor allem die immer weniger kontrollierbaren und abschätzbaren Extremnaturereignisse, die der Klimawandel mit sich bringt. Die vorgestellte Universallösung mit GUTEX Pyroresist® beschreibt eine gezielte Aufrüstung der ansonsten standardmäßigen Konstruktion an drei Stellen: – Sparrenoberseitige Aufdämmung mit einer brandschutzertüchtigten druckfesten Holzfaserdämmplatte als Unterdeckplatte, – Sparren-Zwischendämmung mit einer Holzfaser- Einblasdämmung (ggf. auch als flexible Holzfaserdämmmatte), – Sparrenunterseitige Beplankung mit einer OSB-Platte (idealerweise kombiniert mit einer kapselnden Gipsfaserplatte). Mit der genannten Aufrüstung lässt sich ein deutlich erhöhtes Schutzniveau gegen hohe statische Lasten, Sturm, Hitze, Starkregen und Feuer erreichen. Nebenbei ist noch zu erwähnen, dass sich die Universallösung auch noch durch ein erheblich besseres Schallschutzniveau auszeichnet. 8

Wichtige Schlussbemerkungen

Abschließend werden noch zwei wichtige Anmerkungen gegeben, die zum besseren Verständnis des Fachartikels und seiner Zielrichtung notwendig sind: Erstens ist es kein Anliegen des Fachartikels, Verschärfungen der regulatorischen Vorschriften das Wort zu reden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Vorgaben zum Brandschutz. Die deutschen Vorschriften sind im Sinne eines zwingend einzuhaltenden Mindestschutzes ausreichend. Beim Brandschutz besteht lediglich Änderungsbedarf, um die weiterhin bestehenden Benachteiligungen holzbasierter Bau-/Dämmstoffe und Konstruktionen zu beseitigen. Gleichwohl ist ein Markt vorhanden, der höhere Sicherheitsstandards nachfragt; Tendenz: steigend. Sowohl subjektive Empfindungen als auch objektive Gegebenheiten spielen hierbei eine wichtige Rolle. Und genau dieser Zielgruppe sollen sichere und wirtschaftliche Lösungen angeboten werden. Zweitens sind alle klimawandelsicheren Eigenschaften der in Kapitel 6 vorgestellten Universallösung mit einer standardmäßigen Holzfaserdämmplatte wie GUTEX Multiplex®

168

Das neue Dach – brand- und klimawandelsicher mit GUTEX Pyroresist®

oder GUTEX Ultratherm® – also ohne Pyroresist®-Qualität erreichbar. Nur wer einen besonders hohen Schutz gegen Feuer sucht und über eine brandschutztechnisch aufgerüstete zweite Außenhaut den Brandeintrag von außen noch sicherer abschirmen möchte, ist mit einer Pyroresist®-Holzfaserdämmplatte besser bedient, da sie durch ihre spezielle mineralische Vergütung eine besonders hohe Brandresistenz aufweist.

Grundlagen für die energetische Verbesserung von Burgen und Schlössern Dr.-Ing Olaf Freytag1, Dipl.-Ing. Norbert Lange, MA1, Dipl.-Medieninf. Rene Hoch1 1 Technische Universität Dresden, Institut für Bauklimatik, Zellescher Weg 17, 01062 Dresden, Deutschland Im Rahmen eines durch das Bundesministerium für Forschung und Technologie geförderten Projektes untersucht das Institut für Bauklimatik der TU Dresden die folgende Fragestellung: Wie lassen sich der Erhalt und die Bewirtschaftung von Burgen, Schlössern und Klöstern in Mitteldeutschland angesichts sich verändernder energetischer und klimatischer Randbedingungen sichern? Im vorliegenden Artikel werden die Grundlagen dieses Projektes vorgestellt. Insbesondere wird herausgearbeitet, dass eine Adaption von bisher verfügbaren Instrumentarien für die energetische Beurteilung und die Erarbeitung von technischen Lösungen auf Grund der Spezifik von Burgen und Schlössern nicht ausreichend ist. Vielmehr bedarf es der Erarbeitung eines eigenständigen methodischen Ansatzes. Schlagwörter: Baudenkmal, Burg, Schloss, Energieeinsparung, Raumklima, Energiewende

1

Problemstellung

Angesicht steigender Energiepreise und der perspektivisch anstehenden Ablösung fossiler Primärenergieträger besteht zunehmend auch bei Gebäuden mit einem sehr hohen Denkmalwert, wie Burgen und Schlössern, die Notwendigkeit einer langfristig angelegten energetischen Weiterentwicklung. Bei dieser ist zu berücksichtigen, dass infolge des Klimawandels zukünftig signifikante Veränderungen hinsichtlich der Höhe und zeitlichen Verteilung des Energiebedarfs sowie der Zielstellung des Energieeinsatzes (Heizen, Temperieren, Kühlen bzw. Raumluftentfeuchtung) zu erwarten sind. Während Wohngebäude und ausgewählte Nichtwohngebäude (z. B. Schulen und Museen) seit Jahren Gegenstand intensiver Forschung sind, wurden Burgen und Schlösser in dieser Hinsicht vernachlässigt. Somit existieren für diese Gebäude keine grundlegenden systematischen Untersuchungen zum IST-Zustand und zu konzeptionellen und technischen Lösungsansätzen zur Senkung des Energiebedarfs. Ebenso stehen vergleichende Betrachtungen zu den bereits vereinzelt realisierten Lösungen zur Senkung des Energiebedarfs aus. Steigende Energiekosten erschweren jedoch bereits gegenwärtig die Bewirtschaftung und damit langfristig auch den Erhalt. Konzepte und technische Lösungen zur energetischen Weiterentwicklung von bestehenden Gebäuden, auch von Baudenkmalen, sind derzeitig durch eine deutliche konzeptionelle und technische Anlehnung an den Neubausektor geprägt: So wird der Reduzierung

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_12

170

Grundlagen für die energetische Verbesserung von Burgen und Schlössern

der Transmissionswärmeverluste eine zentrale Rolle zugewiesen und für Neubauten entwickelte Lösungen werden erst im Nachhinein so modifiziert, dass auch ein Einsatz im Baudenkmal möglich ist. Burgen, Schlösser und Klöster (BSK) zählen jedoch zu jenen historischen Gebäuden, bei denen diese Vorgehensweise an ihre Grenzen stößt. 2

Zielstellung des Forschungsvorhabens

Im Rahmen des Forschungskomplexes werden langfristig angelegte Konzepte zur Anpassung von Burgen, Schlössern und Klöstern in Mitteldeutschland an sich verändernde energetische Randbedingungen erarbeitet und durch die Entwicklung von Lösungen für die technische Realisierung untersetzt. Arbeitsmittel für Denkmaleigentümer, Architekten, Ingenieure und Behörden werden erstellt. Die Konzepte zur Anpassung der BSK an sich verändernde energetische Randbedingungen sind Anleitungen zur langfristig angelegten Weiterentwicklung, Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sowohl unmittelbar anstehende als auch zukünftige Probleme einer gemeinsamen Lösung zugeführt werden (Bild 2-1).

Bild 2-1 Gegenstand des Forschungsprojektes.

Die Maßnahmen zur Anpassung der BSK an die sich verändernden energetischen und klimatischen Randbedingungen müssen folgenden Anforderungen genügen:

3 Forschungsansatz

– – – – – – 3

171

minimale Eingriffe in die historische Bausubstanz Bewahrung der historischen Authentizität geringe laufende Kosten minimaler laufender Primärenergiebedarf einfache Handhabung in Betrieb und Wartung (Low-Tech) geringer Einsatz von Exergie (Low-Ex) Forschungsansatz

Ausgehend von gängigen Grundsätzen des Denkmalschutzes werden historische Gebäude als möglichst unveränderlich angesehen. Eingriffe in die historische Bausubstanz werden nur dann als gerechtfertigt angesehen, wenn sie im Rahmen der verschleißbedingten Sanierung des Gebäudes erfolgen bzw. der Anpassung an eine veränderte Nutzung dienen. Unter anderem bringen dies entsprechende Befreiungen von gesetzlichen Vorgaben zur energetischen Verbesserung von Gebäuden zum Ausdruck. Diese in der Praxis des Denkmalschutzes durchaus berechtigte Vorgehensweise ist jedoch als Forschungsansatz wenig geeignet; der Betrachtungsraum würde zu eng gefasst werden. Im Rahmen des vorliegenden Projektes wird daher von dem Ansatz (Bild 3-1) ausgegangen, dass es sich bei Baudenkmalen um energetische Systeme handelt, welche innerhalb ihres gesamten Lebenszyklus mehrfach der Notwendigkeit einer Weiterentwicklung unterliegen. Denkmalschutz und energetische Weiterentwicklung werden somit als gleichberechtigte Zielstellungen angesehen. Das ursprüngliche technisch-architektonische Grundkonzept des Gebäudes darf im Sinne der Bewahrung der historischen Authentizität allenfalls marginal modifiziert werden. Restriktive Vorgaben seitens des Denkmalschutzes werden nicht als Hemmnis, sondern als Ausgangspunkt für unkonventionelle Lösungsansätze begriffen. Um zu vermeiden, dass wiederholt notwendige, energetisch begründete Anpassungen des Baudenkmals an veränderte Randbedingungen mit umfangreichen Eingriffen in die Originalsubstanz verbunden sind, wird das Prinzip der latenten Integration entwickelt: Technische Lösungen, welche im Rahmen der energetischen Weiterentwicklung des Baudenkmals erst perspektivisch erforderlich sind bzw. werden können, werden bereits zu einem geeigneten, wesentlich früheren Zeitpunkt konzeptionell-technisch im Gebäude veranlagt. Dieser Zeitpunkt ist dadurch gekennzeichnet, dass an ihm andere notwendige Sanierungs- bzw. Modernisierungsmaßnahmen ausgeführt werden, in deren Rahmen der spätere Einbau weiterer technischer Lösungen kostengünstig und mit allenfalls geringen Eingriffen in die historische Bausubstanz erfolgen kann. Ein Kerngedanke der latenten Integration ist die Herausarbeitung der Wechselbeziehungen zwischen derzeitigen Maßnahmen zur Anpassung des Baudenkmals an veränderte Randbedingungen, welche das Baudenkmal in den Zustand i versetzen, und künftigen, mit denen das Baudenkmal in die Zustände i+1 bis i+j überführt wird (Bild 3-1). Die Zustände können sich hierbei z. B. durch ein verändertes Heizsystem, eine Änderung der

172

Grundlagen für die energetische Verbesserung von Burgen und Schlössern

Nutzung oder durch bauliche Veränderungen voneinander unterscheiden. Die hiermit verbundenen Anpassungsmaßnahmen können sich auf unterschiedlichste Weise beeinflussen. Von besonderer Bedeutung ist jedoch die Frage, ob sie unter technischen, bauklimatischen bzw. effizienzseitigen Aspekten miteinander kompatibel sind. Im Rahmen des Projektes wird das Prinzip der latenten Integration zuerst in Form eines abstrakten Modells formuliert und anschließend für ausgewählte Fälle konkretisiert. Hilfreich ist hierbei die Analyse derzeitiger Sanierungsprozesse ausgewählter Burgen und Schlösser (in Bild 3-1 als Zustand i+1 dargestellt).

Bild 3-1 Baudenkmal als mehrfach zu veränderndes energetische System.

4

Systematisierung der Bausubstanz

Ausgehend von der gängigen Vorgehensweise bei der energetischen Beurteilung bestehender Gebäude wurde untersucht, ob in Anlehnung an die bereits für Wohn- und Nichtwohngebäude bestehenden Gebäudetypologien eine Klassifizierung von BSK möglich und sinnvoll ist. Das Hauptaugenmerkt wurde auf Burgen und Schlösser gelegt. Auf die Verwendung von Baualtersklassen wurde verzichtet. Stattdessen wurde auf die in Bauforschung und Kunstgeschichte vielfach angewandte zeitliche Gliederung auf Basis der Stilepochen zurückgegriffen. Aufbauend auf den Kriterien Stilepoche und historische

4 Systematisierung der Bausubstanz

173

Funktion (z. B. Residenzschloss, Lustschloss, Jagdschloss) wurde eine Matrix von Kernobjekten erstellt, welche den Schwerpunkt der Projektbearbeitung bilden. Hierbei werden nicht alle Burgen und Schlösser in gleicher Tiefe betrachtet, sondern jeweils Gebäudegruppen ausgewählt, bei denen zu erwarten ist, dass für die jeweilige Fragestellung mit einem günstigen Verhältnis von Aufwand und Nutzen ein möglichst breites Spektrum an Informationen gewonnen werden kann. Im Laufe der Bearbeitung wurde deutlich, dass bereits die begriffliche und bauliche Unterscheidung von Burg (Wehrbau) und Schloss (Repräsentationsobjekt) nicht immer eindeutig möglich ist. Dies wurde u. a. an der in der Kunstgeschichte gebräuchlichen Kategorie des Festen Schlosses deutlich, welches sowohl wehrhafte als auch repräsentative Merkmale aufweist und in Bezug auf die bauliche Ausbildung den Begriff des Schlosses sowohl hin zur Burg als auch hin zur Festung öffnet. Auch der Umbau von Burgen, oder auch Klöstern, zu Schlössern erschwert die Herausarbeitung eindeutiger baukonstruktiver Unterscheidungsmerkmale zwischen Burg, Schloss und Kloster. Burgen, aber auch viele Schlösser, sind zudem Gebäudeensemble, deren Einzelgebäude in unterschiedlichen Bauphasen bzw. Stilepochen errichtet wurden. Auf der Betrachtungsebene Gebäude wird deutlich, dass dessen Zuordnung zu einer Stilepoche in vielen Fällen nur das äußere Erscheinungsbild erfasst, jedoch nicht die Baukonstruktion. Abschnitte der Außen- und Innenwände sowie Decken können jeweils aus unterschiedlichen Zeitepochen (Stilepochen) stammen. Auch das einzelne Bauteil kann im Zuge von Umbaumaßnahmen verändert worden sein. So wurden z. B. bei Geschossdecken neue Fußbodenschichten hinzugefügt oder unterseitige Verkleidungen bis hin zu nachträglichen Unterwölbungen angebracht. Die Erstellung einer Gebäudetypologie wird zusätzlich dadurch erschwert, dass nur sehr begrenzt die erforderlichen Basisinformationen durch einen Rückgriff auf bereits vorliegende Informationen erhoben werden können. Insbesondere vergleichende Untersuchungen zu Fragen der Baukonstruktion sind sowohl in der Bauforschung als auch in der kunstgeschichtlichen Forschung selten anzutreffen. So stehen bei Schlössern Aspekte der Fassadengestaltung und Raumdisposition in Abhängigkeit der Funktion des Schlosses sowie der Raumausstattung im Mittelpunkt kunstgeschichtlicher Betrachtungen (vergl. [1], [2]). Vor dem Hintergrund, dass eine Vielzahl kleiner Schlösser und Herrenhäuser noch unsaniert und vom Verfall bedroht sind und es sich hierbei um barocke Gebäude handelt, wurde diese Gebäudegruppe anhand von sieben ausgewählten Objekten in Sachsen vertiefend untersucht. Hinsichtlich des historischen Bestandes lassen sich zu diesen Objekten in Auswertung von [3] u. a. folgende Aussagen treffen:

174

Grundlagen für die energetische Verbesserung von Burgen und Schlössern

Gebäudeform Die Schlösser sind entweder einflüglig oder wurden als Dreiflügel-Anlage ausgeführt. Die Gebäudegrundfläche liegt zwischen 445 und 875 m². Es sind unterschiedliche Dachformen anzutreffen: Satteldach, Walmdach, Mansard-Walmdach, Mansarddach mit Krüppelwalm. Die Hauptfassade ist häufig durch einen Mittelrisalit gegliedert. Geschossigkeit Alle betrachteten Gebäude verfügen über mindestens zwei Vollgeschosse (EG, 1. OG.). Eine Unterkellerung ist nicht in jedem Fall vorhanden. Ist sie vorhanden, so erstreckt sie sich nicht in jedem Fall auf das gesamte Gebäude und kann sich auch auf einen Kriechkeller beschränken. Die Dachgeschosse sind in einigen Fällen ausgebaut. Wände Bei den untersuchten Gebäuden wurden ausschließlich gemauerte Außenwände aus Ziegeln oder Natursteinen angetroffen. Daraus kann jedoch nicht geschlussfolgert werden, dass in anderen Objekten nicht auch Fachwerkwände anzutreffen sind. Angaben zur durchschnittlichen Stärke der Außenwände und der Materialität sind in Tabelle 4-1 zu finden. Die Innenwände im EG bestehen ausschließlich aus Mauerwerk (Natursteine, Ziegel). In Einzelfällen kann sich die Wandstärke auf bis zu 120 cm belaufen. Im 1. OG sind sowohl gemauerte als auch Fachwerkwände anzutreffen. Geschossdecken Kellerdecken sind als Gewölbedecken ausgebildet. Eine Ausnahme bilden die Holzbalkendecken von Kriechkellern. Die Decken zwischen EG und OG sind vorwiegend Holzbalkendecken, z. T. sind auch vereinzelt Gewölbedecken anzutreffen. Während bei den Kellerdecken Tonnengewölbe dominieren, sind es im EG Kreuzgewölbe. Die Gewölbedecken in den untersuchten Schlössern bestehen sowohl aus Ziegel als auch aus Natursteinen, aber auch Mischmauerwerk ist anzutreffen. Bei den Holzbalkendecken dominiert die Einschubdecke.

4 Systematisierung der Bausubstanz

175

Tabelle 4-1 Wandstärke und Materialität der Außenwände kleinerer, barocker Schlösser und Herrenhäuser (Fallbeispiele aus Sachsen), in Auswertung von [3]. EG

1. OG

Objekt

Wandstärke in cm

Material -

Wandstärke in cm

Material -

1

115

Bruchstein

92

Bruchstein

2

90

Bruchstein

79

Bruchstein

3

77

Ziegel

60

Ziegel

4

100

Ziegel

100

Ziegel

5

80

Ziegel

66

Ziegel

6

105

Ziegel

90

Ziegel

7

94

Ziegel

90

Ziegel

Säle Als die repräsentativsten und größten Räume verdienen Säle eine gesonderte Betrachtung. Dennoch sind in der Fachliteratur nur wenige verallgemeinernde Aussagen zu finden. Vergleichende Betrachtungen von Sälen in Schlössern liegen bisher nur vereinzelt vor und sind auf Fragen der Raumausstattung und Kunstgeschichte fokussiert (vgl. z. B. [4]). Im Rahmen von [3] wurden daher ausgewählte Merkmale von Sälen in kleineren barocken Schlössern bzw. Herrenhäusern erfasst. Eine Zusammenstellung ist in Tabelle 4-2 zu finden.

176

Grundlagen für die energetische Verbesserung von Burgen und Schlössern

Tabelle 4-2 Merkmale von Sälen in kleineren, barocken Schlössern und Herrenhäusern (Fallbei-

Objekt

im Gebäudegrundriss

Geschoss

Höhe des Saals

Orientierung des Saals

Anzahl der Außenwände

Ausrichtung der Fenster

spiele aus Sachsen), in Auswertung von [3].

1

Ecklage

EG

eingeschossig

über Eck

2

NO und SO

2

symmetrisch in der Mittelachse des Gebäudes

OG

anderthalbgeschossig1)

einseitig4)

1

SW

3

symmetrisch in der Mittelachse des Gebäudes

DG

eingeschossig

zweiseitig5)

2

O und W

4

symmetrisch in der Mittelachse des Gebäudes

EG

eingeschossig

einseitig

1

SO

5

Mittelrisalit mit Seitenfenstern

OG

anderthalbgeschossig1)

einseitig

12)

S3)

6

symmetrisch in der Mittelachse des Gebäudes

EG

zweigeschossig

zweiseitig

2

NW und SO

7

symmetrisch in der Mittelachse des Gebäudes

EG

eingeschossig

einseitig

1

SW

Lage im Gebäude

1)

vom OG aus in den Dachraum hineinragend und 2 kurze Seitenwände des Risaliten 3) Hauptfront, die seitlichen Fenster des Mittelrisaliten sind nach SO bzw. SW orientiert 4) nicht über die gesamte Gebäudetiefe verlaufend 5) über die gesamte Gebäudetiefe verlaufend, d. h. der Saal hat zwei gegenüberliegende Außenwände 2)

Zwei der betrachteten Objekte verfügen über zwei Säle: einen Gartensaal im EG und einen Festsaal im OG. Für die Gegenüberstellung in Tabelle 4-2 wurde nur der Festsaal herangezogen. Tabelle 4-2 verdeutlicht, dass bereits innerhalb einer Stilepoche Säle eine erhebliche bauliche Heterogenität aufweisen können. Für vertiefende Untersuchungen wurde im Rahmen des Projektes ein Kriterienkatalog für die systematische Erhebung und Dokumentation von Primärdaten von Sälen erarbeitet. Der Fokus der Datenerhebung liegt

5 Raumklimatische Beurteilung von Burgen und Schlössern

177

auf Basisdaten für die bauklimatische Beurteilung. Gleichwohl sollen sie auch als Grundlage für vergleichende baugeschichtliche Betrachtungen dienen. Eine erste Erprobung des Kriterienkataloges erfolgt an Sälen ausgewählter Schlösser der Kulturstiftung DessauWörlitz durch Studenten der TU Dresden im Rahmen der Bearbeitung wissenschaftlicher Belegarbeiten. 5

Raumklimatische Beurteilung von Burgen und Schlössern

Da bisher keine systematischen Betrachtungen zum Raumklima in Burgen und Schlössern ausstehen, wurden in einem ersten Bearbeitungsschritt Messwerte für unterschiedliche Räume in den Kernobjekten projektspezifisch ausgewertet und einer vergleichenden Betrachtung unterzogen. Zielstellung dieser Auswertung war nicht die detaillierte bauklimatische Beurteilung der einzelnen Räume, sondern die Gewinnung eines ersten Überblicks über die raumklimatischen Bedingungen in Burgen und Schlössern. Die Beantwortung folgender Fragestellungen stand hierbei im Mittelpunkt: – Wie hoch ist das Wärmebeharrungsvermögen der Haupträume in Burgen und Schlössern? – Welche unbeheizten Räume bleiben im Winter frostfrei? – Welche Räume weisen hohe sommerliche Raumlufttemperaturen auf? – Welche Räume zeichnen sich durch eine hohe relative Raumluftfeuchte aus? Es wurde u. a. auf Messwerte zurückgriffen, die das Institut für Diagnostik und Konservierung an Denkmalen in Sachsen und Sachsen-Anhalt (IDK) in den zurückliegenden Jahren mit unterschiedlichster Zielstellung erhoben hatte. Bei der Auswahl der Datensätze wurde das Ziel verfolgt, dass für den ausgewählten Betrachtungszeitraum für alle Kernobjekte Ergebnisse aus Raumklimamessungen vorliegen und diese zudem möglichst noch den Vergleich des Raumklimas für solche Jahre ermöglichen, in denen sich das Außenklima deutlich unterscheidet. Die ausgewählten Jahre 2013, 2014 und 2015 werden in Tabelle 5-1 näher charakterisiert. Die verbale Beschreibung basiert auf den Pressemitteilungen [5] und den Klimastatusberichten [6] des Deutschen Wetterdienstes für die jeweiligen Jahre, Jahreszeiten bzw. Monate. Für Normal- und Extremwinter lag nicht die erforderliche Anzahl von Raumklimamessungen vor.

178

Grundlagen für die energetische Verbesserung von Burgen und Schlössern

Tabelle 5-1 Für die Auswertung vorliegender Raumklimawerte ausgewählte Jahre.

2012

2013

2014

nahe dem Wert Jahres-

für die

Durchschnittstemperatur

klimatologische

2016

über dem Wert für die

Referenzperiode

Sommer

2015

klimatologische Referenzperiode

Durchschnitts-

über dem Mittel der international gültigen

temperatur

Referenzperiode

Besonderheiten

Durchschnittstemperatur

ohne extreme Hitzewellen

extreme Hitzewellen

fast genau

deutlich über

über dem

deutlich über

entsprechend

dem Mittel der

Mittel der

dem Mittel der

dem Mittel der

international

international

international

international

gültigen

gültigen

gültigen

gültigen

Referenz-

Referenz-

Referenz-

Referenz-

periode

periode

periode

periode Winter

Besonderheiten

Dez. 2012:

Dez. 2013:

Dez: 2014:

Dez. 2015:

Anfangs recht

sehr warm

Anfangs sehr

Mit großem

kalt, zu

Jan. 2014:

mild, nach

Abstand

Weihnachten

sehr mild

Weihnachten

wärmster

jedoch

dann verbreitet

Dezember

frühlingshaft

Frost Jan. 2015:

Jan. 2013:

zeitweise

lange

frühlingshafte

Kältewelle

Wärme

In Bild 5-1 ist die Spannbreite des Jahresganges der Raumlufttemperatur in unbeheizten Sälen mitteldeutscher Burgen und Schlösser dargestellt. Hierzu wurden die Raumklimamessungen von 12 Sälen ausgewertet. Es zeigt sich u. a.: – Zumindest in milden Wintern bleibt der Großteil der Säle frostfrei. In einigen Sälen werden sogar Raumlufttemperaturen von bis zu 15 °C erreicht. – In warmen Sommern ohne extreme Hitzewellen können in den ausgewählten Sälen Raumlufttemperaturen deutlich über 25 °C auftreten, auch Temperaturen über 30 °C sind zu verzeichnen.

5 Raumklimatische Beurteilung von Burgen und Schlössern

179

Bild 5-1 Jahresgang 2014 der Raumlufttemperaturen in unbeheizten Sälen.

Ergänzt werden die orientierenden Betrachtungen des Raumklimas durch detaillierte Untersuchungen an einem Objekt, welches stellvertretend für eine große Zahl noch zu sanierender Baudenkmale steht. Das barocke Schloss Tauchritz in Görlitz (Bild 5-2) ist baulich gesichert und ungenutzt. Eine grundlegende Sanierung steht noch aus.

Bild 5-2 Wasserschloss Tauchritz, (Foto: Freytag).

180

Grundlagen für die energetische Verbesserung von Burgen und Schlössern

Damit bot sich die Möglichkeit eines umfassenden Monitorings der raumklimatischen Situation in einem sich im Eigenklima befindlichen Schloss. Das Monitoring beschränkt sich nicht auf die Erfassung des Raum- und Außenklimas. Zusätzlich wird auch das thermische Speicherverhalten von Außen- und Innenbauteilen erfasst. Für das Schloss wurde ein thermisches Computermodell erstellt (Bild 5-3). Dessen Kalibrierung erfolgt mit Hilfe der im Rahmen des Monitorings gewonnen Messwerte. In einem nächsten Schritt werden unterschiedliche Nutzungskonzepte entwickelt. Merkmal dieser Konzepte ist es, dass sie unterschiedliche Nutzungsintensitäten abbilden, die sich hinsichtlich des erforderlichen Energiebedarfes unterscheiden. Die Spannbreite reicht von – im Winter ungenutzt über – im Winter lediglich temporär genutzt bis zu – kontinuierlicher Nutzung. Diese Variantenbildung ist nicht auf das Gesamtgebäude beschränkt, sondern findet auch Anwendung bei der energetischen Zonierung des Gebäudes. Bei dieser wird auch berücksichtig, dass sich die Räume des Schlosses hinsichtlich ihres sommerlichen Wärmeschutzes unterscheiden.

Bild 5-3 3D-Simulationsmodell für das Schloss Tauchritz inkl. Umgebungsverschattung, (BIM HVACTool).

6 Energiebedarf

181

Es werden Nutzungskonzepte angestrebt, in welchen vorwiegend solche Räume als Aufenthaltsräume genutzt werden, deren sommerlicher Wärmeschutz ohne oder mit nur geringen zusätzlichen Maßnahmen gewährleistet werden kann. 6

Energiebedarf

Im Rahmen des Projektes erfolgt eine differenzierte Betrachtung des Energiebedarfs gemäß Tabelle 6-1. Nach [7, S. 19f] ist folgende Differenzierung des Gebäudeklimas sinnvoll (Tabelle 6-2): Freie Klimatisierung (Eigenklima): Diese liegt vor, wenn ein nicht durch Personen genutztes Gebäude ausschließlich dem Einfluss des Außenklimas unterliegt und keine Maßnahmen zur gezielten Beeinflussung des Raumklimas getroffen werden Autogene Klimatisierung: Sie schließt im Unterschied zur freien Klimatisierung die Nutzung durch den Menschen ebenso mit ein, wie seine gezielte Einflussnahme auf das Raumklima; diese allerdings nur im Rahmen der baulichen Gegebenheiten (z. B. gezieltes Öffnen der Fenster bei großer interner Feuchtelast). Energogene Klimatisierung: Hierunter wird eine erzwungene Klimatisierung unter bewusstem Einsatz von Anlagen der Technischen Gebäudeausrüstung verstanden. In der Praxis sind die Übergänge zwischen freier und autogener Klimatisierung fließend. Tabelle 6-1 Differenzierung des Energiebedarfs nach der Zielstellung des Energieeinsatzes. Energiebedarf Baudenkmal Nutzungsbedingt thermische Behaglichkeit

Bautenschutztechnisch begründeter Mindestenergiebedarf Schutz der Bausubstanz

Schutz der Ausstattung

Alternative zu gängigen Sanierungsverfahren

Die bisherigen Untersuchungen haben ergeben, dass es nicht der Regelfall ist, dass die Beheizung aller bzw.- der überwiegenden Mehrheit der Räume von BSK nicht der Regelfall ist. Vielmehr verbleiben oft ganze Gebäudeteile im Eigenklima. Vielfach ist v.a. bei museal genutzten Objekten, eine energetische Zonierung anzutreffen: – beheizte Aufenthaltsräume – temperierte Räume – Räume mit freier bzw. autogener Klimatisierung Lediglich ganzjährig genutzte Räume der Verwaltung, welche nur einen geringen Anteil der Nutzfläche beanspruchen, werden entsprechend den Erfordernissen der thermischen Behaglichkeit beheizt (energogene Klimatisierung). Da die Objekte in den Wintermona-

182

Grundlagen für die energetische Verbesserung von Burgen und Schlössern

ten für den Besucherverkehr geschlossen sind, können sich Maßnahmen zur Beeinflussung des Raumklimas in einem Großteil der Räume an den Erfordernissen des Bautenschutzes und des Schutzes der Ausstattung orientieren. Museal genutzte Räume können häufig im Eigenklima verbleiben. Ist dies nicht durchgehend möglich, so kann bereits ein kurzzeitiger Betrieb mobiler elektrischer Heizgeräte für die Sicherung der Frostfreiheit und Begrenzung der relativen Raumluftfeuchte ausreichen. Tabelle 6-2 Differenzierung des Gebäudeklimas nach [7]. Gebäudeklima Eigenklima (freie Klimatisierung) Bauwerkspezifisches Klima hygrothermische Belastung nur durch Außenklima

Energogenes Klima

Autogenes Klima

Nutzungsspezifisches Klima hygrothermische Belastung durch Außenklima und Nutzung gezielte Beeinflussung des Raumklimas

keine gezielte Beeinflussung des Raumklimas

ausschließlich mit baulichen Mitteln

mittels TGA

In Tabelle 6-3 wird die energetische Zonierung am Beispiel eines sächsischen Museumsschlosses verdeutlicht. Bemerkenswert ist, dass lediglich 17 % der Nutzfläche aus Gründen der thermischen Behaglichkeit beheizt werden müssen. Bei der temperierten Fläche handelt es sich um museal genutzte Räume. Diese Temperierung erfolgt jedoch aus Gründen des Bautenschutzes und resultiert nicht aus raumklimatischen Anforderungen infolge musealer Nutzung. Der Anteil der Energiekosten für die Heizung an den laufenden Kosten (ohne Personal) beläuft sich nach [8] im vorliegenden Fallbeispiel auf lediglich ca. 12 %. Tabelle 6-3 Fallbeispiel: Energetische Zonierung und Energieverbrauch eines museal genutzten Schlosses [8].

Nutzfläche

gesamt



3.600

100 %

beheizt 1)



610

17 %



1.100

30 %

1.890

53 %

temperiert

1)

unbeheizt Endenergieverbrauch Heizung

Elektroenergieverbrauch 2) 1) 2)

m² kWh/a

180.000

kWh/(m²*a) kWh/a

105 52.000

kWh/(m²*a)

Warmwasserheizung, Gaskessel Kein Einsatz von Luftentfeuchtern und elektrischen Heizgeräten

14

7 Sanierungsprozess

7

183

Sanierungsprozess

Eine Analyse des Prozesses der Sanierung von Burgen und Schlössern bildet eine wesentliche Basis für die Konkretisierung des Prinzips der latenten Integration. Im Mittelpunkt stehen hierbei folgende Fragen: – Mit welcher Genauigkeit kann zu Beginn des Prozesses der im Zuge der Sanierung erreichbare energetische Endzustand (z. B. Norm-Heizlast, Jahresendenergiebedarf) geplant und beschrieben werden? – Wie flexibel muss das technische Konzept zur Umsetzung energetischer Zielstellung grundsätzlich gestaltet sein? Als Basis für die systematische Erfassung und Auswertung des Sanierungsprozesses wurden die in Tabelle 7-1 aufgeführten Grundfälle formuliert. Tabelle 7-1 Sanierungsprozess, Grundfälle. Sanierungsprozess Verlauf

Ziel

zusammenhängend Nutzung eindeutig definiert 1) relativ kurz schrittweise Stufenweise Nutzung weitgehend II über einen längeren Sanierung definiert 2) Zeitraum schrittweise lediglich Grobkonzept für III Offene Sanierung sehr langfristig die Nutzung vorhanden 3) 1) ggfs. für einzelne Gebäudebereiche Nutzungsalternativen konkret definiert, Auswahl erfolgt im Verlaufe der Sanierung 2) Ein ausgearbeitetes Nutzungskonzept ist für das gesamte Objekt vorhanden. Es wird davon ausgegangen, dass vor Beginn eines neuen Sanierungsabschnittes ggfs. eine Fortschreibung des Konzeptes notwendig ist. Einzelne Bereiche des Objektes werden u. U. nutzungsneutral saniert und erst später einer Nutzung zugeführt. 3) Das Grobkonzept kann Nutzungsalternativen enthalten. Der Verlauf des Sanierungsprozesses richtet sich nach der Geschwindigkeit mit der das Nutzungskonzept konkretisiert werden kann. I

Komplexe Sanierung

Zur Untersetzung dieser Grundfälle wurden acht Burgen und Schlösser in Sachsen und Sachsen-Anhalt näher betrachtet (Tabelle 7-2) Basis war die These, dass neben baulichen Merkmalen die Eigentumsverhältnisse und die aus diesen resultierenden Finanzierungsmöglichkeiten Verlauf und Dauer des Sanierungsprozesses erheblich beeinflussen. Diese Fragestellung spiegelt sich in der Auswahl der Fallbeispiele wider. Angestrebt wurde, sowohl ein möglichst breites Spektrum sowohl an Eigentümern und Betreibern, als auch Bauzuständen vor Beginn der Sanierungsmaßnahmen zu erfassen.

184

Grundlagen für die energetische Verbesserung von Burgen und Schlössern

Die Auswertung der in [9] vorgenommenen Untersuchungen zeigt u. a.: – Auch wenn der Sanierungsprozess finanziell langfristig abgesichert ist, z. B. weil sich das Objekt in Landeseigentum befindet, kann er sich über mehr als 20 Jahre erstrecken. – Es ist zu erwarten, dass bei größeren Burg- bzw. Schlossanlagen eine komplexe Sanierung (Grundfall I) generell die Ausnahme ist. – Mit Ausnahme von Grundfall I muss das Konzept zur energetischen Verbesserung im Laufe des Sanierungsprozesses gemeinsam mit dem Nutzungskonzept fortgeschrieben werden. – Sofern für Grund- und Spitzenlast getrennte Wärmeerzeuger zum Einsatz kommen sollen und nicht jeder Sanierungsabschnitt ein gesondertes Heizsystem erhält, ist ihre Dimensionierung mit hinreichender Genauigkeit erst gegen Ende des Sanierungsprozesses möglich. Objekt 7 stellt im Rahmen der untersuchten Objekte einen Sonderfall dar. Es wurde im Rahmen von [10] detailliert analysiert. Ziel des Fördervereins ist der Erhalt des Schlosses, nicht jedoch dessen Eigennutzung. Daraus resultiert, dass auch die Weitergabe des Objektes an einen anderen Eigentümer bzw. Betreiber eine Option darstellt. In den zurückliegenden Jahren erfolgten nach der Notsicherung alle Instandsetzungsmaßnahmen nutzungsneutral. Um während der Sanierung Teilbereiche des Gebäudekomplexes für öffentliche Veranstaltungen nutzen zu können, wurde als temporäre Lösung eine Gasheizung eingebaut. Deren Installation wurde reversibel ausgeführt.

1

2

3

Bauliche Merkmale Betreiber

Eigentümer

Objekt

Tabelle 7-2 Fallbeispiele Sanierungsprozess, in Auswertung von [9].

Stiftung

Land

Land

gGmbH

gGmbH

Grund fläche

Sanierungsprozess Dauer seit 1) Grund

Struktur der Gesamtanlage

Bauzustand vor Beginn Sanierung

1.800

kompakter zusammenhängender Baukörper mit Innenhof 1)

genutzt, erheblicher, dringender Instandsetzungsbedarf v. a. an der Gebäudehülle

II

24

3.800

weiträumiger, jedoch zusammenhängender Baukörper mit großem Innenhof

genutzt, erheblicher Instandsetzungs-u. Sanierungsbedarf

II

26

8.250

3 getrennte Gebäudekomplexe

z. T. genutzt, erheblicher Instandsetzungs-u. Sanierungsbedarf

II

27



fall

a

4

Stiftung

5

Land

185

Bauliche Merkmale Betreiber

Eigentümer

Objekt

7 Sanierungsprozess

gGmbH

6

Kommune

7

gGmbH

Verein

Kommune

Verein, später GmbH

8

Grund fläche

Sanierungsprozess Dauer seit 1) Grund

Struktur der Gesamtanlage

Bauzustand vor Beginn Sanierung

8.500

weiträumiger, jedoch zusammenhängender Baukörper mit großem Innenhof

nur einzelne, notdürftig sanierte Gebäudeteile genutzt, z. T. Ruine

II

23

5.950

kompakter Baukörper

genutzt, Instandsetzungsbedarf insg. moderat

II

10

ungenutzt, erheblicher Instandsetzungs- u. Sanierungsbedarf

I

4 2)

ungenutzt, vom Verfall bedroht

III

14

z. T. genutzt, durchweg erheblicher Instandsetzungs- bzw. Sanierungsbedarf, z. T. Ruine

II

28



1.400

9.600

2.000

1)

Bezogen auf Ende 2019

2)

Abschluss voraussichtlich in 2 Jahren

kompakter, zusammenhängender Baukörper mit Innenhof zusammenhängender, stark gegliederte Gebäudekomplex aus mehreren miteinander verbundenen Einzelgebäuden kompakter, zusammenhängender Baukörper um Innenhof

fall

a

186

8

Grundlagen für die energetische Verbesserung von Burgen und Schlössern

Literatur

[1]

Laß, H.: Schlösser in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Imhof Kulturgeschichte). Petersberg, Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG, 2013.

[2]

Brunckhorst, F.: DuMont Schnellkurs Schlösser. Köln, DuMont Buchverlag, 2010.

[3]

Dönselmann, A.: Vergleichende Betrachtungen der originalen Bausubstanz von Herrenhäusern und kleineren Schlössern aus der Zeit des Barock in Mitteldeutschland als Grundlage für die Entwicklung denkmalgerechter Lösungen zu ihrer energetischen Verbesserung. [Masterarbeit] Leipzig, HTWK Leipzig, 2018.

[4]

Ulferts, E.: Große Säle des Barock. Petersberg, Michael Imhof-Verlag GmbH & Co. KG, 2000.

[5]

Deutscher Wetterdienst: Pressemitteilungen, Deutscher Wetterdienst - Wetter und Klima aus einer Hand, 26. September 2019. https://www.dwd.de/DE/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen_node.html, abgerufen am: 27.09.2019.

[6]

Deutscher Wetterdienst: Klimastatusbericht, Deutscher Wetterdienst - Wetter und Klima in einer Hand, 12. November 2018. https://www.dwd.de/DE/leistungen/klimastatusbericht/publikationen/ksb_2017.html?nn=16102, abgerufen am 29.09.2019.

[7]

Pischke, C.: Ursachen bauklimatisch bedingter Feuchteschäden in monumentalen Bauwerken. [Dissertation] Dresden, Technische Universität Dresden, Fakultät Bau-, Wasser und Forstwesen, 1989.

[8]

Schott, M.: Energetische Betrachtung von Burgen und Schlössern in Mitteldeutschland. [Belegarbeit] Dresden, HTW Dresden, 2019.

[9]

Hanich, V.; Krämer, C.: Untersuchung von Einflussfaktoren auf den Sanierungsprozess von Burgen und Schlössern anhand von Fallbeispielen. [Masterarbeit] Leipzig, HTWK Leipzig, Fakultät Bauwesen, 2019.

[10]

Krämer, C.; Hanich, V.: Möglichkeiten und Grenzen der energetischen Verbesserung monumentaler Baudenkmale im Rahmen einer etappenweisen Sanierung am Fallbeispiel "Großes Schloss Blankenburg". [Belegarbeit] Leipzig, HTWK Leipzig, Fakultät Bauwesen, Modul Bauwirtschaft/Baubetrieb, 2018.

Entwicklung des Energieverbrauches im Bestand am Beispiel des TU Dresden-Campus Annina Gritzki1, Julia Seeger2, Clemens Felsmann1 1 Technische Universität Dresden, Institut für Energietechnik, Professur für Gebäudeenergietechnik und Wärmeversorgung, 01062 Dresden, Deutschland 2 Technische Universität Dresden, Institut für Baukonstruktion, 01062 Dresden, Deutschland Mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) finden an der TU Dresden seit 2015 Forschungen zur Campus-Energieeffizienz statt [1] [2]. Die besondere Herausforderung besteht darin, den ausgedehnten historischen Kerncampus an hohe Anforderungen der Institute hinsichtlich technischer Ausstattung, Sicherheit und Komfort anzupassen, gleichzeitig die schützenswerte Bausubstanz zu erhalten und möglichst wenig (insbesondere fossil erzeugte) Energie zu verbrauchen. Zunächst wurde die TU Dresden auf Grundlage vorhandener Verbrauchs- und Flächeninformationen der zurückliegenden 20 Jahre einer tiefgehenden energetischen Analyse unterzogen. Es zeigte sich, dass der Heizenergieverbrauch trotz verstärkter Bemühungen zur Verbesserung der energetischen Qualität der Gebäude auf einem nahezu gleichbleibenden Niveau verharrte. Der Kühlund Elektroenergiebedarf stieg im gleichen Zeitraum kontinuierlich an. Dies konterkariert die Bestrebungen zur Erreichung der energie- und klimapolitischen Ziele. Es wird deutlich, dass zur Verringerung des Energieverbrauches im Gebäudebereich eine einseitige Fokussierung auf Maßnahmen zur Senkung des Heizenergiebedarfes nicht zielführend ist. Im Beitrag wird dargelegt, wie eine maßvolle energetische Ertüchtigung des Gebäudebestandes gelingen und von zusätzlichen Effizienzmaßnahmen flankiert werden kann. Schlagwörter: Gebäudebestand, Quartier, Denkmal, Sanierung, Energieeffizienz

1

Ausgangssituation und Herausforderungen

Innerstädtische Quartiere mit einem zumeist hohen Anteil älterer Bestandsgebäude besitzen weitreichende Möglichkeiten zur energetischen Optimierung. Bestehende Potenziale, wie z.B. die Realisierung von Effizienz-Standards oder die Vernetzung der Energieversorgung mehrerer Gebäude, werden oftmals noch nicht genutzt. Während die meisten innerstädtischen Quartiere durch homogene Nutzungen in Form von Wohnungen und Gewerbe geprägt sind, zeigt sich bei einem Hochschulcampus ein anderes Bild. Durch die verschiedensten Nutzungsanforderungen, wie Büros, Labore, Werkstätten, Serverräume, Hörsäle usw., mit z.T. längeren Perioden ohne Belegung entstehen vielfältige Nutzungssituationen mit komplexen Energiebedarfs- und Erzeugungsszenarien. Weitere Einflussfaktoren, wie variable Studierendenzahlen, ein projektabhängig fluktuierender Betrieb von Versuchsanlagen und heterogene Bewirtschaftungsstrukturen, stellen eine abgestimmte Vorgehensweise vor besondere Herausforderungen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_13

188

Entwicklung des Energieverbrauches im Bestand am Beispiel des TU Dresden-Campus

Bild 1-1 Hauptcampus der TU Dresden 10/2018 (basierend auf Google Maps 3-D-Darstellung).

Die Technische Universität Dresden, gegründet im Jahr 1828 als Technische Bildungsanstalt, ist heute eine der größten und ältesten Universitäten in Deutschland. Aufgrund der früheren Ausrichtung dominieren naturwissenschaftliche und ingenieurtechnische Fachrichtungen auch heute noch den Campus. Dies schlägt sich in einer großen Zahl an Gebäuden mit hohem bis sehr hohem Anteil von Labor- und Versuchsflächen nieder. Die TU Dresden ist dabei eine klassische Campusuniversität mit historischem Kerngelände bzw. Hauptcampus im südlichen Bereich der Stadt Dresden (Bild 1-1). Nach Einschätzung des Staatsbetriebes Sächsisches Immobilien- und Baumanagement (SIB), welcher den Freistaat Sachsen als Eigentümer vertritt, ist mehr als jedes zweite Gebäude des Hauptcampus sanierungsbedürftig. Der Sächsische Rechnungshof spricht im Jahresbericht 2015 (Band I: Staatsverwaltung, S. 173) für die TU Dresden von einem „Sanierungsstau von rd. 500 Mio. €“ [3]. Gleichzeitig ergeben sich durch den Denkmalschutz (Bild 1-2) für einen Großteil der Bestandsgebäude besondere Herausforderungen bei der energetischen Ertüchtigung und Integration erneuerbarer Energien. Der Hauptcampus der TU Dresden ist durch ein Gebäudegemenge von ca. 150 kleineren und größeren Gebäuden unterschiedlichsten Alters und baulichen Zustandes geprägt, welche zusammengenommen ca. 50 größere Gebäudekomplexe ergeben. Gleichzeitig verfügt er über eine gut ausgebaute Energieinfrastruktur. Die Mehrzahl der Gebäude ist an das Fernwärme(FW)-Netz der Stadtwerke angeschlossen. Im Bereich des Hauptcampus (Bild 1-3) kann dieses von der TU Dresden auch zur Weiterleitung von Wärmeüberschüssen genutzt werden. Das ermöglicht, die durch eine Gasturbinen-Versuchsanlage (Kraftwerkssimulator) und eine Solarthermie-Versuchsanlage des Zentrums für Energietechnik der TU Dresden (ZET) erzeugte Wärme einzuspeisen und durch umliegende Campusgebäude zu verbrauchen. Insgesamt existieren auf dem Hauptcampus 38 FW-Zentralen mit einer Anschlussleistung von insgesamt ca. 25 MW. Die Fernwärme wird vorwiegend zur

1 Ausgangssituation und Herausforderungen

189

Gebäudebeheizung, Zuluftkonditionierung und teilweise auch für technologische Prozesse verwendet. Trinkwassererwärmung findet nur in wenigen Gebäuden statt, welche größere Mengen Warmwasser für Labore, Cafeterien oder Duschräume (Sporthallen) benötigen.

Bild 1-2 Denkmalstatus der Gebäude des Hauptcampus der TU Dresden.

Zusätzlich existiert am Südende des Campus ein Niedertemperatur-Nahwärmenetz kleinerer Ausdehnung, mit dessen Hilfe Abwärme des größten Rechenzentrums der Universität zu umliegenden Gebäuden transportiert wird (Übertragungsleistung max. 1,5 MW bei 45/35 °C).

Bild 1-3 Fernwärmenetz im Bereich des Hauptcampus der TU Dresden.

190

Entwicklung des Energieverbrauches im Bestand am Beispiel des TU Dresden-Campus

Die Kälteversorgung des Campus erfolgt über sieben kleinere Nahkältenetze (Kälteinseln) sowie eine Reihe dezentraler Klein-Kälteerzeuger. Insgesamt sind auf dem Hauptcampus Kälteerzeuger mit einer Nennleistung von ca. 22 MW installiert und erreichen damit das Niveau der Wärmeversorgung. Die Kälte wird überwiegend für technologische Prozesse in Laboren und Werkstätten, zur Kühlung von Rechentechnik und zur Hörsaalklimatisierung benötigt. Eine Komfortkühlung von Büro-, Besprechungs- und Seminarräumen findet bislang nur in Ausnahmefällen statt. Der Kälteverbrauch des Hauptcampus liegt derzeit in der Größenordnung von 70 % des Heizwärmeverbrauches. Die Elektroenergieversorgung des Hauptcampus ist an zwei zentralen Übergabestationen mit dem öffentlichen Stromnetz verbunden. Von dort aus versorgen sieben interne Mittelspannungsringe sämtliche Gebäude. Dies ermöglicht auch die flexible Umverteilung des auf dem Campus erzeugten Stromes, welcher mit Hilfe von PV-Anlagen (gegenwärtig ca. 350 MWh/a aus 7 Aufdach-Anlagen) regenerativ gewonnen und vom Kraftwerkssimulator im KWK-Prinzip (Kraft-Wärme-Kopplung) erzeugt wird. 2

Analyse des Flächen- und Energieverbrauches seit 1998

2.1 Hauptnutzfläche und Heizenergieverbrauch Betrachtet man die Entwicklung des Flächenverbrauches der vergangenen 20 Jahre, so zeigt sich zunächst ein recht moderater Anstieg der Hauptnutzfläche der Universität um ca. 30 % (Bild 2-1, links). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im Nachgang der politischen Wende 1990 diverse Umstrukturierungen von Wissenschaftsbereichen und teilweise Neuausrichtungen stattfanden. Bei genauerer Analyse zeigt sich ein überproportional starker Zuwachs an hochtechnisierten Flächen (Labor-, Serverraum- und Technikflächen) um ca. 70 %. Insbesondere in der jüngeren Vergangenheit war eine rege Neubautätigkeit zu verzeichnen. Es entstanden vor allem Institutsgebäude der Naturwissenschaften mit hohem technischem Ausstattungsgrad und zahlreichen Laboren. Im Gegenzug wurden Anmietungen abgegeben und ältere Gebäude teilweise abgerissen.

Bild 2-1 Flächen- und Energieverbrauch der TU Dresden gesamt (ohne medizinische Fakultät).

2 Analyse des Flächen- und Energieverbrauches seit 1998

191

Die Universität ist sich ihrer Vorreiterrolle und ökologischen Verantwortung bewusst und initiiert im Bestand regelmäßig Energieeffizienzmaßnahmen. Neu errichtete Gebäude verfügen über einen hohen baulichen Wärmeschutz. Trotz des Flächenzuwachses konnte der Wärmeverbrauch des Hochschulcampus dadurch über die Jahre auf einem nahezu gleichbleibenden Niveau gehalten werden (Bild 2-1, Mitte). Aufgrund der überwiegenden Versorgung der Campusgebäude mit Fernwärme der Dresdner Stadtwerke, mit hohem KWK-Anteil aus einem hocheffizienten Gas-und-Dampfturbinen-Kraftwerk (GuD), wirkt sich der Wärmeverbrauch auch weniger stark auf die Treibhausgas(THG)-Bilanz aus. Nichtsdestotrotz ist der Wärmebedarf von hoher Relevanz, da er erhebliche Energiekosten verursacht und in anderen Quartieren (mit weniger effizienter Wärmeversorgung) deutlich höhere Emissionen hervorruft. Betrachtet man den Fernwärmeverbrauch differenziert nach Gebäuden, zeigen sich individuell große Unterschiede. Die Bandbreite der flächenspezifischen Wärmeverbräuche reicht von ca. 30 bis 400 kWh/(m²a), in Einzelfällen sogar bis 700 kWh/(m²a). Berücksichtigt man die variierende Nutzung und Ausstattung der Gebäude (in Abhängigkeit der zugeordneten Fachbereiche und Anteile von Nutzungs-/Technikflächen gemäß DIN 277 [4]), zeichnet sich folgendes Bild ab: – Die höchsten flächenspezifischen Wärmeverbräuche besitzen Gebäude mit großen Labor- und Versuchsflächen sowie die Sporthallen und der Botanische Garten (viele Gewächshäuser). Hier wird Fernwärme in größerem Umfang zur Zuluftkonditionierung und Trinkwassererwärmung eingesetzt. – Bei komplett- oder teilsanierten Gebäuden geht der FW-Verbrauch im Durchschnitt um 30…40 % zurück, was aber teilweise auf die Auslagerung oder Stilllegung von Großverbrauchern (wie Mensa, Versuchsstände) zurückzuführen ist. – Im Mittel kompensieren sich Verbrauchsreduktionen und -erhöhungen des Gebäudegemenges. Der flächenspezifische FW-Verbrauch des gesamten Campus liegt in den letzten 20 Jahren durchgängig im Bereich von ca. 100…120 kWh/(m²a), was gemäß EnEV der Energieeffizienzklasse C…D entspricht [5]. Angesichts des Baualters und -zustandes der Campusgebäude stellt dies einen eher niedrigen Verbrauchswert dar (siehe auch Bild 2-2, links). 2.2 Kältebedarf und Elektroenergieverbrauch Mit dem Aufbau der Nahkälteversorgung stieg der Fernwärmeverbrauch durch den Einsatz von Absorptionskältemaschinen 2006 bis 2015 temporär an (Bild 2-1, Mitte). Inzwischen wurde in den meisten Fällen jedoch auf elektrisch getriebene Kompressionskältemaschinen umgestellt, so dass sich der wachsende Kältebedarf seither v. a. beim Elektroenergieverbrauch niederschlägt. Für den Elektroenergieverbrauch war in der Vergangenheit eine nahezu lineare Zunahme zu verzeichnen (Bild 2-1, rechts), in den letzten 20 Jahren fand mehr als eine Verdoppelung statt. Angetrieben wird diese Entwicklung durch den Zuwachs an Rechenkapazitäten (2006 Inbetriebnahme des ersten Hochleistungsrechners) und Laboreinrichtungen, Neubauten mit hohem Glasanteil (solare Lasten) sowie

192

Entwicklung des Energieverbrauches im Bestand am Beispiel des TU Dresden-Campus

gestiegene Arbeitsschutz- und Sicherheitsvorschriften, woraus höhere Anforderungen an die Kühlung und Belüftung dieser Nutzflächen und damit zusätzliche Elektroenergiebedarfe resultieren. Erstellt man als Pendant zum Energieverbrauchsausweis der Einzelgebäude unter Verwendung der Referenzwerte für Nichtwohngebäude des BMWi/BMUB [6] eine Verbrauchsbewertung für den gesamten Campus (Quartiersbewertung auf Basis flächengewichteter Einzelgebäudekenndaten), bestätigt sich diese Tendenz. Demnach liegt der Stromverbrauchskennwert 26 % über dem Referenzwert, der Heizenergieverbrauchskennwert dagegen 20 % unterhalb des Referenzwertes (Bild 2-2). Dabei ist der bauliche Wärmeschutz der meisten (historischen) Campusgebäude eher gering. Dies ist ein Indiz dafür, dass solare und interne (Geräte-) Wärmegewinne den Heizenergiebedarf senken, den Elektro- und Kühlenergiebedarf im Gegenzug aber erhöhen. Ergebnisse der im Rahmen des Forschungsprojektes CAMPER [1] 2016 durchgeführten universitätsweiten Mitarbeiterbefragung [7] untermauern dies. Demnach sind ca. 40 % der Befragten mit den Raumtemperaturen im Sommer unzufrieden und weitere 20 % teilweise unzufrieden. Im Winter ist die überwiegende Mehrheit der Befragten mit den Raumtemperaturen zufrieden (> 70 %). Der Vermeidung zukünftig weiter steigender Kühllasten sollte bei der Planung von Energieeffizienzmaßnahmen daher besonderes Augenmerk zukommen.

Bild 2-2 Energieverbrauchsbewertung für den Hauptcampus der TU Dresden (2013-2015).

Die Analyse vorhandener Elektro- und Kältezählerdaten sowie ergänzende Berechnungen ergaben, dass ca. 2/3 der Elektroenergie für Labor- / Versuchsanlagen, EDV und Kühlkälte benötigt werden. Hier existiert tendenziell ein großes Einsparpotential durch effizientes Nutzerverhalten, den Einsatz moderner Technik, einen energiesparenden Anlagenbetrieb und sommerliche Wärmeschutzmaßnahmen. Die Entwicklung des Elektroenergieverbrauches ist aus ökonomischer wie ökologischer Sicht besonders kritisch zu bewerten, da der Strombezug mit sehr hohen Kosten und nach wie vor auch hohen THG-Emissionen verbunden ist. Der Elektroenergieverbrauch verursacht die mit Abstand größten Emissionen der TU Dresden (Bild 2-3). Weniger als 1 % des Elektroenergiebedarfes wird gegenwärtig direkt auf dem Campus durch photovoltaisch erzeugten Strom kompensiert. Auch diesbezüglich besteht ein deutliches Ausbaupotential.

3 Energieentwicklungsplanung

30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0

193

CO2-Emissionen in tCO2-Äq/a

27.027 11.205

5.734

Heizenergie (Fernwärme)

Elektroenergie

Mobilität

Bild 2-3 CO2-Emissionen der TU Dresden im Jahr 2016 (ohne medizinische Fakultät).

Aufschlussreich erweist sich darüber hinaus die Einbeziehung der Mobilität von Beschäftigten und Studierenden in die Bilanzierung. Die durch Arbeitswege, Dienstreisen und den Universitätsfuhrpark hervorgerufenen THG-Emissionen [8] fallen ca. zweimal so hoch aus wie diejenigen zur Beheizung des gesamten Campus. Zusammenfassend bestätigen die Ergebnisse der Verbrauchsanalyse die zu Beginn erstellten Thesen: 1. Um den Energieverbrauch des Campus und die Emission umweltschädlicher Gase signifikant reduzieren zu können, bedarf es größerer Anstrengungen als bisher. 2. Eine Fokussierung auf die energetische Ertüchtigung der Gebäudehüllen ist nicht ausreichend. Alle energierelevanten Bereiche (insbes. auch die Mobilität) sollten in die Einsparbemühungen einbezogen und entsprechend ihrer ökonomisch-ökologischen Bewertung priorisiert werden. 3. An der TU Dresden sollte das Hauptaugenmerk auf eine verstärkte solare Eigenstromversorgung und Reduktion des Kälte- und Elektroenergiebedarfes gerichtet werden. Hierfür sind wirksame Maßnahmen zu erarbeiten. 3

Energieentwicklungsplanung

3.1 Vorgehensweise Ausgehend von der tiefgehenden energetischen Campusanalyse wurden im Forschungsprojekt CAMPER strategische Überlegungen zur Energieverbrauchsreduktion entwickelt, geeignete Maßnahmen baulich-technischer Art sowie zur Unterstützung eines effizienten Nutzerverhaltens erarbeitet und ökonomisch-ökologisch bewertet. Unter Berücksichtigung zukünftig abweichender Randbedingungen (Klima, Energiemix, technologischer Fortschritt) wurden daraufhin Energieentwicklungsszenarien erstellt. Die verschiedenen Verbrauchergruppen wurden dabei sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit betrachtet und erreichbare Energiebedarfsänderungen quantifiziert.

194

Entwicklung des Energieverbrauches im Bestand am Beispiel des TU Dresden-Campus

3.2 Bauliche Sanierungsstrategien Unter Berücksichtigung bekannter Bauplanungen des Freistaates Sachsen wurde ein Vorschlag für eine geeignete Sanierungsreihenfolge (Sanierungsfahrplan) der ca. 50 Gebäudekomplexe des Hauptcampus der TU Dresden erarbeitet. Um die größtmögliche Energieverbrauchsreduktion erreichen zu können, orientiert sich die vorgeschlagene Sanierungsreihenfolge am baulichen und energetischen Zustand der Gebäude (Priorisierung baufälliger Gebäude). Weiterhin werden, basierend auf den Erfahrungen zurückliegender Sanierungen, typische Bauzeiten berücksichtigt (je nach Gebäudegröße und Denkmalstatus ca. 3…5 Jahre) und maximal drei größere Baumaßnahmen gleichzeitig vorgesehen. Auf diese Weise können die Nutzflächenbedarfe wie auch Ausweichmöglichkeiten für ggf. erforderliche Leerzüge sichergestellt werden. Die Sanierungsrate für den Hauptcampus liegt damit im Bereich von 6 %, also signifikant über dem bundesdeutschen Durchschnitt von derzeit ca. 1,0 % (Vollsanierungsäquivalent Gebäudehülle [9]). Eine weitere Erhöhung ist im laufenden Universitätsbetrieb ohne Bereitstellung zusätzlicher Kompensationsflächen unrealistisch. Die Sanierung zuletzt errichteter oder sanierter Gebäude ist aus Kapazitätsgründen daher erst nach 2050 vorgesehen, wobei diese Gebäude dann 40…50 Jahre ohne umfassende Modernisierung in Betrieb sind.

30

200

25

150

20 15

100

10

50

5 0

0

Mittl. Außentemperatur [°C]

Mittlere solare Einstrahlung auf Horizontale [kWh/m²]

Hinsichtlich der energetischen Ertüchtigung der Gebäudehüllen wurden drei verschiedene Varianten betrachtet. Diese umreißen die gesamte Bandbreite möglicher Sanierungsstrategien und lassen die Ableitung prinzipieller Aussagen zur energetischen und ökonomischen Bewertung zu. Dabei wurde auch die Wirkung von Klimaveränderungen untersucht, wie sie der Deutsche Wetterdienst (DWD) für das Jahr 2045 prognostiziert (Testreferenzjahr TRY-2045 basierend auf Annahmen für den Zeitraum 2031 bis 2060, Klimaregion 4 – Norddeutsches Tiefland, Repräsentanzstation Potsdam).

TRY 2010_Globalstrahlung TRY 2045_Globalstrahlung TRY 2010_Außentemp. TRY 2045_Außentemp.

Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez

Bild 3-1 Außentemperatur und Globalstrahlung für Potsdam, Testreferenzjahr 2010 vs. 2045.

Vergleicht man das zum Projektbeginn 2015 verfügbare TRY-2010 mit der Prognose für 2045, zeigt sich ein deutlicher Anstieg der Außentemperatur im Jahresmittel um 1,6 K (in der kälteren Jahreszeit etwas ausgeprägter als in der wärmeren, Bild 3-1). Die solare Einstrahlung bleibt in Summe konstant, im Jahresverlauf wird jedoch eine gewisse Ver-

3 Energieentwicklungsplanung

195

gleichmäßigung erwartet. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass allein aufgrund klimatischer Veränderungen der Heizenergiebedarf zurückgehen und der Kühlenergiebedarf ansteigen wird. Der sommerliche Wärmeschutz gewinnt also auch diesbezüglich an Bedeutung und sollte bei künftigen Sanierungsmaßnahmen verstärkt beachtet werden. Die betrachteten Sanierungsvarianten sind in Bild 3-2 vergleichend dargestellt. Die Varianten 2 und 3 sowie der unsanierte Ausgangszustand (Variante 0) werden jeweils für den Fall mit und ohne Eintreten der Klimawandelprognose untersucht. Dabei wird der Klimawandel als kontinuierlicher Prozess betrachtet und es erfolgt eine Interpolation für die Jahre 2020 und 2030; nach 2045 wird keine weitere Änderung angenommen. Als Referenz dient der unsanierte Ausgangszustand ohne Klimawandel (TRY-2010).

Sanierungsvarianten 1 – Ökonomisch vorteilhaft Ohne Klimawandel (TRY-2010)

2 – Energetisch ambitioniert Ohne Klimawandel (TRY-2010)

Mit Klimawandel (TRY-2045)

Geringinvestive Maßnahmen, einfach zu realisieren

Moderate Komplettsanierung der Gebäudehülle inkl. Fenster

Maßnahmen: (1) Moderate Dämmung - oberer Gebäudeabschluss (20cm) - Kellerdecke (15 cm)

Maßnahmen: (1) Moderate Dämmung - oberer Gebäudeabschluss (20cm) - Kellerdecke (15 cm) - Außenwände (je nach Gebäudetyp ca. 8-20 cm) (2) Erneuerung der Fenster

3 – Passivhaus-Standard Ohne Klimawandel (TRY-2010)

Mit Klimawandel (TRY-2045)

Komplettsanierung der Gebäudehülle auf Passivhaus-Standard Maßnahmen: (1) Erhöhte Dämmung (durchgängig ca. 30 cm) - oberer Gebäudeabschluss - Kellerdecke - Außenwände (2) Erneuerung der Fenster

Bild 3-2 Untersuchte Sanierungsvarianten mit den jeweiligen baulichen Maßnahmen.

Dem Ansatz einer moderaten Gebäudedämmung in der ökonomisch vorteilhaften Variante 1 und der energetisch ambitionierten Variante 2 liegen folgende Überlegungen zugrunde: Der Denkmalstatus eines Großteils der zu sanierenden Campusgebäude verbietet die Anbringung von Dämmschichten auf der äußeren Fassadenseite. Eine Innendämmung ist zwecks Vermeidung von Feuchteschäden nur bis zu einer Stärke von ca. 8 cm möglich. Weiterhin verschlechtert sich mit zunehmender Dämmstärke die ökologische und ökonomische Bilanz, da der Wärmedurchgangswiderstand nicht proportional ansteigt. Auch sollen sommerliche Überhitzungserscheinungen vermieden werden. 3.3 Resultierende Heiz- und Kühlenergiebedarfe Bei Umsetzung des vorgeschlagenen Sanierungsfahrplanes ergibt sich für den Hauptcampus der TU Dresden die in Bild 3-3 dokumentierte relative Entwicklung des Heiz- und Kühlenergiebedarfes, bezogen auf den Ausgangszustand 2015. Die Resultate wurden für

196

Entwicklung des Energieverbrauches im Bestand am Beispiel des TU Dresden-Campus

das recht große Gebäudegemenge mit Hilfe statischer Berechnungsmethoden (Monatsbilanzverfahren) ermittelt, unter Anwendung der Software EnerCalC, Version 6 [10]. Es wird deutlich, dass nach 2050 nur noch geringe zusätzliche Einsparungen an Heizenergie zu erreichen sind, da in der jüngeren Vergangenheit errichtete Gebäude bereits über einen sehr guten baulichen Wärmeschutz verfügen. Insgesamt steigt mit den Jahren aber die Zahl der energetisch sanierten Gebäude und damit die insgesamt erreichbare Heizenergieeinsparung. Würde man die Energieverbrauchsentwicklung als Zeitreihe auftragen, ergäbe sich ein asymptotischer Trend (im Bild werden die Zeitschritte größer). Insgesamt können durch Sanierungsmaßnahmen und Klimaveränderungen bis 2080 Heizenergieeinsparungen von ca. 20 % (geringinvestive Maßnahmen) bis 60 % (Komplettsanierung) erreicht werden. Strebt man den Passivhaus-Standard an, erhöht sich das Einsparpotential an Heizenergie gegenüber der moderaten Komplettsanierung nur um maximal 4 Prozentpunkte.

Entwicklung Kühlenergiebedarf ggü. 2015

Entwicklung Heizenergiebedarf ggü. 2015 2020

2030

2050

2080

(Komfortkühlung)

0%

70%

-10%

60%

-20%

50%

-30%

40%

-40%

30%

-50%

20%

-60% -70%

Æ 10 Jahre

Æ 20 Jahre

Æ 30 Jahre

Æ 10 Jahre

Æ 30 Jahre

10% 0% 2020

Variante 1 (ökonomisch) Variante 2 (ambitioniert) Variante 3 (Passivhaus)

Æ 20 Jahre

2030

2050

2080

Variante 0 (unsaniert) - mit Klimawandel Variante 2 (ambitioniert) - mit Klimawandel Variante 3 (Passivhaus) - mit Klimawandel

Bild 3-3 Relative Entwicklung des Heiz- und Kühlenergiebedarfes (Endenergie) des Hauptcampus der TU Dresden bei Umsetzung des Sanierungsfahrplans.

Die Klimaprognose für 2045 bewirkt bei allen Gebäuden, nahezu unabhängig vom Sanierungsgrad bzw. Wärmeschutzniveau, eine Reduktion des jeweiligen Heizenergiebedarfes um ca. 15 %. Dabei ist zu beachten, dass Klimavorhersagen mit größeren Unsicherheiten behaftet sind. Grundsätzlich gilt jedoch, dass der Einfluss der Außentemperatur auf den (transmissionsbedingten) Energiebedarf für Heizen und Kühlen mit zunehmender Wärmedämmung der Gebäudehülle sinkt. Beim Kühlen beeinflussen solare und interne Lasten den Energiebedarf stärker als im Heizfall, weshalb hier die Wirkung des vorhergesagten Außentemperaturanstiegs variiert. Für die einzelnen Gebäude zeigt sich eine Erhöhung des Kühlenergiebedarfes im Bereich von 5 % (jüngere, gedämmte Gebäude) bis 30 % (ungedämmte Altbauten). Dies bedeutet jedoch nicht, dass man durch Dämmmaßnahmen den klimawandelbedingten Anstieg des Kühlbedarfes verringern kann! Vorliegend verhält es sich so, dass der absolute Anstieg des flächenbezogenen Kühlenergiebedarfes unabhängig vom Wärmeschutzniveau bei allen Gebäuden ähnlich hoch

3 Energieentwicklungsplanung

197

ist. Da die jüngeren Gebäude bereits heute erhöhte Kühlbedarfe besitzen, fällt bei ihnen eine klimabedingte Änderung in der Relation weniger ins Gewicht. Wie aus Bild 3-3 weiterhin hervorgeht, verursacht eine geringe bis moderate Gebäudedämmung einen mäßigen Anstieg des Kühlenergiebedarfes bis 2080 um 3 bis 7 % (Varianten 1 / 2a, rot / blau). In Verbindung mit steigenden Außentemperaturen (TRY-2045) können jedoch Erhöhungen um bis zu 23 % resultieren (Variante 2b, blau schraffiert). Für die Sanierungsvariante 3 (Passivhaus-Standard, grün / grün schraffiert) ist je nach Ausprägung der Klimaveränderungen ein Anstieg des Kühlenergiebedarfes um 11 bis 26 % zu verzeichnen (ca. 4 Prozentpunkte mehr als bei moderater Komplettsanierung). Dabei ist die vorhergesagte Klimaerwärmung in den vorliegenden Untersuchungen die Hauptursache für den wachsenden Kühlbedarf. Ließe man die Gebäude hinsichtlich des baulichen Wärmeschutzes unverändert, ergäbe sich allein hierdurch ein 20 % höherer Kühlenergiebedarf als heute (Variante 0, gelb). Die Wirkung der Gebäudedämmung wird dabei vorliegend eher vorsichtig bewertet bzw. unterschätzt, zum einen da sich Kühllasten im Gegensatz zu Heizlasten stärker als Folge instationärer Bedingungen einstellen. Mit der Monatsbilanzierung der Software EnerCalC kann dies jedoch nur ansatzweise abgebildet werden. Zum Zweiten verstärkt die Anbringung von Wärmedämmung auf der Fassadeninnenseite (Innendämmung von Denkmalen) sommerliche Überhitzungserscheinungen, da der Innenraum von der dämpfenden Wirkung der massiven Außenwände (Speichermassen) quasi entkoppelt wird. Auch dieser Effekt kann bei Verwendung von EnerCalC nicht berücksichtigt werden. Im Rahmen des Projektes wurden zusätzlich für ausgewählte Einzelgebäude zeitlich und räumlich hochaufgelöste dynamische Simulationen durchgeführt. Diese zeigen durchweg stärkere Auswirkungen von Wärmedämmung auf den Kühlbedarf. Festzuhalten ist, dass eine erhöhte Gebäudedämmung als Treiber auf den Kühlenergiebedarf wirkt und bei Nutzern und Betreibern die Motivation zur Nachrüstung von Geräten zur Raumluftkonditionierung erhöht. In der Praxis, speziell bei Nichtwohngebäuden wie den Instituten der TU Dresden, verursachen wachsende informations- und gerätetechnische Ausstattungen sowie bei Neubauten z. T. erhöhte Glasanteile auch ohne signifikante klimatische Veränderungen bereits ansteigende Kühlbedarfe. Einflüsse, die diesen Trend zusätzlich verstärken, sollten daher vermieden werden. Der leichte Rückgang des Kühlenergiebedarfes der Sanierungsvarianten mit Klimawandel im Jahr 2080 ggü. 2050 (Varianten 2b und 3, blau / grün schraffiert) erklärt sich dadurch, dass nach 2045 keine weiteren Klimaveränderungen angenommen und die heutigen „Neubauten“ saniert werden, deren Wärmeschutz nur noch marginal verbessert werden kann. Bei Erneuerung der Fenster sinken jedoch die solaren Einträge in das Gebäude und dieser Effekt überwiegt hier. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die angestrebte Energie- und THG-Reduktion dadurch gebremst wird, dass ansteigende Kühlbedarfe einen nicht unerheblichen Teil

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Entwicklung des Energieverbrauches im Bestand am Beispiel des TU Dresden-Campus

der heizseitig erreichbaren Einsparungen kompensieren. Dies war in der jüngeren Vergangenheit für den Campus der TU Dresden bereits zu verzeichnen. In der Gesamtschau erscheint daher die Strategie einer moderaten Komplettsanierung der Gebäudehülle, ähnlich Variante 2, zielführend. Zusätzlich sollten geeignete äußere Verschattungseinrichtungen nachgerüstet bzw. modernisiert werden, vorzugsweise unter Berücksichtigung der Möglichkeiten zur Tageslichtlenkung. Insbesondere bei Gebäuden mit erhöhten internen Lasten (durch EDV, Geräte, Personen), wie Schulen / Hochschulen, ist zur Vermeidung stärkerer sommerlicher Überhitzungserscheinungen von der Realisierung des PassivhausStandards abzuraten. Praxiserfahrungen durchgeführter Schulsanierungen bestätigen dies (siehe bspw. [11]). Unabhängig vom avisierten Wärmeschutzstandard wird die energetische Ertüchtigung der Gebäudehüllen zur Erreichung der energie- und klimapolitischen Ziele jedoch nicht genügen. Es bedarf zusätzlicher technischer und organisatorischer Maßnahmen, wie im Folgenden dargelegt wird. 3.4 Energieversorgungsstrategien Auf Grundlage der für den Campus der TU Dresdens festgestellten Energieversorgungssituation und baulicher Entwicklungsszenarien wurden technische und organisatorische Maßnahmen unterschiedlichster Art hinsichtlich ihrer Eignung untersucht. Neben der zu erwartenden energie- und emissionsmindernden Wirkung gingen auch betriebstechnische Aspekte, die praktische Umsetzbarkeit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit in die Bewertung ein. Innovative Techniken (wie Mikro-Windkraftanlagen, paralleles Heizen/Kühlen mit Hochtemperatur-Wärmepumpen, PV-Faltläden, PVT-Kollektoren, PCMLatentwärmespeicher, präparierte Trittplatten für „Energy harvesting“) wurden ebenso betrachtet wie konventionellere Lösungen zur Effizienzsteigerung und regenerativen Energiegewinnung (wie Photovoltaik, Solarthermie, oberflächennahe Geothermie, KraftWärme-Kälte-Kopplung mit BHKW und Adsorptionskältemaschine, großvolumige Kältespeicher, hocheffiziente Turbokompressor-Kältemaschinen, LED-Beleuchtung, intelligente Regel- und Steueralgorithmen zur bedarfsgerechten Versorgung). Auch die Möglichkeiten zur Erweiterung der bestehenden Kälteverbünde, zur verstärkten Abwärmenutzung und Verbesserung des energierelevanten Nutzerverhaltens wurden untersucht. Im Anschluss erfolgte mit Blick auf die Effektivität unter den konkreten Gegebenheiten folgende Priorisierung von Maßnahmen bzw. Strategien: – Erweiterte Ausnutzung von Nah-, Fern- und Abwärme, v. a. auf Niedertemperaturniveau – Erhöhung der Effizienz und Flexibilität der Kälteversorgung durch Integration größerer Speicherkapazitäten, Bedarfsanpassung der installierten Leistungen, größtmögliche Ausnutzung der freien Kühlung, Erhöhung der Temperaturen und Spreizungen in Kaltwassernetzen, Einsatz effizienter Kälteerzeuger, sorptionsgestützte Raumklimatisierung (DEC; wo zweckmäßig) – Nutzung geeigneter Dachflächen zur Installation von Photovoltaik (PV) und campusinterner Eigenverbrauch des solar erzeugten Stromes

3 Energieentwicklungsplanung

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– Nutzung von Solarthermie in Einzelfällen mit hohem Trinkwarmwasserbedarf (Sportstätten, Gewächshäuser) – Prüfung des Einsatzes von Wärmepumpen für zu errichtende Gebäude unter Beachtung der bestehenden Wärme-/Kälte-Infrastruktur, der Verfügbarkeit von Erdreichoder Prozesswärmequellen bzw. –wärmesenken sowie der nutzerspezifischen Anforderungen an die Medientemperaturen und Leistungen – Unterstützung eines effizienten Nutzerverhaltens (auch seitens der Mobilität) durch Bereitstellung aktueller Informationen zum verhaltensabhängigen Energieverbrauch, Schaffung von Anreizstrukturen für sparsames Verhalten, Vermeidung von „Rebound-Effekten“ – Umfassendes Energiemanagement 3.5 Entwicklungsziele für den Endenergiebedarf Die Prognosen zum zukünftigen Heiz- und Kühlenergiebedarf des Campus wurden mit Entwicklungsszenarien seitens der Gebäudetechnik und der Energiebereitstellung an der Quartiersgrenze kombiniert. Auf diese Weise konnte unter Berücksichtigung von Annahmen zum Klimawandel und technologischen Fortschritt ein Energie- und THG-Entwicklungsplan erstellt werden. Dieser beschreibt mögliche Entwicklungspfade mit kurz-, mittel- und langfristiger zeitlicher Perspektive (2030 - 2050 - 2080) und untersetzt sie mit konkreten Maßnahmen für die verschiedenen Verbrauchergruppen. Bild 3-4 zeigt zusammengefasst das abgeleitete Entwicklungsziel für den Endenergiebedarf des gesamten Campus der TU Dresden, in Summe und differenziert nach Energieträgern.

Spezifischeer Endenergiebedarf in kWh/(m²a)

300 250 200 150

100% 80% 64%

Ist-Stand 2015 Ziel 2030 Ziel 2050 Ziel 2080

Erreichbarer Anteil Erneuerbarer Energien an der Campus-Energieversorgung elektrisch: ca. 20% insgesamt: ca. 10% (ohne Erneuerbare aus öff. Netzen)

52%

(ohne "Graue Energie")

100 50 0 Endenergie Bereitstellung gesamt

Erdgas, Heizöl

Fernwärme

Netz-Strom

PV-Strom

Benzin-Äq. (Mobilität)

Bild 3-4 Entwicklungsziele für den flächenspezifischen Endenergiebedarf der TU Dresden.

Der maximal erreichbare Anteil erneuerbarer Energien an der Campus-Energieversorgung wird demnach auf insgesamt ca. 10 % geschätzt, zusätzlich zu den wachsenden Anteilen erneuerbarer Energien des Netzstrom- und Fernwärmebezugs. Betrachtet man den

200

Entwicklung des Energieverbrauches im Bestand am Beispiel des TU Dresden-Campus

Bereich der Elektroenergieversorgung für sich, kann von einem maximal erreichbaren Anteil erneuerbarer Energien im Bereich von 20 % ausgegangen werden. Bezogen auf das heutige Verbrauchsniveau bewegen sich die Entwicklungsziele für den Endenergiebedarf des Campus der Jahre 2030 bis 2080 im Bereich von 80 bis 52 %, für die THGEmissionen (unter zusätzlicher Berücksichtigung von Prognosen zur Entwicklung des deutschen Strommixes) im Bereich von 73 bis 26 %. Das im Klimaschutzplan 2050 [12] beschriebene Ziel für THG-Emissionsreduktionen im Gebäude- und Verkehrssektor bis zum Jahr 2030 auf 60 % des Standes von 2014 wird selbst ohne zusätzliche hochtechnisierte Neubauten oder erweiterte Aufgaben der Universität (wie IT-Dienstleistungen für externe Nutzer) schwer zu erreichen sein. Man kann argumentieren, dass der Mehrwert der Wissenschaft und Forschung für Wirtschaft und Gesellschaft einen gewissen Mehrbedarf an Energie rechtfertigt. Dieser Mehrbedarf muss jedoch gesamtgesellschaftlich in anderen Bereichen kompensiert werden. Das Fernziel eines weitgehend klimaneutralen Gebäudebestandes wird nicht durch große Verbesserungen in einzelnen Versorgungsbereichen erreichbar sein, sondern vielmehr durch die geschickte Kombination einer Vielzahl von Maßnahmen, welche sich gegenseitig ergänzen und in ihrer positiven Wirkung verstärken (Synergieeffekte). So kann beispielsweise die „Stromwende“ in Deutschland, mit sukzessiver Verringerung der CO2Äquivalent-Emissionen des deutschen Strommixes, in Verbindung mit Maßnahmen zur moderaten Absenkung des Elektroenergieverbrauches für die TU Dresden langfristig eine signifikante Reduktion der THG-Emissionen herbeiführen. Je weiter der betrachtete Zeithorizont gefasst ist, umso größere Unsicherheiten ergeben sich bzgl. der getroffenen Annahmen. Ein Entwicklungsplan sollte daher in größeren Abständen fortgeschrieben werden. Im Rahmen des an der TU Dresden kürzlich gestartete Forschungsprojektes CAMPER-MOVE (2019–2024) [2] werden die weiteren Entwicklungen auf dem Weg zum Energieeffizienz-Campus wissenschaftlich begleitet, die Wirksamkeit umgesetzter Maßnahmen überprüft und die Zielvorgaben aktualisiert. 4

Fazit

Bei konsequenter Umsetzung vielfältiger Einzelmaßnahmen zur Reduktion des Nutzenergiebedarfes in Verbindung mit einer optimierten, zunehmend regenerativen Energieversorgung (zentral und dezentral) können für den TU Dresden-Campus deutliche Energie- und THG-Einsparungen erzielt werden. Dies erfordert jedoch erheblich stärkere Bemühungen als bisher. Insbesondere beim Elektroenergieverbrauch muss eine Trendwende herbeigeführt werden. Erreicht werden kann dies v. a. durch den Einsatz energiesparender Rechentechnik und Laborgeräte sowie einen bedarfsgerechten Betrieb der Geräte, die Reduktion des Kühlenergiebedarfes (u.a. durch verbesserten sommerlichen Wärmeschutz) sowie eine effiziente Kälteerzeugung, eine verstärkte solare Eigenstromversorgung des Campus und ein erweitertes Energiecontrolling / Energiemanagement. Die Senkung des absoluten Heizenergiebedarfes kann perspektivisch trotz geplanter Campuserweiterun-

5 Danksagungen

201

gen gelingen, indem vorhandene und ggf. auszubauende campusinterne Wärmenetze einer erweiterten Nutzung zugeführt und prozessbezogene Wärmequellen konsequent einbezogen werden. Nicht vernachlässigt werden dürfen die mobilitätsbedingten Energieverbräuche und Emissionen durch Arbeitswege und Dienstreisen der Mitarbeiter. Hier bedarf es neuer Mobilitätskonzepte mit entsprechenden Anreizen für ein ökologisch vorteilhaftes Nutzerverhalten. 5

Danksagungen

Die Ergebnisse entstanden im Rahmen des Forschungsprojektes CAMPER (2015 – 2019) mit Unterstützung durch das Dezernat Liegenschaften, Technik und Sicherheit der TU Dresden und den Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien- und Baumanagement (SIB). Wir bedanken uns bei beiden Partnern für die gute Kooperation im Forschungsprojekt, die anregenden fachlichen Diskussionen sowie die Bereitstellung von Gebäudedaten, Betriebs- und Verbrauchsinformationen.

6

Literatur

[1]

Forschungsprojekt CAMPER – CampusEnergieverbrauchsReduktion: Auf dem Weg zum Energieeffizienz-Campus der TU Dresden. Im Rahmen des 6. Energieforschungsprogramms der Bundesregierung, Förderschwerpunkt EnEff:Stadt des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) - FKZ 03ET1319A.

[2]

Forschungsprojekt EnEff:Stadt - CAMPER-MOVE: CampusEnergieverbrauchsReduktion – Maßnahmen zur energetischen Optimierung für eine ressourcenschonende VerbrauchsEntwicklung. Auf dem Weg zum Energieeffizienz-Campus der TU Dresden. Im Rahmen des 7. Energieforschungsprogramms der Bundesregierung, Förderschwerpunkt EnEff:Stadt des BMWi - FKZ 03ET1656.

[3]

Freistaat Sachsen, Sächsischer Rechnungshof: Jahresbericht 2015. Band I: Haushaltsplan, Haushaltsvollzug und Haushaltsrechnung, Staatsverwaltung. Leipzig, September 2015.

[4]

DIN 277-1: Grundflächen und Rauminhalte im Bauwesen – Teil 1: Hochbau. Berlin, Beuth Verlag, Januar 2016.

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Entwicklung des Energieverbrauches im Bestand am Beispiel des TU Dresden-Campus

[5]

Verordnung über energiesparenden Wärmeschutz und energiesparende Anlagentechnik bei Gebäuden (Energieeinsparverordnung - EnEV). Zuletzt geändert durch Art. 3 V v. 24.10.2015 I 1789.

[6]

BMWi / BMUB: Bekanntmachung der Regeln für Energieverbrauchswerte und der Vergleichswerte im Nichtwohngebäudebestand, April 2015.

[7]

Neumann, L.: Möglichkeiten der Nutzerbeeinflussung hinsichtlich eines energiesparenden Verhaltens. Studienarbeit, TU Dresden, Institut für Energietechnik, 2016.

[8]

Richter, F.: Mobilität: Bilanzierung und Maßnahmen. Hoch-N – Nachhaltigkeit an Hochschulen, TU Dresden, Lehrstuhl für Verkehrsökologie, 2017.

[9]

Oschatz, B.; Winiewska, B.: Wie kann der Ölheizungsbestand die Klimaziele erreichen? Studie im Auftrag des IWO Institut für Wärme- und Oeltechnik e. V., Dresden, Mai 2019.

[10]

EnerCalC – Excel-Werkzeug für vereinfachte Energiebilanzen in Anlehnung an DIN V 18599:2011-12| 2016|2018. Konzept und Entwicklung: Markus Lichtmeß. Anwendung und Test in der Lehre: Karsten Voss. www.enec.de/page/EnerCalC/index.html (letzter Aufruf: 30.08.2019).

[11]

5. Projektleitertreffen ENERGIEWENDEBAUEN „Kälte und Kühlung –aktive und passive Konzepte“. Praxisbericht I: Sanierung Berufskolleg Detmold zur Plusenergie-Schule. Praxisbericht II: Sanierung des Schul- und Sportzentrums Lohr am Main zur Plus-Energie-Schule. Detmold, 27. November 2018.

[12]

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Klimaschutzplan 2050. Berlin, November 2016.

Denkmalpflegerische Entscheidungen über Solaranlagen in Sachsen – ein Rückblick Dr. Ralf-Peter Pinkwart1 1 Landesamt für Denkmalpflege Sachsen, Schloßplatz 1, 01067 Dresden, Deutschland Die sächsische Denkmalpflege tat sich bei ihrer ersten Berührung vor heute ziemlich genau 20 Jahren – wie nicht anders zu erwarten war – schwer mit der Unterstützung neuzeitlicher Solartechnik auf Dächern der in ihrer Verantwortung liegenden Kulturdenkmale. Das, was in den frühen 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die damals gerade neu aufgekommenen liegenden Dachfenster in den zuvor fast nur von traditionellen Gaupen belichteten Dachlandschaften waren, wurden nun die Glasflächen der Solarthermie- und Photovoltaikanlagen: technisch wirkende, materialfremde Überformungen, unerwünschte Verletzungen zuvor geschlossener Dachflächen, überflüssige und störende modernistische Zutaten. Dabei gab es vereinzelte gestaltähnliche Großverglasungen auf heute ebenfalls schützenswerten historischen Gebäuden schon lange: seit um 1850 die Gewächshausarchitektur und seit um 1900 die immer häufiger gewordenen Atelierverglasungen, nicht nur auf Villen-, sondern auch auf Gewerbegebäuden. Trotzdem, – ein Unding –, noch ein Störfaktor mehr für die ohnehin schon durch die verschiedensten Einflüsse bedrohten, jedoch geschützten Erscheinungsbilder von kleingliedrigen Ziegeldächern, gestalteten Dachlandschaften und ganzen Altstadtaufsichten. Dabei kämpften gründliche Denkmalpfleger und Denkmalpflegerinnen schon mühsam genug gegen die ungeliebten, in Mode gekommenen und deshalb immer mehr gewordenen Dachliegefenster, über die in Einzelfällen sogar erst im Nachgang zu eigens anberaumten Kirchturmbesteigungen entschieden wurde…;-) Schlagwörter: Solaranlagen, Kirchen, Denkmalschutz

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Das Fanal Nikolaikirche

So darf es nicht verwundern, dass der wahrscheinlich erste Antrag für eine Solaranlage auf einem Kulturdenkmal in Sachsen – zumal dieser auch noch das Tafelsilber des Landes, eine der wertvollsten sächsischen Kirchen betraf – wie eine Bombe einschlug. Im März 1999 [1] liebäugelte die Gemeinde der Leipziger Nikolaikirche mit dem Plan, auf der spätgotischen Hallenkirche aus dem frühen 16. Jahrhundert, mit überraschend klassizistisch gestaltetem Innenraum, der sogenannten „Palmenhalle“, bekannt nicht zuletzt durch die berühmt gewordenen Montagsgebete, die die Montagsdemonstrationen im Wendeherbst 1989 ausgelöst hatten, ein „ökologisches Zeichen“ setzen zu wollen und auf ihrem, allerdings kaum einsehbaren Schieferdach eine 20 m²-PV-Anlage der Firma Solarwatt installieren zu lassen. Sie sollte dachintegriert sein, 5 kWp leisten und etwa 3500 kWh/a erzeugen. Schon im April sagte der dafür zuständige Landeskonservator Prof. Dr. Heinrich Magirius nein. Auch das landeskircheneigene Büro für Baupflege sprach sich negativ aus. Ab Sommer ging dann aber alles ganz schnell: der ausführlich begründete Antrag auf denkmalschutzrechtliche Genehmigung kam am 20.8., die Ablehnung am 26.8., der Widerspruch am 31.8. Nach nochmaliger Ablehnung aus unserem © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_14

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Denkmalpflegerische Entscheidungen über Solaranlagen in Sachsen – ein Rückblick

Haus entschied die Widerspruchsbehörde, das Leipziger Regierungspräsidium, am 29. Oktober 1999 dafür und hob den Ausgangsbescheid wieder auf. Die – 115.000 DM teure und übrigens zu 70 % durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt geförderte – Anlage wurde gebaut und ging im Juli 2000 in Betrieb. Weil man sie allerdings aus kaum einer Blickrichtung überhaupt sehen konnte, entschloss sich der Kirchenvorstand dazu, noch eine Anzeigetafel neben dem Haupteingang zu errichten, die den Ertrag, der erwirtschaftete wurde, auch anzeigte. Mittlerweile ist diese aber wieder demontiert. Das war ein Hieb in die Magengrube der sächsischen Denkmalpflege. Landeskonservator Prof. Dr. Gerhard Glaser schlug insgesamt drei Einladungen nach Leipzig im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit aus, man zog sich zurück und leckte die Wunden...

Bild 1-1 Leipzig, Nikolaikirche, Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 31.10.1999, (Repro).

Nahezu zeitgleich ging ein ähnliches Vorhaben anderswo allerdings ganz anders aus. Eine

2 DBU-Programm „300 Kirchgemeinden für Solarenergie“ erzeugt Konflikte

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der berühmtesten neogotischen Kirchen des Landes, die vom Schinkelschüler Carl August Schramm errichtete Matthäus-Markus-Kirche in Zwickau-Bockwa, mit ihrem großen Schieferdach, weithin einsehbar von der vorbeiführenden Bundesstraße 93, bekam eine mehr als nur symbolische, nämlich 260 m² große und 230.000 € teure, ebenfalls von der DBU geförderte PV-Anlage quasi als behördlichen Selbstläufer. Die farblich abgestimmte, nahezu die gesamte südliche Dachfläche einnehmende und gestalterisch optimierte Anlage wurde im September 1999 beantragt und schon zwei Monate später im ersten Anlauf genehmigt. Die Baumaßnahme war im Frühsommer 2002 abgeschlossen; die Anlage ging noch im September desselben Jahres ans Netz. Man kann diese Solaranlage nicht nur sehen, sie ist quasi integraler Bestandteil des Gebäudes geworden, und – für alle Beteiligten überraschend – sie beschädigt oder „zerstört“ gar nicht, sondern beeindruckt vielmehr durch Erhabenheit und Konsequenz. Haben wir Denkmalpfleger dazu lernen dürfen? Genau jene Lektion, die uns die Umweltschützer verordnen wollten? 2

DBU-Programm „300 Kirchgemeinden für Solarenergie“ erzeugt Konflikte

In den Folgejahren ging es dann Schlag auf Schlag. Ausgelöst durch das Förderprogramm der Deutschen Bundesstiftung Umwelt „300 Kirchgemeinden für Solarenergie“ und namentlich unterstützt durch den Baudezernenten der Sächsischen Landeskirche, Dr. Ulrich Böhme, überlegten immer mehr Kirchenvorstände, sich an dieser Entwicklung zu beteiligen. Wir bekamen immer mehr Anträge, leider auch für die Installation auf Kirchenund Pfarrhausdächern, die sich beim besten Willen nicht dazu eigneten: weil rote, z. T. erst gerade neu eingedeckte Biberschwanzziegeldächer durch die dadurch entstehenden Farbkontraste besonders belastet worden wären, weil klassische Fernsichten auf solche Dächer tatsächlich schweren Schaden genommen hätten, weil mitunter ganze Reihen von Fledermausgaupen für die Installation solcher Anlagen hätten „wegrasiert“ werden sollen, weil gestaltete, romantisch-abwechslungsreiche Dachlandschaften aus Ziergiebeln, Graten, Kehlen, Verschnitten und Dachaufbauten zur Disposition standen und anderes an Gründen mehr. Die Kirche und auch das Pfarrhaus in Rüsseina, einem heute zur Stadt Nossen gehörigen Dorf, für die wir Photovoltaikanlagen im Februar bzw. im Herbst 2001 ablehnen mussten, sollen als Beispiele dafür stehen. Pauschales Verweigern war aber nicht mehr länger möglich, und so entwickelten wir Beurteilungskriterien, nach denen im einen Fall positiv und im anderen im Gegensatz dazu eben auch negativ entschieden werden konnte. Umso eher dafür – verkürzt dargestellt –, je weniger bedeutsam der Wert des betroffenen Kulturdenkmales ist, entweder per se oder in einem bestimmten Zusammenhang, je weniger auffällig die Anlage für das Erscheinungsbild bzw. die Erlebbarkeit des Denkmales ist oder im Umkehrschluss je anspruchsvoller gestaltet sie ist, wenn sie nun einmal nicht übersehen werden kann oder soll und je höher die wirtschaftlichen bzw. ökologischen Vorteile ausfallen, die dem betreffenden Kulturdenkmal selbst zu Gute kommen. Damit waren Solaranlagen auf Schiefer- und dunkel engobierten Ziegeldächern leichter tolerabel als in hellen naturroten Ziegelflä-

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Denkmalpflegerische Entscheidungen über Solaranlagen in Sachsen – ein Rückblick

chen, Rückseiten eher genehmigungsfähig als Vorderansichten, Wirtschaftsgebäude unkomplizierter als Kirchen, anspruchsvolle Anlagengestaltungen erwünschter als die vom Ausführungsbetrieb einfach „fallen gelassene“ Kollektorfläche und die zur Rettung eines vom Abriss bedrohten Objektes aufgebrachte „Schutzanlage“ sowieso willkommen.

Bild 2-1 Ablehnungen für PV: Dorfkirche (links) und Pfarrhaus (rechts) in Rüsseina bei Nossen, (Fotos: Pinkwart).

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Gestalterische Ansprüche ebnen den Weg

Mit dieser Einstellung erreichte uns im Juni 2001 die Anfrage für die aus dem Jahre 1867 stammende Dorfkirche Bärwalde bei Radeburg, dort die Neueindeckung eines Schieferdachs anstelle der vormaligen Bitumenschindeleindeckung mit der Installation einer aus 20 Modulen bestehenden, 48 m² großen 4,8 kWp-PV-Fläche zu verbinden. Die vom Ingenieurbüro Dr. Scheffler, Dresden geplante und ebenfalls aus Produkten von Solarwatt bestehende Anlage wurde aufgrund der Fernwirkung des Kirchendachs als traufbegleitendes Band entwickelt, von uns von Anfang an unterstützt und erhielt die denkmalschutzrechtliche Genehmigung bereits im Juli 2001. In der Folge gelang es uns sogar noch, das Regierungspräsidium Dresden umzustimmen, welches genau deswegen die dringend benötigten Denkmalschutzfördermittel verweigern wollte. Heute dient die im Juni 2004 in Betrieb genommene Anlage in Bärwalde als ausgesprochenes Positivbeispiel dafür, wie man Photovoltaik geschickt in einem denkmalgeschützten Umfeld unterbringen kann.

3 Gestalterische Ansprüche ebnen den Weg

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Bild 3-1 Bärwalde bei Radeburg, Dorfkirche, (Foto: Pinkwart).

Ähnlich unkompliziert verlief das Vorhaben der aus 27 Modulen bestehenden, entspiegelten 3,45 kWp-Solarwatt-Anlage auf dem Schieferdach der expressionistischen St. Antoniuskirche in Löbtau, dem ersten unter Denkmalschutz stehenden Kirchengebäude Dresdens (Planung ebenfalls Dr. Scheffler, Dresden), das Landeskonservator Prof. Glaser im September 2001 bereits nach kurzer Diskussion akzeptierte. Eigentlich wollte Glaser nur zwei Reihen Module, trotzdem wurden die beantragten drei gebaut, ein „Schaden“, der sich aber offensichtlich in Grenzen hält. Die schon drei Monate später in Betrieb gegangene Solaranlage erhielt zusammen mit einer zweiten PV-Anlage auf dem Flachdach des zugehörigen Kindergartenneubaus Fördermittel aus der DBU-Initiative „Kirchgemeinden für die Sonnenenergie“, das Kirchensanierungsvorhaben im Ganzen solche aus der Denkmalförderung. Schon im Januar 2002 wurde das Gesamtprojekt mit dem 1. Preis im Wettbewerb „Solarenergie in der Architektur“ der DREWAG, der Energie-Agentur Dresden und des Vereins „Lokale Agenda 21 für Dresden“ ausgezeichnet.

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Denkmalpflegerische Entscheidungen über Solaranlagen in Sachsen – ein Rückblick

Bild 3-2 Dresden-Löbtau, St. Antoniuskirche, (Foto: Ingenieurbüro Dr. Scheffler, Dresden).

Im Folgejahr 2002 entstand in hinterlüfteter Aufdachmontage eine wiederum 192 m² große, 21.500 kWh/a erzeugende Solarwatt-Anlage, die fast die gesamte Fläche des Süddachs der aus den Jahren 1901-05 stammenden katholischen Herz-Jesu-Kirche in Plauen einnimmt. Diese besteht aus 220 monokristallinen, schwarzen Modulen unter reflexionsfreiem Glas mit zusätzlicher rückseitiger schwarzer Laminatbeschichtung und ist an den Rändern mit Doppelstehfalzdeckung aus Kupfer eingefasst. Architekt Christian Schaufel aus Dresden bekam dafür nach einer ersten Ablehnung und daraufhin eingelegtem Widerspruch von Prof. Glaser im August 2001 doch noch die Zustimmung und im April 2002 in Form einer „Ausnahmegenehmigung“ schließlich den denkmalschutzrechtlichen Bescheid. Noch einfacher gestaltete sich der Genehmigungsprozess für die von Oswin Hempel 1927/29 gebaute Apostelkirche in Dresden-Trachau, deren 26,5 m² große 3,53 kWp-PV-Anlage flächenbündig in einem dunkelroten Ziegeldach bereits im ersten Anlauf im Juni 2002 bestätigt wurde und dann im Dezember 2002 ans Netz gegangen ist. Ebenfalls mit dem Segen des zuständigen Gebietsreferenten der Landesdenkmalpflege erhielt das heimatstilige Pfarrhaus Strauch bei Zabeltitz eine weitere kleinere PV-Anlage (3,36 kWp) im Sommer/Herbst 2002 (Inbetriebnahme im Dezember), die trotz farblich angepasster Module an extra dunkel bemusterte Biberschwanzziegel aber dennoch gründlich danebengegangen ist: Abgesehen davon, dass die Hoffnung, „keine vordergründige

4 Der Clou: solare Schleppgaupen in roten Ziegeldächern

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Wirkung“ zu entfalten und „keine unangenehmen Kontraste“ zu bilden, sich nicht wirklich erfüllt hat, wurde die Anlage zu niedrig eingebaut, wodurch die originalgetreu wieder zu errichtenden, obendrein unsymmetrisch sitzenden Fledermausgaupen nach unten rutschen mussten und nun etwas bedrängt und „verraten“ aussehen.

Bild 3-3 Plauen, Herz-Jesu-Kirche (links) und Strauch bei Zabeltitz, Pfarrhaus (rechts), (Fotos: Pinkwart).

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Der Clou: solare Schleppgaupen in roten Ziegeldächern

Noch spektakulärer als der flächenbündige Einbau in eine ähnlich-farbige Schieferdachfläche oder das irgendwie geartete Zurückmoderieren von Farbkontrasten in dunkleren Ziegelflächen wie bei den beiden letztgenannten Beispielen wurde das bewusste Zulassen des Farb- und Helligkeits-Kontrastes der Anlage inmitten heller naturroter Ziegelflächen, indem die Dächer von bereits geometrisch eigenständigen Schleppgaupen für die Anlagen genutzt wurden, und zwar in maßlicher Exaktheit: bei der ehemaligen Königlichen Schrotfabrik in der Freiberger Innenstadt und beim Kreuzganghaus der St. Afra-Akademie in Meißen. Im ersteren Fall baute der Solarunternehmer Timo Leukefeld (Fa. Soli fer) für die „Fitnessinsel“ seines Bruders eine 50.000 DM teure und 48 m² große Kollektorfläche zur Warmwasserbereitung als Dach einer eigens dafür errichteten schönen Schleppgaupe auf dem in den Jahren 1850/51 errichteten Stadthaus, das dadurch zum ersten denkmalgeschützten Haus mit einem Solardach im Freiberger Stadtzentrum wurde [2]. Nach seinen Angaben hatte er sich im Rahmen der schon 1996 begonnenen neuen Dachdeckung seit 1998 um eine Genehmigung dafür bemüht; im August 2001 wurde die dann erteilt; die Fertigstellung der Anlage war im Oktober. Der Meißner Fall, eine durch Sanierung und Umbau eines alten Klosterhofes entstandene moderne Tagungs- und Bildungsstätte der evangelischen Landeskirche (Planung und Umsetzung: Pfau Architekten, Dresden / Gebäudetechnik: IB Dr. Scheffler, Dresden) erhielt vier einzelne Solarthermiekollektoren mit insgesamt 15 m² Fläche zur Warmwasserbereitung als eigene Schleppgaupendächer in einer neuen Biberschwanzziegeldachfläche. Zusammen mit einer aufgeständerten 2,76 kWp-PV-Anlage aus 24 transparenten Modulen auf dem Dach eines neugebauten Treppenturmes ging das System im Juli 2002 bzw. im September 2003

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Denkmalpflegerische Entscheidungen über Solaranlagen in Sachsen – ein Rückblick

in Betrieb. Beide Beispiele stellen ästhetisch ausgesprochen schöne Lösungen dar, die – sowohl nach ihrem Lösungsprinzip, als auch in der konkreten Umsetzung mustergültig – inzwischen als Referenzobjekte zu betrachten sind.

Bild 4-1 Freiberg, Stadthaus am Helmertplatz, (Foto: Pinkwart).

Bild 4-2 Meißen, St. Afra-Akademie, (Foto: Pinkwart).

5 Aufeinander abgestimmte Rasterlösung

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Aufeinander abgestimmte Rasterlösung

Beachtenswert ist auch die schon im Jahr 2000 in Betrieb genommene Kombianlage, bestehend aus einer 78,8 m² großen dachintegrierten solarthermischen Anlage und einer 5,0 kWp-Photovoltaik-Anlage in einem aufeinander abgestimmten, einheitlichen Raster auf dem Wirtschaftsgebäude des katholischen Bildungs- und Tagungshauses des Bistums Dresden-Meißen „Bischof-Benno-Haus“ in Bautzen-Schmochtitz. Auch diese gestalterisch optimierte Solaranlage, ein weiteres Werk des IB Scheffler, ist alles andere als eine Beeinträchtigung des natürlich denkmalgeschützten ehemaligen Rittergutes.

Bild 5-1 Bautzen-Schmochtitz, Wirtschaftsgebäude des Bischof-Benno-Hauses, (Foto: Ingenieurbüro Dr. Scheffler, Dresden).

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Zum Quasi-Nulltarif geheiztes Bauernhaus

Ein besonders großer Erfolg wurde schließlich eine PV-Anlage auf dem Dach des Seitengebäudes eines von 1660 stammenden Bauernhofes im Jahre 2005. Der Bauherr hatte zuvor das wertvolle Wohnstallhaus denkmalgerecht saniert und mit einer zeitgemäßen Heizungsanlage, bestehend aus Flächenheizungen, Wärmepumpe und einem 350 m² großen Flächenerdwärmeabsorber, versehen. Für eine neue Schieferdeckung auch des Daches über dem Seitengebäude in Höhe von 10.000 € fehlte zum Schluss das Geld. Eine gleich große, farblich auf den Schiefer angepasste PV-Anlage für die knapp 170 m² kostete hingegen sogar etwa 80.000 €, finanzierte sich durch die damals hohen Einspeisebeträge in einem überschaubaren Zeitraum aber noch selbst. Also stellte der Mann den Antrag auf Genehmigung und bekam die Anlage von uns – nicht zuletzt aufgrund seiner

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Denkmalpflegerische Entscheidungen über Solaranlagen in Sachsen – ein Rückblick

vorbildlichen denkmalpflegerischen Leistungen am Hauptgebäude – im Sommer 2005 genehmigt. Die rahmenlose, hinterlüftete, als wasserführende Schicht aus 140 Modulen bestehende 16,8 kWp-Anlage von Solarwatt ging im September 2005 ans Netz und erzeugte bereits bis Ende 2011 103.000 kWh [3]. Vergleicht man den Strombedarf der für die Hausheizung installierten Wärmepumpe des Erdwärmeabsorbers in Höhe von ziemlich genau 16.000 kWh/a, dann erweist sich, dass die PV-Anlage nahezu exakt dieselbe Menge Strom erzeugt, die die Wärmepumpe verbraucht [3]. Das alte wärmeschutztechnisch unperfekte Haus ist damit „unbeabsichtigterweise“ zum Quasi-Null-HeizenergieHaus geworden. Der Fall wurde durch die Zeitschrift „photovoltaik“, Heft 06/2008 gefeiert [4] und schließlich auch im Rahmen der Wanderausstellung „Maßgeschneidert – Energetische Ertüchtigung von Baudenkmalen“ des Arbeitskreises Bautechnik der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2013 weiter publiziert [5].

Bild 6-1 Nossen-Eula, ehem. Bauernhof, (Foto: Pinkwart).

Ein weiteres Beispiel aus Freiberg auf einem Gebäudeteil der ehemaligen Manufaktur und späteren katholischen Pfarrkirche auf der Kreuzgasse 1 wurde im Juli 2008 genehmigt, wobei dafür noch ein Antrag auf Ausnahme von einer Gestaltungssatzung erforderlich war. Der dortigen Soli fer-Anlage ist es gelungen, die Dachkanten des dreieckigen Oberdachwalms exakt nachzuvollziehen, so dass einhergehend mit einer auch nahezu perfekten farblichen Angleichung an die Schieferdeckung ein Maximum an gestalterischer Anpassung möglich war.

6 Zum Quasi-Nulltarif geheiztes Bauernhaus

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Bild 6-2 Freiberg, kath. Pfarrkirche in der Kreuzgasse, (Foto: Pinkwart).

Für uns Denkmalpfleger erfreulich war an der im Juli 2011 für die Porschendorfer Kirche östlich von Dresden genehmigten PV-Anlage, dass ein vom Büro für Baupflege der evangelischen Landeskirche beauftragtes Planungsbüro (erneut Dr. Scheffler, Dresden) im Vorfeld alternative Entwürfe zur Beurteilung erarbeitet hatte. Es war uns also überlassen worden, aus 4 zwischen 6,75 und 11,61 kWp leistenden Varianten diejenige auszuwählen, die wir in dem neu einzudeckenden Schieferdach für am wenigsten störend hielten. Es wurde dann eine der kleineren der visualisierten, eine etwa 60 m² große 8,6 kWp-Anlage, die etwa 31.000 € gekostet hat und von 11 Familien mittels zinsfreier Darlehen finanziert wurde. Die Anlage war im Juni 2012 fertig, enttäuscht seitdem aber doch etwas aufgrund der farblich nicht perfekten Angleichung und des nicht erwarteten unschönen oberen Blechübergangs.

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Denkmalpflegerische Entscheidungen über Solaranlagen in Sachsen – ein Rückblick

Bild 6-3 Porschendorf bei Dresden, Dorfkirche, (Foto: Pinkwart).

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Dennoch nicht nur Nachahmenswertes

Neben den vorgestellten, überwiegend verantwortbaren solaren Lösungen auf höherrangigen sächsischen Kulturdenkmalen mussten wir uns natürlich auch immer wieder mit nicht genehmigungsfähigen „Entgleisungen“ auseinandersetzen. Ein klassisches Beispiel dafür war das im Jahre 2003 angefragte Projekt für eine mehrteilige PV-Anlage auf dem ehemaligen repräsentativen Amtsgericht bzw. der heutigen evangelischen Grundschule in Radebeul-Kötzschenbroda, ein Werk des Architekten Heinrich Tscharmann von 1908/10. Ohne Rücksicht auf die gestaltete Dachlandschaft aus Neigungswechseln, in Biberschwanz-Kronendeckung weich eingedeckten Kehlen, Hechtgaupen, einer halben Schiefer-Turmhaube mit Turmknopf, Dachhäuschen und klassisch kassettierten Dachüberstränden wollte der Antragsteller diese hier mittels fünf aufzubringender Teilflächen perforieren und regelrecht zerschneiden. Wir haben das abgelehnt und stehen bis heute zu dieser Entscheidung.

7 Dennoch nicht nur Nachahmenswertes

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Bild 7-1 Radebeul-Kötschenbroda, ehem. Amtsgericht (oben), (Foto: Pinkwart) und PV-Vorschlag (unten), (Repro: Visualisierung aus den Antragsunterlagen).

Etwas nicht viel anderes wurde im Mai 2019 für den Umbau des sog. Eugen-Esche-Stifts am Chemnitzer Zeisigwald zu einer Kita durch die FASA AG beantragt. Auch dieses durch den Strumpffabrikanten Eugen Moritz Esche (sein Sohn Herbert Eugen ließ sich später von van de Velde die heute berühmte „Villa Esche“ bauen) zwischen 1895 und 1915 errichtete Gebäude verfügt über eine ähnlich zergliederte, komplizierte und detailreiche Dachgestaltung. Esche hatte die Wohnanlage im Rahmen eines WohltätigkeitsTestaments in Höhe von 300.000 Reichsmark für alte und bedürftige Arbeiter seiner Firma errichten lassen. Da die heutige Sanierungsgesellschaft in ihrem Kerngeschäft Solarlösungen anbietet und das zuvor nahezu ruinöse Baudenkmal von der Stadt nur unter der Bedingung übernommen hatte, eine energetisch optimierte Sanierung ausführen zu dürfen, waren die Denkmalbehörden jedoch in arger Bedrängnis. Als Kompromiss nach heftig geführten Auseinandersetzungen einigte man sich schließlich auf ein noch ca. 2,50 m breites Kollektorband unterhalb und parallel zum Dachfirst des Hauptdaches der vier Teilgebäude. Das Chemnitzer Denkmalschutzamt und unser Haus hätten auch eine solche Anlage lieber vermieden, weil der Denkmalwert des – vor allem sozialgeschichtlich bedeutsamen – Gebäudes hoch und seine nach Süden hin orientierte Hauptansichtsfassade weithin einsehbar sind. Die von großer Formenvielfalt, abwechslungsreicher Kleinglied-

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Denkmalpflegerische Entscheidungen über Solaranlagen in Sachsen – ein Rückblick

rigkeit, blickbeherrschenden Fachwerkziergiebeln und einer Vielzahl daraus resultierender Kehlen, Anschlüsse und Durchdringungen geprägte Dachlandschaft ist für eine PVAnlage nämlich denkbar schlecht geeignet. Wir müssen sehen, wie die fertige Anlage im Jahr 2020 in Erscheinung treten wird.

Bild 7-2 Chemnitz, Eschestift, (Repro einer historischen Aufnahme).

Als Fazit ist festzuhalten, dass Solaranlagen auf Kulturdenkmalen kein generelles Tabu mehr sind und dass wir sehr wohl attraktive, durchaus nachahmenswerte Lösungen aus den letzten 20 Jahren präsentieren können, dass aber andererseits nach wie vor sehr genau überlegt, geplant und abgewogenen werden muss, was im Einzelfall für das Denkmal gerade noch akzeptabel und was im Gegensatz dazu doch eher abträglich ist: Denkmalpflegerische Alltagsarbeit eben wie die Moderation aller anderen beabsichtigten Veränderungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen an Denkmalen auch. 8

Literatur

[1]

Die Detailinformationen im Beitrag entstammen – soweit nicht anders ausgewiesen – aus den jeweiligen Objektakten im Sächsischen Landesamt für Denkmalpflege, aus Angaben von Planungsbüros sowie aus eigener Betreuungsarbeit des Autors.

[2]

Freie Presse Freiberg vom 25.9.2001 und vom 20.10.2001.

[3]

Angaben des Bauherrn.

[4]

Riedel, A.: Sächsisch grau, statt preußisch blau. In: photovoltaik – Das Magazin für Profis. Stuttgart, Verlagsgemeinschaft Gentner Verlag + Solarpraxis, Heft 06/2008, S. 76 – 89.

[5]

Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland: „MASSGESCHNEIDERT“ – Energetische Ertüchtigung von Baudenkmalen. 2. Auflage. Wiesbaden, 2013.

Solarsysteme in Bestandsfassaden Dipl.-Ing. Franziska Rehde1, Dipl.-Ing. Leonie Scheuring1, Prof. Dr.-Ing. Bernhard Weller1 1 Technische Universität Dresden, Institut für Baukonstruktion, August-Bebel-Str. 30, 01219 Dresden, Deutschland Um die globalen Ziele in den Bereichen Klimaschutz, Energieeffizienz und Nachhaltigkeit zu erreichen, spielt gerade der Gebäudesektor eine wichtige Rolle. Dazu stellte die deutsche Bundesregierung ein umfassendes Energiekonzept auf. Dessen Schwerpunkte sind neben der Energieeinsparung und Reduktion der Treibhausgasemissionen auch die dauerhafte Umstellung auf die Energieversorgung aus nachhaltigen Energiequellen. Aktive Solartechnologie, wie Photovoltaik, bietet sich hier besonders an, da diese in die Gebäudehülle integrierbar sind. Zudem können sie klassische Bauelemente und Baumaterialien substituieren und verringern damit den Ressourcenverbrauch. Selbst nach energetischen Sanierungen ist der Energiebedarf von Bestandsgebäuden meist höher als im Neubau. Verantwortlich dafür sind vor allem die vorhandenen baukonstruktiven Strukturen und Materialien. Wärmebrücken zum Beispiel erhöhen deutlich den Transmissionswärmeverlust, was eine Erreichung des heutigen Energiestandards sehr aufwendig und teuer macht. Mit den derzeitigen Anstrengungen kann es folglich nicht gelingen, den Gesamtenergieverbrauch unter wirtschaftlich vertretbaren Maßnahmen zu reduzieren. Gelingen kann dies nur, wenn Teile des Gebäudes zur Energiegewinnung aktiviert werden. Dieser Beitrag soll die Integration von Solarsystemen, Photovoltaik im Speziellen, in Bestandsfassaden näher erläutern und zeigen, wie diese beispielhaft an Bestandsgebäuden umgesetzt werden können. Schlagwörter: Solartechnik, Gebäudeintegrierte Photovoltaik, Architektur, Gebäudebestand

1

Hintergrund

Werden in Deutschland Bestandsgebäude energetisch saniert, so müssen die gewählten Maßnahmen die Anforderungen der Energieeinsparverordnung (EnEV) erfüllen. Darin wird festgelegt, wie hoch der Primärenergiebedarf und die Transmissionswärmeverluste durch die Außenhülle eines Gebäudes sein dürfen [1]. Der Energiebedarf von Bestandsgebäuden lässt sich durch energetische Sanierungen zwar senken, liegt aber doch meist höher als im Neubau. Das liegt vor allem an den vorhandenen baukonstruktiven Strukturen. Vorhandene Baustoffe und Wärmebrücken erhöhen deutlich den Transmissionswärmeverlust und damit die Energieverluste über die Gebäudehülle. Maßnahmen zur Erreichung des heutigen Energiestandards sind oftmals sehr aufwendig und teuer. So erlaubt auch die EnEV 2016, dass der Primärenergiebedarf von sanierten Bestandsgebäuden den Primärenergiebedarf des Referenzgebäudes um 40 % überschreiten darf, da diese die hohen Anforderungen nicht erfüllen können. Neubauten müssen diesen aktuell um 25 % und in Hinblick auf den zukünftig anzusetzenden Niedrigstenergiegebäudestandard ab dem Jahr 2021 wahrscheinlich sogar noch weiter unterbieten. Das

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5_15

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Solarsysteme in Bestandsfassaden

bedeutet, dass Neubauten einen sehr geringen oder sogar bis nahe null liegenden Energiebedarf haben dürfen. Gleichzeitig sollte die restliche Energiedeckung möglichst aus erneuerbaren Energiequellen stammen, welche in unmittelbarer Nähe zum Gebäude erzeugt werden [2]. Der Einsatz von Photovoltaik(PV)-Modulen kann dabei einen entscheidenden und wichtigen Beitrag zur Gesamtenergieeffizienz leisten. Bei Baudenkmälern jedoch sind Eingriffe in die Bausubstanz sowie auch die Integration von PV-Modulen aufgrund der denkmalpflegerischen Auflagen oftmals gar nicht oder nur bedingt umsetzbar. Dennoch sollte hier versucht werden, den Energiehaushalt in vertretbarem Maße zu optimieren, um so dem Nutzer ein behagliches Innenraumklima zu gewährleisten und die Energiekosten des Gebäudes zu reduzieren. Beide Punkte sind entscheidend für den Erhalt der Bausubstanz sowie eine einwandfreie Nutzung. Eine zusätzliche Integration von PV-Modulen kann hier einen großen Beitrag zur Verbesserung der Gesamtenergieeffizienz leisten. Diese erfordert einen sensiblen Umgang und ist aus denkmalpflegerischen Gründen auch nicht für jeden Fassadentyp geeignet. 2

Grundlagen der Photovoltaik

Photovoltaik(PV)-Module erzeugen mithilfe der Sonneneinstrahlung elektrische Energie. Um Strom aus Licht zu erzeugen, bedient man sich dem sogenannten Photoeffekt. Allerdings ist die genaue physikalische Wirkungsweise jeweils abhängig vom Aufbau einer PV-Zelle innerhalb eines PV-Moduls, dem jeweils verwendeten Material sowie des Strahlungsangebotes. Letzteres wiederum ist abhängig von dem geographischen Ort, dem Tag sowie des Jahres und der jeweiligen Tageszeit [3]. Grundsätzlich werden PV-Module in drei unterschiedliche Kategorien unterteilt. 1. Kristalline PV-Module, 2. Dünnschicht PV-Module und 3. Organische PV (OPV), (siehe Bild 2-1). Alle drei Typen unterschieden sich in ihrem Herstellungsprozess durch Leistungskenndaten und in der Gestaltung.

Bild 2-1 Monokristalline PV-Zellen (links), Dünnschicht-PV-Zellen (Mitte) und Organische PV (rechts), (Foto: Solarworld AG, Würth Solar GmbH & Co. KG, Fraunhofer ISE).

Kristalline PV-Module werden weltweit mit einem Anteil von nahezu 90 % am häufigsten eingesetzt. Dabei sind PV-Module auf Freifeldflächen mit einbezogen [4]. Kristalline Module erzielen unter Normalbedingungen Wirkungsgrade zwischen 16 % bis 20 % bei

3 Integration in Bestandsfassaden

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monokristallinen und 14 % bis 16 % bei polykristallinen PV-Modulen. Dünnschichtmodule erzielen je nach Halbleitermaterial einen Wirkungsgrad von 6 bis 12 %. Neben den niedrigeren Herstellungskosten gegenüber kristallinen Modulen erweisen sich vor allem die geringere Anfälligkeit gegenüber Temperaturerhöhungen und Schattenwurf als Vorteil. Ähnliche Vorteile haben PV-Module aus organischer PV. Die hierfür verwendeten Materialien sind mitunter kostengünstiger als bei kristallinen PV-Modulen. Gleichzeitig können die organischen PV-Zellen, bestehend aus organischem Farbstoff oder aus organischen Halbleitern, durch einfache Verfahren auf verschiedene Trägermaterialien aufgebracht werden [5]. 3

Integration in Bestandsfassaden

3.1 Potential Fassadenflächen stellen neben Dachflächen ein großes Potential zur Integration von Solartechnik dar. Von derzeit 19 Millionen Bestandsfassaden gelten fast zwei Drittel als sanierungsbedürftig. Laut einer Studie sind jedoch nur knapp 10 % der zur Verfügung stehenden Fassadenflächen durch Solartechnik genutzt [6]. Im Gegensatz zum Neubau stellt eine Integration in Bestandsfassaden eine besondere Herausforderung dar und ist um ein Vielfaches komplexer. Bauliche Strukturen und Modulgrößen Das liegt zum einen an den bestehenden baulichen Strukturen und deren gegebenen Maßen. Die Anordnung und die Dimensionierung einer Solaranlage stellt die Planer vor eine große Herausforderung. So besitzen PV-Module zwar vielfältige Anwendungsmöglichkeiten doch aufgrund der vorgegebenen Modulgrößen können sie nur bedingt flächig in eine Bestandsfassade integriert werden. Innerhalb der letzten Jahre hat sich die Produktpallette an PV-Modulen enorm erweitert. Neben den gängigen Glasmodulen haben sich mittlerweile auch Dünnschichtzellen auf teils flexiblen Trägermaterialien am Markt etabliert. Dennoch haben sich derartige Neuerungen für flexible Trägermaterialien für eine Integration in die Fassade nicht durchgesetzt. Diese eignen sich eher für den Einsatz in der Dachhaut, sodass meist auf die gängigen Modulgrößen zurückgegriffen wird. Neben den baulichen Strukturen des Bestandsgebäudes muss ebenso auf eine mögliche Verschattung benachbarter Gebäude geachtet werden. Viele städtebauliche Situationen lassen deshalb nur bedingt PV-Module in der Fassade zu. Industrielle Bauten außerhalb des dicht besiedelten urbanen Kontextes sind für die Integration von PV-Modulen in die Fassade eine zusätzliche effektive Lösung. Fassadentypen PV-Module gelten als integriert, wenn sie einen unverzichtbaren Teil der Gebäudehülle übernehmen. Sie können sowohl in Kalt- und als auch in Warmfassaden integriert werden und eignen sich prinzipiell für folgende Fassadentypen:

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Solarsysteme in Bestandsfassaden

Vorgehängte hinterlüftete Fassaden Pfosten-Riegelfassaden Elementfassaden Doppelfassaden

Bei Kaltfassaden ist die äußere meist opake Bekleidungsschicht aus Holz, Glas, Metall oder Putzträgerplatten hinterlüftet und somit von der tragenden Wandkonstruktion thermisch entkoppelt. Sie fungiert als Witterungsschutz und Gestaltungselement. Die tragende Außenwand zählt zur Rohbaukonstruktion und muss alle Lasten abtragen, auch die der äußeren Bekleidungsschicht wie etwa Wind- und Eigenlast. Eine typische Kaltfassade stellt eine vorgehängte hinterlüftete Fassade (VHF) dar. Bei einer Integration von PVModulen in eine VHF ersetzt diese die äußere Bekleidungsschicht und übernimmt deren witterungsbedingte Aufgaben. Da sich zwischen dem Modul und der tragenden Wandkonstruktion ein Luftspalt befindet, wird das PV-Modul hinterlüftet und aufgestaute Wärme kann somit problemlos abgeführt werden. Bei nicht hinterlüfteten Fassaden, sogenannten Warmfassaden, sind die jeweiligen Bauteilschichten konstruktiv miteinander verbunden und thermisch nicht voneinander getrennt. Nachteilig dabei ist, dass die sich aufstauende Wärme nicht über die Konstruktion abgeführt werden kann und es somit zu einer Ertragsminderung der PV-Module kommen kann. Generell eignen sich bei Warmfassaden vor allem die transparenten Bereiche zur Integration von PV-Modulen. PV-Isolierverglasungen als teiltransparente Lösungen können wie konventionelle Isolierverglasungen eingebaut werden. Dieser Einsatz ermöglicht zudem den Sonnen- und Blendschutz im höheren Umfang als gängige Sonnenschutzverglasungen und ersetzt teilweise zusätzliche äußere Sonnenschutzvorrichtungen. In Doppelfassaden können PV-Module sowohl in die außenliegende Pfosten-Riegel-Konstruktion als auch als Blend- und Sonnenschutz integriert werden. Bei Sonderkonstruktionen wie Seilnetz- und Medienfassaden oder Membrankonstruktionen liegt es an Planern, Ingenieuren und Systemherstellern neue Lösungen zu entwerfen. Ästhetische Integration Die gestalterische Einbindung von PV-Modulen in die Bestandsfassade bedarf einer genauen Untersuchung der jeweiligen Fassade. So müssen sich Module den jeweiligen Gliederungsprinzipien oder Rasterungen unterordnen. Aber auch strukturelle Erscheinungsformen, Proportionen oder spezielle baukonstruktive Ausführungsformen müssen Beachtung finden, um den Charakter des Bestandsgebäudes beizubehalten. Dabei spielt die enorme Farbvarianz der PV-Module eher eine untergeordnete Rolle. Farben wie Dunkelgrau oder Dunkelblau harmonieren gut mit den häufig verwendeten Baumaterialien wie Stahl, Glas und Beton und erfüllen somit ebenso die architektonischen Anforderungen.

3 Integration in Bestandsfassaden

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Das Ziel einer harmonischen und architektonisch attraktiven Gestaltung ist die interaktive Integration in das Gebäude und dessen Umgebung. Aus diesem Grund und um dem Gebäude ein homogenes Erscheinungsbild zu verleihen, wird eine Integration vorwiegend im opaken Brüstungsbereich ausgeführt. Es gibt aber auch Beispiele, die eine Integration in die Verglasung als semitransparente Lösung zulassen. Beide Beispiele werden in den folgenden Kapiteln aufgeführt. 3.2 Konstruktive Umsetzung Bei der Integration von PV-Modulen in eine Fassade ersetzen diese einen Teil der Außenhülle und müssen je nach Konstruktionsart deren Funktionen wie Witterungsschutz, Wärmeschutz oder Schallschutz übernehmen. Die oftmals für PV-Anlagen genutzten Dachflächen sind jedoch begrenzt, weshalb die Verwendung der Fassadenfläche immer weiter in den Fokus rückt. Neben den oben beschriebenen Modularten ist der gängigste Modulaufbau ein Modul mit Front- und Rückglas. Grundlegend stehen zur Befestigung auf der Unterkonstruktion oder der Fassadenkonstruktion unterschiedliche Varianten zur Verfügung. PV-Module können als Standardmodule oder als gerahmte Module in eine Fassade integriert werden. Gerahmte Module zählen dabei zur linienförmigen Befestigung und können unproblematisch an der Unterkonstruktion befestigt werden. Zur Befestigung der PV-Module kann hierbei auf übliche konventionelle Befestigungsmöglichkeiten aus dem Glasbau zurückgegriffen werden. Typischerweise werden als linienförmige Lagerung (2 oder 4-seitig) Anpressleisten oder linienförmige Klebungen verwendet, wohingegen punktförmige Lagerung über Klammerungen realisiert werden. Darüber hinaus gibt es auch die Möglichkeit das PV-Modul auf der Rückseite vollflächig mittels einer Trägerplatte zu verkleben oder mithilfe von Hinterschnittankern zu befestigen. Beides hat den Vorteil einer unsichtbaren rückseitigen Befestigung an der Unterkonstruktion. Speziell in Kaltfassaden werden hauptsächlich rahmenlose PV-Module durch Klemmhalter eingesetzt oder in den jeweiligen Modulecken montiert. Punkthalterungen können auch verwendet werden. Diese sind jedoch nur mit einer Zustimmung im Einzelfall (ZiE) zugelassen. 3.3 Rechtliche Lage BIPV-Module sind als Bauprodukte ein integrierter Teil der Fassade und ein wichtiger Teil der elektrischen Anlage. Sie sind konstruktive, funktionale, gestalterische und elektrische Komponenten der Gebäudehülle. Daher müssen BIPV-Module alle diese Anforderungen für Bauprodukte aus der Bauproduktenverordnung und Fassaden sowie für Elektroinstallationen erfüllen. Alle diese Anforderungen sind in der DIN EN 50583 aufgeführt, die in verschiedene Kategorien unterteilt ist. Diese Norm beschreibt die Verwendung von BIPV-Modulen und BIPV-Systemen als Stromerzeuger und Bauprodukt. Parallel dazu wurde 2018 die Norm DIN EN 63092 „Photovoltaik im Bauwesen“ eingeführt. Sie soll zukünftig die Norm DIN EN 50583 ersetzen. Grundsätzlich müssen PV-Module folgende Anforderungen aus der Bauproduktenverordnung einhalten:

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Solarsysteme in Bestandsfassaden

Nutzungssicherheit Mechanische Stabilität Standsicherheit Brandschutz Schallschutz Energieeinsparung Nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen

Auch wenn einzelne Komponenten von BIPV-Modulen, wie thermisch vorgespanntes Glas (ESG) oder Verbundsicherheitsglas (VSG), ein geregeltes Bauprodukt darstellen und geprüft wurden, sind BIPV-Module keine geregelten Bauprodukte und dürfen nicht ohne weiteres verwendet werden. Um nachzuweisen, dass ein Bauprodukt bestimmte Anforderungen einer bestimmten Norm erfüllen kann, ist mitunter der Nachweis der Verwendbarkeit erforderlich. Bei denkmalgeschützten Gebäuden ist eine Integration von PVModulen in die Fassade grundsätzlich genehmigungspflichtig. In der Regel ist dafür die Untere Denkmalschutzbehörde zuständig. Essentiell für eine Genehmigung ist der Grad der Beeinträchtigung in der Fassade. Gewählte Materialien sollten in ihrer Form, Farbe, Struktur und vor allem in ihrem Reflexionsverhalten geprüft werden. Aus diesem Grund ist der Einsatz von gebäudeintegrierten PV-Modulen nicht in jedem Denkmal sinnvoll. In der Vergangenheit sind verschiedene Lösungsansätze einer Integration von PV-Modulen in denkmalgeschützte Bestandsfassaden ausgearbeitet und umgesetzt worden. 4

Umsetzung am Stuttgarter Züblin Z3 - Gebäude

Bild 4-1 Ansicht des Bestandsgebäudes Z3, Süd- und Westfassade, (Foto: Construct PV).

4 Umsetzung am Stuttgarter Züblin Z3 - Gebäude

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Das Bürogebäude Z3 der Firma Ed. Züblin AG am Standort Stuttgart wurde 2012 von MHM-Architekten erbaut und im selben Jahr in Betrieb genommen (siehe Bild 4-1 und 4-2). Es stellt eine Erweiterung des Gebäudeensembles, bestehend aus dem Züblin-Haus (Baujahr 1984) und dem Z-Zwo (Baujahr 2002), auf dem Züblin Campus in Stuttgart dar. Mit der Auslobung des Entwurfes waren nicht nur ein minimaler Energieverbrauch sowie das Nachhaltigkeitszertifikat Gold des DGNB zum Ziel gesetzt, sondern auch die Nutzung des Gebäudes zu Demonstrationszwecken neuer Technologien innerhalb verschiedener Forschungsprojekte.

Bild 4-2 Ansicht mit bestehender ESG-Verglasung (links), Ansicht mit Glas-Glas-PV-Modulen (rechts), (Foto: Institut für Baukonstruktion).

Das 5-geschossige Bürogebäude wurde in Stahlbeton-Skelettbauweise realisiert. Die Fassade ist als Elementfassade ausgeführt und wird vertikal durch additive, changierende Holzlisenen aus unbehandeltem Lärchenholz gegliedert, durch welche im Tagesverlauf dezent Schattierungen auftreten. Zwischen den vorgehängten Holzlisenen sind im Brüstungsbereich des Gebäudes rückseitig graphitgrau emaillierten ESG-Verglasungen (Einscheibensicherheitsglas) angebracht. Sie bestehen aus 6 mm starkem ESG-H und sind mittels Silikonstoffklebung ohne mechanischen Lastabtrag und Notfallsicherung an die Unterkonstruktion befestigt. Für diese speziell entwickelte Konstruktion wurde eine ZiE von der Landesstelle für Bautechnik in Baden-Württemberg erwirkt. Insgesamt bietet die

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Solarsysteme in Bestandsfassaden

fast 900 m² große Fassade des Z3 Gebäudes ein Potential von nahezu 60 % an ungenutzter Fläche für eine mögliche Integration von erneuerbaren Energien. Im Zuge des Forschungsprojektes „Construct PV“ (Projektlaufzeit: 2013 - 2018), unter Beteiligung des Instituts für Baukonstruktion, wurde die 2012 angebrachte ESG-Verglasung auf der Südfassade des Bürogebäudes gegen Glas-Glas-PV-Module in sechs unterschiedlichen Größen und mit insgesamt sieben verschiedenen Siebdruckmustern ausgetauscht. Um der Verschattungsproblematik und dem einhergehenden negativen Einfluss auf den elektrischen Ertrag durch die hervorspringenden Holzlisenen auf das PV-Modul zu begegnen, wurde ein innovatives elektrisch dreigeteiltes Verschaltungskonzept innerhalb des Moduls eingesetzt. Bei jedem PV-Modul sind die äußeren Zellspalten unabhängig voneinander elektrisch verschaltet. Folglich haben eventuell auftretende Teilverschattungen im Tagesverlauf keine gravierenden negativen Auswirkungen auf den elektrischen Ertrag der Anlage. Darüber hinaus kommt die SmartWire Connection Technology für die Zellverbindung zum Einsatz. Die Kabelführung und -befestigung erfolgt jeweils im nichtsichtbaren Lisenenzwischenraum. Im Gegensatz zur Bestandsfassade wird die neue BIPV-Fassade aus Verbundverglasungen mit zwischenliegender PV ohne sichtbare Befestigung ausgeführt. Die dafür relevanten Randbedingungen sind seitens der Bestandsfassade vorgegeben. Somit orientieren sich die Positionen der Bauteile als auch die Raster an die bestehende Unterkonstruktion. Darüber hinaus dürfen Verbundverglasungen entsprechend der Einschränkungen nach DIN 18008, (Glas im Bauwesen), der ETAG 002-1 (Zulassung für geklebte Glaskonstruktionen) und der DIN EN 13022-1 (Glas im Bauwesen) bei einer Einbauhöhe von mehr als 8 m nur mit einem mechanischen Abtrag des Eigengewichtes abgetragen werden. Basierend auf einem neuartigen Lösungsansatz werden die Lasten der Front- und Rückscheibe der Verbundverglasung über strukturelle Klebungen separat abgetragen. Dies geschieht über eine seitlich überstehende Frontscheibe, die mit einem zusätzlichen Flügelprofil verbunden ist (siehe Bild 4-3).

Bild 4-3 Prinzipskizze der PV-Module mit aufgeklebten Profilen, (Foto: Institut für Baukonstruktion, nach Delta-X und Ed. Züblin AG).

5 Umsetzung am Hamburger Height 1

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Somit können beide Glasscheiben als voneinander unabhängige Systeme betrachtet werden, die jeweils dem Typ IV nach ETAG 002-1 zuzuordnen sind. Für diese Structural Glazing Fassade der Kategorie IV (mit lastabtragender Verklebung) wurde in enger Abstimmung mit der obersten Baubehörde und verschiedener Prüfinstitute eine Zustimmung im Einzelfall erwirkt. Die U-Profile aus Aluminium sind mit dem PV-Modul verklebt und werden mittels eines Agraffensystems an die gebäudeseitig montierten Profile eingehängt. Die 240 m² große Fläche der Südfassade kommt auf eine Gesamtleistung von 30 kWp (Kilowatt peak) und liefert einen elektrischen Ertrag von 17.000 kWh/Jahr. Auf dem Dach des Z3 ist bereits eine PV-Anlage mit 65 kWp Leistung installiert, deren solare Gewinne direkt in das gebäudeinterne Stromnetz eingespeist werden. 5

Umsetzung am Hamburger Height 1

Das Height 1 Gebäude, auch bekannt als der ehemalige Spiegel-Verlagssitz, wurde vom Architekten Werner Kallmorgen entworfen und in den Jahren 1967 bis 1969 in Hamburg gebaut. Mit seiner Konstruktion vertritt es die klassische Moderne der deutschen Nachkriegszeit. Die Fassade ist eine Leichtmetall Konstruktion in Pfosten-Riegel Bauweise. Die Ansicht des Height 1 ist durch die sehr markanten Stahlbetonstützen sowie die als sichtbare horizontale Bänder verlaufenden Geschossdecken geprägt.

Bild 5-1 Ansicht des Hamburger Height 1 Gebäudes, (Foto: SKopp, bearbeitet: Morn).

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Solarsysteme in Bestandsfassaden

Das Gebäude ist im Jahr 2017 durch die Architekten Winking + Froh saniert worden. Für die Leistungen zur thermischen Bauphysik wurde das Ingenieurbüro osd beauftragt. Für eine Sanierung der Fassade des Height 1 forderte der Denkmalschutz eine exakte Erhaltung der Materialität und der Gliederung der markanten Fassadenelemente. Dabei stellten die konstruktionsbedingten Durchdringungspunkte des Tragwerkes eine besondere Herausforderung dar. Seitens der Planer wurde ein umfassendes Sanierungskonzept erarbeitet, um den heutigen Anforderungen an energetische Sanierungen unter Berücksichtigung der Auflagen des Denkmalschutzes gerecht zu werden.

Geschossdecke

Isolierverglasung, verschattet

Isolierverglasung, unverschattet Dämmpaneel im Brüstungsbereich Deckenanschluss

Bild 5-2 Prinzip Vertikalschnitt der Fassade im Regelgeschoss, (Foto: Luise Hille).

Im Rahmen einer am Institut für Baukonstruktion durchgeführten Diplomarbeit wurde im Anschluss das Potential einer Integration von PV-Modulen untersucht und in Hinblick auf Umsetzbarkeit geprüft und ausgearbeitet. Für eine sinnvolle Umsetzung von

5 Umsetzung am Hamburger Height 1

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Photovoltaik in der Fassade als eine Integrative Lösung bietet das Gebäude Height 1 prinzipiell folgende Möglichkeiten (siehe Bild 5-2): - in der Isolierverglasung - in den opaken Brüstungsbereichen - an der Oberseite der umlaufenden Geschossdeckenbänder PV in der Isolierverglasung Bei der Integration in der Drei-Scheiben-Isolierverglasung wird die äußere Scheibe durch das PV-Modul ersetzt. Dafür bieten sich Dünnschicht-PV-Module an, da diese im Gegensatz zu kristallinen PV-Modulen einen geringeren Leistungsabfall bei Erwärmung haben. Darüber hinaus erzeugen diese ein homogeneres Fassadenbild, welches wiederum den Anforderungen des Denkmalschutzes entspricht. Dennoch wird nach Berechnungen des Sonnenstandes im Sommer nahezu 95 % der potentiellen Verglasungsfläche durch die umlaufenden Geschossdeckenbänder verschattet. Darüber hinaus müssten die Module als semitransparente Variante ausgeführt werden, um einen noch akzeptablen Sonneneintrag im Inneren des Gebäudes zu verzeichnen. Diese semitransparente Lösung erwirkt jedoch gleichzeitig einen noch geringeren Ertrag aufgrund fehlender PV-Zellen. Diese konstruktive Lösung für eine Integration von PV in eine Isolierverglasung ist speziell für das Height 1 nicht zu empfehlen, kann jedoch für andere Pfosten-Riegel-Fassaden übernommen und auch realisiert werden. PV im opaken Brüstungsbereich Eine Integration von PV-Modulen in den opaken Brüstungsbereich des Height 1 ist nur dann zu empfehlen, wenn auch hier einer Verschattungsproblematik aktiv entgegengewirkt werden kann. Diese Situation stellt sich vor allem in den unteren Bereichen des Hochhauses aufgrund von benachbarter Bebauung oder einer Vegetation ein. Auch hier führten Berechnungen der Schattenwirkung zu dem Ergebnis, dass lediglich ein sehr geringer Teil des Brüstungsbereiches pro Geschoss für eine Integration von PV als sinnvoll erachtet werden kann. PV an der Oberseite der umlaufenden Geschossdeckenbänder Eine mögliche PV-Integration an der Oberseite der umlaufenden Geschossdeckenbänder stellt keine Integration dar, sondern ist eine Addition, weshalb die Anforderungen für PV in der Gebäudehülle nicht zutreffen und diese mögliche Lösung nicht weiterverfolgt wurde. [7] Bei der Entscheidung zu einer Gebäudeintegrierten PV in ein Bestandsgebäude muss neben den denkmalpflegerischen Aspekten insbesondere eine detaillierte Ertragsberechnung durchgeführt werden und über eine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung abgewogen werden, ob sich eine Integration sowohl wirtschaftlich als auch energetisch amortisiert. Eine Ertragsberechnung der PV-Anlage beim Gebäude Height 1 erfolgte nicht im Rahmen der

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Solarsysteme in Bestandsfassaden

Diplomarbeit. Hier wurde sich primär auf die konstruktive Durchbildung fokussiert. Konstruktiv können die am Height 1 erarbeiteten Lösungen für die Integration in Isolierverglasungen übertragen werden. 6

Literatur

[1]

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Wesselak, V., & Voswinckel, S.: Photovoltaik – Wie Sonne zu Strom wird. Berlin, Springer Verlag, 2016.

[4]

Schwarzburger, H.: Anflug unterm Radar – Dünnschichtmodule. In: Franke, P.; Kahl. P.; Petersen, N. H.; Schwarzburger, H.; Ullrich, S.; Vorsatz, W.: Photovoltaik 07/2015 – Solartechnik für Installateure, Planer, Architekten. Stuttgart, Alfons W. Gentner Verlag, 2015.

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Weller, B.; Hemmerle, C.; Jakubetz, S., Unnewehr, S.: DETAIL Praxis Photovoltaik- Technik, Gestaltung, Konstruktion. München, Institut für internationale Architekturdokumentation, 2009.

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Neumann, W.: Klimaschutz und Denkmalschutz; Schutz für Klima und Denkmal – kommunale Praxisbeispiele zum Klimaschutz bei denkmalgeschützten Gebäuden. Hrsg.: „Servicestelle: Kommunaler Klimaschutz“ beim Deutschen Institut für Urbanistik GmbH (Difu), Köln, 2011.

[7]

Hille, L.: Methodische Untersuchung zur konstruktiven Integration von Photovoltaik in Pfosten-Riegel-Fassaden, Diplomarbeit am Institut für Baukonstruktion der Technischen Universität Dresden, 2019.

Autorenregister B Bader, Nicki 111 Bernhardt, Heiko 23 Brückner, Michael 139 D Döbler, Dirk 111 F Felsmann, Clemens 187 Freytag, Olaf 169 G Greiner, Gerhard 35 Gritzki, Annina 187 H Haas, Friedhelm 55 Hegger, Johannes 35 Helbig, Thorsten 69 Hellmund, Christian 1 Hoch, Rene 169 Holstein, Peter 111, 125 J Jahnke, Alexander 111

O Oppe, Matthias 69 P Pfingsten, Danyel 23 Pinkwart, Ralf-Peter 203 R Raabe, Armin 125 Rehde, Franziska 217 S Scheible, Florian 69 Scheuring, Leonie 217 Schilling, Dominik 23 Schlosser, Mathias 35 Schütz, Stephan 1 Seeger, Julia 187 V von Bentheim, Manfred 85 W Weidelt, Susanne 23 Weller, Bernhard 217 Wilken, Thomas 35

K Kind, Uwe 23 Klinkenbusch, Claudia 93 L Lange, Norbert 169 M Meyer, Walter L. 151 Moeck, Steffen 111 Mühlner, Antonio 23 Münch, Hans-Joachim 111

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5

Schlagwortregister A AHO-Schriftenreihe 85 Akustik 1, 125 akustische Kamera 111 Architektur 217 Architektur DDR 93 Ausstellung 55 B Baudenkmal 169 Besondere Leistungen 85 Brandschutz 151 Burg 169 C CO2-neutral 35 D Dach 151 dauerhafter Lichtschutz 139 DDR-Moderne 1 Denkmal 23, 55, 85, 187 Denkmalsanierung 93 Denkmalschutz 203 Dichtheit 111 diffusionsoffen 151 Dokumentation 85 Dresden 1 E energetische Sanierung 1, 93 Energieeffizienz 125, 187 Energieeinsparung 169 Energieeinsparverordnung 23 Energiewende 169 G Gebäudebestand 187, 217 Gebäudeintegrierte Photovoltaik 217 Glasfaser 69

Graue Energie 35 6. Grundschule Dresden 93 H Holzfaser 151 I Infrarot-Schutzglas 139 Innendämmung 93 innovatives Material 69 K Kalthaus 55 Kirchen 203 Konzertsaal 1 Kulturpalast 1 M Mehrfamilienhaus 35 Mühlengebäude 23 N Nachhallgalerie 69 Nachverdichtung 35 Novaled 23 O Orangerie 55 P Phosphat-Keramik (CBPC) 69 Planung 85 präventive Konservierung 139 Q Quartier 187 R Raumklima 125, 169

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Weller und L. Scheuring (Hrsg.), Denkmal und Energie 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28753-5

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Restaurierungsglas 139 robotergefertigt 69 S Sanierung 35, 187 Schloss 169 Schulbau 93 Schule 93 Solaranlagen 203 Solartechnik 217 Staatsoper 69 Stadtpark 55 T Tomografie 125 traditionelle Flachglasherstellung 139 U Ultraschall 111 Umbau und Instandsetzung 85 UV-Filterglas 139 W Wärmeschutz 151 Warmhaus 55

Schlagwortregister