Denk sinnlich: Die Ästhetik der Organisationsentwicklung 9783964930002, 9783964930019

Wir befinden uns an einer Schwelle. Hinter uns liegen die Modelle der Unternehmensführung, die radikal auf Wachstum und

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Denk sinnlich: Die Ästhetik der Organisationsentwicklung
 9783964930002, 9783964930019

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Ein Vorwort
1. Ästhetik? Bilder und Metaphern – Anregungen zum Wachstum
1.1. Einleitung
1.2. Wie die Athener Matrosen wurden
1.3. Zwischenrufe
1.4. Haiku
1.5. Von Außen
2. Die soziometrische Dimension
2.1. Einleitung
2.2. Was macht es eigentlich so anders?
Das erneuerte Kaizen
2.3. Zwischenrufe
2.4. Haiku
2.5. Von Außen
3. Häuptling und Schamane – eine Perspektive zu kollektiver Steuerung
3.1. Einleitung
3.2. Führung von Veränderungsprozessen
Marktorientierte Kultur im Unternehmen
Innovation & Veränderung
3.3. Zwischenrufe
3.4. Haiku
3.5. Von Außen
4. Verschiedenheit – Zweckfreiheit – Kontingenz – Emergenz: die menschenorientierte Organisation
4.1. Einleitung
4.2. Neue Führung
4.3. Zwischenrufe
4.4. Haiku
4.5. Von Außen
5. Wer darf sprechen? Wer wird gehört? Die politische Dimension der Organisationsentwicklung
5.1. Einleitung
5.2. Durchwegung
New Organization, New Work, New Mindset
5.3. Zwischenrufe
5.4. Haiku
5.5. Von Außen
6. Abwegiges – Die Perspektive des DENK SINNLICH
6.1. Einleitung
6.2. Glaube, Liebe, Hoffnung
6.3. Zwischenrufe
6.4. Haiku
6.5. Von Außen
7. Humanismus und Somaästhetik
7.1. Einleitung
7.2. Was ist Leidenschaft?
Vertrauen
Die Leidenschaft – Leib und Sinne
7.3. Zwischenrufe
7.4. Haiku
7.5. Von Außen
7.6 Andere
Über die Würde des Menschen
Die Kunst des Aufstiegs
Literatur- und Quellenverzeichnis
Back Cover

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wo sind die sterne? wer zeigt dir heute den weg? trau deinen füßen

DENK Sinnlich Die Ästhetik der Organisationsentwicklung Rüdiger Müngersdorff

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Publishing ist ein Imprint der wbg. © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Redaktion: Alva Hoffmann, Maria Wagner Layout und Satz: Copernicus Graphische Werkstatt, Alka Mediengestaltung GmbH, Kathrin Schmelter Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-96493-000-2 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-96493-001-9

Ein Vorwort

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Ein Vorwort Wir befinden uns an einer Schwelle. Hinter uns liegen Jahrzehnte, in denen sich Unternehmen mit kontinuierlicher Effizienzsteigerung und steter Verbesserung der Produkte in den Märkten behaupten konnten. Die eher disruptiv hinzugekommenen neuen Unternehmen, die die technischen Möglichkeiten zur Gestaltung neuer Geschäftsmodelle genutzt haben, sind unter der Notwendigkeit der Skalierung schnell selbst zu den Programmen der Effizienzsteigerung gewechselt. Und nun? Es stellen sich Fragen. Fragen, die die Gesellschaft und damit auch die Mitarbeiter*innen der Unternehmen stellen. Wie können wir auf die schnellen wechselnden Bedürfnisse und Ansprüche der Gesellschaft reagieren? Wie können wir ein attraktiver Lebensplatz für junge Menschen werden? Wie lässt sich Beschleunigung, Komplexität und Kontingenz beherrschbar machen? Wie können wir unser Unternehmen flexibel, adaptionsfähig und innovativer machen? Gibt es schon Antworten? Es gibt ein reiches Antwortpuzzle, aber noch keine ausgereifte Antwort. Aber es gibt Anregungen, die zu Antworten führen können. Und um Anregungen, kleine Inspirationen geht es in den folgenden Texten. Unternehmen, Organisationen im Allgemeinen bedienen sich einer rationalen Sprache, sie verstehen sich als Großhirn geleitet. Sie bauen ein mentales Feld auf, in dem Argumente, rationale Denkfiguren beherrschend sein sollen. So werden Gespräche geführt, so werden Entscheidungen vorbereitet, so werden die innere und äußere Welt repräsentiert. Und dies hat sich trotz der vielen eher emotional gerichteten Impulse aus der Organisationsentwicklung nicht geändert. In all den hier vorgelegten Texten geht es darum, wie denn Organisationen sich anderen mentalen Modellen öffnen können, die der Dominanz des rationalen Modells etwas entgegenstellen. Dabei geht es nicht darum, die rationale Methodik der Situationsbewältigung durch andere Modelle zu ersetzen. Es geht um eine Balance. Warum? Weil weder die Menschen in Organisationen, noch die Märkte, noch das gesamte Gebilde der Gemeinschaft Unternehmen ein rationales ist. Es ist zutiefst emotional bestimmt, es nützt synthetische Denkformen, es ist assoziativ und unlogisch.

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Ein Vorwort

Wie gewinnt man Zugang zu den Denkformen, Lebensformen, die der Rationalität ergänzend zur Seite gestellt werden können? Die hier versammelten Texte sind Anregungen und Hinweise, auf welchen Wegen dies gelingen kann. Sie folgen keinem Programm. Die Zusammenstellung bündelt Zugänge, orientiert sich an möglichen Pfaden, die, wenn begangen, Chancen bieten den großen Reichtum des emotional geleiteten, assoziativen, narrativen Denkens für die Unternehmen und die Menschen in Unternehmen in die Diskurswelt der Unternehmen zu integrieren. In einer einfachen Metapher gesprochen: Es geht darum, zu erfahren, wie Großhirn lernt mit dem limbischen System zu sprechen, also um eine intrahirnliche Gesprächskultur. Es gibt ein einfaches Beispiel für einen solchen Dialog aus der Methodik der Entscheidungsfindung, wenn die Notwendigkeit besteht, einen Aspekt von zwei Möglichkeiten zu wählen. Der bekannte Münzwurf: Je eine Seite der Münze repräsentiert einen Teil des Dilemmas, die Münze wird in die Luft geworfen und die Entscheidung ist gefallen. Die Seite, die nach oben offen liegt, steht für den Aspekt, der nun entschieden ist. Doch das ist nur der äußere Ablauf – in einem intrahirnlichen Dialog reagiert das limbische System auf den Zufall – es gibt eine spontane emotionale Reaktion und es ist diese Antwort des limbischen Systems, die entscheidet – entweder eine ruhige akzeptierende Emotion oder aber eine deutlichere ablehnendere, Unmut ausdrückende Emotion. In ihr wird die eigentliche Entscheidung über das Dilemma getroffen. Das limbische System hat gesprochen, was je nach Kulturkreis dem Herzen oder dem Bauch zugeschrieben wird. Nun sind die meisten Situationen, in denen es zu entscheiden gilt, keine Dilemmata, sondern bestehen aus komplexen Gemengelagen. Und daher geht es darum, eine Gesprächskultur zu entwickeln, in der Bauch und Herz einen Platz haben. Wenn man danach sucht, wo dies in vielfältiger Weise immer schon geschieht, dann stößt man unmittelbar auf das Feld der Kunst, deren Manifestationen sich als einen gelungenen Dialog zwischen Herz, Kopf, Bauch und Hand verstehen lassen. Und so stehen in einem Teil der vorliegenden Sammlung Reflexionen über das Verhältnis von Kunst und Unternehmen, Kunst und Bildung im Vordergrund. Sie lassen sich als Impulse für eine ästhetische Organisationsentwicklung verstehen. Manches greift dabei auf die Haltung der Romantik zurück, die mit

Ein Vorwort

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der Metapher des Schwebens zwischen Verstand und Vernunft arbeitete und die wir in der Pädagogik gerne als Herzensbildung beschreiben. Einen zweiten Zugang haben wir über die vielfältigen Überlegungen der Familienforschung und der Gruppendynamik gefunden – Unternehmen sind ein Beziehungsfeld und Beziehungen sind nicht rational. Für eine Zeit binden sich Menschen an ein Unternehmen, an eine Gemeinschaft, die in dem Unternehmen zusammengefunden hat. Darin gibt es rationale Motive, die sich als materielle Notwendigkeiten fassen lassen. Doch das ist nicht alles. So wie man eine Ehe als die passende Verbindung ergänzender materieller Güter zu beschreiben vermag, eine Liebe lässt sich so nicht beschreiben und so auch nicht die lang anhaltende Loyalität und Leistungsbereitschaft von Mitarbeiter*innen. Daher gibt uns das emotionale Feld der Gemeinschaft Unternehmen vielerlei Hinweise, wie sich der Horizont des Handelns innerhalb eines Unternehmens erweitern und wie sich emotionale Reife der Akteurinnen*­Akteure entwickeln lässt. Die derzeitige Konjunktur des ursprünglich kunstgeschichtlichen Begriffs ‚Empathie’ zeigt, wie sehr gespürt wird, dass wir ohne die Kompetenz zur Gegenseitigkeit im Handeln, die hohe Kunst der Kooperation nicht lernen werden. Wir sind wir selbst in unserem Besten nur in und mit den Anderen. In all diesen Fragen ist es wohl das Schwierigste Zweckfreiheit in einem durch und durch Zweck- Mitteldominiertem System zu denken und ins Handeln zu integrieren. Das tiefe Bedürfnis mit anderen und für andere zu handeln gibt hier Grund zu Optimismus. Die so herausfordernde Situation der Diversität in unserer globalen und individualistisch orientierten Arbeitswelt gibt uns die Chance, die eigenen Bedürfnisse und Begehren zu verstehen, sie im szenischen Kontext mit anderen zu relativieren und so Wege zu einer Kooperation zu finden, in der Gegenseitigkeit zugleich auch individuellen Gewinn bedeutet. Ein letzter zentraler Aspekt, um den viele Texte kreisen ist ein genuin politischer, der heute auch in der Organisationsentwicklung mit der Beschreibung demokratisch gefasst wird. ‚Wer darf sprechen, wer wird gehört?’. Gerne wird die Diskussion auf das Problem der Legitimation von Autorität und Macht fokussiert – aber in den Überlegungen des englischen Utilitarismus steht die Qualität von Entscheidungen durch eine Mehrheit ebenfalls im Vorder-

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Ein Vorwort

grund. So haben wir mit dem Begriff der Durchwegung Modelle entwickelt, die sich damit beschäftigen, wie die Weisheit des Gesamtsystems Unternehmen in Entscheidungs- und Diskursprozesse Eingang finden kann. Dabei geht es uns nicht um die kontinuierlichen Befragungen, die Stimmungsbilder erzeugen sollen, sondern um die Organisation wirklicher Dialoge, in denen Perspektiven sichtbar werden und in denen mehr geschieht, als ein Meinungsaustausch. Wir sehen das Emergenzpotential in Dialogen, die durch demokratische Praktiken in Unternehmen realisiert werden können, sowohl im Versuch die komplexe Welt zu verstehen, als auch in der Erhöhung der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, die der Komplexität der Situation entsprechen. Diese soziologische oder politische Wendung in der Organisationsentwicklung ermöglicht es in einem Unternehmen auch die gesellschaftlichen Ansprüche an Unternehmen zu formulieren und zu verstehen und auf diese Weise ein profitorientiertes Unternehmertum auch für die Zukunft möglich zu machen. Wir befinden uns an einer Schwelle. Hinter uns liegen die Modelle der Unternehmensführung, die radikal auf Wachstum und eine Sicherstellung von Profit ausgerichtet waren. Und dies geschah in jüngster Zeit zunehmend über Formen und Methoden der Effizienzsteigerung. Zugleich wird sichtbar, dass es der kulturelle Überschuss ist, die Möglichkeit zur Verschwendung, die uns neue Wege, die uns anderes finden lässt. Vor uns liegen Chancen, die den Unternehmen eine neue Rolle in der Entwicklung unserer Gesellschaft geben, die es ermöglichen können, Arbeit aus der puren Notwendigkeit herauszuführen, Leben und Arbeit in einen harmonischen Einklang zu bringen. Kein Programm, auch wenn es immer wieder die Schwäche gibt, sich einem alles heilendem Programm zu unterwerfen. Die Textsammlung steht vor allem für eins: Das Ende der Programme und ein offenes Suchen nach Denkformen, nach Handlungsmöglichkeiten, die es erlauben, etwas zu denken und zu tun, was im Alten unmöglich schien. Das Buch versteht sich eher als eine Collage, die aus unterschiedlichen Elementen besteht, die in einem Zeitraum von zwanzig Jahren entstanden sind und die nicht vorgeben, einer strengen Systematik zu folgen. Man kann blättern, man kann überall anfangen zu lesen. Und doch folgen alle einer Spur: Der Mensch ist ein sinnli-

Ein Vorwort

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ches Wesen – wer für den Menschen Organisationen schafft, der muss genau dies bedenken und fragen: ‚habe ich einen Ort geschaffen, der der Sinnlichkeit der Menschen Raum gibt?’ Ist das nicht der Fall, dann habe ich eine Struktur für eine gehorsame Mitarbei­ ter*innenschaft gestaltet, aber nicht das, was wir heute wollen und brauchen: Einen Ort für einen selbstwirksamen, sich entwickelnden Menschen, der aus seiner Eigenheit Beiträge für das Ganze des Unternehmens leistet.

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis „DENK SINNLICH - Die Ästhetik der Organisationsentwicklung“

Ein Vorwort 1. Ästhetik? Bilder und Metaphern Anregungen zum Wachstum 1.1. Einleitung 1.2. Wie die Athener Matrosen wurden 1.3. Zwischenrufe  1.4. Haiku 1.5. Von Außen  2. Die soziometrische Dimension 2.1. Einleitung 2.2. • Was macht es eigentlich so anders? • Das erneuerte Kaizen  2.3. Zwischenrufe  2.4. Haiku 2.5. Von Außen 

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13 14 18 61 66 68 71 72 74 91 124 141 144

3. Häuptling und Schamane – eine Perspektive zu kollektiver Steuerung

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3.1. Einleitung 3.2. • Führung von Veränderungsprozessen • Marktorientierte Kultur im Unternehmen  • Innovation & Veränderung 3.3. Zwischenrufe 3.4. Haiku 3.5. Von Außen 

148 152 172 187 199 206 208

4. Verschiedenheit – Zweckfreiheit – Kontingenz – Emergenz die menschenorientierte Organisation 211 4.1. Einleitung

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Inhaltsverzeichnis

4.2. Neue Führung  4.3. Zwischenrufe 4.4. Haiku  4.5. Von Außen 

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215 225 245 248

5. Wer darf sprechen? Wer wird gehört? Die politische Dimension der Organisationsentwicklung 251 5.1. Einleitung 5.2. • Durchwegung • New Organization, New Work, New Mindset 5.3. Zwischenrufe  5.4. Haiku  5.5. Von Außen

252 254 290 304 319 321

6. Abwegiges Die Perspektive des Denk sinnlich323 6.1. Einleitung 6.2. Glaube, Liebe, Hoffnung 6.3. Zwischenrufe 6.4. Haiku  6.5. Von Außen

324 326 344 347 350

7. Humanismus und Somaästhetik

353

7.1. Einleitung 7.2. • Was ist Leidenschaft? • Vertrauen • Die Leidenschaft – Leib und Sinne 7.3. Zwischenrufe 7.4. Haiku  7.5. Von Außen 7.6 Andere • Über die Würde des Menschen • Die Kunst des Aufstiegs Literatur- und Quellenverzeichnis

354 356 362 369 376 377 380 381 381 386 390

Kolumnentitel

1. Ästhetik? Bilder und Metaphern – Anregungen zum Wachstum

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1.1 Einleitung

1.1 Einleitung Was hat Ästhetik mit der Gestaltung und Steuerung von Unternehmen zu tun? Zunächst einmal gar nichts. Das System Unternehmen ist auf Ertrag, Effizienz und finanziell messbares Wachstum ausgerichtet. Ästhetik hat seinen Platz im Marketing, als Design, vielleicht in der Produktgestaltung aber kaum als eigenes Kriterium, um Unternehmensabläufe zu bewerten. Wann wird schon ein Prozess oder eine Besprechung als schön oder sinnlich beschrieben? Ästhetik spricht von sinnlicher Erfahrung, der Begegnung von Welt mit allen Sinnen und in einer Weise, in unserem modernen Wortgebrauch, dass der gesamte Sinneseindruck als schön bezeichnet werden kann. In der Pädagogik wissen wir, wie sehr sinnliches, emotionales Erleben Teil eines gelungenen Wissens- und Könnenerwerbs ist. In der Hirnforschung wird die Bedeutung des emotionalsinnlichen Erlebens als wesentlich für das tiefere Lernen verstanden – es geschieht wohl im limbischen Teil des Gehirns, jenseits unseres Bewusstseins. Wenn wir also von Wachstum sprechen und dies nicht nur auf Ertrag, Umsatz, Marktanteil etc. beziehen, sondern Wachstum unter den Kriterien von kognitivem und emotionalem Reichtum verstehen, dann kann uns der Bezug auf Ästhetik und

Kunst helfen, einen anderen Zugang zur Gestaltung von Unternehmen, von Unternehmensprozessen, von Mitarbeiter*innen­führung zu finden. Wir befinden uns inmitten einer Krise, die sich dadurch auszeichnet, dass es immer schwieriger, ja zunehmend unmöglich zu sein scheint, verlässliche Vorhersagen über selbst die nahe Zukunft zu treffen. Die in der Philosophie schon lange beschriebenen Komplexitäts- und Kontingenzerfahrungen haben die Unternehmen eingeholt. Planungsinstrumente, die auf der Beständigkeit der Umwelt beruhen, versagen zunehmend. Das Ereignishafte, das, was unerwartet eintritt, wird immer wichtiger und dominanter. Für die Menschen in Unternehmenszusammenhängen wird es daher immer bedeutsamer, die Fähigkeit zu entwickeln, eine Antwort auf neue Situationen zu finden, die als spontan, flexibel oder auch agil beschrieben werden kann. Diese Fähigkeiten lassen sich auf dem Wege der lange erfolgreichen Planungsmethoden nicht erlernen. So brauchen wir im Augenblick weniger detaillierte Ausfaltungen der Rationalität, als vielmehr eine Entwicklung der emotionalen Persönlichkeit, eine Entwicklung intuitiver Kompetenzen. Aber wie und wo kann das geschehen?

1.1 Einleitung

Wenn uns alles zu einem Mittel für einen Zweck wird, sei es Ertrag, Wachstum, Marktanteil, Kostenführerschaft, ja selbst Purpose und Leidenschaft zu einem Mittel werden, dann wird die Welt selbst zu einem Mittel und der Mensch in ihr zu einem Werkzeug. Die naturwissenschaftliche Wendung, die technische Wendung in unserem Bezug zur Welt war und ist segensreich und dennoch hat ihre große Dominanz dazu geführt, alles unter dem Gesichtspunkt der Maximierung zu betrachten, oder freundlicher gesprochen unter dem Aspekt der Verbesserung, der Steigerung. Ein in Unternehmen oft gesagter Satz: Da, wo wir uns nicht verbessern, da fallen wir zurück, zeigt die problematische Seite dieses Weltzugangs. Der Satz hat seine eigenen Wirkung entfaltet, er hat uns in eine Denkform geführt, die als steter Duck empfunden wird, als rastloses Vorwärts, dem die Zeit der Muße, des freien Bedenkens verloren gegangen ist. Während uns die technische Wende eigentlich so viel Zeit für ein freies zwang- und druckloses Bedenken geschenkt hat, finden wir keine Zeit mehr für ebendiesen Überschuss, die Entlastung von Bedürfnissen zu nutzen und uns frei, befreit und so mit einem Abstand mit den Alternativen, dem je anderen zur beherrschenden Weltbeschreibung beschäftigen zu können.

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Es sind ästhetische Erfahrungen und insbesondere Erfahrungen in der Begegnung mit Kunst, die uns unterstützen mit einem anderen Mindset, anderen kulturellen Mustern, unserer eigenen Welt zu begegnen und mit leichten Verschiebungen in den dominanten Beschreibungen unserer Umwelt zu erfahren, dass sich neue Handlungsmöglichkeiten öffnen. Schließlich ist unsere Welt eine sensible Balance zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit. Wie sehr Kunst das Potential, uns zu helfen, in sich trägt und die Zukunft so zu verstehen, dass sie uns Handlungsoptionen eröffnet, mag ein Beispiel verdeutlichen. John Cage komponierte, oder besser fügte zusammen und collagierte die Oper Europeans 1 und 2. Er fügte 64 Instrumentalpassagen aus 200 europäischen Opern zusammen, wobei ein Computer zufallsgesteuert die Reihenfolge bestimmte. Er fügte, ebenfalls zufallsgesteuert, ausgewählte Parameter für Licht, Kostüme und Requisiten hinzu. Die Sänger*innen von Arien wählten selbst die Arien aus, die sie singen wollten, festgelegt war nur ein zeitlicher Rahmen. Die Oper wurde 1987 in Frankfurt uraufgeführt. Erlebt werden können die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem und der Zusammenhang von Unzusammenhängendem. Es gibt eine Hintergrundstruktur, die das sehr fragile, offene und vor allem von Freiräumen bestimmte Kunst-

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1.1 Einleitung

werk zusammenhält: die 64 Konstellationen des chinesischen Orakels I Ging. Innerhalb des gesetzten Rahmens gibt es eine große Freiheit der beteiligten Künstler*innen. Und zugleich verpflichtet es die Künstler*­ innen, die Freiheit in einer steten Kommunikation mit der Freiheit der anderen zu gestalten. In diesem Werk schafft Cage einen intensiven Ausdruck dessen, was heute VUCA genannt wird und gibt zugleich Ideen und Haltungen einen Raum, der heute unter dem Stichwort agile Organisation auch in den Unternehmen Einzug gehalten hat. Liest man Cage‘s Werk unter dem Aspekt einer Organisation, dann zeigt er zugleich, wie sich die Führungskonzepte Hierarchie und Bürokratie in diesem Setting verändern. Es gibt eine Führung, eine*n Regisseur*in, vielleicht eine*n Diri­ gent*in – aber sie halten nur mehr den Rahmen, geben Feedback im Prozess der Verständigung, setzen eventuell Impulse in einem Prozess, der immer wieder neu entsteht. Freiheit, Gestaltungsoptionen und Verantwortung liegen bei den Spieler*­ innen. Ihre Kooperationsfähigkeit – die Balance zwischen individueller Freiheit und kollektivem Zusammenklingen lässt das aufgeführte Werk als Ereignis entstehen. Hier ist alles enthalten, was man braucht, um die neuen agilen Arbeits- und Organisationsformen zu verstehen und das ca. 30 Jahre, bevor das Wort ‚agil‘

in den Unternehmen Einzug hielt. Im Hintergrund eine strenge Struktur, eine Führung als Gestalter*in von Feedbackschleifen und Impuls­ geber*in ohne inhaltlichen Eingriff, die Freiheit der Spielenden und die Notwendigkeit die jeweilige Freiheit, den jeweils spezifischen Individualismus und eine kollektive Orientierung am gemeinsamen Ergebnis in eine Balance zu bringen. Das Werk zeigt aber auch anderes: den hohen Anspruch an die Fertigkeiten, das Können der einzelnen Spieler*innen, ihren ausgebildeten Sinn für das individuell Spezifische und zugleich das Können, sich auf ein Kollektiv zu beziehen und Gemeinsamkeit zu gestalten. Es verlangt von jeder*jedem Einzelnen die Haltung der Gegenseitigkeit, in der ich von der*vom anderen her denke, ohne dabei die Eigenheit des mir eigenen zu verlieren. Cage diente uns als ein Beispiel, eine Metapher, ein Bild, um jenseits der bestimmenden kognitiven Muster, die in einem Unternehmen als die Kultur beschrieben werden, sich den Dingen zuzuwenden, sie aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Das geht sicher auch rein theoretisch, jedoch fügt das Kunstwerk, die Oper von Cage dem ganzen einen ästhetischen, sinnlichen Moment hinzu, indem auch emotional erlebbar, sinnlich spürbar wird, dass Organisation auch anders gedacht und gestaltet werden kann.

1.1 Einleitung

Das Moment der Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen und das Zusammen von Denkformen und Handlungen, die logisch nicht zusammengehören, hat sich auch in der Welt der Blockbuster manifestiert. In Marvel’s Film Black Panther sieht man für unser normales Verständnis deutlich disparate, zu verschiedenen Entwicklungsperioden zugeordnete Handlungsweisen und Artefakte in einem Ereignisraum, einer gleichzeitigen Welt. Man sieht alte, eher archaische Rituale im Kontext futuristischer High End Technologie und sie bilden im Lebensraum dieses Filmes keinen Widerspruch, sondern sind in einem Zugleich. Hollywood formuliert solche Konstellationen nicht nur als reine Phantasiegebilde,

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sondern sie spiegeln wieder, was wir unter dem Begriff Diversität fassen – Wege verschiedenste Individualismen, Eigenheiten, Weltrepräsentationen in ihrer Eigenheit zu lassen und zugleich Gemeinsamkeit als gegenseitigen Bezug aufeinander zu gestalten. Für den in den genannten Bildern aufscheinenden hohen Anspruch sind wir noch nicht ‚gebildet‘ genug. Wir leben und handeln noch in einem Kontext, der von der Idee des Menschen als Egomaximierer*in dominiert ist. Wir lernen erst die Schönheit der Ergebnisse von Kollaboration und Gegenseitigkeit zu schätzen und uns auf den Weg zu einem individuell-kollaborationen Arbeiten zu machen.

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1.2 Wie die Athener Matrosen wurden

1.2 Wie die Athener Matrosen wurden Kunst und Bildung in Unternehmen

1. Vom Training zur Sophia Bildung im Unternehmen. Ich blättere in einem Katalog und erfahre, was ich alles können werde, wenn ich dieses oder jenes Seminar besucht habe. Ich lese, welche Fertigkeiten und welches Wissen mir zur Verfügung stehen werden und welche Situationen ich nach Beendigung des Seminars sicher bewältigen kann. Es sind alles Antworten auf schon oft gestellte Fragen, die ich erfahren werde, aber es wird keine neue Frage in mir erstanden sein, die mich zu eigener Antwort zwingt. Ich werde gelernt haben in der Form, die heute Lernen erster Ordnung heißt. Ich werde in den Fußstapfen vieler Vorgänger*innen einen sicheren Weg gehen. Hoffen kann ich nur, dass sich die Landschaft um mich herum nicht verändert, dass es nicht zu unvorhergesehenem Wetter kommt, denn dann brauche ich etwas Anderes als das, was alle schon können, was aber nur für die alte Welt nützlich war. Zwischen Bildung und Training gibt es einen Unterschied. Trainiert wird jemand für eine bestimmte, wohldefinierte Aufgabe. Sowohl die Aufgabe als auch die Methoden zur Bewältigung der Aufgabe lassen sich klar definieren. Aus der Definition lassen sich Lernpläne ableiten und Lernschritte konzipieren. Es gibt hinterlegte Erfahrungen mit Aufgabe und Methode. Die Situationen, in denen die Aufgaben auftreten, sind ebenfalls bestimmt und stabil. Wer immer den Lernschritt vollzieht, bewältigt die Aufgaben. Wie genau ist eigentlich eine Führungsaufgabe heute definiert? Was wissen wir über das künftige Umfeld von Führung? Was für ein Typ Mensch wird geführt werden müssen? Wenn sich vieles in den Unternehmen beschleunigt wandelt und ständige Veränderung zum Zeichen der Qualität einer Organisation wird, was bedeutet

1.1 Trainieren, was alle anderen schon können

1.2 Wie die Athener Matrosen wurden

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das für Führung? Für was eigentlich werden die Führungskräfte trainiert? Für die Aufgaben von gestern? Fragen, die schnell an die Grenzen des Trainingsmodells oder des Lernens erster Ordnung führen. Führungssituationen sind nicht stabil – Führungskontexte ändern sich. Die Methoden, die gelernt werden können, sind oft auf Idealsituationen bezogen, die es selten gibt. Oder aber die Methode steht in spürbarem Widerspruch zum Charakter, zur Emotionalität oder zum Temperament der nach ‚Hilfe‘ für seine Aufgabe suchenden Führungskraft. Vieles von dem, was Unternehmen von ihren Führungskräften verlangen, ist nicht trainierbar – es geht um Charakter, es geht um Ethik, um Emotionalität und es geht um Persönlichkeit. Auch hier wird die Beschreibung dessen, was denn eine gute Führungskraft ausmacht, schnell ungenau. Man glaubt sie zu erkennen, wenn man ihr begegnet, aber genau ausdrücken, was denn den Unterschied zwischen den Guten und den nur Geeigneten macht, wissen wir so genau nicht zu benennen. Lebenserfahrung kommt ins Spiel, die Charakterbildung durch die Auseinandersetzung mit der Welt, an der sich einer gestoßen hat, die Kenntnis von Krisen und das Wissen über das eigene Ich, über seine Stärken, Schwächen und Untiefen. Es geht um geistige Weite. Und stellt man uns als Spezialist*innen für ‚Lernen‘ die Frage, wie ‚macht‘ man solche Führungskräfte, dann fällt uns eher der erweiterte Kunstbegriff von Beuys ein als ein Trainingskonzept von drei Tagen Dauer. Beuys begründete seinen erweiterten Kunstbegriff mit der Formulierung, ‚man müsse Vorstellungen haben vom Ganzen der Dinge, erst dann könne man das Einzelne schaffen‘, sei es nun ein Kunstwerk, sei es eine Führungsaufgabe. Es gibt gute Gründe, warum Unternehmen am 1.1.1 Die Maschinen­ Grundmodell ‚Training‘ festhalten. Es passt zur organisation oder Grundform der inneren Arbeitsform der Unternehdie Sicherheit der men, es entspricht dem Modell der Bürokratie. UnBürokratie ternehmen werden verwaltet und nach wie vor nutzen sie dafür Regeln, Vorschriften, Pläne und Formulare und deren formalistische Prüfung. Die Gestaltung des Vorgangs und die Kontrolle des Vorgehens sichert das Unternehmen ab, sorgt für seine Identität. Nicht der Inhalt des Vorgangs steht im Vordergrund, sondern die Art und Weise des Vorgehens selbst. Der Rückgriff auf das Formale des Aktes gewährleistet Ein-

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1.2 Wie die Athener Matrosen wurden

heit und Kontrolle gegenüber einer unübersehbaren Fülle von Inhalten. Über das ‚Formale‘, über die Gestaltung von Entscheidungen, über die formale Setzung von Kontrollwegen lässt sich eine inhaltlich zu kompliziert gewordene Organisation, die in ihrem konkreten Tun zu vielfältig geworden ist, um die Inhalte von einem zentralen Ort noch übersehen zu können, führen. Es bleibt kontrolliert, es bleibt einheitlich. Bürokratische Modelle geben die Sicherheit von Richtigkeit auch dann, wenn die Inhalte unüberschaubar geworden sind.

Die Vorschriften, Arbeitsanweisungen etc. vermitteln den Eindruck, als ließe sich die Komplexität und die Zukunftsoffenheit der Welt durch ‚Regeln‘ bändigen. Und bricht ein Inhalt aus den Regeln aus, treten Situationen auf, die noch nicht geregelt sind, so spricht das nicht grundsätzlich gegen das Modell, sondern nur für seine weitere Ausgestaltung durch weitere Regeln. Selbst wenn das Wissen auftritt, dass es zu viele Regeln oder zu enge Regeln sind, werden die Regeln nach einer Regel reduziert. Das Modell der Bürokratie hat die Potenz zur Selbstbezüglichkeit und kann sich so, ohne seine eigenen Grundregeln zu verändern, an neue Situationen

1.2 Wie die Athener Matrosen wurden

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anpassen. So schafft es ein Gefühl von Sicherheit und vermittelt das Bewusstsein, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht. Folglich wird im bürokratischen Modell auch weniger inhaltliches Versagen bestraft, verfolgt werden hingegen Regelverstöße, diese gelten als eigentlich ‚gefährdend‘. Die Regeln nämlich sind das einheitsstiftende Rückgrat der Organisation und nur sie ermöglichen eine Kontrolle von oben nach unten. Sie verhindern die Grundangst in Hierarchien, dass Anarchie ausbrechen möge. Die Bürokratie ist ein erfolgreiches Modell. Ihr Problem ist ein vernünftiger Ausgleich zwischen Freiraum vor Ort und Regelkonformität, und ihr Problem ist ein Typ von Mensch, der sich in diesem Modell einnistet – die*der Bürokrat*in. Sie*Er ist die*der Gegenspieler*in der*des ‚Unternehmers*in‘, dem es um Inhalte geht. Im Kampf zwischen beiden muss sich das Gleichgewicht von Freiheit und kontrolliert Geregeltem ausbilden. In Unternehmen macht uns, die wir für die Ermöglichung von Flexibilität, von Kreativität und von Offenheit gegenüber dem noch nicht ‚Gedachten‘ stehen, noch ein anderes Modell Sorge, das ideal zur Idee der Bürokratie passt. Unternehmen denken sich oft noch im Bild einer Uhr, im Bild eines mechanischen Kunstwerks, indem viele Rädchen miteinander kunstvoll verzahnt sind und die, werden sie regelmäßig aufgezogen, berechenbar und ewig einen zuverlässig gleichen Weg gehen. Manchmal erstaunt es, dass Unternehmen, die in ihren Produkten mit ganz anderen Modellen arbeiten (z.B. biologischen Modelle, Modelle der Fuzzy Logik usw.) für ihre Organisation am Bild der Maschine festhalten. Rädchen greifen nach wie vor ineinander über, übertragen einen zentralen Impuls in unterschiedlicher Umsetzung bis hin zum kleinsten Rädchen. Auch hier gibt es einen Grund, warum so viele an diesem Modell festhalten. Es zeigt einen verständlichen Weg, ein großes Gebilde in seinem abgestimmten Zusammenhang zu denken und es zeigt Stellen auf, an denen die Übertragungen geschehen. Woran mit viel Aufmerksamkeit gearbeitet wird, sind die Kontaktstellen der Rädchen – und obwohl sie immer mehr in Workshops, in Besprechungen, in Großveranstaltungen etc. gepflegt werden, gibt es immer noch zu viel Energieverlust an genau diesen Übertragungsstellen. Und so wird

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1.2 Wie die Athener Matrosen wurden

uns immer wieder dieselbe Frage gestellt: Mit welchem ‚Mittel‘ kann ich die Übertragung effektiver gestalten? Und im Hintergrund sehen wir das Idealbild des Fragenden; das Bild einer Maschine, in der lautlos und ohne Übertragungsverlust Bewegung von einem Rad auf ein anderes übertragen wird und viele Räder so miteinander verknüpft in ewiger Bewegung bleiben. Auch dieses Modell verspricht die Sicherheit von Ordnung und Geregeltheit: der Ort eines jeden Rädchens ist wohlbestimmt, die Organisation hat einen klaren, sicheren und verlässlichen Aufbau. Und betrachtet man sich die Not der mit Personalfragen betrauten Menschen in Unternehmen, Karriere anders als Aufstieg von einem Ort zum anderen zu denken, so wird daran deutlich, wie wesentlich für das innere Gefüge die Hierarchie der Orte, die Hierarchie der Rädchen ist. Und auch hier wieder der Grundgedanke des Trainings: Ort, Aufgabe, Laufrichtung, Durchmesser, Zahnstellung des Rädchens oder des Rades sind wohlbestimmt und wer sich diese Bestimmungen zu Eigen macht, der läuft reibungslos im Getriebe des Unternehmens. Wohlbestimmtes lässt sich trainieren und so passt das Modell Training zur Bürokratie und zum mechanischen Kunstwerk Organisation. Und alle drei gemeinsam schenken den Menschen Sicherheit, Verlässlichkeit und Kontrolle – genau das, von dem wir wissen, dass es die nicht gibt. Und weil sie dies uns allen so Wichtige schenken, verharren die Menschen in diesen Modellen. Zugleich natürlich klagen wir alle über die Kosten der Modelle: mangelnde Freiheit, mangelnde Offenheit, mangelnde Flexibilität, mangelnde Veränderungslust, mangelnder Mut. Und so gibt es das Paradox: Aufträge, in denen wir genau in diesen Modellen Freiheit, Mut, Charakter, Offenheit, Flexibilität, Veränderungslust trainieren sollen. Aber das geht nicht. Gelernt werden muss auch in der bürokratischen Maschinenorganisation. Und gelernt wird in der Fortsetzung von Schule. Gelernt wird, was andere schon wissen. Gefragt wird nach dem, wozu es schon Antworten gibt. Selten wird gelehrt, wie ich denn neues Wissen erfinden kann und selten wird Menschen gezeigt, wer und was sie sein könnten. Die Lernerfahrungen in der selbst bürokratischen Institution Schule sind solche der Reproduktion – wird Gelerntes integriert, zum Teil der Persönlichkeit der*des Schülers*in, so ge-

1.1.2 Die Fort­ setzung der Schule

1.2 Wie die Athener Matrosen wurden

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schieht dies eher zufällig. Natürlich ist Schullernen nicht schlecht, so wenig wie Training schlecht ist, so wenig wie Bürokratie schlecht ist. Sie leisten, was sie leisten müssen und was notwendig ist, nämlich von Anderen zu lernen, was Andere schon wissen und was sich übernehmen lässt. Zu­gleich sind sie aber begrenzt, öffnen selten den Weg zu Neuem und schließen selten das Tor zur Bildung auf, in der und mit der Persönlichkeiten werden können. Obwohl in den Unternehmen so viel von Persönlichkeiten, von Führungsqualitäten, von Charakter die Rede ist, reproduzieren die Unternehmen eigenartigerweise in ihren Fortbildungszentren immer wieder Schulen. Es beginnt beim Aufbau des Lernraums, den Orten des Lernens selbst, die fast immer an Schule erinnern, geht über den Aufbau der Tische, Tafeln und des Katheders bis hin in die Zeitplanung. So kann man lernen, was reproduziert werden soll. Aber das Neue entdecken, Erfahrungen mit sich machen, während man sich mit sperrigem Stoff auseinandersetzt? Erfahrungen, in denen sich Themen mit Beziehungen vermischen und unversehens sich Selbstverständnis entwickelt? Dafür sind diese Orte nicht geschaffen. Als ein anderes Bild vom Lernort kommt mir das Theater, das klassische griechische Gymnasium des Altertums oder die Laborschule Hentigs in den Sinn. Doch solche Denkbilder vom Ort des Lernens finde ich so gut wie nie in Unternehmen, auch dort nicht, wo die Regelexpert*innen für das Lernen, die Bildungsbürokrat*innen sitzen. Der andere Ort des Lernens könnte die Chancen zu neuem Lernen eröffnen und mit der Lerntradition Schule und der Dominanz der Reproduktion brechen. Zugleich repräsentiert Schule eine bestimmte Form der autoritär konstituierten Lernsituation. Es gibt immer eine*n Lehrer*in, die*der neben dem Wissensvorsprung auch die Gestaltungsmacht über die Lernsituation selbst besitzt. Fast immer findet das Schullernen in einer Beziehung zur Autorität statt, eine Situation, die zugleich mit dem reproduzierenden Lernen ein Lernen in einem Beziehungsgefälle beinhaltet. Hierarchie der Nachfolge oder des Widerstandes, durchlebt in Form von Abhängigkeit, wird so eines der Grundmerkmale des Lernens. Mit dieser Lernsituation wird ein Verhaltensfeld und ein dazu gehöriges bezogen gehorsames oder bezogen widerständiges Verhalten gelernt, das in der späteren Arbeits- und Lernsituation einer hierarchischen Organisation wieder aktuell wird. Oft habe ich mich gefragt, warum denn Führungs-

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kräfte sich vor einer Präsentation vor den nächst höheren Ebenen verhalten wie Schüler, die gerade wieder geprüft werden. Sie bereiten sich vor, als könnten sie dabei ertappt werden, wie sie wieder einmal ihre Aufgaben nicht richtig, nicht sorgfältig genug gemacht haben und in ihre Vorbereitungen beziehen sie natürlich all die Ma­ rotten mit ein, die es bei dieser*diesem Lehrer*in – Entschuldigung, bei dieser*diesem Chef*in muss es heißen – zu beachten gilt. Das Bild der Persönlichkeit wirkt in diesen Situationen unreif, manchmal brav, manchmal im auf brechenden Ärger nach der Situation pubertär. Dies konnte ich bei Führungskräften beobachten, die ich in ihrem eigenen Umfeld, da wo sie die Stelle der Autorität einnahmen, als stark, selbstbewusst und reif wahrgenommen hatte. Ich verstehe diese Verhaltensbrüche heute als die Reproduktion der alten Lernszenen und kann daher auch wahrnehmen, mit wie vielen auf die Schüler*innen-Lehrer*innen-Situation bezogenen Verhaltensformen Autoritäten in Unternehmen handeln, sei es die unheimliche Fähigkeit, den einsamen, einzigen Fehler auf Folie X sofort zu bemerken oder sei es in den bohrend prüfenden Frageformen, denen man im Gespräch Vorgesetzte*r Mitarbeiter*in so oft begegnet. Nun ist das Lernen vom Vorbild – und im Ideal ist sowohl ein*e Lehrer*in als auch ein*e Vorgesetzte*r ein gutes Vorbild – eine sehr effektive Form des Lernens. Damit dieses Lernen seine gute Wirkung entfalten kann, muss aber die Gelegenheit gegeben sein, das Vorbild zu verlassen, zu stürzen, zu demontieren, um es später wieder sehen zu können, denn Persönlichkeit reift in der Freiheit und schließlich in dem gewonnenen Standpunkt, etwas genau so zu tun, obwohl es das Vorbild genau so getan hätte. Freiheit und selbstgesteuertes Lernen kommt in der autoritätslastigen Lernform des reproduzierenden Schullernens aber nicht vor und doch ist es gerade das, was in den Unternehmen gefordert wird, wenn sie von Wandlungsgeschwindigkeit, von Entscheidungsfähigkeit vor Ort, von zentral nicht mehr beherrschbaren Informationsfluten und von dezentraler Steuerung reden. Geht es um Selbststeuerung, um die schnelle Auswahl des jetzt Wichtigen unter Abwahl von vielem anderen auch Wichtigen, geht es um Entscheidungskompetenz in komplexen, dynamischen Situationen, dann brauchen Führungskräfte Erfahrung mit selbstgesteuertem Lernen, in dem sie selbst sich durch das Lernen führen und dabei an geeigneten Lernorten mit ihrer Art des Lernens Erfahrungen sammeln, sei es, dass sie sich

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am Stoff und dem Widerstand der Welt stoßen oder aber mit Kolleg*innen oder Begleiter*innen erfahren, welchen Lernweg sie gerade beschreiten und beginnen, Grenzen und Chancen gerade ihres eigenen Weges zu verstehen. Und zu einem solchen Lernen gehört schließlich auch die Krise, in der sich die Frage nach dem Sinn der Anstrengung stellt und in der die Chance gegeben sein muss, das bisherige in Frage zu stellen und den Weg noch einmal zu gehen. Wenn wir über die Trainings und die Lernentwick1.1.3 Die Dominanz lung der letzten Jahre nachdenken, so sehen wir, des partikulär dass die Reste des alten humanistischen Verständspezialisierten nisses von Lernen immer mehr verloren gehen. Es Wissens und treffen immer mehr Spezialist*innen auf Spezialist*­ Könnens innen und die Welt zerfällt in vielfältige Splitter. Selbst die so begehrten ‚general manage­ment‘-Semi­ nare, die den Verlust des Überblicks ausgleichen sollen, werden immer mehr zu aneinander­gereihten Spezialkursen und können so das Verständnis für das Ganze nicht ausgleichen. Es mag der Zeitdruck sein, es mag die Forderung sein, in seinem Gebiet das ständig Aktuellste zu wissen, was zur Dominanz des partikulär spezialisierten Wissens führt. Doch gleichgültig was die Gründe sind, es fehlt den Führungskräften ein Blick für das Ganze und das Ganze ist mehr als die interne Realität ihres eigenen Unternehmens. Es fehlt ihnen der innere Beziehungsrahmen, um die Vielfältigkeit und die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit zu verstehen und sich in ihnen sicher und orientiert zu verhalten. Und was ihnen ganz verloren geht, ist die Sicherheit, auch dann noch handeln zu können, wenn ihr Spezialwissen nicht mehr reicht, denn die Welt wandelt sich schnell und im Umgang mit Kontingenz hilft kein Spezialwissen, sondern nur die Gelassenheit, die man er­langt, wenn man Bilder für das Ganze hat – Bilder, die nicht starr sind, sondern Bilder, in denen es auch Raum gibt für das Unvorhergesehene. Das lässt sich erlangen – durch Lebenserfahrung und Bildung – es lässt sich auch lernen, aber es lässt sich sicher nicht trainieren. Und auch hier führt eher der erweiterte Kunstbegriff von Josef Beuys weiter. Man muss Vorstellungen haben vom Ganzen der Dinge. Bildung, Kultur und Kunst sind ein Weg zu Vorstellungen vom Ganzen der Dinge. Ein Weg, der nicht nur Wissen, sondern Verstehen meint.

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„Teachers can be very creative – but all creativity, 1.2 Erfinden, was just like all mutation, is not good for the creatures. alle Anderen schon The fact that you are creative doesn‘t make you efkönnen fective.“ Joe Layng plädiert für das reproduktive Lernen, er trainiert durch einprägendes Aufsagen, beschleunigtes Wiederholen und Selbstprüfung am Monitor. Mit ihm lebt die Konditionierungsthese Skinners wieder auf. Und sein Modell passt in eine Welt, in der es um Fleiß geht, um abgestimmtes, zielführendes Arbeiten, um Disziplin und Berechenbarkeit. Eine Rechtfertigung für das Trainingsmodell in einer intelligenten Organisation, die vom Ausschluss von Kontingenz, die in solchen Organisationen als Qualitätsfehler erscheint, und von berechenbarer Arbeitsteiligkeit lebt. Es gibt gute Gründe gegenüber emergentem Lernen und kreativen Akten in einer Organisation skeptisch zu sein. Effektive Organisationen orientieren sich eher am Modell Ameise als am Modell Grille. Neue Organisationen, die in der Regel in einem kre1.2.1 Die ativen Akt, getragen von individuellem Willen und Gründer*innen­ einem guten Teil irrational anmutender Hoffnung organisation gegründet werden, beginnen anders. Sie erfinden alles neu – und kommen bald an die Grenzen des Erfindens – fühlen sich von der selbstgeschaffenen Kontingenz der immer neuen Ideen, des immer neuen Anfangs überflutet. Der erste Erfolg, aus sich selbst geschöpft, wird oft zum Maßstab sinnvollen Lernens und dieser Maßstab heißt Erfinden. Er steht im Widerspruch zur Regel, zur Disziplin, etwas durchzuhalten, was vielleicht im Einzelfall nicht optimal ist, für das Ganze jedoch das bessere ist. Die ‚inventive company‘ unterschätzt die Entlastung, die Regeln und Formalien schenken und sie überschätzt die eigene Potenz, es mit noch jeder Kontingenz und Komplexität aufnehmen zu können – sie hängt an der Idee des Helden, der allein mit allem den Kampf aufzunehmen vermag. Es ist ein schwieriger Schritt zu lernen, dass nicht die Gründer*innen die Held*innen sind, sondern die Organisation selbst die Heldin ist. Und die Organisation lebt aus Regeln, aus Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Sie lebt davon, Wissen und Können, das es schon gibt, einfach zu kopieren. Sie weiß von der Endlichkeit und der Unmöglichkeit, alles selbst zu erfinden. Die Organisation ist eine gelassene Heldin, sie geht stetig

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und langsam ihren Weg. Das Modell der ‚inventive Company‘, in der alle und jeder zu Gründer*innen werden und alle Held*innen sind, scheitert am Wachstum, scheitert daran, sich organisieren zu müssen – scheitert an mangelnder Bürokratie. Und es scheitert letztlich daran, nicht den Schritt zum diszipliniert reproduktiven Lernen zu gehen, der Unterordnung und die Bereitschaft zum wiederholenden Auswendiglernen verlangt. Genau das, was in den großen, alten Organisationen so ausgeprägt ist, dass diese darunter zu leiden beginnen. Gelingt den Gründer*innen aber der Schritt zur Bürokratie, so breitet sich in der Organisation das Gefühl aus, nun genau so langweilig und alt zu sein, wie all die Anderen. Es wird der Verlust von Lebendigkeit, von Neuheit und Freiheit gespürt. Ein großer Verlust, wenn ich mir die Kraft, die Freude und den Witz vergegenwärtige, der in den Anfängen da war und den ich auch aus den alten Organisationen kenne, wenn sie ein Projekt beginnen, dem sie die Freiheit geben, neben ihrer Organisation zu arbeiten. Betrachtet man die Führungsaufgabe in beiden Organisationen, den alten Konzernen und den jungen Gründer*innenorganisationen, so gilt es für beide, ein Gleichgewicht zwischen emergentem Lernen und reproduzierendem Lernen zu finden. Das bedeutet aber, den tiefen Graben eines mentalen Modells zu über­springen, das sich im Widerspruch zwischen der*dem Bürger*in und Arbeiter*in, die*der diszipliniert und moralisch korrekt ihr*sein Leben führt und der*dem Künstler*in, die*der geniehaft unberechenbar und lotterhaft ihr*sein Leben gestaltet, ausdrückt oder noch kürzer: im Widerspruch zwischen Büro und Atelier. Die Lernresistenz der Gründer*innenorganisation bezieht sich auf das reproduzierende Lernen wie sich die Lernresistenz der alten Organisationen auf das emergente Lernen bezieht – was nicht heißt, dass nicht beide Lernformen auch in beiden Typen von Organisationen vorkommen. Aber die jeweils andere Seite des Lernens wird von der jeweiligen Organisation nicht gefördert, sie passt nicht in das Bild, das diese Organisation von sich selber hat. Sie schafft nicht das Umfeld, nicht die Situationen, die das jeweils andere Lernen ermöglicht. Die Lernresistenz der Gründer*innenorganisation drückt sich in der Vielzahl ihrer Pläne aus, dem nicht bei einer Sache bleiben kön-

1.2.2 Lebendigkeit, Lernresistenz und Verliebtheit ins Beginnen

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nen, dem schon Neuen, wenn das Alte noch gar nicht ausgeschöpft ist. Selten findet sie in die Lernkurve, die Lernschleife um Lernschleife das Gelernte sicherer, schneller und perfekter werden lässt. Sie bricht ab, um wieder Neues zu erfinden, wobei sie oft nur das, was sie schon erfunden hat, noch einmal erfindet. Was sie gewinnt ist Lebendigkeit und, wenn sie Glück hat, schafft sie die Lernsituationen, in denen Neues entstehen kann, schafft sie die Voraussetzung für emergentes Lernen. Diese Fähigkeit fehlt den alten Organisationen oft oder wenn sie nicht fehlt, so wird sie doch durch Bürokratismen überlagert und verkümmert. Und manchmal liegt eine selten bewusste Entscheidung dem Ausschluss emergenten Lernens zu Grunde. Die Organisation wehrt die Gefahren ab, die mit ‚Kreativität‘ verbunden sind, sie spürt das anarchische Element im emergent Kreativen, weiß, wie sehr es sich gegen die formal bürokratische Konstitution des Unternehmens wendet und spürt den antihierarchischen Impuls, der so oft mit dem ‚Neuen‘ verbunden ist. Aber vielleicht kommt das Wissen um diese Elemente und das mit ihm verbundene Gefühl von Gefahr auch nur aus der Projektion der Menschen, die ihre Erfahrungen mit emergent kreativem Lernen vor allem in ihrer eigenen Pubertät gewonnen haben und sich damals fast immer gegen Autoritäten durchsetzen musste. Richtig dabei ist auf jeden Fall, dass Kreativität nur da entstehen kann, wo sich jemand von den bestehen­den Systemgrenzen, seien es soziale, seien es mentale Grenzen frei macht. Dieses spielerischanarchische Moment im emergent Kreativen muss die Organisation integrieren, wenn sie erfinderisch sein will. Dieses Moment haben viele Gründer*innenorganisationen, wenn sie beginnen, und weil sie es nur im Beginnen erfahren, sind sie ins Beginnen verliebt. So verschließen sie sich den Zugang zum reproduzierenden Lernen, das aus einer ideenreichen, lebendigen Organisation eine kluge Organisation zu machen im Stande wäre. Die alten Organisationen werden dieses Moment nicht zukaufen können, denn Kreativität ist nur zum Teil eine Eigenschaft von Menschen, sie ist vor allem eine Qualität des sozialen Umfelds und damit eine Fähigkeit der Organisation. In den jungen Organisationen spüren wir diese Fähigkeit. Sie begegnen uns dann oft wie eine Jugendgang – in der es natürlich eine Hierarchie gibt, die aber informell bleibt und damit Spielräume öffnet. Rangkämpfe, die in den alten Organisationen durch Karrierewege entlastet sind, sind das tägliche Brot in der Gang. Entschei-

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dungsprozesse sind anstrengend, weil in jeder Entscheidung die Entscheidungsregeln neu erfunden werden. Die Verletzungen, für die, die diesmal nicht gehört wurden sind tiefer, denn alles wird personenbezogen wahrgenommen und zugleich aber sind die Höhen höher, wie eben auch die Tiefen tiefer sind. Das alles macht Lebendigkeit aus, aus der – und hierzu gehört wieder ein Teil Glück – das Neue entstehen kann. Ein Merkmal von Lernräumen für das Erfinden von Neuem in den jungen Organisationen ist das Spielerische. Absichtslos soll das Spiel sein, damit es Spiel ist. Nun versuche aber jemand, einem Unternehmen Absichtslosigkeit zu verkaufen. Sie würden sie ja kaufen, wenn man ihnen zeigen könnte, wozu sie denn nun gesichert führt, welchen Mehrwert die Absichtslosigkeit denn nun produziert. Wie soll man einer Organisation, den vielen Rädchen und Rädern, die so tief auf Zweck-Mittelrelationen trainiert ist denn erklären, dass sich ein Effekt nur dann einstellt, wenn man ihn nicht anzielt, wenn man sich nicht um ihn bemüht. Ja, das selbst schon diese Formulierung des Effektaufschubs gefährlich ist, weil sie die Absichtslosigkeit, die so reich an Möglichkeiten und so frei von Berechenbarkeit und Kontrolle ist, zerstören könnte. Pu der Bär sagte es einmal so: „Leicht ist es nicht – Gedichte und Lieder lassen sich ja nicht erjagen, sondern müssen einem zufliegen. Das Einzige, was man dazu tun kann, ist, ihnen entgegenzugehen.“ Nun mag es in den Unternehmen nicht primär um Gedichte und Lieder gehen, aber vielleicht gilt für alles Neue, was nicht nur eine bloße Ableitung aus dem Alten ist, was für Gedichte gilt: Man muss ihnen entgegengehen.

1.3 Erfinden, was noch keiner kann

Eine große Kompetenz der alten Organisationen liegt in der Perfektion des schon Gewussten und schon Gekonnten. Das mentale Modell, dass man durch die kontinuierliche Verbesserung des Bestehenden gegen alle Gefahren des Marktes gewappnet sein und sich jeder Herausforderung stellen könne, ist tief in der Organisation verankert. Man kann in der Begegnung die Anstrengung spüren, die das Streben nach Perfektionierung des Bestehenden verlangt. Hier wird nicht gespielt, hier wird gearbeitet und jeder kann spüren, wie schwer es ist und welche Opfer es verlangt, immer noch

1.3.1 Vom Straddle zum Fosbury Flop

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einen Schritt weiterzukommen und immer wieder einen nun noch kleineren Schritt weiterzukommen, um auch dann zu wissen, wir werden wieder einen nun noch kleineren Schritt tun. Es verlangt viel Disziplin, einen großen Fleiß und eine Menge der Fähigkeit mit Frustration umzugehen, um das mentale Modell der ständigen Verbesserung zu leben. Das Modell macht die Spielräume in der Organisation klein – es macht sie klein, weil die Logik des Bestehenden auch den Denkrahmen jeder Entwicklung bestimmt und es macht ihn psychologisch klein, weil konsequentes, diszipliniertes Handeln, das immer kleinere Erfolgserlebnisse hervorbringt und deshalb eine immer größere Anstrengung verlangt, alle Energie auf den nächsten kleinen Schritt bündelt. Der Blick bleibt so immer gesenkt und hebt sich selten, um sich umzublicken und zu sehen, was noch alles in der Welt ist. Und trotz dieser so spürbaren Kosten, gegen die sich von Zeit zu Zeit Unmut regt, wenn ein weiteres Mal der nächste, stets mit Einschränkungen verbundene Schritt verlangt wird, ein Unmut, der sich in der auf diszipliniertes Handeln trainierten Organisation schnell wieder legt, bleiben die Organisationen diesem Modell treu. Doch die Kosten sind hoch – die Fähigkeit zu spielen geht verloren, dabei ist sie die Quelle von Neuheit. Natürlich hat das Modell der stetigen Verbesserungen große Erfolge – auch deshalb, weil es so gut in das bürokratisch-hierarchische Steuerungsmodell der Unternehmen und in die mit diesem Modell verbundenen Werte der Disziplin, des Fleißes und der Fähigkeit sich unterzuordnen passt. Und zugleich wächst das Wissen, dass mit diesen Modellen allein Zukunft nicht zu gewinnen ist. Wie aber soll eine Organisation das ihren Modellen entgegengesetzte Modell ‚Spiel‘ und zweckfreie ‚Bildung‘, die nichts direkt bewirken, aus denen aber wirkende Möglichkeiten werden können, in sich verwirklichen? Es geht nicht anders, als es zu tun –was heißt, dass sich die Modelle, die Kulturräume im Unternehmen begegnen. Eine Begegnung, die nicht harmonisch sein wird, sondern von Streit, Zweifeln, Abwertungen und Unverständnis gekennzeichnet sein wird und die von allen den Mut verlangt, das Fremde auszuhalten, ohne den ‚Ertrag‘ sehen zu können. Als Fosbury 1968 in Mexiko City mit dem Rücken zu unterst über die Latte schwebte, da blickten die Kampfrichter*innen ungläubig und bevor das Neue dieses Sprungs, das sensationell überraschend Andere dieser Technik wirken konnte, traten die Richter*­

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innen zunächst zusammen, um zu entscheiden, ob so eine Art des Sprungs eigentlich erlaubt sei. Sie waren so in ihrem Bild der einzig möglichen Sprungtechnik befangen, dass ihre erste Reaktion die Verleugnung des Neuen war. Nie hätten diese Kampfrichter*innen ein so anderes Modell wie den Fosbury Flop erfinden können. In ihrem Kopf war Hochsprung fest verbunden mit einer Rollbewegung über die Latte, in der der Bauch im Augenblick der Überquerung zuunterst sein musste. Der Wechsel im Denken, der überraschende Dreh verlangt Freiheit im Denken, verlangt Abstand vom Bestehenden, verlangt Spiel in und mit dem Gegebenen. Wann immer Unternehmen spüren, dass sie mit der bloßen Fortsetzung des Bestehenden, wie sehr auch immer sie es perfektionieren mögen, die Grenze zur Neuheit nicht überschreiten werden, müssten sie sich die Frage nach ihrer Kultur stellen und nach Wegen suchen, diese Kultur, wenn nicht zu verändern, so doch zu ergänzen. Ihrem dann ersten Reflex, Führungsformen und Kommunikationsformen verändern zu wollen, liegt ein Quäntchen Wahrheit zugrunde, doch das reicht nicht aus. Kultur verändern heißt mehr als neue Regeln der Führung und Zusammenarbeit einzuführen, die schon ihrem Namen nach die Fortsetzung des bürokratischen Denkmodells beinhalten. Und doch steckt darin ein Wissen, dass eine Organisation erst dann zu spielen beginnen kann, wenn sie ihr anarchisches Potential, das Rückgrat, die Träume, die Freiheit ihrer Mitarbeiter*innen, gegen die Last der Regeln, der Kontrolle und der machtvollen Hierarchie wenden kann. Die Angst der Führenden, die zugleich die Mächtigen der Organisation‘ sind, diesen Weg zu gehen, ist oft übertrieben. Der Blick in unsere Gesellschaft könnte sie lehren, dass der Aufstand der Jugend und ihre gleichzeitige Anpassung sich die Waage halten, so dass Neues im Alten entstehen kann. Unternehmen aber, die daran festhalten, in ihren eigenen Mauern das gescheiterte Kommunikations- und Medienmodell der kommunistisch-zentralistischen Staaten zu reproduzieren und Jubelmedien schaffen, zeigen in ihrer Angst vor der freien Meinung der Mitarbeiter*innen, dass sie selbst an die Kraft, Zukunftsfähigkeit und Begeisterungskraft ihrer eigenen Visionen nicht glauben. Will man im Unternehmen die Chancen erhöhen, vom Straddle, dessen Potential ausgeschöpft war, zum Fosbury Flop zu gelangen, dann wird man sich mit der Dominanz der repressiv orientierten bürokratisch-hierarchischen Kultur auseinandersetzen müssen und

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bereit sein, sich der Freiheit, der Kreativität und der Aggressivität der eigenen Mitarbeiter*innen zu stellen. In den Worten Hartmut von Hentig‘s, Unternehmen müssen in ihrer Kultur stärken: „... was den Menschen gegenüber den Sach- und Systemzwängen stärkt, was ihn von dem lähmenden Gemisch aus Angst und Bequemlichkeit befreit, die sie erzeugen, was in ihm die Lust auf Bewältigung und Bewährung weckt, was seinen Sinn für kluge, praktische Einrichtungen entwickelt, kurz: Was seine Bereitschaft zu Risiko und seine Kraft für das Ungewöhnliche belebt.“ Es sind die Bedingungen für Kreativität, die gegeben sein sollten, wenn eine Organisation die Voraussetzung für das Erleben emergenten Lernens in sich selbst schaffen will. Dabei muss sie wissen, dass sie widersprüchliche Kulturen, widersprüchliche Denkmodelle und widersprüchliche Einstellungen in sich vereinen will und muss verstehen, dass es ihre Aufgabe ist, diese Widersprüchlichkeit zu ermöglichen und auszuhalten. Denn es ist natürlich wahr, mit den Werten und Haltungen von Spiel und Kreativität allein wird kein Unternehmen überleben. ‚Divergent thinking‘ ist nur jenes zusätzliche Moment, das auf Basis der effizient-klugen Organisation Wege zu Möglichkeiten öffnet. Wer Zweifel daran hegt, diese Widersprüche in der Organisation gestalten zu können, der sei auf die größere Organisation Gesellschaft verwiesen, die diesen Widerspruch immer schon aushält und die so reich, so entwicklungsfähig, so integrationsfähig nur ist, weil sie sich inmitten der auf Effektivität getrimmten gesellschaftlichen Steuerungsmodelle Kultur leistet. „Spiel ist Spiel, wenn es sich selbst gehört und nicht 1.3.2 Bildung, um dem Einüben in problemlösendes Verhalten dient Möglichkeiten zu oder der Erzeugung von Interaktionsbereitschaft schaffen oder der Entfaltung und Lockerung der Phantasie.“ – Hartmut von Hentig Räume, in denen Spiel möglich wird, sind selten in Unternehmen. Es ist das Fehlen der Zweck-Mittelrelation, das Spielen in Unternehmen verdächtig macht. Im Leistungsbild der Organisationen ist Spiel Ressourcenverschwendung. Dasselbe gilt für Bildung, sofern sie nicht in ihrer Kümmerform als Führungs­und Mitarbeiter*­ innenbildung gemeint wird. Wie möchte man einer*einem Ent­ scheider*in klar machen, dass die Auseinandersetzung mit den bildenden Künsten, mit Literatur, mit Philosophie, mit Musik Sinn

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macht, obwohl man nicht aufzeigen kann, welchen ertragsrelevanten Zweck man damit verfolgt? In den Künsten beziehen sich Menschen, bezieht sich die Gesellschaft auf sich selbst. Frei vom Zwang direkt für das Überleben, für den Erhalt und die Erweiterung handeln zu müssen, schafft Kunst inmitten des umtriebigen Handelns oder des ruhenden Kraftschöpfens für anderes Handeln Räume. Räume, in denen die Gesellschaft und die Menschen den Grenzen, den Möglichkeiten, den Denkund Fühlverboten, den versteckten Voraussetzungen und der eigenen bedrohten Lage gegenüber einem kontingenten Zeithorizont begegnen können. Zum einen mag diese Begegnung entlastend sein und stellvertretend die eigene Unsicherheit oder trügerische Sicherheit ausdrücken und in einem Sinnzusammenhang aufheben. Doch darüber hinaus setzt sie in die Umtriebigkeit und Selbstbeschäftigung der Gesellschaft immer wieder die Differenz, dass es zu dem, was jetzt ist, ein anderes gibt. Das mag sie kritisch tun, das mag sie die Sinne umschmeichelnd tun, immer aber wird in ihr spür­bar, dass es noch anderes gibt, dass das, was uns heute beschäftigt, nicht das Einzige sein kann. Unter dem Aspekt der Funktionalität mag sie darin einen Zweck für die Gesellschaft, für die Menschen erfüllen, sei es, sie zu entlasten und sie damit lebens- oder arbeitsfähig zu halten oder sei es, indem sie der Gesellschaft die Differenzen zur Verfügung stellt, aus der sie dann Zukunft entwickeln kann. So mag Kultur und Kunst zwar Zwecke erfüllen, könnte dies aber nicht tun, wenn sie genau diese Zwecke anstrebte. Sie kann nur wirken, wenn sie sich gegenüber dem Wirkzusammenhang, indem sie schließlich wirken wird, frei gemacht hat. Und so erscheinen uns auch die Menschen in den Künsten oft anarchischer, kritischer, zorniger, melancholischer, freier, lauter, wilder als die Menschen, die in den Organisationen ihre Arbeit machen. Und sie zeichnet fast immer aus, was in den Rädern und Rädchen der großen Organisation verboten ist: ‚divergent thinking‘. Rätselhaft scheint mir, dass Organisationen eine so erfolgreiche und so beständige Einrichtung wie die Kunst nicht in sich statt­finden lassen. So beteiligen sie sich an der Kunst der Gesellschaft als Sponsor*innen, aber sie schaffen keine Kunsträume im Unternehmen. Und damit meinen wir Kunst als integralen Bestandteil der Organisation, nicht als Schmuck, nicht als Imagefaktor für die Märkte. Wir meinen Bühnen, Orte, in denen sich die Organisation

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mit sich selbst unter den Bedingungen künstlerischer Produktion und künstlerischen Selbstverständnisses auseinandersetzt. Nichts wird damit bewirkt, aber es wird geschaffen, was nötig ist, um Neues, dann auch in den Arbeitszwecken schaffen zu können. Nun mag das sehr anspruchsvoll klingen und manch einer wird sich skeptisch fragen, ob denn nun jede*r Mitarbeiter*in wird ‚Kunst‘ produzieren müssen. Es ist anspruchsvoll, aber es erhebt nicht die Forderung nach künstlerischem Schaffen an jedem Arbeitsplatz. Es verlangt nur, dass aus dem Unternehmen und in dem Unternehmen Kunst geschehen kann, welche dann auf die Zu­ schauer*innen, die vielen Mitarbeiter*innen wirken kann. Betrachten wir die Führungskräfte und ihre Entwicklung, so spüre ich immer öfter, wie fern ihnen Kunst liegt oder wie sehr sie Kunst, die ihnen als private Person vertraut ist, aus ihrer Führungsrolle ausschließen. Mit diesem Ausschluss verstärken sie die auf Zweck-Mittelrelationen fixierte Haltung in den Organisationen. Die Frage ist, ob damit der Organisation etwas verloren geht. Führung findet derzeit in einem Kontext statt, der, trotz der immer noch vorherrschenden Regel- und Kontrollbetonung, vor allem die Gestaltung oder Ausbalancierung von Widersprüchen und die Bewältigung von Unerwartetem verlangt. Die Regelmechanismen, obwohl alle noch in einem hohen Detaillierungsgrad in Kraft, können nur wenig Hilfe bieten, wenn es um in die Zukunft weisende Entscheidungen geht. Hier wird von den Führenden verlangt, richtige, die Zukunft und die möglichen Probleme voraussehende Entscheidungen zu treffen und sie auch gegen die Kurzsichtigkeit, Mutlosigkeit oder auch nur schlichte Borniertheit des eigenen Umfeldes durchzusetzen und dabei gleichzeitig ein kluges Maß zwischen Risiko und Sicherheit zu wahren. Während regelorientiertes und angepasstes Führungsverhalten vor allem Disziplin, Fleiß und Unterordnung verlangt, benötigt eine chancen- und gestaltungsorientierte Führung andere Persönlichkeitsmerkmale. Es gibt derzeit kaum einen Ort in einem Unternehmen, an dem jemand die hierfür nötigen Lernerfahrungen machen könnte, es sei denn, er trägt sie selbst mit in die Situation hinein. Was macht Mut aus in Situationen, die ich noch nicht kenne? Was macht Gelassenheit aus in Situationen, in denen Probleme die Chancen überwiegen? Was lässt Menschen konzentriert weitergehen, obwohl die Vielzahl der Gefahren sie zu überfordern drohen? Wir haben gelernt, diese kom-

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plexen Merkmale einer Person als Führungspersönlichkeit zu bezeichnen, ohne genau zu wissen, wie sie sich denn im Lebensweg dieses Menschen gebildet haben. Wir verlangen von diesen Personen zusätzlich, dass sie sich in den Irrwegen und Ungerechtigkeiten einer Organisation sicher bewegen und dass es ihnen gelingt, unterschiedlichste Menschen, deren Verhaltensspektrum immer vielfältiger wird, zu motivieren, zu fokussieren und so zu fordern, dass sie mehr leisten, als sie selbstwussten, leisten zu können. Sie sollen kontingenzbewusst und flexibel doch Sicherheit vermitteln und ohne selbst borniert zu werden einen Weg weisen, den sie mit derselben Überzeugungskraft auch wieder verlassen können müssen, wenn sich wieder einmal alles ändert und die Zukunft neue Überraschungen birgt. Verständlich, dass sich viele Führungskräfte auf die Sicherheit der alten Regelorientierung zurückziehen und die Verantwortung gerne in den Schoß des Bürokratismus der Organisation zurücklegen. Die Forderungen überfordern die heutigen Führenden, die allzu oft ohne jede Krise, ohne jeden harten Zusammenstoß mit der Wirklichkeit im schützenden Rahmen von Schule, Hochschule und Unternehmen groß geworden sind und die begonnen haben, den Aufstieg, den sie ihrer Klugheit und dem stützenden Korsett ihrer Umgebung zu verdanken haben, allein sich selbst, der eigenen Persönlichkeit zuzuschreiben. Dieser Irrtum wird erst in der Krise, im Scheitern aufgelöst – dann spüren sie die Leere der eigenen Person. Trainings werden dem Mangel an gefüllten Persönlichkeiten nicht abhelfen, was fehlt, ist die Begegnung mit sich selbst, ist die Erfahrung, sich an der Widerständigkeit der Welt zu stoßen und ist die Fähigkeit, sich durch Bezug auf das schon Erlebte in der Kultur der Menschen mit sich und den Anderen auseinanderzusetzen. Da man Menschen keine Krisen verordnen kann und es zynisch wäre, über den Glücksfall des friedlich-geschützten Lebens in unserem Teil der Welt zu klagen, bleibt ein Weg, der seit langem den eigentlichen Sinn des Wortes Bildung aus­macht. Es ist der Weg, Führungskräften über Inhalte der Kultur und über die Weisen, Kunst zu schaffen, einen Weg zur Auseinandersetzung mit sich selbst zu ermöglichen. Will man Führungskräfte bilden und nicht nur auf das Glück warten, dass die Gesellschaft solche Menschen zur Verfügung stellt, dann muss ein Unternehmen seinen Führenden den Weg zur Auseinandersetzung mit seiner Persönlichkeit bahnen. Einer der Wege hierzu ist der Bildungsweg – und auch hier gilt, wie für Spiel und

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Kunst, der Weg muss frei sein von jeder kurzfristig auf Ertrag blickenden Zwecklogik. Nur wenn die Führungskräfte im Unternehmen sich ziel- und zweckfrei auf sich selbst beziehen können und dabei selbstbestimmte Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Kultur machen können, werden sie eine Chance haben, das zu werden, was von ihnen verlangt wird: gebildete und damit gelassene Persönlichkeiten. Blicken wir auf die Beschreibungen der Herausfor1.3.3 Rat suchen derungen, die die Zukunft für Unternehmen bergen, für Situationen, die so dominieren Begriffe wie schnellerer Wandel, harte noch nicht waren Brüche, Widersprüchlichkeit, Kontrollverluste, kurz: Zunahme von Kontingenz und Komplexität. Und in den Beschreibungen ist die immer gleiche Botschaft versteckt: So wie ihr es jetzt tut, werdet ihr die Zukunft nicht gewinnen – das Alte wird euch nicht lehren können, was heute und morgen zu tun sein wird. Eine Aussage, die in den Unternehmen ignoriert wird. Was mir heute in allen Entscheider*innenkreisen entgegenschallt, ist die Rede von Lernkurven, die man fährt, die Rede von den ‚lessons learned‘ und damit von den Fehlern, die man beim nächsten Mal vermeiden wird. Aber was, wenn das nächste Mal wieder ganz anders wird und die gelernte Lektion nun gerade der neue Fehler ist? Unternehmen tun so, als hätten sie Kontingenz und Komplexität im Griff. Wobei ich bei der Intensität, in der diese Reden heute auf Mitarbeiter*innen niederprasseln, nicht umhin kann zu vermuten, dass die Intensität der Aussagen primär der Selbstversicherung dient, die Welt doch noch im Griff zu haben. Auch hier ist es natürlich so, dass man für viele Bereiche seine Lektionen gelernt haben kann und dass sich Fehler vermeiden lassen, wo Situationen gleich bleiben – und davon gibt es genug. Aber die neue Herausforderung von steigender Komplexität und von Kontingenz, die Feind*innen der Berechenbarkeit, kann man mit diesen Mustern nicht bewältigen. Unternehmen geraten in die Denkfalle, dass im Rückblick jeweils alles erklärbar ist, dass dar­aus aber nicht zu schließen ist, dass es auch vorausschauend eindeutig bestimmbar gewesen wäre. Erst im Rückblick bildet sich Sinn aus den vielen Bruchstücken des Geschehens. Nach vorne blicken heißt aber, sich Neuem und Unerwartetem, sich dem noch nicht Kontrollierten und noch nicht Beherrschten zu stellen. Hier wird eine neue Fähigkeit der Organisation gefragt, nicht Rat aus

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den alten Erfahrungen zu destillieren, sondern Rat für Situationen, die es so noch nicht gab, zu erfinden. Eine moderne Organisation stellt sich die Frage, wie sie die Alternative zu sich selbst inmitten ihrer eigenen Mauern auf­bauen kann. Sie sorgt dafür, dass sich in ihr Alternativen zu ihr bilden, nicht, um sie zu übernehmen, aber um stets ein Wissen um andere Möglichkeiten zu haben. Und dazu kann sie auf die Formen, die Gesellschaften schon immer genutzt haben, zurückgreifen – auf die Narren*Närrinnen und Trickster*innen und die klassischen Formen von Kultur und Spiel. Es geht um die Erfindung von Differenz, die Ermöglichung von Andersheit, um Orte von ‚divergent thinking‘, damit in dem Augenblick, indem eine neue Antwort vom Markt, von den Mitarbeiter*innen oder dem gesellschaftlichen Kontext verlangt wird, anders gedacht und Anderes erhandelt werden kann. Neues geht aber nur dort, wo die Potenz zu Neuem da ist. Und die lässt sich schaffen, immer da, wo ein Unternehmen in sich schon anderes zum Ausdruck kommen lässt. Nur solche Organisationen haben, wenn es darauf ankommt, die Möglichkeiten, aus sich Rat zu schöpfen für Lagen, zu denen es noch keinen Rat gibt. Nur diese Organisationen können erste Schritte gehen.

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2. Geschichten erzählen Beginnt man über Kultur in Unternehmen nachzudenken und denkt dabei nicht nur an die Art und Weise des Umgangs der Menschen miteinander und beginnt man, sich mit dem Steuerungsmodell Kultur auseinanderzusetzen, so wird die Technikverliebtheit und der Glaube daran, alles in Mittel-Zweckrelationen beschreiben zu können, zu nur einer Möglichkeit von ‚Kultur‘, die Komplexität und Kontingenz der Welt zu bewältigen. Eine erfolgreiche und wirkungsvolle Möglichkeit, aber eine, die Kosten verursacht und die Grenzen setzt. Als wir einmal in einem Veränderungsprozess begannen, alle Geschehnisse, alle Widersprüche und Ungereimtheiten in einem Märchen zusammenzufassen und es den Mitarbeiter*innen spät abends nach einem Tag voller Streit, voller Unglauben und Zweifel am Kaminfeuer erzählten, da entspannte sich die Lage. Die Menschen begannen, Sinn in den Geschehnissen zu sehen und sie begannen, ihre eigene Rolle in dem Märchen der Veränderung zu finden. Keine der Charts, der Folien, der Prognosen über Marktentwicklung etc. hatte diese Kraft entfaltet – es geschah in einem Märchen, in dem die Mitarbeiter*innen und die Führenden vorkamen. Hier wurde ein Veränderungsprozess durch das Erzählen eines Märchens gesteuert. Es wurde Sinn erfunden, der in tieferer Weise die Ängste der Menschen beruhigte, als es die technisch brillanten Ausarbeitungen der Spezialisten getan hatten. Hier wirkte eine andere Art der Steuerung, die da wirksam war, wo die Überzeugungskraft der technischen Intelligenz scheiterte. Märchen sind eine alte Kulturtechnik der Angstbannung. Und so wie die in Unternehmen anerkannte Kulturtechnik der technischen Rationalität, die gegen die Gespenster von Angst und Unberechenbarkeit ins Feld geschickt wird, wirksam ist, bleiben gleichzeitig andere Kulturformen in den Unternehmen wirksam, durch die und mit denen die Menschen sich Sicherheit und Sinn schaffen. Oft scheinen sie in den Gerüchten auf, die durch ein Unternehmen ziehen, in den immer noch bestehenden Riten der Initiation und ‚rites du passage‘, wenn man von einem Ort der Hierarchie zum anderen wechselt. Unter der Oberfläche der einzig offiziellen Kulturtechnik technischer Rationalität gibt es andere, die ein Unternehmen und das Verhalten der Menschen in ihm bestimmen. Alle Versuche, nur

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den technischen Diskurs zuzulassen, scheitern daran, dass er viele Ängste nicht bannen kann und die Kontingenz im Erleben der Welt allein nicht aufzuheben vermag. Solange Gesellschaft und Unternehmen in einem gemeinsamen durch Kontinuität und langfristige Verlässlichkeit gekennzeichneten Kulturraum lebten, gab es keinen Anlass, sich mit diesen Formen der Steuerung zu beschäftigen. Erst jetzt, wo in der Gesellschaft die Kulturbrüche, die Sinndifferenzen zunehmen und sich die Menschen anschicken, postmodern zu werden, sind die Unternehmen gezwungen, sich mit den anderen Kulturformen, den anderen Steuerungsmodellen auseinanderzusetzen, wollen sie in sich eine Identität wahren und in der Lage sein, ihr Unternehmen als soziale Einheit zu steuern. Wer so denkt, wie dies oben beschrieben wurde, folgt einem Denkweg, der von Hans Blumenberg beschritten wurde. Wir nehmen die Überlegungen Blumenbergs als Steinbruch, um zu verstehen, warum Methoden der Kultur, warum Formen der Bildung uns in der Arbeit helfen, Kulturveränderungen und Organisationsentwicklungen möglich zu machen. Es ist selbst eine Geschichte, mit der sich der Ausgangspunkt von Blumenbergs Denken beschreiben lässt. Der Mensch, schutzlos, als Mängelwesen beschrieben, verlässt die Sicherheit der Bäume und tritt in die Savanne hinaus. Aufrecht, sehend, hörend und fühlend ist er der Vielheit, der Ungeordnetheit, der Willkür der Natur ausgesetzt. Nichts steht schützend zwischen ihm und dem Absolutismus der Wirklichkeit. Die erste Grunderfahrung ist die Überwältigung durch die Wirklichkeit, die grund-, wert- und zwecklos auf ihn einströmt und der er nichts entgegensetzen kann. Sie, die unvertraut, unheimlich, gleich­gültig und willkürlich ist, überwältigt ihn. Und in dieser Lage kommt nun alles darauf an, dieser Willkür, dem Absolutismus der Wirklichkeit etwas entgegenzusetzen, was diese erste Erfahrung kompensiert, was uns in Distanz zur Wirklichkeit bringt und uns die Chance eröffnet, Ordnung und Beherrschbarkeit zu erfahren. Es sind die Mythen, erste Unterscheidungen in Raum und Zeit, erste Geschichten von Begründung und Notwendigkeiten, die die Distanz zur Welt schaffen und ihr etwas entgegenstellen – die den Absolutismus der Wirklichkeit brechen und ihm die Wirklichkeit

2.1 Über Kontingenz und Notwendigkeit

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von Geschichten und von Metaphern entgegen­stellen. Als Mängelwesen bleibt der Mensch und bleiben Gesellschaften auf Strategien der Lebensbewältigung angewiesen. Kultur, unsere Metaphern, die Geschichten, die wir uns von uns, von Gott und der Welt erzählen sind solche Strategien. Und indem wir sie erzählen, schaffen wir eine neue Wirklichkeit, die uns bindet, die uns in eine Geschichte unserer Geschichten einbindet. Wir erfinden nicht täglich neu, sondern wir sind, wenn wir zu erzählen beginnen, immer schon in Geschichten verstrickt. Wir können sie weitererzählen und mit dem weiter­erzählen können wir sie prägnanter werden lassen, so dass sie ihre Funktion besser zu erfüllen vermögen und wir können sie bis zu einem Punkt treiben, in dem sie neue Fragen aufwerfen, die die alte Antwort obsolet werden lassen und uns zwingen, eine neue Geschichte zu erzählen. In diesem Prozess liegen Möglichkeiten. Aber die Bilder, die Mythen, die Metaphern und Geschichten haben wir niemals hinter uns. Odo Marquard formulierte es so: „Wir sind und bleiben metaphernpflichtig“. Die Geschichte lässt sich in Varianten erzählen. So in einer ontogenetischen Variante, in der der Augenblick der Geburt, die noch wache Erinnerung an die Geborgenheit im Leib der Mutter und der Schock des Eintritts in die kalte und laute Welt im Vordergrund steht. Günter Schulte beschreibt den Ausgangspunkt für ein individuelles Leben in Anschluss an Gedanken Gerald Hüthers: „Wenn wir auf die Welt kommen, so kennen wir das Glück bereits. Wir wissen zumindest sehr genau, was Geborgenheit ist. Schreiend sucht der Säugling, etwas davon wiederzufinden: Wärme, Abgeschirmtheit, sichere Versorgung, schwereloses Schaukeln.“ Und so beginnt er gegen und mit der Erfahrung der Wirklichkeit, Geschichten, Bilder und Riten zu entwickeln, die über den Verlust des Glücks hinwegtrösten. Kultur als Kompensation des verlorenen Paradieses, getrieben von der Angst vor dem Terror der Welt und der Erinnerung an das verlorene Glück. „Alles was er von dort bereits kennt, den Herzschlag der Mutter oder eine immer wieder gehörte Melodie, selbst Gerüche, die er nun wiedererkennt, hilft ihm, die Angst zu unterdrücken, die er in seiner völlig neuen Welt erlebt. Er strebt immer wieder dorthin zurück, und indem er das tut, macht er eine neue Erfahrung nach der anderen. Zu diesen Erfahrungen zählen all die kleinen Erfolge, die seine Stressreaktion kontrollierbar machen. Dabei werden diejenigen Verschaltungen in seinem Gehirn gebahnt, die er bei seiner Su-

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che nach dem verloren gegangenen Glück immer wieder benutzt.“ Gerald Hüther Und Blumenberg selbst erzählt eine Variante, in der die Institutionen und ihr Schutz gegen den Terror der Welt Helden der Geschichte sind. In der Unsicherheit und Tödlichkeit der Außenwelt brauchen Menschen Höhlen, suchen sie Schutz in Höhlen, die in späteren Zeiten zu Institutionen und Organisationen werden. In den Höhlen und ihren Nachfolgeformen entwickeln sie Innerlichkeit und Reflexion. Sie beginnen Geschichten zu erzählen, Kultur zu entwickeln und die Höhle immer mehr auszubauen, bis sie selbst zu einer großen Geschichte wird. Und aus der Sicherheit der Geschichten blicken sie hinaus in die nun gebannte Wirklichkeit, finden Höhlenausgänge und finden aus den Geschichten und der immer wie­der in die Geschichten einbrechenden Wirklichkeit neue Fragen. Die Geschichten selbst sind nicht ohne Bindung – ich kann sie nicht einfach wechseln. Die Geschichten, die wir erzählen, sind wir selbst und wir erzählen sie mit Notwendigkeit. Mit ihnen ringen wir der Wirklichkeit, die voller Möglichkeiten, voller Varianten ist, Notwendigkeit und damit Berechenbarkeit, da­mit Sicherheit ab. Und so leben und arbeiten wir in Geschichten – oft ohne sie zu kennen – und die Geschichten sind die Grenzen unserer Wirklichkeitserfahrung. Manchmal bricht aus den Geschichten selbst Kontingenz her­vor, manchmal bricht die Wirklichkeit in ihrer Kontingenz mit die*den Boten*in von Krankheit, Unglück und Tod in unsere Geschichten ein. Kontingenz ist eine unserer grundlegenden Erfahrungen in der Begegnung mit der Wirklichkeit, die voller Möglichkeiten steckt, aber keine in sich schlüssige, einheitliche Erfahrung ermöglicht. Manchmal, wenn wir unserer Geschichten bewusst werden, sie durchdenken und entwickeln, beginnen sie mehr Fragen aufzuwerfen, als sie Antworten bieten. Dann entsteht die Notwenigkeit, Geschichten neu zu erzählen oder neue Geschichten zu erfinden, um die in den Fragen aufbrechende Kontingenz zu bannen. Und manchmal können unsere alten Geschichten den Einbruch der Wirklichkeit in unser Leben, sei es durch individuelles Unglück, sei es durch kollektive Katastrophen, nicht bannen. Dann brauchen wir andere Versionen oder andere Geschichten, um auch diesem Einbruch von Willkür, Unberechenbarkeit und Zufälligkeit Sinn abgewinnen zu können.

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Wir stehen immer schon, seit unserem ersten Schritt, in einem Verhältnis von Kontingenz und Notwendigkeit – der Erfahrung von willkürlicher Zufälligkeit und der Berechenbarkeit, Sicherheit und Notwendigkeit suggerierenden Kraft unserer Geschichten. Kontingenz bezeichnet das Verhältnis zur Welt, weil „die gegebene Welt nur ein zufälliger Ausschnitt aus dem unendlichen Spielraum des Möglichen ist“ (Hans Blumenberg) und zugleich bezieht sich der Begriff auf die Erfahrung von Notwendigkeit, weil das Bewusstsein des Zufälligen den Menschen dazu zwingt, Möglichkeiten zu realisieren, sie zu einer konsistenten, sich aus Notwendigkeit rechtfertigenden Kulturwelt zu verdichten. Notwendigkeit entsteht aus der Erfahrung von Kontingenz, der der Mensch seine schlüssige Version, seine Ordnung der Vielheit entgegensetzt, so dass sie die Fähigkeit hat, das Viele und das Offene in einer sinnvollen Geschichte zusammenzufassen. Die Entwicklung von Geschichten kann nur geschehen, wenn immer zugleich das Bewusstsein von Kontingenz wach bleibt und stets neu in Varianten, Entwicklungen der Geschichten zu Notwendigkeit gebannt wird. In diesem Prozess werden Möglichkeiten für neue Fragen und neue Geschichten geboren. Diese Überlegungen scheinen für Fragen der Unternehmenskultur weit hergeholt zu sein. Aber auch die Unternehmen sind Teil der großen und komplexen Geschichten, die wir uns erzählen und sie wiederholen in ihren Höhlen auch nur die Geschichten, die sie in unserer Kulturwelt gehört haben. Sie leben in den Grenzen der gelernten Geschichten. So gilt für unsere Arbeit auch, nur wenn es uns gelingt mit den Unternehmen und ihren Führungskräften an die Grenze der gelernten Wirklichkeit zu gehen, Kontingenzerfahrung in der Sicherheit der Höhle möglich zu machen und so die Voraussetzung zum Erzählen neuer Varianten oder neuer Geschichten zu schaffen, werden Möglichkeiten sichtbar werden. Erst dann beginnt die Entwicklung der Organisation zu neuen Notwendigkeiten. Wenn wir für diesen Weg Bildungsarbeit und Kulturereignisse nutzen wollen, so wird klar, dass es nicht um eine Kulissenkultur gehen kann, sondern dass wir eine Kultur meinen, die von den Menschen in der Organisation, von ihren Ängsten, Hoffnungen und Wünschen durchdrungen ist. Dann ist es auch angemessen von einer Unternehmenskultur zu sprechen, die mehr bezeichnet als den Umgang der Menschen miteinander.

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Wir übernehmen Geschichten, Riten und Meta2.2 Wie die Athener phern und leben so in den Grenzen der gelernten Matrosen wurden Wirklichkeit unserer Kultur. Die Varianten, Themen, Bilder unserer Kultur bestimmen unsere Denkmodelle, schaffen Bezugssysteme, die uns Wichtiges von Unwichtigem, Bedeutsames von Unbedeutsamen unterscheiden lassen. Sie geben unserem Handeln Richtung und Sinn. Die in den Unternehmen dominante Geschichte von der Beherrschbarkeit der Welt durch Technik, Wissenschaft und kausale Erklärungsmodelle ist nur ein wirksamer Erzählstrang. Er bestimmt in den Unternehmen Prioritäten, er setzt Grenzen zwischen dem, was als sinnvoll und dem, was als sinnlos erlebt wird. Aber diese Geschichte hat – wie jede Geschichte – Grenzen, wenn es darum geht, Sinn in Zeiten der Wandlung zu vermitteln. Sie hat ihr Pathos, das es im Anfang der Neuzeit und im Bürger*innentum des neunzehnten Jahrhunderts gehabt hat, verloren. In den Unternehmen werden neben dieser Geschichte daher immer auch andere Erzählungen wirksam. Sie schaffen anderen Sinn und mit diesem anderen Sinn setzen sie andere Prioritäten und ermöglichen anderes Verhalten. In der Regel werden diese Erzählungen in den Symbolen und Metaphern der Organisation unreflektiert weitergegeben, oft werden sie im Sinne der einen dominanten Geschichte von der technisch­rationalen Machbarkeit aller Dinge bekämpft und als rückständige Überbleibsel einer schon erledigten Vergangenheit beschrieben. Aber diese und neue Geschichten könnten helfen, wenn wir in Veränderungsprojekten, in der Notwendigkeit, neue Wege zu gehen, Orientierung und das Erleben von Sinn brauchen – wenn es nötig wird, die Sorge und die Ängste vor dem Neuen, Kontingenzlastigen zu bannen. Was das Erleben von Bedeutsamkeit ausmachen kann, illustriert ein Erlebnis in einem Fertigungswerk der Elektronik-Industrie. Ein technischer Werkleiter hielt in einer Runde von Abteilungs­und Gruppenleiter*innen eine Rede, in der er über Gefahren der Konkurrenz großer Fertigungsunternehmen sprach, die über sehr große Stückzahlen und ein Konzept der Trennung von technischer Betreuung der Erstanläufe und einfacher kopierter Massenfertigung einen großen Kostenvorteil erwirtschaften. Er zeigte über Berechnung auf, dass die auf sehr viel kleinere Stückzahlen ausgelegte eigene Fertigung, die zudem mit einem integriertem Modell arbeitet, diesen Kostenvorsprung durch intelligente Nutzung der eigenen

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Ressourcen ausgleichen kann. Der Vortrag war trocken, die gezeigten Folien abstrakt. Und doch hatte der Vortrag eine motivierende und energetisierende Wirkung. Ich habe mir daraufhin die Worte und Bilder noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich suchte nach Bedeutsamkeiten. Und ich hörte: David wird gegen Goliath kämpfen und David hat eine Steinschleuder in der Hand. Das kleine Werk wird Intelligenz, wird technischen Sachverstand nutzen, um Goliath zu schlagen. Dies war eine Ebene der bedeutsamen Erzählung, die die Mitarbeiter*innen in den kargen technischen Worten mithörten. Auf einer weiteren Ebene hörten sie noch andere Bilder, so wurden mit der Beschreibung der konkurrieren­den Massenproduktion Bilder großer Hallen evoziert, in der auf eine technische Funktion reduzierte Menschen fest bestimmte Handlungen ausführen, die ihnen von Spezialist*innen, die in besonderen, entfernten Entwicklungsstandorten arbeiten, vorgeschrieben waren. In mir erschienen düstere Bilder aus Science-Fiction Filmen, in der ausbeutende Mächte Menschen in solchen großen Anlagen auf eine reine Arbeitsfunktion reduzierten. Dagegen wurden bei der Schilderung der eigenen Chancen Bilder von gemeinsamem Arbeiten, von kreativ erfinderischer Zusammenarbeit und von Opferbereitschaft aufgerufen. Erst nachdem ich diese im trockenen Vortrag versteckten Bilder, die in der späteren Diskussion deutlicher ausgesprochen wurden, verstanden hatte, wurde mir auch klar, warum dieser Vortrag auf die Mitarbeiter*innen eine so motivierende Wirkung haben konnte. Im Bild des David fand das Werk Sinn, fühlte sich beschrieben in Bezug auf die eigene Vergangenheit und in Bezug auf die Chancen der Zukunft.

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Natürlich kann diese Geschichte nur dort wirken, wo sie eine schon bestehende Geschichte weitererzählt und ihr eine zusätzliche Bedeutung für die Zukunft geben kann. Das Werk hat eine lange Tradition, in der es sich gegen ein großes Mutterwerk behaupten musste und hat diesen Sinnstrang in der Geschichte der eigenen Existenz nun auf eine neue Situation bezogen. Hier war für einen Moment eine Form ‚narrativer‘ Führung, in der Sinn und Bedeutsamkeit vermittelt wurde, gelungen. Fortsetzungen von Geschichten und Metaphern, die für neue Situationen anschlussfähig sind und denen man eine neue situative Prägnanz geben kann, sind eine Form, Organisationen einerseits an die Grenze der Gefahr zu führen und ihr gleichzeitig die Mittel zu geben, in der sie die mit der Gefahr aufbrechenden Ängste bannen kann. Eine andere Herausforderung ist es, sich der in den Unternehmen spürbaren Kontingenzerfahrung in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung, auf die Chancen der technischen Innovation, auf die eigene Vitalität und auf die Entwicklung von Markt und Wettbewerb so zu stellen, dass in dem Augenblick, in dem Kontingenz in Form von Krisenerfahrung spürbar wird, nicht die ganze Macht und Wucht der alten Bewältigungsgeschichten und Bewältigungsriten in die Bresche geworfen werden. Denn damit würde man zwar für einen Augenblick alte Sicherheit zurückgewinnen, aber die neue Antwort, die stabiler die Gefahren begrenzt, wird man so nicht finden. Kontingenzerfahrungen gilt es zuzulassen, damit sie „als Stimulans der Bewusstwerdung der demiurgischen Potenz des Menschen“ (Hans Blumenberg) wirken können. Geschichten müssen deshalb nicht nur erzählt werden, sie müssen auch zum richtigen Zeitpunkt erzählt werden. Für eine neue Geschichte müssen die alten Geschichten reif sein.

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Reif werden sie aber nur, wenn Menschen sich mit ihnen, ihren Möglichkeiten und Grenzen auseinandersetzen. Reif werden sie nur, wenn in der Sicherheit der alten Geschichte mit ihnen so gefragt und so gespielt wird, dass ihre Potenzen und damit auch ihre Grenzen sichtbar werden. Daher wird ein Unternehmen, das in sich nicht einen Kulturraum öffnet, in dem mit der eigenen Kultur gespielt wird, vielleicht ein Nach­ahmer*innen werden können, aber nicht die*der Erfinder*in neuer Geschichten. Als die Athener erneut von der Übermacht des persischen Königs bedroht wurden, sandten sie Bot*innen zu einem der großen Geschichtenerfinder*innen des Altertums, zum delphischen Orakel. Die Boten kamen mit einem Thema, für die nun von den Athenern zu gestaltende Geschichte zurück. Das Thema hieß: Hinter einer Mauer aus Holz sollt ihr euch verschanzen. Und nun begannen die Athener zu erzählen. Sie hatten dafür Plätze und sie hatten schon Erfahrung mit dem kollektiven Erfinden von Geschichten. Das waren die ersten Schritte in der Erfindung der Demokratie. Manche im existenzbedrohten Athen griffen auf alte Bedeutungen zurück. Sie wollten eine hölzerne Mauer um die Stadt ziehen. Athen war aber eine bäuerliche Gemeinde und die Mauer hätte Höfe, Felder, Bäume ungeschützt gelassen. Das Gespräch wurde schwierig auf dem Marktplatz in Athen, bis jemand mit dem Thema eine neue Geschichte erzählte. Sie sprach von hölzernen Booten, die eine Mauer wären und der Möglichkeit, die persischen Truppen auf dem Wasser zu besiegen. Und während er die Geschichte erzählte, wurden die Boote so beschrieben, wie sie nach Athen passten. Sie waren klein, in ihnen saßen die kleineren sozialen Einheiten der Stadt. Und als jemand fragte, wie denn die vielen kleinen Boote zu steuern wären, da blickten sie auf ihren Marktplatz und die Art und Weise, wie sie die Geschichte im Gespräch, manchmal im Streit, manchmal in der gefundenen Übereinstimmung erzählt hatten. An der Geschichte, die sie in höchster Not erzählten, war manches neu: Die dezentrale Steuerung der Boote, das auf das Wasser gehen, die überraschende Wendung, eine Mauer aus Holz als Schiff zu verstehen. Schließlich – und dies hatte die langfristig größere Wirkung – war die Art und Weise neu, in der sie das Gemeinwesen in höchster Not nicht zentralistisch verstanden und sich nicht auf die Verteidigung der Stadt versteiften, sondern sich auf den Kampf

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gegen die persischen Boote konzentrierten – das schuf eine Wende, das schuf Möglichkeiten. Die großen, mächtigen und zentralistischen Boote der Perser*innen, die schon immer die alte Geschichte von der Macht der Größe und Stärke sangen, waren den aus der neuen Erzählung entstehenden Möglichkeiten nicht gewachsen. Athen hatte die Drohung des eigenen Untergangs abgewehrt. Wenn wir auf die wichtigsten Voraussetzungen für diese Wendung des Athener Schicksals blicken, so waren dies zweifellos die Qualitäten der delphischen Erzählung und ihre Aufnahme in den Selbstverständigungsprozess der Athener, es war sicher die Wachheit, die die Drohung des Existenzverlustes vermittelte und es war schließlich die Bereitschaft, sich in der Mitte der eigenen Gesellschaft mit der Geschichte und ihren möglichen Folgen auseinanderzusetzen. Kultur und Politik war in Athen Sache der Athener – ihr in der eigenen Gesellschaft gewachsenes Reflexionsvermögen machte sie fähig, aus Gefahr und den Andeutungen anderer Fragen und anderer Bedeutungen eine neue Antwort zu formulieren. Dies war nur möglich, weil Philosophie und Kunst Sache der Polis war.

3 Unternehmensgeschichten Wie erzählen Unternehmen von Veränderung? Wie 3.1 Veränderung erzählen Berater*innen Veränderung? Über das erzählen Zweite wissen wir recht gut Bescheid. Kolleg*innen aus den harten Beratungen verkaufen Veränderung als Ausgleich eines Mangels an Wissen und einer fehlerhaften Projektsteuerung. Es sind Geschichten des Mangels und Geschichten des Versagens. Die weichen Beratungen erzählen Veränderung zu oft als Geschichte des Verlustes, als gefahrvolles Unternehmen, das den Mitarbeiter*innen etwas nimmt. Schnell gibt es Gute und Böse in der Geschichte – und beide Seiten folgen den klassischen Topoi der Märchen und Sagen. Die ‚Guten‘ trösten sich später mit den Versatzstücken christlicher Held*innengeschichten und warten so noch lange auf ihren Lohn, die Schlechten erhalten all die Attribute, die dem ‚Bösen‘ zukommen: Hartherzigkeit, Machtwillen, Unehrlichkeit. Selten wird Veränderung und Wandel als Geschichte der Chancen erzählt, selten kommt ‚Neuweh‘ vor, selten wird mit der Freude am Neuen gespielt.

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In den Unternehmen überwiegen Geschichten der Sorge und des Misstrauens. Verlustängste gehen um, das Neue wird als das Gefahrvolle betrachtet. Die Basis dieser Geschichten ist real, das Neue ist das Ungewohnte und damit das, was sich nicht mit dem Tageswissen einfangen lässt. Es birgt in sich ‚Möglichkeiten‘ und damit zugleich die Sorge, dass die Möglichkeit Katastrophen birgt. Es entsteht Kontingenz und noch ist keine ‚Technik‘, noch ist keine Erzählung da, die sie bannt und zur täglich trivialen Berechenbarkeit macht. Lange ist Veränderung über eine Angst- und Verlustgeschichte erzählt worden. Industrieverbände wie Gewerkschaften, Unternehmensführungen wie Politiker sprachen immer nur von den Gefahren, die es abzuwenden gelte. Jede konkrete Veränderung wurde mit der noch größeren drohenden Not begründet die eintreten würde, wenn es die Veränderung nicht gäbe. Leere Visionen, deren Größenphantasien auch nur halbherzig verkündet wurden, sollten die Verlustängste bannen. Veränderung in Deutschland ist ein gefahrvolles Abenteuer, für das immer einer wird bezahlen müssen. Veränderung kann aber auch die große Chance der Kontingenz sein, die, die noch einmal alles möglich macht, die, die uns neue Möglichkeiten schenkt. Manch ein junger Mensch empfindet dies so und traut sich manchmal im Sog des gefahrvollen Unkens nicht, seiner Hoffnung, seinem noch schmalen Glück, dass es endlich anders werden könnte, Ausdruck zu geben. Es ist die billige Münze der Berater*innen, für diesen Mainstream der Geschichten anderen Berater*innen oder den Führungskräften die Schuld zu geben. Es dürfte für diese Dominanz der eher furchtsam negativen Geschichten aber einen tieferen Grund geben – es sind Geschichten unserer Gesellschaft, Geschichten in denen und mit denen wir aufgewachsen sind. Solche Geschichten wollen wir aufspüren und wir wollen die anderen, die Gegengeschichten dazu finden oder erfinden, die es uns möglich machen, Veränderung offener und als Chance zu erzählen. Der Raum unserer Möglichkeiten wird durch unseren Blick auf ihn bestimmt. Je nachdem mit welcher Geschichte wir blicken, werden wir Chancen oder Risiken sehen. Zukunft braucht konkreten ästhetischen Ausdruck, um ‚anders‘, um ‚neu‘ zu werden. Solange wir immer wieder in denselben Ausdruck greifen, werden wir stets dieselbe Zukunft sehen. Im besten Fall

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werden wir uns dann von den Geschichten am Rande unserer Gesellschaft Zukunft vorschreiben lassen. Dann hätten wir nur den einen Trost, mit unserer sperrenden Sorge und Angst recht gehabt zu haben. Es sind narrative Zusammenhänge, die die unver3.2 Führung bundenen Fetzen der Welterfahrung zusammenfüerzählen gen und ihnen Sinn geben. Das gilt auch für Unternehmen, auch in der Organisation wer­den Geschichten erzählt, in der die Organisation, ihre Handlungen und Widersprüche, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorkommen. Indem diese Geschichten erzählt werden, kann in der Organisation Sinn empfunden werden. Der erlebte Sinn macht erträglich, was in der Organisation als Unrecht und Willkür empfunden wird, heilt so Wunden der Vergangenheit und macht frei für die Zukunft. Und Sinn öffnet Zukunft, lässt über den Tag hinausdenken, Sicherheit gewinnen für die Aufgaben von Morgen. Und schließlich ist es Sinn, der die Organisation motiviert, die nächste Herausforderung aufzunehmen und sich erneut auf kommende Aufgaben zu konzentrieren. Es sind Geschichten, die die Kultur eines Unternehmens prägen und die sie weitertragen. Es könnten Geschichten sein, die eine neue Kultur schaffen. Organisationen erzählen immer Geschichten – über sich, die Kund*innen, die Wettbewerbe. Die Frage ist, wer erzählt die Geschichten und erfüllt sie mit welchem Sinn? In den letzten Jahren bin ich in den Unternehmen oft den Geschichten von Unterdrückten, von Widerständlern, resignierten Zynikern, Veränderungssekten mit ihrer Hoffnungsmetaphorik sowie den melancholischen Bot*innen der Vergangenheit begegnet. Alle diese Geschichten machten Sinn, ließen das, was die Menschen erlebten, als Zusammenhang verstehen und mit diesen Geschichten konnten sie sich auf die Zukunft einstellen. Was ich erlebte war, dass die Führungskräfte den Mitarbeiter*innen die Hoheit über den narrativen Raum der Sinnschaffung über­ließen und das Risiko in Kauf nahmen, dass Geschichten erzählt wurden, die für das gesamte Unternehmen wenig Sinn machten. Natürlich habe ich mich gefragt, warum die ‚Führenden‘ so arm an Geschichten sind. Ich hörte, was sie sagten und natürlich waren auch darin Geschichten versteckt – sie waren aber oft nicht gut. Sie

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steckten voller Kritik, voller Misstrauen, oft war mehr Furcht in ihnen als Hoffnung. Sie erzählten sie in der Sprache der Technik – kalt waren die Geschichten. Und da, wo sie sich im Erzählen neuer Geschichten übten, in den Visionsworkshops, da tendierten sie zu abstrakten Größenphantasien, die wenig für das Unternehmen bedeuteten und für die Menschen in ihm wenig Sinn machten. Richard Sennet beschrieb die Kraft von Geschichten: Sie „gestalten Bewegung in der Zeit, geben Bedeutsamkeit, lassen da­mit unterscheiden, stellen Gründe bereit, zeigen Konsequenzen, schaffen einen Rahmen mit Sinn“. Kurz zusammengefasst, sie sind die eigentliche Form, in der Führung in der Zeit von Uneinheitlichkeit, Differenz, Beschleunigung und ständig drohendem Sinnverlust geschehen kann. Aber welche Geschichte erwächst aus der Formulierung: ‚Unsere Verantwortung ist es, dass Kapital unserer Kapitalgeber*innen zu verzinsen‘? Welcher Sinn entsteht aus dieser Überschrift? Welches Verhalten fördert dieser Sinn? Welches Bild von der*vom Mitarbei­ter*in wird darin gezeichnet? Was macht eine Organisation aus, die von sich die Geschichte erzählt, wir sind da, um Kapital möglichst hoch zu verzinsen? Was vermittelt diese Geschichte an die Führungskräfte? Das Shareholder-Konzept lädt zu kurzatmigen Geschichten ein und die Verantwortungsbeziehung in dieser Geschichte hat kaum ethische Kraft. In diesen Organisationen selbst wird ‚Verzinsung‘ zum Leitbegriff von Kooperation, Menschen werden in Bezug auf ihren Nutzwert und schließlich in Bezug auf ihren Vernutzungsgrad wahrgenommen. Es werden Geschichten er­zählt mit den Botschaften: Bleib in Bewegung, gehe keine Bindung ein, bringe keine Opfer, gucke auf die schnelle Auszahlung. Welche Rolle spielt hier dann eine Führungskraft? Wird heute nicht die*der Manager*in gefeiert, die*der ihre*seine Loyalität schnell wechselt, der nur schwache Bindungen an Ort und Aufgabe hat und der vor allem bei jedem Wechsel hart für seinen Vorteil verhandelt – denn nur derjenige, der auf die schnelle und hohe Verzinsung seines Wertes achtet, wird auch auf die Verzinsung für die Kapitalgeber*innen achten. Und alle modernen Personalkonzepte spielen mit der Verknüpfung von Eigennutz und Kapitalverzinsung. Welches Führungsethos bildet sich aus dieser Geschichte? Was sind die Sinnbezüge darin, die die Mitarbeiter*innen mitziehen und sie einladen, an einer besonderen Aufgabe, der Zukunft ihres Unternehmens zu arbeiten? Reicht es, wenn man sie im

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Wechselspiel von angebotenen Belohnungen und dem Aufbau von Drohszenarien des möglichen Arbeitsplatzverlustes still stellt? Natürlich werden neben dieser offiziellen Geschichte andere Geschichten erzählt, die die Menschen zusammenhalten und ihnen Orientierung, Stolz und Kraft geben. Es sind oft Geschichten, die sich um das Produkt spinnen, manchmal um die Werte der eigenen Vergangenheit, manchmal um das Besondere des eigenen Bereiches, des eigenen Ortes. Die Kontinuität dieser Geschichten ist zwar durch ständige Umstrukturierungen, das Zerbrechen sozialer Sinneinheiten gefährdet, aber noch geben sie den Unternehmen und Unternehmensteilen eine Mitte. Die Fragmentierung der Unternehmen wird weitergehen – Konzernführungen beschränken sich heute oft auf die Forderung der Erfüllung bestimmter Kenngrößen – sie geben keine Inhalte, keine Erzählung mit. Die Teile erzählen so ihre je eigene Geschichte, in der sie zugleich ihre Verbundenheit mit dem Ganzen begründen. Das ist gegenüber früher, als die Verbundenheit eine fraglose Tatsache war, nurmehr eine schwache Bindung. Schwach gebunden sind heute auch die Mitarbeiter*innen; viele, und darunter gerade die Hoffnungsträger*innen, investieren nur noch wenig ihrer Lebensgeschichte in den Arbeitsplatz – sie geben sich cool, distant und schützen sich so vor der Unberechenbarkeit der fragmentierenden Organisation. Ein Unternehmen und die Mitarbeiter*innen trotz dieser Entwicklung zusammenzuhalten, Integration in Zeiten der

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Desintegration zu leisten, ist eine der großen Führungsaufgaben. In Zeiten schwacher Bindungen braucht Führung starke Zeichen. Gute Geschichten sind starke Zeichen. Gute Geschichten findet man da, wo die Führungskräfte die Persönlichkeit haben, Erzählungen zu schaffen, in denen der Ort, das Produkt, die Außenwelt, die Mitarbeiter*innen, die Vergangenheit und die mögliche Zukunft vorkommen. Wer aber Geschichten erzählen will, muss Geschichten in sich tragen und selbst in einer Geschichte aufgehoben sein, die dem eigenen Leben und eigenen Tun einen Sinn gibt, der über den Tag hin­ausweist. Bildung ist ein möglicher Weg für die*den Geschichtenerzähler*in. Noch einmal möchte ich Hartmut von Hentig‘s Beobachtungen zur Kreativität nutzen, um auf die Schwierigkeit aufmerksam zu machen, ‚divergent thinking‘ in den Organisationen, so wie wir sie uns jetzt erzählen, zu ermöglichen. „Ich war vor drei Jahren Gast einer Privatuniversität in Japan, um dort über Kreativitätsförderung in der Schule und der Wissenschaft zu reden. Das Gebäude, in dem wir im 17. Stock tagten, lag neben dem neuen Rathaus, das sich weitere 50 Stockwerke über uns erhob. In ihm, selbst eine Stadt mit zigtausend Einwohner, war die gesamte öffentliche Verwaltung der gedrängten 13 Millionen Stadt untergebracht. Der Weg vom Flughafen zum Tagungsort betrug sechs Stunden mit dem Auto – in einer oben offenen Betonröhre oder zwei Stunden in einer völlig überfüllten U-Bahn. ‚Divergent Thinking‘ wäre auf beiden Wegen tödlich. Ich habe damals versucht, mir kreative Beamt, kreative Verkehrsteilnehmer vorzustellen – und kreative Student, die die Marathontagung mit uns durchsaßen. Nein, dies war eine auf Disziplin, Fleiß, Berechenbarkeit, intelligente Organisation gegründete Welt. Hier wollte man nicht Kreativität, man wollte Produktivität, Ordnung, ein wenig Wohlbefinden und weiterhin vorne liegen, denn nur dies scheint jenes zu sichern. Creativity war ein Schmuckwort, ein Luxus – entweder ein unpassender Begriff oder eine lässliche Heuchelei.“ Viele Organisationen sind in einem protestantischen Arbeitsethos gefangen – alles, was nach Lässlichkeit, Brachliegen, Wechselhaftigkeit, Sinn im Unsinn, überraschenden Wendungen riecht,

3.3 Organisation erzählen

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setzt sich dem Verdacht des Unernstes und letztlich wie­der der Verschwendung von Ressourcen aus, die die gemeinsame Organisation zur Erlangung ihres Heils (das heute wohl Ertrag und Markterfolg heißt) so dringend braucht. Wenn sie zu internen Entwicklungskonzepten greifen, dann wählen sie die amerikanisch dominierten (und damit ebenfalls protestantisch geprägten) Verbesserungskonzepte. In ihnen gibt es stets nur das Ziel: Schlankheit, Schnelligkeit und Effizienz durch Verzicht und noch angestrengtere Konzentration auf das eigentliche Ziel: Ertrag. Funktionalität und der Abbau von allem, was nicht unmittelbar dem Ziel dient, sind die Leitideen der Veränderungen. In diesem Denken ist für Kreativität, für Bildung um ihrer selbst willen und ist für Spiel wenig Raum – es sei denn jemand könne beweisen, dass es schneller und schlanker zum eigentlichen Ziel führt. Genau dieser Beweisgang lässt sich aber nicht führen, denn ‚divergent thinking‘ ist ein Experiment mit Möglichkeiten und nicht die stringente Fortsetzung der Notwendigkeiten. In dieser Logik tendieren Unternehmen zur Magersucht und wie Magersüchtige zeigen sie auch das sthenische Verhalten, die Ausdauer, die Fähigkeit zu Triebverzicht, die Konzentration aller Kräfte auf das eine Ziel, das bei den einen Magerkeit und bei den Anderen Ertrag heißt. Wobei auch in den Unternehmen ‚Schlankheit‘ zum Selbstzweck zu wer­den droht. Diesem Denken liegt ein Muster zugrunde: es glaubt die Welt technisch im Griff zu haben. Und sollte sie sich einmal als unberechenbar erweisen, dann gab es einen methodischen Fehler, der sich beim nächsten Mal vermeiden lässt. Dann wird man neuerlich den Beweis führen, dass die Welt berechenbar und beherrschbar ist. Dies ist ein in der Geschichte und auch gerade in der Geschichte der Unternehmen sehr erfolgreiches Denkmodell. Es bietet zugleich die Sicherheit, die man einander mit immer neuen Erfolgen in der Beherrschung des Ungeregelten, des noch widerständig Eigenen bestätigt: das mögliche Chaos, die Kontingenz und ihre Schrecknisse ausgeschlossen zu haben. Mag auch außerhalb des Unternehmens das Unberechenbare immer wieder einbrechen, sei es in der Familie, sei es bei einem selbst als plötzliche, jede Planung umwerfende Krankheit, im Unternehmen herrscht Berechenbarkeit. Und so ist die Organisation oft der Hort von Sicherheit, der das drohende Chaos der äußeren Wirklichkeit ausschließt. Und vielleicht reagieren Mitarbeiter*innen auch deshalb so verstört auf große Ver-

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änderungen, weil sie sie als den Verlust dieses Hortes der Sicherheit verstehen. Und vielleicht lassen sie sich auch deshalb so leicht beruhigen, wenn man ihnen zeigt, dass hinter dem Veränderungsprozess eine alle Gefahren bedenkende und letztlich alle Kontingenz ausschließende Logik steckt. So erfolgreich und nützlich dieses Denkmodell auch ist, es gerät schon dann an seine Grenzen, wenn Unternehmen aus dieser Logik heraus sich selbst als soziale Einheit führen wollen. Es ist eine neue Erfahrung, die die Unternehmen machen – die Menschen, die Gruppen, die vielen differenten Einheiten in der großen Gruppe Unternehmen lassen sich nicht mehr berechenbar führen – die Suche nach immer neuen, noch besseren Methoden und Instrumenten der Führung führt zu keinem Ergebnis. Was Unternehmen unterschätzt haben, war die Leistung der Gesellschaft, die ihnen passend zurechterzogenen Mitarbeiter*innen zur Verfügung stellte, die sich bruchlos in die innere Denk- und Verhaltenslogik der Organisation einpassten. Diese Leistung erfüllt die Gesellschaft heute nur noch zum Teil. In den Unternehmen kommen Menschen mit unterschiedlichster Prägung, mit einer Fülle differenter Sinn- und Lebenskonzepte zusammen, die für die Arbeitslogik des Unternehmens erst gewonnen werden müssen. Um diese Entwicklung wahrnehmen zu können, muss man nur auf die hochqualifizierten, jungen Spezialist*innen gucken, die sich nur lose mit dem Unternehmen verbinden und die sich mit einer vagabundierenden Loyalität, einem Unternehmen so schnell anschließen wie sie es auch wieder verlassen. So wird heute in den Unternehmen spürbar, dass das Modell ‚Rechenbarkeit‘ von allem und jedem nicht mehr trägt – die Suche nach anderen Formen der Führung und nach anderen Bildern für das Selbstverständnis beginnt. Ermutigend ist, dass mit der Wahrnehmung dieses Problems zugleich sichtbar wurde, dass eine andere Art von ‚Führung‘ nötig sein wird, um die soziale Einheit ‚Unternehmen‘ zusammenzuhalten und an Gemeinsamkeit auszurichten. Hier ist dann von Ausstrahlung, von Charisma, Persönlichkeit die Rede, verlangt wird Eigenständigkeit, Konfliktbereitschaft und Gelassenheit und schließlich stellt man fest, dass nur eine reife, krisenfeste Persönlichkeit diese Aufgabe erfüllen kann. Viel verlangt und für die meisten Führungsaufgaben etwas zu viel verlangt. Und doch in all diesen Beschreibungen steckt das Bewusstsein, nur mit gebildeten, in

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sich gefestigten Persönlichkeiten wird sich ‚Führung‘, die die unterschiedlichsten Menschen in differenten Umfeldern zusammenhalten soll, verwirklichen lassen. Die Forderung ist billig – noch scheinen Unternehmen darauf zu warten, dass ihnen solche Menschen zufallen. Aber sie werden ihnen nur zufallen, wenn sie die Möglichkeit für das Eintreffen solcher Zufälle erhöhen und das verlangt neben einem Umbau ihrer Bildungssysteme ein neues Verständnis ihrer Organisation, eines, dass neben Berechenbarkeit auch Platz bietet für die Erfahrung und die Auseinandersetzung mit dem nicht Berechenbaren, mit Zukunft, mit Chancen und Risiken. Sie müssen, um Kontingenz zukünftig bewältigen zu können, die Erfahrung von Kontingenz in sich schaffen. Die Voraussetzung hierfür schaffen sie, wenn sie den Grad der Selbstreflexion in einem Unternehmen erhöhen. Es gibt Ansätze dazu – und wer je an einer der großen Veranstaltungen teilgenommen hat, im denen Menschen sich mit der Art und Weise ihrer Organisation beschäftigt haben und dabei gespürt hat, welche Kraft und welcher Ideenreichtum in den Unternehmen steckt, die*der weiß auch, welche Chancen für die Zukunft darin liegen. Die Angst, die bei vielen aufbricht, wenn diese Vielheit zu Wort kommt, entspricht dem noch vorherrschenden Bild der Berechenbarkeit – bei so viel Möglichkeiten, so viel Kraft entstehen Zweifel daran, dies alles noch zu strukturieren und in gerechnete Bahnen zu lenken. Gelenkt wird ein solcher Prozess aber nicht durch die Methoden, sondern durch die selbstreflektierende Auseinandersetzung selbst und schließlich durch die orientierende Kraft einer bewussten, angstfreieren, gelasseneren Führung. Auch hier gilt, so wie die Unternehmen eine lange Zeit benötigten, um die Logik der Berechenbarkeit zu perfektionieren, so wird auch der Weg, selbstreflexive und damit nicht technische sondern kunstnahe Formen der Führung und Entscheidung zu entwickeln, lang sein. Damit er entstehen kann braucht er die rücksichts- und verständnisvolle Unterstützung der ‚Rechner*innen‘, die gespürt haben, dass Berechenbarkeit ihre Grenzen hat. Wie wäre es, wenn wir es einmal mit einer barocken Organisation versuchten und sie der an der technischen Moderne orientierten Kargheit entgegenstellten? Es sind aber nicht nur organisationsinterne Gründe, die Zweifel aufkommen lassen, mit dem Modell ‚Ameise‘ oder ‚Rechnen‘ allein

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1.2 Wie die Athener Matrosen wurden

die Kontingenz und Komplexität der ins beschleunigte Wandeln geratenen Welt bewältigen zu können. Zugleich wird sichtbar, dass es für die Zukunft nicht reicht ‚noch schlanker‘ zu werden. Kreativität, Spiel und Offenheit für das Unerwartete sind eben kein Zierrat mehr, sondern werden zunehmend als Bedingung dafür gesehen, die Zukunft tatsächlich gestalten zu können. Mit dem Wissen um die Notwendigkeit des Anderen kommt die Organisation mit sich selbst in einen Konflikt – das Andere passt nicht in die vorherrschende Logik ihres Denkens. Mitarbeiter*innen hören Worte, die sie in den Taten nicht erfüllt sehen. Gerne wird dieser Widerspruch einzelnen Führungskräften zugeschrieben, tatsächlich ist er aber in der Dynamik der sich verändernden Organisation selbst begründet. Die Integration neuer Denkbilder, neuer Geschichten über sich selbst und neuer Steuerungsmodelle geschieht nur in der widerspruchs- und konfliktreichen Auseinandersetzung mit dem alten Modell, das es in den Unternehmen zudem für weite Bereiche der Arbeitsgestaltung zu erhalten gilt. So wissen wir, dass dieser Konflikt nie aufhört, so wie in unserer Gesellschaft die Frage nach dem Wert der Kunst und nach dem, was sie uns Wert sein sollte, nie aufhört. Die selbstreflexive Steuerung beginnt immer damit, dass das Ganze des Unternehmens, sei es als Konzern, als Bereich, als Einheit, als Werk etc. in die Mitte gelegt wird und Mitarbeiter*innen beginnen können, sich zu diesem Ganzen in Beziehung zu setzen. So wie in Athen Athen selbst Gegenstand des Gespräches auf dem Marktplatz war, muss ein Unternehmen sich selbst zum Gegenstand machen können, erst dann kann es in sich die Differenzen und Möglichkeiten entwickeln, die es fähig macht, Kontingenz auszuhalten und sie dann mit neuen, unerwarteten Geschichten zu reduzieren. Dazu braucht es gestaltete Marktplätze, braucht es Orte der Auseinandersetzung und den Mut, sich den dort aufbrechenden Differenzen zu stellen. Dann mag ein Unternehmen auch beginnen, Zukunft außerhalb der Bahnen der Notwendigkeit ihrer alten Geschichten zu gestalten. Wer Zukunft gewinnen will, muss erste Schritte gehen.

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ooking back on a conference about transformation remembering an old quote what sticked now for centuries in my mind: if the highest aim of a captain was to preserve his ship, he would keep it in port forever. Thomas von Aquin

A

nd a much younger one: every word has consequences. Every silence, too. Jean Paul Satre

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ities have the capacity of providing something for everybody, only because and only when, they are created by everybody. Jane Jacobs

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here is no ‚agility‘ and there is no ‚new work‘ without diversity. Looking at the reality quite now – only cities, metropolitan areas provide the space for living different life, different identities. Doing so, they create a diversified culture and build up the infrastructure for innovation, inventiveness and responsiveness for future development. So, let’s urbanize companies – develop the culture from the castell culture with strong borders to a city culture.

I

mmer besser? Immer schlechter? Die Physiker*innen mögen eine bloße Zeit kennen, eine des kontinuierlichen Vorwärtsschreitens. Ich kenne die Zeit nur verbunden und gefüllt mit Bedeutung und Eigenschaften. Zwei große Metaphern ha-

ben der Zeit ganz unterschiedliche Grundbedeutungen gegeben. Die eine Metapher, die vom goldenen Zeitalter, dem ein silbernes, ein eisernes Zeitalter folgt, erzählt die Zeit als einen Prozess des steten Niedergangs. Die andere Metapher, die davon spricht, dass wir als Zwerge auf

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den Schultern von Riesen stehend mehr sehen, mehr leisten können, erzählt die Idee des Fortschritts, des steten ‚Besser Werdens‘ im Lauf der Zeit. Beide Metaphern bestimmen auch heute noch unsere Idee von Zeit – oft nutzen wir sie, die so grundverschieden sind, zugleich. Der Mythos von den Zeitaltern findet sich schon bei Hesiod – hier lebten die Menschen ursprünglich unter der Herrschaft des Gottes Kronos in Frieden, sorglos wie die Götter. Die Körper dieses goldenen Geschlechts alterten nicht, Nahrung gab es in Hülle und Fülle, Arbeit war nicht nötig. Wir finden die Idee des friedlichen und sorglosen Anfangs des Menschengeschlechts, in dem wir in Harmonie mit der Natur lebten, in vielen Formen. Sie bestimmt noch heute unser romantisches Verhältnis zur Natur. Doch die Menschen entfernten sich von diesem Zustand vielleicht durch Dekadenz, vielleicht durch Sünde, vielleicht durch Eigensinn, vielleicht durch Habgier über das silberne Zeitalter ging es zum eisernen Zeitalter hin zu – ja wohin? Wo stehen wir heute? Im steinernen? Im sandigen Zeitalter? Blickt man auf die Menge der Arbeit, die wir heute verrichten sollen, dann dürften wir in den Augen der alten Griech*innen schon recht weit unten sein. Geschichte, als durch Ereignisse gefüllte und bedeutungsvolle Zeit, ist die Geschichte des Verfalls und eine, die

immer wieder mit der Idee der Gottferne verbunden ist. Nicht nur die Griech*innen haben mit dieser Idee gearbeitet, sie findet sich in den indischen Religionen, in der altägyptischen Kultur und schließlich auch in den Bildern und Geschichten der Genesis. Gibt es eine Rückkehr in diesen Vorstellungen? Wenn, dann wiesen die Prophet*innen der Gottesnähe vor allem einen Weg, den des Ausstiegs – das Heil war nicht mehr in dieser Welt und in dieser Zeit – das Paradies des Ursprungs ist für immer verloren. Es gab im alten Griechenland allerdings auch schon die andere Metapher: die, die von einer steten Entwicklung der Menschen sprach, die sie wachsen sah – hin zu einem ‚immer besser‘. Xenophanes oder auch Lukrez ließen die Menschheit in einem tierähnlichen Zustand, geprägt von Hunger, Angst und Schutzlosigkeit beginnen und erzählten die Geschichte des langsamen Fortschritts in der Entwicklung von Zivilisation und Kultur, der langsamen Loslösung von der Natur und den Bedingungen des Naturzustandes. Dieses Fortschrittsbild konkurrierte mit dem Mythos der Zeitalter. Mit der beginnenden Renaissance entstand eine neue Fortschrittsmetapher. Wir finden sie zum Beispiel bei Bernhard von Chartres, der gesagt haben soll, wir seien gleichsam wie Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen und die so mehr und

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Entfernteres sehen können. Sie tun dies nicht, weil sie selbst so viel größer als die Vergangenheit sind, sondern weil sie, obwohl Zwerge im Vergleich zu den Alten, auf ihren Schultern sitzend von deren Größe emporgehoben werden. Ein Bild, das unsere Idee von Fortschritt, die stete kollektive Arbeit am Wissens-, Könnens- und Erfahrungserwerb tief bestimmt hat. Ein Bild, das ein Band zwischen denen vor uns, und unseren Nachkommen webt, die wir alle an dem einen Projekt des Fortschritts arbeiten. In einem Brief an Robert Hooke hat dies Isaak Newton formuliert: „If I have been able to see further (than you and Descartes), it is because I have stood on the shoulders of giants.“ Fortschritt entsteht aus der Arbeit von vielen und indem wir sie nutzen, indem wir auf

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ransformation und Sicherheit Kein Moment der Ruhe. Immer Bewegung. Das Neue nimmt das Alte und ist im Nehmen schon ein Altes. Wie lernen wir das Fließen, selbst Bewegung zu sein? Ist unsere Sehnsucht nicht das Beständige, das was uns Ruhe und Angekommensein vermittelt? Wir haben lange Burgen gebaut, sie stehen noch und haben ihr eigenes Recht. Wir selbst aber sind Nomad*innen geworden und suchen noch unsere Routen, die uns in der Bewegung Sicherheit ge-

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ihr aufbauen, leisten wir einen neuen Beitrag, tragen zur Größe des Riesen bei, auf dem nachfolgende Zwerge wieder werden weiter sehen können. So begründen wir die Hoffnung, dass es auch nach uns noch immer besser werden wird. Und wo stehen wir heute? Unsere Technofixer beschwören das Bild des Fortschritts, hoffen, dass wir unsere Probleme in Folge der ausraubenden Vernutzung der Natur werden lösen können, während andere uns zurück in die Natürlichkeit wünschen, hoffend, dass mit der Rückkehr in den Naturzustand auch die Gottferne überwunden wird und ein neues goldenes Zeitalter anbricht. Wenn es um die tiefen Metaphern geht, dann gibt es wohl nicht viel Neues unter der alten Sonne.

ben. Die Macht der Burgen hat sich dabei vor die Mauern verlagert – es ist der Marktplatz, der Marktflecken, der von seiner Attraktivität lebt und den wir als Nomad*innen besuchen und wieder gehen, in steter Bewegung der Veränderungen. Wir haben zu lernen, in Fluss zu sein und in uns selbst oder in gewählter temporärer Gemeinschaft unsere Sicherheit zu finden. Das verunsichert manche; manche so sehr, dass sie Burgen und Mauern bauen wollen – aber wer hält einen Fluss auf?

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ohin führt mich das Leben? Der aktuelle Titel der Illustrierten Neon. Nicht lange ist es her, da hätte der Titel nur heißen können ‚Wie führe ich mein Leben?‘ Es ändern sich die mentalen Modelle, managen, machen, bestimmen etc. verlieren wohl ihre Vormachtstellung.

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eitschere Relativ zur sich beschleunigten Komplexität der Lebenswelt wird die Zeit des menschlichen Lebens kürzer. Die Möglichkeiten, den eigenen Lebensraum intensiv kennenzulernen und in seinen Sinnbezügen zu erforschen, werden geringer. Kontingenzerlebnisse nehmen zu. Orientierung und Vermittlung eines Kontinuitätserlebens in Bezug auf das eigene Leben werden von der Außenwelt immer weniger gestützt. Die Forderungen an die individuelle Sinnbestimmung und Vermittlung von Kontinuität steigen. Die beschleunigende Zunahme von Komplexität in der Lebenswelt überfordert dabei das individuelle Leistungsvermögen. Orientierungsverluste sind die Folge. Sie werden durch radikalere Selekti-

onen oder durch die Leugnung von Komplexität durch simplifizierende Sinnsysteme, denen es in Bezug auf die Wirklichkeit an Leistungsfähigkeit mangelt, kompensiert. Nötig wäre dagegen, sich gegenüber der Kontingenz und Komplexität offen zu halten, ohne dabei die Orientierung und das für die Versicherung der eigenen Existenz nötige Kontinuitätserleben zu verlieren. Lässt sich die eigene Kontinuität im Sinne einer offenen Geschichte erzählen? Einer Geschichte, die indem sie geschrieben wird, Kontinuitäten herstellt – und dies immer wieder neu. Lässt sich durch eine Selektion auf einen wesentlichen Bereich Orientierung intensiver erleben, ohne dabei die Offenheit für die Komplexität zu verlieren?

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inien Eine Linie teilt. Sie schafft zwei Flächen. Von der*vom Zeichner*in aus gesehen, eine linke und eine rechte Fläche. Beide stehen gleichwertig nebeneinander. Dann kommt die Bezeichnung hinzu und die eben noch gleichwertigen Flächen verändern sich in ihrer Bedeutung, sie werden wertend geformt. Die eine Fläche wird wichtig, bedeutsam, die andere wird reduziert oder verschwindet in der Bedeutungslosigkeit. Worte können wie Linien sein, die eine Fläche teilen. Sie teilen aber nicht nur ein Blatt Papier, sondern sie zeichnen in den sozialen Raum und machen Unterschiede mit Folgen. Ein solches Wort war und ist z.B. der Begriff ‚wertschöpfend‘, wenn er auf die Erbringung von Leistung in Unternehmen angewendet wird. Peter F. Drucker’s oft zitierter Satz: „Es geht nicht nur darum, dass man die richtigen Dinge tut, sondern man muss die Dinge auch richtig tun.“, markiert den Beginn einer wertenden Linie in Unternehmen – es gibt Arbeitsschritte, die schaffen Mehrwert am Produkt und an der Dienstleistung und solche, die dies nicht tun. Plötzlich gab es zwei Flächen im Unternehmen, eine die die bevorzugte Bedeutung ‚wertschöpfend‘ erhielt und eine, die folglich nicht wertschöpfend war.

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Beschreibungen haben Folgen. Menschen, die sich in der Bedeutungsfläche ‚nicht wertschöpfend‘ wiederfanden, mussten sich nach ihrem Wert fragen – sie waren auf einen Strich Dienstleister*innen, Unter­ stützer*­ innen und eventuell verzichtbar, man konnte sie auch zukaufen. Der soziale Raum war neu ge­ staltet und mit ihm Bedeutung und Rang von Funktionen und Menschen. Ähnliches geschah mit dem Wort ‚Kernkompetenz‘, das eine Linie zog zwischen den Kompetenzen und das der einen Beachtung gab, der anderen Aufmerksamkeit nahm. Einige Kompetenzen waren mit einem Strich im Kern, andere plötzlich in der Peripherie. Das Papier, die Linie und die Fläche bleiben gleich, sie verändern sich kaum in der Zeit und eine Linie auf dem Papier ist immer wiederholbar. Wortlinien sind jedoch nicht zeitresistent. Sie wandeln sich, wie Zeiten sich wandeln. Auch wenn wir heute mit großer Entschiedenheit unsere Wortlinie ziehen und Bedeutung nach heutigem Wissen verteilen, so mag morgen das Bedeutungslose das eigentlich Bedeutsame sein. Zieht Linien und lasst den Blick auf beide Flächen ruhen – was heute unwichtig erscheint, mag morgen die Quelle von Neuheit sein.

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1.4 Haiku

ein lesezeichen grashalm fällt in meinen schoß fernes sommerglück

1.4 Haiku

wie das licht dich weckt glaubst der winter hat uns noch schneeglöckchengeläut

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1.5 Von Außen

„When people with privilege hear that they have privilege, what they hear is not, ‘Our society is structured so that your life is more valued than others.’ They hear, ‘Everything, no matter what, will be handed to you.You have done nothing to achieve what you have.’That’s not strictly true, and hardly anyone who points out another’s privilege is making that accusation.There are privileged people who work very hard.The privilege they experience is the absence of barriers that exist for other people.“ Mychal Denzel Smith

„Every time we choose safety, we reinforce fear.“ Cheri Huber

„When we are tired, we are attacked by ideas we conquered long ago.“ Friedrich Nietzsche

Kolumnentitel

2. Die soziometrische Dimension

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2.1 Einleitung

2.1 Einleitung Unternehmen bestehen immer auch aus Menschen, aus den formellen und informellen Beziehungen der Menschen untereinander, aus offiziellen und inoffiziellen Gruppen, aus Interaktionen, Gesprächen, Begegnungen. Beziehungsgestaltung ist so ein immerwährendes Thema. Bürokratische Formen versuchen das weite Feld dessen, was in Beziehungen geschieht, einzugrenzen. Es werden formelle Regeln vorgegeben, Prozesse definiert, Unter- und Überordnungen definiert und so versucht, das im Wesentlichen Emotionale der vielfältigen Beziehungen zu rationalisieren. Sachorientierung ist ein immer wiederkehrendes Mantra in Organisationen und die Suche nach der einen Methodik, die dieses emotionale Beziehungsfeld rationalisiert, kontrolliert und lenkbar macht, die kein Ende findet, aber auch kein Ergebnis. Zu einer meiner beeindruckenden Erfahrungen gehört das Experimentieren mit Morenos Konzept der Soziometrie. In Ausbildungsgruppen von Therapeut*innen wiederholten wir Morenos Gedanken, dass die Häufigkeit von Konflikten und Miss­ verständnissen sich reduzieren lässt, wenn man Menschen in den eigenen Wahlbeziehungen arbeiten lässt. Die Zuordnung zu Teams, Arbeitsgrup-

pen, Führungsgruppen geschah dann über Sympathie, über den Wunsch zusammen zu sein und nicht nach fachlichen oder anderen rationalen Kriterien. Dies ließ sich auch leicht auf Unternehmen übertragen und führte fast immer zu besseren Ergebnissen. Je höher man allerdings in die Hierarchie vordringt, desto schwieriger wird es, das Kriterium der Wahlbeziehung zur Geltung zu verhelfen – politische Überlegungen gewinnen hier meistens die Oberhand. Die Erfahrung war beeindruckend, weil sich zeigte, dass es keine rationalen Argumente sind, die eine gute und leistungsfähige Gruppenzusammenstellung gewährleisten, son­ dern emotionale. Blicken wir auf die neuen Arbeitsformen der agilen Transformation und auf die damit einhergehende Neudefinition der Führungsrolle, dann wird deutlich, dass das Beziehungsgeschehen in regel- und hierarchieentlasteten Organisationen erheblich intensiver, emotionaler wird. Wir sehen den Anstieg von Konflikten, die Zunahme von Unsicherheit und mangelnde Kompetenz mit der Emotionalität in Arbeitsbeziehungen umzugehen. Wir haben von der Rückkehr der Gruppendynamik gesprochen, die immer dann deutlich und befeuert auftritt, wenn formelle

2.1 Einleitung

Aspekte der Beziehungsregelung reduziert werden. Es wird gerne vergessen, dass die Autorität einer Führung auch schützende Aspekte hatte. Sollen die neuen Arbeitsformen, sollen Formen von New Work erfolgreich werden, dann ist es dringend nötig, dass Mitarbeiter*innen gruppendynamische Kompetenz erwerben – denn auch unbewusste, emotionale Prozesse lassen sich, wenn man ihrer gewahr wird, gestalten. Morenos Grundidee der Soziometrie bietet hier vielfältige Anregungen. Neben der gruppendynamischen Kompetenz geht es uns auch darum, zu verdeutlichen, dass die Beziehungsgestaltung Einzelner – das, was heute gerne mit dem Wort Empathie bezeichnet wird – gelernt werden kann und muss. Die von den neuen Führungskräften verlangten Fähigkeiten zur Empathie meinen dabei nicht die Fähigkeit zur Einfühlung in einen anderen – das ist unmöglich. Wir haben keinen direkten Zugang zum Anderen, wir können nicht in ihn hineinfühlen, wir sind auf Verständigung und Kommunikation angewiesen. Und dennoch können wir begreifen und nachvollziehen, was für die*den Andere*n wichtig, in diesem Moment und in diesem Kontext nötig ist. Die Methoden und Erfahrungsformen, welche wesentlich sind, um diese Kompetenz zu erwerben, haben wir szenisches Können genannt und sie ist ebenfalls von Moreno und

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seinen Überlegungen zur Soziometrie angeregt worden. Die Erlangung zu einem empathischeren Verständnis anderer hängt viel mit dem Reichtum sozialer Erfahrungen zusammen. Blickt man auf unsere Bildungslandschaft, dann sieht man einen großen Mangel an Elementen, die soziale Bildung fördern. Moreno hat in vielen Arbeitsformen vermittelt, wie durch ein szenisches Agieren, ein Ausprobieren sozialer Situationen, das Verständnis für einen anderen Menschen steigt. Wir fühlen uns nicht in die*den Andere*n ein, aber wir verstehen, in welchem szenischen Kontext sie*er wahrnimmt und handelt. Auch hier wird deutlich, dass sinnliche Erfahrung miteinander der eigentliche Zugang zu einem sozialen Lernen ist. In dem folgenden Kapitel geht es also um Anregungen, sich mit den Beziehungsdynamiken von Individuen und Gruppen zu beschäftigen. Anregungen, anderes auszuprobieren und schließlich zu verstehen, dass wir, wenn wir den Weg der Reduzierung von Regeln und Hierarchien weiter verfolgen, zugleich beginnen müssen, szenisches Können zu erwerben und so unsere soziale Kompetenz zu erhöhen. Wer an Morenos Konzepten Interesse hat, die*der sei auf das umfangreiche Schrifttum von R. Müngersdorff zum humanistischen Psychodrama verwiesen.

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2.2 Was macht es eigentlich so anders?

2.2 Was macht es eigentlich so anders? Soziale und psychodynamische Aspekte ­teamorientierter Organisationsformen

Was macht es eigentlich so anders? Die Frage wird immer dann gestellt, wenn die Strukturen einer projekt- und teamorientierten Organisation auf dem Papier eindeutig beschrieben sind, sich die Wirklichkeit der Kooperation jedoch ganz anders, zumindest unerwartet und oft fremdartig entwickelt. Ich möchte im Folgenden einige Ideen, Beobachtungen und Erklärungen entwickeln, die zumindest eine Teilantwort auf diese Frage geben können. Die wirtschaftliche und technische Welt verändert sich mit großer Geschwindigkeit. Unternehmen werden gezwungen, sich in immer schnellerer Folge den wechselnden Erfordernissen des Marktes anzupassen. Sowohl in der Außenwelt der Unternehmen (Marktveränderungen, Konkurrenz, kurze Produktzyklen etc.) als auch in ihrer Innenwelt (parallele Organisationsformen, interne Märkte etc.) erhöht sich die Komplexität. Immer deutlicher wird dabei: die funktional gegliederte, hierarchisch aufgebaute Organisation ist weder dem Tempo noch der Komplexität im Innen und Außen gewachsen. Neue Organisationsformen werden in den Unternehmen erprobt und leben bereits als Inseln in der tradierten Unternehmensstruktur. Zunehmend beginnen Unternehmen mit neuen Organisationsformen zu experimentieren. Kleinere teilautonome Einheiten, Team- und Projektstrukturen sind die Grundlage der meisten Experimente mit einer neuen sozialen Architektur der Unternehmen. Projektstrukturen, teilautonome Gruppen, Centerbildungen (im Großen die Gliederung nach selbständigen Geschäftsbereichen [business units] mit der Öffnung eines internen Marktes) werden teilweise eingeführt. Vielfach sind diese neuen Organisationsformen noch fremd in der mehrheitlich funktional, hierarchisch gegliederten Unternehmensrealität. Zugleich wird der wirtschaftliche und organisatorische Vorteil der neuen Strukturen sichtbar. In den Unternehmen bilden sich ambivalente Haltungen und in sich widersprüchliche

2.2 Was macht es eigentlich so anders?

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Orientierungen aus. So werden Projektleiter mit Teams in hochkomplexe Aufgaben geschickt, die sich nur in einer kooperativen, zielorientierten und selbstgesteuerten Abstimmungsform verwirklichen lassen, werden aber gleichzeitig streng hierarchisch, funktional orientiert geführt. In den Unternehmen bilden sich Kulturbrüche zwischen alt und neu, die in der Regel auf dem Rücken der Führungsverantwortlichen und Protagonisten in der neuen Ordnung ausgetragen werden. Nicht von ungefähr ist die Position des Projektleiters heute in vielen Unternehmen eine gesundheitlich besonders gefährliche Position. In allen von Synnecta begleiteten Prozessen der Einführung neuer Organisationsstrukturen, in denen abstimmungsintensive, sich weitgehend selbststeuernde Verfahren eingeführt werden, gibt es übereinstimmend zwei Phänomene, denen stets zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird Unklarheit darüber, was denn sozial und psychisch in den neuen Organisationsformen eigentlich anders ist. Eine eklatante Missachtung der spezifischen sozialen und psychischen Dramaturgie eines Übergangs. Ich möchte im Folgenden über diese beiden Punkte – in der gebotenen Kürze eines Vortrages – sprechen. Mein Ziel ist dabei, Verständnis für das ‚Andere‘ zu wecken, auf das Sie hinsteuern und mit dem Sie sich ständig zunehmend werden auseinandersetzen müssen. 1. Sie verlassen Sicherheit – das Wissen um die Spielregeln und die Klarheit zu wissen, was Sie als Reaktion auf die meisten Ihrer Handlungen erwarten können. Daraus resultierte in der geschlossen und einheitlich funktional, hierarchisch gegliederten Unternehmenswelt Verhaltenssicherheit und das Gefühl, an Ihrem Platz beinahe alles unter Kontrolle zu haben. Das geben Sie auf, für die zunächst vage Idee einer neuen sozialen Architektur Ihrer Organisation. In der funktional gegliederten und hierarchisch organisierten Ordnung von Unternehmen gibt es ein hohes Maß an Klarheit über Aufgaben, Beziehungen, Rechte und Nicht-Rechte. Sie ist überschaubar und sie ist geregelt. Struktur und Regeln bestimmen das Handeln – jeder weiß, was von ihm erwartet wird und was er von anderen erwarten kann. Diese Sicherheit ist in der Struktur selbst verankert. Mit Ihrer Zugehörigkeit erhalten Sie einen Platz und mit

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2.2 Was macht es eigentlich so anders?

ihm sind Rechte, Pflichten und Spielregeln gegeben. Struktur führt und gibt Sicherheit. Sie hat auch Nachteile, eine gewisse Enge, denn Sie müssen sich, um zugehörig zu sein, an die Regeln halten. Diese sind oft dominanter als Ihre eigene Kreativität, oft auch als die Umwelt (die sich schneller wandelt als das funktional und hierarchisch gegliederte Unternehmen) und schließlich zu oft bestimmender als die Erwartungen Ihrer Kunden. Die interne Sicherheit, Klarheit und Verlässlichkeit der Organisation (die oft ewige Zugehörigkeit verheißt) wird zu einem Nachteil – immer dann, wenn sich die Außenwelt schneller und qualitativ gravierender verändert als die Organisation. Das ist nicht nur die Folge der Größe des eigenen Unternehmens, sondern es ist eine Folge der Qualität der sozialen Ordnung funktional gegliederter hierarchischer Organisationen. Aber was ist die Alternative? Die neuen projekt- und teambezogenen Arbeitsformen auf der einen Seite und die Zerlegung großer Einheiten in kleinere ‚Center‘ mit wirtschaftlicher Erfolgsverantwortung sind die derzeitigen Antworten. Sie sollen die Organisation hin an die Grenze zum Kunden verlagern, die strukturellen Gesetztheiten der alten Organisation reduzieren und ihr dazu verhelfen, die externen Turbulenzen, die mit der beschleunigten Entwicklung der Außenwelt einhergehen, vorzeitig im Inneren der eigenen Organisation abzubilden, um so zumindest ebenso schnell wie die Umwelt, wenn möglich schneller als sie zu sein. Die Abstimmung in diesen Arbeitsformen verändert sich. Funktional bestimmte Grenzen, die Über- und Unterordnungsprinzipien der alten Hierarchien, die Delegation von Verantwortung nach oben oder zur Seite, die Kleinteiligkeit von Prozessverläufen etc. wird zugunsten von noch nicht erprobten und in vieler Hinsicht unbekannten Kooperationsformen und -strukturen aufgegeben. Die neuen Formen werden gewollt und vereinbart, aber sie sind noch nicht vertraut und sie sind fremd. Vom Standpunkt der bisherigen Organisation aus gesehen, wirkt die neue soziale Architektur des Unternehmens chaotisch – oft unberechenbar, konfliktreich – seltsam ungeregelt und ständiger Abstimmung bedürftig. Gleichgültig, welches Szenarium der Umgestaltung Sie auch wählen – immer machen Sie diese Erfahrung: die neue soziale Ordnung ist in sich ungebärdig, sie braucht viel Aufmerksamkeit und ständiges Überprüfen und Korrigieren eigener

2.2 Was macht es eigentlich so anders?

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Standpunkte, Empfehlungen und Anweisungen. Und immer wieder wird der Versuch gemacht, ein Szenarium zu entwickeln, das berechenbar, regelhaft und ordentlich verläuft, so wie in der alten Ordnung. Und genau das geht aber nur sehr bedingt. Die Freiheiten der neuen Organisation erzeugen gerade diese Turbulenzen und wo sie nicht auftreten, da sind sie in der alten Organisationsform verblieben. Dies allein schon macht es den Führungskräften schwer, sich auf das Andere der neuen Organisation einzustellen und Vertrauen in die neue Ordnung zu gewinnen. Es ist ein Gemeinplatz, dass die Führung und hier besonders die mittleren Führungsschichten, wesentlich für den Erfolg der Umorganisation verantwortlich sind. Sie werden diffamiert mit Begriffen wie ‚Lähmschicht‘, sie werden für das Nicht-Gelingen verantwortlich gemacht. Seltener wird die tatsächlich schwierige Lage, in die die Führung mit der Umorganisation gerät, gesehen. Dabei denke ich nicht daran, dass sie in allen Konzepten der ‚kleinen Einheiten‘ und Integration von Führungsaufgaben zurück an den Handlungsort eine eher gefährdete Kaste sind. Auch in den neuen Organisationsformen wird Hierarchie nicht aufgelöst – sie wird anders verstanden und ist für die Führung der Organisation weiterhin wesentlicher Teil der sozialen und strategischen Orientierung. Ich denke an die immens schwierige Lage der mittleren Führung, ein Konzept umsetzen zu sollen, über dessen Hintergründe und der sich dadurch gravierend verändernden sozialen Realität sie kaum unterrichtet sind – ihnen gleichzeitig aber die Verantwortung für das Gelingen zugeschoben wird, wobei das Maß nicht die soziale Umorganisation ist, sondern wie bisher die relevanten Kennzahlen, seien es die der Produktivität, wirtschaftlicher Erfolgsrechnung oder was auch immer. Hier liegt es nahe, sich innerlich eher an die Konzepte zu halten, die bewährt sind und in denen Sie gelernt haben, zu führen. Also klassische Führungskonzepte im Rahmen der alten sozialen Ordnung nach der Sie selbst schließlich auch weiterhin geführt werden. Sie stehen in der Position, nach unten anders führen zu sollen, als Sie selbst oft noch geführt werden. Die Kritik also ist billig zu haben. Um das Neue tatsächlich aufnehmen und umsetzen zu können, benötigen Sie einen Raum des Zögerns, in dem Sie sich ihm annähern, in dem Sie mit dem, was da geschieht, Erfahrungen sammeln können. Zögern ist eine der wesentlichen Bedingungen, um Neues

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2.2 Was macht es eigentlich so anders?

wahrnehmen und akzeptieren zu können – im Zögern machen Sie sich selbst mit dem Neuen vertraut und integrieren es in Ihre Vorstellungen und Orientierungen. Insofern gehört ein retardierendes Moment, ein Voranschreiten wie in einer Springprozession zu den Begleiterscheinungen der Einführungsphasen. Um sinnvoll zögern zu können, brauchen Sie ein Feld, in dem Sie mit den Möglichkeiten der neuen Orientierungen experimentieren können – auf dem Sie sich auf das jeweils andere einlassen können. Zögern und das Ertasten der Möglichkeiten, die in teamorientierten, sich teils selbststeuernden Organisationsformen enthalten sind, erfordert Bilder, Metaphern und Vorstellungen, mit denen Sie das Geschehen beschreiben und begreifen können und die zu sagen vermögen, was nun sozial anders ist als zuvor. 2. Ein Bild und Vergleichspunkt für soziale Strukturen, für uns oft Vor- oder Leitbild, ist die Familie. Wir alle leben in, zumindest mit Familien. Und wir alle erleben, dass sich Familie in den letzten Jahren verändert hat. Die Art dieser Veränderung kann uns einen Begriff auch für die Veränderungen der sozialen Geschehnisse in unseren Unternehmen geben. Die klassische, patriarchalische oder bürgerliche Familie hatte eine feste Struktur. Es gab die Eltern (manchmal waren Großeltern die beherrschende Generation), die das Sagen hatten. Sie verfügten über die finanziellen Mittel und das Recht zu bestimmen, nach welchen Kriterien, Moralvorstellungen und Ritualen das Zusammenleben gestaltet werden sollte. Unter dieser Ebene der Herrschaft, in der die Rollen (Funktionen) zwischen Vater und Mutter aufgeteilt waren (und zwar so, dass die Verfügungsbereiche klar getrennt waren), befand sich die Ebene der Kinder. Diese hatten ein eigenes Feld, in dem sie handeln konnten. Auf den ersten Blick war alles geregelt. Es gab klare Spielregeln und Sanktionen. Auf den zweiten Blick wird sichtbar, dass es auf jeder Ebene einen großen Raum für ein eher geheimes, eigenes Leben gab, in dem die offiziellen Regeln gebrochen wurden und sich informelle Orientierungen ausbildeten. Dieser Raum war den jeweils anderen verschlossen. Die Ebenen waren streng getrennt, die jeweiligen Funktionen, Pflichten und Rechte beschrieben (in der Regel durch Tradition) und für das Zusammentreffen der Ebenen gab es klare Verhaltensvorschriften.

2.2 Was macht es eigentlich so anders?

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Und die waren nicht unbedingt durch Offenheit oder Klarheit bestimmt und schon gar nicht im Sinne einer Gleichheit und Symmetrie gebildet. Die Verhältnisse waren komplementär aufgebaut. Symmetrie, Wettkampf und Auseinandersetzung fand primär auf der jeweils eigenen Ebene statt – in Peergruppen aller Art. Die Struktur war fest und dominant, vor jedem Inhalt. Das gab diesen Familien eine hohe Stabilität und Verlässlichkeit, solange sich an die Regeln gehalten wurde. Sie verhießen ewige Zugehörigkeit auf seinem Platz, den man durch den natürlichen Prozess des Älterwerdens wechseln konnte (Alte starben, Junge wurden Väter oder Mütter etc.). Für diesen Wechsel gab es Rituale, nach denen man in gewisser Weise jemand anderes war und neben dem Gewinn der neuen Position den Verlust der alten Zugehörigkeiten ertragen musste. Man gehörte dazu – selbst wenn man eine alte Jungfrau oder ein eher komischer Onkel wurde, man hatte seinen Platz in der sozialen Struktur dieser Familien und damit auch eine beschriebene und verlässliche Rolle. Diese Strukturdominanz gab eine große Sicherheit. Sie war stabil und änderte sich nur langsam. Verhalten musste nicht ständig abgestimmt und diskutiert werden. Es war stets schon gesetzt, was zu tun und was zu lassen war. Neben der Enge (oft Verlogenheit und Ignoranz), war die geringe Anpassungsfähigkeit dieser Familienform an Veränderungen der Außenwelt (teilweise auch der Entwicklungen in der Innenwelt z.B. der Heranwachsenden) ein Nachteil – sie konnten mit den nach Innen getragenen Veränderungen der Umgebung nicht umgehen. So war das Funktionieren dieser Familien auf eine stabile Umwelt ausgerichtet, die sich nur langsam veränderte. Sie war eine konservative Form für eine konservative Umwelt. Äußeren Turbulenzen war sie intern nur selten gewachsen. Aus organisationstheoretischer Sicht könnte man sagen, die Stabilität, Verhaltenssicherheit, Orientiertheit und Aufgehobenheit in diesen Familien beruht auf ihrer klaren Hierarchie der Unter- und Überordnung und ihrer Funktionalisierung, also den Merkmalen der klassischen Unternehmensorganisation. In ihr gab es typische Probleme, die das System in Frage stellten. Die externen Probleme – die Veränderungsgeschwindigkeit der Umwelt, die in die Familien hineingetragen wird, auch da wo sie sich gegen die Außenwelt stark abgeschottet haben, sind schon benannt worden. Es gab auch typische interne Regelungs- oder Führungsprobleme.

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2.2 Was macht es eigentlich so anders?

Eine Schule der Familientherapie hat die Durchmischung der Ebenen in einer so aufgebauten sozialen Struktur als einen der wichtigen Gründe für Orientierungsschwierigkeiten und Verhaltensabweichungen beschrieben. Eine Durchmischung der Ebenen ist z.B. die Bildung einer Koalition zwischen der Mutter und einem Kind gegen den Vater (oder umgekehrt). Hier werden Themen, Konflikte oder Unterschiede, die zwischen den Eltern als Partner bestehen, in die Ebene der Kinder getragen und die Kinder werden in eine Auseinandersetzung einbezogen, die nicht in ihre Ebene gehört und die von ihnen auch nicht gelöst werden kann. Das Ergebnis ist jeweils eine schwierige Lage für das Kind. Denn gleichgültig, was es tut, es bricht Regeln, Loyalitäten und kann in es gesetzte Erwartungen nicht erfüllen. Die Durchdringung der Ebenen bei gleichzeitigem Erhalt der Regeln und Rituale der unterschiedlichen Bedeutungen, Funktionen und Rechte der Ebenen schafft ein Feld, in dem Orientierung und Verhaltenssicherheit fast unmöglich werden. Das Verhalten der so eingespannten Kinder wird ‚verrückt‘.

2.2 Was macht es eigentlich so anders?

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Viele Führungslehren haben sich dieses Modell zu eigen gemacht. Ihre zentrale Regel heißt: ‚Halte die Ebenen auseinander, koaliere nicht mit der tieferen Ebene gegen einen Peer deiner Ebene. Bekenne dich dazu, in der Struktur an einem anderen Platz zu stehen‘. Wird das nicht eingehalten, so verliert die (hierarchisch, oft patriarchalisch orientierte) Struktur der Organisation ihre Klarheit, die durch die eindeutige Funktionsteilung (in der Familie zwischen Vater und Mutter) unterstützt wird. Mitarbeiter werden, wird die Trennung nicht aufrechterhalten und die jeweiligen Rechte und Pflichten der Ebenen nicht sauber auseinandergehalten, eher desorientiert – wie Kinder kommen sie in ein schwieriges Verhaltensfeld, in dem sie, egal wie sie handeln, gegen Regeln, Absprachen und Rituale, von denen sie selbst abhängig sind, verstoßen. Sie beginnen, sich taktisch, vorsichtig absichernd zu verhalten oder aber gar ‚verrückt‘. Verrückt meint hier, dass Machtspiele, zu denen Schutzspiele gehören, wichtiger und verhaltensleitender werden als der offizielle Zweck der Organisation. Diese Orientierungen in einer bürgerlichen Familie oder einer funktional gegliederten hierarchischen Organisation sind sehr unterschieden von den Orientierungen, die in einer modernen jungen Familie heute oder einer projekt- und teamorientierten Organisation benötigt werden. Mit der Struktur verändert sich das Verhaltensfeld und es werden andere Fähigkeiten von allen Beteiligten verlangt. Und dies gilt besonders für diejenigen, die in der alten Struktur die Position der Macht besetzt hatten, denn von ihnen wird im Übergang die deutlichste Veränderung verlangt. Viele, gerade junge Führungskräfte, experimentieren (nicht immer freiwillig) mit diesem Übergang in ihrer eigenen Familie. Die Partner und die Kinder lassen sehr oft ein Leben in den Regeln und Gebundenheiten der bürgerlichen Familie nicht mehr zu. Was wird dort anderes von Ihnen verlangt? Zunächst scheint die Hierarchie der Ebenen – ähnlich wie in den Unternehmen – noch nicht aufgelöst zu sein. In der Familie bleibt sie – zumindest solange die Kinder klein und in die Angewiesenheit auf die Eltern noch gänzlich eingebunden sind. Aber die fraglose Anerkennung der Autorität, die in der Ebenendifferenz strukturell verankert ist, schwindet schnell. So hat sich selbst in der Grundstruktur der Familie etwas geändert. Die Autorität des Vaters (und damit die Macht oder das Entscheidungsrecht über das, was ist und

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2.2 Was macht es eigentlich so anders?

sein soll) ist nur noch teilweise mit der Rolle gegeben, der andere und zunehmend größere Teil muss verhandelt, vereinbart und gerechtfertigt werden. Nicht mehr die Position in der sozialen Struktur legitimiert die Autorität, sondern der Konsens aller Beteiligten, dass jemandem die Autorität zukommt und man sich ihr für eine definierte Situation unterwirft. Dies gilt in weniger ausgeprägtem Maße auch für die Rolle der Mutter. Die Rollen und ihre Beziehungen müssen besprochen und vereinbart sein und dies immer wieder neu, angepasst an die sich verändernden Bedürfnisse, Entwicklungsstadien der Mitglieder und an die in der Familie verhandelten Außeneinflüsse. Die Beziehung zwischen Frau und Mann, die an und für sich schon in ihrer Rollendifferenzierung offener geworden ist, muss nun gerade auch in Bezug auf die gemeinsame Elternrolle miteinander besprochen und vereinbart werden. All das erhöht den Ab- stimmungsbedarf innerhalb der Familie. Kommunikation, Auseinandersetzung, Kooperation, Streit und sorgsames, aufmerksames Miteinandersein wird zu einer wichtigen Aufgabe der Familienmitglieder. Familie ist so nicht mehr nur gegeben (was sie oft noch biologisch und rechtlich bleibt), sondern sie muss (sehr viel mehr als in einer bürgerlichen Familie) gestaltet und gelebt werden. Die Veränderung der Ebenendifferenzierung mit der Notwendigkeit einer anderen Legitimation von Autorität und Entscheidungsbefugnis verweist auf den Verlust der Strukturdominanz in einer Familie, sie ist nicht mehr nur gesetzt, sondern organisiert sich selbst aus ihrer geteilten Kommunikation, bringt sich durch Vereinbarungen, miteinander teilen und konsensuelle Beschreibung der gemeinsamen Wirklichkeit in ihre familiäre Existenz. Vergleichbar zu dieser Situation verändert sich auch die Aufgabe einer Führungskraft in einem eher team- und projektbezogen organisierten Unternehmen. Bei allen Veränderungen im Unternehmen wird die hierarchische Ebenendifferenz nicht grundsätzlich in Frage gestellt, nur die Art und Weise ihrer Gestaltung, ihrer Rechtfertigung und schließlich ihre Situations- und Aufgabengebundenheit ändert sich. Die Arbeitsteiligkeit, die Zuweisung der erforderlichen Managementaufgaben in die Führungsebenen, die Vereinbarung der Spielregeln und die Definition der jeweilig der Außenwelt angemessenen zentralen Rolle, die die gemeinsamen Aufgaben als Mitte des Miteinanders erhalten, sind Ergebnisse von Vereinbarungen und leben vom Kooperationswillen und der Kommunikations-

2.2 Was macht es eigentlich so anders?

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fähigkeit der Beteiligten. Es ist nicht mehr die Struktur- und Funktionsdifferenzierung, die für den Vollzug von Entscheidungen ausschlaggebend ist, sondern die diskutierte Sinnhaftigkeit des gerade gewählten Handlungsszenariums, in dem dann Ebenendifferenzierungen ein Element sein können. Autorität als Ergebnis fraglos hingenommener Positions- oder Strukturmacht, die im hierarchischen Denkmuster der Über- und Unterordnung arbeitet, ist obsolet. Wie in der Familie steigt hierdurch die Notwendigkeit der Abstimmung, des Vereinbarens, des Palavers – und damit der Zeitbedarf für Kommunikation. Und wie in der Familie ist es eine neue und wesentliche Aufgabe der Führung, die Menge der verarbeiteten Information im Sinne der Ziele des Unternehmens zu reduzieren und nach qualitativen Kriterien in ihrer Relevanz zu bewerten. Wenn ein Kind mit anderen Kindern gemeinsam Sport treiben möchte, macht es keinen Sinn, mit ihm die Menge aller möglichen Sportarten mit ihren jeweiligen sozialen Aspekten zu diskutieren – sondern wenige, überschaubare Möglichkeiten zur Auswahl zu stellen. Hier lauert eines der großen Probleme der neuen sozialen Ordnung: die Überforderung der Protagonisten durch die Komplexität und die schiere Menge der Informationen und der fast unbegrenzten Möglichkeiten, alternative Szenarien zu entwickeln. Eine der wichtigen Aufgaben der Führung in Unternehmen und Familien wird die sinnhafte Reduktion verfügbarer Informationen und Handlungsoptionen sein, sowie der Gewinn von Vertrauen in die von ihnen angelegten Maßstäbe. Was ist der Mittelpunkt einer modernen Familie, die wir um uns herum überall so fragil erleben? Die Scheidungsraten steigen weiter, es gibt immer mehr Alleinerziehende, Familien haben oft nur noch wenig geteilte Gemeinsamkeit, auch wenn sie noch zusammen wohnen, alte Menschen leben isoliert oder in Einrichtungen außerhalb der Familien. Es scheint, als gelänge es uns nur unter Schwierigkeiten einen attraktiven Mittelpunkt zu bilden, der die Gemeinschaft trägt und in dem Rollendifferenzierungen möglich werden, die es erlauben, die gemeinschaftlichen und die individuellen Ziele zu erreichen. Die Kreation einer miteinander geteilten Mitte, sei es durch die Gestaltung gemeinsamer Interessen, das Teilen gemeinsamer Erlebnisse oder die Ausbildung von Ritualen, in denen Zugehörigkeit erfahren werden kann, ist einer der wesentlichen Prozesse, die eine Familie heute zu einer Familie machen. War früher die

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2.2 Was macht es eigentlich so anders?

gemeinsam verbrachte, gestaltete Zeit eher begrenzt, so verbringen wir heute möglichst viel Zeit mit den Kindern in der Familie. Wochenenden müssen gestaltet sein, in ihnen soll Gemeinschaftlichkeit erlebt werden. Die Ebenen werden nicht mehr streng getrennt – wir sind mit der Schaffung einer gemeinsamen Erlebniswelt beschäftigt. Später fällt es uns schwer, gegen andere mögliche Erlebniswelten der Kinder zu konkurrieren. Und wir spüren, wie herausfordernd und anstrengend dieses Konzept von Gemeinsamkeit ist. Gemeinsamkeit ist nicht mehr primär eine Frage der Zugehörigkeit zu einer Struktur – einen Platz oder eine Position zu haben – sondern eine Frage der Fähigkeit, in Bezug auf Aufgaben und Ziele eine Situation zu gestalten, in der kooperativ an gemeinschaftlichen und individuellen Zielen gearbeitet werden kann und in der entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse miteinander gelebt werden kann. Dies gilt für Familien und im besonderen Maße für Gruppen, die als temporäres Team zusammenarbeiten bzw. alle Organisationsformen, in denen die Dominanz der Struktur durch die Dominanz von Ereignissen, Erlebnissen und gemeinsamen Aufregungen ersetzt worden ist. So brauchen die Familien und die neuen Organisationsformen eine hohe Kunst zur Gestaltung dieser bindenden Mitte. Immer da, wo die Attraktivität dieser Mitte schwächer wird als Attraktionen im Außenfeld, wird die Dichte der Gemeinschaftlichkeit geringer – Kinder verlassen die Familie, Teammitglieder orientieren sich hin zu anderen Aufgaben – die Festigkeit der gegebenen sozialen Ordnung wird aufgeweicht, um sich um neue Attraktionen herum neu zu bilden. Die neuen sozialen Formen sind fragiler, sie geben wenig Sicherheit, es sei denn in einem attraktiv gestalteten Austausch. Es gehört viel Aufmerksamkeit dazu, sie stabil zu halten. Der schnellere Wechsel von einer sozialen Zugehörigkeit zu einer anderen wird zunehmen – Beständigkeit nimmt ab, mit der Gefahr des Verlustes von Kontinuität und Sicherheit. Der Vorteil liegt auf der Hand: die deutlich stärkere Außenorientierung und die Möglichkeit, sich schneller auf Veränderungen einzustellen und die Einbeziehung aller Beteiligten in die Entscheidungsprozesse. Die größten Vorteile aber sind die zunehmenden Freiheitsgrade für den Einzelnen und für die Teile der Organisation – die gesamte Organisation beginnt zu lernen – miteinander, voneinander und sie entwickelt so ein hohes Maß an Kreativität und Beweglichkeit. Dank der Außenorientierung sind ist sie tendenziell näher an den Erwartun-

2.2 Was macht es eigentlich so anders?

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gen der Kunden als an internen Gegebenheiten ausgerichtet. Dies geht aber einher mit allen Begleiterscheinungen eines kommunikationsintensiven Miteinanders: Palaver, Konflikte und Ambivalenzen. Vom Standpunkt einer regel- und strukturorientierten Organisation aus gesehen: eher chaotisch. Ich denke, damit ist ein Teil der Aufgaben und der Schwierigkeiten beschrieben, die auf die Führungen in den neuen Organisationsformen warten. Sie werden in ihrem Feld strategisch Kriterien vorgeben, nach denen Informationen ausgewählt und gewertet werden und sie werden operativ vor allem ‚große Kommunikatoren‘ sein müssen, die trotz der Reduktion struktureller Positionsmacht, Mitarbeiter zu einem gemeinsamen Handeln und der Ausbildung einer tragenden Mitte für die nur in Kooperationsbeziehungen zu bewältigenden Aufgaben bewegen können. 3. Ich habe es schon oben erwähnt, Führungskräfte, die aus der Eingebundenheit in eine hierarchisch, funktionale Organisation mit der Aufgabe betraut sind, eine projekt- und teambezogene Organisationsform einzuführen und in ihrer Entwicklung zu begleiten, geraten in ein Feld widersprüchlicher Orientierungen und treffen auf Formen der sozialen Abstimmung, die sie im besten Fall aus der konsensorientierten Kultur ihrer Familien kennen. Es gehört ein hohes Maß an Abgeklärtheit dazu, bei einer solchen Aufgabe die Erfordernisse beider Kulturen zu akzeptieren und im eigenen Handeln zu versöhnen. Da die Einführungsaufgabe oft eher jungen Führungskräften aufgetragen wird, wäre es naiv, von ‚Abgeklärtheit‘ auszugehen. Es ist deshalb notwendig, sich mit der Gestaltung des Übergangs intensiv zu beschäftigen und sich gegenseitig einzugestehen, dass man von dem, was sozial nun verlangt wird und wie man im Sinne der neuen Orientierungen auf das Verhalten anderer wird reagieren müssen, recht wenig weiß. Eine Organisation, die sich auf den Weg der Veränderung gemacht hat, sollte sich Räume schaffen, in der miteinander an den neuen sozialen Abstimmungsformen gearbeitet werden kann – in der man Erfahrungen mit der neuen Situation sammeln kann und in der Zweifel, Zögern und Unglauben erlaubt und erwünscht sind. In diesen Prozessen der zögerlichen Annäherung bilden sich Erfahrungen, die, gemeinsam geteilt, die Grundlagen für die Beschreibungen, Definitionen und Kontext-

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2.2 Was macht es eigentlich so anders?

klärungen geben, welche eine spätere, der eigenen Kultur angepasste Umgestaltung der Arbeits- und Organisationsrealität möglich macht. Eine Erfahrung werden Sie alle gemeinschaftlich machen – Sie können die Zeit im Rahmen der Technik, der Entwicklung und der Produktionsabläufe beschleunigen – die soziale und psychische Zeit bleibt dieser Beschleunigung gegenüber resistent – Menschen, die ihre Orientierungen und ihr Verhalten ändern, benötigen eine verlangsamte Zeit. Beschleunigung auf der einen und Verlangsamung auf der anderen Seite zugleich ist eine der persönlich herausforderndsten Führungsaufgaben in den künftigen Organisationsstrukturen.

Nachtrag Strukturdominant: Mein Platz in der Architektur der sozialen Ordnung bestimmt meine Möglichkeiten und meine Grenzen. Kriterien der Unter- und Überordnung und der Funktionsaufteilung (Trennung der Einflussbereiche) schaffen Differenzierungen, die nicht verhandelt werden, sondern gegeben sind (Tradition). Sie werden symbolisch vermittelt (der Vater sitzt am Kopfende). Macht und Ohnmacht ist durch die Position strukturell zugeordnet.

Die bürgerliche Familie oder die Merkmale der klassischen Organisation eines Unternehmens

Stabil: Es gibt eine hohe Stabilität, die Ordnung steht. Das Geschehen hängt nicht von Absprachen ab, die stets erneuert werden müssen, sondern von in der Struktur verankerten Regeln. Diese sind tradiert und bedürfen keiner Diskussion. Wer an ihnen zweifelt, stellt die gesamte Ordnung in Frage. Die Stabilität wird durch Sanktionen geschützt. Veränderungen geschehen so langsam, dass sie kaum als Veränderung wahrgenommen werden. Hier wird nicht lange geredet, sondern gehandelt – nach der Regel ‚so wie immer‘. Sicher: In ihrer Stabilität und klaren Orientierung entlastet diese Ordnung den Einzelnen. Viele Entscheidungen sind schon – durch die gesetzte Ordnung – getroffen. Das gibt Sicherheit und vermittelt Aufgehobensein. Die Bindung mag manchmal drückend sein,

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2.2 Was macht es eigentlich so anders?

aber sie sichert und gibt jedem seinen Platz. Mit der Zugehörigkeit gibt es auch so etwas wie einen Versorgungsanspruch, den die Mächtigen des Systems erfüllen müssen. Auch das entlastet. Die Verantwortung ist zu einem Teil an das System abgegeben worden. Konfliktreduziert: Nicht, dass es nicht Streit, Ärger und Wut geben würde – natürlich hat auch diese Familie ihre Auseinandersetzungen und emotionalen Turbulenzen. Sie bestimmen die Stimmung, nicht aber die Entscheidungen und die Regeln. Es sind emotionale Protuberanzen, das System selbst bleibt stabil. Konflikte – als auszuhandelnde Differenzen, in denen jeweils wesentliche Gesichtspunkte einer Problemlage erfasst werden, gibt es wenig, weil die Entscheidung über Differenzen in den Kriterien der Struktur geregelt ist. Die Konfliktbewältigung geschieht durch den Rekurs auf traditierte Normen, durch die funktionale Aufteilung von Entscheidungsbereichen und durch die Verteilung der Bestimmungsmacht nach oben. Was vom Konflikt bleibt, sind die emotionalen Anteile, die eher hilflos ausagiert werden, aber in den Entscheidungen des Systems eine nur geringe Rolle spielen. Die Furcht, die wir oft vor dem Austragen von Konflikten haben, mag an der Erfahrung liegen, dass wir die emotionale Energie eines Konfliktes zu oft als hilfloses Agieren der entwerteten Träger eines Standpunktes kennengelernt haben. Innenorientiert: Strukturdominanz, Regelorientiertheit und Stabilität dieses Familientyps bringt eine hohe Innenorientierung mit sich. Man ist mit sich selbst beschäftigt. Die eigene Ordnung und die Orientierung an internen Regeln ist wesentlicher als die Anpassung an äußere Entwicklungen. Die Familien haben relativ starre Grenzen, die das Außen vom Innen trennen. Durchlässigkeit wird nicht gewünscht und oft als bedrohlich erlebt. Damit sinkt die Anpassungsfähigkeit an Veränderungen in der Außenwelt und an die durch Außenkontakte nach Innen getragenen Fremdeinflüsse. Die Familien werden rigide und starr. Externe Geschehnisse werden nur mehr begrenzt wahrgenommen. Mit der starken Innenorientierung sorgt die Familie dafür, jederzeit ihre Identität zu wahren – sie weiß sich immer als zusammengehörig. Sie verliert den ”Blick des Anderen“, den sie für eine umweltorientierte Anpassung interner Strukturen benötigen würde.

2.2 Was macht es eigentlich so anders?

Erlebnisdominant: Das Zentrum der Familie ist dasgemeinsame Erleben, die geteilten Aufregungen und Interessen. Wie in einer Gruppe muss immer wieder ein gemeinsames Zentrum geschaffen werden, in dem man sich als zugehörig und gemeinschaftlich fühlen kann. Lässt die Erlebnisdichte, die miteinander geteilt wird, nach, verliert die Familie an Zugehörigkeit und Bindung – ihre Identität wird instabil.

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Die bürgerliche Familie oder die Merkmale der klassischen Organisation eines Unternehmens

Instabil: Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Aufgaben- und die Machtverteilung werden ständig diskutiert und neu vereinbart. Die Mitglieder der Familie sind in einem dauernden Austauschprozess über die gerade geltende Ordnung und über die Kriterien, nach denen in dieser Ordnung entschieden werden soll. Die gegenseitigen Bedürfnisse nach Ruhe, Geborgenheit und Entlastung müssen als Teil der konsensuell vereinbarten Regeln ausgehandelt werden. Rechte und Pflichten werden je nach Situation der Familie (orientiert an den internen und externen Veränderungen) verteilt. Solange die Kinder klein sind, bleibt eine Dominanz des Elternsystems erhalten, die sich jedoch mit dem Heranwachsen der Kinder deutlich reduziert. Auch zwischen den Ebenen gibt es nun einen ständigen Klärungsbedarf. Dabei gibt es jederzeit die Chance, sich von dem System zu trennen (als eher starre Streben der Stabilität dienen finanzielle Abhängigkeiten). Die Familie definiert sich permanent neu. Sie ist gegenüber der Außenwelt offen – eine hohe Außenorientierung der Mitglieder trägt die Erfahrungen der Umwelt in die Familie hinein. Teilnehmer der Familie verlassen sie, wenn die Erlebnis- und Kontaktdichte zu anderen Gruppen dichter wird als zur eigenen Familie. Die alte Rollensicherheit und langfristig angelegte Orientierung gehen so verloren. Unsicher: Erlebnisorientierung und Instabilität mit der Eingebundenheit in Auseinandersetzungen über die jeweils gültigen Regeln belasten die Teilnehmer. Sie tragen gemeinsam eine hohe Verantwortung für das Gelingen der Gemeinschaft. Projektionen in die Zukunft sind strukturell nicht abgesichert, sie sind eher Willenserklärungen und von vielen Variablen abhängig, die nicht übersehen werden können.

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2.2 Was macht es eigentlich so anders?

Konfliktreich: Die Identität der Familie, ihre Regeln und die gegenseitigen Erwartungen sind vom Austausch der jeweiligen Standpunkte abhängig. Da die Familien eine hohe Außenorientierung haben, fließen jeweils Erfahrungen der Außenwelt in diesen Austauschprozess mit ein. Differenzen treten auf, die zu einer gemeinsamen Orientierung hin ausgeglichen werden müssen. So werden Konflikte als Teil dieser Kooperations- und Vereinbarungsprozesse Normalität. Innen- und Außenorientierung muss in ihrer Wertigkeit in ein Gleichgewicht gebracht werden, Gesamtinteressen mit partikularen Interessen vereinbart werden. Da die Durchsetzungskraft von gegebenen Normen und tradierten Regeln sowie der gesetzten Ordnungen nachlässt, können nur Vereinbarungen zu gemeinsamen Regeln der Zusammengehörigkeit und damit zu einer Identität führen. Außenorientiert: Die Familien sind sehr viel stärker außenorientiert als die bürgerliche Familie es war. Die Zugehörigkeit aller Beteiligten zu unterschiedlichsten Peergroups trägt permanent Haltungen, Erlebnisse, Wertungen und Normen der Außenwelt in die Familie. In ihr werden die ‚Blicke der Anderen‘ verhandelt. Die Außenerfahrungen werden durch Austausch, Konflikt und Streit in die eigene familiäre Identität integriert. Solange dieser Integrationsprozess gelingt, bildet sich ein stabilisierender Ausgleich zwischen Innen- und Außenorientierung. Wo die Außenorientierung überwiegt, ist die Identität und damit die Existenz der Familie als gemeinsames Lebenssystem gefährdet. Es ist die Aufgabe der Eltern, dafür Sorge zu tragen, die Menge und die Qualität der aus der Umwelt aufgenommenen ‚Daten‘ zu regulieren, damit sie intern sinnvoll verarbeitet werden können. Insbesondere sind diese ‚Daten‘ so zu reduzieren, dass genügend Zeit und Raum für die intensive Beschäftigung mit dem gemeinsamen Leben bleibt. Das Management der Außenbeziehungen und der Informationsverwertung wird zu einer wesentlichen Aufgabe der Eltern oder – übertragen auf den Unternehmenskontext – der Führungskräfte. Die hohe Außenorientierung macht die Familie an Veränderungen anpassungsfähig, solange sie die internen Vereinbarungsprozesse sorgsam steuert und für ein stabiles, erlebnisreiches Zentrum sorgt.

2.2 Das erneuerte Kaizen

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2.2 Das erneuerte Kaizen Ein Positionspapier zur Renaissance des Kaizen

1. Das vergessene Kaizen Kaizen als lebendige Form, miteinander an der Verbesserung der Organisation zu arbeiten, verfällt. In Projekten gestaltete Veränderungsinitiativen dominieren in den Unternehmen. Kaizen selbst ist methodisch nur wenig weiterentwickelt worden und wirkt verstaubt. Ist das ein Verlust? Kaizen war mehr als ein Verbesserungsprozess in kleinen Schritten, der verlustfrei durch effektivere Projektmethodiken ersetzt werden kann. Kaizen beschrieb eine Gemeinsamkeit im Unternehmen, in der alle an der Entwicklung teilhatten. Es stiftete eine Gemeinschaft mit Zielen, es gestaltete eine Verantwortungsgemeinschaft, die orientiert war. Das ist verloren gegangen. Der Rückgang von kaizenorientierten Arbeitsformen in Unternehmen ist ein Verlust. Die Folgen lassen sich schon heute an den zunehmenden Qualitätsfehlern ablesen. Kaizen, sorgfältig angelegt und konsequent entwickelt, hält ein Unternehmen zusammen, gibt ihm Orientierung und ermöglicht zielgerichtetes Arbeiten auf allen Ebenen. Im Folgenden werden einige der Entwicklungen, die Kaizen betreffen, kurz dargestellt und es wird beschrieben, welche Rolle Kaizen in einem state of the art Unternehmen heute spielen kann. Top-down getriebene Veränderung 1.1 ProjektorientierKaizen lebt von der Beteiligung, es beschreibt gete Veränderungs­ meinsame Verantwortung, gibt gemeinsame Ziele, initiativen – eine zeigt Wege zur Beteiligung auf und öffnet GestalB ­ estandsaufnahme tungsmöglichkeiten für Viele. Es ist die Arbeitsform in einer Gemeinschaft, in der alle in ihren jeweiligen Rollen ihre Verantwortung wahrnehmen. Sie macht das Wohl des Unternehmens zu einem Ziel der gemeinsam arbeitenden Gemeinschaft. Kaizen stiftet oder nutzt diese Gemeinschaft in ihrer Gegenseitigkeit. Da Kaizen die Vielen braucht, benötigt es ausgeprägte Kommunikation, intensive Vermittlung der Unternehmensziele und

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2.2 Das erneuerte Kaizen

Raum für Gestaltung. In ihm müssen sich Mitarbeiter*innen als wirksam erleben. Das alles macht einen bottom-up Ansatz aus. Dies heißt zugleich, Kaizen ist kein Projekt – es ist eine Logik, in der ein Unternehmen mit seinen Mitarbeiter*innen ohne Zeitbegrenzung arbeitet, es hat nie sein Ziel erreicht, sondern lebt von der Wiederholung und dem stetigen Anpassen der Ziele und es braucht selbst kontinuierliche Betreuung. Derzeit sind in den Unternehmen top-down gestaltete Veränderungsinitiativen die Regel. Sie sind, wenn es um grundsätzliche Veränderungen geht, in denen Geschwindigkeit und Einheitlichkeit eine große Rolle spielen, unverzichtbar. Sie vermitteln zugleich in der Führung das Gefühl, schnell und wirksam in die Organisation eingreifen zu können. Stimmt die Projektorganisation, sind sie wirksam und verändern nachhaltig. Sie stehen zu Kaizen in keinem Widerspruch und doch nehmen sie ihm alle Aufmerksamkeit der Führung. Wir können beobachten, dass die Fülle und die Frequenz der top-down Initiativen zunehmen. Sie nehmen mehr und mehr Aufmerksamkeit immer breiterer Führungsgruppen in Anspruch und parallel dazu lässt die Aufmerksamkeit für Kaizen orientierte Arbeit nach. Als Folge dieser Entwicklung beginnt die Kaizenkultur zu verfallen. Dieses Phänomen wird auch innerhalb der top-down gestalteten Initiativen gesehen – es zeigt sich als ein Implementierungsproblem. So kommt Kaizen wieder in den Blick, allerdings ein auf Kommunikation und Akzeptanz zielendes, verkürztes Kaizen. Die nachlassende Aufmerksamkeit und die Okkupiertheit der Führung mit von oben gesteuerten Veränderungsprojekten zerstört so derzeit die Kaizenkultur nachhaltig. Zugleich gibt es in einer auf Differenz und hoher Eigensteuerung angewiesenen modernen Unternehmenssteuerung kaum ein anderes wirksames Steuerungsmodell als das gemeinschaftsgestaltende Kaizen. Kaizen erzeugt den gemeinsamen Sinn, den ein Unternehmen mit hohen Freiheitsgraden braucht, wenn es dennoch zielorientiert und abgestimmt handeln will. Die Folgen der mangelnden Aufmerksamkeit für Kaizen kann man derzeit bereits an den zunehmenden Qualitätsproblemen, die oft Standardfertigkeiten betreffen, ablesen. So stehen zwar topdown Projekte in keinem Widerspruch zu Kaizen, aber in der Praxis führt die Konzentration auf Initiativen und Veränderungspro-

2.2 Das erneuerte Kaizen

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jekte zu einer Schädigung der kulturellen Basis für ein kraftvolles Kaizen, mit dem sich die Gemeinschaft ‚Unternehmen’ steuert. Kaizen wird Teil der Implemen­tierungslogik Wenn Kaizen oder die unterschiedlichen Continuous Improvement Ansätze heute in den Blick der Führung kommen, dann meist als Bestandteil einer Implementierungsplanung. Da für alle projektorientierten Veränderungen die nachhaltige und schnelle Implementierung nach wie vor eines der Hauptprobleme bleibt, greift man dann gerne auf die in einer Kaizenbewegung organisierten bottomup Spezialist*innen zurück – seien es Kaizenbeauftragte, Moderator*­ innen, Prozessbegleiter*innen oder Prozessberater*­innen. Kaizen soll zu einem Teilprojekt, dem Kommunikations- oder Implementierungsteil des in seinem Herzen inhaltlich getriebenen Gesamtprojektes werden. Die Integration ist allerdings immer schwierig – das Teilprojekt arbeitet in einer anderen Logik als das Gesamtprojekt. Sichtbar wird dies an wiederholten Kommunikationssequenzen, in denen die kaizenorientierten Mitarbeiter*­innen von Dialog sprechen und tatsächlich Auseinandersetzung und gemeinsame Gestaltung meinen, die Projektverantwortlichen aber vor allem nach ­Methoden suchen, die inhaltlich exakt das in den Köpfen der Mit­ arbeiter*innen implementieren sollen, was das Projekt inhaltlich

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2.2 Das erneuerte Kaizen

entwickelt hat. Die Stelle der Einigung ist meistens ein eher allgemein moralischer Standpunkt, der sich in den Sätzen ausdrückt, ‚man müsse die Mitarbeiter*innen abholen‘ oder ‚der Köder müsse dem Fisch schmecken und nicht der*dem Angler*in‘. Diese Aussagen überdecken nur schlecht den grundsätzlichen Unterschied in der Herangehensweise beider Arbeitsformen. Wo das Projekt etwas Neues in die Organisation pflanzen will – ein chirurgischer Eingriff, in dem etwas ersetzt wird -, will Kaizen die Organisation eher internistisch dazu bewegen, die Veränderung durch Integration und Anpassung zu etwas Eigenem zu machen. Zwar nimmt die Inanspruchnahme der immer noch vorhandenen Kaizenorganisationen innerhalb der Unternehmen für Implementierungszwecke zu, zugleich wird aber auch immer mehr sichtbar, wie schwierig diese Inanspruchnahme ist, wenn sie nicht das Eigene der Kaizenlogik akzeptiert. Kommunikation kann Beteiligung nicht ersetzen Die Bedeutung der internen Kommunikation in Unternehmen ist stetig gewachsen. Dies reflektiert zugleich die wachsende Verständnislosigkeit zwischen Führung und Mitarbeiter*innen. Sie besteht vor allem in den sehr unterschiedlichen Orientierungen – multinationale Strategien bilden ein mindset, das mit einem lokalen Horizont kaum zu verstehen ist. So bedeutsam Kommunikation ist, sie kann gegenseitiges Verständnis nur erzeugen, wenn sie dialogisch ist. Die Arten der Verpackung mögen noch so modern, so aufmerksamkeitsheischend wie eben möglich sein – das substantielle Gespräch können sie nicht ersetzen. Die Forderung, wir müssen es nur richtig kommunizieren, führt oft zu einem ‚Mehr’, einer zunehmenden Materialschlacht, nicht aber zu einem ‚Anders’, das dann zu einem Dialog führen kann. Die klassische Kommunikation kann Beteiligung nicht ersetzen. Kaizen ist ein Beteiligungskonzept, das dialogische Kommunikation integriert hat. Das Eine kann das Andere nicht ersetzen, wenn man wirksamen Einfluss auf die mindsets der Mitarbeiter*innen nehmen möchte. Es ist eben nicht nur ein Transportproblem, wenn Mitarbeiter*innen die Aktionen und Initiativen der Führung nicht mehr verstehen. Es ist ein fundamentales Verständigungsproblem, dessen Ursache im abgebrochenen Gespräch liegen. Ich kann die Führung nur als glaubwürdig erleben, wenn ich verstehe und schließlich teilen kann, woran sie glaubt.

2.2 Das erneuerte Kaizen

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Der Weg hierzu ist Beteiligung, die zum Gespräch, zur Auseinandersetzung und zu gegenseitigem Lernen zwingt. Mobilisierung statt Kommunikation Beteiligungsmodelle wie Kaizen sind kommunikationsabhängig, ihre Grundlage ist die Vermittlung ­eines gemeinsamen Verständnisses in der Organisation über die Organisation. Visionsansätze, die Beschreibung der eigenen Identität, Leitbilder etc. waren früh Teil der Kaizenarbeit, weil sich mit ihnen die gemeinsame Orientierung einerseits gut beschreiben ließ und weil sie anderseits eine Vielzahl von Türen für geleitete Beteiligung öffneten. Die Kaizenorganisationen sind derzeit auf dem Weg, sich selbst wieder eine Orientierung zu geben, die mit den Zielen der Unternehmen im Einklang steht. Sie suchen nach den gemeinsamen Bildern über das Unternehmen, die beides miteinander versöhnen: fokussierte top-down Veränderungsprojekte und die eher bottomup geprägte Kaizenarbeit. Narrativen Konzepte, wie zum Beispiel die Entwicklung einer Corporate Story, gehören dazu. Kaizen benötigt einen Rahmen, der in der Organisation erzählt (kommuniziert) werden kann und der der Beteiligungsarbeit Sinn und Richtung gibt. Dann kann Kaizen mehr als kommunizieren: nämlich Menschen für gemeinsame und glaubwürdige Ziele mobilisieren. Mobilisierung braucht Verstehen, worum es geht, braucht Akzeptanz der Ziele, braucht Glaubwürdigkeit der Führung und die Möglichkeit selbst gestaltend wirksam zu werden. Und schließlich brauchen mobilisierte Mitarbeiter*innen das Wissen, zu einer Gemeinschaft zu gehören, deren Zukunft sie mitentwickeln. Das kann auch dann gelingen, wenn Einzelne wissen, dass diese Zukunft sie selbst nicht immer mit einschließt.

Zusammenfassung I Kaizen als organisierte und im Unternehmen gemeinschaftlich getragene Form der gemeinsamen Arbeit an den Zielen ist derzeit gefährdet. Projektorientierte Veränderungsinitiativen nehmen die Aufmerksamkeit der Führung in Beschlag. Der Konsens, dass die orientierenden und aktivierenden Arbeitsformen des Kaizen dringend benötigt werden, bröckelt. Zugleich wird deutlich, dass Im-

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2.2 Das erneuerte Kaizen

plementierung von Veränderungen neben der verstärkten Kommunikation Beteiligung und Mobilisierung benötigt. Kaizen kann dies aber nur leisten, wenn dessen Art, in der Organisation wirksam zu werden, ein wesentlicher Teil einer Corporate Story wird. Das Unternehmen muss sich als eine von Sinn bewegte Gemeinschaft verstehen, um Kaizen realisieren zu können. Kontrolle in komplexen Systemen Kontrolle und Steuerung (kontrollierte Steuerung) sind wesentliche Merkmale des Managements. Wie kann man diese Grundbedingung des Managements erfüllen, wenn in Unternehmen die Freiheitsgrade steigen und die Dynamik innerhalb der wachsenden Komplexität zunimmt? Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen Führungskräfte auf innere Bilder zurückgreifen, Bilder, die Auskunft über die innere Mechanik dessen geben, was sie steuern sollen. Die Ergebnisgrößen sind gesetzt, die Wachstums- und Ertragsziele. Die Frage ist: wie kann das Unternehmen so gesteuert werden, dass es stetig auf dem Weg der Zielorientierung bleibt? Die meisten Menschen haben Steuerung am Beispiel relativ einfacher Systeme gelernt – das Dreirad, Fahrrad, Auto, später der Computer, usw. Allen ist gemeinsam, dass sie Steuerungshebel haben. Eingriffe über diese Hebel haben eine triviale Wirkung. Einem eindeutigen, dosierten Impuls folgt eine eindeutige, immer gleiche Reaktion. Das Unternehmen als Maschine, gleich wie komplex gedacht, erfüllt die Bedingungen, um mit diesem tiefen, früh gelernten Steuerungsbild arbeiten zu können. Cockpit Charts und vielfältige Formen der Visualisierung vermitteln den Eindruck, den jeweiligen Zustand der Organisation zu ermitteln, um auf der Grundlage dieser Aussagen steuernd handeln zu können. Das gleicht einem Instrumentenflug. Von Zeit zu Zeit suchen Führungskräfte den Kontakt zur gemessenen Organisation – reden mit Menschen und besuchen Teile der Organisation, um Instrumente und eigenes Gefühl für das Unternehmen in Einklang zu bringen. Steuernd jedoch vertrauen sie auf die Instrumente – nie genau wissend, ob sie denn das wirklich Relevante messen. In dem Hang, immer wieder den Kontakt zur Organisation zu suchen kommt ein ebenfalls sehr altes Steuerungsbild zum Tragen – das Wissen darum, wie man Mutter, Vater, Geschwister und Freund*innen steuert: Man nimmt Einfluss, indem man kommuni-

1.2 Das Unternehmen als Gesellschaft

2.2 Das erneuerte Kaizen

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ziert, indem man innerhalb von Beziehungen steuert und Gemeinsamkeit herzustellen versucht. Das ist eine andere Form der Steuerung, die andere Vorgehensweisen benötigt. So wirkungsvoll die mehr oder wenig mechanisch fundierte Steuerung und so unverzichtbar sie ist, sie kann die Organisation als Gemeinschaft von Menschen, die gemeinsam an Zielen arbeiten sollen, nicht orientieren. Sie vermittelt keinen Sinn, der die Grundlage aller gemeinschaftsorientierten Steuerung ist. Zudem sind Gemeinschaften nur bedingt direkt steuerbar, weil die Übertragungsstellen für Steuerungsimpulse nicht wohldefiniert sind und hohe Freiheitsgrade haben. Wenn es nötig ist, die Mitarbeiter*innen aktiv für Veränderungen zu gewinnen und mit ihnen eine zielorientierte Gemeinschaft zu formen, dann muss man auf die zweite Form der Steuerung zurückgreifen und das Unternehmen auch als Gemeinschaft verstehen lernen. Das Unternehmen als Gesellschaft: Gemeinschaften bewegen Es gibt viele Modelle, eine Organisation zu verstehen – sie nutzen zumeist Metaphern aus der Natur oder dem Handwerk. Eine naheliegende Metapher zum Verständnis einer Organisation ist es, sie als Gesellschaft zu verstehen. Das korrespondiert mit dem allseits akzeptierten, aber selten ernst genommenen Grundsatz, dass es die Mitarbeiter*innen sind, die den wesentlichen Unterschied zwischen Erfolg und Durchschnitt ausmachen. Veränderungen müssen nicht nur in die Mechanik (Kennzahlensysteme, Abläufe etc.) integriert werden, sie müssen auch in der jeweils handelnden Gemeinschaft verankert werden. Nutzt man die Metapher ‚Gesellschaft’ oder ‚Gemeinschaft’ für ein Unternehmen, dann braucht man sozial orientierte Steuerungsformen. Die Stiftung von Sinnzusammenhängen, die Gestaltung einer gemeinsamen Mitte und die Integration individueller, lokaler Interessen in ein gemeinschaftliches Interesse sind dazu wichtige Bausteine. Die Kaizenbewegung hat zu ihrer Zeit dazu wirksame Instrumente zur Verfügung gestellt. Sie hat einen wichtigen Beitrag zur Etablierung von Workshops geliefert und die Methoden beigesteuert, die es möglich machten, in Gruppen zielorientiert zu arbeiten. Die Situation hat sich aber deutlich verändert, die alten Steuerungsmittel des Kaizen wirken nicht mehr. Der Grund hierfür liegt darin, dass zu Zeiten der Einführung von Kaizen ein breiter Konsens in den Unterneh-

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2.2 Das erneuerte Kaizen

men darüber herrschte, warum und mit welchen Zielen man gemeinsam arbeitete. Dieser Konsens ist zusammengebrochen. Dazu hat die Aufkündigung des Sicherheitsversprechens, das Unternehmen den Mitarbeiter*innen gaben und für das sie Freiheitseinschränkungen bei ihren Mitgliedern verlangten, wesentlich beigetragen. Bevor eine erneuerte Kaizenbewegung die Steuerungsfunktion in der Gemeinschaft ‚Unternehmen‘ wieder übernehmen kann, bedarf es einer neuen geteilten Sicht auf das gemeinsame ‚Unternehmen‘ – eine Sicht, in der das Sicherheitsversprechen nicht im Vordergrund stehen kann, in der aber Zugehörigkeit in einer Sinn gebenden Form vermittelt wird. Wie jede Gesellschaft benötigt ein über Kaizen mitgesteuertes Unternehmen eine sinnstiftende Mitte – eine, um die sich die Mitarbeiter*innen als Gemeinschaft gruppieren. So wird ein sich ständig erneuertes Gespräch lebendig gehalten und Kaizen selbst den sich ändernden Umständen kontinuierlich angepasst. Verantwortung etablieren Unternehmen, die, um Komplexität überhaupt noch steuern zu können, den Unternehmenssteilen hohe Freiheitsgrade einräumen müssen, sind darauf angewiesen, dass sich Mitarbeiter*innen verantwortlich in Bezug auf den Unternehmensnutzen verhalten. Verantwortungsübernahme setzt den Aufbau einer Beziehung voraus, der ein Bild von Zukunft, in der Regel von gemeinsamer Zukunft zugrunde liegt. Verantwortung kann sich gegenüber Arbeitsprozessen, Kolleg*innen, dem Unternehmensteil sowie dem gesamten Unternehmen gegenüber aufbauen. Um das tun zu können, braucht Verantwortung einen Sinnhorizont, in dem die Verantwortung für das Gemeinsame eingebettet ist. Die Steuerungsimpulse durch Initiativen und Projekte können diesen Sinnhorizont nicht aufspannen. Wer Verantwortung der Mitarbeiter*innen braucht, der muss ihnen Beziehungsmöglichkeiten anbieten, die es innerhalb eines gemeinsam geteilten Sinnhorizonts möglich machen, das eigene Handeln am Nutzen des Ganzen auszurichten. Verantwortung kann nur da gelebt werden, wo sie intellektuell und emotional auf gemeinsamen Sinn und Nutzen hin orientiert ist. Das klassische Kaizen musste für diese Bedingungen nicht sorgen, sie waren im Unternehmensumfeld gegeben. Unter anderem hat der breitere gesellschaftliche Konsens und das Sicherheits- und Zugehörigkeitsversprechen der Unternehmen gegenüber den Mitarbeiter*innen

2.2 Das erneuerte Kaizen

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dafür Sorge getragen. Heute muss die Grundlage für die gemeinsame Verantwortung im Unternehmen erst hergestellt werden. Ein erneuertes Kaizen, welches ein Beteiligungsmodell in modernen Unternehmen realisiert, kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten und die projektgetriebenen Veränderungsinitiativen sinnvoll ergänzen.

Zusammenfassung II Jede Initiative zur Veränderung im Unternehmen wirft ein Steuerungsthema auf. Die in Unternehmen gängigen Modelle der Steuerung haben in Bezug auf die komplexe soziale Struktur der Organisationen blinde Flecken. Das Verständnis der Organisation als Gesellschaft bietet einen Zugang zur Steuerung von Menschen und Gruppen, das über Sinnstiftung und gemeinsame Verantwortung zielorientiertes, gemeinsames Handeln und hohe Freiheitsgrade zugleich ermöglicht. Kaizen bietet in seiner Beteiligungslogik die Voraussetzung, eine solche Steuerungsaufgabe übernehmen zu können – muss sich dafür aber methodisch verändern. Anteil haben – gestalten können 1.3 Beteiligen: Kaizen ist ein Arbeitsansatz, der auf Beteiligung Teil der zielt. In der europäischen Rezeption stand dabei die Bewegung sein Nutzung des konkreten Wissens der Handelnden vor Ort im Vordergrund – in der Regel zur Kostensenkung. Im Hintergrund war dabei bewusst, dass zugleich in breiter Weise die Orientierungspunkte für lokale Verantwortung kommuniziert und im Arbeitsalltag verankert wurden. Workshops mit einfachen Strukturierungs- und Problemlösungsmethoden brachten Menschen zusammen und ließen sie gemeinsam über Verbesserungen in den Arbeitsprozessen arbeiten. Nebenher wurde das Wissen der einzelnen über die Arbeitszusammenhänge und die gegenseitige Abhängigkeit in den Arbeitsprozessen deutlich erhöht. Dieser Bildungsaspekt wurde in der Gestaltung der Workshops berücksichtigt. Je durchgehender Kaizen im Unternehmen organisiert war, desto intensiver wurden auch eigene Kommunikationsmedien entwickelt – über Kaizen und seine Aktivitäten wurde breit und in der Regel in Form und Stil von selbstgemachten ‚Schüler*innenzeitungen‘ berichtet. Nach und nach

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2.2 Das erneuerte Kaizen

traten andere Formen der Arbeit hinzu: Policy deployment, Visions- und Leitbildarbeit, etc. Die Basis des Kaizen blieben aber die Workshops mit zunehmend ausgereifteren Dramaturgien. Im Rückblick auf die Erfahrungen dieser Aufbauphase steht die Lebendigkeit, die Freude an der gemeinsamen Arbeit im Vordergrund. Sowohl für die Kaizenbeauftragten als auch für viele der Workshopteilnehmer*innen war das Erleben von gemeinsamer Arbeit und das gemeinsame Lösen von Problemen ihres Unternehmens die wichtigste Erfahrung. Gehört zu werden und beitragen zu können ist bis heute das soziale Rückgrat des Kaizen. Nimmt man diese Erfahrungen als einen Indikator für erfolgskritische Bausteine des Kaizen, so steht die Öffnung für die Beteiligung an der Veränderung im Vordergrund. Im Kaizen konnten die Menschen sich als wirksam erleben und sie hatten gestaltenden Teil an der Veränderung. Mit Kaizen wurde das Unternehmen zu ihrem Unternehmen, für das sie sich engagierten. Jede Weiterentwicklung des Kaizen muss auf dieser Erfahrung aufbauen: Orientieren – zur Beteiligung einladen – die Möglichkeit geben, sich als wirksam (und damit wertgeschätzt) zu erleben – und schließlich, sich mit anderen als Teil einer Bewegung verstehen zu können, die an der Zukunft arbeitet. In Zusammenhängen handeln Kaizen hat wesentlich zu einem konkreten Prozessverständnis in den Unternehmen beigetragen. In den Workshops, in der Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen, in denen die eigene Aufgabe steht, in der Notwendigkeit den jeweils individuellen, lokalen Nutzen mit dem übergeordneten Nutzen in Einklang zu bringen, wurde stetig am konkreten Prozessverständnis gearbeitet. Mitarbeiter*­innen lernten ihre eigene Rolle, die Art und Weise, wie sie ihre Aufgaben erledigten, in einem umfassenderen Zusammenhang zu sehen. Dies ist, wie alle sozialen Errungenschaften, nicht endgültig, es war wirksam, so lange die Begegnungen und Auseinandersetzungen stattfanden. Mit dem Nachlassen der Teilnahme an Kaizen Workshops geht auch das Verständnis für Zusammenhänge zurück. In einem modernen Kaizen wird es allerdings nicht ausreichen, einfach die Frequenz der Workshops zu erhöhen. Die Zusammenhänge sind komplexer geworden, die Widersprüche, die in der Ar-

2.2 Das erneuerte Kaizen

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beitspraxis versöhnt werden müssen und die sich nicht mehr prinzipiell auflösen lassen, haben zugenommen. Ein modernes Kaizen wird Methoden benötigen, die über Beteiligung und Gemeinschaft hinaus zugleich ein Lernfeld für die Erfahrung von komplexen Zusammenhängen bereitstellt. Verantwortung im Kontext: Verantwortung durch Kenntnis Eines der größten Probleme für die kaizenorientierten Arbeitsformen in Unternehmen ist ihre alte, angestaubte Ausstrahlung. Kaizen wirkt, als gehöre es zu einem alten Unternehmen, das sich nicht entwickelt hat. Moderne Unternehmen erleben sich als dynamisch, schnell, entscheidungsfreudig – Kaizen hingegen wird als langsam, konsensorientiert und kleinteilig wahrgenommen. Eine solche Sicht verkennt, dass Kaizen eine Steuerungsaufgabe im Unternehmen übernehmen kann, deren Leerstelle derzeit durch den Ruf nach Leadership mehr bezeichnet als gefüllt wird. Es ist aber nicht zu erwarten, dass Leadership Programme helfen werden, die Lücke zu füllen. Komplexität unterscheidet ein modernes von einem alten Unternehmen im Wesentlichen durch die damit entstandenen Steuerungsprobleme. Die Antwort auf Komplexität besteht einerseits in einer sinnvollen Reduktion von Komplexität, andererseits darin, miteinander einen verständigen Umgang mit Komplexität zu lernen. Während für das Erste ‚Leadership‘, wenn es methodisch unterstützt wird, tatsächlich eine Lösung ist, kann Leadership keine Antwort auf das Problem des wenig kompetenten Umgangs mit Komplexität geben. Die gruppenorientierte Arbeit des Kaizen bietet hier den wirkungsvolleren Zugang. Komplexität zeichnet sich durch das aus, was wir Globalisierung nennen: erhöhte Dynamik, wachsende Vernetzung mit ihren gegenseitigen dynamischen Wirkungen, der stetig wachsende Grad an Differenzen, die sich nicht mehr versöhnen lassen, sondern die in ihrer Widersprüchlichkeit zugleich bewältigt werden müssen. Dies lässt sich nur dann steuern, wenn neben der durch Leadership gegebenen Reduzierung zugleich der Wissensstand über eben diese Komplexität und den Umgang damit im Unternehmen erhöht wird. Dieses Wissen benötigt die Organisation innerhalb ihrer Arbeitsprozesse, es reicht nicht, Individuen damit auszustatten Es muss also in den Arbeitskontexten selbst erfahren und reflektiert werden. Nur wenn die Prozessgestalter*innen innerhalb der Prozesse wissen und verste-

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2.2 Das erneuerte Kaizen

hen, warum, mit welchem Ziel und mit welchen Auswirkungen sie das tun, was sie tun, können sie die Freiheitsgrade verantwortungsbewusst wahrnehmen, die eine Komplexität managende Organisation ihren Mitgliedern geben muss, um erfolgreich handeln zu können. Ein modernes Kaizen hat daher die wesentliche Aufgabe, kollektives Orientierungswissen an alle Stellen des Unternehmens zu tragen und es angepasst zu verankern, um auf diese Weise Verantwortungsübernahme überhaupt erst wieder möglich zu machen. Dazu gehört in erster Linie die Vermittlung von Sinn: Warum handelt die Organisation so, wie sie handelt? Was sind die Ziele? Warum ist es nötig, so zu handeln und was genau ist die Funktion meines Prozesses und von mir selbst in diesen Zusammenhängen? Diese Fragen müssen beantwortet werden, wenn Mitarbeiter*innen im Sinne des Ganzen handeln können sollen. Die Kaizenbewegung kann die Aufgabe, Orientierungswissen zu verankern durch ihre Fähigkeit, Gemeinschaften zu gestalten und zu bewegen und sie schließlich zielgerichtet arbeiten zu lassen, in idealer Weise übernehmen. Kaizen hat Zugang zu den Gemeinschaften im Unternehmen und kann, anders als eine ausschließlich mediengetriebene Kommunikation, über ihren Beteiligungsgedanken glaubwürdig und konkret angepasstes Orientierungswissen als Grundlage für verantwortliches Handeln verankern. Verantwortung in beteiligter Gemeinschaft Ein*e Mitarbeiter*in muss wissen, in welchem Kontext, mit welchen Wirkungen und Zielen sie*er arbeitet, um Verantwortung übernehmen zu können. Zugleich muss sie*er eine emotionale Beziehung zu ihrem*seinem Unternehmen und zu ihrer*seiner Rolle im eigenen Arbeitskontext entwickeln können. Sie*er muss sich engagieren, nur dann kann sie*er verantwortlich sein. Engagement entsteht, wenn der Sinn des eigenen Tuns ersichtlich ist und wenn in Beziehungen spürbar wird, dass man aufeinander angewiesen ist, um die Ziele, für die man sich engagiert, zu erreichen. Beziehungen sind daher eine Basis von verantwortlichem Handeln. Kaizen ist mit seinen Arbeitsformen befähigt, Gemeinschaften zusammenzubringen, gegenseitige Verpflichtung zu erzeugen und Engagement für ein gemeinsames Ziel zu wecken.

2.2 Das erneuerte Kaizen

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Damit hat es die Möglichkeit, im Unternehmen auch die emotionalen Bedingungen für eigenverantwortliches Handeln zu etablieren. Es ist aussichtslos, ein höheres Maß an Verantwortung über eine Erhöhung von Kontrolle erreichen zu wollen. Das Maß auch an lokaler Komplexität, das wir heute erreicht haben, lässt sich nur durch internalisierte Eigenkontrolle steuern – nicht mehr durch eine Steigerung technischer Kontrollen. Eigenkontrolle braucht Verantwortung, Verantwortung muss wissen, in Bezug auf was sie verantwortlich ist und sie braucht emotionale Bindung – es muss der*dem Mitarbeiter*in in seinen Beziehungen etwas bedeuten, wenn er seine Verantwortung nicht wahrgenommen hat. Unterschiede – gesellschaftliche Bedingungen Unternehmen sind heute sehr zögerlich, gegenüber ihren Mitar­ beiter*innen ein Versprechen abzugeben, das ein dauerhaftes Zugehörigkeitsverhältnis ausdrückt. Das alte Sicherheitsversprechen wird heute nicht mehr ausgesprochen. Diese Situation scheint es auf den ersten Blick schwer zu machen, das für das Kaizen so wichtige Modell einer ‚Verantwortungsgemeinschaft‘ zu realisieren. Was verloren gegangen ist, ist der weite Horizont von Sicherheit – nicht aber der Horizont, den sich Gemeinschaften geben, um an ihren Zielen zu arbeiten. Das Versprechen von nicht aufzulösender Zugehörigkeit ist keine Voraussetzung, um sich einer Bewegung zugehörig zu fühlen, die für das Unternehmen Zukunft schafft. Das Sicherheitsversprechen hatte es für Unternehmen überflüssig gemacht, die Geschichten zu erzählen, die Gemeinschaft begründen, ihr Gemeinschaft Sinn geben und sie an Zielen und Unternehmensnormen ausrichten. Zum Aufbau engagierter Gemeinschaften reicht heute ein engerer Horizont, unverzichtbar ist aber die kreierte Geschichte, die Sinn erzeugt und dem Engagement Richtung und Rahmen gibt. Das Toyota Produktionsmodell bleibt ein Leitstern für kaizenorientierte Arbeit. Seine Voraussetzung sind einerseits im Unternehmen erzählte Geschichten - die Bedeutung der Produktion, die überwundene Krise und die Gefahr der Wiederkehr, das Qualitätsversprechen usw. und anderseits die soziale Konstitution eines japanischen Unternehmens, welches sich über eine soziale, bindende Zugehörigkeit definiert. Diese letzte Bedingung ist weder in amerikanischen noch in europäischen Unternehmen gegeben. Die Zuge-

2.2 Das erneuerte Kaizen

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hörigkeit zum Unternehmen in Europa und Amerika muss deshalb inhaltlich beschrieben und muss Teil der Geschichte werden, die über Kaizen im Unternehmen erzählt wird. Es ist nach einer inhaltlichen Zugehörigkeit zu suchen, die beschreibt, warum der einzelne in den jetzt notwenigen Entwicklungsschritten des Unternehmens eine wichtige Rolle spielt. Die Zugehörigkeit wird über die Teilhabe an der Gestaltung von Zukunft vermittelt. Diese Zukunft, die Teilhabe daran mit dieser Gemeinschaft des eigenen Unternehmens muss attraktiv sein. Dann führt sie zu Engagement und Verantwortung. Damit wird die vorausgesetzte Zugehörigkeit mit ihrer sozialen Bindung und den selbstverständlichen sozialen Normen, wie sie im Toyota System gegeben sind, mehr als ersetzt, - mehr, weil es zugleich ein hohes Maß an Flexibilität ermöglicht. Gemeinschaften und ihre Geschichte Toyota simuliert seine in Japan gegebene Ausgangslage außerhalb durch die Ansiedlung in Regionen, in denen es eine hohe Arbeitslosigkeit gibt, stellt gerne ungelernte Mitarbeiter*innen ein und investiert am Anfang intensiv in die Beeinflussung der eher abhängigen Mitarbeiter*innen. Die Vermittlung eines weiten Orientierungswissens ist eher gering. Das lässt sich für die an ihren Standorten geschichtsträchtigen Unternehmen in den USA und in Europa so nicht machen. Hier ist es nötig, eine Gemeinschaft zu bilden, die sich zum Ganzen auch durch Wissen und Verstehen zugehörig fühlt. Zugleich muss in diese neuen gemeinschafts- und sinnstiftenden Geschichten der Bestand an alten, kulturprägenden Erzählungen und Erinnerungen integriert werden. Wenn für Verantwortung und eigengesteuertes Verhalten zum Wohle des Ganzen gehört, sich zu einer sinnstiftenden Gemeinschaft zugehörig zu fühlen, dann muss der Inhalt dieser Zugehörigkeit in den Identitätssätzen des Unternehmens (seien es Werte, Visionen oder Missionen) formuliert werden. Damit ist eine neue Aufgabe in der Kaizenbewegung beschrieben: Sie muss die Methoden zur Verfügung stellen, mit denen Unternehmen die Geschichte ihres eigenen Werdens in Bezug auf eine gewünschte Zukunft erzählen können. Sie müssen sie erzählbar machen und sie in die Gemeinschaften des Unternehmens einfügen. Und in diesen Geschichten muss Platz sein, Platz, den die Mit­ arbeiter*innen mit ihrem Engagement füllen können.

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2.2 Das erneuerte Kaizen

Zusammenfassung III Kaizen öffnet den Mitarbeiter*innen die Chance zur engagierten Beteiligung an der Gestaltung des Unternehmens. Die damit vermittelte emotionale Einbezogenheit in eine Gemeinschaft schafft die Voraussetzung für eine eigenständige Verantwortungsübernahme. Damit Verantwortung im Sinne des Ganzen übernommen werden kann und die Widersprüche zwischen lokaler Vernunft und umfassendem Unternehmensinteresse im Sinne des Ganzen gelöst werden, vermittelt Kaizen das hierzu notwendige Wissen über die Zusammenhänge und passt sie den jeweiligen lokalen Verstehenshorizonten an. Damit übernimmt Kaizen eine wichtige Steuerungsfunktion, die unmittelbar zu konkretem Handeln führt. Um dies zu leisten, muss Kaizen sein Methodenrepertoire erweitern – der Umgang mit sozialen Systemen, die Vermittlung von Wissen und der Umgang mit Konflikten werden methodisch bedeutsamer. Die Potenz des Kaizen als Steuerungsform ist nur dann zu realisieren, wenn Beteiligung der Mitarbeiter in der Corporate Story erzählt wird und diese Identität des Unternehmens kontinuierlich und redundant auf allen Ebenen vermittelt wird. Mehr als Workshops Die Mittel müssen die Zwecke kennen, wenn sie richtig eingesetzt werden sollen. Entsprechend ist die wichtigste Aufgabe des Kaizen heute die Vermittlung dessen, warum Unternehmen so handeln, wie sie handeln. Die Aufgabe ist es, Methoden zur Vermittlung vielfältiger Zusammenhänge, komplexer Prozessabläufe, gegenseitiger Abhängigkeiten und der Unauflösbarkeit von Interessenskonflikten zu vermitteln. Dabei müssen die neuen Methoden in die Stärke des Kaizen, Gemeinschaften zu bilden und zu gemeinsamer Verantwortung zu führen, integriert werden. Diese wichtigste Aufgabe eines erneuerten Kaizen können die klassischen Workshops nicht leisten. Sie waren von ihrem Instrumentarium her auf die Lösung begrenzter Aufgaben ausgelegt. Dies bleibt zwar weiterhin eine wichtige Aufgabe des Kaizen, kann aber erst wieder effektiv angegangen werden, wenn Mitarbeiter*innen engagiert die Ziele des Unternehmens verstehen und unterstützen.

1.4 Andere Methoden

2.2 Das erneuerte Kaizen

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Die neue fundamentale Aufgabe, die die Lösung der anderen erst möglich macht, braucht Workshopformen, in denen konfliktorientiert gearbeitet werden kann. Nur wenn die Chance besteht, die bestehende Glaubwürdigkeitskrise und die lokal bedrückenden Interessenskonflikte anzusprechen und zu verhandeln, kann emotional der Weg zu einem neuen Engagement geöffnet werden. Der auch emotional fokussierte Prozess der Zusammenarbeit in den Workshops kann dann wieder die Freude und die Offenheit erzeugen, die das frühe Kaizen ausgezeichnet hat. Es braucht also andere Workshops, die in ihren Dramaturgien konfliktoffen, konfrontativ aber auch versöhnend und beziehungsbefriedend sind. Zugleich benötigt Kaizen andere Formen der Arbeit, wie sie z.B. in Großgruppenveranstaltungen entwickelt worden sind. Diese können in ihrer Mischung aus Information, Darstellung von Zusammenhängen, Aufbau von erlebter Führungsbeziehung und beteiligender Arbeit eine bedeutende Aufgabe in der Vermittlung von Zusammenhängen und, ein emotional aufmerksames Design vorausgesetzt, auch für den Aufbau der Verantwortungsgemeinschaft liefern. Ob dies Führungstagungen oder um Visions-, Wertebildung oder Leitlinienarbeit gruppierte Veranstaltungen sind, ist dabei nicht von wesentlicher Bedeutung. Wichtig ist allein, dass die Corporate Story glaubwürdig erzählt und fortentwickelt wird und dass in den Führungsbeziehungen ein erhebliches Maß an Ehrlichkeit etabliert wird. Zu diesem Methodenpool gehören auch die Gestaltung von Dialogforen und Townmeetings in der gesamten Organisation, um dem dialogischen Steuerungsaspekt des Kaizen ein Instrument zu geben. Ein weiteres Element des neuen Methodenspektrums ist die bewusste Gestaltung von interner Kommunikation. Sie hebt vor allem auf die Vermittlung der Corporate Story und die Emotionalisierung für die dort gesetzten Ziele ab. Neben dem Einsatz von Visualisierungskonzepten, gehören hierzu der wirkungsbewusste Umgang mit Printmedien und der Einsatz neuer Medien. Darüber hinaus wird ein erneuertes Kaizen eine wichtige Rolle im Organisationslernen zu spielen haben. Wie kann es gelingen, komplexe Zusammenhänge, die zum Teil weit über den Erfahrungshorizont der Mitarbeiter*innen hinausreichen, so zu vermitteln, dass sie einerseits verstanden und akzeptiert werden und ­anderseits vor Ort in den konkreten Arbeitsgemeinschaften zu ver-

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2.2 Das erneuerte Kaizen

ändertem und im Sinne des Unternehmens nützlichen Handeln führen. Hierzu werden Lern- und Visualisierungswerkzeuge eingesetzt, die zugleich durch den Begleitprozess der Erstellung und durch den gruppenfokussierten Prozess der Arbeit mit ihnen, Gruppen zu Verantwortungsgemeinschaften zusammenfügen. Dadurch werden sowohl der Lern- als auch der Beteiligungsaspekt des Kaizen realisiert. Insighttools wie Insightmaps© oder synnact© sind auf diese Ziele abgestimmte und geeignete Methoden. Elemente neuer Methoden Zusammengefasst hat das erneuerte Kaizen folgende Aufgaben: • Vermittlung von Zielen, Zusammenhängen und Kenntnis über die gegenseitigen Abhängigkeiten im Unternehmen. • Die Bildung von Verantwortungsgemeinschaften. • Die Initiierung von zielbestimmten, kontextsensiblen und engagierten bottom-up Gemeinschaften. • Die Vermittlung in Konflikten und die Erhöhung der Akzeptanz, dass Interessenskonflikte nicht mehr grundsätzlich auflösbar sind sowie das Lernen im Umgang mit solchen Situationen in komplexer werdenden Matrixstrukturen. • Die Entwicklung von Organisationslernen, das intellektuell, emotional und gruppenbezogen ist. • Die Unterstützung von konkreter, angepasster Implementierung. • Die bewusste Gestaltung von Emotionalität bezogen auf die Aufgaben der Organisation. • Das klassische Methodenspektrum zur Lösung von Aufgaben, die Zusammenarbeit in Gruppen und über Gruppengrenzen hinweg ermöglichen. Inhaltlich muss Kaizen selbst lernen, die auf kleine Gruppen und deren Erfahrungsraum angelegte Workshoparbeit mit umfassenderen, größere Einheiten umspannenden Arbeitsformen zu verbinden. Die grundlegende Basis hierfür ist die Corporate Story, die als Orientierungspunkt für alle anderen Methoden dient. Das erneuerte Kaizen muss sich selbst aus der Konzentration auf die Methoden lösen und lernen, in Zusammenhängen zu denken – das heißt einen jeweils für konkrete Situationen angepassten Methodenmix zu entwickeln, der die Elemente: Vermittlung von Wissen, Bilden von

2.2 Das erneuerte Kaizen

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Verantwortungsgemeinschaften, emotionalisieren und auf Ziele hin orientieren gleichrangig berücksichtigt. In der Workshoparbeit ist dabei ein deutlich kompetenterer Umgang mit Emotionalität und den dazu gehörenden Konflikten notwendig. In den übergreifenden Aufgaben muss die Kompetenz im Einsatz von Medien und ihrer Integration einen umfassend geplanten, die Menschen – und hier vor allem auch die Führung einbeziehenden Prozess erhöht werden.

2. Führen mit Kaizen Diffundierende Führung 2.1 Die Wer heute auf Unternehmen blickt, stellt fest, dass Führungsleere Führung vor Ort kaum noch stattfindet. Führungskräfte aller Ebenen sind mit Aufgaben beschäftigt, die ihnen für tatsächlich spürbare und anwesende Führungsarbeit vor Ort wenig Zeit lassen. Die Beschleunigung, die eine stetige Anpassung von Strategien und Taktiken verlangt, bindet sie an übergeordnete Aufgaben. Die kommunikativ aufwendigen Matrixstrukturen verlangen ständige Abstimmungen mit den komplexen Schnittstellen und kosten Zeit und Aufmerksamkeit. Aufwendige Berichtsforderungen führen darüber hinaus zu Zeitmangel. Die Führungskräfte sind nicht mehr da, sie sind nicht mehr sichtbar. Das beginnt bei den Werkstattführungskräften und setzt sich fort bis zu den Geschäftsbereichsleitungen. Die Symptome des fehlenden ‚Auges‘, das die Selbststeuerung effektiv unterstützt, des fehlenden Vermittlers von Zusammenhängen und des Orientierungsgebers sind auf der Ebene der Werkstätten deutlich sichtbar – hier ist anwesende Führung kaum zu ersetzen. Es hat ein Prozess der Zersetzung von Tugenden begonnen, die für einen qualitätsorientierten Fertigungsprozess unverzichtbar sind. Aber auch in anderen Bereichen der Unternehmen und auf den höheren Leitungsebenen ist der Verlust von fokussierter Führung spürbar – die Symptome sind Unsicherheit und unabgestimmtes Handeln. Ein sozialpsychologischer Aspekt verschärft diese Entwicklung: heutige Führungskräfte sind in einer Weise sozialisiert, die es ihnen schwer macht, eine als autoritär missverstandene orientierende und

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2.2 Das erneuerte Kaizen

regelnde Führung wahrzunehmen – sie meiden diese Rolle und zum Teil fliehen sie vor der Führungsarbeit vor Ort in die Querschnittsaufgaben. Die Ursachen dieses Prozesses lassen sich mit Kaizen nicht beheben. Es muss daher das Ziel der Unternehmen sein, ortsnahe/gruppennahe Führung wieder zu etablieren und Führungskräfte zu befähigen, auch psychologisch ihre Rolle wahrzunehmen. Aber Kaizen kann dabei in unterschiedlicher Weise helfen. Kaizen gestaltet Führungssituationen, indem es die Chance zur Führung von Gruppen und nicht nur von Individuen öffnet. Darüber hinaus stellt es die Instrumente für die Etablierung von orientierter Selbstverantwortung zur Verfügung. Damit legt Kaizen die Grundlage für eine effektivere Führungsarbeit. Autorität braucht Sinnstiftung Das psychologische Phänomen der ‚Führungsflucht‘ betrifft ein inneres Legitimationsproblem – was berechtigt mich eigentlich als Führungskraft dazu, anzuweisen, zu kritisieren, zu bewerten und mich durchzusetzen? Machtwille ist eine Antwort von wenigen auf diese Frage und sie ist selten für das Unternehmen langfristig nützlich. Menschen brauchen eine innere Rechtfertigung für eine Aufgabe, die sie dazu zwingt, sozial zu ‚diskriminieren‘, Unterschiede zu machen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Wenn diese innere Rechtfertigung im Einklang mit den Zielen und der Identität des Unternehmens stehen soll, dann darf sie nicht aus einer rein privaten Philosophie heraus geschehen. Sie muss vielmehr mit den Orientierungen, Normen und Absichten des eigenen Unternehmens im Einklang stehen. Autorität, die selbstverständlich und mit innerer Berechtigung ausgeübt wird, braucht einen kollektiven Sinn. Das erneuerte Kaizen leistet hier einen wertvollen Beitrag: Es vermittelt über die Corporate Story (mit einer integrierten Wertorientierung) und seiner Entfaltung in die jeweiligen lokalen Bereichslogiken den Orientierungssinn, den Führungskräfte brauchen, um die notwendige Autorität selbstverständlich und im Sinne des Ganzen ausüben zu können. Sinnstiftung zu kommunizieren und emotional glaubwürdig zu verankern ist einer der Hauptaufgaben des erneuerten Kaizen. Die Stiftung des Sinns bleibt Aufgabe der Führung. Hier kann Kaizen methodisch unterstützen, der Inhalt aber ist an die sinnstiftende Kraft der im oberen Führungskreis gemeinsam entwickelten und erzählten Corporate Story gebunden.

2.2 Das erneuerte Kaizen

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Kaizen kann somit einen wertvollen Beitrag zur Rückgewinnung effektiver und anwesender Führung vor Ort leisten. Kaizen ist Führung Das erneuerte Kaizen orientiert sich einerseits an Fertigungen, anderseits beschreibt es eine Unternehmensphilosophie, die in allen Prozessen der Unternehmen und auf allen Hierarchiestufen gelebt werden kann. Innerhalb der Fertigungen ist Kaizen nicht nur eine Aufgabe der Führung, sondern Kaizen beschreibt die Art und Weise, wie geführt wird. Auf diese Besonderheit des werkstattnahen Kaizen möchte ich kurz eingehen. Kaizen ist im werkstattnahen Bereich am Wertstrom orientierte Führung. Kaizen ist nicht episodisch – hier und da ein impulsgesteuerter Workshop aus der Eigeninitiative von Mitarbeiter*innen. Kaizen ist ein durch die Führung organisierter Prozess. Betrachtet man die Werkstattführungskräfte, dann ist Kaizen der beschriebene Standard, der die Führungsarbeit beschreibt. Führung im erneuerten Kaizen bedeutet primär eine auf Verbesserung fokussierte Aufmerksamkeit der Führungskräfte. Um verbessern zu können, muss zunächst ein beobachteter, dann in Standards beschriebener Prozess gegeben sein. Die Orientierung am Wertstrom und ein beschriebener standardisierter Prozess ist die Voraussetzung für die Verbesserungsarbeit der Führung. Die soziale Aufgabe besteht in dieser Phase darin, die Mitarbeiter*innen für die damit gegebene Transparenz und den subjektiv empfundenen Verlust von Freiräumen zu gewinnen. Die eigentliche Verbesserungsarbeit besteht dann in Beobachtung, dem Wahrnehmen von Abweichungen, dem Verstehen von Abweichungen und der konsensuellen (mit Mitarbeiter*innen, mit der Führungsgruppe vor Ort) Anpassung der Standards. Werkstattnah geht es darum, Kaizen in die Führungsrolle zu integrieren. Dazu können die methodisch nötigen Schritte als Standards beschrieben und damit der Führungsalltag der Werkstattführungskräfte gegliedert werden. Das ist der Kern der Verbesserung in den Fertigungen – damit dieser aber wirksam werden kann, muss die transparent, regelhaft beschriebene Verbesserungsarbeit vor Ort für die Menschen, die sich diesen Regeln unterwerfen, in einen sinnhaften Zusammenhang eingebettet werden. Die genannte Corporate Story, in einer lokalen Fassung, die Führung und Mitarbeiter*­ innen miteinander in eine Sinngemeinschaft integriert hat, ist ein

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2.2 Das erneuerte Kaizen

Zusammenhang, in dem das für die Fertigungen beschriebene regelhaft Kaizen entfalten kann. Die mit den Standards leicht einhergehende Mechanisierung des menschlichen Arbeitsfeldes muss dann mit den sozialen Steuerungsmitteln des Kaizens entgegengewirkt werden. Auch standardisierte Arbeit braucht aufmerksame, an der Verbesserung orientierte, leistungsmotivierte Mitarbeiter*­innen. Selbststeuerung ist ohne Führung nicht denkbar, sie etabliert die Orientierungen, in denen Eigenverantwortung wahrgenommen wird und gibt den Orientierungen normative Kraft. Führung selbst aber braucht Orientierung, um Orientierung geben zu können. Diese Orientierung wird durch die Methoden des Kaizen unternehmensweit verankert. Ist Orientierung gesetzt, sind jedoch weitere Bedingungen zu erfüllen, damit die Idee der orientierten Selbststeuerung umgesetzt werden kann. Selbststeuerung, die sich auf einen Kontext von Gemeinsamkeit bezieht ist – wie oben bereits ausgeführt – sozial verankert. Sie findet in Beziehungen statt und reguliert sich über Beziehungen. Soziale Normen dominieren individuelle Verantwortung. Es ist deshalb ein Ziel des erneuerten Kaizen, soziale Normen zu etablieren, die, wenn sie internalisiert sind, Menschen in ihrer Handlungsfreiheit im Sinne des Unternehmens orientieren. Kaizen kann solche Normen emotional in Gruppen verankern und Verantwortungsgemeinschaften bilden – zugleich hat es die Methoden, die es Führungskräften ermöglichen, ihre Orientierungen wirksam zu machen. Die lange Erfahrung des Kaizen in der Arbeit mit Gruppen haben für diese Aufgabe das Fundament gelegt. Wenn Kaizen bisher in diesem Aspekt der Unternehmenssteuerung nicht wirksam genug war, dann liegt der Grund hierfür darin, dass Kaizen selbst nicht ausreichend orientiert geführt war – auch die Kaizenbeauftragten, die Moderator*innen, die Prozessbegleiter*­innen benötigen eine orientierende Führung, die vermittelt, in welchem Zusammenhang und mit welchen Zielen Kaizen seine Methoden einsetzt.

2.2 Selbststeuerung in gesetzten Orientierungen

Verantwortung lokal etablieren Kaizen hat einen Zugang zu allen Ebenen und Gruppen in den Unternehmen etabliert, in denen es eine lebendige Kaizenbewegung gab. Dies prädestiniert das erneuerte Kaizen dazu, Verantwortung

2.2 Das erneuerte Kaizen

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in den jeweiligen Gruppen angepasst und aufeinander abgestimmt zu etablieren. Ist die Orientierung gesetzt, dann müssen diese Orientierungen in allen Arbeitsprozessen und allen Arbeitsgruppen verankert werden. Dies verlangt eine aktive und konfliktoffene Auseinandersetzung der jeweiligen Gruppen mit den Orientierungen, um sie in die vereinbarten Arbeitsabläufe, die vorhandenen Kontrollinstrumente und in die jeweiligen Beziehungen zwischen den beteiligten Personen und ihren Rollen zu integrieren. Die bewährte Workshoparbeit ist hierzu um beziehungsorientierte Methoden zu erweitern und in einen umfassenderen geplanten ‚Lernzusammenhang‘ zu stellen. Das alte Kaizen hat häufig anlassbezogen gearbeitet. Wann immer im Arbeitsprozess ein Problem auftrat, wurde für diese Situation eine passende Workshopdramaturgie entwickelt. Das erneuerte Kaizen ist sich des Zusammenhangs der eigenen Arbeit bewusster – Workshops, die Verantwortung lokal verankern sollen, sind in einen Gesamtprozess eingebettet, über den die Orientierung im gesamten Bereich gegeben wird, so dass sie in den konkreten Workshops als Material für die Auseinandersetzung, die jeder wirksamen Integration vorausgehen muss, zur Verfügung steht. Die Komplexität der Unternehmenskontexte verlangt heute ein dynamisches Gleichgewicht zwischen lokaler Freiheit, gemeinsamer Orientierung und Akzeptanz von unternehmensweiten Standards. Das erneuerte Kaizen schafft die methodische Voraussetzung dafür, dieses Fließgleichgewicht immer wieder im Sinne des Unternehmens und engagierter Mitarbeiter*innen herzustellen. Die Steuerung von Gemeinschaften 2.3 In die Kaizen führt in die Unternehmen die Logik der Mitte legen Steuerung von sozialen Gemeinschaften ein. Es macht sozialpsychologische Steuerungsformen in den Unternehmen wirksam. Auch die Kaizenbewegung hat sich diesem Aspekt ihrer Wirksamkeit nur langsam angenähert und sich lange Zeit nur auf sachliche, rechenbare Ergebnisse konzentriert. Bei der Rechtfertigung der Wirksamkeit für das Unternehmen gegenüber kritischen Führungskräften ist dieser Aspekt zudem stark betont worden. Er hat nachhaltig eine der stärksten Wirkungen des Kaizen, nämlich ein soziales System zu steuern, überdeckt. Unternehmen, die intern komplex sein müssen, um die externe Komplexität bewältigen zu können, geben Bereichen und Mitar­

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2.2 Das erneuerte Kaizen

beiter*­innen zunehmend höhere Freiheitsgrade. Die Kosten dieses notwendigen Schrittes bestehen in der Ausbreitung unkontrollierter Eigenlogiken. Die Etablierung und der Ausbau unternehmensweit geltender Standards schafft hier nur bedingt Abhilfe – einmal, weil sie in ihrer Abstraktion allzu oft die Arbeitsrealität nicht treffen, zudem, weil ihnen die lokale Akzeptanz fehlt. Die sachlichen Steuerungsimpulse wie Durchsetzung von Standards und erhöhte Kontrolle versagen allzu oft und sie stehen im Widerspruch zu den notwendigen Freiheitsgraden. Eine soziale Steuerung, die über Beziehungsversprechen, die damit verbundene Entwicklung von Normen sowie über das Erleben von Gemeinsamkeit und die emotionale Attraktivität der Zentren der Organisation wirkt, leistet eine effektivere Steuerungsarbeit. Die sozialen Zentren einer Organisation sind dabei nicht unbedingt deckungsgleich mit den Arbeitszusammenhängen – sie sind teilweise nach anderen Affinitäten und nach anderen sozialen Beziehungsmustern gebildet. Seminargruppen, Förderkreise oder Frauennetzwerke sind dafür einige offensichtliche Belege. Für die emotionale und damit in der Wahrnehmung der Menschen wirksamste komplexitätsreduzierende Sinnsteuerung sind solche Gruppen von großer Bedeutung. Sie prägen das Unternehmen als Gemeinschaft von Gemeinschaften, ihr interner Diskurs (unter anderem der Tratsch) bestimmt, was emotional wirksam ist und was auf diese steuert. Das erneuerte Kaizen kann in seiner Verbindung von zielorientierter Workshoparbeit, emotional geleitetem Dialog, Lern- und Erfahrungsorientierung und emotional wirksamen Großgruppendesigns diese Gemeinschaften, die Communities einer Organisation, erreichen und in ihnen eine sehr wirksame Steuerungsfunktion übernehmen. Kaizen legt die Interessen des Unternehmens in die Mitte dieser vielfältigen Gemeinschaften und gestaltet so aus einer zufälligen Arbeitsgemeinschaft eine gemeinsamen Zielen gegenüber verpflichtete Verantwortungsgemeinschaft. Sinnstiftung und Gemeinschaft Im Zentrum der oben genannten Steuerungswirksamkeit des Kaizen steht die Sinnstiftung in Gemeinschaften. Soziale Systeme sind über Sinn gesteuert. Er wird kontinuierlich produziert und er leitet individuelle und kollektive Handlungen. In nicht geleiteten Gemeinschaften wird dieser Sinn aus den jeweiligen lokalen Erfah-

2.2 Das erneuerte Kaizen

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rungs- und Verstehenshorizonten heraus gebildet. Wenn der Zufall es will, dann passen sie zu den Zielen des Unternehmens. In Gesellschaften mit starken gemeinsamen Normen ist dies häufig der Fall – in den modernen Gesellschaften mit der Vielzahl nebeneinanderher laufenden Orientierungen eher selten. Daher fällt den Unternehmen heute die Steuerungsaufgabe zu, Sinne anzubieten, zu vermitteln und zu gemeinsamen Sinnen zu machen. Das erneuerte Kaizen stellt mit seinen beteiligenden Kommunikationsmodellen die Methoden zur Verfügung, die es ermöglichen in die tragenden Gemeinschaften des Unternehmens den Sinn zu verankern, der zur Vision und den Missionen des Unternehmens passt. Es schafft damit die Voraussetzungen für die Wirkung von Leadership. Die Bedingung dafür ist allerdings, dass die Führung diesen Sinn in der Corporate Story bereitstellt und im eigenen Verhalten glaubwürdig vertritt.

3. Leadership Kaizen Kaizen ‚erneuert’ braucht aktive Beteiligung der 3.1 Kaizen in Führung der Führung Auch das alte Kaizen war nicht unabhängig von der Unterstützung der Führung. In der Kaizenbewegung war es stets ein wesentliches Thema, wie man denn die Unterstützung der Führung sicherstellen könne. Mentor*innen- und Promotor*innenprogramme, eine Mischung von zentralen und dezentralen Organisationsformen sowie eine Struktur regelmäßiger Treffen sollte die Unterstützung sicherstellen. Das ist nur teilweise gelungen. Das alte Kaizen als lokal gesteuerte bottom-up Bewegung konnte sich durch das Engagement der Verantwortlichen dennoch gut entwickeln. Das erneuerte Kaizen benötigt aber eine entschlossene Unterstützung durch die obere Führung. Es lebt davon, dass es in der Corporate Story verankert ist und als Teil des Weges verstanden wird, der das Unternehmen zu zukünftigen Erfolgen führt. Dies kann nur geschehen, wenn die Führung selbst ein tieferes Verständnis für die Art und Weise der Arbeit des Kaizen findet, sich aktiv um die Betreuung kümmert und dabei realisiert, dass Kaizen, wie jeder sozial orientierte Prozess, beständige Aufmerksamkeit benötigt. Ein Pro-

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2.2 Das erneuerte Kaizen

jekt kann man abschließen, Kaizen bleib eine kontinuierliche Aufgabe, weil es eine Haltung beschreibt, die in Methoden umgesetzt wird. Die zentrale Frage für das erneuerte Kaizen wird daher sein: Wie kann man die Führung stärker in die Gestaltung des Kaizenprozesses einbeziehen und wie kann man sie aktiv beteiligt halten? Die Corporate Story als Leitstern lokaler Orien­tierungen Der Zugang des erneuerten Kaizen zur Führung kann über die Notwendigkeit der Bildung einer Corporate Story geschehen. Die Corporate Story, sei sie in Form einer Corporate Brand, einer Vision, von Unternehmenswerten oder aus einer Kombination mehrerer dieser Elemente gebildet, muss aus der Mitte der Führung gestaltet werden. Sie sollte in der Geschichte des Unternehmens und seinen kulturellen Glaubenssätzen wurzeln und das Unternehmen auf eine projektierte Zukunft hin erzählen. Sie beantwortet die Frage nach dem Sinn des eigenen Unternehmens und nennt den Grund, warum gerade das eigene Unternehmen mit seiner Art zu handeln erfolgreich sein wird. Diese Arbeit kann von Projektgruppen und den Kaizenverantwortlichen unterstützt werden – geleistet werden muss sie in der Führungsgruppe. Mit der Bereitschaft der Führung, diese Geschichte kontinuierlich und konsequent zu vertreten, kann das erneuerte Kaizen Orientierung sowohl in die Unternehmensbereiche und ihre lokalen Gliederungen als auch in die für die Identität so wichtigen Communities vermitteln. Kaizen unterstützt methodisch die Entwicklung dieser Grundorientierung und gestaltet die emotionalisierende und beteiligende Kommunikation im gesamten Unternehmen. Um langfristig wirksam zu bleiben, ist Kaizen darauf angewiesen, dass die Führung ihren ‚Sinn‘ dauerhaft und redundant vertritt und sich als Führungsgruppe immer wieder unter der eigenen Corporate Story versammelt. Leadership Kaizen – Das ‚Wir’ der Führung War das alte Kaizen vor allem eine bottom-up Initiative für die direkten Ebenen der Organisation, so ist es jetzt mehr als zuvor auch eine Methode für die Leitungsebenen eines Unternehmens. Als zentrale Methode in der sozialen Steuerung des sozialen Systems ‚Unternehmen‘ ist es eng mit dem Thema Leadership und dessen Steuerungsformen verbunden. Kaizen schafft die Ausbreitungswege, um

3.2 Über das M ­ anagement hinaus

2.2 Das erneuerte Kaizen

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Leadership wirksam zu machen, es erreicht die Gruppen in ihrer Mitte. Leadership steuert ein Unternehmen zusätzlich zum Instrumentarium des Managements über eine emotionale Bindung der Mitarbeiter*innen und die Bereitstellung von Sinn. In der Regel wird Leadership als die Führungsbefähigung einzelner Personen beschrieben. In der sozialen Verfasstheit der Unternehmen kann Leadership jedoch in der Regel nicht nur von einzelnen Personen ausgeübt werden. Die gegenseitigen Abhängigkeiten machen es nötig, Leadership als Führungsbefähigung einer Führungsgruppe zu beschreiben. Damit Leadership als Steuerungsform wirksam werden kann, muss es an eine überzeugte Führungsgemeinschaft gebunden sein. Kaizen darf daher heute nicht mehr nur die Kommunikationswege zur Verfügung stellen, es muss vielmehr seine Methoden der Führungsgruppe zur Verfügung stellen, um mit ihr eine gemeinsame Orientierung zu entwickeln. Dies kann nur gelingen, wenn neben der sachlichen Arbeit an der Zielorientierung und an strategischen Fragen das Beziehungsgefüge der Führungsgruppe angesprochen und an einer Vertiefung der Beziehungen gearbeitet wird. Eine gemeinsame Überzeugung wird dann als Orientierung wirksam, wenn sie emotional in den Beziehungen der Führungsgruppe verankert ist. Auf diese Weise wird Kaizen zur Arbeitsform auch der Leitungsebenen. Das erneuerte Kaizen nutzt dafür Workshopmethoden, die, während im Workshop am Komplex der Corporate Story gearbeitet wird, gleichzeitig Einfluss auf die Beziehungsdichte der Gruppe nehmen. Konfrontierende Methoden sind in dieser Arbeitsform unverzichtbar, was in der Regel eine externe Unterstützung der im Wesentlichen intern gesteuerten und getriebenen Kaizenbewegung notwendig macht. Teilen – die Zukunft gemeinsam machen Die Arbeit mit einer Führungsgruppe, der Führungskoalition, ist das prägende Beispiel für die Fortsetzung des Aufbaus von Verantwortungsgemeinschaften im gesamten Unternehmen. Von der Glaubwürdigkeit dieses Prozesses, seiner inhaltlichen Tiefe und Ehrlichkeit hängt seine wirkende Vorbildfunktion ab. Die Führungsgruppe setzt mit ihrer Corporate Story, in der Kaizen als Beschreibung einer unternehmensweiten Arbeitsform verankert ist, ein Beispiel für gemeinsame Überzeugungen und einen gegenseitig

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2.2 Das erneuerte Kaizen

vereinbarten Weg. Dies ist der Beginn eines Prozesses, in dem Kaizen mit seinen Methoden die Teilhabe an dieser Geschichte für Viele ermöglicht – so dass aus der Führungskoalition eine Bewegung werden kann, die das Unternehmen prägt. Kaizen zielt auf Gemeinsamkeit: In Zielen, Überzeugungen und Verantwortung – die Führungsgruppe setzt hierfür den Maßstab. Kaizen und die Orientierung an der Gemeinschaft Das erneuerte Kaizen orientiert sich wieder stärker an seine gemeinschaftsbildenden Potenzen. Es übernimmt eine aktive Steuerungsrolle in den Unternehmen. Erst in diesem Zusammenhang werden seine Methoden wirksam. Ein Unternehmen kann nicht nur über eine Definition der Arbeitsprozesse und steuerndes Controlling geleitet werden. Da es immer auch eine Gemeinschaft oder eine Gesellschaft, also ein ‚Wir‘ ist, muss es auch als ein ‚Wir‘ gesteuert werden. Kaizen übernimmt in der Steuerung des Wir eine zentrale Rolle. Es kann diese Rolle ausüben, weil es die das ganze Bündel der Sinnund Attraktivitätssteuerung sozialer Systeme in seine Methoden unternehmenskonform integriert hat.

3.3 Das ‚Wir’ als Fundament des Unternehmens verstehen und gestalten

Sinn mit Erfolg verbinden Ein Unternehmen ist nur dann nachhaltig erfolgreich, wenn die für den Erfolg des Unternehmens arbeitenden Menschen, das, was sie für den Erfolg tun, auch als sinnvoll und gut getan wahrnehmen können. Nur solche Unternehmen, die Sinn für die gemeinsam arbeitenden Menschen kreieren und ihn mit dem eigenen Erfolg verbinden, werden langfristig über engagierte Mitarbeiter*­innen verfügen. Und das ist - allgemeinem Wissen folgend - eine Voraussetzung für nachhaltigen Erfolg.

2.2 Das erneuerte Kaizen

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4. Kaizen Philosophized 1. It is typical of human beings that they can make a beginning. Quoting Augustine, this freedom of initiating a chain of events is acquired by birth, which is an initiation in itself. Being a beginning and making a beginning is a key human trait and one of the aspects that Schiller calls the ’game‘. 2. By nature, modern process conceptualization strives to create coordinated chains of action, which have been planned and which will reduce the degree of freedom to the benefit of predictability and reliability. 3. Consequently, modern process conceptualization contradicts the human ability of initiation and being a creator. Human beings become an educated ’part‘ of a planned work process and they thus give up their specific abilities. 4. On the other hand, they are constantly in demand as decisiontakers within a process – with decisions based on insights and freedom. The decisions do not only relate to innovation but also to quality and are taken as part of processes that are never totally planned through. As long as human beings make a beginning (incl. mistakes) total planning remains impossible. 5. The philosophical question is: what is the place in modern process organizations, where ’human beings‘ can be human, and how do they act it out? 6. One rather hesitant answer could be: it is in the deliberate subordination under the necessities of the planned process. With their freedom based on insights, human beings give up their freedom to the benefit of a coordinated plan. This would require such an insight to be generated through education and ’letting understand‘ and would hence explain why we have to explain and have to let understand and have to justify so extensively nowadays (the learning aspect of kaizen).

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2.2 Das erneuerte Kaizen

7. A different answer can be found when looking at the places of freedom within processes. Human beings encounter their particular trait of being a beginning in the sphere of arts and crafts. That is where they create something that has not been existent before, using something that did not initially contain what it has become now. Here kaizen grants the freedom to interfere with one’s working environment, change it, personalize it and turn it into an inherency through a relation of producing and creating. Through Kaizen human beings are given the opportunity to be an ’initiation‘. 8. Human beings perceive their freedom and their being a beginning when meeting other human beings, when – while abiding by their interdependencies – they create beginnings for their community. In the social and political sphere human beings perceive themselves as parts of a shared and dependent freedom (being both, freedom and a limitation for the others simultaneously). Kaizen opens this aspect through all its forms of team building and team responsibility. May the process be outlined – the way we deal with it and arrange ourselves around it as a community, is based on the freedom of our shared design. 9. Kaizen reconciles the realm of necessity as simulated by the modern processes with the realm of freedom, in which human beings are human and in full possession of their abilities. Hence, kaizen is the playing field needed to integrate human beings and not educated mammals - into processes.

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iversity ist nicht mehr einfach das Zusammenbringen der großen Unterschiede wie: unterschiedliche kulturelle Herkunft, unterschiedliche sexuelle Orientierung, unterschiedliche Altersstufen, Gender - meistens noch binäre gedacht. Intersektionalität und die zunehmende Erosion binärer Zuschreibungen öffnen uns das Auge für die reiche Binnengliederung der Unterschiedlichkeit. Mit der Tendenz zum Individualismus und der Wahrnehmung, dass Raum für den eigenen ‚purpose‘ immer wichtiger wird, ist es auch notwendig, sich in seinem eigenen Habitat, seinem sozialen Kontext ausdrücken und zeigen zu können. Und das in einem respektvollen Raum, der von Neugierde geprägt ist. Synnecta hat ein Format entwickelt, die ‚moments of exchange‘ welches es möglich macht, die Vielfalt in der Vielfalt zu erfahren. So werden Begegnungen möglich, die Freude machen, die Respekt und Verständnis vermitteln und die so die Grundlage für das ersehnte kollektive Engagement schaffen.

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us Gesprächen mit Gewerkschaften und Betriebsräten: Wie haben wir all die Jahre für eine gute Ergonomie, für die Absicherung der Arbeitnehmer*innen, für ihren Schutz vor Ausbeutung gekämpft und jetzt sehen wir, wie mit den schönen Worten Freiheit, Autonomie, Agilität garniert all das verloren zu gehen droht. Wer schützt denn in Zukunft die Arbeitnehmer*­ innen, die abhängig Beschäftigten? Vielleicht schützen sie sich selber? Selbstfürsorge, Aufmerksamkeit für sich selbst, die Fähigkeit Grenzen zu ziehen und die Balance zwischen Abhängigkeit und Freiheit immer und immer wieder zu finden – das werden wir, jede*r einzelne von uns, lernen müssen – und dann für einander fürsorglich zu sein. Lernen ein Wir zu bilden, eine neue Stimme in den Unternehmen zu formen, ein Wir zu bilden, das ein sehr anderes sein wird, als das alte des Klassenkampfs.

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achstumsschmerzen agiler Orga­nisationen Die Gruppe schwieg. Sie blieb still, obwohl die einladende Führungskraft versuchte, eine optimistische und aufbauende Botschaft zu senden. Fragen wurden ignoriert oder die Antworten waren vage und irrelevant. In kleineren Gruppen wurden die Gespräche ein wenig lebhafter und doch gab es keine klaren Aussagen, die das für eine Gruppe im Arbeitsumfeld sehr ungewöhnliche Verhalten hätten erklären können. Ich saß vor dem, was von einer Gruppe, einer Organisation nach einem gescheiterten agilen Experiment übrig geblieben war: Schweigen, Enttäuschung, Trauer, Zerwürfnis. Was war hier schiefgegangen? Es war nicht einfach die Führungskraft, die man als Verursacher hätte betrachten können. Er hatte ein sehr klares Verständnis von agilen Methoden, agilen Organisationsformen und er zeigte deutlich, dass er seine Position, sein Verhalten reflektiert hatte und es auch weiterhin tat. Dennoch hatte er ein paar soziale und psychische Dynamiken seines Experiments unterschätzt. Später am Tag konnten wir ein paar Gründe für den Zustand dessen, was von einer Organisationseinheit geblieben war, besprechen. Es führte nicht aus der tiefen Enttäuschung und dem Verlust an Vertrauen in sich selbst und in das Unternehmen, aber es half zu einer realisti-

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scheren Einschätzung. Was waren die nicht förderlichen Umstände, also das Lernpotenzial? 1. Es wurden brillante Menschen mit guter Ausbildung, hohem Engagement und leidenschaftlich verfolgten Ideen eingestellt. Sie sollten anders sein als die Mehrheit der Mitarbeiter*innen in diesem globalen, sehr gut organisierten Unternehmen. Es wurde ihnen ein Ort versprochen, an dem sie ihre Ideen verfolgen könnten, ihre Herzensprojekte umsetzen könnten. Der Anfang war enthusiastisch, Teams entwickelten sich, die Arbeit war hoch befriedigend. Dann aber griff die Organisation mit ihren eigenen strategischen Vorstellungen ein. Sie entsprachen oft nicht den Träumen, den Hoffnungen der eingestellten Menschen. Einigen Projekten wurde die Finanzierung genommen – logisch und sinnvoll aus der Sicht des Unternehmens, ein brutaler Stopp einer doch aussichtsreichen, neuen Idee, mit deren Realisierung man in kurzer Zeit große Fortschritte geinnen macht hatte. Die Mitarbeiter*­ konnten, wollten den Begründungen nicht folgen, bezweifelten auch die ökonomischen Bedenken. Sie wurden in andere Projekte, andere Anfänge verschoben – was sie einst mit einem so tiefen Sinn erfüllt hatte, war weg. Nun fanden sie sich in einer genauso freien und selbstorgani-

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sierten Struktur wieder, aber sie hatte nicht den Inhalt, nicht die emotionale Attraktion. Andere verließen schon an diesem Punkt das Unternehmen. In unserem Workshop war die Trauer über die verlorenen Projekte zu spüren, sie lag schwer über allem. Doch es wurde darüber nicht gesprochen, es war so etwas wie ein von allen gewusstes Geheimnis. In Organisationsformen, die so vom Engagement, von nehmer*­ der Leidenschaft der Teil­ innen bestimmt ist, sind Abschiednehmen, sind Trauerrituale notwendig, sollen die Menschen wieder frei für Neues, für eine neue Begeisterung werden. Und es ist schwierig in einem Umfeld abhängiger Beschäftigung für eine Produktidee zu brennen, es ist wohl aussichtsreicher mit Menschen zu arbeiten, die sich für Problemstellungen, für Kund*­innen, für Möglichkeiten engagieren wollen. 2. Wie in den Lehrbüchern beschrieben bestimmten sie einen ScrumMaster, einen ebenfalls brillanten jungen Mann, lebendig, fluide Intelligenz, der Abschlüsse mehrerer Spitzenuniversitäten vorlegen konnte. Er war gut, doch konnte nicht aufhören der Beste der Besten zu sein und er konnte sich nicht zurückhalten, in jedem Thema mit seinem Wissen, seinen Ideen, Teil der inhaltlichen Arbeit zu sein. Er versuchte, recht dogmatisch, die Regeln

zu vermitteln und forderte die Disziplin ein. Was fehlte, war soziale Kompetenz, ein beherrschter Narzissmus und ein Verständnis für die Aufgabe und Rolle eines methodischen und sozialen Begleiters. Er war der Falsche für diese Aufgabe. Soziale Kompetenz erlernt man eher selten an Spitzenuniversitäten. 3. Ohne tieferes Verständnis für die Dynamiken einer agilen, selbstorganisierten Struktur wurden die Menschen in einen agilen Arbeitskontext positioniert. Ihr eigener psychologischer Vertrag mit dem Unternehmen beinhaltet jedoch viele nicht agile Elemente: So das Verständnis, mit dem Eintritt in das Unternehmen Teil eines Systems geworden zu sein, welches fürsorglich einen sicheren Ort bereitstellt und so von den Sorgen der unsicheren Zukunft entlastete. Sie waren in eine Sicherheitszone eingetreten, die ihnen eine lange Karriere versprach. Sie erwarteten alle Freiheiten und zugleich eine Führungskraft, die die Richtung vorgab, die die Last der Entscheidung übernahm und in Konfliktfällen Lösungen herbeiführte. Was sie bekamen, war eine generelle, strategische Ausrichtung, eine*n Diskussions­part­ner*in und jemanden, die*der sich darum kümmerte, dass die Zusammenarbeit mit der Gesamtorganisation funktionierte, aber sie bekamen keine Entschei-

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dungen, wenn es Inhalte ihres Themas, ihres Projekts betraf. Schon das war eine Überforderung. Völlig überfordernd war es dann, als beschlossen wurde, dass die Feedbackgespräche nun in den Gruppen selbst geführt werden sollten. Da niemand in dem System über gruppendynamische Kenntnisse und Erfahrungen verfügte, eskalierten Situationen und/oder es legte sich ein lähmendes Schweigen über das System. 4. Während des Beginnens wurden alle Zweifel, Widersprüche und Unsicherheiten von der eigenen Begeisterung für das eigene Thema kompensiert. Mit der Zeit und dem Verlust von Projekten, der Notwendigkeit, Träume als Illusionen zu erkennen, kamen Fragen auf, Fragen nach der eigenen Zukunft, nach der Sicherheit, wenn die Begeisterung nicht mehr trägt. Waren Karriere, Sicherheiten, Belohnungen am Anfang irrelevant, so nahmen sie jetzt mehr und mehr Raum ein. Nun wurden Fragen nach der Zukunft, dem Karriereweg wichtig. Und es ging um Aufstieg – die Idee von lateralen Karrieren löste nur Enttäuschung aus. Ein Unternehmen, das keine nach oben führende Karriere anbieten konnte, wurde unattraktiv.

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Nach langen Perioden des Schweigens konnten wir die Bruchstücke der Schmerzen und Enttäuschungen zusammenfügen und zumindest einen höheren Grad von Wahrhaftigkeit etablieren. Es wurden Szenarien für einen Neustart entworfen und es öffnete sich für einige die Chance noch einmal, nun mit mehr Verständnis, in eine agile Welt einzutauchen. Für andere stellte es die Klarheit her, zu wissen, dass agile Selbstorganisation kein Platz für sie ist. Und einige verlassen die Organisation – Headhunter warten schon. Die gewonnene Klarheit machte es den Einzeln möglich, Entscheidungen zu treffen und so den Weg frei zu machen, das Gelernte und Erfahrene in einem neuen Versuch umzusetzen. Klarheit und Wahrhaftigkeit über eine agile Organisation sollten von Anfang an deutlich vermittelt werden, es sollte verstanden sein, dass ohne eine hohe soziale Kompetenz der Beteiligten diese Reise kaum gelingen wird. Die Position eines Agile Culture Coaches sollte selbstverständlich sein. Und wir sollten uns eingestehen, dass wir noch wenige Ideen haben, wie wir Menschen in solchen Organisationsformen Zukunftswege aufzeigen können, die das Modell einer vertikalen Karriere attraktiv herausfordern.

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in Plädoyer für gruppendynamisches Erfahrungslernen und gegen die Übermethodisierung agilen Vorgehens In letzter Zeit begegnen uns immer häufiger Mitarbeiter*innen und Führungskräfte, die in einem agilen Umfeld arbeiten und uns fragen, wie geht man mit dominanten informellen Führern um. Informelle Führung ist sowohl in der Soziometrie als auch in der Gruppendynamik ein wesentliches Phänomen, das oftmals zu erheblichen sozialen Spannungen in Gruppen und Teams führt. Es geht um Gruppen- und Organisationsmitglieder, die keine andere Legitimation haben, als ihre Durchsetzungskraft in Gruppen. Sie dominieren durch ihr Verhalten. Ihre Motivation zur Dominanz hat oft wenig mit einem sachlichen Vorsprung zu tun. Informelle Führung wäre unproblematisch, wenn sie der Sache dienen würde, jedoch geht sie oft mit negativen Nebenwirkungen einher: Motivationsverlust, Frustration und Leistungsminderung bei den anderen Teammitgliedern. Selbstorganisation ist eine sehr anspruchsvolle Form der Zusammenarbeit – in ihr fällt die regelnde Funktion eines formellen Führers oft weg oder sie wird aus Unsicherheit nicht mehr wahrgenommen. Es entfalten sich gruppendynamische Prozesse mit den bekannten Nebeneffekten – Stressphänomene, Rückzug Einzelner, Rangkämpfe und oft bleibt das

Ganze dann in einer dysfunktionalen Normierung der Gruppe stecken. Hier wird dann gerne auf methodische Reinheit verwiesen und die Methoden werden in klassischem Organisationsdenken weiter verfeinert und werden bürokratisiert. Jedoch der Glaube trügt, dass methodische Reinheit dem Phänomen beikommt. Rationale Regeln können ein emotionales Phänomen kaum begreifen und schon gar nicht in sie sinnvoll eingreifen. Emotionalität, wenn sie denn beeinflusst werden soll, braucht Emotionalität. Es gibt ein gutes Beispiel für die negative Wirkung der Übermethodisierung. Wir haben in den letzten Jahren beobachten können, wie Continious Improvement Ansätze durch eine Übermethodisierung und durch Regulationseifer an Kraft und Wirkung verloren haben. Ihr ursprünglicher Impuls mit wenigen einfachen Methoden, Menschen lustvoll zu einer Beteiligung einzuladen, wurde erstickt. Wer Leidenschaft, Gestaltungswillen und Selbstwirksamkeit in ein methodisches Korsett zu zwingen versucht, erstickt diese emotional so wirksamen und wichtigen Kräfte. In allen agilen Methoden und Arbeitsformen sind durch den Aspekt der Selbstorganisation und das Zurücknehmen einer formal mächtigen Führungsrolle deutlich gruppendynamische Aspekte zu bemerken – sie haben viel positive Energie, wenn sie die Teilnehmer*innen einbinden, ih-

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nen eine gemeinsame Mitte geben können und das Spiel der Dominanz in der Gruppe reflektiert werden kann. Genau dies aber geschieht häufig nicht und die Gruppendynamik entfaltet ihre negativen Wirkungen. Wenn wir agil erfolgreich arbeiten wollen, dann brauchen wir gemeinsam ein hohes Verständnis für die sozialen Phänomene und eine gemeinsame Sprache, um mit ihnen umgehen zu können. Die in den Arbeitsbeschreibungen vorgesehenen Begleiter*innen achten auf die Einhaltung der Methoden, können in gruppendynamische Phänomene aber kaum eingreifen – ihnen fehlt Ausbildung und Erfahrung. Agile Coaches können hier helfen, wenn sie über gruppendynamische Erfahrungen verfügen. Das kommt jedoch in den meisten Ausbildungen zu kurz. Und will man Gruppen helfen einen Weg zu einer gelingenden Selbstor-

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laming Game Gespräche in Unternehmen – quer durch die Organisation. Immer wieder das gleiche Bild: Die da unten tun es nicht! (häufig mit der Bitte an uns – ‚repariere sie!‘) und die Antwort der anderen Seite: die da oben verstehen nicht (häufig mit der Bitte ‚sag es ihnen!‘). Oben hilflose aktive Macht, unten passive beharrende Macht. Mittendrin die Orte von

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ganisation zu finden, dann brauchen die Gruppen begleitende Erfahrung über das, was mit ihnen und anderen in Gruppen geschieht. Wir sind heute oft in Gruppencoachings aktiv, in Gruppen, die agil arbeiten oder doch zumindest agil arbeiten sollen und wollen. In diesen Coachings reichen bereits wenige Erfahrungen, die in der Gruppe reflektiert werden, aus, um aus manchen der negativen Dynamiken aussteigen zu können und so das Potenzial einer Gruppe zu entfalten. Eine unreflektierte, dominante informelle Führerschaft macht die potenziell so reichen Gruppen ärmer als es der Einzelne sein könnte. Damit verlieren wir Engagement, Wissen und Können. Deshalb hier ein Plädoyer für ein breiteres gruppendynamisches Lernen in Organisationen und eine Warnung vor einer Übermethodisierung von Arbeitsformen, deren Grundlage ein emotionales Engagement bilden.

energetischem Miteinander (in der Regel zu wenige). Gruppen unterscheiden. Sie wissen, wer zum ‚uns‘ gehört und wer die anderen, die ‚Die Da‘ sind. Das vereinfacht die Welt und schafft eine schützende Zugehörigkeit. Leider erfolgt das oft mit einer Wertung: Wir sind ok – die da sind irgendwie nicht so ok. In dieser Unterscheidungsdynamik kommt es dann oft

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dazu, die anderen als Bedrohung des eigenen Status zu sehen, Neid zu entwickeln, nicht zu vertrauen oder sich selbst zu stabilisieren, in dem andere abgewertet werden. Oben und Unten ist dabei nur eine der vielfältigen Varianten. Es ist am Ende ein Spiel, in dem niemand gewinnt – es sorgt für Stillstand oder zumindest für eine beträchtliche Verlangsamung der Entwicklung gruppenübergreifender Strukturen. In unserer dynamisch, emergenten und kontingenten Entwicklung der Gesellschaft und so auch der Märkte ist die starre Unterscheidung zwischen ‚uns‘ und ‚denen‘ nicht mehr hilfreich. Es ist unsere Lernaufgabe, fluide Zugehörigkeiten zu bilden,

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urcht und Vertrauen In jedem Veränderungsprozess, welcher Art auch immer, mag es eine Krise sein oder eine große Chance, gibt es zwei Faktoren, die für den Prozess von entscheidender Bedeutung sind. Furcht und Vertrauen. Es gibt im Leben keine Sicherheit, es gibt sie nie und noch viel deutlicher spürbar gibt es keine Sicherheit in einem Prozess, dessen erste Eigenschaft die der Veränderung ist. Unsicherheit aber löst Angst aus, Unsicherheit über das, was uns erwartet, bedeutet mögliche Gefahr und die Möglichkeit von Gefahr ist der Grundauslöser aller Angst. Die

engagierte Zugehörigkeit auf Zeit. Das heißt, die sozialen Kompetenzen zu entwickeln, bei anderen ankommen zu können, engagiert da zu sein und wieder gehen zu können. Das setzt ein stabiles Ich voraus, ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Resilienz und das tiefe Wissen, in mir und mit mir selbst Heimat sein zu können. In unserem Verhalten werden wir vielleicht eine soziale Maxime verankern: Verhalte dich zu den ‚Die Da’s‘ so, wie Du als wahrscheinlich künftiger Teil eines ‚Die Da‘ behandelt werden möchtest. Ohne dieses Lernen werden wir Agilität als Eigenschaft eines sozialen Systems nicht verwirklichen können.

Angst vor Ungewissem beinhaltet Erwartungsangst, die Angst vor der Angst – eben jene Angst, die wie kaum etwas anderes den Menschen lähmt, ihn blind macht. Chronische Erwartungsangst und Angst im Übermaß verhindert einen klaren Blick auf die Wirklichkeit und verpasst somit die Erkenntnis des Möglichen, sie verhindert Lernen, Flexibilität und Entwicklung – überlebensnotwendige Fähigkeiten, um Krisen zu überstehen. Wie Sie mit Furcht und Angst umgehen, mit Ihrer eigenen und denen Ihrer Kolleg*innen und Mitarbeiter*­ innen, wie Sie Ihr Verhältnis zu Zu-

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versicht und Hoffnung beeinflussen, wird maßgeblich darüber entscheiden, ob dieser Prozess erfolgreich verläuft. Wie also können Führungskräfte in einer Situation handeln, die von Unsicherheit geprägt ist? Wie können Sie Furcht reduzieren und Vertrauen herstellen und dafür sorgen, dass Sie und Ihre Mitarbeiter*­ innen angesichts möglicher Gefahren und Bedrohungen nicht in lähmende Angst verfallen? Wer diesen Fragen Raum gibt und versucht, darauf eine Antwort zu finden, wird jede Krise bewältigen können. Realangst: In Veränderungsprozessen liegen konkrete Bedrohungen für alle Beteiligten. Es kann der Arbeitsplatzverlust sein, ein Statusverlust, eine Zunahme an Arbeitsaufwand, die Furcht, nicht zu genügen. In jedem Veränderungsprozess gibt es Gewinner*innen und Verlierer*­ innen. Diese Ängste sind real oder werden als real empfunden und entsprechen möglichen Wirklichkeitsszenarien. Sie sind konkret und zielgerichtet. Diffuse Angst: Diffuse Angstzustände brauchen kein konkretes Objekt der Angst. Es sind Grundängste, die im Wesen der menschlichen Existenz begründet liegen und die je nach persönlicher Lebensgeschichte unterschiedlich ausgeprägt sind und sich an individuellen Auslösern manifestieren. Auf beide Formen der Angst können Führungskräfte positiv Einfluss

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nehmen. Als Grundängste des Menschen werden beschrieben: • die Angst vor Veränderung – erlebt als Vergänglichkeit und Unsicherheit • die Angst vor Endgültigkeit – erlebt als Unfreiheit • die Angst vor Nähe – erlebt als Abhängigkeit • die Angst vor Selbstwerdung – erlebt als Isolierung, mangelnde Geborgenheit Vermeidungsverhalten bei Angst: • Vermeidung: Man weicht Situationen und Personen aus, die Angst auslösen. • Bagatellisierung: Die wird Angst klein geredet, Symptome heruntergespielt. • Verdrängung: Man lenkt sich von der Angst ab, betäubt sie und gibt sich selbst schonende Erklärungen dafür. • Leugnung: Angst wird vollständig ausgeblendet. Sie hat keinen Platz im Spektrum der eigenen Empfindungen. • Übertreibung: Überzogene Sicherheitsvorkehrungen und deren zwanghafte Wiederholung sollen die Angst reduzieren. • Generalisierung: Die eigenen Ängste werden als Norm angesehen. • Heroisierung: Wer die Angst aushalten kann, ist stark. Man ist ein Held*in. Diese Handlungsstrategien sind kurzfristig dazu geeignet, Angst zu redu-

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zieren. Alle führen jedoch dazu, dass ein klarer, situationsangemessener und zielführender Umgang mit der bedrohlichen Situation nicht möglich ist. Die Ressourcen zu einem konstruktiven Umgang mit der Krise können nicht genutzt werden. Inhaltlich wird somit die Chance auf eine Lösung der Krise verspielt. Langfristig führt das Vermeidungsverhalten auf der persönlichen Ebene dazu, dass das Angstniveau steigt und sich, wenn die Vermeidungsstrategien zunehmend versagen, soziale, psychische und körperliche Krankheitssymptome einstellen. Psychische Störungen tragen in der EU mit mehr als 26 Prozent zur Krankheitsstatistik bei – mehr als Herzerkrankungen oder Krebs. Dabei tragen Angststörungen und Depressionen den maßgeblichen Anteil. 14 Prozent der Gesamtbevölkerung Europas erkranken an Angststörungen! Damit ist die Angst, neben dem persönlichen Leid und dem Verlust an kreativer und produktiver Arbeitskraft in den einzelnen Unternehmen, ein enormer gesamtwirtschaftlicher Faktor. Jede vierte Krankschreibung und jeder 12. Ausfalltag gehen in Deutschland inzwischen auf psychische Erkrankungen zurück, so zeigen Statistiken des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen. Der Anteil dieser Störungen an den Krankheitstagen hat sich seit Beginn der neunziger Jahre mehr als verdoppelt.

Früher trat man in ein Unternehmen ein, mit der Gewissheit dort irgendwann die goldene Uhr zum 25. Dienstjubiläum überreicht zu bekommen. Inzwischen hat man donnerstags noch das Gefühl, alles sei in Ordnung – und am Montag wird der eigene Geschäftsbereich geschlossen. Als Angstauslöser gelten auch betriebliche Umstrukturierungen, bei denen die Persönlichkeit und die Anforderungen des Jobs in ein Missverhältnis geraten, wenn zum Beispiel ein*e gewissenhafter und zahlenorientierter Buchhalter*in plötzlich als Servicekraft Kund*innen beraten soll. Die Tatsache, dass in der modernen Gesellschaft im Grunde alle Beziehungen unter Trennungsvorbehalt stehen, trägt zu einem Gefühl der Verunsicherung deutlich bei. Was also tun? 1. Anerkennung • Der erste Ansatzpunkt zu einem angemessenen Umgang von Führungskräften mit den in einer Veränderungssituation aktiven Ängsten ist, sie anzuerkennen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um konkrete oder diffuse Ängste handelt, ob die Ängste realistisch oder unrealistisch sind. • Wenn Sie dabei für sich selbst in der Lage sind, grundsätzlich eigene Angstanteile in Ihrem eigenen Leben zu erkennen, wird es Ihnen leichter fallen, mit den Ängsten anderer umzugehen. Wenn Sie

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Ihre eigenen Ängste anerkennen, dann brauchen Sie nicht mit Abwehr reagieren, wenn Sie mit Angst konfrontiert werden. 2. Angstreduktion Vertrauen ist jene Emotion, die der Angst gegenüber liegt. Es gibt zwei Arten von Vertrauen, die beide miteinander zusammenhängen: Vertrauen in sich selbst und in seine Fähigkeiten und Vertrauen zu anderen Menschen. „Angst klopfte an. Vertrauen öffnete. Niemand war draußen.“ (Aus China)

In einer angstauslösenden Veränderungssituation innerhalb eines Unternehmens werden sich die Mitarbei­ ter*­ innen auf die Führungskräfte beziehen. Als Führungskraft gilt es also, dazu beizutragen, dass Ihre Mitarbeiter*innen Ihnen Vertrauen entgegenbringen und dass Sie Situationen und ein Klima schaffen, in dem Ihre Mitarbeiter*innen sich selbst und ihren Fähigkeiten besser vertrauen können (Selbstwirksamkeit). Aus der Kinderpsychologie ist bekannt, welche Erfahrungen es sind, die bei einem Kind dazu führen, dass sein absolutes Vertrauen in sich und in die Umwelt enttäuscht wird. Diese Formen der Enttäuschung reduzieren auch bei Erwachsenen das Vertrauen in sich und ihre Umgebung, z.B. ihr Unternehmen:

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Vertrauen in die Führung sinkt, wenn: • das Gefühl entsteht, allein gelassen zu werden – wenn niemand da ist, wenn Hilfe benötigt wird • Vorgesetzte etwas ankündigen und es nicht einhalten • Vorgesetzte scheinbar grundlos und beliebig handeln, insbesondere bei negativen Sanktionen • Vorgesetzte ihre Launen an Mit­ arbeiter*innen auslassen • es keine Kontinuität im Verhalten der Führungsebene gibt. Das heißt, ohne eine klare und funktionierende Führungskoalition werden Ihre Mitarbeiter*innen Ihnen nicht vertrauen. Vertrauen in sich selbst und in die eigenen Fähigkeiten sinkt, wenn: • chronisch zu hohe Anforderungen gestellt werden, sodass Mitar­ beiter*innen immer wieder erleben, etwas nicht zu schaffen • sehr viel mehr kritisiert wird, als dass Wertschätzung vermittelt wird • Mitarbeiter*innen sich einer Situation hilflos ausgeliefert fühlen • Vorgesetzte überbehüten und kontrollieren, den Mitarbeiter*­ innen keinen Raum für eigenen Erfahrungen lassen • und sie sich nicht als lernend, selbstwirksam und selbständig erleben können

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• nicht zwischen Selbstunsicherheit und Situationsunsicherheit unterschieden wird • Vorgesetzte oder Mitarbeiter*in den Anspruch haben, fehlerfrei sein zu müssen. Vertrauen in sich selbst und in die eigenen Fähigkeiten steigt bei: • Erlebnissen von Selbstwirksamkeit: Wann immer Menschen sich als selbstwirksam erleben, als Handelnde, deren Tun einen Unterschied macht, steigt das Vertrauen in sie selbst. Dies gilt mit am stärksten bei erfolgreicher Bewältigung einer schwierigen Situation. Werden diese Erfolge dann zudem der eigenen Person zugeschrieben, steigt die Selbstwirksamkeitserwartung am meisten – man traut sich auch in Zukunft schwierige Situationen zu und zeigt bei einzelnen Misserfolgen eine höhere Frustrationstoleranz. • Stellvertretenden Erfahrungen: Meistern andere Menschen eine schwierige Aufgabe oder trauen sie sich zu, dann traut man sie sich selbst auch eher zu. Je größer die Ähnlichkeit und die Nähe zur beobachteten Person, desto stärker

die Beeinflussung durch das Vorbild. • Verbaler Ermutigung : Menschen, denen mit Zuversicht und Wohlwollen begegnet wird und denen von anderen zugetraut wird, eine bestimmte Situation zu meistern, glauben mehr an sich, als wenn andere an ihren Fähigkeiten zweifeln. Zugleich ist es wichtig, nicht unrealistisch zu fordern. • Emotionsregulation: Menschen, die ihr Erregungsniveau selbst beeinflussen (durch z.B. Atemtechniken, diszipliniertes Denken und Eigenreflektion, Sport zur Abfuhr körperlicher Erregung, und vieles mehr), haben mehr Vertrauen zu sich und ihrer Selbstwirksamkeit, da sie erleben, dass sie ihren eigenen Gefühlen und Erregungszuständen nicht hilflos ausgeliefert sind. Es gilt also: Es gibt viele Gründe, Angst zu haben. Wenn die Ängste anerkannt und nicht vermieden werden, bleibt die Handlungsfähigkeit erhalten und Menschen können Krisen bewältigen. Und gesund bleiben. Es gibt keine Sicherheit. Aber Zuversicht.

„Angst und Freude sind Vergrößerungsgläser.“ Jeremias Gotthelf

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istributed leadership or a system is lead by the system itself The topic of ’leadership’ is usually described out of the leaders’ perspective. It’s said that it was about personality and behavior. This follows a dominant cultural pattern where we think about leaders as exceptional personalities and heroes as they are presented to us in many legends and tales. But this is a very narrow view on the topic. A social system is lead by the social system itself and a leader may play a role in this steering – a role that gets dominant, when the social system it allows. We learned to describe the role of a leader, what is distinctive different to the position, as an influencer. For our future, we must get rid of the idea of the charismatic hero as a leader and learn to understand distributed leadership. Let me share some insights about this topic.

Lightvision

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Balancing the dominant charismatic perspective towards leadership The idea of a charismatic leader at the top of an organization is dominant in the psychological perspective about leadership. At the same time we know that an organization is led by itself, by its inherent culture, nonexplicit rules and behavioral patterns. Why do we concentrate on the idea of the ‘break through’ delivering charismatic leader using the old, archaic model of the ‘hero’? It fits perfectly the hierarchical and still pivotal idea of an organization which is capable of making decisions, able to move quickly and producing a projection surface for its own identity. It reduces the complexity of a modern organization and allocates responsibility. And it is deeply rooted in our hardware and software – from architecture to media coverage. Let us have a look at some examples. The Cologne Cathedral – the perspective is clear; the focus is the altar. Our view is guided and in

razihusin

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being guided the whole context gets blurred. Or look at a classical theater, the front stage. Everything is happening there, we are only audience. Even today a townhall meeting is following this stage image. The FAZ published advertisements to attract young potentials. They put ‘leaders’ in classical pictures in the today usual leadership outfit and showed the in the pose of heroes, of conquerors.

As in the African concept of Ubuntu or Hegel’s approach to the relation between master and servant: The leader is related to the ones he is leading or, to put it more focused, charisma is the result of a projection of a group and an organization towards a leader. The organization makes the leader. This guides us to the question: How can I – as a person in the role of a leader – influence an organization in its process of self-monitoring and in the end of choosing a fitting projection towards my leadership? Some insights to an itself monitoring organization

Anzeigenkampagne des F.A.Z-Stellenmarktes 2004

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Our cultural mindset is dominated by the idea of a leader as a charismatic conqueror and hero. By now, our democratic idea of steering a society has not made it to our deeper cultural images. Hierarchy is pivotal but needs balancing We cannot dispense hierarchy, but we can balance it with the fact of an organization driven by itself. And we can start to work with these processes of self-monitoring.

Anzeigenkampagne des F.A.Z-Stellenmarktes 2004

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We can use the metaphor of the behavior in a swarm/shoal: A way a swarm is guiding itself without a

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clear appointed leader gives us some insights about guiding and influencing behavior in an organization. A swarm is more intelligent than a single leader - a swarm is, when the decision is made, more focused und unified than a led group. A swarm is more able to reconsider a decision than a led group. There are some conditions for intelligent swarms: • all members have the same rank (we use that e.g. in brainstorming) • communication is redundant and information is circling around • every member and every source of information is used and integrated in the discourse • the number of members is high (a group of many members e.g. evaluates the weight of a bull more exactly than an expert)

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How does a swarm make decisions? • Accepting a position when it gets dominant in the discourses and sharing’s • The process of the emerging decision is supported by the weight of an attractive member (in a swarm usually moving in the center) if the decision is connected to the exchanged information (leaders have to learn to wait). Leadership and the self-monitoring swarm – balancing leadership with swarm intelligence and swarm focus • Leadership is necessary to move a swarm out of a preferred circle movement in order to give it a direction • Leadership is accepted and followed, without losing the focus on swarm intelligence, if the decisions are fitting the exchanged flow

Hierarchy and bureaucracy is accompanied by interlinked communities

Hierarchy Bureaucracy Rules, regulations, procedures

The organization as a group of interlinked communities – talking about the organization and with their talk creating a concurrent reality

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2.3 Zwischenrufe

of information and if the increasing number of neighbors begin to move with the leaders (guiding coalitions). Leadership has to accept and open space and time for the swarm communication and must foster some conditions for forming a swarm: • exchange, discussions, discourses • a long term perspective of the membership • the experience of mutual trust • members certitude of being valuable for the swarm To make it work, it is necessary to take care of a high consent regarding the values, beliefs and aims of the organization by a high degree of heterogeneity of competencies and abilities of the members. Further, heterogeneity and discussion within the system is needed. In order to be a good swarm member you should have as many loose contacts to as many other members as possible, use as many sources of information as possible. Communities – a sociological perspective (in their dynamics the nearest to a swarm in human societies) In our societies, we do have an increasing movement of being organized by communities in an ongoing discourse. The role of political hier-

archy changes more and more towards a moderating and pooling role. With the dominance of communities and their discourses, the role of leadership changes – to team people, to interlink groups and to facilitate a discourse gets more and more important. A phenomenon that increases also in companies that have a clear transnational constitution. Communities with a high capacity of interlinks are related to increasing productivity, higher motivation, responsibility and the ability to continuous improvements. Communities with open boundaries and their members being partners in more than one community are boosting the social capital. Fostering networks and interlinking them is therefore a big step in creating social capital. Try out, what you can do with this concept • How many influential communities in your organization do you know? • In what communities are you a member, in how many are you a key player? • What kind of community can you create? How can you make it influential? • Do you know the content and valuations of the talk? • What is your attractive contribution to the reality creating talk?

2.3 Zwischenrufe

Sociometry – how to work with the social structure of a company J. L. Moreno invented ‘Sociometry’, claiming that a group is formed by the different amount of attraction between its members. So it is not only range and cohesion towards a common attractive center, it is also the manifolds of relations between the members valued by liking or disliking that forms groups and communities. I would like to highlight to aspects that could be important for a ‘leader’ if she*he starts to form an organization as interlinked communities based on core values and common goals. Formal and informal organization in communities/groups One of Moreno’s insights: Every formal structured group is also formed by an informal structure. The more both structures are congruent, the more the group is productive and content, the more both structures are differing, the more disturbances are within the group. The task of a forming leader is to work with her*his teams and the organization to build social structures so that informal and formal structure are con-

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gruent. This can only be done if they start to build emotionally charged relations. For the task of forming a culture of leadership excellence it is important to relate people to others and not only to relate them towards oneself. About bridg­ing peo­ple and influencing comm­unities: Groups are interlinked by people who are able to maintain contact to different communities and being attractive for members of different communities. We call them bridge people. To work with communities, to be related to them and to use them you should: • Learn the social network • Identify influential people • Connect them towards your leadership team Transformational leadership Developing a culture of excellent leadership is not about making the ‘leader’, but to form a ‘focused’ and ‘guided’ company. By doing that you start to act as a transformational guide eventually chosen as a transformational leader by the people of your organization.

2.4 Haiku

rot und gelb verschmiert gleitet die hand in meine fragt nach dem leben

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2.4 Haiku

nun kommt der nebel kriecht aus den nahen wäldern nimmt mich aus der welt

2.4 Haiku

sehn wir einander wenn so vertraut die gesten und haut sich schon weiß?

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2.5 Von Außen

„To (have a) dialogue means to believe that the ‘other’ has something worthwhile to say, and to entertain his or her point of view and perspective. Engaging in dialogue does not mean renouncing our own ideas and traditions, but the pretense that they alone are valid and absolute.“ Pope Francis

„The truth isn’t always beauty, but the hunger for it is.“ Nadine Gordimer

„All sorts of things in this world behave like mirrors.“ Jacques Lacan

3. Häuptling und ­Schamane – eine Perspektive zu ­ kollektiver Steuerung

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3.1 Einleitung

3.1 Einleitung Unternehmen sind nach alten Modellen organisiert. Die hierarchische Struktur und die Steuerung durch ­einen bürokratischen Apparat erinnern an einen militärischen Ursprung. ‚Command and Control‘ sind in diesem System wesentliche Verhaltensmaximen, Maximen für die Führung. Komplementär wird von den Geführten erwartet, sich regelkonform und gehorsam zu verhalten. In der Realität wird jedoch schnell sichtbar, dass dieses Modell Grenzen hat, der Führung fehlt die Macht, das Bestrafungspotential, das Command durchzusetzen. Zugleich vermindert die Komplexität der Unternehmen selbst, besonders aber die Volatilität der Märkte die Fähigkeit zu einer erfolgreichen Kontrolle. Die bürokratische, top down Steuerung hat die Grenzen ihrer Wirksamkeit erreicht. Nun sind Unternehmen und Organisationen im Allgemeinen nicht eindimensional gesteuert. Die so häufige Verwendung des Wortes Kultur, oft als Barriere oder Schwäche konnotiert, verrät, das andere Faktoren in der Steuerung eine Rolle spielen. In den ersten beiden Kapiteln wurde die Steuerungskraft der kulturellen Bereiche der Kunst und der Ästhetik betrachtet sowie die eigenen Regeln folgende soziale Steuerung eines Multigruppengefüges.

Nun schauen wir auf eine andere Perspektive aus der heraus versucht wird, die impliziten Aspekte der Steuerung eines Unternehmens zu verstehen: Die Beschreibung eines Unternehmens als ‚Tribal Organisation‘. Die Perspektive wird zunehmend erhellender, wenn man sich die Grenzen der Anweisungsmacht in einem modernen Unternehmen in din modernen Reitsportes vor Augen führt. In einer in der Quantität überschaubaren tribalen Organisation fällt eine Rollenteilung auf – es gibt den ‚Häuptling‘, den ‚Vorsitzenden‘ oder den ‚König‘ etc. und neben ihm gibt es eine religiöse, spirituelle Institution, den ‚Schamanen‘, den ‚Priester‘ etc., der über eigene Steuerungsinstrumente verfügt. Dem ‚weltlichen‘ Herrscher steht das System ‚Command and Control‘ zur Verfügung, das durch ein Bestrafungssystem Mächtigkeit erlangt. Dem spirituellen Beeinflussungssystem stehen andere Mittel zur Verfügung – neben einem spirituell ermächtigtem Bestrafungssystem vor allem Rituale, Gebete und Geschichten. Beide bilden eine sensible Machtbalance, manchmal im Widerspruch, manchmal im Gleichklang. Wir sehen, dass es in Unternehmen ein ähnliches System der dualen

3.1 Einleitung

Führung gibt. Neben der in der Hierarchie institutionalisierten Führungskraft gibt es oft ein internes und ein externes Beratersystem, das über eigene Formen der Weltdarstellung verfügt. Neben den inhaltlichen Beratern, die über wohlgeschützte Daten und eine eigene Sprache verfügen, gibt es Berater, die sich mit den Menschen beschäftigen, damit eine Verständnisbrücke zwischen Führung und Mitarbeiter*innen herzustellen. Sie arbeiten nicht im ‚Command and Control‘ System, sondern bilden beeinflussende, überzeugende, gewinnende Kommunikationsformen aus und zielen auf eine gemeinschaftliche Haltung gegenüber den Geschehnissen in der Welt. In der heutigen Darstellung der Unternehmen wird dieses Feld gerne mit den Worten Purpose, Leidenschaft, Gemeinschaft angesprochen. Hier hat sich ein anderes Steuerungssystem ausgebildet, das von eigenen Stellen im Unternehmen ausgefüllt wird und der hierarchischen Führung zur Seite gestellt wird - sozusagen Unternehmensschamanen. Lassen sie uns einen Blick auf die Fragestellungen werfen, die uns als Beratersystem immer wieder erreichen und die verdeutlichen können, welche Rolle eine so aufgebaute duale Führung in einem Unternehmen spielen kann. In Ausschreibungen, in Gesprächen geht es oft darum, wie denn die Menschen ‚mitgenommen‘ werden

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können, wobei sich oft die Frage stellt, ob sich denn die beauftragenden Führungskräfte mitgenommen fühlen. In diesem Anliegen verstecken sich andere Fragen. Zum Beispiel: Bei uns gibt es diffuse Bestrebungen, die sagen, dass wir etwas tun müssen. Wir sehen Symptome und wir fürchten, dass wir die Kunst verpassen. Irgendwie muss sich die Kultur, der Mindset ändern. Oder, wir sind uns in der Führung nicht einig - eigentlich geht es den anderen um Macht und Bestandserhalt. Oder ‚Wie macht man eigentlich Veränderung, gibt es da einen one pager?‘ Der ’Ich muss das steuern, ich muss das als Erfolg verkaufen, ich muss das an irgendwas messen, wie geht das?‘ Wir fassen die unterschiedlichen Anliegen als Steuerungsprobleme zusammen, Probleme, die sich in der gewohnten ‚Command and Control‘ Haltung nicht lösen lassen. Wir erleben Führungsgruppen als hilflos, als wort- und bildlos, wenn sie versuchen über das ‚Mitmachen‘ der Menschen zu reden. Im Hintergrund ist oft eine Phantasie zu spüren: Ich als Führungskraft begeistere 1000 Mitarbeiter*innen, die im Halb­ kreis um mich stehen und mit leuchtenden Augen zuhören und mitmachen wollen. Mit dem Bild kommt das Gegenbild, ich stehe vor den tausend Menschen, sage etwas und sie schweigen mich an. So begegnen wir Ratlosigkeit und Furcht. Eine erste Ratlosigkeit ent-

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3.1 Einleitung

steht in dem Hadern damit eine Gruppe zu sein. Viele ihrer erfolgreichen Konzepte beruhen darauf, bestimmen zu können, ein Handlungsbedarf zu definieren, indem sie aktiv, bestimmend eingreifen können. Spätestens dann, wenn sie eine komplexe Gruppe führen, spüren sie, dass sie nur noch sehr bedingt bestimmen können – sie können nur noch Einfluss nehmen. Aber wie geschieht das? Eine emotional ausgerichtete Kommunikation, die nicht nur erklärt, sondern die verstehen lässt, die einlädt zu etwas Neuem von dem jeder Teil sein kann ist selten Teil einer Führungsausbildung. Es ist aber genau die Fähigkeit die man braucht, will man die in vielfältigen Gruppen organisierte Gemeinschaft Unternehmen beeinflussen. Es ist ein nicht technisches Vorgehen und widerspricht einem gelernten Bild, mit dem wir die einseitig rationale Bildung gestalten. Das Bild bezieht sich auf die Beherrschung von Techniken, des Könnens im Umgang mit den Dingen. Wir haben Roller fahren gelernt, Dreirad, Fahrrad und schließlich Auto – ich beherrsche das Gerät, ich lenke. Und ich bleibe im Bild, lenke meine Karriere, meine Abteilung, mein Unternehmen und schließlich mein Leben. Ich bin Steuermann, ich beherrsche das Feld, bestimme Richtung, bin Stratege, habe Übersicht und Weitsicht, vorausschauend bestimme ich die Richtung, behalte die Ruhe auch im

Sturm, weiß die Wege, kenne die Klippen. Und wenn es eng wird, dann suche ich nach anderen Hilfsmittel: besseres Radar, Stabilisatoren, Wetterberichte, stärkere Motoren, elektronische Hilfsmittel – und in diesem Bild will ich dann auch Veränderung führen: Ich will das Feld beherrschen, um es so steuern zu können. Der Mensch aber, dessen Veränderung wir auch fordern, wir brauchen – soll es denn gelingen – ist nicht nur ein Ding in dieser Welt. Ich will ihn gewinnen, will sein Engagement, will seine Unterstützung. Und so ist es eine Aufgabe inmitten eines so sachrational, technisch gedachten Umfeldes mit einer ganz anderen Logik zu arbeiten: Ich muss Menschen mit Worten, Bildern, Geschichten, eigenem Verhalten erreichen und sie verstehen lassen, warum dass, was jetzt getan wird, sinnvoll und gut ist. Das ist nicht leicht, denn zugleich handle ich in einem rationalen System, das von mir verlangt, alles unter Kontrolle zu haben, alles planen und beherrschen zu können. Nun soll ich mich zugleich auf eine tentative Reise begeben, in der ich, wenn es denn gelingt eine Resonanz zu erzeugen, meine Mitarbeiter in ihrer intrinsischen Motivation erreiche. Es ist ein Widerspruch, in dem ein einzelner Mensch kaum konsistent handeln kann. Damit kommen wir zurück zu dem Bild einer dualen Führung. Gerade heute wo Unternehmen sich im-

3.1 Einleitung

mer mehr als Gemeinschaften verstehen, die zueinander gehören, weil sie etwas miteinander als höheren Zweck erreichen wollen, scheint es wohl notwendig, sich über eine machtvolle andere Stimme in der Unternehmensführung auseinander zu setzen. Es wird nicht eine religiös verankerte Schamanenrolle sein – aber ein Rolle, die aus einer anderen Perspektive auf die Gemeinschaft Unternehmen schaut und die es gelernt hat mit der divergierenden Vielheit der menschen im Unternehmen so umzugehen, das gemeinsam ausgerichtetes Handeln möglich wird, ohne dabei die Eigenheiten der Teilsysteme und der Individuen zu unterdrücken. Diese Rolle wird immer wieder von einzelnen Menschen eingenom-

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men. Sie wird oft in den Human Ressource Zuständigkeiten zumindest teilweise wahrgenommen. In den Zeiten des klassischen Kaizens waren es Moderationsrollen, Koordinatorenrollen und schließlich Prozessbegleiter. Heute werden die für diese Rollen erforderlichen Fähigkeiten in Agile Culture Coach Ausbildungen vermittelt. Je stärker der ‚emotional turn‘ in der Rollenbeschreibung einer Führungskraft wird, je mehr Unternehmen an ihre dienende gesellschaftliche Rolle erinnert werden und je mehr der begabten jungen Potentiale immer auch Sinnsucher sind, desto wichtiger wird es werden, dem ‚Schamanen‘ in der Unternehmensführung Raum zu geben.

152 

3.2 Führung von Veränderungsprozessen

3.2 Führung von Veränderungsprozessen 1. Einleitung Schon der Titel verweist auf einen bedeutsamen Unterschied in Bezug auf die Praxis von Veränderungsprozessen: Prozessbegleiter*­ innen sind selten Führungskräfte. Sie begleiten Prozesse, führen sie aber nicht. Es gibt eine Rollenteilung zwischen dem Management, das die Veränderungen auf der Grundlage von Vorgaben einleitet und verantwortet und den Prozessbegleiter*innen die diesen Prozess in der Ablauflogik gestalten und in der sozialen Umsetzung begleiten. Diese Rollenteilung liegt nahe, weil sie den auch weiterhin hierarchisch geprägten Führungs- und Steuerungsmodellen der Organisationen entspricht. Zugleich verursacht diese Rollenteilung eines der großen Probleme in der Führung von Veränderungsprozessen, nämlich die Abspaltung einer nach technischer Logik gestalteten Organisationsveränderung von den sozialen Prozessen der Implementierung. Diese Abspaltung wird an drei Phänomenen in der Beziehungsgestaltung von Management und Prozessbegleitung sichtbar. Die Einstellungen, Bezugssysteme und Bilder, mit denen das Management auf der einen Seite und die Prozessbegleiter*innen auf der anderen Seite die Veränderungsdynamik verstehen, sind in der Regel so unterschiedlich, dass es zu keiner gemeinsamen Führung des Veränderungsprozesses kommt. Der Prozess wird - spätestens in den Umsetzungsphasen - in sich widersprüchlich geführt, Orientierung geht verloren, die Mitarbeiter*in­ nen erhalten einander widersprechende Botschaften. Die Reaktion auf Krisen im Prozess erfolgt auf der Grundlage unterschiedlicher und häufig einander widersprechender Erklärungsmodelle. Werden die Change Prozesse aber ganzheitlich betrachtet und damit von beiden Funktionen gemeinsam gestaltet, so kommt dem Aufbau einer gemeinsamen Sprache und eines geteilten Verständnisses große Bedeutung zu.

1.1 Es wird keine gemeinsame Sprache ­gesprochen

3.2 Führung von Veränderungsprozessen

 153

Weitverbreitet ist die Tendenz, die Verantwortung 1.2 Das sach-­ für den sach-logischen Teil der Veränderung (Struklogische Vorgehen tur, Arbeitslogik, Managementinformationssysteist dem sozialme) dem Management, für den sozial-logischen Teil logischen Vorgehen den Prozessbegleiter*innen zuzuschreiben. Dabei vor- und über­ hat der sach-logische Teil immer Vorrang vor dem geordnet sozial-logischen Prozess, der zeitlich auch als angefügt verstanden wird. Ein Grundsatz der Prozessbegleitung ist die Verknüpfung und parallele Implementierung des sach-logischen und des sozial-logischen Prozesses. Dieser Grundsatz wurzelt im Partizipationsgedanken – wird aber als solcher im Management selten verstanden. Die soziale Logik der Veränderung wird so vor allem als Störfaktor wahrgenommen, der von den Prozessbegleiter*innen eliminiert werden soll. Damit wird die soziale Logik der Sachlogik unterstellt. Die*der Prozessbegleiter*in wird in der betriebli1.3 Die*Der chen Hierarchie oft als ausführende*r Funktions­ Prozess­begleiter*­ träger*in, nicht aber als Partner*in in der Gestalin ist im hierarchitung von Veränderungen verstanden. schen Gefüge der Bringt man den Aufbau von Kompetenz in der Organisation dem Prozessbegleitung mit der Führung von VerändeManagement rungsprozessen in Verbindung, so kann es nicht nur unterstellt um umfassende Lehrinhalte für Prozessbegleiter*­ innen gehen, sondern um eine Qualifizierung des Führungssystems ‚Veränderungsmanagement‘, von dem die Prozess­ begleiter*­innen ein Teil sind. Das Wissen um die Dynamik von Veränderungsprozessen muss im Führungssystem (Management und Prozessbegleiter*innen) verankert werden. Neben einem gemeinsamen Verständnis für die Dynamik der Veränderung, den bestimmenden Faktoren und den sachlichen wie sozialen Folgen ist die Kompetenz zum Aufbau einer Lernarchitektur notwendig. Die Betroffenen der Veränderung sollen selbst ein Verständnis der Situation erlangen und durch ein gemeinsames Lernen das hierarchische Delegationsverhältnis verringern. Im Folgenden werden jene Veränderungen im Rollenbild der Prozessbegleiter*innen dargestellt, die wesentliche Auswirkungen auf die Ziele der Kompetenzbildung haben. Nach einer Betrachtung der besonderen Aufgaben der Prozessbegleiter*innen in der

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3.2 Führung von Veränderungsprozessen

Führung von Veränderungsprozessen werden abschließend einige Vorschläge zur Gestaltung einer Lernarchitektur erörtert, in der die Veränderung eingebettet ist.

2. Veränderung in der Rolle und Aufgaben­ beschreibung der Prozessbegleiter*innen Prozessbegleiter*innen als Funktionsgruppe innerhalb von Veränderungsprozessen haben sich aus den TQM-Bewegungen entwickelt. Anfangs war das TQM in seinen Maßnahmen kultur- und strukturkonservativ. Leitend war die Frage: ‚Wie können wir das, was wir tun, besser machen?‘. Über moderierte Gruppenarbeit, Visualisierung und einfache Problemlösungstools wurden in den bestehenden Arbeitsprozessen Verbesserungen erzielt. Prozessbegleiter*innen waren hier mehr Moderator*innen und hatten koordinierende Aufgaben. Die Aufgabe der Führungskräfte war es, die Moderator*innen ihre Arbeit tun zu lassen und sie aktiv zu nutzen, indem sie ihnen den Zugang zu den Arbeitsprozessen ermöglichten und sie durch ein von Kennzahlen gesteuertes Kontrollsystem unterstützten. TQM wurde in der Regel technisch verstanden und als Methode eingesetzt. Die tiefere soziale Logik der TQM-Bewegung, ihr partizipativer Ansatz und ihr auf Eigenverantwortung und Eigensteuerung setzendes Ideal wurde wenig verstanden. Als erste begannen die TQM-Moderator*innen (die späteren Prozess­begleiter*innen) über Fragen der sozialen Dynamik und des Lernens in der Organisation nachzudenken. Sie begannen sich in ihren Bezugssystemen vom Management abzukoppeln. Diese Entwicklung wurde durch die Eigendynamik von TQM-Prozessen verstärkt. Die Fragebereiche für mögliche Verbesserungen wurden immer umfassender. Es begann mit Schnittstellenfragen, die die bestehende Ablauf- und Aufbauorganisation in Frage stellten und griff kulturrelevante Fragestellungen auf, wie z.B. die Idee der Kundenorientierung oder innerhalb der Fertigungen der Aufbau teamorientierter (teilautonomer) Arbeitsgruppen. Die Adaption der aus dem Reengineering stammenden Prozessidee, mit der vollständige und geschlossene Arbeitsprozesse in den Blick genommen wurden, verstärkten diese Entwicklung weiterhin.

3.2 Führung von Veränderungsprozessen

 155

Die Prozessbegleiter*innen rückten damit in neue Aufgabenbereiche vor, die aber vom Wissensstand des Managements (und so vom Rahmen der internen Beauftragung) nicht gedeckt waren. Prozessbegleiter*innen wurden weiterhin als Moderator*innen wahrgenommen, die in begrenzten Bereichen Probleme ausräumten. Sie waren Hilfskräfte des Managements, zuständig für TQMMaßnahmen und die Beseitigung sozialer Probleme. Die für die Führung von Veränderungsprozessen hinderliche Qualität der Arbeitsteilung und der damit einhergehenden Beziehungsdefinition zwischen Prozessbegleiter*in und Führung hat hier ihren Ursprung und ihre Tradition. Die Veränderung der Rolle und des Aufgabenfeldes führte die Prozessbegleiter*innen in strukturelle Fragestellungen, Zuschnittsfragen in der Organisation wurden relevant. Die Leitfrage hieß nun oft: ‚Warum machen wir das was wir tun, eigentlich so wie wir es tun und nicht ganz anders?‘. Wissen über den Aufbau einer Organisation, den Zusammenhang zwischen Leistungsziel und Art des Zuschnitts von Funktionen und ihrer Verbindung über Steuerungsund Informationssysteme wurde für die Arbeit der Prozessbeglei­ ter*innen relevant. Diese neue Dimension ihrer Arbeit war von der Idee der*des TQM-Moderatorin*s nicht gedeckt, das Selbstbild wandelte sich zu dem einer*s internen Beraterin*s. Auch wenn die Arbeitsbeschreibung weiterhin die Begleitung von Veränderungen meint und es sich primär um eine Integrationsaufgabe handelt, in der das jeweils ‚Neue‘ in das Sozialsystem des Unternehmens einzufügen ist, kommt die*der Prozessbegleiter*in um eine Beschäftigung mit strukturellen Fragen der Aufbau- und Ablauforganisation nicht herum. Jede erfolgreiche Integration verlangt ein erprobendes Vorgehen. Mit eher groben Vordefinitionen wird die Veränderung gesetzt und muss in der Integrationsarbeit erst konkreter definiert werden. Dies kann nur sinnvoll gelingen, wenn die Vordefinitionen selbst auch wieder korrigiert werden können. Die Steuerungslogik des Veränderungsprozesses wird über die Korrekturschleifen reflexiv. Eine inhaltlich neutrale Rolle wandelt sich, die Prozessbegleiter*innen selbst werden zu den Agenten der Veränderung. Erst hier wird es sinnvoll, von der Notwendigkeit eines Führungsduos im Veränderungsmanagement zu sprechen. In der klassischen TQM-Aufgabe

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3.2 Führung von Veränderungsprozessen

ließ sich die sehr eingeschränkte (gleichwohl wirtschaftlich erfolgreiche) Veränderungsarbeit im Sinne einer Delegation von der Führung an die*den Prozessbegleiter*in verstehen. Nun wird die konkrete Gestalt der Veränderung in einem gegenläufigen Prozess erst verhandelt. Der alte partizipative Ansatz der TQM-Bewegung wird hier umgesetzt. Die Führung von Veränderungsprozessen wird reflexiv und mehr tastend und erprobend als reglementierend. Danach werden Entscheidungen auf unterer Ebene möglich und erst so wird das Sachwissen der konkreten Arbeitsprozesse nutzbar. Im gesetzten Rahmen der Veränderungslogik werden Entscheidungen von unten nach oben möglich. Damit gerät das technisch-rationale Modell der Führung eines Veränderungsprozesses, das in der Regel vom Management gelebt wird, gemeinsam mit dem hierarchischen Modell bürokratischer Verfahrensweisen in eine Krise. Die Prozessbegleitung übernimmt hier die Funktion, diesen gegenläufigen Prozess zu moderieren und mit allen Beteiligten neues Wissen zu erwerben. Dieses neue Wissen betrifft die Struktur, den Ablauf und die Gestaltung von Veränderungen in dieser Organisation. Die Prozessbegleitung stößt an ihre Leistungsgrenze, wenn sie ihre Partner im Veränderungsprozess nicht in ein reflexives Lernen einbinden kann. An dieser Grenze stehen heute sowohl interne Berater*innen (Prozessbegleiter*innen) als auch externe Prozessberater*innen - oft kann diese Grenze nicht überschritten werden. Das Ergebnis sind offene Baustellen, Ruinen begonnener Veränderungen und Enttäuschungen. Dass das Model der hierarchisch-bürokratischen Verfahrensweisen und das Denken der rein technischen Machbarkeiten in die Krise geraten ist, ist mehr als eine theoretische Feststellung. Die Krise des Modells der Steuerung durch hierarchisch bürokratische Verfahrensweisen und technische Rationalität, das auch auf Veränderungsprozesse angewandt wird, ist kein Abstraktum. Es sind konkrete Menschen, Führungskräfte, die diese Krise erleben und sie als Kulturbruch wahrnehmen, dem sie oft nicht zu folgen bereit sind. Die reflexive Steuerung von Veränderungen verlangt immer die Einbeziehung der Führung in den Prozess – doch der läuft nun nicht mehr unter ihnen nach klaren Regeln und in sicheren Zukunftsaussichten ab. Führung wird zu einem Faktor im Entscheidungsprozess, sie sind nunmehr die Mitspieler in einem Spiel,

3.2 Führung von Veränderungsprozessen

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das die Entscheidungen selbststeuernd trifft. Diese neue Situation verlangt ein verändertes Verhalten und korrigierte Orientierungen. Über die Idee der lernenden Organisation rückt der Kulturbegriff in den Fokus der Prozessbegleitung. Eine Leitfrage für Veränderungen heißt nun ‚Was wollen wir eigentlich und warum wollen wir gerade das?‘ Die Arbeit an gemeinsamen Vorstellungen/Bildern möglicher Zukünfte und konkreter Auseinandersetzung mit den Hindernissen und eigenen Einschränkungen rückt in den Vordergrund. Für die Prozessbegleiter*innen geht es dabei um die Einbeziehung der Auftraggeber*innen und der Führung in einen organisationsweiten Lernprozess und um die Gewinnung einer tragfähigen Führungsallianz, die dem Prozess die Kraft gibt, Krisen zu überwinden. Die Prozessbegleiter*innen werden hier zu Experte*innen für die Entwicklung von Lernszenarien und den Aufbau reflexiver Gesprächsmuster, die Abstimmungen leichter machen. Als interne Begleiter*innen sind sie dabei selbst Teil dieses Lernprozesses, den sie als Architekt*innen für den Aufbau der Veränderung wesentlich gestalten. Damit hat sich die Rolle der Prozessbegleiter*innen noch einmal gewandelt. Diese neue Rolle können sie nur wahrnehmen, wenn sie als Partner*innen der Führung im Veränderungsprozess anerkannt werden und eine hinreichende Expertise für den Aufbau von Lernarchitekturen gewonnen haben.

158 

3.2 Führung von Veränderungsprozessen

Zugang Veränderungsprozess Leitfrage: Was wollen wir eigentlich und warum wollen wir gerade das? Veränderungszugang: z.B. lernende Organisation Leitfrage: Warum machen wir das was wir tun eigentlich so wie wir es tun und nicht ganz anders? Veränderungszugang: z.B. Reengineering Leitfrage: Wie können wir das, was wir tun besser machen? Veränderungszugang: z.B. TQM Die Durchdringung von Zugangsebene in neueren Veränderugskonzepten verändert das Rollenprofil der Prozessbegleiter*innen und verlangt die Einbindung der Führung in die Steuerung des Veränderungsprozesses.

Überlegungen zum Aufbau und zur Entwicklung von Kompetenzen in der Prozessbegleitung müssen so zweierlei bedenken: Die Aufgaben und damit die Handlungsmöglichkeiten von Prozessbegleiter*innen bestimmen sich aus dem Reifegrad der Organisation in Bezug auf das Veränderungsmanagement. Die Spannweite richtet sich von reiner TQM-Moderation bis hin zur*m Gestalter*in von reflexiv gesteuerten Veränderungsprozessen. Unsere Erfahrungen zeigen, dass sich einfache Verbesserungsprozesse über die klassische Rolle einer*s TQM-Koordi­natorin*s bewältigen lassen. Klassisches Lernen in Trainings, Konzentration auf Methoden und standardisierte Abläufe reichen hier aus. Die Struktur und Kultur eines Unternehmens bleibt von den Maßnahmen weitgehend unberührt. Der Verbesserungsprozess erschöpft sich allerdings nach einiger Zeit, kann jedoch durch sozialpsychologisch motivierte Maßnahmen stabilisiert werden. Geht es aber tatsächlich um Veränderung, die man mit dem Begriff Prozessmusterwechsel beschreiben könnte, wird die Arbeit einer*s Prozessbegleiterin*s immer strukturund kulturkritisch. Hier werden andere Kompetenzen verlangt, die nicht nur die Person der*s Prozessbegleiterin*s betreffen, sondern Kompetenzen der Organisation selbst. Über den Erfolg einer Veränderung entscheidet vor allem die Ablauflogik der Prozessschritte. Sucht man daher nach einer Beschreibung für die eine gemeinsame Lernanstrengung wichtigste Kompe-

3.2 Führung von Veränderungsprozessen

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tenz in der Führung von Veränderungsprozessen, so liegt sie in der Fähigkeit einer Organisation, solche Ablauflogiken zu entwickeln. Eine wesentliche Voraussetzung für diese Fähigkeit ist der Erwerb architektonischen Wissens über die eigene Organisation. Es müssen Beschreibungen über das Zusammenspiel der einzelnen Organisationsteile und ihrer komplexen Dynamik unter dem Einfluss von Veränderungsimpulsen verfügbar sein. Diese Kompetenz ist jeweils organisationsspezifisch. Ihr Lernen kann daher auch nur in der Organisation erfolgen. Gleichwohl können sich Prozessbegleiter*innen, wie auch die Führung das dafür nötige Wissen extern, jeweils ihren Rollen entsprechend erwerben - realisieren müssen sie es in der Organisation durch eine gemeinsame Lernanstrengung.

3. Aufgabe der Prozessbegleitung in der Führung von Veränderungsprozessen Betrachtet man die Aufgabe der Prozessbegleitung in der Mitgestaltung und Begleitung eines Umsetzungsdesigns für eine Veränderung im Aufbau und Ablauf einer Organisation, durch die auf kulturelle Faktoren Einfluss genommen wird, so ergeben sich drei Kompetenzfelder. A. Umgang mit der Führung: Angeleitet ist die Entwicklung einer tragfähigen Führungskoalition und die Begleitung dieser Koalition durch die Krisen eines Veränderungsprozesses. Krisen stellen Lernchancen dar. B. Umgang mit den Subsystemen in der Organisation und den Mitarbeiter*innen: Wie werden partizipativ Übergänge geschaffen, Orientierung und Vertrauen ermöglicht und die Sinnhaftigkeit der Veränderung vermittelt? C. Antworten auf die Fragen nach einem Implementierungsdesign: In welchem Ablaufdesign kann die Organisation lernen, mit Veränderung produktiv umzugehen, die Offenheit und Fehleranfälligkeit von Veränderungsprozessen zu tolerieren und auf die Veränderungsimpulse mit angemessener Selbstorganisation zu reagieren? Je nach Reifegrad der Organisation werden Prozessbegleiter*­ innen mehr oder weniger diese Aufgaben wahrnehmen müssen. Das Spektrum reicht dabei von*m Moderator*in von Implemen-

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3.2 Führung von Veränderungsprozessen

tierungsworkshops bis hin zur*m Gestalter*in des Veränderungsprozesses in gemeinsamer Verantwortung mit der Führung. Um die Weite und Tiefe der Aufgaben etwas deutlicher erfassen zu können, möchte ich einzelne Aufgaben aus den drei Kompetenzfeldern näher beschreiben. Zu A: Die Prozessbegleitung muss sich der Krise der Führung stellen. Betrachtet man die derzeitigen Transformationen unter dem Aspekt der Steuerung, so fällt auf, dass sie auf einer zumindest teilweisen Umkehrung der Entscheidungswege beruhen. Es werden Entscheidungsprozesse von unten nach oben notwendig. Das für Entscheidungen notwendige Wissen liegt vor Ort, doch die Aufteilung des Unternehmens in separate Wissensfelder macht eine zentrale Sammlung des Wissens, insbesondere des impliziten, stummen Handlungswissens jedes einzelnen, unmöglich. Die Grundlagen für Entscheidungen liegen so immer mehr bei dezentralen, marktnahen, in sich selbstständigen Unternehmensteilen mit ihrer eigenen Kultur. Komplexität und Verantwortung werden nach unten verlagert. Diese Entwicklung stößt mit den technisch-rationalen Steuerungsmodellen der meisten Führungskräfte zusammen. Sie versuchen ihr gewohntes, eher kybernetisches Modell der Steuerung auch in Veränderungsprozessen umzusetzen. Auf der Ebene des Verhaltens zeigen sie dies in ausgeprägten Kontrollverhalten, mangelnder Beteiligung an der Gestaltung der Prozesse und erhöhtem Druck auf die Mitarbeiter*innen durch Überbestimmtheit der Zielvorgaben. Mit der Krise dieser Steuerungsmodelle und der Einführung reflexiver Steuerungen nimmt die Unsicherheit der Führung zu damit oft in der Abwehr die Rückkehr zu anweisungsorientierter Gestaltung von Veränderungen. Die Unsicherheit der Führung wird noch dadurch verstärkt, dass Veränderungsprozesse sich heute meistens überlagern – das führt zu einem komplexen Handlungsfeld der Prozesssteuerung. Dazu tritt die Tatsache, dass es keinen tieferen Veränderungsprozess gibt, indem nicht einige Funktionen an Bedeutung gewinnen, während andere - zumindest in den Augen der unternehmensinternen Öffentlichkeit - an Bedeutung verlieren. Es gibt im subjektiven Empfinden der Führungskräfte Gewinner und Verlierer. In diesem Szenarium ist es die Aufgabe einer*s Prozessbegleiterin*s, gemeinsam

3.2 Führung von Veränderungsprozessen

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mit der Führung ein Bewusstsein dieser Situation zu schaffen und tragfähige Absprachen über die Ziele und den Verlauf der Veränderung zu formulieren. Dies kann im Rahmen der üblichen Visionsworkshops geschehen, wenn in ihnen neben einem hohen Konkretisierungsgrad auch eine emotional tragfähige Aussprache über die Erwartungen und Befürchtungen der geplanten Veränderungen stattfinden kann. Diese Arbeit kann ein*e interne*r Prozessbegleiter*in nur bedingt leisten - hier wäre es ihre*seine Aufgabe, für eine geeignete externe Unterstützung zu sorgen. Dieser Prozess muss wiederholt werden, weil sich mit der Dynamik eines Veränderungsprozesses die Geschäftsbedingungen ursprünglicher Absprachen immer wieder verändern. Selbst wenn die konkrete Arbeit mit der Führung von Externen geleistet wird, muss die*der interne Prozessbeglei­ ter*­in seine Führungskräfte für diese Arbeit öffnen. Damit gerät sie*er in ein Beziehungsfeld, an dem die*der klassische TQM-Koor­ di­nator*in nicht beteiligt war. Prozessbegleitung in diesem Sinne findet immer in einer Beziehung statt. Die Qualität dieser Beziehung wird umso wichtiger, je unsicherer sich die Führungskräfte in ihrer Aufgabe als Veränderungsmanager fühlen. Hierin liegt die Begründung für die Aufnahme sogenannter ‚psychotherapeutischer Arbeitsformen‘ in die Curricula für Prozessbegleiter*­innen. Prozessberatung und Prozessbegleitung ist immer Beziehungsgeschäft: Die Unsicherheit der Situation einer Veränderung verlangt Sicherheit im Design der Veränderung und in den die Veränderung tragenden Beziehungen. Zu B: In den Veränderungsprozessen werden Komplexität und Verantwortung nach unten verlagert. Zum Teil konterkariert das Management diese Entwicklung durch überbestimmte Kontrollsysteme, zum Teil beschränkt es sich auf Forderungen und Zielvorgaben. Manchmal nehmen diese Vorgaben illusorischen Charakter an. In beiden Fällen bleibt es den abhängigen Bereichen überlassen, mit den Zielen zurechtzukommen und Wege zur Erreichung der Ziele zu finden. Diese Situation wird als verunsichernd erlebt. In fast jedem Veränderungsprozess kommt es zu Widersprüchen, das Neue will erst gelernt sein und das Alte ist noch da. Auch ein häufiger Wechsel der Bezugsgrößen ist kaum zu verhindern. Diese

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3.2 Führung von Veränderungsprozessen

Folgen aus den Transformationen machen die engagierte Beteiligung der Mitarbeiter*innen notwendig - sie müssen sich immer wieder mit den Veränderungen identifizieren, sie als sinnvoll erleben und sie als von ihnen beeinflusst wahrnehmen können. Die Eingebundenheit von Unternehmensteilen und Mitarbeiter*innen in den Veränderungsprozess eröffnet für den einzelnen die Chance, die Veränderung am Arbeitsplatz als sinnstiftend auch für seine eigene Lebensplanung zu empfinden. Nur so kann die in der Veränderung ausgelöste Unsicherheit und Orientierungslosigkeit bewältigt werden. Die soziale Ebene der Veränderung ist nicht nur bei der Frage der Implementierung von Bedeutung. Sie entscheidet darüber, ob eine Veränderung tatsächlich dauerhaft wirksam wird. Eine häufige Schwierigkeit in der Gestaltung des Implementierungsprozesses ist die zeitliche Taktung des Prozesses. Die in Projektgruppen und Steuerkreisen mit dem Thema der Veränderung beschäftigten Menschen unterschätzen ihren Lernvorsprung. Sie, die sich Monate mit dem Thema beschäftigt haben, erwarten von den Mitarbeiter*innen ein unmittelbares Verstehen und direktes Umsetzen im Verhalten. Zugleich verkleinern sie den Gestaltungsraum für die Mitarbeiter*innen, so dass diese sich nicht aktiv und das heißt immer auch kritisch mit den Veränderungsimpulsen auseinandersetzen können. Implementierung kann aber nur dann gelingen, wenn die Mitarbeiter*innen die mentalen Modelle, mit denen sie bisher ihre Arbeitsrealität betrachtet und gestaltet haben, verändern und durch geeignetere Modelle ersetzen können. Diese Modelle müssen sich in ihre individuellen Haltungen und Denkmuster einfügen lassen können. Dieser Integrationsprozess verlangt Zeit, Lernräume, Auseinandersetzung und gegebenenfalls auch Veränderung der Vorgaben. In diesen Prozessen werden Fragen nach Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Zuverlässigkeit aufgeworfen. Die Veränderungen treffen die Mitarbeiter*innen unvorbereitet. Oft ist es nicht klar, aus welchen Gründen Veränderungen jetzt nötig sind. Es fehlt an Wissen und an Modellen, die Veränderungen des Marktes in unternehmensinternes Wissen umzusetzen. Vertrauen kann aber nur dann entstehen, wenn die Beteiligten eine gemeinsame Wissensbasis haben, auf der Entscheidungen getroffen werden. Geteiltes Wissen und gemeinsames Verständnis einer Situation ­ermöglicht Voraus-

3.2 Führung von Veränderungsprozessen

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sicht, schafft damit verlässlichere Erwartungsräume und ist so die Grundlage für Vertrauen. Im Erleben der Mitarbeiter*innen beginnt die verlässliche Welt der unternehmensinternen Abläufe und Regeln zu zerfallen. Fragen tauchen auf: • Wie kann Loyalität in Organisationen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? • Gibt es Raum und Zeit, in der sich formloses Vertrauen der Mit­ arbeiter*innen untereinander entwickeln kann, das die Grundlage für Loyalität ist? • Wie sollen sich die Mitarbeiter*innen orientieren, wenn Erfahrungswissen entwertet wird und Veränderungen heute immer weniger als kontinuierlich, sondern vielmehr als Bruch wahrgenommen werden? Die in sich widersprüchliche Antwort der Unternehmen, die Mitarbeiter*innen sollten sich selbst als Unternehmer*innen verstehen, ist nicht tragfähig. Ein Unternehmen besteht aus einer Gemeinschaft von Menschen, die durch Loyalität, gemeinsame Ziele und geteilte mentale Modelle getragen wird. In ihr kann man sich nicht primär egoistisch verhalten, ohne dem Ganzen zu schaden ganz abgesehen davon, dass man in einem Unternehmen nicht Unternehmer*in sein kann (davor stehen die elaborierten Kontrollsysteme, Abhängigkeiten und Überbestimmtheiten der Kennzahlsysteme). Es geht vielmehr um die Entwicklung gemeinsamer Orientierungen im Prozess der Implementierung. Das in der Dynamik der sich überlagernden Veränderungsprozesse erschütterte Gemeinschaftsgefühl muss in jeder Implementierung wieder zurückgewonnen werden, soll das System die Veränderungen tatsächlich integrieren. Prozessbegleitung ist hier Orientierungsarbeit, Wissensarbeit und Begleitung der Menschen durch die Turbulenzen der Anpassung an das Neue. In der konkreten Arbeit mit Gruppen im Rahmen der Implementierung sind Prozessbegleiter*innen mit diesen Fragen konfrontiert. Werden sie in den Gruppen nicht beantwortet, das heißt von den Menschen miteinander so behandelt, dass sie Sinn wahrnehmen können, der auch ihre privaten Sinne berücksichtigt, bleibt die Veränderung in der Regel oberflächlich. Die Menschen koppeln sich ab, verlieren Leistungsfähigkeit und sabotieren, oft ohne es zu mer-

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3.2 Führung von Veränderungsprozessen

ken, die Veränderung. Sie bleiben ihrem alten Wissen und ihren alten Erfahrungen verpflichtet. Prozessbegleiter*innen haben die Aufgabe, Reflexionsmöglichkeiten zu schaffen und in der Organisation Antworten auf diese Fragen entstehen zu lassen. Die Bilder, Geschichten und mentalen Modelle, mit denen das Neue integriert wird, bestimmen die Mitarbeiter*innen in einem geleiteten Abstimmungsprozess. Eine neue Kultur entsteht, indem sich die Mitarbeiter*innen mit der Sachlogik der Veränderung auseinandersetzen und sich als Person und als Sozialsystem dazu in Beziehung setzen. Diese Arbeit wird von den Prozessbegleiter*innen gestaltet. Einmal, indem sie die dazu notwendigen Orte und Zeiten schaffen, zum anderen, indem sie selbst als Reflexionspartner*in zur Verfügung stehen. Über sie verständigt sich das System über sich selbst und kann ein neues Verständnis seiner selbst gewinnen. Zu C: Wenn in einem Verbesserungsprozess sicher geltende mentale Modelle in Frage gestellt werden, so ist ein zeitlich linearer Prozessablauf nicht zu erreichen. Veränderungen verlangen in der Regel einen Musterwechsel in den handlungsleitenden Einstellungen der Beteiligten. „Die gravierenden Probleme unserer Zeit lassen sich nicht mit dem gleichen Denken lösen, unter dem sie entstanden sind“ (Albert Einstein). Die das Handeln in der Organisation bestimmenden tieferen mentalen Modelle sind den Beteiligten jedoch in der Regel nicht bewusst. Veränderungen können hier nur durch den Aufbau reflexiver Schleifen geschehen, indem die Erfahrungen im Verlauf des Veränderungsprozesses immer wieder als Anlass zu einer kritischen Würdigung und möglichen Korrektur genommen werden. Allein ein solches Verfahren verändert schon die geltenden Ideen über die Steuerung von Veränderungen im Unternehmen. Die Grundlage dieser reflexiven Schleifen ist ein Erkundungslernen, indem die Beteiligten der verschiedenen Ebenen begreifen, was gemeint ist und wie sie es in ihrer Realität verstehen und schließlich umsetzen können. In dieser Integrationsanstrengung geht es nicht primär um den sach-logisch formulierten Teil der Veränderungsimpulse, sondern um Klarheit, warum sich die vereinbarten Maßnahmen so schwer umsetzen lassen. Dabei stößt man vielleicht auf tiefere Widersprü-

3.2 Führung von Veränderungsprozessen

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che zwischen den bestehenden mentalen Modellen und den in den Veränderungen implizit geforderten neuen Modellen. Wenn die identitätsstiftende Stärke eines Unternehmens z.B. im Krisenmanagement der eigenen Planungsmängel liegt, dann kann es schwer sein, eine Veränderung zu implementieren. Wie kann das Unternehmen seine Stärke – das Krisenmanagement - dann noch beweisen? Genauso vergeblich ist es, eine team-orientierte Produktion effektiv umzusetzen, wenn das Führungsverhalten der Fertigungsleitungen sich nicht real ändert. Jeder tiefere Veränderungsprozess verlangt so individuelles und soziales Lernen - die Aufgabe der Prozessbegleiter*innen ist es, Räume und Zeiten für dieses Lernen zur Verfügung zu stellen. Im Design des Veränderungsprozesses müssen sie für den Aufbau hinreichender Lernschleifen sorgen, in denen erkundendes Lernen stattfinden kann. Sie können zwar die Unsicherheit bezüglich der nächsten Schritte und der daraus resultierenden Folgen nicht beseitigen, aber sie können durch das Design der reflexiven Vergewisserung über den Zustand des Prozesses und der damit gegebenen Chance, korrigierend einzugreifen, allen Beteiligten Prozesssicherheit geben. Diese Sicherheit ist die Grundlage, überhaupt lernen und die bisherigen individuellen und kollektiven Erfolgsrezepte in Frage stellen zu können. Es ist ihre Verantwortung in Zusammenarbeit mit dem Management und den Personalabteilungen, Lernarchitekturen zu entwickeln. Mit dem letzten Punkt ist deutlich geworden, dass Kompetenz in der Führung von Veränderungsprozessen nicht allein die Aufgabe bestimmter Funktionsgruppen ist, sondern eine Kompetenz des Unternehmens selbst. Die Prozessbegleiter*innen spielen dabei eine unterstützende und auslösende Rolle - die Kompetenz entwickelt sich aber im Prozess des gemeinsamen Gestaltens, an dem die Führung genauso Anteil hat wie die Personalabteilungen und die anderen Funktionsgruppen im Unternehmen. Veränderungsfähigkeit lernen heißt, sich auf den Weg zu machen und sich dabei selbst kritisch und korrigierend zuzusehen. Diesen Prozess zu begleiten und immer wieder in den Krisen anzustoßen, ist eine wichtige Rolle der Prozessbegleiter*innen. Sie in dieser Rolle überhaupt wahrzunehmen, ist bereits ein Zeichen der gewonnenen Veränderungskompetenz im Unternehmen.

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3.2 Führung von Veränderungsprozessen

4. Von der Optimierung zum Prozesswechsel Veränderungen in der Rolle der*s Prozessbegleiterin*s Veränderungsprozesse Optimierung

Veränderung

Analyse des Bestehenden

Vision

Schwachstellen aufzeigen

Rollen- und Regelklärung

Behebung der Schwachstellen

Modellszenarien/Pilotprojekte

Null Fehler Ziele

Fehlerfreundliches Entwicklungsklima

Fokus auf Effektivität und Richtigkeit

Fokus auf Innovation

Merkmal: korrektive Anpassung - konservativ – Kulturerhalt

Merkmal: die Sache ‚neu‘ denken - (r)evolutionär – Kulturbruch

Haltungen in der Prozessgestaltung: Optimierung

Veränderung

Lineare Steuerung

Reflexive Steuerung

Vorrang von Kausalität

Vorrang von Rekursivität/Drive

Definition klarer Kennzahlen

Modellszenarien/Pilotprojekte

Kontrollen

Ideen und Visionen, Erarbeitung gemeinsamer Werte Kommunikation

Fokus auf Durchsetzung

Fokus auf Partizipation

Penetranz und Konsequenz

Kreativität und Konsequenz

5. Hinweise zum Kompetenzaufbau in der Führung von Veränderungsprozessen Wie beschrieben ist die Qualität der Beziehung zwischen den verantwortlichen Führungskräften und den Prozessbegleiter*innen für die Gestaltung eines Veränderungsprozesses von großer Bedeutung. Solange Prozessbegleiter*innen primär als Hilfskräfte für die Moderation von Workshops wahrgenommen werden, ist es un-

3.2 Führung von Veränderungsprozessen

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wahrscheinlich, dass intern gesteuerte Veränderungsprozesse tatsächlich zu einem Musterwechsel führen. Verbesserungsprozesse wird man auf diese Weise führen können, jedoch keine Veränderung. Die derzeitigen Probleme der Prozessbegleitung (mangelnde Akzeptanz, unzureichende Kompetenz, widersprüchliche Aufträge) liegen weniger in dem zu geringen Qualifikationsniveau vieler Prozessbegleiter*innen, sondern in einem unzureichenden Verständnis der Auftraggeber für die Dynamik von Veränderungsprozessen. Soll die interne Kompetenz zur Führung von Veränderungsprozessen erhöht werden, so muss vor allem der Gruppe der Führungskräfte - als den internen Auftraggebern für Veränderung – ein zureichendes Bild über die Dynamik und Gestaltung von Veränderungsprozessen vermittelt werden. Erst aus der Kenntnis dieser Dynamik heraus lässt sich die Notwendigkeit und der Sinn der Prozessbegleitung verstehen - und mit einem so gewonnenen Verständnis wird sich die Qualität der Beziehung zwischen Führungskräften und Prozessbegleiter*innen verbessern. Erst dann werden sie ihre Rolle als soziales System der Steuerung von Veränderungsprozessen wahrnehmen können. Der aussichtsreichste Weg, Kompetenz zur Füh5.1 Kompetenzaufrung von Veränderungsprozessen in der Organisatibau im Verändeon zu verankern, liegt so in der Arbeit mit Führungsrungsmanagement kräften. Sie kann intern von Prozessbegleiter*­innen setzt bei den initiiert werden. Dabei ist es das Ziel, ein gemeinsaFührungskräften an. mes Bezugssystem zu entwickeln. Dies kann nicht extern geschehen, sondern muss im Unternehmen stattfinden. Externe können hier nur Anstoß und Anregung geben. Gemeinsame Workshops von Führungskräften und Prozessbeglei­ ter*innen, in denen diese sich über die Erfahrungen mit Veränderungen austauschen, sind ein möglicher Weg. Erst wenn beide ­Seiten eine ähnliche Sprache und einen Schatz gemeinsamer Erfahrungen gefunden haben, können sie beginnen, aus den Erfahrungen zu lernen und das jeweils eigene Verhalten zu korrigieren. Prozessbegleiter*innen verfügen über eine eigene funktionale Kompetenz, die im Aufbau der Organisation und ihren Karrierewegen abgebildet sein muss. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen Veränderungskompetenz ist es, die Eigenständigkeit der Rolle einer*s

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3.2 Führung von Veränderungsprozessen

Pro­ zessbegleiterin*s wahrzunehmen und zu begreifen, dass Prozessbegleiter*innen über eigenes Erfahrungslernen eine spezielle Kompetenz für den Aufbau von Veränderungsprozessen und den Umgang mit den Krisen in diesen Prozessen entwickeln. Die noch häufig anzutreffende Haltung, Prozessbegleitung als Übergangsjob zu verstehen, zerstört Kompetenz im Unternehmen. Ähnliche Folgen hat der Mangel an Karrierechancen für Prozessbegleiter*innen. Diese Funktion ist in den meisten Unternehmen eine KarriereSackgasse. Auch deshalb verlassen Prozessbegleiter*innen immer wieder ihre Aufgabe. Es gibt keine Kontinuität und damit erodiert die gewonnene Kompetenz in diesen Funktionen. Da das Wissen der Prozessbegleiter*innen oft ein implizites Wissen ist, das sie während der Ausübung ihrer Funktion erworben haben, verlässt es mit der Person das Unternehmen. So verlieren Unternehmen mit dem Wechsel der Personen interne Kompetenz im Veränderungsmanagement. Wann immer über das Design eines Implementierungsprozesses entschieden wird, sollte auf den Aufbau einer reflexiven Steuerung geachtet werden. Es müssen genügend Wiederholungsschleifen eingebaut werden, damit die Beteiligten aus den eigenen Handlungen lernen können. Nur in einer mehrfach rückbezüglichen Steuerungsarchitektur kann das für ‚Neuerung‘ wichtige Double-Loop-Learning und das für den internen Kompetenzaufbau notwendige Deuterolernen (Lernen über das Lernen) stattfinden. Ohne diese Lernschleifen, in denen sich die Mitarbeiter*innen auf sich und auf die Art und Weise sich zu organisieren beziehen, gibt es keinen Kompetenzaufbau für die Gestaltung von Veränderungsprozessen. Die Organisation beginnt dann immer wieder von vorne, Erfahrungen aus früheren Veränderungen können nicht genutzt werden. Die Führung und ihre Steuerungsgremien sind Teil der Veränderung und stehen nicht außerhalb. Sie sind die entscheidende Lernblockade, die es zu lösen gilt. Um die Führung in die Veränderungen mit einzubeziehen, müssen zuerst die unseligen Leitungskreise reformiert werden. Heute sind sie meist nichts anderes als Kontrollstellen, die sich in der Regel als unbeteiligt an der Veränderung definieren. Im Vordergrund

5.2 Implementierungsprozesse im VeränderungsManagement müssen reflexiv angelegt werden

3.2 Führung von Veränderungsprozessen

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stehen Appelle an andere. Die offizielle Haltung ist: Wir müssen verändern, gemeint ist jedoch jeweils ein anderer. Erst wenn die Steuerkreise sich selbst als den ersten Ort der gewünschten Veränderung verstehen und sich selbst als Lernblockade entdecken, werden die Chancen der Prozessbegleitung, einen glaubwürdigen und aussichtsreichen Veränderungsweg zu gehen, steigen. Die für den Erfolg der Veränderung geforderte tragfähige Führungskoalition muss die Verpflichtung beinhalten, sich selbst in dem Prozess zu thematisieren und sich so eigenem Lernen zu öffnen. Jeder Veränderungsprozess beginnt mit der Änderung in den Einstellungen der Führung. Die Kompetenz zur Führung von Veränderungsprozessen im Unternehmen steigt parallel zur Bereitschaft der Führung, sich - auch als Kollektiv - selbst zu thematisieren und die eigenen mentalen Modelle zu hinterfragen. Zu einer sinnvollen Veränderungsarchitektur gehört die frühe Einbeziehung der betroffenen Mitar­ beiter*­ innen – nicht nur, weil dies Implementierungsbarrieren verringert, sondern weil auf das Wissen vor Ort nicht verzichtet werden kann. Je früher Mitarbeiter*innen einbezogen werden, desto früher können sie mit der Erweiterung, Ergänzung oder Veränderung eigener handlungsleitender Modelle beginnen. Die tatsächliche Umsetzung der Veränderungsimpulse hängt von der Integration der den Veränderungen zugrundeliegenden mentalen Modelle in die Handlungsorientierungen der Mitarbeiter*­innen ab. Hierzu ist ein frühes Lernen über den Kontext der Veränderung, deren Ziele und Zwecke notwendig. Prozess­begleiter*innen betreiben hier Wissens- und Übersetzungsarbeit. Neben Me­ tho­denkenntnissen gehört hierzu die Fähigkeit, mit kritisch

5.3 Erfolgreiche Implementierung beruht auf partizipativen Modellen in der Ausgestaltung von Veränderungs-Szenarien

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3.2 Führung von Veränderungsprozessen

gestimmten Menschen umzugehen. Diese kritische Haltung ergibt sich oftmals aus der Erfahrung der Mit­arbeiter*innen, dass es schon viele ‚Veränderungsruinen‘ im Unternehmen gibt, die lediglich eine beiter*innen beskeptische oder ängstliche Haltung vieler Mitar­ wirkt haben. Auch hier ist Pro­zess­begleitung Beziehungsgeschäft. Jeder Veränderungsprozess benötigt eine Mobilisierung. Die Bereitschaft von Mitarbeiter*innen, sich auf das Abenteuer der Veränderung einzulassen, muss geweckt und stabilisiert werden. Dies geht nicht ohne Emotionen. Neben dem Erwerb von Wissen geht es auch um die emotionale Beteiligtheit der Mitarbeiter*innen. Mobilisierung für einen Veränderungsprozess heißt immer auch Emotionen zu wecken und sie als Energie für die Umsetzung nutzbar zu machen. Die gewünschte Veränderung und die ihr zugrundeliegenden Ideen und Ziele müssen zu einem Thema werden, das die Mitarbeiter*innen beschäftigt. Dies geht nur, wenn sie sich selbst als Handelnde in der Veränderung wahrnehmen und individuellen Sinn in dem kollektiven Sinn des Veränderungszieles wiederfinden können. Großgruppen bieten eine ideale soziale Situation für den Beginn solcher Identifikationen, die dann in individueller und teambezogener Auseinandersetzung vertieft werden können. Solche Impulse können aber nur dann gegeben werden, wenn die Führung sich über den Weg, den sie gehen will, klar ist und bereit ist, sich mit den kritischen Impulsen der Mitarbeiter*innen und deren Misstrauen aktiv auseinanderzusetzen. Prozessbegleiter*innen können dazu beitragen. Die entscheidenden Voraussetzungen müssen aber auch hier die Auftraggeber*innen leisten. Mangelnde Glaubwürdigkeit lässt sich durch kein Design wettmachen. Der Aufbau von Kompetenzen in der Führung von Veränderungsprozessen verlangt Lernen aus eigenen Erfahrungen und ein Verständnis darüber, wie diese spezielle Organisation lernt. Der Aufbau einer Architektur für solches Lernen ist ein wichtiger Teil des angestrebten Kompetenzaufbaus. Unternehmen lernen, indem sie sich in ihren Erfahrungen selbst thematisieren. Dies kann durch gemeinsame Supervisionen, durch Workshops, in denen die bisherigen Erfahrungen reflektiert werden, durch Lerngruppen und Gesprächsforen geschehen. Externe Seminare können Impulse geben, die den Anfang machen, sie können das gemeinsame Lernen in der Organisation aber nicht erset-

3.2 Führung von Veränderungsprozessen

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zen. Eine Organisation kann aus ihren Veränderungen nur lernen, wenn sie selbst den Prozess gestaltet und dafür sorgt, dass das so generierte Wissen auch in der Organisation verfügbar bleibt. Prozessbegleiter*innen sind stete Katalysatoren für diesen Prozess. Geführt werden diese Prozesse durch die Auftraggeber*innen.

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3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen 1. Eingrenzung des Begriffs Marktorientierte Kultur Kultur ist ein weiter Begriff. Wenn wir heute im Zusammenhang mit Unternehmen von Unternehmenskultur sprechen, dann bezeichnen wir ein ganzes Bündel von Beobachtungen. Im Kern meinen wir zweierlei: • Die Artefakte – das ist alles, in dem sich das Unternehmen ausdrückt, beginnend mit der Architektur, über die genutzte Formensprache, die Managementsysteme, usw. • Die Einstellungen, Wertungen und Verhaltensweisen der Mit­ arbeiter*innen eines Unternehmens.

1.1 Kultur­ prägende Faktoren

Beide Felder müssen so ausgeprägt sein, dass sie in sich und untereinander eine hohe Übereinstimmung besitzen und zugleich eine Differenz zur Außenwelt des Unternehmens bilden. Dann hat das Unternehmen eine Kultur oder besser: es ist bzw. lebt eine Kultur. Beide Felder hat man zu trennen versucht, um einen gezielten Ansatzpunkt für Veränderung bestimmen zu können. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass sie sich nicht trennen lassen, sie sind zwei Betrachtungsweisen desselben, nämlich dessen, was wir nun Kultur nennen. Möchte man in die Kultur eingreifen, so muss man aus beiden Perspektiven handeln. Das heißt, man muss einerseits die Artefakte ändern, anderseits die Einstellungen und Wertungen entsprechend der Zielrichtung der veränderten Artefakte anpassen. Hier zeigt sich ein Problem, denn ich kann mit einer gezielten Änderung der Artefakte nur beginnen, wenn ich in meinen Wertungen eine erste Differenz erfahren habe – ich muss erkennen, dass meine Einstellungen und die gewählten Artefakte (u.a. Managementsysteme) Teil des Problems sind und ich muss bereit sein, sie zu ändern, während ich sie noch lebe. Daran wird deutlich, warum in Unternehmen immer wieder nach Leadership gerufen wird, der genau diese Fähigkeit zukommt, nämlich – etwas pathetisch gesagt, dem eigenen Unternehmen den eigenen Traum entgegenzustellen (und an

3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

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ihm über längere Zeit festzuhalten). Unternehmen, wie alle sozialen Systeme, sind mit sich beschäftigt. Sie arbeiten mit den Bedeutungen und Wertungen, die sie in ihrer Kultur bevorzugen. Auch Informationen, die sie von außen aufnehmen, werden von den bevorzugten inneren Einstellungen her bewertet. Sie bekommen einen Sinn zugeteilt – die Information wird in das eigene System integriert. In diesem Prozess geht das Eigentliche, das Fremde der ursprünglichen Information oft verloren. Fremdes, Neues, das ganz andere erreicht das Unternehmen nicht mehr. Es wird gegenüber seiner Umwelt blind. Die Grundfrage jeder kulturverändernden Arbeit in Unternehmen ist daher, wie kann Fremdheit, der andere Blick, der Unterschied zum Eigenen in den Wahrnehmungen des Unternehmens wirksam gemacht werden? Wie kann ein Unterschied zum Eigenen sichtbar und wichtig werden? Die Antwort kann nicht allein Leadership sein, dafür gibt es zu wenig charismatische Führungskräfte, die neben ihrer Fremdheit und der Kraft, ihre Fremdheit wirksam werden zu lassen auch die gelassene Vernunft besitzen, das Tempo und die eigene Qualität einer Organisati-

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3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

on behutsam zu entwickeln. Für eine kulturverändernde Arbeit geht es darum, Wege aufzuzeigen, wie die wirksamen Unterschiede, die Fremdheit der Außenwelt, der Märkte innerhalb des Unternehmens und seiner kulturleitenden Bewertungen innerhalb der relevanten Kommunikationen im Unternehmen Bedeutung erlangen können. Kultur ist die gegenseitige Implikation von leitenden Einstellungen und Wertungen der Mitarbeiter*innen und von Artefakten. Sprechen wir von einer marktorientierten Kultur, so meinen wir eine Kultur, die sich in Bezug auf die Erfordernisse und Entwicklungen des Marktes einzustellen in der Lage ist und die dessen wechselnden Ansprüchen immer wieder gerecht werden kann. Eine marktorientierte Kultur ist eine Kultur, die sich immer wieder dem Unterschied und der Fremdheit des Außen öffnen kann und dabei die eigenen Wertungen, und das heißt sich selbst, verändert, ohne dabei die eigene Identität zu verlieren. Anpassungstempo und Informationsdurchlässigkeit Nutzt man den Begriff marktorientierte Kultur als eine Zielbeschreibung, die man innerhalb eines Kulturveränderungsprojektes dem Unternehmen verschreibt, dann konzentriert man sich sehr schnell auf zwei Eigenschaften, die die neue Kultur ausprägen soll. Die erste beschreibt das Tempo der Organisation, mit dem sie in der Lage ist, auf Veränderungen im Markt zu reagieren. Dabei wird diese Reaktionsgeschwindigkeit über den Begriff proaktiv oft in Richtung aktive Gestaltung interpretiert. Informationsdurchlässigkeit als zweite Eigenschaft ist die Voraussetzung der ersten und versucht, die nervöse, wache Wahrnehmungsbereitschaft einer Organisation, die sich dem Informationsfluss der Außenwelt öffnet, zu beschreiben. Die erste Eigenschaft der neuen Kultur wird auf der Ebene der Artefakte in der Regel durch ein Redesign der Geschäftsprozesse zu erreichen gesucht, wobei deren Rhythmus heute von sogenannten ‚Kund*innenteams‘ vorgegeben wird. Mit den Geschäftsprozessen werden andere Kenn- und Messzahlen eingeführt, die sich jeweils am Markterfolg orientieren. Zugleich wird versucht, die Organisation von sich selbst zu entlasten, das heißt Bürokratie und zentrale Steuerungen werden zurückgedrängt. Die Prozesse und ihre Steuerungsgrößen geben die nötige interne Orientierung, die es

1.2 Reduzierung auf die beiden Merkmale

3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

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möglich macht, kleineren Einheiten einen höheren Grad von Selbststeuerung zuzugestehen. Die Ausrichtung der Prozesse auf den Markt und die Entlastung der Organisation von ihrer Selbstbeschäftigung soll den Raum für ein aktiveres ‚Hören‘ des Marktes öffnen. Damit ist bereits der zweite Aspekt der veränderten Kultur angesprochen. Die Organisation soll das traditionell hohe Maß an Innenorientierung und Eigenbeschäftigung reduzieren und so in die Lage versetzt werden, sich nach außen zu richten. Die ausgeprägte Dezentralisierung, die sich auch in dem Appell nach Unternehmertum ausdrückt, schafft den Raum für eine stärkere Außenorientierung. Das ist eine notwendige, jedoch noch keine hinreichende Bedingung. Die Organisation muss sich nicht nur nach außen richten, sondern auch die Fähigkeit des Hörens ausprägen. Unternehmen sind geschlossene Systeme, die sich primär mit sich selbst beschäftigen. Die Umwelt nehmen sie nach den ‚mentalen Modellen‘ wahr, die in ihrer Kultur präferiert werden. Möchte ein Unternehmen den Markt verstehen, dann muss es im Inneren mindestens eine genauso hohe Differenziertheit ausprägen, wie der Markt sie besitzt. Es muss also über mentale Modelle verfügen, die im Markt gerade erst entwickelt werden und die in naher Zukunft entscheiden, ob der Markt ein Unternehmen als auf sich orientiert wahrnimmt. Die Ausbildung einer solchen Vielfalt und die Fähigkeit, solche Differenzen im eigenen Unternehmen immer wieder zu befrieden, machen die wesentlichen kulturellen Faktoren der Marktorientierung aus. Unter dem Aspekt der gerade in Mode kommenden ‚Werteentwicklung‘ in Unternehmen fällt dies unter dem jetzt schon oft auftretenden Wert der ‚kulturellen Vielfalt‘ (diversity). Dieser ist eben kein Tribut an das ‚wording‘ intellektueller Moden, sondern genau diese Not der Unternehmen beschreibt, nur dann marktorientiert sein zu können, wenn die Entwicklungen des Marktes auch im Unternehmen stattfinden, dort zu Differenzen führen und so im Unternehmen auch gehört werden können. Damit ist der für einen Sozialwissenschaftler*innen wesentliche Faktor der Kulturveränderung genannt: Wie kann ein Unternehmen nicht nur Tempo gewinnen, sondern auch die Entwicklungen des Marktes in sich so modellieren, dass sie im Unternehmen Gewicht gewinnen. Ein Unternehmen kann nur dann eine marktorientierte Kultur ausprägen, wenn die sich immer beschleunigter ausprägenden mentalen Modelle des Marktes in ihm zumindest zeitgleich wirksam werden.

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3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

2. Aktuelle Dynamiken der Organisationsentwicklung Die Unternehmen reagieren seit langem auf diese Entwicklung. Die zunehmende Komplexität und Beschleunigung machen einen Umbau der Organisation notwendig. Derzeit wird noch nach dem besten Gleichgewicht zwischen Einheit, die oft noch als Zentralität verstanden wird, und Differenz, die als Dezentralität verstanden wird, gesucht. Es spricht vieles dafür, dass wir eine Organisation als in einem Fließgleichgewicht zwischen diesen beiden Polen angesiedelt verstehen müssen und es jeweils als in Bewegung zu mehr Einheit oder zu mehr Differenz erleben werden. Das Maß an Hierarchie und Bürokratie, das wir für diesen Umbau benötigen, steht ebenfalls zur Diskussion. Die neueren Führungsinstrumente, sei es die Wertbeitragsrechnung, seien es Zielentfaltungsmethoden, bereiten den Weg zu einer Reduzierung von bürokratischer Steuerung. In welchem Verhältnis ‚Zentralität‘ oder besser Einheitlichkeit und Identität zur ‚Dezentralität‘ oder besser Differenziertheit und unternehmerischer Eigenverantwortung stehen, zeigen die Graphiken Nr. 1 bis Nr. 3 am Ende. Das für die Entwicklung zu höheren Freiheitsgraden von Einheiten nötige Loslassen, welches stets mit dem Gefühl von Kontrollverlust der Führenden einhergeht und dabei oft gerade während des Loslassens zu einer erhöhten Anzahl operativer Eingriffe führt, wird derzeit durch die aktive, top down gesteuerte Einführung gemeinsamer Grundprozesse möglich gemacht. Sie bilden das integrierende Rückgrat der Organisation und sind die unverzichtbaren Artefakte, die speziell die Kultur dieser Organisation bilden. Diese Bewegung läuft derzeit unter den Begriffen ‚best practice‘ oder auch ‚funktionaler Exzellenz‘ durch die Unternehmen. Wie kleinteilig die hier normativ gesetzten Prozesse sind und wie viele Prozesse einheitlich definiert werden sollen, bestimmt letztlich den Freiheitsgrad der ‚Dezentralen‘ und damit die Beweglichkeit in Bezug auf gemeinsame und differente Märkte. Mit dieser prozessorientierten Sichtweise ist in der Regel eine Debatte über Rechte und Pflichten der hierarchischen Ebenen verbunden. Diese Debatte ist noch nicht ausgestanden. Dies bemerken wir daran, dass sie eher in Formen einer stürmischen Pubertät verläuft, bei der die dann stark gefor-

2.1 Spannung zwischen Zentralität und Dezentralität bzw. Einheit und Differenz

3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

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derten Eltern tendenziell wieder rigider werden und die nach Freiheit strebenden Jugendlichen sich eher unterverantwortlich bzw. naiv verhalten. Neben den gemeinsamen Prozessen und den damit 2.2 Spannung gesetzten Messgrößen bestimmt sich das Fließzwischen Gemeingleichgewicht durch die die Kultur prägenden sinn (Loyalität) und ­reinen Einstellungsfaktoren. Eine ‚losgelassene‘ OrEigensinn (lokales ganisation, deren Selbstbeschäftigung deutlich reUnternehmertum) duziert ist, muss erhebliche Anstrengungen unternehmen, sich als eine Organisation, die aus einem Identitätskern handelt, wahrzunehmen. Die globale Aufstellung der Unternehmen, die eine erhebliche Flexibilität der Organisation verlangt, führt zudem dazu, dass sie die Ausbildung lokaler Kulturen zulassen muss, ohne dabei Identität zu verlieren. Es stellt sich die Frage, was neben den ‚Marken‘ diese Einheit geben kann. Die Antwort der Sozialwissenschaften orientiert sich am Elitegedanken. Die ‚Führungsgruppe‘ wird als eine Wertegemeinschaft bestimmt, für deren Identitätsbildung Zeit zur Verfügung gestellt wird. Diese Zeit wird neben der Netzwerkbildung vor allem dem Aufbau gemeinsamer Werte und der Ausprägung einer gemeinsamen Gruppenloyalität gewidmet. Dies wird heute im Wesentlichen als eine Bildungsaufgabe verstanden. Im Hintergrund werden familiäre Muster genutzt. Dem heutigen Trend entsprechend kann diese Loyalität nicht mehr für die gesamte Zeit des Berufslebens gewährleistet werden – die Unternehmen müssen stets neue Attraktoren finden, die es der Kerngruppe der Führungskräfte möglich macht, die Loyalität mit dem Unternehmen und dem gemeinsamen Identitätskern aufrecht zu erhalten. Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Identität kann dann der Freiheitsgrad im konkreten Handeln erhöht werden und ein größerer Spielraum für die Ausprägung lokaler Kulturen gelassen werden. Dies macht die Anpassung an lokale Märkte möglich, ohne die gemeinsame Kultur des Unternehmens in Frage zu stellen. Nebenbei ermöglicht eine solche loyale Gruppe der Führungskräfte, die aus gemeinsamen mentalen Modellen heraus handeln und werten, dem jeweiligen obersten Führungskreis, den eigenen Kontrollverlust zu ertragen und Vertrauen gegenüber der eigenen Führungsmannschaft auszuprägen.

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3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

3. Marktorientierung und kommunikative Kompetenz Betrachtet man die Faktoren, die zu einer marktorientierten Unternehmenskultur führen, dann werden spezifische Probleme sichtbar. Die Delphi Studie belegt, dass die Unternehmen eines der ­ Hauptprobleme erkannt haben: den Aufbau von wirksamer Kommunikation in einer hierarchisch und bürokratisch nicht mehr zu steuernden Organisation. Eines der Hauptprobleme von Führungskräften heute ist, dass sie mit ihrer Organisation nicht mehr reden können – sie erreichen sie nicht mehr. Das klassische Muster, in einer Kaskade Informationen in die Organisation zu tragen, hat sich als zunehmend dysfunktional erwiesen. Führungskräfte lernen gerade, mit ihrer Organisation wie mit dem Markt zu kommunizieren. Dazu müssen sie zunächst verstehen, dass ihr Unternehmen keine funktional oder prozessbezogen aufgebaute Maschine ist, sondern eine pluralistische Gesellschaft. Die Kommunikation mit einer solchen Gesellschaft geschieht über den Einsatz von Medien, die in den Unternehmen oft erst aufgebaut werden müssen. Die Wirkungsweise entspricht dabei den Gesetzen der öffentlichen Medien. Der Aufbau solcher Kommunikationsmittel ist notwendig, wenn man eine losgelassene Organisation, die in Bezug auf Flexibilität und Geschwindigkeit mit dem Markt Schritt halten kann, steuern möchte. Eine Unternehmensführung muss gewährleisten können, dass wesentliche Informationen wie z. b. strategische Orientierungen, Fokussierungen, etc. sehr schnell in den handlungsleitenden mentalen Modellen der Mitarbeiter*innen verfügbar gemacht werden können. Neben dem Aspekt der Kommunikation im Sinne der Information von oben nach unten braucht ein marktorientiertes Unternehmen die schnelle Information von der Peripherie, die wir uns jetzt noch oft unten denken, zur Zentrale, die wir noch als oben definieren. Die gewählten Medien müssen also Formen beinhalten, die einen Rückfluss von Information ermöglichen – nur so kann Marktorientierung denkbar sein. Zwei-Wege- Kommunikation verlangt allerdings Beteiligungskonzepte – die wiederum unter dem Begriff der Mobilisierung verstanden werden. Was kann getan werden, damit Mitarbeiter*innen sich in hohem Maße mit den immer schnelleren Anpassungsprozessen beschäftigen, ihre Erfahrung mit ein-

3.1 Andere Wege der Kommunikation mit dem eigenen Unternehmen

3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

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bringen, Wissen schnell transferieren und neue Orientierungen mit einem geringen Grad an Angst und Widerstand aufnehmen? Mobilisierung als ein hoher Grad von verantwortlicher Organisiertheit, in der das Unternehmen immer wieder thematisiert wird, ist eine der Antworten darauf. Zielentfaltungsmethoden (z.B. balanced scorecard), Forumskonzepte (town meetings/happy hour), Teamkonzepte in Fertigungen, lebendige TQM Kulturen und Strategiediskussionen sind derzeitige Antworten auf die Bedingung der Mobilisierung, die benötigt wird, wenn Informationen zweiseitig fließen sollen und dabei tatsächlich ihre eigene Wirkung entfalten

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3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

können, nämlich Unterschiede zu setzen, die wiederum Unterschiede im Handeln nach sich ziehen. Kommunikative Kompetenz wird dementsprechend in den Unternehmen als eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben angesehen. Die Lösung dieser Aufgabe ist eine der Bedingungen für die Ausprägung einer marktorientierten Kultur. Der Begriff ‚gefühlte‘ in Kombinationen wie gefühlte Inflation oder gefühlte Arbeitslosigkeit hat derzeit Konjunktur. Er beschreibt ein wichtiges Phänomen: Nicht die Fakten entscheiden, sondern wie sie psychologisch gewichtet werden und in welchen ‚Erlebniskontext‘ sie gestellt werden. Für ein Unternehmen mit marktorientierter Kultur stellt sich die Frage, ob es mit bloß faktenorientierter Kommunikation die eigenen Mitarbeiter*innen, die es schließlich marktorientiert machen oder eben auch nicht, erreichen kann. Der Aufbau von ‚Unternehmenserlebnissen‘ oder die Ansprache des Lebensgefühls der Mitarbeiter*innen scheint notwendig zu sein, wenn denn die Fakten wirksam werden sollen. Neben dem Aufbau von Kommunikationsformen, die den Bedingungen der Mobilisierung entsprechen, ist es notwendig, die Kompetenz zu der Beeinflussung solcher sehr weicher Stimmungsfaktoren zu erwerben. Möchte man z.B. die Fähigkeit einer Organisation, mit Stress, sei er durch Abbauprozesse oder durch eine Arbeitsverdichtung erzeugt, umzugehen, erhöhen, dann wird man dies am leichtesten tun, wenn man den Mitarbeiter*innen das Gefühl von Stolz vermitteln kann, zu dieser Organisation zu gehören. Dieses wird wiederum dann besonders wirksam, wenn Mitarbeiter*innen von Menschen aus ihrem Privatleben mit der Färbung von Achtung, Neugier, Neid auf die Zugehörigkeit zu dieser Organisation angesprochen werden. Oft aber reicht es, wenn sich in der Organisation ein Gefühl ausbreiten kann, mit den Kolleg*innen an einer ‚wertvollen‘ Aufgabe zu arbeiten. Die Kommunikationsstrategie in einem Unternehmen darf daher nicht nur auf den Informationsfluss achten, sondern muss zugleich die Deutungsmuster mitliefern, nach denen die Information dann ‚gefühlt‘ wird. Dies bestimmt schlussendlich ihre Wirksamkeit. Betrachtet man den laufenden strukturellen Umbau der Unternehmen, so wird dies von den ausführenden Mitarbeiter*innen selten als Aufbau von Marktorientierung, Reduzierung von Bürokra-

3.2 Steuerung über Kontextfaktoren und Attraktoren

3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

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tie, größerem Spielraum für Eigenverantwortung verstanden. Gerade die Verankerung gemeinsamer Prozesse, die als Rückgrat die höheren Freiheitsgrade möglich machen sollen, werden als restriktiv, hierarchisch, bürokratisch und Machtinstrument gefühlt. Dies macht die Durchsetzung nicht leicht und hat in der Regel den Effekt, dass die Organisation über lange Zeit mit sich selbst beschäftigt ist – was selten zur Marktorientierung beiträgt. Neben der Beeinflussung der eigenen Organisation 3.3 Beeinflussung ist eine Hauptaufgabe in einer marktorientierten von Communities Kultur, sich beeinflussen zu lassen. In einem großen in der eigenen Unternehmen ist heute fast alles bekannt, in ihr ist Organisation das Wissen über die Zukunft eingeschlossen, sie beinhalten die Avantgarde in sich – nur weiß sie es nicht und wenn sie es weiß, dann weiß sie nicht, wo sie stattfindet. Mehr oder weniger geschlossene Communities in den Unternehmen bilden das für die Zukunftsentscheidungen nötige Wissen aus – die Problemstellung der Zukunft ist es, dieses Wissen dem Mainstream der Organisation verfügbar zu machen. Hierfür gibt es derzeit nur rudimentäre Ansätze. Die Forenkonzepte der Intranets machen einen Zugang möglich, über die Beteiligungskonzepte gibt es bereits heute Rückflüsse. Was wir wissen, ist, dass eine Gesellschaft, und als solche betrachten wir ein Unternehmen, das einen hohen Organisationsgrad hat, wesentlich durchlässigere Grenzen der einzelnen Communities, die sich um Interessen, Vorlieben, Vorurteile etc. bilden, hat. Dieser Organisationsgrad ist nicht zwingend mit Arbeitsthemen verbunden, er kann auch Themen der gemeinsamen Freizeit etc. betreffen. Es erhöht eben nicht nur die Qualität von oberen Führungskräften und Mitgliedern von Förderkreisen, wenn sie in vielfältigen Organisationen aktiv Gestaltungsaufgaben übernehmen, dies gilt für alle Mitar­ beiter*innen. Die aktive Beteiligung an Gruppen erhöht den Grad des Informationsaustausches und die Ausbildung gemeinsamer Verantwortung. Nebenbei erhöht es das soziale Kapital eines Unternehmens und das hat direkte Auswirkungen auf die Produktivität. In den Unternehmen gibt es deshalb nicht nur die Aufgabe, aktiv den Zugang zu Communities in der Organisation zu suchen und ihnen Foren für das Gespräch zur Verfügung zu stellen, sondern auch die längerfristige Aufgabe, den Organisationsgrad der Mitar­

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3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

beiter*innen in Interessensgruppen zu erhöhen. Aus diesen Gruppen fließen dem Unternehmen die mentalen Modelle, die Anregungen zu, die es braucht, um die Zukunft des Marktes in sich modellieren zu können. Jede Art von Zukunft findet schon heute (wie in unserer Gesellschaft) in den Unternehmen statt. Wenn Marktorientierung immer auch Geschwindigkeit heißt, dann ist der Zugang der Führungskräfte zu diesen Communities ein erheblicher Beschleunigungsfaktor. Betrachtet man die Strukturen der Unternehmen heute, die zu erwartenden Kulturbrüche zwischen gemeinsamer und lokaler Kultur, sowie das stets hin und her schwingende Gleichgewicht zwischen Identität und Differenz und bedenkt man zudem, dass Geschwindigkeit im Markt im Unternehmen immer die Veränderungsdifferenz zwischen Bewahren und Verändern in stets steigender Frequenz aufruft, so wird deutlich, dass die Zukunft in den Organisationen immer konflikthafter wird. Dabei wird es viele Konflikte geben, die nicht entscheidbar sind und für die es keine Regel geben wird (Rückgang der Bürokratie als Modell der konfliktlosen Entscheidungen). Führungskräfte in solchen Organisationen werden viel Stabilität brauchen, um in solchen Situationen, in denen sie selbst auch nicht ‚Frau*Herr der Lage‘ sind, stabil und orientiert zu bleiben und sich dabei kooperativ zu verhalten. Der Aufbau psychischer Stabilität bei Führungskräften, ihre Fähigkeit, mit ambivalenten Situationen umzugehen, Menschen zu binden, auch wenn sie deren Konflikte jetzt nicht lösen können, wird eine große Aufgabe der Führungskräftebildung der nächsten Jahre sein. Wenn ein Faktor der marktorientierten Kultur der Rückgang der Bürokratie und die Unmöglichkeit sein wird, sich hinter dem Rücken der ‚oberen‘ zu verstecken, dann wird die psychische Belastung der Führungskräfte weiterhin deutlich steigen. Dies ist eine große Aufgabe für die Unternehmen, denn die Menschen kommen dafür schlecht ausgebildet und nur rudimentär gerüstet in die Unternehmen. Die Sozialisation zur Verantwortungsübernahme fängt in unserem Bildungssystem oft erst in den Unternehmen an. Die Zeit, diese psychischen und moralischen Fähigkeiten erlernen zu können, wird dabei immer kürzer. Die Ausbildung sozialer Kompetenz in den frühen Stadien der Führungshierarchie wird deshalb

3.4 Aufbau psychischer Stabilität in einer konfliktlabilen Organisation

3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

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immer wichtiger. Für die obere Führung, die in ihren Ritualen oft eng eingebunden ist, wird es notwendig sein, sich außerhalb des Unternehmens einer kritischen Supervision der eigenen Kompetenz zu stellen. Schließlich wird Kultur neben den Artefakten und neben den gemeinsamen Einstellungen und Wertungen der Mit­ arbeiter*innenschaft in besonderem Maße vom ‚Verhalten‘ der oberen Führung bestimmt. Sie bleibt nach wie vor der wichtigste Hebel zu einer Veränderung der Kultur eines Unternehmens – denn Kultur braucht vor allem Glaubwürdigkeit.

Dynamics of Change – manage and lead a company

1 Degree/ stage of unity

2

“old/traditional companies” reconstruction/crisis management What creates added value? Deconstruction Business center, Profitcenter, Outsourcing

Reintegration “strategic unit” “one spirit – one Stinnes“ cultural identity

Performance-Phase strong differentiation added value dynamic of selection/mergers egoism/selfishness

accountability, transparency

3

4 Drop out's

Grafik1 Entwicklungszyklus der Konzerne von 1 zu 4. Derzeit ist für die meisten großen Konzerne die Zeit der Dekonstruktion abgeschlos- sen (Restaufgaben bleiben). Die große Aufgabe ist die Schaffung einer neuen nach innen und außen wirkenden Identität, die den freigelassenen Einheiten ein gemeinsames Rückgrat gibt

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3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

Building Identity – Moving towards phase 4 Companies do not pass through these phases uniformly. While some units of the company are working in phase 3 other units may oscillate between phase one and phase two. On the way through these steps of development the logic of transition is grey, elements from different phases exist in parallel. Each phase produces special costs. Phase one the opacity and stuffiness of a bureaucratic Moloch, the problems caused by the lack of focus, phase two the mourning and the concern of the loss, the irritation of the ones left alone and the increasing egoism of competition. Phase three finally brings the frostiness of management decisions and the threats of takeover. By now we do not know the disadvantages of the phase four. Up to now it is considered as a remedy for the violations and costs of the first phases. During the transfer from phase one to phase two and from phase three to phase four the company must be led. Leader ship is needed. Phase two and phase three are management-driven, there is an overweight of concentration on daily tasks and measurable performances

Building Identity – Moving towards phase 4 Examining the way companies have developed over the last accountability, transparency decade, we observe that they are moving from intransparency to transparency. This development is at the expense of the degree of integration. Only in level 4 the demand for a strategic integration gets dominant again. In the passage phases 2 and 3 we see an increase in the degrees of freedom in the divisions. In this state of development it is predominant for the divisions to show success – therefore they develop a quite high degree of egoism. This is only controlled by management instruments like the balanced scorecard or a kind of policy deployment. The idea of being part of a greater unity diminishes throughout the company. Moving into level 4 the company deals with the idea of an integration which protects the liberty of the divisons at the same time. Unity itself becomes the main topic – but not in the sense of managing a company but in the sense of

3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

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leading a company. Therefore the focus is on strategic adjustment (related to a vision or a mission) and the creation of a code of conduct, which contains accepted instruments of control. The sought-after unity is founded culturally – rather in the way we do business than in common products or in common processes. On the other hand the cultural identity is often stabilized by a few common processes – they are part of the functional excellence of the company and they balance the independency of the bussines units.

From a bureaucratic functional model of control to a process driven company •

rising dynamics/shortage of time • overlays/opacity • size, multiplicity, diversity

Leadership values

units

functions

Functional orientation, dominance of line management, vertical ways Management by rules, control, rewardsOrientation: constancy/ uniformity and regularity costs: low degree of freedom, little autonomy/low degree of responsibility

Independent units, high degree of integration (e.g. functions), high accountability Best practice and strong defined common processes are the backbone of a company which has adopted to a high degree of entrepreneurship and divisional freedom. The acceptance of this strong top down defined way to do the business is achieved by the valued common culture of a leading coalition.

Grafik 2 Die in Phase 3 umgesetzte Freiheit von eigenständig operierenden Einheiten wird durch die Definition einiger weniger unternehmensweiter Prozesse im Sinne der Gemeinsamkeit, der Austauschbarkeit und der Etablierung von ’best practices’ eingeschränkt. Es werden die Rahmenbedingungen der Handlungsräume des Management neu festgelegt.

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3.2 Marktorientierte Kultur im Unternehmen

From a bureaucratic functional model of control to a value driven company •

rising dynamics/shortage of time • overlays/opacity • size, multiplicity, diversity

Leadership values

units

functions

Functional orientation, dominance of line management, vertical ways Management by rules, control, rewardsOrientation: constancy/ uniformity and regularity costs: low degree of freedom, little autonomy/low degree of responsibility

Independent units, high degree of integration (e.g. functions), high accountability Smaller units with responsibility und control knowledge (performance indicators), horizontal ways Management by shared orientations (values) and accepted goals Orientation: accountability and freedom costs: low degree of constancy, high efforts to sustain a suitable identity

Grafik 3 Je höher die Freiheitgrade der Geschäftseinheiten und je weniger einheitlich die Prozesse und Produkte sind, desto wichtiger wird der Aufbau einer kulturellen Identität. Gemeinsamkeit wird durch die Etablierung einer bestimmten, auszeichnenden Art und Weise, das Geschäft zu machen etabliert. So werden interne Konflikte vermindert und die Basis für Lernen geschaffen.

3.2 Innovation und Veränderung

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3.2 Innovation und Veränderung 1. Psychosoziale Aspekte von Veränderungsprozessen in Unternehmen Sie ist zu einem Gemeinplatz geworden, die Rede über den Innovationsdruck, die zunehmende Veränderungsgeschwindigkeit, den Verlust von Stabilität und Sicherheit. Innovationsschübe als Anpassungsleistung an die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in einer ständig zunehmenden globalen Vernetzung der politischen, wirtschaftlichen und technologischen Systeme sollen das Überleben und das Wachstum von Unternehmen in der bestehenden und zunehmenden Konkurrenz sichern. Unternehmensintern werden Innovationen durch Umstrukturierungen, neue Organisationsentwicklungsprogramme und die Einführung von Managementinstrumenten abgestützt. Dabei erhöhen diese Programme in der Regel die Komplexität des Veränderungsprozesses und werden damit selbst zu einem internen Problem. Qualität und Geschwindigkeit der Anpassung des Unternehmens nach außen differieren zur Qualität und Geschwindigkeit des internen Anpassungsprozesses. Die Unternehmenskultur als die Summe der in einem Unternehmen gelebten Verhaltensmuster und -abstimmungen wird in seiner Differenz zwischen interner und externer Anpassung zu einem Innovationshemmnis. Diese Situation erlangt ihre Brisanz, wenn bedacht wird, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland in seiner Wettbewerbsfähigkeit an die Kreativität, Innovationsfreudigkeit und die soziale Stabilität der Mitarbeiter*innen, deren Überzeugungen wesentlich die Unternehmenskultur prägen, gekoppelt ist. Innovation verlangt die Schaffung eines Übergangs zwischen mindestens zwei Kulturformen. Eine qualifizierte Gestaltung im Sinne eines Innovationsmanagements und die gezielte interne ­Bewältigung der mit ihr einhergehenden sozialen Turbulenzen ist derzeit jedoch kaum ausgeprägt. Dieser Mangel zeigt sich in Unternehmen an der eher hilflosen Einführung immer neuer Organisations- und Managementmodellen, dem Rückzug vieler Führungskräfte in die Geborgenheit von Vorurteilen als Zitadelle eigener

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3.2 Innovation und Veränderung

Sicherheit sowie dem Verlust von Glaubwürdigkeit und Vertrauen der Mitarbeiter*innen in die Führung eines Unternehmens. All dies wird zunehmend zu Innovationsmüdigkeit, Konfliktvermeidung und steigender sozialer Unsicherheit führen. Der erfolgreich gestartete Prozess, die Anpassungs- und Innovationsgeschwindigkeit gegenüber der äußeren Umwelt zu erhöhen, wird somit durch die mangelnde interne Gestaltung der Organisation gefährdet. Wenn die Unternehmen den Weg einer auf hoher Innovationskompetenz beruhenden Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit fortsetzen wollen, werden sie sich mit den folgenden psychosozialen Aspekten einer innovativen Organisation auseinandersetzen müssen.

2. Innovation in komplexen Situationen Alle neueren Organisationsentwicklungskonzepte und Managementinstrumente betonen die Notwendigkeit, eine möglichst breite Zahl von Mitarbeiter*innen in Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse einzubeziehen. Dies reflektiert die Erfahrung, dass in der internen Komplexität einer Organisation zentrale Entscheidungen mehr und mehr an ihre Grenzen stoßen. Kompliziertheit (viele Variable beeinflussen das Handlungsfeld) und Veränderungsgeschwindigkeit (Dynamik der einzelnen Variablen mit nicht klar voraussagbarer Auswirkung in ihrer Vernetzung) bestimmen dabei die Komplexität einer Situation. Mit ihrer Zunahme nimmt notwendigerweise die Entscheidungskompetenz eines zentral denkenden und handelnden Systems ab. Die Bewältigung immer komplexer werdender Situationen kann nur ein System leisten, das in der Lage ist, diese Komplexität abzubilden. Diese Fähigkeit wird sozialen Systemen als Gruppenorganisation in gegenseitiger Vernetztheit mit ihrem hohen internen Abstimmungsbedarf und damit der permanenten Unterschiedlichkeit der beteiligten Standpunkte zugeschrieben. Innovation und Kreativität in komplexen Situationen ist eine Qualität des Zusammenspiels von Individuen mit unterschiedlicher Befähigung und verschiedenen Charakteren. Dieses Zusammenspiel ist qualitativ nicht primär sachbezogen organisiert, die Quelle der Kreativität ist vielmehr in emotionalen Vorgängen zu suchen. Innovationsfähigkeit entwickelt sich mit dem Gefühl einer gelin-

3.2 Innovation und Veränderung

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genden Zusammenarbeit. Erfolgreiche Arbeit in Netzwerken mit dem Ziel, Innovation zu fördern beruht daher auf der sozioemotionalen Qualität des Umgangs miteinander und damit auf der Sozialkompetenz der Mitarbeiter*innen und der gesamten Organisation. Damit gewinnt die sozioemotionale Kompetenz eines Unternehmens zunehmend an Bedeutung. Unternehmen werden sich daher mit den Eigenschaften sozialer Zusammenarbeit, die sich nicht primär hierarchisch organisiert, auseinandersetzen müssen. Dies verlangt Lernen im Umgang mit einem Feld neuer Probleme in der Zusammenarbeit. Ich möchte zwei Aspekte hervorheben. Komplexität ist oft mit Kontingenz verbunden, d.h. aus der Ereignisfolge Vergangenheit bis Gegenwart lässt sich keine eindeutige Prognose für die Zukunft entwickeln. Unterschiedliche Standpunkte müssen ausgetauscht, Hypothesen gebildet und wieder in Frage gestellt werden, damit in einem Prozess der Auseinandersetzung ein vielschichtiges und tiefes Modell der Situation entstehen kann. In diesem Prozess treten auf der Ebene der Sachauseinandersetzung Ambivalenzen, Unentscheidbarkeit und Orientierungsverlust auf. Sie werden heftiger durch die Interdependenz einer Gruppensituation. Kein Mitglied kann über das Wissen und die Urteilsfähigkeit, die ambivalente Situation aufzulösen, verfügen. Eine Entscheidung kann nur durch den konsequenten gemeinsamen Austausch von Standpunkten und Sichtweisen geschehen. In diesem Prozess der konsensuellen Validierung muss darauf geachtet werden, die situationsangemessene Mehrdeutigkeit nicht zu früh und zu rigide zu reduzieren. Gruppen und Netzwerke in einer hierarchisch organisierten unternehmerischen Umwelt, als deren Qualitäten Entscheidungsfreude und Führungskraft gesehen werden, neigen hingegen zu einer Vermeidung der Ambivalenz und damit zu einer schnellen Reduktion der Mehrdeutigkeit. Sie entsprechen damit der von Ihnen wahrgenommenen Kultur eines Unternehmens und vermeiden gleichzeitig die mit einer mehrdeutigen Situation einhergehenden Orientierungslosigkeiten und Auseinandersetzungen. Zugleich aber reduzieren sie auf diese Weise die Qualität einer Arbeits- und Entscheidungsform, die auf konsensueller Validierung über den Weg der Auseinandersetzung beruht und damit die Chance, ein tiefes Problembild zu schaffen, beinhaltet. Soll Komplexität und Kontingenz nicht reduktionistisch durch Rückgang auf vermeintlich Bewährtes, sondern durch innovative

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3.2 Innovation und Veränderung

und kreative Ansätze bewältigt werden, müssen Unternehmen und die in ihnen arbeitenden Menschen in ihren sozialen Zusammenhängen mit der Ambivalenz, Unentschiedenheit und Mehrdeutigkeit von Situationen umgehen und der schnellen Reduktion widerstehen lernen. Dies bedeutet, sich gegenüber dem Kulturmuster der bestehenden hierarchischen Verfasstheit der Arbeitszusammenhänge unabhängiger zu machen und konsequenter teamorientiert zu arbeiten. Neben diese sachlogische tritt ergänzend eine beziehungslogische Problematik. Zunehmende Austauschdichte und Interdependenz verlangen ein hohes Maß an Beziehungskompetenz. Beziehungskompetenz beinhaltet Offenheit, Kontaktfähigkeit, Konfliktfähigkeit und gegenseitige Wertschätzung. Diese Eigenschaften sind in den bestehenden Unternehmenskulturen in der Regel wenig ausgeprägt. Je geringer aber die Beziehungskompetenz der beteiligten Personen, desto höher ist der Stressfaktor in einer beziehungsdichten Situation. In der Regel werden Menschen dann versuchen, den Stress durch Rückkehr auf bewährte Standpunkte und Verhaltensmuster zu reduzieren. Sie rufen nach Führung und suchen schnelle, nicht situationsangemessene, reduktionistische Entscheidungen. Die Chancen der interdependenten, viele Menschen beteiligenden Entscheidungsfindung sind damit vertan. Um dies zu vermeiden, werden Menschen in Unternehmen in ihren Arbeitszusammenhängen lernen müssen, mit solchen Situationen umzugehen und Sozialkompetenz zu erlernen. Dies wird eine Aufgabe sein, die in den Unternehmen selbst geleistet werden muss, da Schul- und Ausbildungssysteme eher wenig für die Entwicklung von Sozialkompetenz leisten. Daraus entwickeln sich neue Aufgaben für die Personalentwicklung und für Führungskräfte.

3. Innovation und Konflikt Arbeitssituationen, wie die oben beschriebenen, sind konfliktanfällig. Dabei ist der Konflikt kein Störfall, sondern ein wichtiger Teil der Qualität dieser Arbeitsform. Im Konflikt werden die Standpunkte ausgetauscht, die die Grundlage eines tiefen Realitätsmodells bilden. Kennzeichnend für Konflikte dieser Art ist ihre situative Unentscheidbarkeit. Die unterschiedlichen Standpunkte enthalten je eine perspektivische Wahrheit. Eine schnelle Entschei-

3.2 Innovation und Veränderung

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dung für einen Standpunkt klammert jeweils eine Seite aus. Das Zulassen von Konflikten ist somit ein Indikator für die Fähigkeit eines Unternehmens, die Komplexität der Umwelt und des eigenen Handlungsraumes abzubilden. So wird zukünftig die Konflikthäufigkeit und -heftigkeit zunehmen. Dem steht jedoch die Angst vor dem Konflikt, die das klassische Merkmal hierarchischer Organisationen ist, sowie der Mangel an einem kompetenten, emotional sicheren Umgang mit Konflikten entgegen. Neben der eher billigen Forderung, Mitarbeiter*innen müssten konfliktfähiger werden, entwickelt sich zukünftig ein Handlungsbedarf in der internen Entwicklung von Konfliktlösungsszenarien mit der Einbeziehung interner oder externer Mediator*innen. Ich möchte einige Aspekte einer möglichen dialektischen Konfliktlösungskultur hervorheben. Mediator*innen schaffen Situationen, in denen Standpunkte ausgetauscht werden können, ohne dass die Empfindlichkeiten der beteiligten Konfliktträger*innen verletzt werden. Dieser Umgang mit Unterschieden setzt allerdings voraus, dass die Idee des Interessenausgleichs in den Vordergrund tritt und Machtpositionen geräumt werden. Dazu müssen die jeweils betroffenen Organisationsteile fähig werden, sich selbst als partiell blind zu beschreiben, ohne dabei einen Gesichtsverlust zu erleiden, denn jedes System und jedes Systemteil ist gegenüber sich selbst eingeschränkt wahrnehmungsfähig, weil es keinen Standpunkt außerhalb seiner selbst einnehmen kann. Die Hinzuziehung eines jeweils relativ Systemfremden hingegen ermöglicht einen Ausgleich dieser systemimmanenten Blindheit. Der relativ Fremde hat zudem die Aufgabe, die emotionale Stabilität der Konfliktsituation zu gewährleisten, da Konflikte emotional stets als die eigene Person gefährdend erlebt werden. In Konflikten werden neben alten verletzenden Erfahrungen immer auch Ängste und Bedrohungsphantasien ausgehandelt. Unsicherheit kennzeichnen Konflikte und erhöhen die Gefahr einer emotionalen Entgleisung. Es ist deshalb Aufgabe der*s Mediatorin*s, Sicherheit für die bestehende Unsicherheit des Konflikts zu gewährleisten. Nur dann kann die Zeit gewonnen werden, in der aus dem Konflikt eine konsensuelle Validierung hervorgeht, in der die unterschiedlichen Standpunkte in einen Interessensausgleich gebracht werden, in dem die relevanten Aspekte des Konflikts aufgehoben sind und der den Aspekt der Neuheit beinhalten kann.

3.2 Innovation und Veränderung

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Unternehmen werden neben der Entwicklung solcher Konfliktlösungsszenarien vor allem an der Qualität ihrer hierarchischen Organisation arbeiten müssen. Noch versteht sich Hierarchie wesentlich aus der Positionsmacht. Dieses Verständnis steht sowohl einer innovativen Organisation, in der es Raum für gruppenbezogene Entscheidungsprozesse gibt, als auch einem wertschätzenden Umgang mit Konflikten entgegen. Hier entsteht ein dringender Handlungsbedarf. Auf einer Zeitachse betrachtet ist es gefährlich, auf eine Veränderung der gelebten Hierarchie durch das Nachwachsen neuer Führungskräfte zu warten, vor allem, wenn bedacht wird, wer nach welchen Kriterien den jeweiligen Aufstieg bestimmt. Das System der gelebten Hierarchie erhält sich durch den Filter, mit dem sie Karriere bestimmt.

4. Hierarchie und Innovationskultur Die mit der Einführung teambezogener Arbeitsformen und der Verlagerung von Entscheidungsmacht nach unten begonnene Veränderung der Unternehmensorganisationen schafft einen neuen Grundkonflikt. Er bildet sich an der Schnittstelle zwischen hierarchischer Positionsmacht und teambezogenen, zunehmend selbstbestimmten Arbeitsformen. Auch dieser Konflikt ist nicht zu vermeiden, sondern wichtiger Bestandteil einer innovativen Organisation. Hier wird die letztgültige konsensuelle Validierung auf der Ebene des gesamten Systems zwischen zentraler Strategie eines Unternehmens (oder von Unternehmensteilen) und seiner aktiven gestalterischen Umsetzung in den operativen Einheiten vollzogen. Teamorientierte Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse tendieren zu Desintegration, d.h. die Fähigkeit, sich an einem gemeinsamen Gestaltungswillen zu orientieren, geht verloren. Die jeweilige Reintegration geschieht an der Schnittstelle der Führungsverantwortung. Wird die Positionsmacht betont, geht wie im vorigen Abschnitt beschrieben, die erwünschte Vielzahl und Widersprüchlichkeit der Standpunkte in einem Unternehmen verloren. Wird die Orientierungs- und damit Entscheidungsfunktion einer Führungskraft unterbetont, verliert das Unternehmen abgestimmte, integrierte Handlungsfähigkeit. Die Flexibilität und Innovationsfähigkeit eines Unternehmens hängt damit wesentlich von der Qualität ab, mit der Führungskräfte diese Schnittstelle gestalten.

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3.2 Innovation und Veränderung

Dieser Grundkonflikt bildet sich in der Person der Führungskraft in den unterschiedlichen Rollenanforderungen ab. Können sie mit dieser Grundspannung nicht umgehen und entscheiden sie jeweils über ihre Positionsmacht, stehen sie der Entwicklung einer innovationsoffenen Unternehmenskultur im Wege. Dies ist der Grund, warum von Führungskräften mehr Sozialkompetenz gefordert wird. Sie erhalten intern die Aufgabe von Sozialmanager*innen, als Coach ihre Mitarbeiter*innen zu betreuen und darauf zu achten, dass die Rahmenbedingungen des Handlungsfeldes klar definiert sind. Diese Forderung lässt die orientierende Aufgabe einer Führungskraft häufig außer Acht. Die Vermittlung und die Gestaltung dieses Grundkonfliktes als entscheidende Aufgabe bedeutet immer auch, Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen reduzieren die Zahl der Möglichkeiten und verschließen Optionen. Dies kann nur in einer orientierenden Anweisungsrolle geschehen. Diese Rolle steht oft im Widerspruch zu der eines Coaches und eines Anregers für einen widersprüchlichen Disput. Die unzureichende Vorbereitung von Führungskräften auf diese Situation führt oft zu einer Überbetonung der Positionsmacht. So führen sie Projekte teils wie Abteilungen und nehmen damit der Projektidee ihre entscheidende Kraft. Um diesen Konflikte sinnvoll gestalten zu können, benötigen Führungskräfte vor allem Glaubwürdigkeit. Sie müssen die Fähigkeit haben, mit allen Beteiligten in Kontakt treten, überzeugen und Sicherheit geben zu können - emotionale fundierte Qualitäten einer Persönlichkeit. Diese lassen sich nicht durch methodenorientierte Unterrichtung und kognitiven Wissenserwerb vermitteln. Führungskräfte werden noch mehr als bisher lernen müssen, dass ihre Person das entscheidende Führungsinstrument ist. Nur dann werden sie die Widersprüchlichkeiten ihrer Rolle für das Unternehmen sinnvoll gestalten können.

5. Innovation und Emotionsmanagement Die bisher hervorgehobenen psychosozialen Aspekte des Projekts Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation und Kreativität verweisen auf die Belastung, die diese neue Arbeitssituation für Mitar­ beiter*innen schafft. Großes Veränderungstempo mit hohem Komplexitätsgrad in Entscheidungssituationen setzen Mitarbeiter*innen

3.2 Innovation und Veränderung

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und insbesondere die Führungskräfte einer hohen mentalen, psychischen und sozialen Belastung aus. Dies gefährdet die soziale Stabilität, eines der Fundamente für Innovation und Kreativität. Ich möchte auf zwei Aspekte dieser Bedrohung eingehen. In der Gestaltung von Veränderungsprozessen wird darauf zu achten sein, Überforderungspotential zu vermindern. Mitarbeiter*­ innen haben innerhalb der verbreiteten Sozialisation kaum adäquate Verhaltensmuster für die Bewältigung von Veränderungen erworben. Sie erleben die immer schneller aufeinanderfolgenden Veränderungen als bedrohlich. Veränderungen sind Appelle an eigene Einstellungen, Gewohnheiten, Haltungen und eigenes Wissen. Kann ein*e Mitarbeiter*in auf diese Appelle nicht reagieren, ohne das Gefühl eigener Kompetenz und Sicherheit zu verlieren, wird sie*er im Sinne einer Abwehr handeln. Der Appell bleibt wirkungslos. Die Mitarbeiter*innen geraten in einem Veränderungsprozess unter einen Bedrohungsstress und entwickeln eine höhere Angstbereitschaft. Angstbereitschaft ist mit einer verstärkten Neigung zur vorsorglichen Abwehr aller als belastend oder bedrohlich empfundenen Formen der Information und Kommunikation verknüpft. Im Extremfall wandern ganze Gruppen im Unternehmen in ein Verhalten ab, dessen Merkmale reduzierte Kommunikation, Rigidität, überwiegende Erwartung negativer Veränderung, starkes Sicherheitsbedürfnis und Idealisierung der Vergangenheit sind. Derzeit werden Mitarbeiter*innen lediglich informiert, sie erhalten Sachinformationen. Dieser Art, Veränderungsappelle mitzuteilen, liegt ein reduziertes Bild von Kommunikation zugrunde, in dem der Nachrichtengeber aktiv und der Empfänger passiv ist. Veränderungsprozesse, die die emotionale Stabilität der Mit­arbeiter*­ innen berücksichtigen, sollten jedoch in einer zweiseitig aktiven Kommunikation gestaltet werden. Mitarbeiter*innen, die einen aktiven Part in der Veränderung übernehmen, werden zu tatsächlichen Partner*innen im Prozess der Veränderung. Partner*­innen können Menschen und im Großen die gesamte Organisation nur dann sein, wenn sie die Möglichkeit haben, den Veränderungsappell zu hören, aktiv eigene Verhaltens- und Arbeitsmuster in Frage zu stellen und sie dann in einer von ihnen gestalteten Form in die bisherige Praxis zu integrieren. Die Fähigkeit in einem Veränderungsprozess als aktiver Partner zu handeln, ist nur in geringem Maße an intellektuelle und kogniti-

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3.2 Innovation und Veränderung

ve Fähigkeiten geknüpft, ausschlaggebend ist die emotionale Kompetenz. Haben Mitarbeiter*innen und Gruppen in Unternehmen das Erlebnis von Kompetenz (Emotion), dann steigert sich ihre Fähigkeit, mit komplexen und unbestimmten Situationen umzugehen, in bemerkenswertem Ausmaß. Die Veränderung der Organisation, insbesondere der Schnittstelle zwischen Hierarchie und teambezogenen Arbeitsformen wird daher sorgfältig unter Einschluss der emotional stabilisierenden und destabilisierenden Faktoren gestaltet werden müssen. Das Gelingen der Umgestaltung der Unternehmen wird wesentlich davon abhängen, inwieweit die emotionale Kompetenz der Mitarbeiter*innen gestützt und erhöht werden kann. Hier liegen ungenutzte Reserven, die für Veränderungen genutzt werden können. Die konkrete Umsetzung von Veränderung wird in ihren Designs und Dramaturgien zukünftig diesen Faktor stärker berücksichtigen müssen. Dies schließt ein, dass jede Innovationsidee von Betroffenen entsprechend ihrer Situation wird umgestaltet werden können. Hier bildet sich ein Kreisprozess. Ich führe eine neue Kultur ein, indem ich so handle, als gäbe es die neue Kultur schon. Hierin liegt zukünftig eine wesentliche Aufgabe eben jener Stellen im Unternehmen, die Veränderungsprozesse begleiten und die die beteiligten Führungskräfte bei der Gestaltung von Veränderungen beraten. Bei Reaktionen handeln Menschen häufig nach Mustern. In einem Grundmuster teilen sie Rollen komplementär auf, sodass Handlungsabläufe jeweils sich ergänzend organisiert sind. Dies geschieht traditionell in hierarchischen Organisationsformen und in den klassischen Beziehungsgestaltungen einer Ehe. In einem anderen Muster werden Interaktionen eher symmetrisch gestaltet, es kommt zu einer Auseinandersetzung mit einem agonalen Charakter. Diese Form entspricht unserer wettbewerbsorientierten Wirtschaftsverfassung. Komplementäre Muster hingegen weisen häufig ein statisches Moment auf, in ihnen gewinnen Menschen zwar leichter Sicherheit, sie reduzieren allerdings auch Innovationspotential. Entsprechend tendieren Unternehmen in zunehmenden Konkurrenzsituationen dazu, sich intern stärker nach dem Muster zu organisieren, das auch ihr Handlungsfeld außen bestimmt, eben nach einem wettbewerbsorientierten, symmetrischen Muster. Gleichzeitig verändert sich ebenso die Beziehungsgestaltung im privaten Lebensbereich.

3.2 Innovation und Veränderung

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Auch hier treten immer mehr symmetrische Muster in den Vordergrund. Ehebeziehungen sind nur noch bedingt komplementär organisiert, selbst die Beziehungen zu Kindern werden zunehmend symmetrisch. Die klassischen Rollenaufteilungen im Privaten wie im Arbeitsleben schwinden. Diese Form der Interaktionsgestaltung erhöht das Stresspotential innerhalb der Gesellschaft und in den Arbeitszusammenhängen. Die derzeitige einseitige Ausrichtung auf Wettbewerb und symmetrische Interaktionsmuster berücksichtigt das Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung in festgeschriebenen Rollenaufteilungen wenig. Es macht Sinn, die symmetrischen Interaktionsmuster in Unternehmen, denen es um Innovation und hohe Anpassungsgeschwindigkeit geht, zu betonen. Dies sollte aber durch stabilisierende Faktoren ergänzt werden. Hierfür gibt es derzeit kaum Lösungsansätze. Aber auch hier gilt, Menschen, die sich selbst eine hohe Kompetenz zuschreiben und die Kompetenz in ihrer Umgebung (Wertschätzung) erleben, haben aus diesem Erlebnis heraus die Fähigkeit, in Stresssituationen stabil zu bleiben und erfolgreich zu agieren, d.h., in symmetrischen Mustern zu handeln, ohne sie in Eskalationen zu führen. Das Projekt Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation, Kreativität und sozialer Stabilität kann nur gelingen, wenn Unternehmen neben ihrer Struktur an der psychosozialen Qualität der internen Arbeitsbeziehung arbeiten. Soll der Innovationsprozess gelingen, so werden die oben angesprochenen Probleme angemessen berücksichtigt werden müssen, sonst wird die Substanz des Innovationsprozesses, die Kreativität und Flexibilität in den sozialen Beziehungen sehr schnell aufgebraucht sein.

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S

piritualität Erfahrungen aus intensiven Coachings – Anlass für ein paar Gedanken: Es ist eine lange Tradition des ‚Be­ rater*­innenstammes‘, sich mit dem Gottesbezug auseinanderzusetzen. Hier wurden Erlösungsfragen, Gotteszweifel, das Gefühl der Sicherheit und Aufgehobenheit besprochen – ein Verhältnis zwischen Hoffnung und Zweifel – doch immer wieder ein Rückbezug, der Sicherheit und Gelassenheit gewährte. Heute jedoch müssen wir uns mit der Gottesleere beschäftigen – der Zweifel hat sich als Nicht-Erfahrung des Göttlichen manifestiert. Und in diese Leere fließen viele Inhalte hinein, die uns über diese Leere hinweghelfen sollen. Es gibt einen Boom an magischen und esoterischen Angeboten, die die Leere füllen und uns einen neuen Boden der Sicherheit gewähren sollen. Die meisten sind sehr individualistisch – keine Stammesmagie, sondern individuelle Programme zur Steigerung der persönlichen Leistungsfähigkeit und des eigenen Glücks. In vielen Fällen bringen die spirituell – magischen Praktiken spürbare Resultate – Menschen fühlen sich mehr aufgehoben, sicherer, gehalten. Leider bleibt diese Erfahrung in der rücksichtslosen

Realität nicht sehr lange stabil – die individuelle Leere kehrt zurück. Für heutige Berater*innen ist es sicher nötig, gesprächsfähig zu sein, wenn das Thema Spiritualität in den Vordergrund rückt. Und es kann für manchen Zweifel hilfreich und lösend sein. Jedoch führt uns der individuelle Ansatz nicht weiter, er ist eine Art Reparaturbetrieb für einen wesentlich umfassenderen Zweifel. Spiritualität ist nicht nur ein individuelles Thema, sondern ein wesentliches Thema der Gemeinschaft, der ich mich zugehörig fühle. Es ist in unserer persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die konsequent auf Individualisierung und Unterscheidung setzt. Folgerichtig, die Gottesleere auch individuell überwinden zu wollen, sich zumindest individuell mit ihr auseinanderzusetzen. Das aber unterschätzt den gemeinschaftlichen Aspekt der Spiritualität. Zugehörigkeit ist einer der Aspekte, der uns Sicherheit gibt, weil sie reale Aufgehobenheit bedeutet. Damit ist das Thema Spiritualität, die Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Gottesleere, auch ein Thema der Unternehmen. Wir setzen uns heute unter dem Begriff Sinn, die meine Arbeit machen soll, mit diesem Thema auseinander. Und so müssen wir immer

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wieder die Frage stellen, warum eigentlich tun wir, was wir tun? Und die Antwort kann heute nicht heißen, weil wir Geld verdienen, verdienen müssen. Die Antwort ist vielschichtiger – sie betrifft die Frage, warum eigentlich akzeptiert die Gesellschaft uns in unserem systemeigenen Gewinnstreben? Warum verstehen wir, was wir tun, als wertvoll und bedeutungsvoll? Wie rechtfertigen wir unser Gewinnstreben im Kontext unser aller Verantwortung für die alle umschließende Gemeinschaft der Erdenbewohner? Und wo sehen wir, dass wir etwas zur Entwicklung der Menschheit beitragen? Es reicht nicht aus, wenn wir zur Beantwortung dieser Fragen auf unsere (sehr wertvollen) sozialen Projekte verweisen. Eine reflektierte Antwort greift tiefer in die ideelle Konstitution der Unternehmen ein, denn es geht nicht um eine mit Sinnelementen angereicherte Visionsbildung. Vielmehr stellt sich die Frage: ‚Können wir als Unternehmen, zumindest für eine Zeit, einen Ort bilden, der sinnhafte kollektive Zugehörigkeit schenkt? Und was ist die Aufgabe der begleitenden Beratung in diesem Prozess?‘ Ein Aspekt mag das verdeutlichen: Nehmen wir die oben genannte Aufgabe ernst, dann müssen wir uns zugleich mit dem Thema der Diversität auseinandersetzen und lernen hilfreich zu sein, wenn sich Unterneh-

men die Aufgabe stellen, eine sehr inklusive, respektgetragene Einladung zu einer emotional tragenden Gemeinschaft zu formulieren und zu leben – akzeptierend, dass es für manche ein lange schützendes Dach ist, für manche ein vorübergehendes – sie kommen, beteiligen sich und lösen sich. Es geht um eine Gemeinschaftsbildung, die Widersprüche und Abweichungen zu respektieren vermag und sie zugleich als Erfahrung zu nutzen weiß. Wenn wir kritisch auf die Beratungslandschaft blicken, dann ist die DiversityKompetenz nicht sehr ausgebildet. Zygmund Baumann hat, lange bevor das Wort Agilität in Mode kam, von fluiden Organisationen gesprochen: Fließend sind unsere Verhältnisse heute – Menschen kommen, sind ganz bei uns und dann lösen sie sich, gehen weg oder kommen zurück. Grenzen sind nicht mehr fest – wir bestimmen individuell unsere Zugehörigkeit. Was Unternehmen heute tun können, ist, einen lebendigen, attraktiven Ort zu bilden, an dem Menschen für eine Weile Heimat finden. Spiritualität, also das Gefühl in einem tieferen Sinne das Richtige zu tun und zu einer tragenden Gemeinschaft zu gehören, ist so ein wichtiges Thema in der Organisationsentwicklung – eines, das heute zu oft auf den Einzelnen und das Persönliche geschoben wird, jedoch eigentlich ein Thema der Gemeinschaft ist.

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In unserer Überzeugung wird es kein gelingendes Diversitätsprogramm geben, das sich nicht zuvor mit der Frage des spirituellen Bezugs der Organisation beschäftigt hat. Erst dann kann sie auch vorü-

B

ilderwechsel, Metaphernwechsel – anders beschreiben, anders sehen, anders organisieren Blickt jemand in den Sternenhimmel, so mag er erhabene Ruhe und Größe sehen oder Sphärenmusik hören – es sind Weisen in den Himmel zu schauen und zu hören –, Bilder, die wir uns machen. Heinrich Hertz hat als Hardcore-Naturwissenschaftler bemerkt, dass wir uns Bilder von etwas machen, die nur die Orientierung haben, mehr oder weniger unser Erklärungsbedürfnis zu stillen und unsere Handlungsoptionen zu erhöhen. Mit Hertz ist die zweierlei Weltsicht – ‚The world is fact and matter‘ oder ‚The world is words and stories‘ – so aufgelöst, dass jede Erkenntnis, jedes Bild von Wirklichkeit nur ein mögliches ist und so lange gilt, als es Nutzen stiftet und nicht als falsch gezeigt werden kann. Es sind Bilder, die unsere Erfahrungen mit der Welt bezeichnen und ordnen. Die ändern sich, wenn andere Perspektiven leistungsfähiger zu sein scheinen. In der Organisationsentwicklung stehen wir vor einem solchen Bild-

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bergehende Heimat für die so umworbenen High Potentials sein. Und das stellt ganz andere Anforderungen an die Qualität einer Visionsbildung, als sie heute noch vertreten werden.

wechsel – und alle Bildwechsel haben immer einen großen Einfluss auf das, was von uns im Verhalten, im Handeln gefordert wird. Wie lässt sich dieser Bildwechsel beschreiben? Es gab eine erste, sehr wirksame Dichotomie in der Beschreibung von Unternehmen – sie begann mit nur einem Wort: wertschöpfend. Über Nacht veränderte sich das Denken – plötzlich waren bedeutsame Funktionen nicht mehr wertschöpfend und ihr Wert bestand darin, wertschöpfende Bereiche zu unterstützen. Eine Umwertung – mit der zugleich das Lean-Denken Einzug hielt. Generationen von Manager*innen lernten, dass Reduzierung von Aufwand und konsequentes Effizienzdenken die Kunst des Managements seien. Kosten und deren Reduzierung, Entwicklung immer schlankerer Prozesse und deren Reproduktion waren das tägliche Brot der Führung. So entstand ein ‚Bild‘ von Führung und exzellenter Organisation. Es hat uns einen beispiellosen Wettlauf um das Kostengünstigste eingebracht.

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Wir erleben eine neue Dichotomie – sie lässt sich mit dem Begriffspaar Agilität und Exzellenz (der Euphemismus für ein radikales Leankonzept) beschreiben. Sie trennt die ­Organisation in zwei distinktiv unterschiedliche Unternehmungen, eine Ausbringungs- oder Supply Chain Organisation und auf der anderen Seite die dann als agil beschriebene, in kleineren Einheiten agierende, marktnahe mit Innovationen, Produkt- und Geschäftsmodellen beschäftigte Organisation. Man kann den Grund für diese zweite Dichotomie im Digitalisierungsschub sehen, in einem reversen Globalisierungsschub, im Übergang zu einer Wissensgesellschaft – wir sehen es mehr als Reaktion auf die Erwartung von nicht linearen Ereignissen, gegenüber denen auch Smart Data blind sind, in einem etwas modischeren Wort: in Disruptiviät. Auf diese drängend werdende Erwartung, dass etwas Unvorhergesehenes eintritt und das Spiel neu bestimmt, reagieren Unternehmen mit der Zielsetzung selbst, die Quelle der Disruptivität zu sein – also innovativ oder wenigstes hoch adaptiv zu sein, also agil. Dieses Ziel lässt sich mit der hierarchisch ebenenreich gestaffelten Organisation und mit der klassischen europäisch-amerikanischen Planungs- und Strategielogik nicht erreichen. Es besteht die Notwendigkeit, inkrementelle Arbeits- und

Planungsformen einzuführen, eher mit Visionsräumen zu arbeiten und neben Kosten- und Ertragszielen auch Verschwendungsziele zu setzen. Am deutlichsten wird der Unterschied der zweiten Dichotomie in der Bedeutung des Fehlers. Er war und er ist in der Ausbringungsorganisation ein Planungs- und Prozessfehler, eine Unterbrechung des wohl Kontrollierten, und es gilt, ihn unmittelbar und für immer zu beseitigen. In der agilen Organisation ist der Fehler eine Leiter, die zu Neuem führen kann oder notwendiger Teil des flexiblen Ausprobierens, das zu neuem Lernen führt. Im Fehler verstehen wir. So wird für die agile Organisation das Spielen wieder zu einem Leitbegriff und kann dabei auf die Gedanken der Klassik zurückgreifen, z.B. auf Friedrich Schiller, der bemerkte, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, also im Vollbesitz seiner Möglichkeiten, wenn er spielt. Diese ‚andere‘ Art und Logik des Arbeitens gilt aber nur dort, wo das Ereignis droht oder erhofft wird – in der Ausbringungsorganisation gilt weiter die bewährte Planungs-, Prozess- und Standardisierungslogik. Wir stürzen uns als Organisationsentwickler auf das Neue, die zweite Seite der Dichotomie, wobei wir manchmal vernachlässigen, dass die erste Seite der Dichotomie, das Alte, die Basis ist und bleibt. Psychologisch erleben wir eine ähnliche Reaktion, wie wir sie bei der ersten

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Dichotomie – der Unterscheidung wertschöpfend oder nicht wertschöpfend – erlebt haben: das Gefühl der Entwertung auf der einen Seite und kraftvoller, euphorischer Narzissmus auf der anderen Seite. Was heißt das für uns? Auch wir müssen unsere Unterstützungsangebote der Dichotomie anpassen. Was benötigt die Ausbringungsorganisation psychologisch, motivatorisch …? Es wird nicht möglich sein, die für den Erfolg wesentlichen Organisationseinheiten in eine Kultur umzuwandeln, die der von Amazon Warehouses oder der von Apples Foxcom Organisation entspricht. Es wird auch in einem radikalen Leankonzept nötig sein, den Kopf und das Herz der Menschen zu gewinnen – das gilt umso mehr, als wir mit Industrie 4.0 einen deutlich höheren Ausbildungsgrad der Mitarbeiter*­ innen verlangen. Neben flexiblen Bildungskonzepten, wie sie in Kombinationen mit Blended-LearningAnsätzen zur Verfügung stehen, ­halten wir eine kraftvolle Wiederbelebung des Kaizen für eine Notwendigkeit – denn hier geht und ging es ja nicht zuvörderst um das eingebrachte Sparpotenzial, sondern um die motivierende, Verantwortungsübernahme anregende Kraft dieser Ansätze. Selbstwirksamkeit muss auch an diesen hoch standardisierten Arbeitsplätzen eine Möglichkeit sein. Es wäre ein großer Fehler, unter den Gesichtspunkt der Effizienz

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den menschlichen Faktor in der Ausbringungsorganisation zu unterschätzen. Die Aufmerksamkeit und das Geld fließen derzeit aber vor allem in die agilen Organisationsteile – hier floriert neben dem Methodentraining (Scrum/Design Thinking, etc. …) vor allem das Ausprobieren neuer Organisationsformen. Vielfältige Fragen, wie denn eine selbstorganisierte Einheit geführt werden kann usw., werden behandelt, und es werden Unterstützungsangebote für die Teams und relativ selbständigen Einheiten, wie z.B. der ‚Agile Coach‘, entwickelt. Wir erleben, dass das Arbeiten in solchen relativ freien Teams sehr bereichernd und lustvoll sein kann, aber es ist in seiner Sozialdynamik auch anstrengend und manchmal bedrohlich, denn es geht auch viel von dem Schutzcharakter von Führung verloren. Es florieren Begleitungsangebote und es wird sichtbar, dass es mit dem einmaligen Teamtraining nicht getan ist. Gruppendynamik ist dynamisch und in ihrem Verlauf irrational – so denken wir über interne und externe dauerhafte Begleitung nach – auch hier kann Blended Learning ein zusätzliches Unterstützungselement sein. Zugleich wirft eine agile Arbeitsform eine Menge organisatorischer Fragen auf – sie beschränkten sich anfangs auf den Übergang von einem Projektteam zu einem agilen Team. Inzwischen gilt es, die ganze

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Organisation zu betrachten – Hierarchieebenen werden überflüssig, eine ganze Menge an Fragen der Kontrolle und Transparenz sind weiter ungeklärt – es gibt also vielfältige Unruhe. Es geht darum, die Verantwortung und die Handlungsfreiheit an die Ränder der Organisation zu verlagern und eine Organisation so eher als in der Breite ausgedehnt zu betrachten anstatt in die Höhe der Pyramide. Wir beginnen gerade zu lernen, wie solche Organisationen funktionieren und geführt werden. Zudem erwarten wir, dass Organisationsteile an das Unternehmen andocken werden, die nicht im klassischen Sinne Teil des Unternehmens sind, was die Aufgabe der Führung noch komplizierter macht. Reicht es auf charismatische Führer zu verweisen – die ja politisch derzeit en vogue sind, oder bedarf es einer tieferen Neubestimmung des Führungsverhaltens, wie es in Bruchstücken mit den Konzepten der transformationellen Führung abstrakt vorliegt? Wir greifen einen Aspekt heraus: Agilität – als Beschreibung einer flexibel, schnell, ideenreich und verantwortungsübernehmend handelnden Organisation – wird nur möglich sein, wenn das Unternehmen Diversität der eigenen Mitarbeiter*innen lebt – was heißt, die Unterschiede nicht normativ zu verwischen, sondern sich mit dieser ‚Andersheit‘, der Differenz, stetig auseinanderzu-

setzen. Nur so erfüllt sie eine der großen Hoffnungen, die mit einer agilen Organisation verbunden sind: die Tendenzen, Erwartungen, Bewegungen der Gesellschaft innerhalb der eigenen Organisation abbilden und verstehen zu können – also dem Zielzustand eines innovativen und hoch adaptiven Unternehmens zu entsprechen. Unterschätzt wird die Auswirkung auf die sogenannten Governance- und Serviceeinheiten der Unternehmen. Sie werden zukünftig eine Plattform anbieten müssen, an die unterschiedlichste Einheiten mit unterschiedlichsten Unterstützungsbedürfnissen andocken können. Hier ist ein Ort der Excellence, der die eigenen Leistungen den agilen Einheiten zur Verfügung stellt. Diese Einheiten müssen sich von der dauernden Diskussion, nicht genügend Durchsetzungsmacht zu haben, lösen und sich hin zu einer*einem Anbieter*in von entlastenden, ebenfalls flexiblen Lösungen entwickeln. Und zuletzt verweist uns eine Organisation, die sich selbst stetig vorläuft, um sein zu können, was sie wird sein müssen, auf den Platz, die das ‚Unternehmen‘ in Gesellschaften einnimmt. Menschen stellen Sinnfragen, Menschen möchten in einem Kontext leben, der das Gewissen nicht belastet. Wir sind hier zu vielerlei Selbsttäuschung in der Lage, aber der Anspruch bleibt:

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Mein Unternehmen soll ein guter Ort sein – und er ist es in einer agilen Welt nicht nur innerhalb der Grenzen des Unternehmens, sondern in seiner vielfältigen Verbundenheit mit Gesellschaften. Unternehmen werden daher kaum umhinkommen, sich immer wieder die Fragen zu stellen: Warum eigentlich duldet die Gesellschaft unser Gewinnstreben? Was ist es, was wir geben, dass uns das Recht zu einem egoistischen Gewinnstreben gegeben wird? Pharmakonzerne, die Geld

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in die Entwicklung von Medikamenten für Kinder stecken, wissen, dass dies nicht das große Geschäft sein wird, aber sie können sich entscheiden, genau dies zu tun, weil sie eine, wohl in der Wahl freie, aber im Ganzen unbedingte Pflicht haben, dem Ganzen zu nutzen. Und blicken wir in die Welt, sind dann die großen Konzerne nicht einer der wenigen Orte, an denen globale Fragen verhandelt werden? Oder wann haben Sie zuletzt in den Nachrichten von der UNO gehört?

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3.4 Haiku

aus dem wald treten und zwischen den felsen dann grüntiefes wasser

3.4 Haiku

fließt und fällt silbern von becken zu felsbecken glänzt in der sonne

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3.5 Von Außen

„For your sake - we shall flower.“ Paul Celan

„Most believe that sunflowers move towards the light. I believe that light moves towards the sunflowers.“ Christine Tierney

„You do not have to walk on your knees for a hundred miles through the desert, repenting. You only have to let the soft animal of your body love what it loves.“ Mary Oliver

Kolumnentitel

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4. Verschiedenheit Zweckfreiheit Kontingenz Emergenz die menschenorientierte Organisation

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4.1 Einleitung

4.1 Einleitung Wir erleben einen Individualisierungsschub. Mehr Menschen hinterfragen Konventionen und setzen sich kritisch mit übernommenen Normen und Werten auseinander. Sie suchen nach einer für sie selbst geeigneten Lebensform. Dabei stellen sie den in der Moderne gültigen Arbeitsbegriff und die Bedeutung von Arbeit im eigenen Leben in Frage. Die Lebensweisen werden pluralistischer und mehrdeutiger. Die Konzentration auf Produktivität (die*der Mitarbeiter*in als Produktionsmittel), auf Karriereerfolg wird schwächer. Es wird für mehr und mehr Menschen wichtiger, man selbst zu sein, sich zu entdecken, das Eigene zu leben und dabei ein guter Teil der Gesellschaft zu sein. Die sich so in der Welt orientierenden Menschen brauchen andere Arbeitsbedingungen, Bedingungen, die von Freiheit, Respekt, Selbstwirksamkeit und sinnvollem Tun geprägt sind. Diese Veränderungen können nicht alle mitgehen, die gesellschaftlichen Spannungen sind überall spürbar. Dennoch müssen Unternehmen, wollen sie die vielversprechenden Potentiale an sich binden, auf den Individualismusschub eingehen – und das ist mehr als die Bereitstellung schöner neuer Büro- und

Campuskonzepte. In programmatischen Aussagen zur eigenen Identität, zum eigenen Verhaltenskodex mit den Worten Purpose, Empathie, Augenhöhe etc. reagieren die Unternehmen auf die Situation. In der Praxis zeigt sich dann, wie schwierig es ist, diese Containerbegriffe mit konkretem Leben zu füllen. Hier wird dann auch deutlich, dass die gesellschaftlichen Spannungen sich natürlich auch im Unternehmen wiederfinden – viele Mitarbeiter*innen wollen Sicherheit, wollen eine starke Führung, wollen eine wohlgeregelte und verlässliche Welt. Unternehmen bemerken, dass sie ähnlich wie unsere Gesellschaften ihre Einheit verlieren – die unhinterfragte gemeinsame Wertebasis zerbröckelt. Auch Unternehmen leben nun in einer pluralistischen Wertewelt. Die hier auftretende Frage, wie man denn Vielfalt führt, ist noch unbeantwortet, obwohl vieles in die Richtung auf demokratisch orientierte Steuerungsmodelle zuläuft. Es gibt ein anderes Wort, das in den Unternehmen gerade Karriere macht: Collaboration (Kooperation). Auch dieses Wort reagiert auf die derzeitige gesellschaftliche Situation. Der Individualismus hat Schattenseiten. Ein Blick auf Werbe- und Identitätsaussagen von Unterneh-

4.1 Einleitung

men zeigt dies – sie zielen auf den Menschen, der sich durchsetzen will, der sich selbst als ausgezeichnet, besonders fühlen möchte. Beispiele: ‚Mach Dein Ding‘ (Hagebaumarkt), ‚Just do it‘ (Nike) oder ganz aktuell: ‚Everyone says nothing is infinite. Everything has its own end. But you are not everyone. (UOB Bank) oder ‚Never follow… be yourself‘ (Audi). Diese Aussagen findet man dann in den vielen ich-bezogenen Aussagen der sozialen Medien – hier geht es immer um die eine Grundaussage – DU bist ok, wenn etwas schwierig ist, dann ist es die Welt, sind es die andern, kümmere dich nicht darum. Die Schattenseite wird sichtbar – wo sind die Worte wie ‚dienen‘, die ‚Bereitschaft zu folgen‘, sich einzufügen etc. Im Organisationsmodell der Synnecta: Spektrum der Balance sieht man die Spannung als Spannung zwischen Orientierung am Individualismus und Orientierung an der Gemeinschaft. Es wird hier das agile Spannungsfeld genannt, weil es in den Arbeitsformen der Agilität besonders auffällig wird. Hier wird die Idee der Kooperation wichtig, die es erlaubt in nicht perfekten, bzw. notwendig widersprüchlichen Organisationsformen und in der Vermittlung unterschiedlicher Individualismen mit jeweils eigenen Bedürfnissen gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Aber hier haben wir noch große Lernaufgaben vor uns. Die Barriere wird nun gerne mit dem

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Wort des ‚falschen‘ Mindsets bezeichnet und dahinter steht die Forderung, wir müssen die Art wie wir denken, urteilen und handeln ändern. Das gelingt nur, wenn wir einen Mindset kreieren, der weniger von den eigenen Bedürfnissen ausgeht, sondern mehr von denen der anderen und den Bedürfnissen, die sich in den befristeten Arbeitsgruppen herausbilden. Bei der Herausbildung von Kooperationsfähig- und willigkeit ist es oft zu früh mit dem ‚purpose‘ zu beginnen. Kooperation verlangt, dass ich etwas gebe, ohne auf eine Gegenleistung zu spekulieren. Marcel Mauss hat Akte, die eine solche Haltung transportieren, als Handlungen der ‚Gabe‘ beschrieben. Damit sind nicht unbedingt sachliche Gaben gemeint, diese können die Haltung der Gabe symbolisieren, sind aber nicht der, eine Kooperation ermöglichende erste Schritt. Wertschätzung und Respekt – gerade gegenüber der Andersheit der Partner*innen ist eine Gabe. Daher bleibt es so fundamental wichtig, Diversität nicht nur in den großen Clustern zu denken, sondern im Lernen von akzeptierender Andersheit der Partner*innen, mit denen man gemeinsam etwas zu erreichen sucht. Von daher ist es wichtig, bevor man sich über einen gemeinsamen Purpose zu verständigen sucht, ein Beziehungsfeld zu schaffen, das von Gegenseitigkeit im Respekt und Akzeptanz geprägt ist.

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4.1 Einleitung

Es gilt der alte Satz: Beziehung kommt vor Sache! Es scheint ein Paradox zu sein, während wir stärker und stärker auf pluralistisch, individuelle Unterschiede eingehen müssen, gestalten wir zugleich mehr und mehr kollektiv orientierte Arbeitsformen. Es ist ein Spannungsfeld, das wir für äußerst fruchtbar halten. Gerade im Aushandeln und im Balancieren dieser Spannungspole entsteht die Energie, der Zweifel, die Unsicherheit aber auch die Freiheit, die zu emergentem Handeln des Kollektivs

zu führen vermag. Nur im Aufbrechen starrer gemeinsamer Normund Wertwelten, ohne dabei die Beziehung zueinander zu verlieren, liegt das Potential der derzeitigen Entwicklungsstufe im Prozess der Zivilisation. Die*der Mitarbeiter*in wird aus der Rolle ‚Produktionsmittel‘ gelöst. Sie*er ist mehr und mehr Tel einer Gemeinschaft, die im Miteinander etwas sinnerfülltes und sinnerfüllendes tut. Es sind erste Schritte gegangen, es werden noch viele folgen müssen.

4.2 Neue Führung

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4.2 Neue Führung Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Arbeitswelt

1. Aufgaben und Herausforderungen Wir stehen inmitten von drei sehr dynamischen Veränderungsbewegungen, die unsere klassischen Planungsinstrumente, Führungsund Organisationsformen herausfordern. Eine Krise der hierarchischen Organisation, teils emphatisch gefeiert, teils sehr besorgt betrachtet. Derzeit sind die Magazine voll mit Berichten über Unternehmen, die nun demokratisch sind, der Film ‚Augenhöhe‘ wird hoch gelobt und es gibt die Hoffnung, dass das Motivationsproblem so endlich gelöst werden kann. Träume? Sicher in den extremen Formen und sicher auch einen Weg aufzeigend, Beteiligung nicht nur als Change Management Trick, sondern als tatsächliche Teilhabe an Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen zu realisieren. Die nun deutlich sichtbar werdenden Folgen der Globalisierung, die sich in ganz anderen Dynamiken entwickeln, als es die kolonialen Denkweisen westlicher Unternehmen erwartet haben. Verstärkt von den Möglichkeiten des digitalen, gerade beginnenden Umbruchs. Es ist nicht nur das Hinzutreten neuer Akteure, die Emanzipation der Schwellenländer, das Aufbrechen vielfältiger nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte – der Aufbruch des Monopols von Wissen und Bildung, die sich bildenden Cluster von Können und Wollen an allen Stellen der Welt beschleunigt Entwicklungen, verkürzt alle Zyklen und lässt die Möglichkeit disruptiver Entwicklungen (jederzeit) viel wahrscheinlicher werden. Die digitale Kommunikation in ihrer globalen Reichweite weitgehend losgelöst von der lokalen sozialen Kontrolle beschleunigt dies weiter. Geschäftsmodelle, die ohne große Infrastruktur über ‚Sharing‘und ‚Broker‘-Modelle traditionelle unternehmerisch verfasste Wettbewerber in ihrer Existenz bedrohen (Uber,…). Sharingkonzepte entstehen derzeit um fast jedes Produkt. Eine deutlich werdende Suche nach sinnvollem Leben der mächtiger werdenden Consumer, die sich zu wirklichen Kunden entwi-

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4.2 Neue Führung

ckeln und deren ethische Vorstellungen gegenüber Unternehmen mit den sozialen Medien eine Plattform der Kommunikation gefunden haben. Und die als Akteur*innen (Mitarbeiter*innen passt als Beschreibung nicht mehr so ganz in diese Welt) diese Maßstäbe auch in ihr Unternehmen tragen. (Krise der Hierarchie) Nicholas Negroponte (Direktor des Media Lab des MIT) sah diesen Trend voraus, als er schon 1998 feststellte: „das Digital-Sein ist schon so selbstverständlich wie das Atmen von Luft und Trinken von Wasser“, es seien andere Probleme, um die wir uns kümmern müssten: Die Herausforderungen liegen „in unserem Lebensstil und wie wir gemeinsam unser Leben auf diesem Planeten gestalten.“ Rügenwalder, ein traditioneller Hersteller von Fleischwaren, hat sich das Ziel gesetzt, einen erheblichen Anteil seines Umsatzes zukünftig mit vegetarischen/veganen Produkten machen zu wollen – sie erleben heute schon eine deutliche Veränderung im Verbraucherverhalten, dem mit Werbung nicht beizukommen ist. Bahlsen sagte ein großangelegtes Veränderungsprojekt mit McKinsey ab, entschuldigte sich bei seinen ‚Akteuren‘ und versprach nun einen Weg ‚mit‘ und ‚zusammen‘ gehen zu wollen. Gegen die Notwendigkeit von Veränderungen hatte sich niemand gewandt, aber gegen die Art und Weise. Diese Herausforderungen sind nicht isoliert und geschehen auf ihrem jeweils abgeschotteten Feld. Sie dynamisieren sich gegenseitig, verstärken sich gegenseitig. Antworten auf die eine Herausforderung muss auch eine Antwort auf die anderen Herausforderungen geben. Die HR-Community sucht Antworten und wird für die Unternehmen als Mitgestalterin eines Systems, das Menschen organisiert, wichtiger denn je.

2. Einige Bausteine für mögliche Antworten Die nun sichtbar werdende Dynamik der Globalisierung und der Wirklichkeit digitaler Vernetzung verlangt von Unternehmen eine deutlich höhere Dynamik in der Anpassung an sich beschleunigende und sich nicht widerspruchsfrei verändernde Bedingungen (Politik, Markt, Konkurrenten, Consumer, digitale Communities).

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4.2 Neue Führung

Hinzu kommt die Notwendigkeit von steter Innovation – in Produkten, Verfahren, Prozessen, Geschäftsmodellen…) – und dies unter der Drohung, dass irgendwo auf dieser Welt bereits eine Lösung existiert, die das eigene Produkt oder Geschäftsmodell in Frage stellt. Es ist deutlich, dass die derzeit vorherrschende Art der Organisation Hierarchie/Bürokratie diese Anpassungsflexibilität einerseits und anderseits die Lebendigkeit, Vernetzung und Freiheit, die Innovation braucht, nicht leisten kann – zugleich aber in geregelten, standardisierten Herstellungs- und Dienstleistungsprozessen auf genau diese alte Organisationsform nicht verzichten kann. Die derzeitige Antwort ist der Versuch, eine duale Organisation aufzubauen, die mancherorts agile Organisation oder Pod-Organisation genannt wird. Es gibt bereits Erfahrungen, vor allem in Entwicklungsbereichen, wo sich Themen und manchmal auch Kundenprojekte gut separieren lassen und ein Arbeiten jenseits der Regelwerke realisieren lässt. An SCRUM-Methoden orientiert gibt es auch schon Denkmuster, auf die sich aufbauen lässt. John Kotter (sein Team an der Sloane School) geht davon aus, dass man mit zehn Prozent der Akteur*innen in einem Unternehmen die Kultur so verändern kann, dass selbstgestaltetes und selbstbestimmtes Arbeiten in auch nicht stabilen Teams möglich ist. Eine agile Organisationseinheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie zeitlich befristet ist, sich im Idealfall die Teilnehmer selbst finden, sie sich das Thema, die Aufgabe gewählt haben und sie sich die Art und Weise der Bearbeitung selbst wählen. Sie sind so ein Fremdkörper in der Organisation, zu der sie gehören und in die sie zurückkehren. Der Freiheitsgrad ist hoch und es wird auf gängige Motivationsformen: Incentives, Aufstiegsversprechen etc. verzichtet. Gleichwohl findet ein solches freies Team in den rechtlichen Bedingungen des Unternehmens statt – wiederum im Idealfall so wenig Bedingungen wie möglich. Solche Grade von Freiheitlichkeit, Selbstwirksamkeit erfüllen in sehr schöner Weise das, was die Motivationsforschung fordert. Die Social-Media-Plattformen ermöglichen zudem einen ganz neuen Zugang zu dem im Unternehmen versteckten Wissen und Können. Es entsteht eine neue, zugängliche Infrastruktur, die allerdings auch ein ganz neues Verhalten voraussetzt. Deutliche Reduzierung der egoistischen Selbstmaximierung, geringere Bezogenheit auf klassische Auszahlungen (mehr Gehalt, Karriereaufstieg) und

4.2 Neue Führung

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die Bereitschaft zu teilen – teilen, früh und alles teilen, ist eine der Bedingungen für das Funktionieren solcher Arbeitsformen. (Reduzierung von Neid, Eifersucht, Narzissmus etc.) Keine geringe Schwelle, die derzeit mit hoffnungsfrohem Blick auf eine anders orientierte Generation Y kleingeredet wird. Und die manchmal als Thema der IT-Spezialisten missverstanden wird. Soziale Plattformen leben vom Verhalten der Menschen, der Akteur*innen, und so ist es ein genuines HR-Thema. Großkonzerne verfügen über eine reiche Infrastruktur an Wissensträger*innen und Fachleute, die sind allerdings verstreut im Unternehmen und in den Stufen und Abteilungen der Organisation verborgen. Soziale Plattformen bieten jetzt die Chance, diese Infrastruktur zu aktivieren. Es gilt der alte Satz: Wenn wir wüssten, was wir wissen … dann! Für das Unternehmen sind solche Organisationseinheiten schwer zu kontrollieren und es ist schwer, sie strategisch zu positionieren. Es verlangt ein völlig neues Vertrauen in die Lebendigkeit der eigenen Organisation und die Akteur*innen, das Vertrauen, dass sie das tun werden, was jetzt nötig und was erfolgreich sein kann. Solche Organisationsformen arbeiten mit Verschwendung und stehen damit in einem anderen Muster als die Teile im Unternehmen, bei denen es gerade um Verschwendungsminimierung geht. Wenn man aber Startup-Qualitäten im eigenen Unternehmen realisieren möchte, dann wird man diesen Weg gehen müssen. Die Realisierung agiler Arbeitsformen wird derzeit noch stark als ein Geschehen innerhalb eines Unternehmens betrachtet, aber es gibt bereits erfolgreiche Modelle, in denen die Unternehmensgrenze überschritten wird und NichtAngehörige der Organisation für Ziele, Aufgaben und Themen des Unternehmens arbeiten. Heute oft noch, weil sie sich leidenschaftlich für eine Fragestellung interessieren und in den Unternehmen Chancen finden, an ihrem Thema zu arbeiten, sich wirksam zu fühlen und für eine Zeit zu einer Gruppe Gleichgesinnter zu gehören. Die Investition Microsofts in die Encarta Enzyklopädie, in der Heerscharen von Ingenieur*innen und Wissensträger*innen beschäftigt wurden, um eine Online-Enzyklopädie zu schaffen wurde in kürzester Zeit vom Modell Wikipedia vernichtet. Es gibt keine Encarta mehr, aber es gibt eine sich weitgehend selbstregulierende Wikipedia. Welche Probleme wirft eine solche Entwicklung für die HRCommunity und die Organisationsentwickler auf?

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4.2 Neue Führung

What we need We do not need more of learning programs We do not need more of cascading communication

Instead we need • a backbone of common understanding

• Platform for selforganized and by L&D functions supported communities

Es wird von großer Bedeutung sein, das eigene Unternehmen emotional zu positionieren und den zugehörigen Menschen und denen, die sich nur zeitweise zugehörig fühlen, einen Sinnkern anzubieten, der ihnen vermittelt, zu wem sie gehören, für was sie stehen und an was sie glauben. Dieser gemeinsame Rückhalt in einer formulierten kulturellen Verankerung, die sich heute in Zeiten der wachsenden Diversität nicht mehr national, ethnisch oder religiöse begründen kann, ist die notwendige Basis, um Einheitlichkeit von Verhalten und Agieren gewährleisten zu können. Je mehr Freiheitsgrade gegeben sind, desto stärken muss das überzeugte Wissen sein, ich bin hier an einem guten Ort. Es wird Unternehmen nicht erspart bleiben, die gesellschaftliche Wertedebatte auch intern zu führen und dabei die besondere Leistung der Inklusion zu erbringen. Und in sich schnell wandelnden Verhältnissen ist dies keine Aufgabe, die man einmal erledigen kann, sie ist eine dauernde Pflicht der Selbstvergewisserung. Den Organisationsentwicklern und HR-Akteur*innen kommt hier eine große Bedeutung zu, denn sie müssen die Formate liefern, in denen

4.2 Neue Führung

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das immer wieder attraktiv geschehen kann. Die Corporate Brand als lebendiger Kristallisierungspunkt für die unterschiedlichen Formen der Unternehmenszugehörigkeit, als Akteur*in im Unternehmen, als Akteur*in außerhalb des Unternehmens. Dabei werden wir vermeiden müssen, die eine Geschichte, und nur die eine Geschichte zu erzählen. Öffnend ist die Geschichte, die neue Geschichten enthält und die sich für neue Geschichten öffnet. Widerspruch als Qualität!

3. Neue Führung Wie führt man denn, wenn Selbstorganisation und Selbstbestimmung zu leitenden Prinzipien in der Organisation werden? Hier wird etwas erwartet, was die Schwierigkeiten von mehrlagigen Matrixorganisationen um ein Vielfältiges überschreitet. Unsere Unternehmensverfassungen zielen auf kontrolliertes Zusammenwirken. Manager*innen und ‚Leadern‘ wird diese Kontrollfunktion übergeben, sie werden dabei durch ein in den Jahren stetig wachsendes Regelwerk unterstützt. Die Klage lautet überall, die Kontrollmechanismen machen uns unflexibel, innenorientiert und nehmen uns die Verantwortung. Die neuen Organisationsformen machen Kontrolle deutlich schwieriger, die Mechanismen greifen so nicht mehr. Dennoch bleiben Kontrollaufgaben bei der Führung – Zielerreichung, Budgetkontrolle, Compliance etc. Wir verlangen von der Führung heute ein bipolares Verhalten – einerseits gute Manager*innen und anderseits fähig, eine freie Organisationsform bei deutlich abnehmender Positionsmacht zu ‚führen‘. Ließe sich das erste noch über ‚Skills‘ abbilden und über die bekannten Kompetenzprofile, wird es für die zweite Aufgabe schon schwieriger: Sie verlangt vor allem Persönlichkeitsbildung und stellt uns so vor die Frage: Haben wir eigentlich die Führungskräfte, die das leisten können? Es geht darum, Menschen Vertrauen zu schenken und es zu erhalten, es geht um Inspiration, um Einladen, Verführen, Menschen gewinnen, um Zusammenfügen, Anregen, herausfordern und in Bezug auf einen selbst geht es darum, ein hohes Maß an Volability zu gewinnen – die Fähigkeit inmitten des steten Wechsels, der Widersprüche immer wieder Orientierung zu finden – auch wenn es manchmal eine 180° Kehrtwende verlangt.

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4.2 Neue Führung

Und dann wieder das Schwerste, zu vertrauen, wissend, dass man sich selbst mit dem Vertrauen verletzlich macht. Für uns und die HR-Community geht es nun darum, Formen zu entwickeln, die es möglichen Führungskräften erlauben, ihre Persönlichkeit zu bilden, die sich mit ihren Glaubenssätzen, Lebenserfahrungen, Verletzungen auseinandersetzen und zu reflektieren vermögen, was sie mit Menschen tun, wenn sie etwas tun. Sicher kommt einem Coaching in den Sinn – wohl anders als das Coaching für Problemfälle oder das Coaching als Karrierebeschleuniger. Um eine Wirkung in die Organisation haben zu können, wohl eher ein Kleingruppencoaching, in dem Vertrauen und Offenheit sehr konkret erfahren wird. Sicher ist, dass die üblichen Führungstrainings inhaltlich auf diese Situation nicht ausgerichtet sind. Und die standardmäßige Typisierung mit dem MBTI ist sicher nicht hinreichend. Campuskonzepte zeigen Wirkung, die Notwendigkeit von Wiederholung, Menschen immer und immer wieder mit den Herausforderungen zu konfrontieren, wird wichtig sein. Es ist nun über zehn Jahre her, dass wir mit der Kunstakademie Schloss Solitude ein Bildungsangebot für besonders talentierte Führungskräfte entwickelt haben. Sie sollten unter den Künstlern der Solitude, dort lebend, etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anfangen. In der Zeit wurden sie durch Reflexionen begleitet. Sie gingen, die sehr wenigen, durch eine Krise, denn das verlässliche Rahmenwerk des Unternehmens war weggefallen und es war schwer, jenseits der Planungen, Ziele, Prozesse der eigenen Organisation, Verantwortung zu übernehmen für etwas, das sinnvoll ist, und dazu die eigene Motivation aufzubauen. Solche Formate werden wohl hilfreich sein, wie wohl auch die bewährten Führungsreisen, die wirklichen out of the box social responsibility Projekte. Mehr noch werden aber endlich die Konzepte und Erfahrungen der Supervision in die Unternehmen Einzug halten. Es ist ein Vorgehen, das für soziale Berufe in herausfordernden zwischenmenschlichen Aufgaben entwickelt wurde. Es erlaubt eine konkrete Reflexion über eine aktuelle Situation, gibt die Chance, den eigenen Status zu bestimmen und deutlicher wahrzunehmen, was in der Führungssituation geschieht und was in meinem Inneren Theater geschieht. Ein Verfahren, das sich sehr bewährt hat und Chancen bietet, Wissen und Können zu entwickeln für Situationen, in denen es den Rat noch nicht gibt, weil sie neu sind. So erfüllt eine Super-

4.2 Neue Führung

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visionssituation für Einzelne und für Gruppen die Chance zu einem Lernen zweiter Ordnung – und das werden wir brauchen, denn mit der Hierarchie ist auch der alleswissende Ratgeber in eine Vertrauens- und Glaubenskrise geraten.

4. Ein neuer Individualisierungsschub In den so begeisterten Diskussionen über eine Reduzierung von Hierarchie, einer neuen Legitimierung von Führung durch demokratische Modelle, der endlich möglichen Lösung für das Motivationsproblem, wird die Schattenseite gerne vergessen. Hierarchie und Bürokratie waren immer auch schützend – nehmen wir den Schutz weg, fällt alle Verantwortung auf das Individuum und wir verlagern die Last vom System auf die Akteur*innen – ein weiterer Individualisierungsschub. Der ist unvermeidlich, wollen wir unsere Organisationen flexibler, anpassungsfähiger, überraschender machen. Zugleich wissen wir, wie hoch die Belastung für Einzelne schon heute ist. Wir bauen Organisationen um, von einem Bild der Burg mit festen Grenzen, klar gegliederten Räumen, einer ausgeprägten Binnenorganisation, beschriebenen Positionen hin zu einem flexiblen nomadisierenden Verbund. Was brauchen Menschen, wenn der Rahmen immer weniger orientiert, leitet und schützt (solange man die Regeln einhält)? Stützende Konzepte für den einzelnen Akteur sind gefragt, und es ist nicht beliebiger Zufall, dass alles, was mit Meditation, östlicher Achtsamkeitslehre, buddhistisch orientierten Sinnsprüchen verbunden ist, breiten Raum in den sozialen Medien einnimmt. Sie konzentrieren sich auf Selbstfürsorge und auf Methoden, inmitten von Belastungen stabil und resilient zu sein. Es wird Zeit, sich den bisher zu oft als esoterisch ausgeschlossenen Arbeitsformen zu öffnen. Dazu gehört die Meditation oder westliche Kontemplation, wie Verfahren des MBSR. Um dies in Organisationen hoffähig zu machen, wird eine Einsicht wichtig sein: sich selbst als verletzlich und unsicher zu akzeptieren und das Bild des ‚Führers‘ als einer stets wissenden und stets selbstgewissen Institution zu verabschieden.

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aben die Unternehmen die wirtschaftlich großartigen Zeiten genutzt? Sind die Kampagnenworte wie Agilität, Diversity, Augenhöhe, Empathie, Kollaboration etc. nachhaltig? Es gibt Anzeichen, dass Führungskräfte bei den Anzeichen einer Krise sehr schnell wieder zum Führungsstil des ‚Furcht und Zittern‘ wechseln. Beim Werkhaus 2018 sprechen, handeln, gestalten wir (die überaus vielfältige Synnecta) die Themen, die New Work ausmachen in einer mit großartigen Koopera­ti­ons­partner*innen bereicherten Werk­statt am 15.11. in Köln. Impulse zur Nachhaltigkeit in einer rauer werdenden Geschäftswelt.

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on Fehlern, Irrtümern und Abweichungen Zwischen Management & Leadership Bisher ist viel über den eigenen Wert von Abweichungen und Fehlern gesprochen worden – sie öffnen etwas, sie kombinieren bisher nicht Kombiniertes und schaffen eine eigene Aussage. Sie sind unerwartet, sie überraschen. Und sie können im Feld der Kunst und wohl auch dem der Psychiatrie in ihrem eigenen Wert wahrgenommen werden. Im Feld der Unternehmen sehe ich das nicht. Unternehmen denken und handeln pragmatisch und sind auf ihre Art der Steuerung von Prozessen, nämlich Ereignisse zu managen, bezogen. Managen aber heißt die Geschehnisse zu beherrschen. Wenn im Unternehmen die Beherrschung eines Prozesses einen hohen Wert hat, dann ist ein Fehler, eine Abweichung oder auch ein Irrtum nur ein

Indikator dafür, dass der Prozess, das Ereignisfeld nicht beherrscht ist. Der Umgang mit dieser Abweichung kann dann nur darin bestehen, sie künftig zu eliminieren, um dem Wert der Beherrschbarkeit umfassende Geltung zu verschaffen. Wir begegnen Menschen aus Unternehmen in der Regel als Privatpersonen in einem gesellschaftlichen Kontext. Hier teilen sie Ideen aus dem Feld der Kunst, in dem ein Fehler seinen eigenen Wert haben kann. Wir verwechseln dann häufig die Meinung dieser privaten Menschen mit dem, was und wie ein ‚Unternehmen’ denkt. Wir verwechseln die Privatpersonen mit dem Unternehmen. Im Unternehmen wird streng im Rahmen von Mittel-Zweck Relationen gedacht und so in Kategorien der Berechenbarkeit. Im Unternehmen ist die Privatperson von der Logik des Unternehmens bestimmt –

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sie denkt und handelt in der Logik des Unternehmens. Wenn Unternehmen über sich in den Feldern von Kultur und Politik sprechen lassen, dann sprechen meistens Privatpersonen, die sich dem Feld, in dem sie sprechen anpassen – selten aber hört man sie als genuine Vertreter*­ innen ihres Feldes sprechen. Das ist einer der Gründe, warum wir selten der Strenge des Denkens in Managementkategorien begegnen. Und das gilt natürlich auch für das heutige Treffen, innerhalb dessen dem Fehler und der Abweichung tendenziell mit viel Wertschätzung begegnet wird. Folgt man der Leitidee, dass alles innerhalb des Unternehmens ‚managebar’ sein soll, dann geht man in diesem Kontext mit Fehlern relativ simpel um. Sie sind eine Abweichung von der Planung. Sie haben keinen Eigenwert. Es gibt den tiefen Impuls, Fehler zu vernichten. Ein Fehler hat nur dann das Recht sein zu dürfen, wenn er dazu verhilft, ihn für alle Zeiten los zu werden, ihn nie mehr zu machen. Es gibt keinen Erkenntnisgewinn aus einem Fehler, wenn nicht den, dass man dafür sorgen kann, dass er nie mehr auftritt. Mit dieser Grundeinstellung fällt ein großer Teil des ideologischen Unter- und Überbaus, über den eben gesprochen wurde, weg und man kann über die Abweichung dann nicht so tief nachdenken und dem jeweiligen Eigensinn des Fehlers nach-

spüren. Was bei mir zurückbleibt ist das Staunen darüber, wie eine solche Einstellung im Unternehmen ihre Geltung behaupten kann. Blickt man von außen auf die Unternehmen, dann wirkt diese Einstellung zu Fehlern weltfremd. Wir wissen und ich weiß, dass unser/mein Leben auch aus Fehlern, Abweichungen und Irrtümern besteht. Einige hätte ich gerne vermieden, andere will ich nicht missen. Als Privatperson wissen wir, dass wir Fehler nicht los werden, dass sie ein notwendiger Teil unseres Menschseins sind. Würden wir alles beherrschen, wären wir wahrscheinlich gänzlich beherrscht – etwas, dass unserer Idee vom Menschen und der Offenheit von künftiger Zeit widerspricht. Wir kennen die Grenzen der Planbarkeit und die der Beherrschbarkeit – wir leben unser Leben als Abweichung von den Planungen, die wir selbst immer mal wieder aufstellen oder die für uns gemacht werden. Wie kommt es, dass Unternehmen den Glauben an die Beherrschbarkeit der Ereignisse, an die Kraft der Planung gegen das private Wissen durchhalten? Dahinter muss eine sehr tiefe Überzeugung liegen, dass sich die Zukunft planen und dass sie sich im Sinne der eigenen Ziele perfekt machen lässt. In diesem Glauben sind Unternehmen vielleicht die wirklichen, die letzten Erben der Moderne. An der Plan- und der Beherrschbarkeit arbeiten die Unternehmen

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hart. Es muss möglich sein, eine bessere Welt zu bauen. Anders als die Utopist*innen ist der Horizont der besseren Welt enger, er besteht aus den Zielen und Zwecken eines Unternehmens, seinem wirtschaftlichen Horizont. Die in den Unternehmen heute üblichen Methoden der Visions- und Missionsbildung haben vor allem den Zweck, einen Horizont für die dann einsetzenden Planungen zu schaffen. Und eine Planung ist so gut wie ihre Fähigkeit, allen Widrigkeiten zum Trotz die ihr zugrundeliegenden Ziele zu erreichen. Planen geschieht mit den Methoden der Berechnung. Zweck-Mittelrelationen sind wesentliche Denkfiguren für die Planungslogik. Hier hat der Fehler seine Funktion, er ist eine Korrekturgröße, er ist ein Irrtum, den man künftig vermeiden kann. Auch wenn dieses Denken aus der Sicht des kulturellen Feldes nahezu größenwahnsinnig erscheint, so setzt es doch das Erfolgsrezept der Moderne fort: Wissen über ZweckMittelrelationen öffnet die Chance, Zukünftiges durch geplante Handlungen in der Gegenwart bewusst zu bestimmen. Und selbst wenn man sehr kritisch auf Unternehmen blickt: dieser Weg funktioniert. Fehler werden zwar nicht ausgerottet, Abweichungen und Irrtümer nicht eliminiert, aber kontinuierlich reduziert. Sie nicht zu akzeptieren, sondern ständig an ihrer Vermeidung zu arbeiten führt näher an das Ziel der

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Fehlerfreiheit. Ein Null-Fehler Ziel, wie es für die Produkte und die Prozesse gefordert wird, scheint weltfremd zu sein und doch nähern sich Unternehmen diesem Ziel, wenn in manchen Branchen Fehler in ‚parts per billion’ gerechnet werden. Die Annäherung an die Null-Fehler Grenze mag unendlich sein, aber es ist eine überraschend schnelle Annäherung. Das Tempo der Annäherung scheint zuzunehmen. Die Ursache dafür ist die konsequente Durchsetzung von Planungslogiken im ganzen Unternehmen. Nach den Zielbestimmungen in Strategien, Visionen und Missionen setzt der Planungsprozess ein. Es werden Stufen bestimmt, die auf dem Weg zum Ziel erreicht werden müssen. Es werden Messpunkte bestimmt, die mir frühzeitig Abweichungen melden, damit Eingriffe, Korrekturen vorgenommen werden können. Der Kern von Management besteht darin, sicherzustellen, dass die Prozesse im Unternehmen beherrscht sind und alle Messgrößen sich in den gesetzten Parametern bewegen. Derzeit wird diese Logik auf die Organisation bezogen und damit auf die größte Fehlerquelle in Unternehmen: die Menschen. War die Logik der Perfektion basierend auf Planung und der Methodik des Rechnens zunächst auf Produkte und den Produktionsbzw. Entwicklungsprozess bezogen, um dann auf die strategischen Pla-

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nungsprozesse überzugreifen, so nimmt sie heute Einzug in die Funktionen, die lange daran festgehalten haben, dass sie einer eigenen Logik gehorchen: die Personalbereiche, die Kommunikation etc. Die Grundregel heißt: Im Unternehmen sollte alles ,managebar’ sein. Unternehmen investieren viel in die Qualifikation ihrer Mitarbeiter*­ innen – sie tun dies, weil sie auf diese Weise sicherstellen wollen, dass auch die Fehler, die aus der Fehlbarkeit der Menschen resultieren, minimiert werden. Sie tun dies heute, indem sie auch hier planen und alle Maßnahmen in Zweck-Mittelrelationen betrachten. Mit neuen Methoden wie Auditierungen, benchmark Ansätzen etc. werden Angriffspunkte gefunden, die kontrollierte Eingriffe in das Verhalten der Mitarbeiter*innen erlauben. Nun sind Menschen eine kaum beherrschbare Quelle von Fehlern und Abweichungen und doch zeigt die Anwendung von Planungslogiken auch hier eine Wirkung. Die Fehlerhäufigkeit wird reduziert. Neben der Ausweitung der Planungslogiken liegt das auch daran, dass Unternehmen lernen, in diesen Bereichen eine Umwegslogik zu akzeptieren. Um Menschen, Kommunikation und Beziehungsaspekte zu beeinflussen, akzeptieren sie, dass sie neue Wege lernen und in Dimensionen einer sozialen und kulturellen Logik denken müssen. Aber diese haben keinen Selbstzweck, sondern

sind Mittel zu dem eigentlichen Ziel, dem Ziel der perfekt beherrschten Organisation, in der sich alles zu perfekten Prozessen fügt, die in fehlerfreien Produkten oder Dienstleistungen resultieren. Es gibt allerdings zwei Bereiche, in denen Fehler und Abweichungen eine andere Bedeutung erlangen. Dies gilt zunächst für den Innovationsprozess, etwas weiter gedacht für alle Arbeitsbereiche, die sich mit der Offenheit von Zukunft beschäftigen. Planung besteht häufig in der Verlängerung der Vergangenheit in die Zukunft. Auch wenn dies für die Innenwelt der Unternehmen sehr ärgerlich ist, sie bewegen sich in der Welt, sind eingebunden in Gesellschaften, in Märkte, Trends und Moden und diese Einbindung bringt immer wieder das Überraschende, das Neue, das sich nicht aus der Verlängerung der Vergangenheit deduzieren lässt. An Innovationen und dem geregelten Prozess, wie man das Innovationstempo erhöhen kann, wird sichtbar, wie Fehler und Abweichungen hier nicht mehr das primär zu Vernichtende sind, sondern die mögliche Quelle zu einer Neuheit, zu einer Andersheit. Hier muss man Fehler nicht nur als Teil des kreativen Prozesses akzeptieren, sondern anerkennen, dass die Abweichung jenen Spalt in die festgefügten Bilder von richtig und falsch, möglich und unmöglich treibt, der Neuheit erst möglich macht. Es ist

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schwierig, die Notwendigkeit der Abweichung im Feld der Unternehmen zu vertreten und noch schwieriger, der Möglichkeit von Abweichung innerhalb von Unternehmen Raum zu geben – häufig werden dafür geschützte Räume geschaffen. Es gibt einen immerwährenden Disput darüber, wie intensiv Planungslogiken auch in diesen geschützten Räumen genutzt werden müssen. In der Balance zwischen Planung und Abweichungstoleranz drückt sich die Innovationsfähigkeit aus. Lässt sich die Produktinnovation noch im Rahmen geschützter Räume in seinen anderen Voraussetzungen verstehen und vor der Dominanz des Managementdenkens schützen, so gilt das nicht für das Themenfeld der Organisationsentwicklung, die ebenfalls die Abweichung als wesentlichen Teil ihrer Dynamik benötigt. Unternehmen wissen, dass Geschwindigkeit ein eigenes Kriterium für den Erfolg ist. Mit Geschwindigkeit ist dabei auch die Fähigkeit gemeint, sich an die sich stetig beschleunigten Veränderungen in der Außenwelt anzupassen. Das Tempo der Veränderung hat durch die Vielzahl der Vernetzungen erheblich zugenommen. Zugleich ist die Fähigkeit vorauszusagen, was kommen wird, was sich durchsetzen wird, geringer geworden. Unternehmen stellen sich die Frage, wie können wir selbst in uns ein Sensorium entwickeln, um frühzeitig zu verstehen,

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was sich in der Welt um uns verändert. Es lässt sich nämlich nur das Feld planen, dessen bewirkende Kräfte ich kenne. Die einzige Quelle über die Zukunft, die das Unternehmen selbst auch der Zukunft öffnet, sind aber die Mitarbeiter*innen und ihre Abweichungen von den Trends und Modellen der eigenen Organisation. Hier sind die Abweichungen der Mitarbeiter*innen nicht mehr nur zu reduzierende Lernschwächen, sondern sie haben einen eigenen Erkenntniswert – sie sind das Sensorium für die Entwicklungen außerhalb des Unternehmens und die Basis für Entscheidungen zur Zukunftsentwicklung der eigenen Organisation. Auch wenn diese Gedanken unter dem Begriff Marktorientierung durchaus bekannt sind, so verlangt es vom Management eine erhebliche Abweichung vom eigenen Glaubensbekenntnis, dass alles planbar sein muss. Sie müssen die Abweichung unter beiden Aspekten sehen lernen – als zu reduzierenden Fehler, als auf die Norm zurückzuführende Abweichung und als mögliche Quelle für Andersheit, die man für die Gestaltung der eben nicht bekannten Zukunft benötigt. Hier öffnet sich der Konflikt zwischen Management und Leadership, einem eher hilflos gewählten Begriff, um die Führung von Unternehmen aus dem Würgegriff des Managements, dem sie gleichwohl so viel ihres Erfolges verdanken, zu lösen.

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Um Leadership zu beschreiben spricht man oft von der Führungskraft mit Charisma. Nimmt man die für die Leistungsmessung des Management und der Mitarbeiter*innen entwickelten Programme, die den Audits zugrunde liegen, müsste man auch das Charisma in Stufen bestimmen können. Charismalevel 1 bis 10, wobei man sich mit Level 8 für einen Vorstandsposten bewerben darf. Dies zeigt die Grenzen der Planungs-, Mess- und Fehlervermeidungslogik. Auch gibt es bisher zumindest keine Seminarangebote zur Charismasteigerung. Es ist allen bewusst, dass es hier um etwas Anderes geht, etwas, das sich nicht einfach machen lässt. Und zugleich steigt das Wissen, dass man etwas von diesem anderen benötigt, wenn man ein Unternehmen in Bezug auf die Kategorien Sinn, Hoffnung, Gemeinsamkeit etc. steuern will. Hier benötigt

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ildung/Training Es wird jetzt viel von Bildung gesprochen, von politischer Bildung, von Bildung allgemein und von Führungsbildung im Besonderen. Blickt man jedoch auf die Bildungslandschaft von Unternehmen, dann ist da wenig Bildung zu finden. Was zu finden ist, ist vielmehr der Versuch, den reichen Schatz der Kulturen nach geeigneten Tricks und Methoden zur Performancesteigerung zu

man zumindest an einigen Stellen Führungskräfte, die bei aller Normierung und Messbarkeit einen Unterschied machen, durch die Art und Weise wie sie sind, Führungskräfte, die ihre Menschlichkeit und Persönlichkeit mit in das Unternehmen hineinbringen. Das können nur Menschen, die selbst von der Norm abweichen und die die Kraft haben, ihre Abweichung im Unternehmen sichtbar zu machen. Leadership kann Management nicht ersetzen, aber beide ergänzen sich. Mit der Idee des Leadership wird in den Unternehmen selbst die Grenze der Denkmodelle gekennzeichnet, die die Grundlage für die Fehlervermeidungsstrategien bilden und in deren Denken der Fehler und die Abweichung nur zu beseitigende Mängel auf dem Weg zur perfekten Beherrschung aller Ereignisse sind.

durchsuchen und auszubeuten. Es geht um Werkzeuge, die direkt umsetzbar sind und die einem möglichst messbaren Nutzen bringen. Nachvollziehbar, denn das entspricht der Logik unternehmerischer Systeme. Dabei wird das Potenzial von Kultur und Bildung leider verfehlt und die Methoden und Tricks verflachen wie jede Modewelle nach einiger Zeit. In der Bildung geht es um das Vermögen der Distanznahme, mit der

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auf der Grundlage vieler zweckfrei gewonnener Erfahrung Reflexion und Differenzierung möglich wird, weil ein weiter Raum unterschiedlichster Perspektiven eingenommen werden kann. Bildung braucht Zeit, freie, entlastete Zeit und neben dem Mut zur Auseinandersetzung auch die innere Freiheit, sich auf den Reichtum der Kultur einzulassen und sich in seinen sicheren Denkund Urteilsmodellen erschüttern zu lassen. Wo soll bei dem Performancedruck und des doch stetig ansteigenden Investments von Lebenszeit für eine Karriere die entlastete Zeit herkommen? Es gibt solche Zeitflecken in der Unternehmenswelt – sie wurden früher mal Seminare genannt und sind heute Trainings. Leider werden sie mehr und mehr zu Trainings, zu Räumen der Vermittlung der Techniken, von denen sich Trainings­ strateg*innen unter dem Druck der eigenen Führung schnellen Nutzen versprechen. So wird Empathie zu einer psychologischen Technik, einem Führungsinstrument, um den eigenen Führungswillen besser durch­ zusetzen und Leistungssteigerungen bei Mitarbeiter*innen zu ­ erzielen. Narzisst*innen, und sie stellen eine Mehrheit in den Führungsriegen, verstehen sich gut darauf, Empathie als Mittel einzusetzen. Würden wir uns um Bildung kümmern, dann

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würden wir anstatt von Empathie von Compassion sprechen und sehr schnell erkennen, dass diese nur möglich ist, wenn Menschen in einem weiten Horizont von Verständnissen der menschlichen Möglichkeiten leben und dies nicht nur wissen, wie ein Speichermedium etwas weiß, sondern als Erfahrung gewonnen haben – also etwas haben, das man früher Herzensbildung genannt hat. Darüber mit Trainingsspezialist*­ innen, die selber unter Performancedruck stehen, zu sprechen, führt dann häufig zu Ergebnissen wie: Kann man das auch in zwei Tagen machen? Oder können wir es nicht durch blended learning gestalten? Wiederum sehr verständlich in der leitenden Unternehmenslogik, aber sicher nicht sehr klug. Oft wird vergessen, wie wesentlich für Bildungserlebnisse die Begegnung mit Menschen ist und oft mit einem Lehrer, der mit seinem Herzen für die Bildungsinhalte steht. In Indien gibt es noch das Wissen, dass es eines Gurus bedarf, wenn man Menschen die Möglichkeit gibt, auf dem Weg der Bildung zu wachsen und so ohne den Zweckkurzschluss am Ende doch bessere Führungskräfte zu werden. Für Bildung bleibt Schillers ästhetische Erziehung der Schlüsseltext und sein Votum für das zweckfreie Spiel der Königsweg zu einer Bildungsreise.

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mpathie oder Compassion? Es gibt einen guten Grund für die Business-Karriere des Begriffs Empathie: Während wir relativ zuversichtlich sind, dass die neuen, flacheren Hierarchien und eher selbstorganisierten Organisationsformen für die einzelnen Individuen Spielund Gestaltungsraum bieten, sehen wir zugleich, dass der von ihnen provozierte Individualismus noch kein adäquates Gegengewicht im Sinne einer Gemeinschaftsorientierung gefunden hat. Dieser Mangel wird spürbar in der Häufung konkreter Anfragen an uns, die immer nach größerem Zusammenhalt, Stärkung gegenseitiger Rücksicht, besserem Umgang mit Konflikten fragen. Auch die notwenigen ‚Retros‘ der agilen Arbeitsmethoden werden fast immer im Sinne von Gemeinschaftsbildung angefragt – die sogenannten weichen Faktoren stehen im Vordergrund. Ob die Treffen, Workshops nun als Retro, als Subversion, als Teambildung oder als Konfliktmoderation angefragt werden, es geht in ihnen

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upervisionen: Besuche an Orten moderner und hypermoderner Kunst In Berlin bilden sich Schlangen vor einer Ausstellung, in der expressionistische und impressionistische Malerei verglichen werden. Ein sehr

um die Qualität der Gemeinschaft, um Zusammenhalt, um gemeinsames Verständnis dessen, was man will und soll. Es geht darum, den anderen mit zu berücksichtigen – in der Gruppe und in übergreifenden Zusammenhängen. Das Konzept Empathie folgt dabei dem Individualisierungstrend – es ist die Forderung an Individuen eine Fähigkeit zu entwickeln, die Bedürfnisse des anderen wahrzunehmen und im eigenen Kalkül zu berücksichtigen. Empathie als Werkzeug des besseren Verständnisses und recht oft als Befähigung zur besseren Manipulation greift für die Organisationsentwicklung zu kurz. Es geht hier um ein notwendiges Gegengewicht zur individuellen Performancesteigerung – es geht um die Bildung einer gemeinsamen Mitte, die Orientierung stiftet und individuelles Handeln an den Nutzen für die Gemeinschaft zurückbindet. Es geht um das Feuer der Mitte – und das braucht mehr als Empathie, es braucht Compassion – die emotionale Bereitschaft für andere zu handeln.

geregeltes Kunsterlebnis – es handelt sich um gut eingeordnete, bekannte Kunst. Überforderung, Irritation oder Überraschungen sind ausgeschlossen. Hier dagegen ist es leer und still. Skulpturen und Performances, von denen noch niemand weiß,

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was sie uns denn sagen könnten. Skulpturen, die nicht eingeordnet sind und ohne Kommentar im Raum stehen. Während die Berliner Ausstellung das Bekannte und Bewertete in die Aufmerksamkeit rückt, begegnen wir hier etwas anderem: Offenheit und einem Unbestimmten. Wir müssen selber Stellung beziehen und sind durch keinerlei offizielle Interpretation vom Mut zur eigenen Meinung entlastet. Wir sind zu einem eigenen Urteil aufgefordert. Unternehmen suchen heute geradezu verzweifelt nach Innovation, Lebendigkeit, Kreativität und Agilität. Diese Orte hier können uns zeigen, was die Bedingung für all das ist: nämlich sich für etwas zu öffnen, das noch keinerlei Bewährungsprobe hinter sich hat, welches definitiv nicht ‚mehr desselben‘ ist, sondern etwas provokativ Anderes. Etwas, das zu Auseinandersetzungen einlädt, Unsicherheit auslöst und dessen Bewertung risikoreich ist. In einem solchen Kontext können neue Erfahrungen gemacht werden und andere Perspektiven können gefunden werden. Die Besuche hier sind eine Metapher für Unternehmen. Sie fordern auf, sich von dem zu lösen, was als schon bewährt gilt. Das ist ein Grund, warum ich diese Orte liebe. Und hier habe ich auch das Recht, ratlos vor einer Skulptur zu stehen, die mir so gar nichts sagt. Um dann eine andere zu entdecken, die mir eine neue Perspektive eröffnet.

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Was hat das denn mit Unternehmen zu tun, mögen Sie fragen. Ich erlebe Unternehmen heute noch in dem Versuch, dem oft erfolgreichen Versuch, transnational zu sein. Führung wird in einem inkludierenden Ansatz als global definiertes Verhalten verstanden und Gruppen aus verschiedensten Kulturen lernen dieses Musterverhalten. Nur: Unternehmen mögen zwar transnational und kulturell global sein, die Märkte aber sind multinational und werden gerade wieder vermehrt ‚Multi‘ und ‚divers‘. Da ist Unterschiedlichkeit, da ist Überraschendes, da ist Fremdes, manchmal Provokatives – wie in der Kunst in diesem Raum. Ich habe auf meinen ausgedehnten Asienreisen und in der Begegnung mit vielen arbeitenden Menschen gelernt, dass wir uns mehr auf das ‚Multi‘ denn auf das ‚Trans‘ oder ‚Mono‘ konzentrieren sollten. Wenn wir uns auf gesichertes Wissen und auf bewährte Muster zurückziehen, werden wir das vielfältig Andere der Kulturen und Lebensweisen nie treffen und werden in einer Innenorientierung die Dynamik unserer schillernd vielfältigen Welt mit ihren Bedürfnissen verfehlen. Und zurück zu Innovation, Agilität, Flexibilität: Nur wer sich dem Neuen, noch Unbeschriebenen aussetzt, es in unserer Mitte zulässt, hat die Chance, eine Kultur der Offenheit zu schaffen. Und natürlich verstehe ich manches nicht, bin ratlos, suche

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nach dem Bewährten und zugleich weiß ich, gerade in diesen Begegnungen mit dem ‚anders als ich‘ verstehe ich Unterschiedlichkeit und es wird

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isruptive Change? „Fortschrittsglaube prägte das 18. Jahrhundert. Um Evolution ging es im 19. Jahrhundert. Das 20. Jahrhundert glaubte zunächst an die Idee von Wachstum und später an Innovation. Diskontinuität (engl. Disruption) ist das Schlüsselwort für unsere Ära – was zwar futuristisch klingt, eigentlich aber ein Atavismus ist. Es ist ein Geschichtsbild, das auf Angst basiert: Angst vor dem Kollaps des Finanzsystems, Angst vor globaler Zerstörung, das Ganze untermalt von erschütternden Belegen.“ In ihrem Artikel ‚The Disruptive Machine‘ im New Yorker beschäftigt sich Jill Lepore mit dem Hype um das Thema ‚Disruption‘ und legt dar, was ihrer Meinung nach falsch ist an Clayton M. Christensens Modell der ‚disruptiven Innovationen‘ (dargelegt in seinem Buch ‚The Innovators Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren‘). Diese Diskussion ist wichtig. Werden disruptive Innovationen jede Organisation radikal verändern und jedes Unternehmen zerstören, das sich nicht verändert

mir deutlich, ohne innere Vielfalt werden wir mit der Vielfalt des Außen, die lebendige und kreative Adaption erfordert, nicht zurechtkommen.

(disruptiv und radikal)? Wird dies wirklich geschehen? Vielleicht vermischt Jill Lepore die derzeit zu beobachtenden apokalyptischen Tendenzen in der Diskussion um die Zukunft unserer Gesellschaft mit jenen Diskussionen um die ­Entwicklung unserer Wirtschaftsunternehmen, Märkte und Wettbewerb­ er*­innen. Wir können derzeit beobachten, wie verunsichert traditionelle Unternehmen sind, wenn sie bemerken, dass ihre üblichen Planungsund Strategieansätze scheitern. Dies ist kein Atavismus – das ist die Realität. Und es ist nicht apokalyptisch. Es ist ein Versuch, sich für die Zukunft zu wappnen. Denn wahr ist: In Zeiten gravierenden, disruptiven Wandels gibt es mehr Verlierer*innen als Gewinner*innen und das Risiko ist hoch. Wie gelingt die Balance zwischen Kontinuität und Diskontinuität? Und wie kann ein traditionelles Unternehmen mit all seinen Stärken und Erfolgen die Diskontinuität ‚umarmen‘ und integrieren? Es ist sehr inspirierend, sich aktuell mit diesen fordernden und herausfordernden Themen im Feld der Organisationsentwicklung zu beschäftigen.

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hange Management? Es existiert. Aber in welcher Form? „You must either make a tool out of the creature, or a man of him. You cannot make both.“ John Ruskin In den letzten Jahrzehnten wurde viel über die Dynamik in ChangeProjekten und erfolgreiche Unterstützungsformen zur Erreichung der Ziele geforscht. In nahezu allen Forschungen wird betont, dass ChangeVorhaben in ein Konzept eingebettet sein müssen, welches Mitarbeiter*­ innen verstehen lässt, warum jetzt und wozu die Veränderung? Jede Veränderung sollte demnach in einen strategischen Zusammenhang gestellt werden, so dass die einzelnen Schritte für die*den Mitar­ beiter*­in einen Sinn ergeben. Darüber hinaus sollte ein Diskussionsraum eingerichtet werden, in dem die Veränderung in dialogischer Form zwischen den verschiedenen Hierarchieebenen besprochen werden kann. Ein Dialog ist dadurch gekennzeichnet, dass beide Gesprächs­partner*innen bereit sind, sich von der anderen Seite beeindrucken zu lassen. Das bedeutet, in einer geplanten Veränderung muss es Raum geben für die Veränderung der Veränderung. Die Praxis sieht jedoch anders aus. Uns erreichen Lastenhefte, die im Kern fordern, ‚helft uns die gesetzte Veränderung durchzusetzen, den möglichen Widerstand auszuhebeln und macht es so kleinteilig wie mög-

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lich!‘. Im Gespräch wird deutlich, dass die Verantwortlichen sich weder in der Position sehen noch in der Aufgabe, einen übergeordneten sinn­ vollen Rahmen für Einzelaktivitäten bereitzustellen, noch einen dialogischen Raum zu öffnen. Nun ist das an und für sich noch kein Fehler, denn es stehen ja genügend manipulative Kommunikationstechniken zur Verfügung, um eine Veränderung mit ein paar Blessuren durchzusetzen. Was oft nicht gesehen wird, ist, dass man Mitarbeiter*innen so zwar zu einer Art von Compliance bewegen kann, jedoch selten zu einer Motivation. Compliance mag für Unternehmen mit einfachen und festgeschriebenen Prozessen genug sein. Aber für Unternehmen, die eine hohe Flexibilität benötigen, unternehmerische Haltung, Agilität auf fast allen Ebenen? Für Organisationen, die auf die Kreativität und die Lebendigkeit ihrer Mitarbeiter*innen angewiesen sind? Was uns auffällt, ist: Während die Change-Projekte mit dieser Art von Toolingansatz durchgeführt werden, sprechen Unternehmensleitungen davon, dass sie unternehmerische, agile, selbständige, Verantwortung übernehmende Mitarbeiter*innen brauchen – auf allen Ebenen. Ein Widerspruch. In der konkreten Arbeitswelt, den aufgesetzten Projekten und Veränderungen werden Mitarbeiter*in­ nen vor allem als Mittel zu einem

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Zweck gesehen. Es entspricht sicher einer der wichtigsten Aufgaben eines Unternehmens, die Arbeitsteiligkeit so zu organisieren, dass sie wirtschaftlich erfolgreich ist. Die Tatsache, dass ein Unternehmen immer auch eine Gemeinschaft von Menschen ist, die sinnbezogen arbeiten und die die auf Freiraum angewiesenen Eigenschaften der lebendigen Selbstverantwortung nur dann realisieren können, wenn sie ein sinnvolles und ein gerechtes Miteinander erleben, wird in der Praxis oft ausgeblendet. Wenn wir Mitarbeiter*innen und ihre Leistung als ein ‚Tool‘, als ein bloßes Mittel verstehen und behandeln, dann verlieren wir das Potenzial, nach dem wir in der veränderten und beschleunigten Welt der Wirtschaft suchen: den Menschen, der

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erantwortung? Es hat sich noch nicht sehr geändert. Wir Europäer*innen entsenden Mitarbeiter*innen z.B. nach Asien, um zu lehren und laden Mitarbeiter*innen anderer Länder zu uns ein, um zu lernen. Einmal ganz davon abgesehen, dass diese spätkolonialen Spuren mancherlei Beziehungsprobleme verursachen, stellt sich mir die Frage, ob wir Europäer*innen uns hier nicht eine zukunftswichtige Lernchance verbauen.

sich beteiligt und für den seine Leistung im Unternehmen ein Zweck ist. Nur diese*r Mitarbeiter*in hat die Kraft, den Willen und die Freude, im Dschungel heutiger Organisationen und ihrer notwendig komplexen Strukturen zu tun, was von ihm verlangt wird: agil, verantwortlich, kreativ, durchsetzungsstark, konfliktfähig und kooperativ zu sein. Um das zu erreichen braucht es mehr als einen TOOL orientierten Change-Management-Ansatz, der vergisst, was immer wieder erfahren wird. Nur die*der Mitarbeiter*in, der versteht, den Sinn begreift und der sich beteiligt fühlt, kann die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen. Mit Ruskin: „You must either make a tool out of the creature, or a man (a human) of him/her. You cannot make both.“

Eine Geschichte. Ich traf eine Führungskraft aus Indien, die für zwei Jahre nach Deutschland eingeladen worden ist. Ein energischer junger Mann, der viel bewegen will und der für sein Land und seine Landesgesellschaft lernen will. Er ist voller Bewunderung für die Ordnung, die er in Deutschland vorgefunden hat, er erlebt das Land als aufgeräumt, alles ist für ihn an seinem Platz, alles ist geregelt. Ihm macht nur Kummer, dass er nicht sehen kann, wo er etwas beitragen kann. Für ihn hat

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fast alles schon die Infrastruktur entschieden, die Abläufe sind da und er sieht seine Rolle nur im Ausführen. Er kann sich nicht als Manager erleben, weil in seiner Wahrnehmung alles schon ‚gemanaged‘ ist. Er bewundert es und zugleich spürt er ein Unbehagen, denn er erlebt auch die Erstarrung, die Initiativlosigkeit, die Unentschiedenheit dieser Dominanz der Infrastruktur. Ich blicke während des Gespräches hinaus auf die Straßen, den geregelten Verkehr und vergleiche es mit meinen eigenen Erfahrungen in Indien. Es ist sehr anders. Mein indischer Gesprächspartner erzählt dann von einer Erfahrung, die er kürzlich gemacht hatte – in seinen Augen immer noch Fragezeichen. Er musste hier eine Fahrprüfung ablegen. Auf einer Vorfahrtsstraße bremste er vor der Einmündung einer Seitenstraße immer ab, versicherte sich, dass die anderen Verkehrsteilnehmer*innen auch stehen blieben. Dasselbe tat er an Ampeln, die für ihn grün waren. Der Fahrprüfer kritisierte das, forderte ihn auf, zügig weiterzufahren. Er war verwirrt und versuchte zu verstehen, wie es sein kann, dass man sich darauf verlässt, dass ein*e Andere*r die Regeln einhält? Für ihn ist es notwendig, mit der Unberechenbarkeit der*des Anderen umzugehen und selbst für Sicherheit zu sorgen. Sich auf Regeln zu verlassen, hält er für unsicher, für gefährlich. Er selbst sieht sich in der Verantwortung.

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Nun können wir uns in unserem geregelten Land meistens darauf verlassen, dass Andere die gleichen Regeln befolgen wie wir selbst und so macht es Sinn, in diesem Vertrauen zügig durchzufahren. Aber in Indien? Das wäre eine schlechte Idee. Hier sollte man im Rahmen des gleichen Regelwerkes dennoch auf ein der eigenen aktuellen Entscheidung gehorchendes Verhalten setzen. Also lieber mal abbremsen. Denn das Verhalten der*des Anderen ist spontan, folgt eigenen Regeln und muss in Bezug auf das eigene Verhalten ‚gemanaged‘ werden. Nicht die Infrastruktur bestimmt, sondern die eigene, vorausschauende Entscheidung. Übersetzt heißt das dann wohl, den selbstverantworteten, die anderen Mitspieler*innen einbeziehenden Umgang mit komplexen, ambivalenten und offenen Situationen befolgen. Das wäre wohl etwas, was wir lernen könnten, wenn wir z.B. nach Indien eingeladen würden. Denn was immer global agierende Unternehmen derzeit erfahren, es ist Beschleunigung, Unsicherheit, Vulnerabilität, Komplexität und Ambiguität. Und in diesen Situationen hat sich Bürokratie, die mit Regeln dieser agilen, oft chaotisch anmutenden Situation Frau*Herr werden will, als machtlos erwiesen. Sie ist zu viel zu langsam und unflexibel. So wäre es wohl für unsere eigene Zukunft und Wettbewerbsfähigkeit klug, auszuziehen, um zu lernen.

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ental Change? Agile Organisationen brauchen neue ‚Identitäten‘ Betrachten wir das agile Dreieck (Methoden, Struktur, Kultur), dann bleibt der Aspekt kulturelle Veränderung einer der schwierigsten – was weder neu noch überraschend ist. Was wir Kultur nennen ist ein Zusammenspiel vieler Faktoren, die sich über ein kausales Denken nicht erfassen lassen und so von den üblichen Methoden des Change Managements kaum zu beeinflussen sind. Kultur ist kein Ding, welches man verändert, es ist etwas, was wir leben, was wir durch uns selbst und das Zusammenspiel mit anderen zum Leben bringen. Blickt man auf das Bild des Menschen, der*des Mitarbeiterin*­ Mit­ arbeiters, das wir den agilen Arbeitsmethoden, dem Arbeiten und Leben in agilen Organisationen zu Grunde legen, dann ist es in der Regel ein Konstrukt über junge Menschen der Generation Y oder Z. Agile, demokratischere, Hierarchie reduzierte, selbstorganisierte Strukturen haben, wenn sie gelingen sollen, viel mit den Lebenskonzepten von Individuen zu tun. Und es ist nicht verwunderlich, wenn man konstatieren muss: Diese ‚Identitäten‘ sind in Unternehmen heute selten. Man kann Identitäten nicht einfach austauschen oder eine neue Identität annehmen und doch erwarten wir von Mitarbeiter*innen genau dies zu tun. Und damit erleben wir, dass die so

zukunftsweisenden Modelle der ‚neuen‘ Arbeit oft an den Menschen, die heute die Leistung in den Unternehmen erbringen, vorbeisehen. Wir stehen vor der Herausforderung neue Identitäten für die modernen Organisationen zu entwickeln – eine Aufgabe, die nicht nur Unternehmen leisten können, sondern eine, die die sozialen Identitätskonstruktionen unserer Gesellschaft betreffen. Identität ist eher ein kontinuierlicher Prozess, indem Menschen ihr Leben verstehen und gestalten – in psychologischer, sozialer, politischer und philosophischer Dimension. Das Verständnis von Arbeit und die Bedeutung von Arbeit für die Identitätsbildung ist dabei ein zentraler Aspekt, der alle Dimensionen durchzieht. Genau in diesen Prozess müssen wir eingreifen. Und das heißt, wir müssen uns auch um die Bedeutung von Status, von Aufstieg, von Lebenssinn, die durch die Arbeit in einer akzeptierten Struktur vermittelt wird, kümmern. Auch da, wo Mitarbeitende heute Hierarchie abbauen wollen, der Gedanke einer lateralen Karriere passt nicht in ihre Identitätsbildung, da hängen sie an der Aussicht von hierarchischem Aufstieg und Statusgewinn. Da Identität ein Prozess ist, eine Verhandlung zwischen Akteur*in­nen und von Akteur*innen mit Strukturen, lässt sich an einem für die neuen Organisationsformen passenden Identitätsprozess arbeiten – hier aber fällt

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die Grenze von Arbeitsidentität und gesellschaftlicher Identität – die Bedingungen hierfür sehe ich derzeit nur in den urbanen Lebensumständen. Und es ist ein Prozess, was heißt, er durchläuft verschiedene Stadien. Sie umfassen Momente der Konfusion, des wertenden Vergleichs mit anderen, einer Toleranz für die neuen Formen des sich Ausprobierens, eine Akzeptanz der neuen Identitätsstufe, eine Entwicklung von Stolz und schließlich die Integration der ‚Arbeitsidentität‘ in das ganze Spektrum der personalen Identität. Es ist sinnvoll, dies als eine Reise zu beschreiben, die dann leichter wird, wenn sie mit Partner*innen gemeinsam unternommen wird. Und es ist wohl notwendig, dass diese Prozesse

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gile Transformation Fred Turner (Standford University) verglich die Kultur ‚digitaler Unternehmen‘ mit der traditioneller Unternehmen: „Was es hier [Silicon Valley] braucht um erfolgreich zu sein: intellektuelle Feuerkraft, gute Ausbildung, soziale Flexibilität, die Fähigkeit, sich schnell um zu orientieren und mit verschiedenen sozialen Milieus klar zu kommen. Was wichtig war, um in einer Fabrik in Detroit gut zu sein, waren Beständigkeit, Verlässlichkeit, Pünkt­ lichkeit und generell eine Arbeitsethik, die allem entgegensteht, was

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begleitet werden. Dafür stehen neben dem individuellen Coaching vor allem Supervisionskonzepte für Gruppen zur Verfügung. Und sucht man nach einem Einstieg in diesen Prozess, dann ist es aussichtsreich auf das Thema Diversity und Inklusion zu schauen – eine Auseinandersetzung mit diesen Aspekten öffnet Menschen und lässt Offenheit auch für den eigenen Prozess der Identitätsbildung entstehen. Gleichwohl sollte man nicht überschätzen, was Unternehmen hier leisten können, die gesellschaftlichen Bedingungen und Wertungen sind hier dominant. Daher wird man wohl auch Menschen suchen müssen, die bereits auf dem Weg sind, eine andere Arbeitsidentität zu leben.

dich hier [Silicon Valley] erfolgreich macht.“ Dazu gehören heute globale Netzwerke der digitalen Eliten, denen oft nicht vernetzte und nicht globale Eliten der Produktion gegenüberstehen. Synnecta spricht hier von der zweiten Dichotomie, sie folgt auf die erste, die mit der Identifizierung von wertschöpfenden und nicht wertschöpfenden Tätigkeiten die soziale Ordnung in Unternehmen grundlegend geändert hat und damit den mindset der Mitarbeiter*­innen. Heute verläuft die mindset ändernde Zuschreibung zwischen digitaler

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Welt mit neuen Geschäftsmodellen und der ‚alten Produktionswelt‘ – die Generierung von ökonomischen Werten verschiebt sich hin auf die Seite der Vernetzung, der digitalen Geschäftsmodelle und der damit verbundenen Serviceleistungen und bringt die Erstellungs- und Ausbringungsorganisation in größten Kostendruck. Eine Folge für Unternehmen, die sich auf die Reise zu der digitalen/ agilen Transformation aufgemacht haben: Sie können nicht mehr glaub-

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ertrauen? – Natürlich, aber sie müssen es sich verdienen!« Über Wege zur Langsamkeit Vielfältigkeit, Unentschiedenheit und schnelle Wechsel bestimmen unsere berufliche und zunehmend auch unsere private Welt. Das zuverlässig Beständige finden wir immer weniger. Das Schlagwort VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) beschreibt diese Lage ganz gut. Es ist die Realität in der das Management globaler Unternehmen intern und extern handeln muss. Folgen sind unter anderem: das Versagen langfristiger Planungen, die Notwendigkeit, Strategien schnell anpassen zu müssen und ein zunehmender Vertrauensverlust in die Weitsicht und Entscheidungsqualität der hierarchischen Führungsorganisation.

würdig von dem einen mindset, der einen Kultur sprechen – sie brauchen heute je nach Ort und Aufgabe differenzierte Einstellungen, Werteorientierungen und Urteilsmodelle. Die Rede von dem einen mindset ist veraltet. So kann man sehen, dass Diversität nicht bei den klassischen Themen stehen bleibt – wir brauchen auch ein Lernen im Umgang mit der Binnendiversität und der damit verbundenen umverteilten Wertschätzung in Unternehmen.

Organisationen werden intern zu komplex, um auf die komplexen Anforderungen der Märkte und des Wettbewerbs antworten zu können. Waren es früher vor allem die vielfältigen Verknüpfungen der Matrixorganisation, der man mit Regelwerken kaum beikam, so sind es heute weitere Organisationsformen, die hinzukommen. Schnelle, mehr auf Attraktivität zielende thematische Gruppen, die mit hoher Eigensteuerung und die freier vom Regelwerk der Hierarchie operieren, bilden sich in den Organisationen. Mit dieser Vielfältigkeit steigen Freiheitsgrade in Organisationen, zugleich aber werden die Widersprüche sichtbar. Die hierarchische Organisation mit ihrer bürokratisch orientierten Steuerung verlangt andere Einstellungen und Kommunikationsformen als eine temporäre

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auf thematische Attraktivität beruhende Organisationsform. Sie reiben sich. Die Widersprüchlichkeit der verschiedenen Organisationsformen lässt sich bürokratisch nicht mehr auflösen und muss so von jeder*jedem Mitarbeiter*in persönlich sinnvoll gestaltet werden. Sie reagieren oft mit dem Gefühl, nicht wirklich geführt zu sein – sie erleben die eigene Führung als unberechenbar oder hilflos. Die Märkte und der Wettbewerb in ihrer globalen Vernetzung tragen zu der VUCA-Welt wesentlich bei. Beschleunigung, unterschiedlichste Anforderungen diverser Märkte, die aufkommende Definitionsmacht sozialer Medien und das Aufkommen neuer Wettbewerber mit anderen internen Spielregeln machen die Außenwelt der Unternehmen instabil. Damit geht die Planungssicherheit und die Relevanz mittel- und langfristiger Strategien verloren. Von Unternehmen werden nun neben der Geschwindigkeit auch Flexibilität und eine hohe und schnelle Anpassungsfähigkeit verlangt. Oder kurz: mehr opportunistisches Verhalten. Unternehmen reagieren darauf mit der Entwicklung schneller, dynamischer Organisationsformen, die intern die Widersprüchlichkeit erhöhen. Mitarbeiter*innen, die nach Sicherheit suchen, verlieren Vertrauen in ihre Führung. Es ist wenig hilfreich, in dieser Situation mit den klassischen Mustern

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großer Organisationen zu reagieren: dem Finden und Formulieren neuer Regeln. Regeln sollen stabilisieren, Zuverlässigkeit herstellen und Berechenbarkeit sicherstellen. Die VUCA-Welt bedroht gerade diese Fähigkeit von Regeln, denn sie verlangt, um schnell und flexibel sein zu können, immer wieder den Bruch von Regeln. Es scheint mir nicht sinnvoll zu sein, auf die Widersprüchlichkeit, Diversität und die Forderung nach stetigem Anderssein mit einer Perfektionierung des bürokratischen Apparats zu antworten. Es ist unbestreitbar, dass wir mit der derzeit noch unverzichtbaren hierarchischen Organisation Regelwerke brauchen. Die Frage ist daher nicht, ob wir auf Regeln verzichten können, sondern wie wir dem Impuls widerstehen können, etwas in sich Widersprüchliches durch ein komplexes Regelwerk widerspruchfrei zu machen. Das gelingt nie! Der erste Schritt zu einer Veränderung einer Organisationskultur, die in der Lage sein wird, in und mit den verschiedenen Organisationsprinzipien zu arbeiten, ist die Akzeptanz der Widersprüchlichkeit und nicht ihre Verneinung. Und was dann? Die schwierige Antwort darauf ist Vertrauen – Vertrauen, welches ich gebe und nicht eines, das sich jemand verdient hat. „Wenn du Menschen vertraust, dir zu helfen, tun sie das oft“, schreibt

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4.3 Zwischenrufe

Amanda Palmer in ihrem Essay ‚Die Kunst des Bittens‘. Sie tun es, ohne dass für sie ein direkter Nutzen entsteht. Sie kooperieren. Dennoch misstrauen wir oft und so installieren wir zur Sicherheit vielfältige Kontrollmechanismen. Wir alle haben Geschichten, die begründen, warum wir misstrauisch sein sollten. Aber wir sollten auch wissen, wie viele Geschichten wir kennen und erlebt haben, in denen Vertrauen geholfen hat. Ein Vorrang von Misstrauen, wie ich ihn in Unternehmensteilen immer wieder erlebe, verlangsamt, macht bürokratisch und nimmt Spontaneität. Und dies ist dann Gift für den Erfolg, wenn es um Flexibilität, Agilität, schnelles Entscheiden und die Bereitschaft, ein Risiko zu akzeptieren, geht. Wollen wir mit der VUCA-Welt erfolgreich umgehen, dann ist die Entwicklung von Vertrauen innerhalb einer Organisation der wichtigste Baustein. David DeSteno in „The Truth about Trust‘ formuliert es so: ‚Trust, then, is simply a bet, and like all bets, it contains an element of risk.“ Wenn denn Vertrauen so wichtig ist, was tun wir eigentlich, um einander mehr vertrauen zu können und um das Risiko immer wieder eingehen zu wollen? Wir tun nicht sehr viel. Wir behandeln dieses so wesentliche Thema nur peripher. Wir schaffen keine Situationen, in denen

wir lernen können zu vertrauen. Darin steckt eine Anfrage an die Bildungsabteilungen, die immer noch vor allem Wissen vermitteln wollen. Sie vernachlässigen, dass ‚Vertrauen können‘ ein Akt der Gefühlsbildung ist. Wir wissen, dass Menschen, die mit hohem Vertrauen in eine konflikthafte Situation gehen, eher mit einer guten Lösung aus ihr herausgehen. Gebildetes, intuitiv gewordenes Vertrauen lässt uns deeskalieren und nach nützlichen Lösungen suchen. Vertrauen lässt sich aufbauen und es lässt sich lernen. Ganz sicher wird es immer mal wieder enttäuscht und so wird man neben dem Vertrauen wohl auch die Fähigkeit zur Vergebung lernen müssen. Beide Chancen haben wir allerdings nur dann, wenn ich nicht darauf warte, dass der andere zuerst mein Misstrauen ausräumt. Vertrauen bekomme ich geschenkt, ich kann es nicht verdienen. Ich kann es nur bestätigen oder enttäuschen. Der Anfang aber liegt darin, grundsätzlich vertrauen zu lernen – nicht nur für mich als Person, sondern auch für uns als Unternehmen. Die VUCA-Welt scheint uns da nicht viel Spielraum zu lassen. Vertrauen wir jedoch nicht, dann werden wir nicht flexibel, nicht schnell, nicht agil und nicht anpassungsfähig werden. Dann werden wir auf unserem Pfad zur Langsamkeit weitergehen.

4.3 Zwischenrufe

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T

ransparenz und Vertrauen Im agilen Kontext wird viel von Transparenz gesprochen, manchmal gar von radikaler Transparenz. Zugleich wird immer wieder eine Vertrauenskultur gefordert, die oft eine Einbahnstraße zu sein scheint – oben soll unten vertrauen. In den Diskursen über Diversität offenbart sich hier ein anderer kultureller Unterschied. Ein gern gesagter Satz in der westlichen Welt: ‚Man muss sich Vertrauen verdienen!‘ Muss man? Die Forderung nach Transparenz geht in dieselbe Richtung. Aber wozu noch Vertrauen, wenn durch Transparenz alles nunmehr ein Kalkül ist, wenn ich alles wissen muss, um dirigiert Sicherheit für das Handeln zu empfinden? Vertrauen brauche ich doch gerade in der Intransparenz, dem Dämmer der Komplexität. Wo im Westen die komplexe, genaue die nichtlineare deterministische Dynamik durch Transparenz und Transparenz Kalküle bewältigt werden soll, geht die östliche Welt einen anderen Weg – Vertrauen in beide Richtungen, solange bis das Gegenteil bewiesen ist. Und es ist gerade Vertrauen, das diese Gemeinschaften in der Intransparenz der VUCA-Welt handlungsfähig macht. Transparenz fordert die*der, die*der den Glauben verloren hat. Vertrauen kann die*der, die*der Anderen, man mag es naiv nennen, Glauben schenkt.

W

hy Diversity? Why Gender? … why diversity? Because it’s already a fact: The question is: Do we have an openness towards diverse people and diverse ­behavior within our working environment or do we expect and honor a highly adaptive behavior? Thinking about gender: What do we expect from the other gender – assimilation or a difference? Because transnationality is impossible without accepting and valuing diversity: Leading and managing a company across nationalities, gender, ethnicities, religions, sexual orientations, age et cetera needs a cul-

ture of inclusiveness which gives room for differences in both behavior and mental models of the people. Because understanding different markets and different needs of customers is only possible, if differences are reflected within the company: You can’t see that you can’t see what you can’t see. Because innovation (products, services, processes …) needs differences. Diversity of people is a main source for differences: Thinking and acting out of the box is quite a challenge if we are all sitting in the same box. Because we need highly talented people. They are more and more co-

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4.3 Zwischenrufe

ming out of diverse origins and have formed highly diverse identities. A trend which will increase in the near future: We can ask talents for assimilation and we will get assimilated behavior and thinking. Doing so we often lose the talent we were looking for. The task is to find a good balance between a common company culture and space for differences. Women are representing the largest group of talents we are not adequately able to integrate into the hierarchical ranks of our companies. Because integrating different approaches towards leading people, towards internal competition, towards making decisions, towards developing people increases the cultural richness and economic adaptability: Gender and gender related behavior is an important source for gaining corporate flexibility. Accepting the need for diversity: what then is our topic? We are narrow minded by nature – being part of a specific culture and a group with decisive judgments re-

duces complexity and gives us the impression of the capacity to act. In our discourses we have learned to respect diversity. To develop a mutual behavior of inclusiveness we have to learn to value diversity and to foster diversity. In this matter we talk about mindsets of groups and quite deep rooted biographical patterns. Working with these concepts first needs awareness. Awareness proceeds change. Awareness needs experiences and dialogs. A good dialog is developing in a slow speed, accelerated by conflicts. But when do we start to really share insights and invest in humble dialogs? Often when we meet an obstacle – for example a companies’ quota for the number of women in leading positions. … awareness For the development of diversity and inclusion the awareness of homogeneousness and exclusion within our own behavior and the behavior of our group is what the sense of urgency is for a change process: The first and unavoidable step.

4.4 Haiku

gestern war doch schön als du alles versäumtest was heut leben wär

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4.4 Haiku

nun blüht die kirsche und ihre blüten schweben sanft auf deinen mund

4.4 Haiku

im gewitterwind wirbelnde blättersäulen drinnen ist es still

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4.5 Von Außen

„No why. Just here.“ John Cage

„I’m really afraid to feel happy because it never lasts.“ Andy Warhol

Diversität ist ein wohlfeiles Schlagwort, es verleitet Unternehmen dazu, sich mit Kampagnen als diversitätsoffen zu präsentieren und dabei jeweils gerade das Unterschiedskriterium zu bedienen, welches im sozialen Diskurs en Vogue ist. In einer tieferen Schicht geht es jedoch um die Zumutung an die Gemeinschaft einen hohen Individualitätsgrad zu respektieren, zu akzeptieren und mit ihm zu leben. Fragt man die jungen Generationen heute danach, welchem binär gedachten Geschlecht sie zu gehören, erhält man immer häufiger die Antwort: non binär – irgendwo dazwischen. Das ist verwirrend für den, der Sicherheit, Beständigkeit, Kontinuität sucht; es ist belebend für den, der den offenen Horizont sucht und der seine Identität immer wieder neu bestimmt. In einem Liedtext ausgedrückt:

„Girls, who are boys Who like boys to be girls Who do boys like they are girls Who do girls like they are boys.“ Blur, Girls and Boys, 1990

„Liberalism is trust of the people tempered by prudence. Conservatism is distrust of the people tempered by fear.“ William E. Gladstone

Kolumnentitel

5. Wer darf sprechen? Wer wird gehört? Die politische Dimension der Organisations­entwicklung

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5.1 Einleitung

5.1 Einleitung Es wird viel über eine Demokratisierung der Arbeitswelt gesprochen. Im Kern wird die Frage gestellt: Wer soll herrschen? Die Diskussion wird in der umschriebenen Gruppe und für die Gruppe der Mitarbeiter*innen geführt. Der Aspekt der kapitalistischen Verfasstheit, also der Eigentümerrechte wird oft ignoriert. Es ist eine Diskussion über die interne Führung des Unternehmens, über die Gestaltung interner Entscheidungsprozesse. Ein starker Akzent liegt auf einem eher revolutionären Aspekt – einer zumindest angezielten Veränderung der Beziehung zwischen Führung und Geführten. Es gibt eine Drift, die Macht geht von der Führung hin zu der Mitarbeiter*innenschaft. Die Idee der Augenhöhe in Gesprächen, das sich mehr und mehr in Führungsleitlinien wiederfindet, verlagert die Thematik auf die Verhaltensebene und ist so strukturkonservativ. Wenn sich die Diskussion ausdehnt und sich mit der Legitimation von Führung beschäftigt, dann kommen wir zu deutlicheren Fragen der Demokratie: Wie ist Führung legitimiert? Bisher wird Führung eingesetzt und ist durch den Willen der*des Eigentümerin*Eigentümers oder ihrer*seiner Vertreter*in legitimiert. Nun wird die Mitarbeiter*­

innenschaft in einem Wahlakt zur* zum Souverän – die Mitarbeiter*in­ nen beantworten die Frage: Wer soll herrschen? Und sie legitimieren die Herrschaft. Ein solcher Wechsel wird oft mit der Notwendigkeit begründet, soziale Spannungen zu reduzieren und hat ein Schichten- oder Klassenmodell als Grundlage. In einem Demokratisierungsschub würde sich das Unternehmen als Unternehmensbür ger*innengesellschaft konstituieren. Der Wahlakt einer Führung und ein begrenztes Feld von Wahlentscheidungen wären nur ein Zwischenschritt – sprechen wir von Demokratisierung der Unternehmen wäre es notwendig auf von der Verfassung einer Unternehmensrepublik zu sprechen – und davon sind wir noch sehr weit entfernt. In der englischen Demokratietheorie findet sich neben der Reflexion über die Frage ‚Wer soll herrschen?‘ , Überlegungen dazu, warum ein Mehrheitsentscheid aus der Gesamtheit aller Wahlberechtigten nicht nur ein sozial befriedender Prozess ist, sondern auch zugleich eine inhaltlich bestmögliche Lösung erbringt. In den Diskursen in und um Unternehmen verbindet sich das mit der vieldiskutierten Idee des Schwarms. Führungen in Unternehmen wurden

5.1 Einleitung

gewahr, dass das ‚Ex­ pert*­ innen­ wissen‘ und vor allem auch die eigenen mentalen Modelle nicht zureichend auf eine sich schneller wandelnde Welt und sich schnell wandelnde Bedürfnisse zu reagieren vermögen. Es wurde durch die Möglichkeiten der schnellen Vernetzung über die sozialen Medien, die zugleich ein Forum bildeten, das sich Gehör verschaffen konnte auch deutlich, dass Wissen, Wahrnehmungen, Ideen und somit auch geschäftliche Möglichkeiten im ‚Demos‘ des Unternehmens zirkulieren, dass aber die Führungen und die Führungsgremien oft keinen Zugang dazu haben. Neben der Frage ‚wer soll herrschen?’ trat die Frage auf ‚wo ist das beste Wissen?’ und ‚wie bekommt man Zugang zu diesem Wissen?’. Auch hier gibt es die zwei Antworten: Die strukturkonservative Antwort, die alles mit einer Verhaltensänderung der Führung und manchmal vergessen der Mitarbei­ ter*­innen lösen möchte: Wieder die Idee der Augenhöhe, die Idee der Bildung einer Purpose-Gemeinschaft, Empathie und der Wunsch nach offenem, Furcht- und schamfreiem Diskurs. Und dann erste Ansätze auch in die Struktur einzugreifen, zumindest in die Entscheidungsstrukturen.

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Die Fragen ‚wer darf sprechen?‘ und ‚wer wird gehört‘ weisen hierzu den Weg. Das Konzept der Durchwegung, welches hier vorgestellt wird, ermöglicht es Unternehmen, erste Schritte zu gehen. Durch Partizipation – die Grundlage für jede Art von Demokratie – verändern sich die Gespräche, es werden andere Perspektiven sichtbar, es entstehen neue und wichtige Themen und es findet ein gegenseitiger Bildungsprozess statt. In solchen durchmischten Gremien werden dann auch Privilegien sichtbar, ihre Wirkungen auf die Teilnahmebedingungen für einzelne Gruppen an Entscheidungsprozessen des Unternehmens. Auch hier wird sichtbar, dass eine positive Haltung zur Diversität sowie Haltungen der Solidarität, des Respekts und der Fairness eine der Grundlagen für ein ‚durchwegtes Unternehmen‘ ist. Diese Formate und Gesprächsformen verlangen allerdings noch eine andere Haltungsänderung: Zu ‚Erhebe deine Stimme‘ und ‚Mach dich vernehmbar‘ gehört auch, dass ein Unternehmen lernt, mit Skepsis, mit einer Haltung des Hinterfragens umzugehen. Eine Gehorsamskultur schafft keine Wende und keinen Zugang zu den in den Hierarchien vergrabenen Wissen und Fähigkeiten.

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5.2 Durchwegung

5.2 Durchwegung Die dynamisch-vernetzte Organisation: Wie Communities jenseits des Organigramms Potenziale freisetzen und Wandel ermöglichen

1. Einführung Unternehmen nutzen ihre Potenziale nicht – in seltener Einhelligkeit gelangen Wirtschaftsforschungsinstitute zu übereinstimmenden Analyseergebnissen, die lediglich in den Prozentangaben schwanken. Die Ursachen der unzureichenden Potenzialausschöpfung werden entweder im Führungsverhalten, in der Struktur des jeweiligen Unternehmens oder aber in den Prozessen gefunden. Natürlich tragen alle Faktoren zu der Situation bei – wobei Korrekturen an einer einzelnen Stelle in der Regel nicht viel bewirken. In unseren Ausführungen wollen wir nicht in den Wettkampf um die beste Nahtstelle der Intervention einsteigen, sondern eine Arbeitsweise vorstellen, die jenseits eines Organigramms die Beziehungen in einem Unternehmen auslotet. Unternehmen bestehen aus Beziehungen, aus Relationen. Neben der vertikalen Organisation gibt es eine lebendige und oft ungenutzte laterale Organisationsrealität. Diese zu erkennen und mit ihr zu arbeiten, kann statt starrer Strukturen Dynamik in der Organisation auslösen. Wir wollen zeigen, dass in dynamischen Organisationen das vorhandene Potenzial mehr und besser genutzt wird und dass ein Weg zur dynamischen Organisation ein neues Verständnis von Gemeinschaftlichkeit ist. Fragt man Unternehmen danach, wie sie organisiert sind, erhält man in aller Regel ein Organigramm. Dieses spricht von Funktionen, Verantwortungen, von Hierarchie, es zeigt Berichtswege und Kommunikationskanäle. Letztere beschreiben die Kommunikationskaskade, die in den meisten Unternehmen das Rückgrat der internen Kommunikation ist. Manchmal werden die Organigramme auch um Verantwortungscharts ergänzt. Offen bleibt, was in dem weißen Raum zwischen den Kästen eigentlich geschieht. Hier in den Zwischenräumen sehen wir ein großes Potenzial zur Entwicklung einer Organisation.

5.2 Durchwegung

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Im ersten Teil unserer Ausführungen beschreiben wir auf Basis typischer Problemstellen in Unternehmen die klassischen Hemmnisse für die Dynamisierung einer Organisation. Im zweiten Teil betrachten wir die soziale Realität des Unternehmens aus einem noch sehr ungewohnten Blickwinkel. In dieser Perspektive werden grundsätzliche menschliche Eigenschaften wie Kontaktbedürfnis, Beziehungswunsch, Hilfsbereitschaft, Neugier und Interesse sichtbar und können zugunsten der Dynamisierung des Unternehmens genutzt werden. Dies bedeutet, dass Verantwortung in einem tieferen Maße wahrgenommen wird als bisher, also auch die Beziehungen zwischen den Kästen des Organigramms wirksam werden, und dass Wissen sowie Informationen schneller fließen.

2. Hemmnisse für die Dynamisierung eines Unternehmens Festgefahrene Strukturen und Rituale blockieren die Dynamisierung in einem Unternehmen maßgeblich. In der hierarchischen Organisationsform bevorzugt man die vertikale Kommunikation. Ein wesentlicher Faktor hierbei ist, dass diese Art der Kommunikation Mitarbeiter*innen eher aus Entscheidungsprozessen ausschließt, als dass sie sie einbezieht. In Prozessen auf horizontaler Ebene zeigt sich ein anderes, der Dynamisierung hinderliches Phänomen: Hier schotten sich die jeweiligen Bereiche gegeneinander ab und verschließen so Kommunikationswege. Diese Blockaden führen zu einer Verweigerungshaltung seitens der Mitarbeiter*innen in Veränderungsprozessen, die von der Leitungsebene als mangelnde Motivation wahrgenommen wird. Vertikal-hierarchische Barrieren: Wie Mitarbeiter 2.1 Organisationale in Passivität gleiten Hemmnisse: Wie Hierarchie und Bürokratie sind die Grundmuster in Organigramme der Organisation eines Unternehmens. Sie sind das Wirklichkeiten Fundament für rasche Entscheidungen, Fokussiekonstruieren rung, Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit. Sie sind unverzichtbar. Doch sie haben Nebenwirkungen. Aufwärtsdelegation von Verantwortung ist nur eines dieser Phänomene, oft gepaart mit Unselbstständigkeit und abwartendem Ver-

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5.2 Durchwegung

halten in den untergeordneten Ebenen – ein Verhalten, welches nicht selten einer Überverantwortung auf den oberen Ebenen entspricht. Ein großer Teil von Unterstützungswünschen, die Unternehmen an uns richten, bezieht sich auf das passive, abwartende Verhalten von Mitarbeitern. Es werden Initiative, Verantwortungsbereitschaft, Entscheidungsfreude und Dynamik verlangt. Genau diesen Wünschen steht die hierarchische Struktur im Weg. Ihre strukturelle Komponente der Abhängigkeit, oft in eine lange Geschichte von gelerntem Verhalten in Abhängigkeitsbeziehungen eingebettet, erzeugt gerade das beklagte Verhalten. Dies ist eine der wichtigsten Barrieren, die uns den Weg zum Potenzial der Mitarbeiter*innen versperren. Immer bessere Führungsbildung und eine intensive Reflexion von Führungsverhalten können diese Symptome mildern, aber nicht beseitigen. Horizontale Barrieren: Wie Gruppendenken Schwerfälligkeit evoziert Ein Organigramm zeigt es sehr deutlich: Wege, als Verbindungslinien gemalt, gehen von oben nach unten und so wird auch ein Organigramm gelesen. Die horizontalen Verbindungen scheinen kaum auf und werden bei gut organisierten Unternehmen durch streng sachbezogene Prozesscharts dargestellt. Das Beziehungsgefüge ist vertikal. In unserer Arbeitsrealität aber werden die horizontalen, die funktions- und bereichsübergreifenden Arbeitsbeziehungen immer wichtiger. In der Horizontale wird über die Qualität, das Tempo, die Schlankheit der Arbeitsrealität entschieden. Erfolgreiche Menschen haben viele und gute horizontale Beziehungen. Sie erst schaffen die Grundlage, Themen, Probleme und zukunftsweisende Aktivitäten realisieren zu können. Noch aber werden bei den meisten Unternehmen horizontale Beziehungen überwiegend durch gruppentypische Abgrenzungen und Schuldprojektionen zur jeweils anderen Seite hin geprägt. So liegt in den horizontalen Beziehungen zwar viel Potenzial, es wird aber durch typisches ‚in group’-Verhalten blockiert. Funktionale und lokale Eigenlogiken: Spannungsfelder zwischen Segmentierung und Gemeinschaftlichkeit Organisationen müssen Bereiche voneinander abgrenzen und segmentieren, nur so lässt sich das heutige hohe Maß an Arbeitsteiligkeit regeln.

5.2 Durchwegung

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• Funktionale Abgrenzungen sind notwendig, wenn ein Unternehmen auf funktionale Exzellenz setzt. • Lokale Abgrenzungen sind dann erforderlich, wenn regionale Märkte sich rasch verändern und Unternehmen flexibel auf diese Anforderungen reagieren müssen. • Die Abgrenzung von Geschäftseinheit und Geschäftsfeldern ist notwendig, wenn ein Unternehmen den globalen Markt fokussiert und nach wirtschaftlichen Kriterien bearbeiten will. Moderne Unternehmen kennen alle Abgrenzungen zugleich, sie sind Hybride. Und wieder entsteht das Spannungsverhältnis zwischen der Gemeinschaftlichkeit, die in der Regel in übergreifenden Zielen ausgedrückt wird, und der Abgrenzung, die sich in den lokalen konkreten Zielen spiegelt. In dieser Dynamik entstehen starke Eigenlogiken des Handelns, die vernünftiges Miteinander und ein auf die Gesamtheit bezogenes Verhalten oft missen lassen. Emotional verstärken solche Eigenlogiken dann Egoismus, taktisches Verhalten und Selbstoptimierung.

Befund Ungemeinschaftlichkeit: Es fehlt am Sinn fürs Ganze Fasst man diese beispielhaft genannten Barrieren und Schwierigkeiten zusammen, dann könnte der Befund heißen: Unternehmen leiden heute an einer Kultur der Ungemeinschaftlichkeit. Es ist zwar beinahe alles geregelt, es sind Zuständigkeiten bestimmt, Rechte und Pflichten beschrieben, Aufgaben zugeteilt, Instrumente zur Selbst- und Fremdkontrolle etabliert, Prozesse mit zugehörigen Verantwortungen definiert usw., es fehlt aber an dem gemeinsamen Sinn für das Ganze, in das sich jede*r Mitarbeiter*in mit seinem Potenzial einbringt. Wenn Sie in Tiefeninterviews Mitarbeiter*innen und auch obere Führungskräfte befragen, warum sie eigentlich arbeiten und oft den größten Teil ihres Lebens in ein Unternehmen investieren, wird die Antwort sein: ‚Ich will Teil einer Gemeinschaft sein, die etwas bewirkt und in der ich mich mit meinen Lebenszielen aufgehoben finde.‘ Sie erleben auch, wie oft das nur ein Wunsch ist und die Menschen an der Realität leiden und spüren, wie sich das auf ihre Motivation auswirkt. Es geht dabei nicht darum, ein Unternehmen als ‚Wärmestube’ misszuverstehen, sondern darum, dass

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ein dynamisches Unternehmen, in das die Mitar­beiter*innen sich mit ihren Potenzialen einbringen, immer Aspekte einer Gemeinschaft aufweist – worum auch immer sich diese Gemeinschaft dann inhaltlich gruppieren mag.  ie notorische Motivationsklage: Die Mohrrübe D ist schnell verspeist Die Klage über die mangelnde Motivation ist notorisch – wir hören sie in jedem Unternehmen, wir sehen sie in beinahe jeder Umfrage. Es sind stets rund 60 % der Mitarbeiter*innen, bei denen man nicht realisiertes Motivationspotenzial vermutet, rund 20 % hat man schon aufgegeben und lediglich bei den restlichen 20 % sieht man ein hohes verwirklichtes Motivationspotenzial. Blicken wir nun auf die Arbeitsverdichtung der vergangenen Jahre, dann werden Mitarbeiter*innen dieser Aufgabenfülle nur dann gerecht werden können, wenn sie intrinsisch motiviert sind. Das mag bei den jungen Mitarbeitern*in­ nen noch mit der Mohrrübe des möglichen Aufstiegs gelingen, die Kernmannschaft aber weiß inzwischen, wo für sie die Grenzen liegen. Sie muss sich einrichten. Es ist nicht verwunderlich, dass in einem solchen realistischen Prozess der Selbst- und der Chanceneinschätzung auch das sichtbar wird, was Menschen als Enttäuschung, als Ungerechtigkeit und als Vergeblichkeit empfinden. In großen Unternehmen sind solche Entwicklungen unvermeidbar. Die Frage ist, was steht dagegen? Anders herum gefragt, was könnte dafür sprechen bzw. die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Mitarbeiter*innen sich initiativ, verantwortungsvoll, aktiv und, ja, mit Lust im Unternehmen einrichten? Noch bessere Managementtools geben auf diese Frage keine Antwort.

2.2 Individuelle Hemmnisse durch ungenutzte Potenziale

Das verstreute Wissen: Datenmengen ohne Bezugsgeflechte sind tote Materie Die zweite notorische Problemstelle ist der Wissensaustausch. In einem großen Unternehmen ist fast alles Wissen, sind fast alle Ideen vorhanden – aber sie sind der Organisation nicht verfügbar. Inseln der Exzellenz sind in der lateralen Unzugänglichkeit der hierarchischen Organisation versteckt. Wie weiß ein Unternehmen, was es könnte? Und wie kann ein Unternehmen realisieren, was es weiß? Lebendige Begegnungen sind dafür notwendig, weil nur so die im-

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pliziten Anteile des Wissens und Könnens ausgetauscht werden können. Datenbanken haben nur dann eine Wirkung, wenn sie Beziehungsangebote und Beziehungsmöglichkeiten beinhalten, ansonsten sind sie tote Datenmengen. Will man solcherart lateral vernetzte Organisationen kultivieren, dann benötigt man Begegnungsplattformen, die einen Austausch quer zur Organisation ermöglichen und die anderen Kriterien unterworfen sind, als es das tägliche Geschäft ist. In diesen Kriterien geht es um Begegnung, Sprechen, Kooperation, Unterstützung, um Sympathie und manchmal auch um Freundschaft. Die bisher vergebliche Hoffnung auf Web 2.0-Lösungen Social Media als Teil des Web 2.0 sehen immer mehr Unternehmen als Chance, mit ihren Mitarbeitern*innen über die Organisationsformen hinweg zu kommunizieren und sie an der Gestaltung der Organisation zu beteiligen (vgl. ‚Background: ‚Was ein lebendiges Web 2.0 benötigt‘). Diese Hoffnungen haben sich allerdings bisher kaum erfüllt. So intensiv diese Medien in der privaten Sphäre genutzt werden, so zögerlich ist die Beteiligung im unternehmerischen Raum.

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5.2 Durchwegung

Was ein lebendiges Web 2.0 benötigt Web 2.0-Lösungen sind derzeit der Renner, wenn es darum geht, an die Ideen und an die Ener gie von Mitarbeitern*innen heranzukommen. Soziale Medien bieten einem gemeinschaftsorientierten Unternehmen viele Möglichkeiten. Über soziale Medien jenseits der Organisationsformen vernetzte Mitar­ beiter*innen können viel in der Organisation bewirken: schneller Wissensaustausch, höhere Bindung, lebendige Sozialdynamik, unkomplizierte Hilfe, schnelle Entdeckung und Behebung von Problemen, Generierung von Ideen und Verbesserungspotenzial usw. Wenn das gelingen soll, dann wird ein Unternehmen vor eine Grundfrage gestellt: Wie viel unkontrollierte Freiheit lasse ich eigentlich meiner Organisation, denn ein lebendiges soziales Netz ist innerhalb des Rahmens von Verhaltensspielregeln eher anarchisch organisiert und reagiert sehr scheu auf Kontrolle, Bevormundung und Zensur. Mit sozialen Medien bilden sich schnell Gemeinschaften um Themen und Interessen herum, die soziales Kapital im Unternehmen aufbauen und die etwas bewirken, wenn man die entsprechenden Freiräume lässt. Solche Gemeinschaften werden nur funktionieren, wenn ich zugleich Raum habe für persönliche Anliegen, für Beziehungsgestaltung, für Neugier am anderen Menschen – also für all das, was zunächst einmal nicht zielführend zu sein scheint. Wird das nicht gewährleistet, dann bleiben soziale Medien in Unternehmen tot und die Leute suchen sich ihre Kontaktplattformen außerhalb. Je intensiver im Unternehmen soziale Medien genutzt werden, desto höher ist der Effekt auch auf die harten Kennzahlen, z. B. Marktanteile (vgl. McKinsey, Survey: Web 2.0 finds it payday, 2011). Gründe hierfür? Es werden viele Aspekte zu berücksichtigen sein, wenn man diesen bisherigen Misserfolg verstehen will. Sicher ist, dass die sehr schnelle Vereinnahmung des Mediums für spezifische Zwecke einer der Gründe ist. Virtuelle, soziale Netzwerke entwickeln sich freiwillig, sie ähneln in ihrer Zugangsweise eher einem zweckfreien Spiel als einem direkten Mitteleinsatz für einen definierten Zweck. Zwar erfüllen die Themenforen als Teil von Social Media durchaus einen Zweck, von ihrem Grundverständnis her aber sind die sozialen Medien eher anarchischer Natur. Vor allem

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soziale Neugier, Gesprächs- und Beziehungswünsche sowie soziale, zweckfreie Lebendigkeit kennzeichnen das eigentliche SocialMedia-Wesen. Die große Kunst, Social Media als Bestandteil der Kommunikation in Unternehmen zu nutzen, wird sich in einem Spagat ausdrücken: Einerseits gilt es, Freiheit, Offenheit und Zweckfreiheit zuzulassen, um dann andererseits die Ergebnisse eines so gewonnenen sozialen Kapitals in die Unternehmensentwicklung integrieren zu können. Die Projektlogik des Change Managements: Wie 2.3 Die klassischen Lagerdenken entsteht EntwicklungsDie Starrheit oder die wahrgenommene Verändeund Veränderungs­ rungsunwilligkeit von Mitarbeitern*innen wird häuarchitekturen fig in den größeren Change-Projekten spürbar. Sie wird dem Verhalten und der Einstellung der Mit­ arbeiter*innen zugeschrieben. Der oft zu hörende Satz lautet: Die Leute können schlecht mit Veränderung umgehen. Unabhängig davon, wie wahr oder unwahr die Aussage dieses Satzes sein mag, er manifestiert einen Unterschied, nämlich den Unterschied zwischen uns, die wir veränderungsfähig sind, und den anderen, die es nicht sind. Es werden zwei Gemeinschaften gebildet. Diese Einstellung kennzeichnet dann ein polarisierendes Verständnis von Veränderung: Es gibt einen Teil der Organisation, der eine aktive, Veränderung voranbringende und gestaltende, thematische Gemeinschaft ist. Diese veränderungsbereite Gemeinschaft trifft sich regelmäßig, arbeitet oft bis spät in den Abend hinein und lässt den Arbeitstag gemeinsam in dann privater Stimmung ausklingen. Und es gibt in dem polarisierenden Verständnis zweier Lager im Unternehmen eben die anderen, die nicht zur Veränderung bereit sind, aber auch nicht beteiligt werden. Was wir eigentlich wollen, ist, dass die gesamte Gemeinschaft dieses Unternehmens eine Veränderung sucht, dass sie die Notwendigkeit von Veränderung versteht und dass alle gemeinsam etwas bewegen. Diese leider noch klassische Architektur von Change-Projekten mit ihrem Lagerdenken erzeugt eine soziale Dynamik, die eher ausschließend ist und damit Veränderungsunverständnis und Veränderungsresistenz nicht nur konstatiert, sondern sogar erzeugt und verstärkt. Hinzu kommt, dass sich in diesen Prozessen das interne Projektteam stärker in die Beratungsgemeinschaft eingliedert als in die des sich verändernden Unternehmens.

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5.2 Durchwegung

Subprojekt Kommunikation: Wenn nur mitgeteilt und nicht einbezogen wird Die Folgen solch polarisierenden Denkens sind wahrnehmbar. Mitarbeiter*innen fühlen sich nicht wahrgenommen, verstehen sich als Objekt oder auch Manövriermasse einer Veränderung und verhalten sich entsprechend abwehrend. Die Manager der ChangeProjekte reagieren auf diese Verweigerung und integrieren ein weiteres Subprojekt in ihre Projektlandschaft: das Subprojekt Kommunikation. Es ist ein verbal oft sehr bedeutsames Subprojekt, in der Umsetzung allerdings ist es meist nachrangig und läuft der inhaltlichen Entwicklung hinterher. Ein Kommunikationsprojekt, welchem der gleiche Rang wie dem inhaltlichen Projekt zugebilligt würde, könnte bereits in dem Moment aufgesetzt werden, in dem die Analyse- und Konzeptionsphase beginnt. Dort gäbe es – noch – die Chance, die Veränderung zumindest in ihrem Kern als eine gemeinsame Anstrengung zu erleben und so ein antizipatives Einverständnis der Mitarbeiter*innen zu erreichen. Denn über Veränderung muss man sprechen, lange bevor deren Umsetzung beginnt. Tut man dies nicht, so ist der inhaltliche Widerspruch seitens der Mitarbeiter*innen vor allem eine Reaktion auf den Ausschluss aus dem gesamten Procedere und auf die im Ausschluss liegende Abwertung. Haben die Change- Manager in Unternehmen aber den Mut, Mitarbeiter*innen von den frühesten Anfängen her zu beteiligen, so wird sich dies später in höherer Akzeptanz und Umsetzungsbereitschaft seitens der Belegschaft niederschlagen. Aktuell wird die Projektlogik oft von dem Motto ‚Nichtbeteiligung als Programm’ geprägt. Als weiterer Faktor kommt hinzu, dass Kommunikation in einer Organisation herkömmlich vertikal gedacht wird, die Menschen kleben an der Kommunikationskaskade, die der der Führung entspricht. Betrachtet man die Gesamtgemeinschaft Unternehmen als Verantwortungsgemeinschaft, dann könnte die Kommunikation an jedem Ort einsetzen, ihre Struktur könnte sich eher an einer Zellen- und Schwarmkultur orientieren. Hier kann jeder Ort zum Ausgangspunkt eines verändernden Impulses werden. Das nachträgliche Einverständnis: Mogelpackung ohne Wirkung In der aktuellen Unternehmensrealität werden Kommunikation und Change-Beratung oft erst dann wirksam, wenn eigentlich schon

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alles festgelegt ist. Es geht dann nur noch um die Erzeugung eines nachträglichen Einverständnisses der Mitarbeiter*innen. Dieser Akt wird mit viel Aufwand in Szene gesetzt und verfolgt im Regelfall das Ziel, den Widerstand zu minimieren und die Grundideen zu vermitteln. Aber es bleibt bei den Mitarbeitern*innen etwas zurück, was sie skeptisch und vorsichtig stimmt und eben dann auch nicht sehr veränderungswillig macht. Nachträglichkeit kittet nur, was vorher zerbrochen ist. Aber auch hier gibt es Wege zur Neugestaltung der Gemeinschaft – die Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass das Neue der Veränderung auch in die Mitte der Organisation gelegt wird, dass die Veränderung angefasst, gewendet, begriffen und in ihrem Kern verstanden werden kann. Die Kommunikation muss mit den Händen greifbar werden.

3. Unternehmen als Gemeinschaft – Wege zur Dynamisierung 1. Was sind Gemeinschaften? Eine Mikroheimat 3.1 Vernetzte in der Organisation Gemeinschaften in Gemeinschaft ist ein großes Wort (vgl. Definition der Organisation ‚Gemeinschaft’). Wir assoziieren es mit positiven Eigenschaften wie zum Beispiel Wärme, Zugehörigkeit, Akzeptanz, Schutz, Verständnis, Hilfe, Vertrauen usw. Wir sehen Gemeinschaft in einem Spannungsverhältnis zum Begriff der Gesellschaft, die wir eher als einen Ort der Herausforderung, der Konkurrenz, des Verteilungskampfes, der Egoismen und heute oft der sozialen Kälte beschreiben. Zygmunt Baumann (2009) hat in seiner Auseinandersetzung mit dem Konzept der Gemeinschaften von der Eintracht gesprochen, die innerhalb dieser Gruppe herrscht, und auf ein stillschweigendes gemeinsames Verständnis hingewiesen, welches diese Eintracht möglich macht. Dieses stillschweigende Verständnis beschreibt er eher als unbewusst und mit starker Bindungskraft ausgestattet. Diesem starken Konzept der Gemeinschaft möchten wir den im deutschen eher befremdlich wirkenden Begriff der losen Gemeinschaft beifügen. Im englischen Wort community ist diese Form von Übereinstimmung nach innen und Offenheit nach außen eher enthalten. Baumann weist darauf hin, dass starke Gemeinschaften in der Regel auch eine starke Abgrenzung zum

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jeweiligen Umfeld haben, die innerhalb unserer Arbeit eher hinderlich wäre, denn gerade das Zusammenspiel von Bindung und Offenheit macht für unsere Arbeit das Konzept Gemeinschaft so attraktiv. Gemeinschaften Wir unterscheiden zwei Typen von Gemeinschaften: bindende und lose oder schwache Gemeinschaften. Bindende Gemeinschaften zeichnen sich aus durch: starke Bindung der Mitglieder, starke Normierung, starke Gegenseitigkeit, exkludierender Charakter. Lose oder schwache Gemeinschaften zeichnen sich aus durch: schwache Bindung, moderate Normierung, Gegenseitigkeit, inkludierender Charakter. In Unternehmen begegnen uns: • autarke, mit dem Unternehmen nicht gekoppelte Gemeinschaften, die oft bindende Gemeinschaften sind, • initiierte Gemeinschaften, die mit dem Unternehmen gekoppelt sind und die oft schwache Gemeinschaften sind. Eine das Unternehmen stützende, laterale Organisation von Gemeinschaften zielt auf polyphone, schwache Gemeinschaften. In unserem Konzept der Gemeinschaften als einem lateralen Organisationsprinzip in Unternehmen verwenden wir den Begriff Gemeinschaft sehr unideologisch – wir sehen jedoch die oben beschriebenen Eigenschaften als wesentlichen Aspekt ihrer sozialen Attraktivität. Gemeinschaften bieten in einem Unternehmen den Mitarbeitern*innen etwas, was das Unternehmen in seiner Organisation nicht zu geben vermag: Wärme, Schutz, Verständnis, Zeit, Unterstützung, verstanden und gesehen werden. In der Gemeinschaft können wir entspannen, können unsere stete Alarmbereitschaft abschalten und die Vorsicht für eine Zeit vergessen. Es ist ein Ort einfachen Austausches, unkomplizierter Kommunikation, weil wir auf den guten Willen der anderen zählen können. Und es ist ein Ort der Anregung und der Hilfe. Zwischen sozialer Entspannung und konstruktiver Akzeptanz Gemeinschaften sind Gruppen von Menschen, die sich von anderen unterscheiden und die so Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit

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bestimmen können. Die Unterscheidung entwickelt sich zunächst um einen Kern herum, den man mit der Begrifflichkeit ‚geteiltes Verständnis’ bestimmen könnte. Mit dem Zusammenrücken um das gemeinsam Geteilte entsteht eine größere Beziehungsnähe, es entwickelt sich eine kohäsive Gruppe (vgl. Beispiel: ‚Thematische Gemeinschaften’). Das gemeinsame Interesse kann sich auf vieles richten – es können bestimmte Beziehungs- und Verhaltenskriterien sein oder es können Themen, Aufgaben, Probleme, Interessen sein. Um diesen Kern herum bildet sich die Gemeinschaft, sie entwickelt Kohäsion unter den Mitgliedern und Grenzen nach außen. Zu der sozial einerseits entspannenden, andererseits formenden Kraft von Gemeinschaften gehören vor allem der Wille und die Fähigkeit zur Kooperation, aber auch die gegenseitige Akzeptanz. Thematische Gemeinschaften Ein Kunde aus dem Bereich der Logistik klagt über mangelnde Qualität. Wie bei vielen großen Logistikern zeigt sich, dass die Integration vieler zugekaufter, verschmolzener Unternehmen nicht gelungen ist. Innerhalb des gesamten Unternehmens war alles an Wissen und Können vorhanden, es war aber verstreut in der Organisation und es gab außer dem vertikalen Weg nach oben keine Möglichkeit, dieses Wissen auszutauschen und voneinander zu lernen. Wir haben in einem Werkstatt-Programm Experten quer aus der Organisation zu spezifischen Themen, wie z. B. Qualitätsarbeit in Lagern, eingeladen und – eingebettet in ein soziales Begegnungsprogramm – eine Plattform für den Austausch von Wissen und Können etabliert. Die gängige Organisationsform mit ihren vertikalen und horizontalen Abgrenzungen wird so unterlaufen und es werden – von den sozialen Begegnungsimpulsen getragen – zur Organisation quer liegende ‚Gemeinschaften‘ gegründet, in denen Wissen und Können schnell und unkompliziert ausgetauscht wird. Diese Plattformen bestehen noch heute und werden rege genutzt. Sie repräsentieren Eigenständigkeit, Initiative und übergreifende Verantwortlichkeit in einem ansonsten streng hierarchisch, vertikal organisierten Kontext. Wir haben manche Gemeinschaften in Unternehmen begleitet. Communities of Practice sind solche Gruppen, die sich zu Gemein-

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schaften formen können, Talentpools, interne Projektgruppen, funktionale Gruppen oder auch die in vielen Unternehmen noch aktiven Gemeinschaften um das Konzept Kaizen herum. Die ursprünglichen Kaizengemeinschaften haben auch nach Beendigung der offiziellen Programme eine hohe Kohäsion beibehalten und nutzen die Gemeinschaft nun in unterschiedlichsten Positionen und Aufgaben. Sie haben einen gemeinsamen thematischen Kern behalten, den man so benennen könnte: ‚Wir beteiligen die Mitarbeiter*innen an der Gestaltung des Unternehmens und nutzen dazu ihre Köpfe und ihre Herzen.‘ Sie treffen sich noch heute, sind verbunden und schaffen in ihrer Vernetzung jeweils an ihrem Ort einen kulturellen Mehrwert. Sie bringen Anregungen mit, sie verteilen Wissen, sie zeigen Wege auf, wo und wie Unterstützung möglich ist. In vielen Fällen können wir über lang anhaltende Supervisionskonzepte die Orte schaffen, in denen die Gemeinschaft ihre sozialen Qualitäten weiter leben und weiter nutzen kann. Die Treffen sind von einem vertrauensvollen Gespräch geprägt, es herrscht Ehrlichkeit, es wird Wissen ausgetauscht, Rat gegeben und angenommen, es wird geholfen. Und nicht zuletzt tanken die Teilnehmer*innen, so beschrieb es ein Mitarbeiter*innen, sich emotional wieder auf. Die Community: Eine lose Gemeinschaft mit offenen Grenzen Zusammengefasst: Gemeinschaften sind Gruppen von Menschen unter anderem in Unternehmen, die eine Mitte, ein Verständnis teilen, die um die Zugehörigkeit wissen und die ein sozial unterstützendes, akzeptierendes und teilendes Verhalten entwickeln. Gemeinschaften sind für Mitarbeiter*innen oft Heimat im Mikrokontext, in einer ansonsten von Zeitdruck, Bewertung, Vorsicht und Konkurrenz geprägten Unternehmensgesellschaft. Gemeinschaften, so positiv sie beschrieben sind, haben aber auch Effekte, die zu Trägheit, Absonderung und Abwertung führen können. Die im Innenverhältnis positiven Eigenschaften können über den Gruppendruck zu Einschränkungen und Borniertheit führen – Effekte, die man in Veränderungsprozessen bei stark exkludierenden Gemeinschaften deutlich spüren kann. Hier werden Gemeinschaften zu Stiftern von Trägheit. Dies ist der Grund für unsere Suche und unsere Gestaltung von ‚losen Gemeinschaften’, Gemeinschaften, die entweder im zeitlichen Verlauf situativ gebil-

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det werden und wieder verschwinden oder solchen, die eine offene Grenze halten können, deren Verhalten also eher inkludierend als exkludierend ist. Die Teilhabe von Mitgliedern an vielen Gemeinschaften und die Vernetzung von Gemeinschaften sind Möglichkeiten, die Grenzen von Gemeinschaften offen zu halten. Den Forschungen Robert Putnams und Pierre Bourdieus zum Phänomen ‚soziales Kapital’ folgend entwickeln wir Programme, in denen sich Gemeinschaften bilden können, die auf Interaktion und Anerkennung beruhen. Die sich bildenden Normen der Gegenseitigkeit erzeugen sowohl individuellen als auch kollektiven Wert. Der Einzelne entwickelt sich, die Gemeinschaft wächst und es wird tatsächlicher Nutzen für das Unternehmen erzeugt. Dieser wird jedoch nicht durch Managementmethoden erzielt und gesteuert. Der Nutzen für das Unternehmen entsteht durch die inhaltlich sinnvoll geteilte Mitte der Gemeinschaft, in deren Sinnkontext sind Mitarbeiter*innen bereit, Verantwortung zu übernehmen. Wie Putnam zeigen konnte, sind für das soziale Kapital und den übergreifenden Nutzen von Gemeinschaften im Unternehmen lose Beziehungen besser als starke, bindende Beziehungen. Die Arbeit mit Gemeinschaften, sei es in großen Programmen oder in kleinen begleitenden Formen, etwa in Gestalt der Supervision, dienen der Bildung von horizontalem Sozialkapital im Unternehmen. Dieses horizontal-soziale Kapital wird in den Gemeinschaften erwirtschaftet. Es bildet Brücken zwischen den Gemeinschaften, funktioniert eher informell und wird von den klassischen vertikalen Steuerungsmechanismen nicht erfasst. Es wird immer Gemeinschaften in Unternehmen geben, sie sind eine notwendige Bedingung für Bindung und Motivation. Noch sind sie meistens ungesteuert und werden sehr häufig nicht für die Ziele eines Unternehmens genutzt. Um das dynamische Potenzial der Gemeinschaften nutzen zu können, wird man Wege zur lateralen Steuerung entwickeln müssen. Sie bestehen fast alle aus Formen der dialogischen Kommunikation. Die kleinen Gemeinschaften sui generis bestimmen die emotionale Realität im Unternehmen Bisher haben wir von gestalteten Gemeinschaften gesprochen und von solchen, die sich um Unternehmensthemen gruppieren. Gleich, wie viel man auch mit diesem Konzept arbeitet, diese Gemeinschaf-

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ten bleiben in der Minderheit. Mehrheitlich bilden sich in Unternehmen kleine Gemeinschaften sui generis, die keiner konzeptionellen Strategie folgen, die ungesehen bleiben und die überall in der Organisation leben. Diese Vielzahl kleiner, autonomer Gemeinschaften im Unternehmen – vom Interessenclub über Kantinengemeinschaften bis hin zu Freizeitgemeinschaften – bestimmt die emotionale Realität und den Diskurs eines Unternehmens. Hier wird miteinander geredet, über etwas geredet und hier wird im Diskurs gewertet und emotional Stellung bezogen. Ein Teil hiervon ist Klatsch unter Mitarbeitern*innen, der dennoch Wirkungen zeitigt, ein anderer Teil dieser Art von Kommunikation zeichnet sich durch eine Suche nach Verstehen aus und mündet oft in ein eher schlichtes Bild der Realität im Unternehmen. Dieser Diskurs geschieht unkontrolliert, ja anarchisch. Die Kommunikation der autonomen Gemeinschaften lässt sich zwar vertikal nicht steuern, sie ist aber horizontal durchaus beeinflussbar. Ein Unternehmen muss seinen kleinen, ungesteuerten Gemeinschaften Angebote zur gemeinsamen Mitte, zum gemeinsamen Verständnis machen und dafür sorgen, dass diese Angebote emotional attraktiv sind. Erst wenn die Offerten des Unternehmens an die autonomen Gemeinschaften glaubwürdig und attraktiv sind und die stete Frage beantworten helfen: ‚Warum eigentlich tue ich das hier?‘ – erst dann ist es möglich, den ‚wilden’ Strom der konsensuellen Realitätskonstruktion durch die Vielzahl der autonomen Gemeinschaften zu beeinflussen und ein geteiltes Verständnis und gemeinsames Wissen zu erzeugen. Versäumen Unternehmen es, diese Nahtstelle zu schließen, dann passen die in den anarchischen Gemeinschaften entstandenen Interpretationen der Unternehmenswirklichkeit mit Glück zum Unternehmensziel. Oft aber stehen sie diesem sogar entgegen, denn sie sind schnell von Ressentiments und Sorgen geprägt. Speziell in Veränderungssituationen kumulieren in diesen autonomen Gemeinschaften Mutlosigkeit, Ängste und Ärger über die vermeintliche oder tatsächliche Degradierung der Mitarbeiter*innen zu Objekten des Wandels. Wie ein Unternehmen das ‚Herz’ seiner autonomen Gemeinschaften erreicht Es kann Unternehmen gelingen, an der Realitätskonstruktion der autonomen Gemeinschaften teilzuhaben, wenn sie Plattformen

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zum Gespräch anbieten. Denn die autonomen Gemeinschaften erzeugen eine bestimmte emotionale Grundstimmung im Unternehmen und haben insofern großen Einfluss auf die Motivation der Mitarbeiter*innen. Die vom Unternehmen initiierte, sog. dialogische Kommunikation kann sich in Town Meetings – einer Art informeller Diskussionsrunde der Mitarbeiter*innen – Managementmeetings, Kaminabenden, Barcamps und in ähnlichen Formaten der Begegnung darstellen. Im Rahmen solcher Begegnungen stehen emotional gefüllte Botschaften im Mittelpunkt. Es geht darum, was im Unternehmen abläuft, was für das Unternehmen wichtig ist, was man gemeinsam erreichen will, weil man es für wertvoll und wichtig hält. Die Initiatoren solcher Begegnungsformate setzen die Inhalte dieser Treffen in den Kontext der aktuellen Möglichkeiten. Es werden Strategien und Rahmenbedingungen deutlich, vor allem aber werden Bedeutsamkeit und Sinn vermittelt. Die Botschaft wird weiterverbreitet und findet Eingang in weitere kleine Gemeinschaften. In den Dialogen gelingt es, den jeweils eigenen Kern der autonomen Gemeinschaft mit eigenen bedeutungsvollen Inhalten anzureichern. In solchen Dialogrunden wachsen in gewisser Weise Bridgepeople heran, Mitarbeiter*innen also, die Teilnehmer*innen vieler kleiner Gemeinschaften sind, die Wissen, Einsicht, Wertung und Werte vermitteln und die ein wesentliches Agens für die Vernetzung von Gemeinschaften und so für die Entstehung von Dynamik und Austausch sind. Aus der Perspektive einer Führungskraft ist es ein kluger ‚Schachzug’, in den autonomen Gemeinschaften Geschichten zu

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erzählen, die emotional und attraktiv sind und die Intention des Unternehmens transportieren – oder sehr deutlich formuliert: Wer nicht mittrascht, kann keinen Einfluss auf den Tratsch nehmen, und wenn man tratscht, sollte man dafür Sorge tragen, eine gute Geschichte zu haben. Ach ja und es gibt nicht nur den bösen, den abwertenden Tratsch, es gibt auch den guten, neugierig wohlwollenden Tratsch (vgl. Background: ‚Gemeinschaften –Tratsch –Verantwortung‘). Gemeinschaften –Tratsch –Verantwortung Gemeinschaften bilden sich überall. Sie gruppieren sich um Themen, Interessen, Probleme, Sorgen und Sympathie. Sie werden zu Gemeinschaften, indem sie einander Raum geben und beginnen, füreinander verantwortliches Interesse zu entwickeln. Sie sind Gemeinschaften, indem sie über Kommunikation Gemeinsamkeit erzeugen. Es gibt solche mit langer Geschichte und langer Perspektive und solche, die es nur kurz gibt, wenn sie sich um aktuelle Themen und Bedürfnisse gruppieren. In den Gemeinschaften wird die Sicht auf die Dinge und damit auch auf das Unternehmen nicht nur ausgetauscht, die Sicht gewinnt den wertenden Charakter. Hier in den vielfältigen losen und festeren Gemeinschaften entsteht das emotionale Bild des eigenen Unternehmens und damit wird hier Motivation erzeugt oder zerstört. Es gibt die sehr losen Gemeinschaften derjenigen, die zusammen zum Essen gehen. Dass sie eine Gemeinschaft sind, kann man daran merken, dass sie sich um den Fehlenden sorgen, ihn einladen, mitzukommen. Gemeinschaften erzeugen Verantwortung. Es gibt länger haltende Gemeinschaften in Unternehmen, z. B. Gruppen, die gemeinsam einen Bildungsweg durchlaufen haben, oder solche, die sich über Funktionsgrenzen hinweg mit bestimmten Themen beschäftigt haben. Man kann sie als Verantwortlicher erzeugen: die ‚berühmten’ Goldfischteiche, wenn sie denn gut betreut werden, sind ein Beispiel hierfür. Über die vielfältigen, vernetzten Gemeinschaften werden in einem Unternehmen die Bilder erzeugt, die die Einstellung der Mitarbeiter*innen prägen. Sehr pointiert für Führungskräfte formuliert: in Gemeinschaften wird getratscht und wer hier Einfluss haben will, sollte mittratschen und über den interessanteren Tratsch verfügen.

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Bridgepeople aus der Führungsebene vermitteln zwischen den autonomen Gemeinschaften Autonome Gemeinschaften neigen dazu, sich abzuschließen. Sie bilden autarke Inseln in der Gesellschaft des Unternehmens und bringen weder ihre Emotionalität, ihr Wissen noch ihren Verantwortungs- und Gestaltungswillen in das Unternehmen ein. Dieses Phänomen wird sich bei vielen bestehenden autonomen Gemeinschaften kaum ändern lassen – sie haben oft die Funktion eines „Wärmekreises“ (Rosenberg 2000) – sie schützen und geben Orte der Sicherheit. Manchmal öffnen sich auch solche selbst gebildeten Gemeinschaften – aber nur, wenn ein*e Teilnehmer*in die ‚Fremde’, den ‚Individualismus’ und die ‚Unternehmenssicht’ einbringt. Es gibt in Unternehmen einen bestimmten Typus von Mitarbeitern*­ innen, die dies leisten. Sie werden oft Bridgepeople genannt und wandern zwischen Gemeinschaften. Wenn man die Wichtigkeit solcher Mitarbeiter*innen für die lateralen Vernetzungen im Unternehmen versteht, dann sollte im Rahmen von Führungsfortbildungen dieser Aspekt besonders bei den jungen Führungskräften hoch angesetzt werden. Diese jungen Führungskräfte könnten sowohl thematisch als auch in persönlichkeitsbildenden Veranstaltungsformaten die Funktion der Bridgepeople übernehmen. Auch gestaltete Gemeinschaften brauchen Begegnungsplattformen für die Vernetzung Für im Unternehmen geschaffene, nicht autonome Gemeinschaften stellt sich ein anderes Bild dar. Im Rahmen ihrer Konzeption setzen wir thematisch einen attraktiven und starken Mittelpunkt, die zwischenmenschlichen Beziehungen werden im Wesentlichen über den gemeinsamen Inhalt und das geteilte Verständnis gestaltet. Da diese Gemeinschaften sich anders als die autonomen Gemeinschaften nicht sui generis gebildet haben, nennen wir sie im Folgenden auch ‚schwache Gemeinschaften’. Aber auch in diesen Gemeinschaften betonen wir stets die Durchlässigkeit von Grenzen und heben die Wichtigkeit des Austausches mit der ‚Außenwelt’ für die jeweils eigene Gemeinschaftsdynamik hervor. Die Einbettung von gestalteten Gemeinschaften in die Unternehmensrealität beinhaltet immer Austauschplattformen für verschiedene Gemeinschaften, um die Offenheit der einzelnen Gruppierung zu gewährleisten. Dieser Prozess geschieht allerdings nicht spontan und unbegleitet, er benötigt sowohl architektonische

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Impulse als auch eine aktive Gestaltung von Begegnungsplattformen. Dies haben wir in Unternehmen oft mit unseren Werkstattkonzepten beziehungsweise dem Modell der ‚Society Konferenzen’ realisiert. Gemeinsinn und Verantwortung: Gemeinschaften als soziales Kapital eines Unternehmens Gespräche in Unternehmen über Gemeinschaften, die Gründung oder die Anregung zur Bildung von Gemeinschaften, zeigen eine Rückwirkung auf das Unternehmen selbst. Eine Organisation als Ganzes, als Gesamtheit stellt sich dermaßen komplex dar, dass sich mit diesem Gebilde kaum ein so konkreter Vorgang wie etwa das Übernehmen von Verantwortung in Einklang bringen lässt. Unternehmen erscheinen uns heute oft unberechenbar, in Entscheidungen unzuverlässig, intransparent und in den Leistungserwartungen überfordernd. Gemeinschaften hingegen, die sich thematisch mit den Unternehmenszielen verknüpften, können ein anderes Verhältnis zum Ganzen entwickeln, das theoretische Gebilde der Organisation bzw. des Unternehmens wird uns emotional verständlicher. Über die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften bilden wir Verantwortungsgefühle aus, wir nehmen uns als Menschen mit Einfluss wahr und wir beginnen zu handeln. Dies hat sehr viel mit der größeren Beziehungsdichte in Gemeinschaften zu tun, sicher auch mit dem schnellen Aufbau moralischer Normen, die von Loyalität, Unterstützungsbereitschaft, Vertrauen, Ehrlichkeit und Verantwortungsübernahme geprägt sind. Der sich in den Gemeinschaften bildende Gemeinsinn strahlt ins Unternehmen und erhöht das Empfinden, ein verantwortlicher Teil des Ganzen zu sein – der Gemeinsinn umfasst dann das ganze Unternehmen. Die laterale Vernetzung erhöht die interne Dynamik In den gezielt gebildeten, also schwachen, aber auch in den eigenständig entstandenen, genutzten, autonomen Gemeinschaften innerhalb eines Unternehmens wird soziale Interaktion geübt. Dies hilft bei der Lösung von Dilemmata des kollektiven Handelns. Der Umgang mit sich widersprechenden Zielen in den heutigen, mehrlagigen Matrixorganisationen wird einfacher. Mitarbeiter*innen werden durch die Gemeinschaft zu vertrauensvollem Handeln ermutigt, ein Risiko, welches sie als Individuen nicht eingehen würden. Die in den Gemeinschaften ausgebildeten Normen der Ko-

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operation, des Vertrauens und der Loyalität werden auf das gesamte Unternehmen übertragen. Mit dem in den Gemeinschaften und ihrer Vernetzung gebildeten sozialen Kapital wird insgesamt das Vertrauensniveau höher, was unter anderem die Bereitschaft erhöht, von Führungskräften getroffene Entscheidungen gemeinschaftlich zu tragen. Die Effekte des sozialen Kapitals von Gemeinschaften lassen sich noch potenzieren, indem die Durchlässigkeit der Gemeinschaften gezielt gefördert wird. Dies kann durch den Austausch von Mitgliedern geschehen oder auch durch das aktive Hineinbringen neuer Mitglieder und durch die Bereitstellung von Diskussionsplattformen für verschiedene Gemeinschaften (vgl. Beispielsfall: ‚Zugänge zur lateralen Kommunikation‘). So wird eine Dynamisierung des Unternehmens in Gang gesetzt. Das Umsetzen von Entscheidungen wird schneller und leichter, Probleme werden transparenter vor Ort gelöst, die Phänomene der Verantwortungslosigkeit, der mangelnden Initiative und der Aufwärtsdelegation vermindern sich deutlich. Zugleich entstehen durch die Vernetzungen Motivationsanreize. Diese beruhen zum Teil darauf, dass Mitarbeiter*innen auch für solche Kollegen*innen etwas tun können, mit denen sie sonst kaum in Berührung kommen. Das Empfinden, für und im

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Sinne anderer zu handeln, begünstigt Motivation. Die Öffnung zur Unternehmensrealität wird gerade in den gezielt geschaffenen Gemeinschaften deutlich, die lateral miteinander vernetzt sind. So entstehen neue Kreativpotenziale, der Austausch unterschiedlicher Perspektiven lädt zum Denken und Neubewerten ein. Zugänge zur lateralen Kommunikation Als ‚Führungskraft’ handle ich in einem projektiven Raum; Mitarbeiter*innen haben stets im Kopf, dass sie ‚abhängig beschäftigt’ sind. Möchte ich die Mitglieder meiner Gemeinschaft ‚Unternehmen X’ erreichen, dann ist es meine Aufgabe, einen gemeinschaftlichen Raum zu schaffen. Der wird, auch wenn ich konkrete Ziele habe, zunächst einmal ein offener Dialograum sein müssen, denn ich habe die Aufgabe, zunächst einmal ein ‚Wir’ herzustellen. Offene Dialogtreffen an Abenden, Unternehmensstammtische, Kamingespräche, ja sogar der oft zu strikt vorbereitete Lunch mit dem CEO sind Zugänge zur lateralen Kommunikation. Es ist meine Aufgabe, Plätze für solche Gespräche zu schaffen. Diese Plätze können überall sein, die einzige Bedingung ist: Sie müssen für einen Dialog offen sein und sollten daher nicht taktisch zu schnell auf einen Zweck hin genutzt werden. Die Herausforderung besteht hier darin, die eigene Ungeduld und den eigenen Leistungsdruck für diese Zeit zur Seite schieben zu können. Dies ist einer der Gründe, warum Kaizen-Bewegungen, die nur auf vertikale Führung und methodische Prozesse setzen, hinter den Erwartungen zurückbleiben – die besonders wertvollen Potenziale liegen in den lateralen Vernetzungen, wie sie sog. schwache Gemeinschaften mit ihrer Durchlässigkeit erzeugen. Wir nennen solche Gemeinschaften polyphone Gemeinschaften. Polyphon, weil sie für viele Stimmen offen sind, ohne dabei den Gemeinsinn zu verlieren. Solche Gemeinschaften kennen wir vor allem physisch, das heißt, Menschen treffen sich tatsächlich an einem Ort und zu einer Zeit, aber auch virtuell. Hier bieten die Instrumente des Web 2.0 noch Möglichkeiten. Das Thema ‚Geschwindigkeit’ wird in einem lateral vernetzten Unternehmen jenseits von Programmen und Prozessen durch direkte Kooperation und Handeln aus einem Gemeinsinn heraus rea-

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lisiert. Dafür gibt es allerdings eine Voraussetzung: Die Mitarbeiter*­ innen müssen ein verständliches, handhabbares Bild über das haben, was für das Unternehmen wichtig und richtig ist. Dies verlangt eine entsprechende Kommunikation über die Ziele und die Situation des Unternehmens, die auf Verständnis und Begreifen setzt. Dies lässt sich unter anderem mit den bildlich unterstützten Kommunikationsformen der ‚Einsicht-Bilder’ (vgl. Background ‚Einsicht-Bild: ein Unternehmen trifft sich‘) verwirklichen. Einsicht-Bild: Ein Unternehmen trifft sich Eine intensive, gemeinschaftsbezogene Kommunikation ist einer der Schlüssel zu höherer Dynamik und Agilität. Nur wenn es einem Unternehmen gelingt, die eigenen Ideen, Strategien und Überzeugungen glaubhaft zu vermitteln, können die Effekte der Gemeinschaften für das Unternehmen genutzt werden. In einem ‚Einsicht-Bild’ kreiert das Unternehmen ein vernetztes Bild über sich selbst. Unternehmensführung und Vertreter bestehender Gemeinschaften entwickeln gemeinsam Inhalte für eine Botschaft an das eigene Unternehmen. Dies wird zeichnerisch in einem großformatigen Bild umgesetzt. Um dieses Bild herum wird ein Workshop entwickelt: Mitarbeiter*innen versammeln sich um einen Tisch, das Bild ist in ihrer Mitte platziert und die Mitarbeiter*­ innen beginnen durch die Diskussion zum Bild, ihr Unternehmen zu begreifen. Die Moderation findet immer intern in der Regel durch Führungskräfte statt. Die Wirkung des Bildes, das gemeinsame dialogische Gespräch, und die Authentizität der Präsentation erzeugen einen ungewöhnlich hohen Effekt. Tatsächlich entwickelt sich in diesem Prozess das tragfähige Einverständnis, welches in einer verstreuten und zerstreuten Welt für fokussiertes Handeln in hohen Freiheitsgraden nötig ist. Schwarmintelligenz in Gemeinschaften beschleunigt das Lernen Wir setzen auch heute noch in den Unternehmen auf Lernen in Trainings, Kursen und Seminaren. Das ist sicher für die gezielte Förderung von einzelnen Mitarbeitern*innen ein hilfreicher Weg. Die Dominanz dieses Ansatzes verbirgt jedoch einen anderen wesentlichen Ort des Lernens, des Lernens von und mit den Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten. Hier findet ein wesentli-

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cher Wissenstransfer statt und es ist einer, der mit praktischer Erfahrung gesättigt ist. So wie wir in der Schule viel gelernt haben, so wissen wir doch, dass wir auf der ‚Straße’ gemeinsam mit Freunden*innen, in der Clique eben auch viel für unser Leben gelernt haben. Gemeinschaften schaffen zusätzlich einen Raum von entlastetem, direktem Lernen. Gemeinschaften tauschen schnell und gezielt Wissen aus, sie präsentieren nahe Vorbilder. Und sind die Gemeinschaften offen und bilden eine polyphone Gemeinschaftsstruktur, dann fließt dieses Wissen auch schnell durch das Unternehmen. Die organisationsbezogenen Lernprozesse werden so erheblich beschleunigt. Mit dem Modell der polyphonen Gemeinschaften werden die schnellen Lerneffekte von Schwärmen, wie wir sie in der Organisation von Tieren beobachten können, zusammen mit den kurzen Reaktionszeiten übertragbar. Abgrenzungssysteme in Organisationen contra Kooperationstendenzen Abgrenzung ist einer der großen sozialen Mechanismen in Unternehmen. Wer je erlebt hat, wie schnell und selbstverständlich Mitarbeiter ihre Haltung und Meinung ändern, wenn ihre Aufgaben

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wechseln, weiß, wie gut dieser Mechanismus funktioniert. Es ist ein hohes Investment an Engagement und an Zeit nötig, um den Schaden dieser Abgrenzungen immer wieder zu mindern. Zugleich hat Tomasello noch einmal eindrücklich gezeigt, dass Menschen kooperieren wollen und dass aus dieser „ultrakooperativen Tendenz“ (vgl. Tomasello 2010) ein kultureller Wagenhebereffekt entsteht, der die Entwicklung der Gemeinschaft beschleunigt. Die Kooperationstendenz steht als inkludierender Akt der exkludierenden Abgrenzungstendenz entgegen. Mit Kästen in den Organigrammen gekennzeichnete Einheiten neigen zur Ausgrenzung. Die Gemeinschaften in der Organisation, die quer zu diesen Grenzen liegen, neigen, verglichen mit den Kästcheninhabern*innen, zur Inklusion. Allerdings müssen sie sich dafür begegnen können – und an solchen Begegnungsplätzen und Begegnungsmöglichkeiten mangelt es oft in Unternehmen. Die großen Straßen erschließen die Landschaft nicht 3.2 Durchwegung: Unternehmen sind durch große KommunikationsWie Distanz­ straßen gegliedert, sie sind in der Regel vertikal und mechanismen auf ihnen werden Informationen transportiert, es außer Kraft gesetzt wird selten kommuniziert. Sitzungskalender und werden ein Kommunikationsplan beschreiben diese breiten Straßen. So wie die großen Straßen uns zu einem ferneren Ziel führen, so sorgen auch diese Kommunikationsstraßen im Unternehmen dafür, dass ich das, was am Wegesrand liegt, nicht sehe – es macht einen Unterschied, ob ich eine Landschaft per Autobahn erlebe oder auf den Landstraßen durchwandere. In der Stadt- und Landschaftsarchitektur ist eine der Antworten auf öde werdende Stadtflächen und Landschaften ein Konzept der Durchwegung. Die abseits liegenden, abgeschnittenen Teile der Stadt werden durch Wege, Pfade miteinander verbunden und wieder für die Menschen erschlossen. Trampelpfade, schmale Wege, Durchbrüche – wie weiße Flächen bunt werden Durchwegung ist ein Bild aus der Stadt- und Landschaftsarchitektur. Mit diesem Bild wird das Gebaute nicht vom Standpunkt des Abgeschlossenen, der einzelnen Gebäude oder vereinzelten Plätze betrachtet, sondern aus der Perspektive der Verbindung, der

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Kommunikation der einzelnen Teile (vgl. Background: ‚Guerilla Gardening‘). Auch heute gibt es noch viele unerschlossene Räume in unseren Städten. Es sind Räume und Flächen, die abseits der großen Straßen, der viel begangenen Kommunikationswege liegen – die wir entweder nicht sehen oder die durch Zäune, Mauern und andere Hindernissen versperrt sind. Manchmal sieht man Trampelpfade, die, wenn man ihnen folgt, zu überraschenden Entdeckungen führen – man findet Gärten, Höfe, Bänke, aber auch Brachen und Müllhaufen. Guerilla Gardening an einem großen Standort Guerilla Gardening ist eine Bewegung, mit die*der Bürger*in den ungenutzten städtischen Raum nutzen und bepflanzen. In der Bewegung sind folgende Elemente auffällig: einmal die Rückgewinnung der Verantwortung für ein Stück gemeinschaftlichen Raumes, dann die Initiative zur Gestaltung und natürlich das anarchische Unterlaufen von geregelter Verantwortung. Wo diese in der Regel behördlich geregelte Ordnung und Pflege von gemeinschaftlichen Raum nicht funktioniert, finden die Guerillagärtner*­ innen für ihr gemeinschaftliches Verantwortungsgefühl Platz und nehmen sich Raum. Nach einer Impulsveranstaltung über das Thema ‚Welche Verantwortung tragen wir für uns und unsere Gemeinschaft?’ an einem großen Standort eines internationalen Konzerns konnten wir plötzlich das Auftauchen von Blumen an den eher schmuddeligen Ecken des Geländes beobachten. Es gab wohl kleine Gemeinschaften, die begonnen hatten, Verantwortung für ihren Ort zu übernehmen. Und da die Entwicklung eines Verantwortungsgefühls generalisiert wird und zu einem gesamtheitlich verantwortlichen Verhalten führt, war uns das ein Zeichen. Lernen kann man vom Guerilla Gardening auch, dass Verantwortung nur da wahrgenommen wird, wo Freiraum besteht. Im Konzept der Durchwegung geht es darum, Flächen und Räume zu verbinden, sie in eine Kommunikation zu bringen, indem Wege zu bisher Verschlossenem geöffnet werden. Das können Straßen, Wege, Pfade, Trampelpfade sein. Sie werden begangen, wenn Menschen ihrer inneren Orientierung folgen. Dies können wir gut be-

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obachten, wenn wir die Trampelpfade anschauen, die in Parks und auf großen Wiesen den Raum jenseits der offiziellen Wege erschließen. Sie sind nicht rechtwinklig, sie folgen keiner millimetergenauen Geometrie. Aber sie erschließen den Raum auf kurzen Wegen, bringen Dinge in Verbindung, die auf den offiziellen Wegen unverbunden sind. Sie folgen unserem menschlichen Bewegungsmuster. Die Durchwegung verödeter Stadtteile bringt Leben zurück und führt Menschen aus den Häusern in die Öffentlichkeit und schafft Begegnung. Wenn wir dieses Bild auf die Organisation übertragen, dann sind Gemeinschaften in Unternehmen wie einzelne Gebäude oder wie abgeschirmte Plätze, unerschlossene Brachen, verwilderte Flächen, versteckte Gärten. Auch hier würde Lebendigkeit, Sichtbarkeit entstehen, wenn diese Flächen miteinander verbunden werden könnten, wenn wir Wege finden könnten, auf denen sie in einen Dialog treten können. Mit der Sichtbarkeit, dem Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden, findet eine Aneignung des gesamten Raumes statt. Der bisher leere Raum wird zum gemeinsamen Raum, wird zum gestalteten Raum. Das leere Weiß zwischen den Kästen eines Organigramms wird zugänglich und es zeigt sich vielgestaltig und bunt. Unternehmen sind der Lebensraum für eine Fülle von Communities, die miteinander nicht verbunden sind, die sich separieren und damit ihre Energie, Kooperationswilligkeit, Motivation sowie ihre Fertigkeiten nach innen wenden und so dem Unternehmen nicht zur Verfügung stellen. Erinnern wir uns daran, dass soziales Kapital dann aufgebaut wird, wenn Menschen sich begegnen und kooperieren. Dies bedenkend, wird deutlich, dass eine Organisation, die nicht durchwegt ist, deren Communities also abgegrenzt und unerschlossen in der Organisation versteckt sind, ein hohes dynamisches Potenzial unerschlossen lässt. Wenn man sich jetzt noch einmal die Effekte der Durchwegung im städtischen Raum vor Augen hält, wird deutlich, dass neben der Erschließung neuen Raums und neuer Flächen auch eine erhöhte Lebendigkeit, ein vielfach stärkerer Austausch zwischen den Menschen und eine recht schnell wachsende Attraktivität für die Außenwelt erreicht werden. Im Vergleich mit diesen positiven Effekten von Durchwegung ist es regelrecht zwingend, auch im Unternehmen über Konzepte der Durchwegung jenseits der Organigramme und Prozessbeschreibungen nachzudenken.

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Communities of Practice: Funktionale Intelligenz im Unternehmen erschaffen Solche Konzepte beschäftigen sich zum Beispiel mit den Communities of Practice. Hier bilden sich Gemeinschaften von Experten*innen, die von einem Thema, einem Anliegen oder einer Aufgabe fasziniert sind. Bisher arbeiten Experten*innen oft verstreut in der Organisation und können kaum kooperieren, weil es noch keine Pfade zueinander gibt und kein Ort erschlossen ist, an dem sie sich treffen. Der Wagenhebereffekt der Kooperation ist mangels Durchwegung nicht aktiviert. Dabei sind Communities of Practice Garanten für funktionale Exzellenz. Sie müssen allerdings aktiv von jemandem ins Leben gebracht werden und sie benötigen für eine erhebliche Zeitspanne eine kontinuierliche Betreuung. Schließlich konkurrieren wir in Unternehmen wie in unserer Gesellschaft um die knappe Zeit und die begrenzte Aufmerksamkeit von Menschen. Steuerung von Diversität durch Bridgepeople Eine der großen Problemstellungen in der heutigen Unternehmenswelt liegt in der internationalen Kooperation sowie der Bewältigung und dem letztendlichen Nutzen von Diversität. Kleine, diverse globale Teams, die sich gezielt mit Themen beschäftigen, sorgen mehr als jedes interkulturelle Training und Programm für Verständnis, Zusammenarbeit und Freude an gemeinsamen Erfolgen. Die produktive Gestaltung des Potenzials von kultureller Diversität hängt von der Bildung kleiner internationaler Communities ab und der Ausbildung von Bridgepeople, die die Erfahrung weitertragen und Mitglieder mehrerer Communities sind. Die Bedingungen für das Gelingen sind immer eine direkte Begegnung, ein emotionaler Kontakt und eine dialogische Kommunikation. Und wie in einer Stadt oft der Architekt der Impulsgeber ist, so muss auch in einem Unternehmen der Impuls von außen kommen. Es muss jemanden geben, der sich der Sache annimmt, der sie initiiert und der zumindest für eine Zeit lang die Betreuung übernimmt. Erst dann bilden sich zwischen den Communities gemeinsame Verantwortungen und es findet die Aneignung des leeren Raums in Unternehmen statt. Hat man erst einmal begonnen, einen Ausschnitt von Communities im eigenen Unternehmen zu betreuen, dann ist der nächste Schritt die Gestaltung von weiteren Vernetzungen. Dazu haben wir

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im sozialen Raum, aber auch schon in Unternehmen mit ‚Community’ Konferenzen gute Erfahrungen gemacht. Hier wird das Potenzial der Gemeinschaften für Zukunftsfragen des Unternehmens genutzt und es entsteht ein tiefes, in dieser Begegnung vermittelbares Wissen über den Markt, den Wettbewerb und schließlich über die Stärken und Schwächen des eigenen Unternehmens. Sonst implizites Wissen wird hier explizit und kann vom Unternehmen genutzt werden.

4. Dialogpflicht und Gemeinschaftlichkeit Gemeinschaftlichkeit in einem Unternehmen beschreibt die wesentliche Form der lateralen Organisation eines Unternehmens. Sie steht für Kooperation, für die Entwicklung und die Verwirklichung gemeinschaftlicher Normen. Sie existiert in jedem Unternehmen, meistens allerdings fehlt es an einer bewussten und gezielten Steuerung dieses Phänomens, oft bleibt es sogar gänzlich unbeachtet. Gemeinschaftlichkeit aber bestimmt die Motivationslage in einem Unternehmen und das Lerntempo. 4.1 GemeinschaftIm ‚Organismus’ der Gemeinschaftlichkeit sind die lichkeit als unerlässProblemlösungskompetenz und die Agilität einer licher Bestandteil Organisation enthalten. Auch wenn sie kaum beder Führungsachtet wird, sie ist immer vorhanden. Wird dieser ­fortbildung Gemeinschaftlichkeit aber nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit zuteil, entwickeln sich die negativen Aspekte des sich Abschließens nach außen sowie des Ausschließens von externen Einflüssen. So entstehen autonome Geschichten über das Unternehmen, die selten mit den Zielen und Zwecken des Unternehmens übereinstimmen. Unsere Erfahrung zeigt, dass dieses Potential der Gemeinschaftlichkeit erschlossen werden kann. Dafür bedarf es zunächst der Entwicklung einer Idee davon, welche Gemeinschaften derzeit existieren, welche für das Unternehmen Relevanz haben und welche man gründen sollte, um die Unternehmensziele zu unterstützen. Die Gründung und die Dynamisierung bestehender Gemeinschaften benötigen immer einen emotionalen Aufschlag und eine glaubwürdige Positionsbestimmung der Führung zu Gemeinschaf-

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ten. Unerlässlich ist die Einbettung in eine Kommunikationsstrategie, in der den Mitarbeitern*innen das Ziel, der Zweck und die Absicht des Unternehmens emotional und verständlich vermittelt werden. Es müssen erste Plattformen geschaffen werden, auf denen sich die Gemeinschaften austauschen und beginnen können, sich zu vernetzen. Das Lernen über Gemeinschaften muss Teil der Ausbildungsprogramme werden. Es sollte Möglichkeiten der Begleitung von thematisch bedeutsamen Gemeinschaften geben. Und schließlich sollten die Führungs- und Kommunikationsformen eines Unternehmens für Gemeinschaften geöffnet werden. So haben wir bei den inzwischen obligatorischen Managementmeetings gute Erfahrungen mit Vertretungen von Gemeinschaften gemacht, die eigenständig Teile des Programms gestalten. Hierdurch wird die laterale Realität der Organisation mit der vertikalen Steuerungsrealität zusammengebracht und es entsteht tatsächlich Gemeinsinn in der Organisation. Ein in vielen Kommunikationsseminaren gehörter 4.2 Der Dialog als Satz lautet: ‚Ich weiß erst, was ich gesagt habe, wenn Ausdruck des ich Deine Antwort gehört habe.‘ Vertikale Kommulebendigen Interesnikation kennt schon die richtige Antwort und hat ses aneinander weder Zeit noch Gelegenheit, sich mit der authentischen Antwort zu beschäftigen – das ist verständlich, denn oft steht die Antwort der anderen den eigenen Vorstellungen von Umsetzung und Tempo im Wege. Die vertikale Kommunikation erreicht die laterale Organisation nur indirekt, diese hat keinerlei Einfluss auf die interne Verarbeitung und Bewertung der Kommunikationsinhalte und ist oft überrascht über Meinungen und Werte innerhalb der lateralen Gemeinschaften. Wenn die laterale Organisation in der Form polyphoner Gemeinschaften gestaltet werden soll, dann kann der Weg nur über die Gesprächsform des Dialogs verwirklicht werden – und der verlangt ein gewisses Maß an Offenheit der Positionen. Ein Dialog entwickelt sich, in ihm sollte, wenn er gut verläuft, auch immer etwas Neues entstehen. Er läuft insofern entgegen dem vertikalen Anweisungs- und Umsetzungsmodus. Wir wollen auf die vertikale Kommunikationsform nicht verzichten, sie kann in einem Unternehmen die Basis für schnelle und fokussierte Entscheidungsprozesse bieten. Wir wollen sie aber durch dialogische Ansätze ergänzen. Hier

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sind andere Eigenschaften der Sprechenden und der Zuhörenden gefordert. Ein Dialog ist von Respekt, Zuhören, Interesse und Ehrlichkeit geprägt. Er verlangt die Fähigkeit, die eigene Position wahrnehmen und für die Zeit der Antwort der*des Partners*in sie auch ausblenden zu können. Er setzt die Bereitschaft zum Suchen voraus und die Einsicht, dass man von den eigenen Mitarbeitern*innen viel lernen kann – schließlich sitzt die*der eigene Nachfolger*in oft unter ihnen. Mit dem ersten Schritt hin zu einer aktiven Gestaltung der lateralen Organisation und dem Weg zur Dynamik von Gemeinschaften muss man auch einen Schritt in die dialogische Kommunikation wagen. Es ist notwendig, vom Tagesgeschäft entlastete Gespräche und Begegnungsorte zu schaffen, in ihnen den Kontakt zu den Vertretern*innen der Gemeinschaften zu suchen und sie im Gespräch auch untereinander zu vernetzen. Der chinesische Staat ist wie ein Unternehmen organisiert. Die Regierung lässt sich wie ein Vorstand beschreiben, mit einem CEO und funktionalen Vorständen. Die ständige Vertretung des Volkskongresses wirkt wie ein Core-Team des Managements. Der ‚Fünfjahresplan’ entspricht den Planungsinstrumenten in Unternehmen. Er hat einen Visionsteil und legt eine entsprechende strategische Planung vor. Der Volkskongress ist wie ein Managementmeeting, in dem der Plan, erstellt unter Beteiligung von Experten*innen und Beratern*innen, vorgestellt, diskutiert und akzeptiert wird. Aus ihm ergeben sich Aufgaben und Arbeitspakete, die in einer Art Zielentfaltungsprozess in die unterschiedlichen Funktionen und andere Organisationsteile ‚deployed’ werden. Die Leistung der einzelnen Mitglieder der Verwaltungen wird am Plan gemessen und die Aufstiegswege in der Hierarchie hängen vom regionalen oder funktionalen Erfolg und natürlich von Beziehungen ab (vgl. Background: ‚Managementmeetings‘). Von außen sieht der Planungs- und Umsetzungsprozess ausschließlich top-down gestaltet aus. Und richtig, in der Beschlussfassung und in der Umsetzungsgestaltung ist es ein Top-down-Prozess, der in der Kommunikation über die eingebundenen Medien emotional angereichert wird, oft über die auch in Unternehmen so hilfreichen Feindbilder und die Betonung der eigenen Erfolge.

4.3 Das Modell der vertikalen Demokratie: Kann China ein Vorbild sein?

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Blickt man jedoch auf den ganzen Prozess, so geht diesem Topdown-Verfahren ein komplexer Beteiligungsprozess voraus, den John Naisbitt (2009) mit dem Begriff ‚vertikale Demokratie’ bezeichnet hat. Durch ihn verbindet der chinesische Staat den Staat oder das Unternehmen China mit der Zivilgesellschaft oder mit den Gemeinschaften, wie wir es für die Unternehmen beschrieben haben. Im Vorfeld des Volkskongresses finden Treffen, Kongresse mit Vertretern*innen der Gemeinschaften, der Zivilgesellschaft statt. Das sind Fachleute, Wissenschaftler*innen, Internetgruppen, Künstler*innen, Filmleute, Schauspieler*innen, regionale Splittergruppen usw. In einem Workshop-Modell bringen sie ihre Standpunkte, Anregungen, aber auch Kritik an der Planung ein, die ebenso wie das Votum von Expertengruppen und Beratern*innen Eingang in die schlussendliche Beschlussvorlage für den Volkskongress finden. Diese Form der „vertikalen Demokratie“ realisiert ein Beteiligungsmodell, in dem die Dynamik, das Wissen der Zivilgesellschaft oder der Gemeinschaften in die strategische Planung Eingang findet. Und das geschieht nicht im Nachhinein als Problemstellung für Kommunikationsexperten*innen, sondern vorher.

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Es ist sicher gewagt, China als ein Modell für Beteiligung anzuführen. Für unsere gesellschaftlichen Ansprüche an Legitimität, Freiheit und Offenheit der Gesellschaft bleibt ein kritischer Standpunkt deutlich im Vordergrund. Für Unternehmen jedoch, die von einer demokratischen Verfassung sehr weit entfernt sind, mag das Beteiligungsmodell der vertikalen Demokratie ein Weg sein, die hierarchische Steuerungsform der Organisation mit der eigenen Zivilgesellschaft, den Gemeinschaften im Unternehmen zu verknüpfen. So könnte man den Reichtum des versteckten Wissens verfügbar machen und zugleich neue Zugänge zu Motivation und zur Durchwegung der Organisation finden. Auf diese Weise ließen sich die derzeit doch sehr ruhigen und reifen Unternehmen zu neuer Dynamik führen. Managementmeetings: Ein Modell vertikaler Demokratie Managementmeetings sind durch hierarchische Zugehörigkeiten bestimmt. Die Oberen treffen sich mit all ihren taktischen Beweggründen. Vorstände und Geschäftsführungen erzählen über die aktuelle Lage und über die Planung – das Ziel soll meistens sein: Wir gehen voller Enthusiasmus und mit einem gemeinsamen Fokus aus der Veranstaltung. Durch die Auswahl der Teil­ nehmer*innen ist dieses soziale System nicht immer das lebendigste in einem Unternehmen – oft machen die Teilnehmer*­innen nur gute Miene zu einem Spiel, das sie doch eher recht skeptisch betrachten. Mit einem unserer Kunden*innen können wir ein anderes Vorgehen realisieren – es entsteht ein Stück vertikale Demokratie in Unternehmen. Die Botschaften der Vorstände, Stäbe und Assistenten werden zunächst mit Gruppen besprochen und diskutiert, die quer durch das Unternehmen ausgewählt sind – sie reflektieren die Planung kritisch und bringen die Themen ein, die in den Communities der Organisation bedeutsam sind. Sie formulieren auch selbst Themen, die unter der Leitung von Vertretern dieser Gruppe in dem späteren Managementmeeting Raum bekommen. Erst nach diesem Prozess werden die Inhalte und Diskussionsthemen des Managementtreffens festgelegt – so finden nicht nur die Befindlichkeiten, Gedanken und Absichten der oberen Führungsebenen statt, sondern das Treffen ist gefüllt mit dem Wissen, den Emotionen und den Themen der gesamten Organisation.

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5. Durchwegung und soziale Medien Die technisch ausgereiften Plattformen für unternehmensinterne soziale Medien eröffnen dem Modell der Durchwegung neue und in der Reichweite noch nicht annährend ausgeschöpfte Möglichkeiten. Über die sozialen Plattformen gebildete Communities gruppieren sich um Themen, Problemstellungen und Projekte. Sie haben reduzierte kulturelle Barrieren und eine globale Reichweite. Sie vernetzen jenseits der formalen, strukturellen und hierarchischen Organisationsform. Mit einem solchen lebendigen Netzwerk werden Wege zum verteilten Wissen einer Organisation geöffnet. Das Modell ‚start up’ als eine sich um eine Idee gruppierende soziale Gruppe mit hoher Leidenschaft und einem Denken jenseits der etablierten Regeln wird in der Organisation selbst möglich. Neue Initiativen zum Neudenken von Organisation wie Enterprise 2.0 oder duale Organisation formalisieren das Modell und nutzen soziale Medien als die notwendige Voraussetzung für ein vielschichtig vernetztes Arbeiten. Soziale Medien öffnen die Architektur und lassen Trampelpfade, kleine Plätze inmitten der offiziell möblierten Stadt (Organisation) entstehen. Wie in der Architektur erobern die Bewohner so ihre Stadt zurück, gestalten sie. Soziale Medien öffnen den Freiraum, in dem Mitarbeiter*innen das Unternehmen wieder zu ihrem Unternehmen machen, und schaffen so die Bedingung für die erhoffte Agilität. Die technisch so ausgerüstete Durchwegung verspricht den Zugang zum Wissen der Organisation, bietet die infrastrukturelle Bedingung für Innovation und schafft nicht zuletzt eine der wesentlichen Bedingungen für Motivation – das Erlebnis der Selbstwirksamkeit für viele Mitarbeiter*innen. Trotz dieser nun deutlich verbesserten Bedingungen für das Konzept Durchwegung bleiben die Ergebnisse noch hinter den Erwartungen und Versprechen zurück. Dafür gibt es einige Gründe. Die Dynamik sozialer Medien, ihre Fähigkeit, Meuten zu bilden, die sich in den berüchtigten ‚Shitstorms’ zeigen, erzeugen Ängste. Die ganze Idee der zentralen Steuerung einer Organisation, die Idee, die Organisation kontrollieren zu können, wird bezweifelt und es zeigt sich, dass die klassischen Kontrollformen des Managements versagen, wenn man eine lebendige, dynamische, agile Organisation haben will. Lebendigkeit ist nur umfassend möglich und man kann sie nicht an- und abschalten. Neben den derzeit noch geringen Fähig-

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keiten im Umgang mit sozialen Medien kämpfen Führungskräfte mit dem Problem des Kontrollverlustes und so mit dem Grundbild der Steuerung von Unternehmen. Ein wohl vornehmlich männlich gelerntes Modell der Steuerung wird noch häufig über die Beherrschung technischer Apparate gewonnen. Beispielhaft sei die schrittweise Beherrschung von Fahrzeugen genannt – vom Roller über Fahrrad, Motorroller, Automobil –, vermittelt wird die Beherrschung und Kontrolle der Maschinen, die über komplizierter werdende Cockpitcharts trivial gesteuert werden. Unternehmen haben dieses Modell lange Zeit über unterschiedliche Managementmethoden adaptiert. Die Büros hängen voller bunter Charts, die den Eindruck vermitteln, als wäre die Organisation eine triviale Maschine. Mit dem Konzept der Durchwegung, formalisiert in den neuen Organisationsideen und technisch über soziale Medien ermöglicht, wird sichtbarer, dass Unternehmen eher wie Gesellschaften zu steuern sind. Sie sind soziale, dynamische Gebilde, die mehr durch kontextuelle Aktionen bewegt und fokussiert werden als durch kontrollierte Steuerungseingriffe. Derzeit jedoch fehlen unseren Führungskräften die emotionalen und sozialen Fähigkeiten, sich als Beweger und richtunggebende Begleiter sozialer Prozesse zu verstehen. Da unsere Bildungssysteme dies auch nicht vermitteln, bleibt es eine Aufgabe der Unternehmen, in dieses Wissen und Können zu investieren und dies sehr schnell, wenn sie die Möglichkeiten einer durchwegten Organisation nutzen wollen. Eine sozial vernetzte und so bewegte Organisation hat eine deutlich höhere Anpassungsgeschwindigkeit und erlaubt vielschichtigere und regional passendere Reaktionen. Globale Unternehmen sind heute transnational aufgestellt, sie handeln aber in einem multinationalen Kontext. Die Fähigkeit zur Adaption auf nicht gleichzeitige Veränderungen in den Märkten verlangt eine Intensivierung distributiver Steuerung oder distributiver Führung. Eine Organisation wird widersprüchlich. Die gewünschte agile, anpassungsfähige Organisation kann sich nur entwickeln, wenn zentrale Kontroll- und Steuerungsmechanismen reduziert werden. Dies kann dann geschehen, wenn mit dem Konzept der Durchwegung der Raum für Entscheidungen, die ortsangemessen sind, geöffnet wird und zugleich eine Plattform für die stete Diskussion der Balance von global und regional, gesamtstrategisch und lokalstrategisch geschaffen wird und Führung die Fähigkeit entwickelt, Bewegung, bottom-up,

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middle-up im eigenen Unternehmen zuzulassen. Die Chancen der digitalen Vernetzung werden wir nur heben, wenn wir zunächst die analogen Voraussetzungen in unserem Verhalten schaffen.

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5.2 New Organization, New Work, New Mindset

5.2 New Organization, New Work, New Mindset Wo steht die Synnecta in der Dynmaik neuer Arbeits- und Unternehmensentwürfe?

Ein Anfang Wir haben viel zu sagen. Viel über: New Organization, New Work, New Mindset Vor fünf Jahren hätten wir das, was wir zu sagen haben auch noch in einem Vortrag konzis sagen können – das können wir heute nicht mehr. Es ist zu facettenreich, es ist zu differenziert. So greifen wir Aspekte heraus, die uns in unseren internen Diskussionen und in Gesprächen mit Kunden beschäftigen. Wir erleben, neben viel Beständigem, Umbrüche, Experimente, Ausbrüche, Neues – und das auf allen Ebenen, in den Organisationen als neue Formen der Organisation, in Gruppen als neue Dynamik der sozialen Vergemeinschaftung, bei einzelnen Menschen mit neuen, nicht dem Karrieremainstream gehorchenden Lebensentwürfen.

Was treibt da eigentlich? Vordergründig treibt die Unternehmen vielleicht die Angst, Anschluss zu verlieren, Anschluss an die chinesische Dynamik – vielleicht –, vielleicht treibt der Vertrauensverlust in die europäische Erfolgsgeschichte: der systematischen Planung, des Managen von Projekten, der doch einmal so erfolgreichen Wasserfallplanung, vielleicht der Zweifel an der Voraussagekraft der strategischen Abteilungen? Vielleicht die Konfrontation mit dem Zweifel vieler an der Qualität der Führung? Möglicherweis der so breite Vertrauensverlust in die ‚Eliten‘? Vielleicht aber auch, weil es unübersehbar ist, dass wir nun mehr und mehr mit unlinear dynamisch deterministischen Systemen konfrontiert sind: in den Märkten, im Wettbewerb, in der Gesellschaft, in der Gemeinschaft unseres eigenen Un-

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ternehmens, und wir doch so sehr daran gearbeitet haben, die Welt linear dynamisch deterministisch zu gestalten. Wir können noch so oft ‚Warum‘ fragen, wir werden nicht die Ursache finden – aber wir finden Bedingungen, Bedingtheiten, Relationen. Für New Work sticht da eine Bedingung hervor, eine gesellschaftliche, eine globale Tendenz, die sich seit sehr langer Zeit stabil durchsetzt: Der Gewinn von mehr und mehr individueller Freiheit. Wir erleben es deutlich in den Metropolregionen – dort, wo die soziale Kontrolle minimiert ist und es Raum für viele Nischen, für viel Andersheit gibt, eine Andersheit, die sich als Gruppe und Gruppenzugehörigkeit organisieren kann. Es geht um Eigenbestimmtheit, um die je eigene Individualität und ihre gesellschaftliche Anerkennung, es geht darum, ein altes Konzept zu nutzen, um Selbstverwirklichung. In den gerade gängigen Motivationstheorien wird es mit den Begriffen Autonomie und Lernen (Wachsen) benannt und mit der Idee, dass wir Purposegeleitet sind. Dies ist heute ein elementarer Aspekt einer Unternehmenskultur. Mit der Orientierung an Purpose, der die Prozesse der Visions- oder Missionsbildung ersetzt, wird auch das Anstrengende, das Herausfordernde deutlich – wie können wir das Eigene mit dem Gemeinsamen in eine Balance bringen, die sich durch eine gewisse Beständigkeit auszeichnet? Wie kann der je eigene Purpose zu einem gemeinsamen werden und wie beständig kann dies sein? Im Hintergrund die Frage nach dem Verhältnis von Solidarität zu Individueller Selbstheit. Individualität und die Qualität der Vergemeinschaftung gehören zusammen und sie machen die neuen Arbeitsformen so interessant, so aufregend und zugleich so herausfordernd. Denn wir sind dabei, auf den großen versorgenden Bruder zu verzichten. Und natürlich ist die Freiheit vieler, die gelebte Diversität der Vielen ein Treiber von Komplexität, und im Zulassen dieser Vielheit, der Eigenheiten erleben wir auch den Verlust der einen bindenden moralischen, der Sicherheit gebenden Institution. Die wird ja nicht nur politisch, sondern auch in den Unternehmen gerade eingefordert – leider nicht nach vorne schauend, sondern mit einer wachsenden Sehnsucht nach alter Autorität, um im psychoanalytischen Bild zu sprechen, nach dem alles richtenden Vater. New Work geht den anderen Weg – New Work will die Freiheit gestalten, so dass dennoch Zusammenarbeit und Gemeinschaft möglich sind.

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So lassen sie uns Aspekte nachzeichnen, Aspekte, denen wir in unserer Arbeit begegnen und bei denen es keine einfachen Rezepte gibt. Die agile Organisation – im Kern die Suche nach einer Organisation, die in der Lage ist sich schnell anzupassen, in der Innenorientierung reduziert wird und in der es möglich wird, in kleineren Einheiten eine Außenperspektive intern wirksam zu machen. Zygmund Baumann nannte dies schon vor Jahrzehnten eine fluide Organisation. Die Blueprints liegen vor – die soziale und psychologische Dynamik solcher Unternehmen lassen jedoch noch viele Themen offen. Was können wir beobachten – neben den trivialen Themen, dass solche Veränderungen nicht von allen gemocht werden, dass sich Skepsis breitmacht, dass Herren der Beständigkeit (es sind meistens Herren) um Machtverlust fürchten:

Flucht in die Methode Methoden sind hilfreich und notwendig – aber sie sind bestenfalls die Hälfte der Reise. Wir stehen etwas verwundert vor der Gründlichkeit, mit der das methodische Set mehr und mehr ausformuliert wird und mehr und mehr der kleinteiligen Prozesslandschaft ähnelt, die man ja grade mit der neuen Organisation zumindest vermindern wollte. Beschriebene Methoden geben Sicherheit, sie entlasten das Individuum der Eigengestaltung und sind oft eine Flucht vor der Freiheit. Um die geht es aber, will man Flexibilität, den Reichtum der Vielstimmigkeit erreichen. Sie sind zu oft eine Flucht vor der Chance der Selbstwirksamkeit und der mit ihr kommenden Verantwortung.

Der Mangel an gruppendynamischer Kompetenz Was geschieht, wenn wir Hierarchie einebnen und die Rolle so beschreiben, dass sie mehr ein Enabler für Eigenverantwortung wird. Tatsächlich fehlt uns das Verständnis gruppendynamischer und sozialdynamischer Prozesse. Es wird mit dem Konzept Empathie gewunken, aber das, in sich selbst schon schwierig, greift zu kurz, wenn wir Menschen in der Gestaltung informeller, also emotional nicht entlastender, sozialer Führungsprozesse alleinlassen. Es wird Zeit, gruppendynamische Kompetenz wieder einzuüben. Informel-

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le Führung öffnet ein weites Feld für Egomanen und Narzissten und wir kennen die verheerenden Folgen des Bullying im Schulkontext. Gruppendynamik als Erfahrungslernen tut not.

Wir wollen Deine Seele, Dein Herz Dies wird umso mehr wichtig, je mehr wir beginnen das Arbeitsund das Privatleben nicht mehr zu trennen. Wir verschmelzen zwei bisher trennbare Identitäten. Und wir tun es, weil wir verstanden haben, dass wir in den neuen Organisationen den ganzen Menschen brauchen und nicht nur die Zeit, die er uns zur Verfügung stellt. Der alte Deal war klar: Du bekommst Geld und Sicherheit (die berühmte goldenen Uhr später) und du gibst uns deine vereinbart begrenzte Zeit, deinen Gehorsam und deine Loyalität. Wenn wir an die motivierende Kraft eines Purpose glauben, also daran, dass ein Mensch sich mit seiner ganzen Existenz für etwas einsetzt, weil sein tiefer eigener Sinn und der der Arbeit mehr und mehr übereinstimmen, dann geht der alte Deal nicht mehr. Ich kann das Herz, die Seele eines Menschen nicht kaufen – das Unternehmen muss mehr bieten – Orte, Räume, Plätze, Beziehungen, soziale Strukturen, sinnstiftende Konzepte, die es Menschen ermöglichen, sich ganz einzubringen. Und eben die Freiheit, die Angebote anzunehmen, für eine Zeit, die Freiheit, sie auch wieder zu verlassen - in der längeren Perspektive werden Unternehmensgrenzen fließend werden. Und so wird die Attraktivität als ‚Lebensplatz‘ immer wichtiger.

Die Endlichkeit von Purpose Purpose kommt oft sehr gravitätisch daher – mit so einem Hauch von Ewigkeit. Aber das ist eine Verengung. Wir folgen nicht dem einen Sinn in unserem Leben, den wir irgendwie auf dieser Lebensreise entdecken müssen. Unsere Energie, das Engagement finden viele ‚Sinne‘ und sie suchen sich soziale Zusammenhänge, in denen sie gelebt werden können. Sie sind leitend für eine Zeit, dann verlassen wir sie für etwas, was nun in dieser Lebensphase, in diesem sozialen Zusammenhang uns mehr berührt. Hier findet man die zweite Bedeutungsebene von Zygmund Baumanns Begriff der fluiden Organisation – auch wir fließen in unserer Organisation, aber auch zunehmend zwischen den Organisationen und immer mehr auch

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zwischen unterschiedlichen Lebenskonzepten. Unternehmen stehen vor der Aufgabe immer wieder und immer neu einladende Orte, Strukturen zu schaffen, die ein Sinnangebot in sich tragen und so fähig sind, die Sinnsucher anzuziehen. Wir werden lernen müssen, das Fließende selbst als Stabiles zu erleben.

Der psychologische Fokus Für uns, in unserer Arbeitstradition kommt dem psychologischen Fokus, also der Verfasstheit des Menschen in diesen Veränderungen große Bedeutung zu. Wie lernen Menschen ihre Rollen, ihre Möglichkeiten in den neuen Formen kennen, wie geben wir ihnen eine Chance, sich im Neuen auch selbst in bisher verschlossenen Möglichkeiten neu zu erfinden? Hierzu bedarf es z.B. tiefer Eingriffe in die selten thematisierten normativen Grundannahmen eines Coachings oder der Führungstrainings. Wenn wir lateral arbeiten und eher laterale Möglichkeiten erkunden, dann lassen wir den bisher dominanten vertikalen Aspekt, den Organisationen heute primär als Karriere anbieten, hinter uns. Karriere, bisher an Aufstieg als Hoffnung und als Schmerz gekoppelt, wird anders definiert – mehr und mehr als die Fähigkeit immer wieder Orte der Attraktivität zu finden, selbst sich als fluid zu begreifen. Da stoßen Unternehmen allerdings recht schnell an die Grenzen der Gesellschaft, die ja immer noch den Helden des Aufstiegs feiert.

Wie lernen wir? Schließlich stellt sich die Frage, auf welche Lebenskonzepte hin wir denn Menschen bilden. Mehr denn je wird Gregory Batesons Unterscheidung vom Lernen erster Ordnung und Lernen zweiter Ordnung bedeutsam. Wir werden mit einem PISA orientiertem Ansatz kaum weiterkommen, denn das trainiert und lehrt, was sich bewährt hat, bewährt in einer alten und stabilen Welt. Lernen für das Neue, das, was wir noch nicht eingeübt haben, das bedarf einer Öffnung zu dem Teil unserer Gesellschaft, den wir mit den Worten Kunst gerne etwas ausgrenzen und als ein Ort der Glückseligen beschreiben. Aber gerade dort kann man mehr über die Zukunft lernen als in jeder Strategie- oder Marketingabteilung der großen Konzerne und Beratungen. Lange bevor Unternehmen das nennen

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konnten, was sie heute VUCA nennen, hat die Kunst uns mit einer performativen Wendung gezeigt, was Ereignis bedeutet, was Brüche bedeuten und was es heißt fluid agieren zu können. Aber unsere derzeitigen Führungseliten sind recht kunstavers geworden.

Das Glück der Andersheit Für uns rückt zudem in den Vordergrund, was unter dem Stichwort Diversität abgehandelt wird. Es geht hier um mehr als Statistiken, in denen man zeigt, man habe ja Vielfalt… Frauenquoten, Inderquoten, LGBTIQ*Quoten und so weiter. Wie lernen wir tatsächlich Respekt voreinander, wie lernen wir über Differenzen so zu sprechen und zu handeln, dass sie eher Reichtum als Ausschluss bedeuten. Es wird keine wirkliche Agilität geben, ohne sich mit der Diversität auseinanderzusetzen. Und das beginnt bei den kleineren Unterschieden über die in der alten Arbeitswelt (Trennung von Privat und Beruf) eben nicht gesprochen wurde und die im Verschweigen oder der fehlenden Plattform für den Ausdruck erhebliche Energien zurückhalten. In meiner Arbeit in den in sich vielfältig unterschiedlichen asiatischen Kulturen weiß ich, dass wir nun wirklich etwas erreicht haben, wenn die Menschen sagen, ‚du hast mein Herz berührt‘ und wenn sie mein Herz berührt haben. Dann beginnen wir voreinander und so miteinander Respekt zu haben.

Das Zauberwort – Mindset Change Klingt ja einfach. Aber um was geht es denn? Es gibt dafür viele Beschreibungen. Z.B. von inside–outside thinking and acting zu outside–inside thinking and acting. Oder vom Gefangensein in der Inbox zur Öffnung zur Outbox, oder in dem Wortspiel ist es dein Ziel to come forward or to come along. Wie immer es genannt wird, es geht darum aus der Perspektive der Egozentrik, des Egos auszusteigen. Nicht wirklich weltbewegend neu, jedoch wichtig, weil in der Wirtschaft und den Wirtschaftswissenschaften zu lange der Egomaximizer im Zentrum stand. Die Egomaximizer in ihrem Wettkampf um immer geringer werdende Ressourcen wurden als der Garant von Dynamik gesehen – die kooperierenden Mitglieder der Gemeinschaft eher als die etwas dummen Mitglieder der Herde. Ein sehr verkürzter Darwinismus, bei dem schon früh klar war,

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dass der wirkliche Egoist eben keiner ist, sondern jemand der kooperiert und darin und dadurch erfolgreich ist. Dafür gab es früher einmal in der christlichen Welt das Wort vom Geben ist seliger denn Nehmen. Kooperation ist hier nicht eine weitere Methode oder nach buddhistischen Selbstoptimierungskonzepten ein neuer Trick des Egoismus, sondern die Selbsterfahrung, das in einem sich selbst einklammernden Ich die Freude, die Erfüllung, das Glück von Kooperation gefunden werden kann. So kann das, was Kooperation oder heute gerne auch Kollaboration genannt wird die tiefe Struktur des eigenen Denkens und Fühlens verändern, in der wir der Welt begegnen. Und dies eben ermöglicht, über Differenzen, Abgrenzungen, Zugehörigkeiten hinweg Gemeinsames zu gestalten.

Gegenseitigkeit Ich erinnere mich gerne an Gespräche mit Helm Stierlin, einer der Gründerväter der systemischen Therapie, der Kooperation als Gegenseitigkeit verstand. Nicht im Sinne eines Deals, sondern eher als Gabe, in der ein Verhältnis begründet wird, das dem anderen Freiheit ermöglicht. Hier scheint ein Widerspruch zur These des Individualismus aufzutreten – denn in den neuen Arbeitsformen ist das Kollektiv der Held. Nun leben wir unseren Individualismus in Kollektiven, in Gruppen, in denen wir uns in unserem Sosein aufgehoben fühlen und die wir je nach Identitätsverlauf auch wechseln. In der Gegenseitigkeit der Kooperation bleibe ich in meiner Individualität gewahrt und bin zugleich Teil eines für das Ganze verantwortliche Kollektiv. Dies ist die Stelle, an der in die Diskussion um den mindset, der so abstrakt, neutral klingt eine spirituelle Note eindringt. Es ist die Idee der Allverbundenheit, die wiederum der Erfahrung, dass wir in einer nicht linear dynamisch deterministischen Welt leben, sehr entspricht. Organisationen doch oder endlich politisch denken? Und mit all dem, was wir heute schon tun, greifen wir zu kurz, wenn wir nicht tiefer in die Art und Weise eingreifen, in der in Unternehmen heute Zukunft verhandelt wird. (Zukunft heißt hier, Markt, Produkt, Prozess, Strategie usw.) Wenn wir die Grundidee der Agilität, die Fähigkeit schnell und flexibel auf Änderungen reagieren zu können oder auch iterativ vorausschauend agieren zu

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können nur in den operativen Einheiten verankern, dann werden wir weiter langsam bleiben und eher das tun, was in der Vergangenheit erfolgreich war. Wenn wir die oligarchische Struktur der Unternehmen, wo eine mehr oder weniger homogene Gruppe, die über lange Zeit in großen Programmen eingenordet worden ist und dabei Süden, Westen und Osten vergessen hat, über die Themen der Organisation bestimmen lassen, dann wird New Work keinen Platz in den Unternehmen finden. Es stellt sich an die Organisationsentwicklung die Frage: Wer darf sprechen, wer wird gehört, wer hat Orte um zu sprechen und um sich Gehör zu verschaffen? Es geht um einen genuinen Diskursprozess, an dem die vielen Unterschiedlichen Teil haben an den Entscheidungen, die festlegen, was im Unternehmen und was in den Märkten geschehen soll. Gesellschaftlich wird es kaum eine Teilhabe an den Besitzverhältnissen sein, aber eine echte Teilhabe an der Gestaltung der Gemeinschaft, die das Unternehmen mit engagiertem Einsatz gestaltet. Wir haben mit unseren Durchwegungskozepten leicht gangbare Wege aufgezeigt, um das Oligarchische der Unternehmen aufzubrechen und so Stimmen Raum verschafft, die sehr viel eher als die lang gedienten Führungsmenschen verstehen, was denn Zukunft bedeuten wird und wo der Platz sein kann, den das Unternehmen in dieser Zukunft mit seinen Leistungen einnehmen kann. Und zum Ende etwas nach vorne greifend – wie verändern wir unsere innere Einstellung zu dem, was als Neues in den Lebenskonzepten auf uns zukommt? Wie verstehen wir sie? Ein Ausflug in die Pop Welt einer Generation, die noch gar keinen Buchstaben hat.

Demographie – wie radikal sind die Veränderungen in den Lebensentwürfen? BTS – eine koreanische Boy-Band (Nr. 1 in den US Billboard Charts als erste koreanische Band mit ’Idol‘): Eine vollständig inszenierte Boy Group – jede Information, jede Äußerung, jede Bewegung ist choreographiert oder kuratiert. Zugleich die einzige K-Pop Band, die politische Botschaften sendet – stark auf Individualismus bezogene Kernbotschaft: Sei du selbst, was immer Du auch bist oder sein willst. Die Videos senden neben dem Identifikationsangebot – die Gruppen bestehen immer aus einem Angebotsmix von Personen (würde die Besetzungsstrategien für Vorstände deutlich ändern) – eine inklusive Botschaft – Du bist ein Teil von uns – wir sind

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divers und du gehörst zu uns. Die Videos werden auch beschrieben als Repräsentanten einer hyperinklusiven Ästhetik. Es gibt in den Performances nicht mehr die Differenz zwischen Oberfläche (der Performance) und den eigentlichen Identitäten – die Oberfläche ist das Ganze. So ist Beuys in der Jugendkultur angekommen. Unser tiefes Denken – es gibt den Vordergrund und den Hintergrund, es gibt die Erscheinung und dahinter das Eigentliche, der tiefsitzende Platonismus wird hier ausgehebelt. Die Frage was denn dahinter sein wird obsolet, weil die Oberfläche das Eigentliche schon ist. Was heißt das für die Arbeitswelt? Auflösung der Differenz von Privat und Arbeit? Das Ende der Rollenspiele und damit eine neue Art der Authentizität? Orte der Arbeit als Lebensorte an denen Identität gebildet, gelebt wird. Orte der Arbeit als Ereignisräume – die in schnelleren Schritten durchlaufen werden – die Schwächung der Kontinuitäten zugunsten der Bruchlinien und Lebenssprünge? Auch das sind Aspekte von New Work. Ein Blick in Coaching-Erfahrungen der letzten Zeit. Auf welcher Folie von Lebensentwürfen formuliere ich meine Fragen? Wie sehr ist das ganze Setting von den Alt-Erwartungen der Unternehmen geprägt? Michelle Obama schreibt in ihrer Autobiographie über ihren Großvater, in dem sie die Bitterkeit zerstörter Träume sah. Einer Bitterkeit, der ich im mittleren Management großer Unternehmen immer wieder begegne. Während diese Bitterkeit im Hintergrund von Organisationen spürbar ist, ist die junge Welt von der Kraft der Träume bewegt. Lassen sie uns der Hoffnung folgen und nicht der Bitterkeit.

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Geschichten Die Gruppe schwieg, sie schwieg länger als eine Stunde. Sie war traumatisiert. Dabei war es ein so guter Start – hierarchiefreies Arbeiten, Arbeiten in kleinen Gruppen mit gemeinsamem Interesse, tun können, was man immer schon wollte. Dann kamen die Einschläge – zuerst das Einstellen von Projekten, die in der Gruppe weiterhin als sehr aussichtsreich erlebt wurden, aber nun aus strategischen Gründen kein Budget mehr hatten. Wie Abschied nehmen? Und wie damit umgehen, dass man nun auch selbst umgesteuert wurde und sich in Projekten und Gruppen fand, die man ohne Not nicht gewählt hätte. Dann nahm die Gruppendynamik ihren Lauf – informelle Führer bildeten sich heraus, die zwar über gute soziale Manipulationsskills verfügten, aber nicht wirklich geeignet waren, die Aufgabe einer steuernden Funktion auszuüben und dann der Wunsch der Organisation, es wirklich hierarchiefrei zu machen und die Einführung einer Peerbewertung. Das Letzte war dann definitiv zu viel – so schwieg die Gruppe und hatte all die Energie, das Engagement des Anfangs verloren.

Das Schweigen

Aus einem Gespräch mit einem Betriebsrat. Er war wirklich besorgt. Er blickte in den Raum und sah, dass all die ergonomischen Errungenschaften der organisierten Arbeitnehmerschaft verloren waren. Mitarbeiter*innen saßen auf Holzpaletten, die Tische, die es vereinzelt gab, völlig ungeeignet – und er sagte, wie wird deren Rücken wohl aussehen, wenn sie zwanzig Jahre lang gearbeitet haben? Die jungen Menschen haben sich von uns gelöst, sie verstehen nicht mehr, dass im Gegeneinander von Unternehmen und Betriebsrat für sie um die bessere Lösung gestritten wird. Sie liefern sich ganz den oberen Damen*Herren aus.

Ergonomik

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Aus einem Coaching. Ich traf diesen sehr begabten Menschen, als er noch Teamleiter war und vom CEO erfahren hatte, dass er über alle Hierarchiestufen hinweg in den Vorstand der für die Zukunft wichtigsten Division berufen war. In dem ersten Treffen sprachen wir viel über Theater und vor allem Literatur – wir verglichen unsere Leseerfahrungen und es war ein zartes und sehr energiereiches Gespräch. Nach einem Jahr sprach ich mit ihm, der immer noch feurig und energetisch war, über seine Leseerfahrungen der letzten Monate. Und er erbleichte, weil ihm auffiel, er hatte nur noch Managementratgeber gelesen und in seinem Reflektieren verstand er, dass seine tiefste Quelle für ‚Leadership‘ nicht aus den Ratgebern stammte, sondern aus den tiefen Schichten literarischer Erfahrungen. Er liest jetzt wieder.

Lesen?

Ein völlig ratloser Manager. In seinem Führungsbereich hat er eine sehr begabte Frau, die viel mehr tut, erfolgreich tut, als sie müsste und was ihrer Position entspräche. So kämpfte er in seiner Fürsorge und in seinem Gerechtigkeitsempfinden um eine Beförderung und konnte sie dann stolz der jungen Frau anbieten. Er erwartete Freude und Dankbarkeit, doch er erhielt ein freundliches, doch bestimmtes Nein – sie wollte es nicht. Und er fragte nach der Begründung: Und sie sagte, was ich jetzt tue, tue ich freiwillig und es macht mir Spaß, wenn ich dein Angebot annehme, dann muss ich es tun und das will ich nicht.

Karriere?

Ein anderes Gespräch mit einem Boten, der einem das im Internet ausgesuchte Essen eines Restaurants vorbeibringt. Ich sagte, du weißt, dass du dich ausnutzen lässt? Du bekommst wenig Geld, nur wenn Du dich zeitlich ganz auf die Bedürfnisse deines Unternehmens einlässt, das keinerlei Fürsorgepflicht dir gegenüber hat, bekommst du gute Schichten und selbst den Kasten auf deinem Rücken hast du selbst bezahlst, das Fahrrad ist dein eigenes – warum tust du das? Aber ich bin frei, sagte er und das war alles.

Freiheit?

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Ein letztes: Eine Expat Führungskraft in Thailand. Sie mokiert sich über diese Magiegläubigkeit der Thais, lacht über ihre Gaben in den Tempeln und dieses tägliche Verehren eines Schreins. Er ist aufgeklärt, hypermodern, rational. Der Abend ist lang und nach dem sich zu Ende neigen des rituellen Berauschungsprozesses (es waren vor allem Cocktails) erzählte er von seinen großartigen Erfahrungen mit positiven Affirmationen. Er hatte einen Dienstleister (früher nannte man sie Priester) gefunden, der ihm gegen kleines Geld jeden Morgen einen positiv affirmierenden Satz zusandte und den er dann vor sich hinsagte. Es sei sehr wirksam, sagte er und war sich der Ironie der Situation nicht bewusst.

Magisches Denken

Es ist nun 30 Jahre her. Ich sprach mit einer Franziskanerin in einem Krankenhaus, sie schob Bücherwagen durch die Zimmer und sprach mit den Kranken – wobei das Sprechen wohl das Wichtigste war. Wir unterhielten uns und so erfuhr ich, dass diese Frau, die nun in der untersten Hierarchiereihe der Franziskaner stand, noch vor einem Jahr in Rom war und dort Äbtissin des gesamten Frauenordens. Und es war keinerlei Bitterkeit in ihr zu spüren. Sie war glücklich und fröhlich. Es gibt sie schon lange, die andere Besetzung der Hierarchieposten.

Demut

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s gibt neben dem gemeinsamen Ergebnis einer Sophia immer auch ein persönliches Resümee. Wenn VUCA die Situation beschreibt und Unternehmen sich in ihrem Handeln auf dieses kontingente und komplexe Geschehen einstellen müssen, dann ist Vertrauen für mich der Schlüsselbegriff. Als Verantwort­liche*r Vertrauen in die Mitarbeiter*­innen, als Mitarbeiter*in Vertrauen in die Führung. Und Vertrauen auch dann, wenn nur noch der grundsätzliche Rahmen und die zu erreichenden finanziellen Ziele Kontinuität haben, die Strategien und Taktiken aber schnell wechseln, sich eben dem Gelände in einem rollierenden Strategieprozess anpassen. Es werden sehr unterschiedliche Informationen in einem Unternehmen gesammelt, sie bilden Verdichtungen an unterschiedlichen Stellen. Hierzu Zugänge zu finden ist durch die aktive Vernetzung vieler Knoten in sozialen Plattformen möglich geworden. Informationen zu sammeln und stetig in Hypothesen zu verdichten, Entscheidungen zu treffen, sie zu revidieren, die Effekte des confirmation bias zu reflektieren, sind eine der wichtigsten Führungsaufgaben. Aber was gibt dann Sicherheit, die vielen Vertrauen erst ermöglicht? Die Präsens der Führung auch dort, wo Informationen gesammelt, generiert und interpretiert werden – im Netz. Präsens als die Sichtbarkeit und Erlebbarkeit einer Person, der ich Vertrauen schenke, obwohl das Gelände aus meiner Position gerade anders aussieht.

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eue Führung für eine neue Welt – Demokratisierung der Unternehmen – erste realistische Schritte Im Jahr 2009 schrieb Georg Diezin der SZ Nr. 275: „Wir stehen an der Schwelle zu diesem neuen Jahrzehnt, das sich immerhin in Konturen abzeichnet. Ein neuer grüner Hedonismus, eine neue Technikeuophorie, eine Krise, die alte Hierarchien über den Haufen wirft und neue Konstellationen er-

möglicht und Platz macht für neue Ideen.“ Und nun sind die Medien, die sozialen wie die offiziellen, voll von Vorschlägen, wie mit demokratischen Formen und Methoden die Krise der Hierarchie bewältigt werden kann. Ob dies mit den Systemzwecken von Unternehmen und ihrer Einbettung in den globalen Finanzmarkt in Übereinstimmung zu bringen ist, wird wenig gefragt. In den Vor­ schlägen zu einer Demokratisierung

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schwingt eine andere Hoffnung mit: die Hoffnung Vieler, engagiert und selbstbestimmt arbeiten zu können. Wenn diese Diskussionen in Unternehmen aufgenommen werden, dann aus zwei Fragestellungen: Was muss ich erstens tun, um einen Ort zu schaffen, der Mitarbeiter*innen engagiert arbeiten lässt, und wie kann ich zweitens einen Kontext kreieren, in dem sie mir ihr Potenzial tatsächlich zur Verfügung stellen. Antworten auf beide Fragen führen zu einer anderen Realität von Führungsarbeit – im Kern wird gefragt: Wie kann ich Mitarbeiter*innen Gehör verschaffen und wie können sie in einem Zusammenhang arbeiten, den sie als bedeutsam empfinden. Wäre beides verwirklicht, könnten mehr Mitarbeiter*innen sich als selbstwirksam erleben – die psychologische Basis für motivierte, selbstbewusste Menschen. Die derzeitige Dringlichkeit wird deutlich, wenn man sich mit den nahen und mittelfernen Zukunftsszenarien auseinandersetzt, die in Bezug auf eine unternehmensinterne Wahrnehmung mit dem Kürzel VUCA beschrieben wird. Jörg Müngersdorff hat die mögliche Dramatik der Entwicklung in den unterschiedlichsten Themenfelder klar benannt und die entscheidende Frage gestellt: Sind Unternehmen darauf vorbereitet? Blickt man auf die regelmäßigen Messungen zur Motivation von Mitarbeiter*innen

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in größeren und großen Unternehmen (70% bis 80% je nach Studie werden als unmotiviert beschrieben), muss die Antwort wohl ‚nein‘ heißen. Es sei denn, man glaubt, mit 30% Potenzial der Mitarbeiter*­ innenschaft ließen sich die kommenden Herausforderungen bewältigen. Aber ist Demokratisierung die Antwort? Allein ein Blick auf das Thema ‚Wir wählen unsere Führung‘ lässt die Befürchtung eines ständigen Wahlkampfes aufkommen. Dennoch: Die Demokratisierung findet längst statt. Plebiszitäre Formen wie die Mitarbeiter*innenbefragungen, das 360° Feedback und Managementdialoge sind Schritte auf dem Weg zu einem demokratischer verfassten Unternehmen. Wenn wir über die nächsten Schritte nachdenken, dann stehen zwei Themenfelder im Vordergrund, bevor man sich an das Experiment des ‚Wählens‘ von Führungskräften, strategischen Themen, Gehältern, etc. wagen kann. Zunächst geht es um ein Aufbrechen hierarchischer Grenzen. Wir bilden Schichten in Unternehmen, die einen auf diese Schicht eingeengten Diskurs führen, der sich zu oft in gleichen Mustern wiederholt. Wir erleben derzeit, dass die unteren Schichten gegen diese Abgrenzung protestieren. Und es geht dabei nicht vor allem um Statusfragen oder das, was gemeinhin unter Neidfaktor

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subsumiert wird, es geht um die Wahrnehmung, dass die Führung zu weit weg ist von der Realität, dass ihr Bodenkontakt fehlt. Das gilt intern aber auch in Bezug auf die Entwicklung der Märkte. Das Aufbrechen dieser Abgrenzung lässt sich schnell und ohne Eingriffe in die Struktur realisieren. Man könnte es als ein Wirklich werden der verbreiteten Kamingespräche verstehen. Die Führungstagungen, Managementmeetings, Strategiekreise und ähnliche Treffen werden anders besetzt. Die Hälfte der Teilnehmer*­ innen werden von Mitarbeiter*innen hineingesandt. Dabei ist es wichtig, dass lokale oder funktionale Einheiten, die kleiner als einhundert Mit­ arbeiter*innen sind, Kolleg*innen in diese Kreise wählen. Das wird immer nur ausgewählte, im Zeitverlauf wechselnde, Gruppen betreffen, aber es wird die Gespräche, die Auseinandersetzungen und die Themen in den klassischen Treffen nachhaltig verändern. Die hierarchischen Grenzen werden fließender, bottom-up Wissen dringt in die Meinungsbildung und Beteiligung (die Bedingung für Engagement und Motivation) wird ermöglicht. Dies sind sanfte Methoden der Demokratisierung, die zugleich die vertikale Kommunikation der Unternehmensführung nachhaltig verbessern. Wer dabei war, wird anders darüber sprechen. Das zweite Themenfeld betrifft eine der Grundlagen demokratischer

Orientierung, der Aufbau einer kritischen internen Medienlandschaft. Unternehmen müssen den Weg aus einer gelenkten, an Imagebroschüren orientierten internen Presse aufgeben. Die kritische Gegenöffentlichkeit ist eine der Bedingungen für funktionierende Beteiligung und für die Verantwortlichen eine wichtige Informationsquelle über das, was gedacht, wahrgenommen und gefühlt wird. Die eingeführten internen sozialen Plattformen sind hier ein Eingangstor für das Üben und Probieren im Umgang mit einer kritischen Gegenöffentlichkeit. Es ist sichtbar, das klassische Procedere, eine Führungskraft aus der Hierarchie zu bestimmen, hat nicht mehr die volle Legitimierungskraft, die dem Verfahren früher zukam. Heute gibt es einen zweiten Bestimmungsprozess: Meine Mitarbeiter*­ innen müssen mich nach der Besetzung aktiv wählen. Das macht uns dialogpflichtig. Und verlangt die so oft angesprochenen sozialen Kompetenzen. In einem Unternehmen, dem es gelungen ist vertikale Beteiligungsmodelle einzuführen, und das mit den Mitarbeiter*innen tatsächlich im Gespräch ist, ist es erheblich einfacher, soziale Kompetenz zu erwerben. In solchen Unternehmen arbeiten die Menschen gemeinsam an einem Zweck, wissen um die Bedeutung dessen, was sie tun und können erleben, dass ihr Beitrag wertvoll ist.

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Und zur Erinnerung: Warum das alles? Weil wir mehr als 20% oder 30% engagierte Mitarbeiter*innen

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ie politische Dynamik der Organisationsentwicklung I Politik als treibende Kraft in Unternehmen – ein Thema, das Unternehmen in der Regel zurückweisen. Sie akzeptieren Konzepte der Mikropolitik, die eher auf Karriere abheben und mehr oder weniger das Einflussgefüge in Netzwerken beschreiben. Aber politische Konzepte zur Beschreibung des eigenen Unternehmens und zur Konzeption von Veränderungen, das lehnen Unternehmen ab. Politik ist für die meisten Unternehmen irrational – und sie bestehen darauf, dass das eigene Unternehmen Gesetzen der Rationalität und Logik folgt. Emotionale Aspekte sind eher Störgeräusche und Barrieren, die es mit ebenfalls rationalen Methoden einzudämmen gilt. So wird zum Beispiel Empathie zu einem Führungsinstrument und in Seminaren als Methode trainiert. Blickt man jedoch auf die Organisationsveränderungen, die mit dem Thema Agilität einhergehen, analysiert man die sich in Richtung Beziehungskompetenz entwickelnden Füh­ r­ungsleitlinien und schaut man auf die Überlegungen zu einer mehr demokratischen Legitimierung von

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benötigen, wenn wir den kommenden Herausforderungen gewachsen sein wollen.

Hierarchie, dann wird deutlich, dass genuin politische Konzepte in der Organisationsentwicklung ihren Platz haben sollten. Ausgehend von einer soziologisch-politischen Analyse von Didier Eribon übertragen wir eine politische Frage auf die Situation in Unternehmen: Wer hat dort das Recht, das Wort zu ergreifen und wer darf dort auf welche Weise an welchen unternehmerischen Entscheidungsprozessen teilnehmen? Und es geht darum, welche Fragen als legitim erachtet werden und so Beachtung finden. Sofern es den Hierarchien in Unternehmen nicht gelingt, Resonanzräume zu organisieren, wo den Energien und Emotionen der Mit­ arbeiter*innen Ausdruck verliehen werden kann, dann ziehen unternehmensfremde Kräfte diese Energien und Emotionen auf sich. Wer wirklich engagierte Mitarbei­ ter*­innen gewinnen möchte und wer das Potenzial der Diversität heben möchte, kommt an der Beantwortung dieser genuin politischen Frage nicht vorbei. In der Organisationsentwicklung sehen wir nur dann kulturelle Veränderungen, wenn Mit­ ­arbeiter*innen in diesem Entwick-

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lungsprozess das Unternehmen zu ihrem Unternehmen machen können.

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ie politische Dynamik der Organisationsentwicklung II Ein Unternehmen ist immer auch eine Gemeinschaft und so ein Ort politischen Handelns. Damit meine ich nicht die mikropolitischen Konzepte, die sich im Wesentlichen auf die taktisch-technischen Aspekte des Karrieremachens und des sich Durchsetzens beziehen, sondern auf die Notwendigkeit, Diversität, die Unterschiedlichkeit von Interessen und Perspektiven der Gemeinschaft in der Gemeinschaft zu vermitteln, um ein zielgerichtetes Verhalten und Arbeiten zu ermöglichen. Das hat einen unternehmensinternen Grund – nämlich die ständige Konstitution des Unternehmens als gemeinsames Anliegen, in dem die Interessen verschiedener Gruppen berücksichtigt werden und es hat einen externen auf den Markt bezogenen Grund, nämlich das Wissen und die Einsichten der Mitarbeiter*in­ nengruppen für Entscheidungsfindungen nutzen zu können. Es ist derzeit eine allgemein vertretene Meinung, dass hierarchische Konzepte (König*in/CEO oder Oli­ garchie/Vorstand/Führungsteam) die agile, diverse, vielperspektivische Kompetenz der Gemeinschaft nicht nutzen können und so die komplexe

und kontingente Dynamik des Marktes (VUCA) nicht abzubilden vermögen. Daher gibt es viele Vorschläge, wie die Stimme der Mitar­ beiter*innen mehr Bedeutung erlangen und in Entscheidungsprozesse einfließen kann. Dies wird im Allgemeinen mit dem Begriff Demokratisierung sowohl der Unternehmen und als auch der Führung bezeichnet. Im athenischen Konzept der Demokratie hat die ‚Agora‘, der Ort, an dem die Gemeinschaft zusammentritt und bestimmt, was zu besprechen und was zu entscheiden ist, eine große Bedeutung. Nun ist in einem eher überschaubaren Stadtstaat mit den deutlichen Restriktionen, wer als Bürger*in zu gelten hat, die Bestimmung eines Ortes und einer Zeit zum Zusammenkommen eher einfacher als in den heutigen global aufgestellten Unternehmen. Dennoch möchte ich über die Idee, dass es so etwas wie eine ‚Agora‘ in Unternehmen geben kann, diskutieren und fragen, wie denn Schritte zu einem leistungsfähigen demokratisierenden Prozess der Unternehmensentwicklung aussehen können. In den heute noch überwiegend hierarchischen Strukturen der Unternehmen bestimmen Hierarchen, wo die Agora des Unternehmens ist

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und wer zu ihr Zugang hat. Und so bestimmt ein kleiner Zirkel, was es zu besprechen gilt und was zu entscheiden ist. Es ist ein Kreis von Menschen, die eine ähnliche Sozialisation erfahren haben und einander in wesentlichen Grundzügen ähnlich sind. Der große Rest der Organisation wird dann darüber informiert, was nun wichtig ist und was entschieden wurde. Die Information geschieht in einer bürokratisch organisierten Form durch Methoden wie z.B. Zielvereinbarungen, unterstützt von zentral gesteuerten Kampagnen, die die Aufmerksamkeit der Vielen fokussieren sollen. Verstärkung erhält dieses System der Durchsetzung von Führungsentscheidungen durch Belohnungs- und Bestrafungsanreize. In der Regel sind Unternehmen heute politisch oligarchisch verfasst (ausgenommen Inhaber*innenunter­ nehmen, die eher monarchisch verfasst sind). Das heißt, eine kleine homogene Gruppe bestimmt, wer ­ Zugang zum Ort der thematischen Diskussion und Entscheidung hat, bestimmt die Regeln und Formalien des ‚Gesprächs‘ und bewahrt seine Exklusivität (die Erfahrung zeigt, dass es bei Entscheidungen zur Teilnahme an Gesprächen oft mehr um den Status, als um den möglichen inhaltlichen Beitrag geht). Da diese Gruppe gleichzeitig die Hoheit über die Kommunikationsmedien hat, ist die Geschlossenheit der Gruppe gewährleistet – es gibt keine Gewalten-

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teilung, kein System von ‚Checks and Balances‘. Mit der Verbreitung sozialer Medien in der Gesellschaft, die in das Unternehmen hineinwirken, aber auch durch den Aufbau interner sozialer Medien ist das Monopol der Kommunikation in Frage gestellt. Es gibt nun einen sich laut äußernden Resonanzkörper, noch zögerlich, aber immer deutlicher vernehmbarer. Die sozialen Medien bilden ‚Netzwerke‘, thematisch bezogene Gemeinschaften – noch sehr fragmentiert – doch stabiler werdend. So entwickelt sich jenseits der Oligarchie (der Führung) eine eigene Agora, ein Ort oder Orte, in denen Mitglieder der Gemeinschaft des Unternehmens ihre Perspektiven einbringen, Kontroversen sichtbar machen und sich über das, was jetzt nottäte, verständigen. Unternehmen werden laut. Diese Foren sind von der Idee der Teilhabe getragen und verändern so die Führungsrealität. Je mehr unternehmensinterne Plattformen zu einer Agora werden, desto mehr werden sie auf wesentliche Fragen der Unternehmen Einfluss nehmen – sie werden mitbestimmen, welche Themen denn wichtig und zu besprechen sind und, was zu entscheiden ist. Es ist ein starker Trend, einer der Trends, die sich nicht ignorieren lassen: Alle aktuellen Debatten, so verschieden sie im Einzelnen auch sind, ob Demokratisierung der Unternehmen, #metoo, Gender und Diversity

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insgesamt, Inklusion, breitere politische Beteiligung – sie haben alle eins gemeinsam: Sie verlangen Gleichheit, Mitsprache, Teilhabe und damit eine Reduzierung der Hierarchie, der Ungleichverteilung von Macht. Es ist unausweichlich, dass Unternehmen sich in dieser Dynamik damit beschäftigen, wie sie Teilhabe in erheblich größerem Maße als heute ermöglichen können. Und dabei gibt es einen zusätzlichen Gewinn: die Klugheit, die Vielstimmigkeit der Perspektiven und das Engagement der Vielen. Synnecta hat mit dem Durch­ wegungskonzept Übergangsformen beschrieben, mit denen sich Teilhabe jenseits der üblichen Kampagnenkonzepte einüben lässt. Und in einer Diskussion um eine Teilhabe ermöglichende Unternehmensverfassung geht es nicht um die Abschaffung

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erantwortung – Eine Erinnerung an eine noch nicht erledigte Aufgabe Ein Text aus dem Dezember 2008 – Gerade leben wir in einer Boomphase der Wirtschaft, gestiegene Gewinne, Anleger*innenglück und zugleich befürchten wir – folgt man den Stimmungen der Medien – Krisen, Abstürze. Die großen Themen: Digitalisierung, IoT, Agilität verdecken das Krisengefühl und zeichnen Chancen, sprechen von neuen lukrativen

von Führung, sondern um die Gestaltung von Foren, in denen verschiedenen Interessen und Perspektiven zu einem Gespräch werden können – zum Nutzen der Fähigkeit des Unternehmens, auf Veränderungen im Innen und im Außen agil reagieren zu können. Differenz ist auch in Unternehmen der wichtigste Motor für Veränderung. Es geht dabei nicht um die Differenz, die schweigend immer schon da ist, sondern um die Unterschiede, die zur Sprache kommen können und für die es einen Ort des Sprechens gibt. Die geschlossenen oligarchischen Strukturen lassen diesen Motor stottern. Heraklit hat in einem Lob auf die Differenz gesagt: ‚Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie.‘

Märkten und Geschäftsmodellen. Das alles überdeckt die Aufgabe, die Unternehmen immer noch und immer wieder haben, sich in den Gesellschaften zu verorten und zu verstehen, was denn eigentlich ihre Aufgabe in unserer politisch, gesellschaftlichen Konfiguration ist. Eine Erinnerung an eine noch nicht erledigte Aufgabe. Krise: Wendung und Chance Im Augenblick überwiegt die Sorge und Furcht in den Gesprächen über

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die Wirtschaftskrise, über die neue große Rezession. Als sie noch eine Finanzkrise war, das ist gerade mal zwei Monate her, standen Fragen nach der Verantwortlichkeit im Vordergrund. Man war sich schnell einig: die Gier der Manager*innen, ihr bindungsloses Profitstreben, ihr Denken in kurzen Takten und ihr Streben nach einem schnellen, hohen Gewinn sind die Auslöser der Krise. Spekulant*innen und gierige Vorstände haben uns das angetan. Diese schnelle Zuschreibung zeigte Wirkung in der Gruppe der Führungskräfte – auch wenn sie oft nicht über sich selbst als Person sprachen, so begannen sie dennoch darüber zu sprechen, was es denn unter ethischen Kriterien heute heißt, ein*e Manager*in zu sein. Dieser Diskurs ist derzeit in den Hintergrund gedrängt, der Krisendruck entlastet und ethische Fragen verlieren ihre Dringlichkeit. Das wird nicht lange so bleiben. Schon jetzt spricht der Mittelstand über das Verhalten der Banken, die, selbst von Staatshilfen geschützt, die kleinen Firmen kalt in den Ruin gehen lassen. Und schon werden die Gespräche mit Führungskräften in Werken dunkler – sie stehen jetzt schon in einer Position der Rechtfertigung – sie müssen die Konsequenzen ausführen: Menschen entlassen, Bezüge kürzen, durch lange Arbeit verdiente Positionen und Arbeitsinhalte wegnehmen. Und ihnen hilft

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die Krisenrhetorik der Medien nicht mehr, sie müssen begründen, warum sie es tun und sie müssen sich fragen lassen, ob und warum es sie denn nicht trifft. Oft noch unausgesprochen eine dahinterliegende Botschaft: uns trifft es und dich, die*der du das mit verschuldet hast, dich trifft es nicht. Die Frage nach der Legitimität von Führung in einer Marktwirtschaft wird sich zurückmelden und sie wird Unternehmen zwingen, sich in ihrer Identität auch ethisch zu begründen. Noch überlässt man derzeit der Politik die gestalterische Rolle – wenn aber die Marktwirtschaft als freier Bereich der Gesellschaft überleben soll, dann müssen die Unternehmen als Handelnde in diesem System sich aus sich selbst legitimieren. Es sind die Gier und der Eigennutz als das große Fehlverhalten identifiziert worden. Es wird konzentriert den Spekulant*innen, dann den Vorständen und schließlich der Managementgruppe als Ganzes zugeschrieben. Dahinter steht jedoch das Wissen, dass viele, sehr viele über ihre Verhältnisse gelebt haben. Die Kreditvergabekriterien an so viele Hauskäufer*innen mögen fahrlässig gewesen sein, aber es waren die Vielen, die auf Kredit gelebt haben – beim Kauf der Häuser, beim Konsum über die Kreditkartenschulden. Und damit stehen wir nicht nur vor der Frage nach dem Ethos der Manager*innen, sondern nach einem

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der Grundprinzipien unserer Wirtschaftsordnung, dem Prinzip, dass egoistischer Eigennutz, dass das ‚gierige‘ Streben nach mehr im Endeffekt schließlich Allen nutzt. Adam Smith’s unsichtbare Hand, die den Markt zum Besten aller reguliert und sich dabei des Eigennutzes, der Gier als Quelle der Kraft, der Motivation bedient, ist eine der Grundfesten unserer Wirtschaftsordnung. Und sofern das Wissen um die Fähigkeiten der Marktwirtschaft nicht verloren geht, wird dieses Prinzip auch ein leitendes bleiben. Differenzierter beginnt man nun, den Neoliberalismus, die Berater*­ innengruppen um den republikanischen Präsidenten der USA herum, für das Entgleisen der Marktwirtschaft verantwortlich zu machen. Mit dieser Argumentation wird zugleich das Thema des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit angesprochen – wir erleben, wie das Pendel in Richtung Sicherheit schlägt und damit in eine Stärkung der Rolle der Staaten. (Diese erleben allerdings gerade, wie wenig nationalstaatliches Handeln geeignet ist, sinnvoll und effektvoll in dieser Situation zu handeln.) Wenn wir bei der Überzeugung bleiben, dass eine ‚freie‘ Marktwirtschaft am ehesten geeignet ist, die Bedürfnisse der Menschen nach einem ‚guten‘ Leben zu erfüllen, dann müssen wir uns fragen, welche Regulative zu ihr hinzutreten müssen, damit sie ihren Zweck zu-

verlässig und langfristig zu erfüllen vermag. In Deutschland wurde mit der ‚sozialen Marktwirtschaft‘ eine regulierte Marktwirtschaft geschaffen. Ihr zur Seite trat im rheinischen Kapitalismus ein Korporationismus, in dem Verbände, Arbeiter*innenver­ tretungen, Unternehmen und Politik zusammenarbeiteten. Dies geschah am auffälligsten in der konzertierten Aktion der ersten großen Koalition. Folgt man dieser Richtung, dann bleibt die Politik in der Pflicht, die Regulative zu formulieren und durchzusetzen. Reicht das? Heißt das nicht, dass wir uns damit abfinden, in unserem wirtschaftlichen Handeln innerhalb von Wirtschaftsorganisationen im Hang zu verantwortungslosem Eigennutz nur durch äußere Zwänge gebremst werden zu können? Die Geschichte von Unternehmen gibt uns hier andere Erfahrungen. Zum Eigennutz trat oft eine Position der sozialen Verantwortung hinzu. Sie bezog sich auf die eigenen Mitarbeiter*innen, auf die Region, in der man tätig war und je nach Größe auf eine gesellschaftliche Rolle. Neben dem Streben nach Profit, das oft ein Streben nach Erhaltung des eigenen Unternehmens ist, trat immer wieder die Rückbindung an die Gemeinschaft aus der und in der man handelte. Erst dem Neoliberalismus schreibt man zu, diese Rückbindung vernachlässigt zu haben. Sie

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war nicht konstitutionell im Unternehmertum verankert, sie war das altruistische Hobby reicher Bürger*innen. Der Privatmensch kümmert sich um die Bedürftigen, um die Kultur, nicht das Unternehmen. Gab das Unternehmen Geld aus, dann musste sich das Sponsoring und die im Zusammenhang mit sozialer Verantwortung geldausgebenden Stellen auch immer wieder fragen lassen, was denn der ‚Benefit‘ sei und der sollte sich dann auch stets an Kriterien messen lassen, die auf die Finanzzwecke des Unternehmens bezogen waren. Die privaten Menschen waren zurückgebunden an ihre ethischen Konzepte, nicht das Unternehmen. Als Marktwirtschaft und Unternehmertum noch an religiöse Kriterien gebunden war, wie zum Beispiel im Protestantismus, war die Bindung an eine Verantwortlichkeit gegenüber einer Instanz gegeben. Die christlichen Werte durchzogen viele Einzelsysteme der Gesellschaft, so auch die Unternehmen. Der englische Utilitarismus lotete die Bedingungen der freien Marktwirtschaft aus, konnte den in der Praxis wirksamen Zusammenhang von religiöser Rechtfertigung und unternehmerischen Handeln aber nicht lösen. Wenn wir uns heute die Frage nach einer Rückbindung stellen, wohin sollen wir da blicken? In die Religionen? Die Wissenschaft? Die Politik?

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Gegenüber den Verfechter*innen der Marktwirtschaft gab es schon früh Kritik. England musste nicht auf Marx und Engels warten, John Ruskin hat die Folgen der Marktwirtschaft, der Ideologie der goddes of getting on schon früh bitter und deutlich aufgezeigt. Mit Rousseau verbindet sich eine bis heute wirksame Gegenbewegung, die sich immer wieder des Rufs ‚Zurück zur Natur‘ bedient und ein nicht nach Wohlstand und Besitz strebendes Leben als Weg aus dem ‚immer weiter und immer mehr‘ der Marktwirtschaft anbietet. In den Diskussionen um Nachhaltigkeit mit ihrer impliziten Verzichtsrhetorik scheint Rousseaus Denken über den Naturzustand wieder auf, allerdings in einer in die Marktwirtschaft integrierten Form. Mit dem Anstieg der Weltbevölkerung, der Globalisierung und der Unverzichtbarkeit von Technik ist und bleibt die Marktwirtschaft die Garantin für die Aussicht auf lebenswerte Verhältnisse für alle Menschen. Umso mehr müssen wir uns die Frage stellen, ob wir Unternehmen, Unternehmer*innen und Manager*­ innen als durch die Politik gebändigte egoistische Kräfte sehen oder ob wir Unternehmen innerhalb des Rahmenwerks einer sozialen Marktwirtschaft als ethisch handelnde Subjekte begreifen können. Wenn wir die Notwendigkeit sehen, dass sich Unternehmen ethisch rechtferti-

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gen müssen, dann müssen wir allerdings auch beantworten, woher wir die Kriterien dieser Verantwortung nehmen wollen? Und damit sind wir wieder bei der Frage: Aus der Religion, den Wissenschaften, der Politik? Es wird wenig Sinn machen, auf ein bestehendes Normengerüst zu setzen. Transnationalität der Unternehmen macht sie zu Bürger*innen einer vielfältigen Wertelandschaft und in Bezug auf den Selbsterhalt haben sie hier eine integrative Pflicht. Blickt man sich um, dann kann man sich an den Überlegungen der Stiftung für Weltethos orientieren. Sie lassen sich jedoch nicht einfach verordnen – Unternehmen werden die Aufgabe haben, aus ihrem eigenen Diskurs heraus die Normen zu bilden, die sie an eine Verantwortung für die Gesellschaft und die Lebensgrundlagen rückbinden. Die Überlegungen der Diskursethik (Habermas et al.) können uns hier orientieren. Die Überlegungen der Stiftung Weltethos können ein Ausgangspunkt sein, wie es auch die Werte der Unternehmen, in den Überlieferungen der Gründer*innen verankert oder gesetzt Unternehmensleitwerte

sein können. Sie aber werden erst real, wenn sie in den Diskursen der Unternehmen selbst eine Bedeutung haben, wenn sie in einen Bildungsprozess einmünden. Blickt man auf einen Prozess der Gestaltung solcher Diskurse und ihren letztlichen Sinn einer Verantwortung in der Gesellschaft, dann kann so ein Diskurs nicht nur unternehmensintern geführt werden, sondern er sollte die ‚Gemeinschaft‘, in der ein Unternehmen handelt, mit einbeziehen. Das Unternehmen muss sich in einem fundamentalen Dialog der Gesellschaft gegenüber öffnen. Zu den Partner*innen gehören die Kund*­innen, Verbände, die Organisationen der Regionen, in der ein Unternehmen tätig ist, die Politik. Erst in einem so breit gefächerten Diskurs kann ein Unternehmen seine Verantwortung formulieren und damit aus sich selbst heraus seiner notwendigen Gier, seinem Streben nach Erfolg von Innen Grenzen setzen und so schließlich dem eigenen Management die Würde zurückgeben, die ihnen gerade in einem chaotischen öffentlichen Diskurs abgesprochen wird.

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ührungstraining Führungstraining – einmal nicht in ein Programm gepresst, sondern ein freier Austausch zwischen Menschen in Verantwortung. Sie fragen nach Orientierung jenseits der unternehmenseigenen Leitlinien. Es ist eine Gruppe asiatischer Führungskräfte. Wir lesen Abschnitte aus Max Webers Vortrag von 1919 ‚Politik als Beruf‘ und übertragen es auf Führungskräfte – ersetzen das Wort Politiker*innen immer wieder durch das Wort Führungskraft. Wir verstehen unsere Aufgabe mit Webers bekannten Satz: „Man kann sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker [und wir setzen Führungskraft ein]: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.“ Es ist eine lange und intensive Diskussion und schließlich enden wir bei einem Satz Webers: ‚Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat daher der Politiker [und wir ersetzen wieder Führungskraft] täglich und stündlich in sich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der Distanz sich selbst gegenüber.‘ Am Ende frage ich mich, ob denn eine z.B. deutsche Führungsgruppe die Geduld und Offenheit hätte, einen solchen Text zu lesen und reflektierend auf sich selbst zu beziehen.

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ührungstraining ohne Restriktion Ein anderer Satz sorgte für Diskussion und intensivere Selbstreflexion – bei manchem mit dem Ergebnis, zwar ein*e gute*r Manager*in sein zu können, aber wohl doch nicht ein ‚Leader‘. Max Weber in Politik als Beruf: „Nur wer sicher ist, dass er nicht daran zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber: ‚dennoch! ‘ zu sagen vermag, nur der hat den ‚Beruf‘ zur Politik.“ Politik hier wieder durch Leadership ersetzt. Eintauchen in den offen vor uns liegenden Bildungsschatz bringt für die eigene Selbstbestimmung oft mehr als die zu häufig Marketing getriebenen Konzepte der Managementliteratur. Und ganz nebenbei sorgt die Tiefe der Diskussion ganz von selbst für ein offeneres und ein ehrliches Teamklima.

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ynamik der Führung Philosophie der Führung und der Geführten Hegel: Herr und Knecht Das geschichtliche Urgeschehen beschreibt Hegel in dem Bild von Herr und Knecht, das gleichzeitig seine dialektische Betrachtungsweise verdeutlicht: Das menschliche Selbstbewusstsein, das die menschliche Individualität ausmacht, zeigt sich in seiner primitivsten Form als Begierde. Es ist zunächst darauf gerichtet, ihm gegenübertretende Gegenstände aufzuzehren. Tritt ihm ein anderes Selbstbewusstsein gegenüber, so kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden. „Die Selbstbewusstseine müssen sich durch Kampf auf Leben und Tod bewähren. Die Bewährung durch den Tod hebt das Leben auf. Wird dagegen das entgegenstehende Individuum nicht getötet, so tritt an die Stelle des Vernichtens die Unterwerfung bei der die Anerkennung lediglich eine einseitige ist. Es ist das Verhältnis Herr und Knecht erreicht. […] Dem physischen Dasein zuliebe, ordnet sich der Knecht dem Herrn unter und begnügt sich mit dem Sein für ein anderes Bewusstsein. Dieses dingliche, abhängige Sein ist die Kette des Knechts. Der Herr seinerseits hat sein Leben gewagt. Was ihn zum Herrn macht, ist die Tatsache, dass er den Tod nicht gefürchtet hat.

Der Herr ist Herr nicht nur über die Dinge, sondern auch über das unselbständige, knechtische Bewusstsein. Um sein Dasein zu bestreiten, bedient er sich des Knechts als Mittel zwischen sich und den Dingen. Er lässt ihn für sich arbeiten, überlässt dem Knechte die Bearbeitung des dinglichen Seins und behält sich selbst den Genuss vor, heimst also die Früchte der Arbeit des Knechts ein. Hier aber setzt die innere Gegenbewegung ein. Das Verhältnis des Herrn zu den Dingen ist nämlich ein rein passives, genießendes geworden. In Wahrheit wird nunmehr der Herr abhängig; denn die eigene Selbständigkeit gegenüber den Dingen besteht darin, dass man in der Arbeit ihrer Herr wird. Dieses adelnde Moment der Arbeit überlässt der Herr dem Knecht. Indem der Knecht zu den Dingen in ein aktives Verhältnis tritt, wird er ihnen gegenüber selbständig. Er arbeitet, während der Herr genießt. Als Knecht gestaltet er und formt er die Dinge, d.h. er bildet sie. Dadurch jedoch bildet er sich selbst. Arbeit erzeugt Selbstbewusstsein. Indem der Knecht so wirkt, überwindet er sein knechtisches Bewusstsein. […] Und umgekehrt: Wer nicht arbeitet und schafft, der geht des Herrenbewusstseins verlustig und versinkt in Genuss. Es ist das Geheimnis der Arbeit, dass sie sich letztlich als ein anderes erweist, als

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sie dem Arbeitenden selbst zu sein scheint. Während sie dem noch nicht zur Höhe stolzen Selbstbewusstseins Ge-

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langten als Mühe und Last erscheint, ist sie in Wirklichkeit die große Bildnerin der Menschen.“

on Hegel zu Marx Karl Marx deutet die Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht konflikttheoretisch und emanzipatorisch um: Alle Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, und so geknechtetes Wesen ist, sind umzustürzen. Die nicht selbst bestimmte Arbeit des Knechtes führt zur Entfremdung und Selbstentfremdung. Dies hält ihn in der Position des Knechtes und reproduziert so die bestehenden Herr­schaftsverhältnisse. Die arbeitende, in die Knechtschaft gezwungene Klasse muss zuerst zur Herrscherklasse werden, um anschließend Herrschaft abzuschaffen. Hegel wird von Marx radikalisiert, da das Kampf-und Bildungsmotiv allgemeiner gefasst es wird zum revolutionärem Modell des Umsturzes. Die Fokussierung auf die ökonomischen Verhältnisses von Herr und Knecht und von der Ökonomie her auf alle Bereiche der Gesellschaft bezogen wird. Hegels Modell ist das einer Bildung des Knechts und seiner schließlichen Transformation, Marx Modell ist das einer revolutionären Emanzipation. Blickt man auf die derzeitige Lage, so läuft wohl vieles auf Hegels Modell einer Emanzipation der Geführten heraus. Wir behandeln das heute unter dem Aspekt der Demokratisierung. Ich fürchte, dass wir Hegels Bedingung für diesen Prozess: Bildung zu sehr vernachlässigen.

5.4 Haiku

wo sind die sterne? wer zeigt dir heute den weg? trau deinen füßen

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5.4 Haiku

großer eschenbaum kommst wie immer als letzter lehrst uns das warten

5.4 Von Außen

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„What should I do about the wild and the tame? The wild heart that wants to be free, and the tame heart that wants to come home. I want to be held. I don‘t want you to come close. I want you to scoop me up and bring me home at nights. I don‘t want to tell you where I am. I want to keep a place among the rocks no one can find me. I want to be with you.“ Jeanette Winterson

„Not everything that is faced can be changed, but nothing can be changed until it is faced.“ James Baldwin

„Denken Sie an den betrübenden Kontrast zwischen der strahlenden Intelligenz eines gesunden Kindes und der Denkschwäche des durchschnittlichen Erwachsenen.“ Sigmund Freud

„Es wäre zwar möglich, alles im Leben wissenschaftlich zu beschreiben, aber das würde keinen Sinn ergeben; es wäre auch ohne Bedeutung, so als ob man eine Beethoven-Symphonie als eine Variation des Schallwellendruckes beschreiben wollte.“ Albert Einstein

6. Abwegiges – die Perspektive des Denk Sinnlich

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6.1 Einleitung

6.1 Einleitung Erstaunlich – Immer noch stellen sich Menschen in Museen bei der Betrachtung eines Bildes die Frage: ‚Was soll mir das Bild sagen?‘ Sie möchten es einordnen können, es in eine rational begreifbare Aussage verwandeln. Und wenn das Bild so benannt ist, dann können sie beruhigt weitergehen. Das Bild ist eingeordnet und hat das verloren, was am Anfang, im ersten Moment da war: Ein Wundern, eine kleine Verstörung, die Berührung von etwas anderem als das, was der eigene Kontext stetig bietet. Es geht um Perspektivenerweiterung, darum den eigenen Kontext zu verlassen und in einen anderen zu wechseln, eine Begrenztheit mit einer anderen Begrenztheit zu tauschen. Hier ist dann nichts eingeordnet und das bietet die Chance mit der kleinen Verwunderung ins Eigene zurückzukehren. Die Ratio fragt natürlich sogleich: ‚Und was mache ich jetzt damit?‘ Eine mögliche Antwort wäre: ‚Du machst nichts damit, aber vielleicht macht es etwas mit dir?‘ Natürlich nur, wenn du es zulässt. Es gibt dir nicht die Lösung deiner Probleme, aber es reichert dich an und diese Anreicherung mag dir die Chance geben, etwas Altes mit anderem Blick zu sehen. Und daraus mag dann auch eine etwas anders gerichtete Handlung entstehen.

Dein ‚mindset‘ ist etwas weiter geworden, etwas reicher, etwas pluraler. Kunst, Theater Musik sind Kontexte, die uns die Chance geben, anders angesprochen zu werden. Aber sie sind nur eine der Räume, die uns umgeben und die Chance geben ‚auszugehen‘. Als Kind war ich fasziniert und ein wenig verwirrt, wenn ich in die Wohnung eines Freundes kam. Andere Gerüche, andere Farben, andere Geschmäcker, die andere Art, sich die Schuhe zuzubinden und so viel mehr. Es war fremd und es war

6.1 Einleitung

aufregend und machte mich neugierig auf mehr. Es waren kleine Unterschiede, aber sie verschoben die Perspektive. Plötzlich konnte ich auch das Eigene, das zu Hause sehen, riechen und fühlen. Hier liegt eine Dimension verborgen, die uns das Thema Diversität öffnet – Diversität jenseits der großen Unterschiede. Es sind die kleinen Fremdheiten und Unterschiede, die uns aus der eigenen Perspektive und Selbstgewissheit hinausführen und uns etwas bereichert, etwas skeptisch in das Unsere zurückkehren las-

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sen. Der schon gegebene Pluralismus der Unternehmen und Organisationen gibt sehr viele Möglichkeiten andere Perspektiven zu erleben, neugierig zu sein, sich zu wundern und mit dem Wundern in das Eigene mit vielleicht verändertem Blick zurückzukehren. Ist das dann schon eine Lösung für meine Probleme? Nein, aber Probleme löst man nicht mit dem Blick, mit dem man sie erschaffen hat – und so mag die kleine Verschiebung der Perspektive den Blick für Lösungsmöglichkeiten öffnen.

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6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung Die Dimension Hoffnung in der Organisationsentwicklung 1. Einleitung Noch heute Morgen saß ich in einer dieser Entscheiderrunden, in denen in kurzer Taktung Worte und Folien an einem vorbeirauschen und in denen der Eindruck erzeugt wird, hier wird die Zukunft gemacht – Zukunft ist berechenbar und ausrechenbar, man kann sie machen und vielleicht sogar austricksen. Der stets mitlaufende Zweifel sucht nach den lose gewebten Stellen in den Begründungsketten, fragt nach und verlangt meistens ein noch höheres Maß an Sicherheit – die hinausgehenden Berichterstatter*innen werden draußen wieder über die Entscheidungsmüdigkeit ihres z.B. Vorstands klagen, wohingegen dieser über die Qualität der vorgelegten Begründungen seine Zweifel hegt. Was aber definitiv nicht geschieht ist, dass jemand eine Entscheidung herbeiführt, weil sein Hoffen oder sein Glaube so stark ist. Hoffnung klingt nicht nach einem Begriff, den das Management z.B. gegenüber einem Vorstand oder ein Vorstand gegenüber Shareholdern zu verwenden pflegt. Im Wirtschaftskontext klingt er eher nach Ratlosigkeit und nach einer Situation, in der nur noch hoffen hilft, weil die Mittel des Managements erschöpft sind. Diese eher ungünstige Konnotation wird verschärft, wenn man die derzeit beherrschende Entwicklung in den Unternehmen in den Blick nimmt: eine stetig schärfer und präziser werdende Betrachtung und Abwägung von Mittel – Zweck Relationen unter dem Aspekt der Wirksamkeit für ‚profitables Wachstum‘. Diese Orientierung bestimmt Stil, Haltung und Rhetorik im internen Diskurs – Hoffnung wirkt in diesem Kontext fremd. Hat Hoffnung, das beflügelnde der Hoffnung, die ja dann irgendwo Ihren Anker braucht, z.B. im Glauben, um nicht zu einem bloßen Hoffen, dem ‚einer Illusion nachjagen’ zu werden, einen Raum in der Steuerungswelt der Unternehmen? Oder ist sie eine Haltung des privaten Menschen – die keinen Eingang in das Unternehmen findet? Ich

1.1 Die Fremdheit des Wortes Hoffnung im Kontext von Management

6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

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glaube und ich will Ihnen zeigen, dass z.B. Hoffnung eine Rolle in der Steuerung von Unternehmen spielt und weiterhin spielen wird – ohne dass dies das zentrale Erfolgsmuster moderner Unternehmen ersetzt: das strikte und strenge Denken in Zweck Mittel Relationen, das sich Verlassen auf die Planbarkeit und Berechenbarkeit von Zukunft. Lassen sie mich als einen Vertreter aus der Unternehmenswelt, wenn auch jemand von den Rändern dieses gesellschaftlichen Systems, ein leichtes Unwohlsein in Bezug auf den Titel der Veranstaltung ausdrücken – Hoffnung und beflügeln – das klingt gut, frei und leicht – getrieben von Fakten, das klingt eher bedrohlich, schwer, gebunden. Ich habe etwas Zeit gebraucht, um mich aus dieser mitschwingenden Wertung zu befreien und mich daran zu erinnern, dass das Geleitetsein von Fakten (es ist nicht immer Getriebensein von Fakten) ein Grundstein unserer Moderne ist – die sich – auch der Titel zeigt es - zur Nachmoderne gewandelt hat. Aus dem Unwohlsein heraus fragte ich mich dann, was verbinden eigentlich die Teile im Titel der Veranstaltung: Beflügelt durch Hoffnung – getrieben von Fakten? Beide sprechen von Kontingenzreduzierung, davon, wie Menschen mit der schier unendlichen Offenheit der Zukunft, dem kaum Orientierung gebenden, offenen Erwartungshorizont umgehen – die einen bestehen auf der Chance der Planbarkeit, die anderen setzen die Kraft der Hoffnung und des Ankers dieser Hoffnung dagegen. Beide reduzieren Unsicherheit und Angst. Kontingenzerfahrungen, das wissen wir, sind allzuoft mit Unsicherheit und Angst verbunden – Kontingenzreduzierer vermitteln Sicherheit, geben Richtung, ‚beflügeln’ und weisen nach vorne, sofern man die Flügel nutzen will. Warum aber brauchen Unternehmen Hoffnung und kommen mit dem Vertrauen der Moderne auf die immer bessere Voraussicht und immer perfektere Planung nicht aus? Zugleich können wir aber eine andere Aufgabe se1.2 Die Gestaltung hen, der sich große, international, global agierende einer UnternehUnternehmen stellen (stellen müssen), nämlich die mensidentität als Aufgabe, eine spezifische Identität zu formulieren, kulturelle Aufgabe die einerseits dem Markt, anderseits den Mitar­ beiter*­innen die Orientierung an einem unverwechselbaren Charakter mit sinnstiftendem Potential zur Verfügung stellt. Diese Identität muss dabei so gebildet sein, dass die spezifischen

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6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

Erfolgsmuster dieses erkennbaren Unternehmens überall zur Entfaltung kommen und doch zugleich eine lokale Flexibilität erhalten bleibt. Diese Aufgabe ähnelt dem gesellschaftlichen Prozess, den wir als den Bildungsprozess von Nationen kennen. Mit dieser Aufgabe konfrontiert, gerät das Denken und Bewerten in strengen Mittel - Zweck Relationen an seine Grenzen. Der alte Unterschied zwischen Natur- und Ingenieurswissenschaften einerseits und Geisteswissenschaften andererseits, der von Erklären und Verstehen wird hier wieder sichtbar. Kulturelle Aufgaben, soziale Aufgaben, alles was mit ‚Sinn‘ zu tun hat, verlangen ergänzend einen anderen Zugang – so wie wir ihn aus der Pädagogik (vor Pisa), der sozialen Steuerung und zum Teil aus der Kunst kennen. In diesem Aufgabenfeld erhält der Begriff Hoffnung eine andere Bedeutung und kann einen wichtigen Aspekt für die Steuerung von Unternehmen beschreiben, die sich nicht ausschließlich als Profitmaschine sondern auch als eine spezifische, charaktervolle Gemeinschaft verstehen. Was will ich tun? Zunächst möchte ich mich bei den Damen und Herren von Eucusa für die Gelegenheit zu Ihnen sprechen zu dürfen bedanken – besonders auch dafür, mich mit Ihnen mit einem auf den ersten Blick doch so fremden Thema beschäftigen zu können. Inhaltlich möchte ich im Folgenden die Aufgabe der Formung einer Unternehmensgemeinschaft kurz skizzieren, danach die Rolle, die Hoffnung als inhaltlicher Zukunftsbezug dabei spielen kann,

1.3 Das weitere Vorgehen

6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

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aufzeigen und abschließend am Beispiel von Visionsbildung und der Führungsbildung andeuten, welche Auswirkungen diese Überlegungen für die konkrete Arbeit an der Entwicklung einer Organisation haben können.

2. Transnationalität – die innergesellschaftliche ­Aufgabe der Unternehmen Die erste Aufgabe 2.1 Die Formung Wieso eigentlich tritt die Aufgabe der Formung und einer Unternehder Gestaltung einer Unternehmensgemeinschaft so mensgemeinschaft sehr in den Vordergrund? Das Erfolgsrezept Toyoals Aufgabe tas wird stark als der Erfolg einer ‚Kultur‘, einer Sinngemeinschaft verstanden. So verschiedene Unternehmen wie Bosch, e.on, enbw, Inbev beschäftigen sich mit Wertefragen. Sie sprechen von Wertegemeinschaft, suchen nach Weisen, eine gemeinsame Kultur zu stiften, die den Unterschieden von Geschäften, von Märkten und von Unternehmensangehörigen eine gemeinsame, wirtschaftlich erfolgreiche Orientierung gibt. Die Arbeit an einer gemeinsamen Kultur oder einer erkennbaren Weise, das eigene ‚Geschäft‘ zu gestalten, ist eine Form der Unternehmenssteuerung. Ähnlich wie die Zugehörigkeit zu einem Kulturkreis sorgt sie dafür, dass Mitglieder dieser Gemeinschaft gemeinsame Bewertungs- und Verhaltensmuster aufweisen. Diese Steuerung über die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Gemeinschaft bestimmt das Handeln unabhängig von der Führungskaskade. In der Arbeit an dieser gemeinsamen Identität steht derzeit neben der Durchsetzung der Gemeinsamkeit über das gesamte Unternehmen hinweg, die konsequente Prüfung der ‚Nützlichkeit‘ der eigenen Kultur für die Unternehmensziele im Fokus. Wenn es nicht nur um eine gewachsene Kultur geht, sondern um eine auf zukünftige Erfolge hin geformte Identität (Identität und Kultur bezeichnen in diesem Zusammenhang für mich denselben Sachverhalt), dann entsteht die Frage, was gehört zu einem solchen Vorgehen zwingend dazu, um in einer großen Gemeinschaft wirksam zu werden? Eine erste Antwort ist, dass dann ‚Sinnaspekte‘ und damit für Menschen eher existentielle Dimensionen in der Unternehmensidentität abgebildet sein müssen. Mitarbeiter*­innen müssen dann ethisch, emotional und

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6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

existentiell von der Kultur ihres Unternehmens angesprochen sein. Nur dann werden auch die eher konkreten, geforderten Handlungsaspekte der Kultur, wie Qualitätsbewusstsein, Verantwortungsbereitschaft etc. wirksam werden können. Unternehmen, die die implizite Steuerung des Verhaltens nicht den heute in der Regel vielfältigen Herkunftskulturen überlassen wollen, sondern auch die kulturelle Steuerung zweckgerichtet gestalten wollen, müssen sich der Aufgabe der bewussten Formung einer Kultur stellen. Diese Notwendigkeit wird durch eine weitere Aufgabe verstärkt. Die großen Unternehmen – auch wenn sie sich immer noch aus ihrer Herkunft national verstehen, verstehen wollen - sind heute transnational. Sie sind nicht nur international oder global, sondern transnational, was bedeutet, sie bilden eine Gemeinschaft, die in ihren Zugehörigkeiten, Verantwortungen, Rückbezügen keine dominierende Wurzel mehr in einzelnen nationalen Zugehörigkeiten haben, sondern diese Wurzeln mehr und mehr in und aus ihrer eigenen Kultur bilden. Diese Kultur muss die Fähigkeit haben, transethnisch, transreligiös und transnational zu sein, eine gemeinsame stark verhaltensprägende Mitte zu bilden und zugleich so offen zu sein, dass sie jeweils lokale Anpassungen erlaubt, ohne dabei gravierende Widersprüche zu produzieren. Die einfachste Formulierung für diese Aufgabe besteht darin, sich zu fragen, wie kann ich als ‚Vorstand‘ sicherstellen, dass Mitarbeiter*innen in Österreich, in Brasilien und in Indien unsere Vorgehensweisen und Absichten in ein grundsätzlich gleiches, wenn auch lokal angepasstes, Verhalten umsetzen? Kontrollinstrumente können hier nur begleitende Erziehungsmittel sein – die eigentliche Steuerung wird über die Zugehörigkeit zu einer spezifischen, attraktiven und sinnstiftenden Unternehmenskultur geleistet.

2.2 Transnationalität

Und damit stehen wir vor der eingangs genannten Aufgabe zu bestimmen, was denn dazu gehört, wenn eine Kultur eine solche Steuerungsrolle übernehmen muss. Um Verhalten steuern zu können, sind die sogenannten intrinsischen Motivatoren von besonderer Bedeutung. Die Lust, Aufgaben, die herausfordernd sind, selbst und eigenständig lösen und den Erfolg unmittelbar spüren zu kön-

2.3 Soziale Steuerung von Verhalten

6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

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nen, ist gut untersucht – allerdings gibt es solche Arbeitssituationen in einer komplexen und in Prozessen arbeitsteilig gegliederten Unternehmenswelt nicht so häufig. Krisenprojekte mittlerer Größe bieten die dazu geeigneten Bedingungen, das geordnete Arbeitsleben weniger oft. Intrinsisch sind aber auch die Motivatoren, die aus der Übernahme von Verantwortung für eine Gemeinschaft resultieren, der ich mich verpflichtet fühle und für deren Ziele und Zwecke ich mich einsetzen möchte, weil sie mich auch existentiell berühren. Diese, mein Verhalten bestimmende und mich zu einem Verhalten motivierende Gemeinschaft muss dafür bestimmte Bedingungen erfüllen - sie muss selbst einen Sinnbezug aufweisen, der über den wirtschaftlichen Erfolg hinausgeht, der nicht im ‚Heute‘ aufgeht und der die Kraft hat, mich emotional, existentiell anzusprechen. Dieser Aspekt wird einerseits, so zeigen es die Erfahrungen aus Coachingprogrammen, für ältere Mitarbeiter*innen ab ca. 40 Jahren bedeutsamer und gewinnt anderseits für das Zugehörigkeitsgefühl von Mitarbeiter*innen anderer Kulturen stetig größere Bedeutung. Genau in diesem Aufgabenfeld nun kann dem Begriff, der Idee von Hoffnung eine große Bedeutung zukommen. Sie ist das Konzept der Menschen, das zukünftigen Sinn und zukünftige Erfüllung verspricht und dabei zugleich den Zeithorizont für ein mögliches Erreichen aufweist – ein Horizont, der es uns ermöglicht mit dem ‚Noch Nicht‘ oder ‚Erst Ein Wenig‘ in der Gegenwart zurechtzukommen. Um diese Leistung des Konzeptes ‚Hoffnung‘ darzustellen, möchte ich mich der zweiten Aufgabe zuwenden und den Begriff Hoffnung kurz erläutern.

3. Hoffnung als Gegenwart von Zukunft Die zweite Aufgabe 3.1 Der Begriff Hoffnung bezeichnete im Kontext der altgriechiHoffnung: zwischen schen Kultur eine auf Wahrscheinlichkeit beruhende WahrscheinlichAnnahme und Voraussicht in Bezug auf die Zukeitsrechnung und kunft. Sie extrapoliert aus der gegenwärtigen Situaexistentieller tion und leitet so zukünftige Wahrscheinlichkeiten Zuversicht ab. Emotional begleitet die Hoffnung stets ein gewisses Maß an Beunruhigung und Unsicherheit. Erst spät erhält sie bei Thukydides den zusätzlichen Aspekt, ‚Trost in der Gefahr‘ zu

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6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

sein. Im Kern ist sie rationale Voraussicht oder aber pejorativ illusionäre Annahme. In dieser Begriffsbestimmung entspricht sie dem zuvor angesprochen Denken des Managements, einem Rechnen mit und über die Zukunft, welches sich aus einer Analyse der Gegenwart begründet. Im Alten und dann im Neuen Testament des jüdisch-christlichen Kulturraums tritt eine neue Dimension des Hoffnungsbegriffes auf: Hoffnung als existentielle Zuversicht. Hier gründet Hoffnung in der Zukunft, in einer Verheißung und gewinnt über die Antizipation des ‚Verheißenen‘ konkrete Bedeutung für das Handeln der ‚Hoffenden‘ in der Gegenwart. Letztlich gründet Hoffnung in Vertrauen, Vertrauen in die Zukunft und innerhalb der Religionen Vertrauen in Gott. Damit haben wir drei Aspekte des Hoffnungskonzepts: 1. illusionäre Annahmen 2. rationale Voraussicht und 3. existentielle Zuversicht. Nur der letzte Aspekt ist hier für das Thema einer auf die bewusste und zweckgerichtete Bildung einer Unternehmensidentität gerichtete Organisationsentwicklung von Bedeutung. Diesen möchte ich etwas genauer betrachten Die in der Hoffnung wirksam werdende existentielle Zuversicht gründet in einer ideellen Zukunftserwartung, die im religiösen Kontext in einem Vertrauen in Gott gegründet ist, in einem weltlichen Kontext in dem Zukunftsvertrauen, das seine Quelle in der vernunftgeleiteten Gestaltungskraft menschlicher Gemeinschaften hat. Hoffnung bezieht sich auf eine beschriebene gute Zukunft und auf das Vertrauen, dass diese Zukunft Wirklichkeit werden kann. Hoffnung gründet hier in einem Zukunftsversprechen, das entweder Gott der Menschheit oder ein ‚wir‘ einem ‚uns‘ gegeben hat. Dem Vertrauen in die Zukunft entspricht Hoffnung als Haltung – etwas antizipieren, was noch nicht da ist, sich dabei möglichst so zu verhalten, als ob es schon sei und so tatsächlich einen Teil zu einer möglichen Realisierung zu leisten. Unternehmen geben Zukunftsversprechen und sie benötigen, damit diese Versprechen Realität werden können, das Vertrauen von Mitarbeiter*­innen und von Kund*innen. Die Aufgabe ist es, die Zukunftsversprechen so zu gestalten, dass sich tatsächlich Hoffnung im Sinne von ‚tieferer Zuversicht‘ bei den Stakeholdern (um den technischen Begriff zu verwenden) ausbilden kann. Eine

3.2 Zukunftsversprechen als Fundament einer Gemeinschaft und Hoffnung als notwendige Haltung

6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

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stabile Unternehmensgemeinschaft, die ihre Kultur, ihren Verhaltenskodex, ihre Bewertungsmodelle gegenüber der Vielzahl anderer religiöser, ethischer, ethnischer etc. Herkünfte und Zugehörigkeiten stark machen will, muss um das Vertrauen in das eigene Zukunftsversprechen werben und benötigt die starke ‚Hoffnung‘ aller Beteiligten als zuversichtliche Haltung. Nur so lassen sich von allen die unvermeidlichen Misserfolge, Widersprüche, Abweichungen und Korrekturen auf dem langen Weg frustrationstolerant ertragen. Das dürfte im Übrigen einer der wesentlichen Faktoren im Erfolg des Toyota Modells sein.

4. Die Zukunftsoffenheit von Hoffnung als ­Entwicklungschance Die Zukunftsversprechen der Unternehmen müssen dabei nicht unbedingt von der Gegenwart ausgehen, sondern können wahrhaft visionär sein – sie setzen die erhoffte Zukunft als Grund für gegenwärtiges Handeln. Damit gewinnt Hoffnung ihre normative Kraft. Luther hat diesen Aspekt besonders betont – er lehnte die Idee der

6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

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Hoffnung in die Zukunft als die Erwartung einer angenehmeren Verlängerung der Gegenwart deutlich ab. Er sah Hoffnung offen gegenüber radikal Neuem, etwas, das noch nicht vorausgesehen war und nur sehr undeutlich skizziert werden konnte. Hoffen ist dann nicht die mehr oder weniger rationale Zuversicht, dass das Zukunftsversprechen schon eingelöst wird, sondern die nun tatsächliche existentielle Zuversicht, dass man allein oder gemeinsam auf das Eintreten einer guten Zukunft hoffen kann. Wo Luther dies noch in seinem Gottesvertrauen begründet, begründet Ernst Bloch diese Hoffnung in seinem Vertrauen in die Gemeinschaft von Menschen, die zusammen an einer Zukunft arbeiten, die jetzt noch nicht da ist, die aber durch gemeinsame Anstrengung möglich wird. Damit führt uns das Konzept Hoffnung wieder nahe an den Gedanken einer Unternehmensgemeinschaft, die einen erkennbaren und deutlich verhaltensteuernden Charakter (Kultur) hat, weil sie als Gemeinschaft an einer Zukunft arbeitet, die sie als sinnvoll und gut bewertet und von der sie so viel wie möglich in der Gegenwart im eigenen Handeln antizipiert. Neben ihrer Bedeutung für Gemeinschaften ge4.1 Die hoffende winnt die Haltung der Hoffnung auch eine BedeuFührungskraft als tung für die Bestimmung eines geeigneten Charakgelassene Autorität ters von Führungskräften. Eine Führungskraft sollte gelassene, um nicht zu sagen heitere Autorität ausstrahlen. Die Wurzel einer solchen Autorität kann in der Hoffnung liegen. Nur wer eine inhaltlich gefüllte Zukunftszuversicht hat und dabei zugleich die Kontingenz der Wege der Vorsehung akzeptiert, kann gelassen sein. Thomas von Aquin hat diesen Aspekt benannt, als er Hoffnung als die Tugend der rechten Mitte zwischen Hochmut und Resignation bestimmte. Dabei schafft die Hoffnung das Vertrauen und die Zuversicht in Bezug auf die Zukunft, die dann zu einem gelassenen und geduldigem Verhalten führen. So gründet Autorität in Hoffnung. In einer existentiellen Hoffnung gegründete Autorität von Führungskräften wiederum ist die Grundlage, damit in einer Gemeinschaft und in einem Unternehmen die Zukunftszuversicht aufgebaut werden kann, in der eine starke Kultur ihren Anker findet. Zukunft braucht so nicht nur Herkunft, sondern das, was Bloch ‚Heimat‘ genannt hat, die gemeinsame Arbeit an der Realisation eines ‚Noch Nicht‘.

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6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

5. Hoffnung verändert die Aufgabe einer Visions-/ Missionsbildung Die bisher vorgestellten Überlegungen legen einen Gedanken nahe: Die interne Steuerung großer Unternehmen, die zunehmend einer stärker werdenden internen und externen Differenzierung gegenüberstehen, kann (oder) muss auf Integrations- und O ­ rientierungsformen zurückgreifen, wie sie in menschlichen Gesellschaften entwickelt worden sind. Diese kulturbestimmten Formen können nicht nur rational angelegt sein, sondern müssen den emotionalen, sinnhungrigen und bedeutungsbedürftigen Charakter von Gesellschaftsmitgliedern berücksichtigen. Das Konzept Hoffnung kann dies leisten und hat darüber hinaus den Vorteil, mit vielen Managementinstrumenten kompatibel zu sein. Es selbst ist kein Instrument, sondern eine Haltung, die sich in den Instrumenten ausdrücken kann. Hoffnung setzt dabei einen hohen Anspruch: Im Unternehmen selbst muss die Führung beginnen, eine inhaltlich gefüllte Zukunftszuversicht aufzubauen, die die Frage beantwortet, warum es für Mitarbeiter*innen, für Kund*­innen, für die Menschen eigentlich bedeutsam ist, dass es dieses Unternehmen mit seiner ideellen Perspektive gibt. Eine solche Zukunftserzählung, die, um mit Bloch zu sprechen, mit ihrem fernen Licht die Gegenwart erleuchtet und so gegenwärtiges Handeln zu bestimmen vermag, muss allerdings wahr sein – das heißt die Erzählenden selbst müssen von ihr erfüllt sein. Ich bin Ihnen nun noch schuldig zu zeigen, welche konkreten Auswirkungen diese Gedanken für bestimmte gängige Arbeitsformen in der Organisationsentwicklung haben können - ihnen sozusagen im Nachhinein die praktischen Folgen anzudeuten. Dazu wende ich mich zunächst dem Instrument der Visionsbildung zu. Wenn ich noch einmal auf das Erfolgsmodell Toyota blicke, so fällt auf, dass der Visionszeitraum dieses Unternehmens sehr, sehr weit ist – er strebt Unendlichkeit an. In europäisch, amerikanischen Kontexten wird dies selten akzeptiert – ein Visionszeitraum ist in der Regel so gefasst, dass er als Planungsgrundlage dienen kann, also mehr oder weniger den Handlungsnahraum eines weitsichtigeren Managements umfasst. Der von Toyota gewählte Zeitraum hat Auswirkungen auf die Rolle der Vision in der Gegenwart.

5.1 Zeiträume – eine lange P ­ erspektive

6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

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Die Vision beschreibt ein Ideal, das man innerhalb des eigenen Arbeitslebens nicht erreichen kann – man arbeitet an einem Schritt, damit die Nachfolgenden den nächsten Schritt tun können. Ähnlich wie ein Gebirgsbauer einen Wald setzt und weiß, dass weder er, noch sein Sohn das Holz ernten werden, er es aber für die Kontinuität des Ortes und der Familie tut, arbeitet ein*e Mitarbeiter*in dann für die Zukunft und übernimmt Verantwortung für sein Unternehmen, damit es Zukunft gibt. Ihr Tun beschränkt sich nicht auf das über Geld abgegoltene Tagesgeschäft, sondern bezieht sich auf etwas, das man gemeinsam für die Gesellschaft, für die Zukunft tut. Bei dem Gebirgsbäuerinnen*bauern können wir sehen, wenn der Glaube an die Kontinuität der eigenen Familie und des eigenen Ortes verloren geht, dann geht auch die Kraft verloren, für die Zukunft ‚anderer’ zu arbeiten. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, der Glaube an ihre Kontinuität sind die Grundlage für eine über den Tag hinausgehende Verantwortungshaltung. Verantwortung ist in Bezug auf eine Zukunft gebildet und sie ankert in einem ‚Wir‘, für das ich in Bezug auf diese Zukunft verantwortlich bin. Nahe Visionszeiträume bleiben zu eng am Tagesgeschäft, um die nötige Verantwortungsspanne aufzubauen – erst der weite Blick in die Zukunft und das klare Verständnis der eigenen Rolle auf dem Weg dahin (mein Tun dient anderen und in dem es anderen dient, dient es uns) macht eine übergreifende Verantwortung möglich. Erst der ferne und weite Blick macht es möglich visionär, konkret utopisch oder ideell anspruchsvoll zu sein. Deshalb plädieren wir für eine weit in die Zukunft gespannte Vision – damit ist dann die Zeitdimension für eine hoffende Unternehmensgemeinschaft aufgespannt. Wenn es erlaubt ist, weit in die Zukunft zu blicken, 5.2 Inhalte – die dann kann man sich von der Fixierung auf relative Qualität des ‚Wir’ Ziele lösen – von all den komparativen Zielen des als erhoffte Zukunft ‚besser‘, des ‚größer‘ usw. Man kann beginnen über absolute, ideelle Ziele nachzudenken – sei es, die Perfektion in der eigenen Arbeit oder in den eigenen Produkten anzustreben, sei es, sich einer umfassenden gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen, sei es, an einem Unternehmen zu arbeiten, das Zusammenarbeit und gemeinsame Verantwortungsübernahme exzellent realisieren möchte. Ideelle und anspruchsvolle Ziele haben die Chance, Menschen in ihrem tiefen Bedürfnis nach Sinn zu

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6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

berühren und sind daher die Grundlage für die Ausbildung eines verantwortungsbewussten Zugehörigkeitsgefühls. Erst wenn die Vision sich große Ziele steckt und wenn in ihr ein ‚Uns‘, ein ‚Wir‘ mitgedacht ist, kann sie der Bezugspunkt für eine Hoffnung sein, die zugleich die Kraft gibt, sich mit dem gegenwärtigen, noch nicht perfekten Zustand aktiv zu beschäftigen. So gilt unser Plädoyer hier dem Mut, sich weite und große Ziele zu setzen und darauf zu achten, dass eine Vision stets das ‚Wir‘ der für die Erreichung der Vision Handelnden als ein zu erhoffendes Zukunftsbild mit beschreiben sollte. Eine solche Vision kommt dem nahe, was Bloch eine konkrete Utopie genannt hat. Eine solche Vision sollte dann nicht in Broschüren verschwinden, sondern tatsächlich ‚dramatisiert‘ in der Kommunikation genutzt werden. Sie braucht als Medium eine gesteigerte Erfahrung, die sich fast nur in dialogorientierten Kommunikationen erreichen lässt.

6.  Hoffnung als Haltung – die Bildung von ­Führungskräften Im Zentrum der Qualität von Unternehmen stehen nach wie vor die Führungskräfte und deren Qualität. Inzwischen gibt es viele und gute Angebot zur Steigerung der Managementfähigkeiten dieser Gruppe, auch die Vernetzungskonzepte sind inzwischen ausgereift. Was immer noch wenig ausgeprägt ist, sind Möglichkeiten an

6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

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der ‚menschlichen Kompetenz‘, am ‚Führungscharakter‘ zu arbeiten. Zum Teil fehlt dafür auch die Grundlage – wonach wollen wir die ‚menschliche Qualität‘ messen? Oder präziser gefragt: Was ist die Grundlage für die in einem Unternehmen gültige ethische und kulturelle Orientierung von Führungskräften? Das Konzept der Hoffnung kann hier einerseits Hinweise auf Inhalte und anderseits Anregungen zur Gestaltung von ‚Führungsbildung‘ geben. Diesen Aspekt möchte ich zum Abschluss kurz ansprechen. Thomas von Aquin bestimmte Hoffnung als die Tu6.1 Die Tugend gend der Mitte zwischen Hochmut/Vermessenheit der rechten Mitte und Resignation. Sowohl der Hochmut, als Überschätzung der eigenen Mächtigkeit und Verfügungsgewalt über die Zukunft als auch die Resignation als mutlose Müdigkeit des Geistes sind für ihn menschenunangemessen. In der Hoffnung sieht er einerseits die Zuversicht, die zum Handeln leitet und zugleich die Bescheidenheit, die die prinzipielle Kontingenz der Zukunft anerkennt und damit zukunftsoffen und lernfähig bleibt. Eine Führungskraft, die sich mit ihrem und mit dem gemeinschaftlichen Zukunftsbezug inhaltlich auseinandersetzt und dabei ihr gegenwärtiges Handeln als sinnerfüllt für eine zu erstrebende Zukunft sieht, entwickelt die Tugend der Hoffnung, die gelassene Autorität zu geben vermag. Eine solche Gelassenheit vermeidet falschen Eifer beim Streben, ohne deshalb das Streben aufzugeben und sie verleiht diejenige Weisheit, die sich zwischen der Gleichgültigkeit des Fatalismus und der hektischen Betriebsamkeit der Ungeduld zu behaupten weiß. Die Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Zukunft im Modus der Hoffnung ist ein eigener Zugang zur Charakterbildung von Führungskräften. Zugleich begründet ein hoffender Zukunftszugang 6.2 Die Zuversicht die notwendige Kraft in einer gegenüber den eigeund Kraft stetig nen Ansprüchen stets zurückbleibenden Gegenwart am ‚Noch Nicht‘ stetig an der Erreichung der projizierten Zukunft zu zu arbeiten arbeiten. Wenn es wahr ist, dass wir unsere Gegenwart tätig gestalten, indem wir uns auf das Ideal einer konkreten Utopie beziehen und wir nur dadurch in der Lage sind zu verändern, dann brauchen wir hoffende Führungskräfte, die Mitarbeiter*innen den Sinn der gemeinsamen Anstrengung am

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6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

stetigen ‚besser‘ und am immer wiederkehrenden ‚anders‘ durch ihre Ausstrahlung vermitteln können. Sinn kann nur durch das Vorbild derer, die von Sinn erfüllt sind kommuniziert werden. Die Erwartung an Führungskräfte ist es, ihre Hoffnung in eine Erzählung zu fassen, die Emotion und Kognition anspricht und die Zukunft mit Tradition verbindet. Anders als eine rein sachliche Vision oder die Aufstellung strategischer Ziele bildet die erzählte Hoffnung einen Projektionsraum für alle, innerhalb dessen die Zukunft und die Arbeit an der Zukunft als sinnvoll erlebt werden kann. Das Konzept der Hoffnung als Teil der Zukunftsorientierung von Unternehmen zielt auf eine Gemeinschaft, die frustrationstolerant die Gegenwart in Bezug auf die angezielte Zukunft verändert. Eine solche Gemeinschaft muss gebildet werden. Der dafür wichtigste Baustein, die Führungskräfte und deren hoffendes Zukunftsbild ist schon angesprochen worden. Ein andere Aspekt in der möglichen Umsetzung betrifft die Art und Weise, wie ‚Bildung‘ in einem solchen Zusammenhang betrachtet wird. Wenn man noch einmal den Vergleich mit der Bildung von Nationen wagt, dann ist festzustellen, dass die wesentliche Arbeit im Aufbau eines Nationalgefühls und dem Aufbau eines ‚Nationalcharakters‘ über die Bildungsinstitutionen erreicht worden sind. Am Beispiel Frankreichs lässt sich dieser Prozess gut analysieren. Die gemeinsame (Hoch)-Sprache, ein gemeinsamer Bildungskanon, eine bestimmte Art zu schreiben usw. wurde in den Schulen vermittelt. Dieses Gemeinsame, in dem zugleich ein bestimmtes Bewertungsschema gelernt wurde, ist die Basis einer erkennbaren eigenen Kultur. Auch heute ist Bildung und Zugehörigkeit zu Bildungskreisen ein wesentlicher Faktor in der Identitätsbildung von Menschen und Gruppen. Wir glauben, dass dieser ‚pädagogische‘ Zugang zur Gestaltung einer auf die Zukunft hin ausgerichteten Leistungsgemeinschaft noch nicht hinreichend genutzt wird. Es geht hier darum, mit dem konkreten Lernen zugleich auch Teil einer Gemeinschaft zu werden, ihre Verhaltens- und Bewertungsmuster zu verstehen und sich als Teil dieser Gemeinschaft verstehen zu lernen. Die gemeinsam geteilte Hoffnung an etwas sinnvollem Teil zu haben, ist hierfür die Voraussetzung.

6.3 Der Blick auf die Bildung einer Zukunfts­ gemeinschaft

6.2 Glaube, Liebe, Hoffnung

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7. Sowohl als auch – Aufgaben zwischen Management und Leadership Eine kulturell orientierte Organisationsentwicklung, auf die ich mich hier konzentriert habe, ist immer ein ‚auch‘, sie tritt hinzu und entfaltet ihre Wirkung, wenn die Managementaufgaben zugleich exzellent erfüllt werden. Zukunft hat nur das Unternehmen, das in der Gegenwart die Forderungen der Kapitalgeber zu erfüllen vermag. Auf dieser Basis erst wird die Frage nach der inhaltlichen Gestaltung des ‚Noch Nicht‘ virulent. Und erst dann kommt Hoffnung als die Haltung und Eigenschaft von Menschen ins Spiel, die es uns erlaubt das ‚Noch’ inhaltlich zu füllen und das ‚Nicht‘ in ein ‚Da‘ zu verwandeln. Hoffnung und Faktenorientierung – ihre Funktion erfüllen beide. Ohne die erfolgreiche Orientierung an Fakten, am analytischen Vorausberechnen, an der konkreten, kontrollierten Zukunftsarbeit gäbe es keine Unternehmen. Sich den Fakten zu stellen, mutig, beherzt und ehrlich ist eine Qualität des Managements. Die Orientierung an Fakten schafft die Grundlage für Bestand und Erfolg – und damit für die Zukunft. Aber es bleibt ein Ungenügen, eine Unbefriedigtheit. Hoffnung beschreibt ein Konzept, das das Ungenügen beruhigt aber auch zu nutzen vermag. Hoffnung öffnet die Zukunft und ermöglicht Neues, Anderes. Blickt man auf Organisationen, dann ist es das ‚Sowohl als Auch’ das erfolgreiche Unternehmen ausmacht, ist es das ‚Sowohl als Auch’, das gute Führungskräfte auszeichnet.

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6.3 Zwischenrufe

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A

uf Facebook erreichen mich täglich Aufforderungen, auf ‚Gefällt mir‘ zu klicken. Tue ich es nicht, wird mir unmissverständlich mitgeteilt, ich sei ein schlechter Mensch. Mal ist es ein krebskrankes Kind, das 1000 oder 10.000 Klicks braucht. Klicke ich nicht ‚Gefällt mir‘, bin ich an seinem Leid mitschuldig. Ein anderer gibt mit die Wahl: Ein ‚Gefällt mir‘ für ‚I love Jesus‘ oder Buddha oder wen auch immer – tue ich es nicht, dann lande ich in der Hölle. Ein Hund, entlaufen irgendwo im Norden Deutschlands – ich, irgendwo in der Welt weilend, soll es teilen – tue ich es nicht, bin ich moralisch abqualifiziert. Eine politische Meinung, zu einem Klick ‚Gefällt mir‘ aufgerufen. Nicht zur Diskussion, sondern zur bedingungslosen Zustimmung – tue ich es nicht, bin ich Verräter an der guten und richtigen Sache. Ich bin es müde, zur Hilfe aufgerufen zu werden, die zugleich mit

K

ulturelle Differenz Eine alte Fabel Es fallen zwei Frösche in eine Schale mit Sahne. Die Innenwände sind sehr glatt. Sie können nicht mehr herausklettern.

einer moralischen Erpressung daherkommt. Es gibt einen Unterschied zwischen der Aufforderung zur Hilfe und einer Erpressung zur Hilfe. Die Letztere ignoriere ich und nehme gerne in Kauf, als schlechter Mensch bezeichnet zu werden. Und es gibt einen Unterschied zwischen der Aufforderung, Meinungen und Auffassungen zu diskutieren oder sie bewaffnet mit moralischem Einschluss oder Ausschluss zu dekretieren – wir haben doch genügend schlechte Erfahrungen mit solchen Kampfgemeinschaften aus jeder politischen Ecke gehabt. Und ich bin es müde, das jede*r, der eine mir nicht gefallende Meinung hat, moralisch und voller Entrüstung abqualifiziert wird. Wer bin ich zu glauben, dass ich in dieser komplexen Welt den Durchblick habe. Hatten wir nicht die Lektion sehr schmerzhaft gelernt, dass Gleichschaltung und Ausschließung zu nichts Gutem führen?

Der eine Frosch ergibt sich in sein Schicksal, er sinkt zum Boden und stirbt. Der andere Frosch strampelt und strampelt und mit aller Energie, aller Entschlossenheit und Durchhaltevermögen tut er dies für eine

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lange Zeit. Und auf einmal merkt er, wie unter seinen Füßen sich etwas Hartes bildet. Und mit zusätzlich gewonnener Hoffnung strampelt er weiter, bis er auf einem Hügel von Butter sitzt und aus der Schale springt. Die Moral: Gib niemals auf, versuche weiter, sei entschlossen, kämpfe und du wirst belohnt werden. (Wobei wir nie erfahren haben, was aus dem entschlossen kämpfenden Frosch geworden ist.) Eine europäische Fabel, die gerne in Führungsseminaren erzählt wird. Und diese Fabel erzählt in einem buddhistisch geprägten asiatischen Land? Es fallen zwei Frösche in eine Schale mit Sahne. Die Innenwände sind sehr glatt. Sie können nicht mehr herausklettern. Der eine Frosch

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kämpft, strampelt mit all seiner Kraft, will mit aller Entschlossenheit aus der Schale, will wieder nach oben, zum Rand kommen. Er erschöpft sich und nach einer Weile sinkt er kraftlos zu Boden und stirbt. Der andere Frosch bleibt mit ruhigen Bewegungen an der Oberfläche, nimmt wahr, was um ihn ist und in ihm ist. Und nach einer Weile schließt er die Augen und lässt sich friedlich zu Boden sinken. Und er öffnet die Augen und sitzt auf dem Tisch, denn die Schale war zersprungen. Eine Illusion war gegangen. Und die Moral: Vertraue dem, was geschieht, bleibe ruhig und es löst sich, was gelöst werden muss. In welchen Situationen sollten wir welche Version erzählen?

E

ine Griechenland-Demonstration mit sehr eigenem Geschichtsverständnis, eine Gruppe von Punks und Ökos in seltener Einigkeit: ‚Jetzt sind wir auch für den Austritt Griechenlands und der Schäuble ist wohl doch ok!‘, ein Junggesellenverein fordert laut zum Biertrinken auf und tut‘s auch kräftig, ein schmächtiger junger Mann singt per Megaphon ‚Hari Krishna!‘, dazwischen. Es weht die Regenbogenfahne, dann die Glocken des Doms – in der Stadt lässt es sich leben.

I

n fast allen Changeprojekten oder Organisationsentwicklungsreisen stoßen wir an die Barrieren der vertikalen Organisation – sie begrenzt die Energie der horizontalen Netz-

werke, in der fast alles Wissen der Organisation gespeichert ist. Immer wieder scheitern horizontale Ansätze am Primat der Vertikalen, der hierarchischen Verfasstheit der Unternehmen.

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Das Festhalten an diesem Primat der Vertikalen liegt ein tiefer Glauben zu Grunde, nur so ein Unternehmen führen und kontrollieren zu können. So glauben Unternehmen weiterhin an Ausleseprozesse und versuchen eine Führungselite zu bilden – die aber ist immer eine alte Elite, ist immer von gestern. Das war in der Vergangenheit, als die Entwicklung der Märkte, die Entwicklung der technischen Möglichkeiten, die Entwicklung der Bedürfnisse langsam waren, unproblematisch. Jetzt aber, in der dynamisch beschleunigten Welt, in der das Unerwartete stets schon am Horizont wartet, ist es eine Blockade. Für die Übergangszeit wird es wohl nötig sein, dem Horizontalen

mehr Aufmerksamkeit zu schenken, den in der Breite der Organisation verborgenen Clustern Stimmen zu geben. Urban gardening war die erste gelebte Metapher für diese Situation: Menschen gestalteten jenseits behördlicher Betreuung den Stadtraum, nahmen ihn in Besitz, Durchwegung ist die aktuelle Metapher, Wege durch die Stadt jenseits der Straßen- und Verkehrsplanung. Hier liegen die Zugänge für das Wissen und Können der Zukunft. Nicht mit dem Umzeichnen der Organigramme wird eine Organisation flacher, sondern durch durchwegtes Gespräch, der Schaffung anderer Begegnungsräume – seien sie analog oder digital.

6.4 Haiku

durch träume wandern dich unter bäumen sehen die zeit anhalten

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6.4 Haiku

was öffnet sich dir während der krokus blau blüht braunen boden bricht

6.4 Haiku

durch den wald laufen von deiner hand gehalten die welt erobern

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6.5 Von Außen

„The greatest enemy of knowledge is not ignorance. It is the illusion of knowledge.“ Stephen Hawking

„Das Vertrauen, das die Menschen in ihre Überzeugungen haben, ist kein Maß für die Qualität der Beweise, es ist kein Urteil über die Qualität der Beweise, sondern es ist ein Urteil über die Kohärenz der Geschichte, die der Verstand sich geschaffen hat. Recht häufig können Sie aus sehr wenigen Beweisen sehr gute Geschichten entwickeln, wenn es wenig Beweise gibt, keinen Konflikt, wird die Geschichte gut. Die Menschen neigen dazu, einen großen Glauben, großes Vertrauen in Geschichten zu haben, die auf wenig Beweisen basieren.“ Daniel Kahneman

„There is some kind of a sweet innocence in being human - in not having to be just happy or just sad - in the nature of being able to be both broken and whole, at the same time.“ C. Joybell C.

7. Humanismus und Somaästhetik

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7.1 Einleitung

7.1 Einleitung Kopf und Hand – Kopf und Herz – Kopf und Hand und Herz Auf dem Weg zu einem sinnlichen Unternehmen? Ästhetik hat an Bedeutung gewonnen. Ging man vor wenigen Jahrzehnten in ein Unternehmen, vor allem dorthin, wo es seine Produktionsstätten hat, dann begegnete man einer grauen, einfältigen Architektur und einer minimalen Innengestaltung, die man freundlich gesagt als zweckdienlich beschreiben konnte, für die Sinne jedoch besser als hässlich zu beschreiben waren. In der Öffentlichkeit und dem Marketing wurde eine ästhetisch gestaltete, durchdachte Fassade gezeigt, in der inneren Arbeitswelt dominierte unsinnliche Zweckdienlichkeit. Das hat sich geändert. Unternehmen versuchen Räume zu gestalten, die sinnlich sind, die zu Sinnen sprechen – Farben, Abwechslungen, variierende Formen – es werden Arbeitsräume geschaffen, die auch Räume sind, in der sich der ganze Mensch wiederfindet. Das kann nicht nur äußerlich sein. An der Karriere des Wortes ‚Leidenschaft’, in Unternehmen gerne englisch mit dem Wort ‚passion’ gesprochen, zeigt sich, dass die Ästhetisierung der Arbeitswelt nicht nur äußerlich ist. An die frühe Wortbe-

deutung der Ästhetik als ‚Sinnlichkeit‘ erinnernd, wird auch deutlich, dass Leidenschaft nicht rational zu haben ist. Ohne Sinne, ohne Leibund Leibbewusstsein ist leidenschaftliches Einstehen, leidenschaftliches Wollen und Tun nicht möglich. Spätestens seit Descartes Konzentration auf das ‚Ich denke‘ als einziger sicherer Aussage und der damit einhergehenden Abstufung des sinnlich-leiblichen, bewegen wir uns in rationalen Denkfiguren. Sie gingen einher mit einem gewaltigen Fortschrittsschub der Technik – die Welt der Dinge wurde rational beherrscht. Unternehmen, gerade technisch orientierte Unternehmen, sind so beinahe unausweichlich dem rationalen Weltzugang verpflichtet: Dem Erklären, dem Messen, dem Begründen. Unter diesem ‚mindset‘ wird das Gespräch über das Sich-Befinden der Menschen und ihrem Zumutesein verdrängt – der Diskurs in den Unternehmen verarmt. Neben diesem offiziellen Diskurs gibt es jedoch den der emotionalen Betroffenheit – ein Diskursraum, der sich öffnet, wenn man darüber sprechen muss, wie denn Mitarbeiter*innen zu begeistern sind, wie man sie zu mehr Engagement führt, wie man sie als Ganzes – ihrem Denken und Fühlen denn in das Unternehmen

7.1 Einleitung

integriert. Der ‚emotional turn‘ in den Motivationstheorien und Führungslehren zeigt die Notwendigkeit sich mit der Sinnlichkeit, der Leiblichkeit der Menschen in Unternehmen zu befassen – denn darin liegt die emotionale Kraft, etwas bewegen zu wollen.

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Mit der Forderung nach Leidenschaft für das Unternehmen; für etwas, für das man gemeinsam einstehen will, ist es an der Zeit, sich einmal mit der Leidenschaft, ihrer Einordnung in das menschliche Dasein und ihre Rolle in der Arbeitswelt zu beschäftigen.

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7.2 Was ist Leidenschaft?

7.2 Was ist Leidenschaft? Es tauchen neue Worte in den Unternehmen auf: Leidenschaft, Empathie, gar Liebe. Die neuesten Führungsleitlinien lesen sich wie ein Beziehungshandbuch. Es wird sogar von Herzensbildung gesprochen. Es ist natürlich viel Fassade, leeres Gerede und doch verweist es auf eine Veränderung, die wir immer schon als den ‚emotional turn’ bezeichnet haben, ohne dabei zu vergessen, dass die ökonomischen Bedingungen und mit ihr die Leistungserbringung oft unter hohem Druck weiterhin die Basis für das Überleben und Florieren der Unternehmen bilden. Die*Der Egomaximizer*in verschwindet aus den Wortfeldern, an seine Stelle tritt ‚the collaborative being’, Und so wird der rationalen Logik, die in Ursachen und Mittel-Zweckrelationen denkt, die emotionale Intelligenz zur

7.2 Was ist Leidenschaft?

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Seite gestellt. Nach dem Duo Hand und Kopf ist es nun Kopf und Herz. Lassen Sie uns einen Aspekt etwas genauer beleuchten: Die Leidenschaft. Sie wird von den Mitarbeiter*innen gefordert, sie sollen mit ihrer ganzen Person für die Sache einstehen – und es wurde deutlich, dass ich mich dann auch mit der Sache beschäftigen muss, denn sie sollte so sein, dass sie Leidenschaft entfachen kann – so reden wir heute von Purpose, wo zuletzt noch sich alles um Vision drehte. Aber schauen wir mal auf den Begriff Leidenschaft.

1. Was ist Leidenschaft? Kant präzisiert die Leidenschaft: „…eine Neigung, 1.1 Eine Gruppe die die Herrschaft über sich selbst ausschließt.“ von intensiven Und setzt die stoische Tradition fort – wir müssen Gefühlen lernen, unsere Neigungen zu beherrschen und ihnen ein durch die Vernunft gesetztes Maß entgegenstellen. Es ist die Tradition, die auch als Werthaltung im Militär und den Unternehmen vorherrschend war: Beherrsche Dich selbst! Und diese Tradition finden wir auch immer noch in den meisten Führungstheorien. Es ist die Idee, dass nur die*der, die*der sich selbst zu kontrollieren vermag, die*der der sozialen Beobachtung standhält, auch ein Geschäft zu kontrollieren vermag. Hegel: „… ist die Leidenschaft weder gut noch böse; diese Form drückt nur dies aus, dass ein Subjekt das ganze lebendige Interesse seines Geistes, Talents, Charakters, Genusses in einen Inhalt gelegt habe. Es ist nichts Großes ohne Leidenschaft vollbracht worden, noch kann es ohne solche vollbracht werden.“

1.2 Die Leidenschaft ist der Gefühls­zustand, in dem und mit dem für den Menschen Großes möglich ist.

Zusammengefasst: Leidenschaft ist ein gerichteter, individuell subjektiver Gefühlszustand, der etwas will und durch eine radikale Fokussierung Widerstände, Schmerzen, Schäden vergessen lässt und alle Kraft zur Erreichung des Zieles aufruft. Und wie alle Gefühlszustände gibt es sie in unterschiedlichster Intensität: Als sanftes Wollen, als wildes Begehren, als passives Warten, als grenzüberschreitendes Wollen…

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7.2 Was ist Leidenschaft?

K. Rosenkranz: „Das Verschwinden des Subjectes in den Abgrund einer einzigen Bestimmung ist die Größe der Leidenschaft.“ Gegen die Leidenschaft steht das Ideal des Maßes. Steht Besonnenheit, Einordnung des subjektiven Wünschens unter allgemeine Regeln, die Ausgewogenheit der Interessen. Steht der beruhigte, besonnen handelnde, von seinen Gefühlen, Neigungen und Trieben nicht dominierte Mensch. Steht das Ideal der vollen Sublimation. Doch ohne Leidenschaft ist nichts Großes vollbracht worden, noch kann Großes vollbracht werden! Ein IQ von mindestens 120 ist eine notwendige Eigenschaft für Nobelpreisträger – ohne Emotion, Leidenschaft, Fixierung reichen 120 Einheiten aber nicht sehr weit, ganz sicher nicht zum Nobelpreis. Was also meinen Unternehmen, wenn sie von Leidenschaft sprechen? Ganz sicher nicht die ausschließliche Fixierung auf das eine Wollen, das jeden Kontext vergisst. Schließlich ist ein Unternehmen ein soziales Gebilde, in dem es immer auch darum geht, ein auskömmliches Miteinander zu gestalten. Und doch sehen wir, dass die emotionale Kraft des Wollens eine immer größere Rolle in der Gestaltung von Unternehmen spielt. Was sehen wir kommen? the emotional turn für Individuen, für Gruppen, für Organisationen Kein entweder … oder … Kopf gegen Herz Die Geschichte als Prozess der Zivilisation Die Domestizierung, Geometriesierung und Zurichtung des Menschen – zum Zwecke seiner gesellschaftlichen Funktion ist ein wesentlicher Inhalt in der Gestaltung der zu Ende gehenden Moderne. Es ist ein wesentliches Moment dieser Entwicklung, den Menschen und seine Organisationen unter das Diktat eines allgemeinen Maßes zu stellen. Die Müdigkeit der Domestizierten Am Ende des Prozesses erleben wir die Müdigkeit der Domestizierten – die Sehnsucht, sich für etwas einsetzen zu können, für et-

7.2 Was ist Leidenschaft?

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was zu stehen. Stattdessen dreht sich das Rad der Ersatzformen – Konsum als Substitut für das leidenschaftliche Einstehen. Es wird kaum an den Mitarbeiter*innenführungsinstrumenten liegen, wenn das Engagement, die Motivation kontinuierlich zurückgehen. Nietzsches Tabubruch Nietzsche durchbrach die klassizistische Interpretation der Antike, die überall nur das Maß, die Beherrschung der Affekte, die weiße Marmorplastik der Ausgewogenheit sah. Mit dem Begriff dionysisch beschrieb er die tiefere Quelle der griechischen Tragödienkunst, als das Leben der leidenschaftlichen Gefühle, Triebe und Ängste. In dem lykischen Gott und seinen naturhaften, triebnahen Zügen durch die Gesellschaften sah er den Ursprung des menschlichen Genius – nicht in der Beherrschung, sondern im Rausch von Emotion und Körper. Mit Dionysos stellte er das Individuelle gegen das begrenzende Allgemeine. Die Wiederentdeckung des Mittelalters Nietzsches akademischer Ausbruch aus dem bürgerlichen Prozess der Zivilisation stellt eine Position dar. Huizinga hat in seiner Interpretation des späten Mittelalters ein leidenschaftlich, emotionales und leibliches Mittelalter beschrieben. Ein Mittelalter in der tiefe, leidenschaftliche Liebe, brausender Zorn, Lust und Leiblichkeit, tiefe Trauer, wilde Freude nicht nur das Eigengefühl, sondern auch den gesellschaftlichen Umgang prägte. Das Gemeinsame in seinen Regeln, Prozessen – das Ethische in seinen Urteilen – das Herrschen in seinem Orientieren war ein leiblicher, emotionaler Vorgang und stand dem Kopf zur Seite. Johan Huizinga hat eine emotionale, leibliche Gesellschaft und Organisation beschrieben – und sie als innovations- und kulturreich bestimmt. Und so sehen wir dort, wo Unternehmen von Innovation sprechen den ‚spielenden Menschen‘ zurückkehren und den Menschen, der für etwas steht. Was wollen wir? Dem Maß das Kraftvolle, Individuelle der Emotion gegenüberstellen. Einen Ausflug zur eigenen Leidenschaft wagen.

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7.2 Was ist Leidenschaft?

Das Einseitige vermeiden Natürlich kennen wir auch die gefährliche Seite der leidenschaftlichen Gesellschaft – wir kennen sie in den Kreuzzügen, wir kennen sie in den Massenbewegungen und ihrer leidenschaftlichen Einseitigkeit. Das rechte Maß Alles findet wieder zu einer Idee des Maßes – doch ein gleiches Maß kann nur sein, wenn beide Seiten ihren Platz haben und wir in den Organisationen die Angst vor der Emotion verlernen. Vom Mittelalter lernen heißt dann: Und der König weinte.

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7.2 Vertrauen

7.2 Vertrauen Kein Workshop ohne das Thema Vertrauen, genauer das Thema mangelndes Vertrauen. Es geht in beide Richtungen, nach oben zur Führung, die als kontrollierend und eingreifend erlebt wird, nach unten zu Mitarbeiter*innen, die als zu wenig motiviert, zu wenig verantwortungsvoll und als Versprechen nicht einlösend erlebt werden. Vertrauen kommt immer als Forderung daher und im Hintergrund schwebt ein Vorwurf, verbunden mit der Denkfigur: ‚würdest du vertrauen, dann wäre alles besser’. Nun ist Vertrauen nicht ganz so einfach, denn wer Vertrauen gibt, der geht ein Risiko ein, sie*er verzichtet auf Kontrolle. Und in diesen Gesprächen wird dann aus Vertrauen, das einem gebendem Akt entspricht, eine Gabe ist, plötzlich etwas, was man sich verdienen soll. Verständlich, denn die, die das fordern wollen das Risiko minimieren. Aber ist es nicht gerade Vertrauen, das Risiko eingehen, welches uns von der Last des alles selbst beherrschen Müssens befreit? Ist Vertrauen nicht genau die gebende Haltung, die es uns ermöglicht in einer sehr komplexen Welt, in der der Überblick fehlt, handlungsfähig zu bleiben? Ein Blick in das Thema und seine Entwicklung.

1. Menschen vertrauen einander Vertrauen ist eine anthropologische Konstante, ein Grundphänomen des menschlichen Lebens. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen haben Menschen einander vertraut. Dennoch hat sich die Bedeutung des Vertrauens kulturgeschichtlich in den vergangenen Jahrhunderten deutlich gewandelt. Noch Luther hat vor dem Vertrauen der Menschen zueinander gewarnt und gefordert, man solle allein auf Gott vertrauen. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfährt der Begriff ‚Vertrauen’ einen großen Aufschwung, wird zunehmend in Konversationslexika genannt und diskutiert und künftig rein positiv konnotiert. Es ist die moderne bürgerliche Gesellschaft, in der sich eine Kultur des Vertrauens entwickelt. Dies war eine Gesellschaft, in der

7.2 Vertrauen

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sich vormals stabile Lebenskonstanten auflösten, die ständische Gesellschaftsordnung zerbrach, sich der Verlust des unhinterfragten Gottvertrauens vollzog. Aufklärung und französische Revolution führten dazu, dass der einzelne Mensch in seiner Orientierung in und zur Welt stärker auf sich selber verwiesen wurde. Das schuf ebenso Freiheit wie Ungewissheit. In dieser Situation gewinnt Vertrauen an Bedeutung: Um sich innerhalb der gewonnenen Wahloptionen und den Unsicherheiten, den Risiken der modernen Welt neu orientieren zu können, war es sinnvoll, soziale Beziehungen auf Vertrauen zu gründen. Arbeitsteilung zwang Arbeiter*innen, sich aufein1.1 Zeitgleich ander zu verlassen. Durch die Entstehung großer änderte sich durch Fabriken, der Abwanderung aus kleinen Ortschafdie industrielle ten in die Großstädte entstanden immer größere Revolution die Menschengruppen. Kleine Gemeinschaften komStruktur der men mit weniger Vertrauen aus, es ist leichter, einArbeit ander zu kontrollieren. In großen und zudem mobilen Gemeinschaften ist dies nicht mehr möglich. Vertrauen wird zur Unabdingbarkeit. Nicht zufällig ist das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert der Vereine. Vereine erzeugen soziale Nähe unter Fremden und produzieren Vertrautheit und Vertrauen. Und sie sind als Netzwerke auch wesentlich für die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft (siehe Putnam, Bowling alone) Je komplexer, unsicherer und globaler unsere Umwelt wird, desto mehr sind wir gezwungen, zu vertrauen. Vertrauen wird zu einem Zentralbegriff unseres modernen Lebens, unserer Fähigkeit, in einer überkomplexen Welt orientiert und handlungsfähig zu bleiben. Es stellen sich Fragen • Wann ist Vertrauen notwendig? • Was motiviert Menschen konkret dazu, zu vertrauen oder sich als vertrauenswürdig zu erweisen? • Auf welche Weise gelingt es uns, Fremden zu vertrauen? • Wie können wir erkennen, wem oder was wir vertrauen können? • Was brauchen Menschen, um Vertrauen zu können? Vertrauen ist nur dort zwingend notwendig, wo Wirklichkeit überkomplex ist, Wissen fehlt und/oder volle Kontrolle unmöglich

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7.2 Vertrauen

ist. Verfügen Sie über alle Information und besitzen Kontrolle, ist Vertrauen nicht notwendig. Vertrauen setzt Nichtwissen voraus. Wer weiß und kann, muss nicht vertrauen. Von daher ist der Ruf nach Transparenz, dem Zugang zu allen Daten eine andere Risikominimierungsstrategie, die jedoch anstatt Komplexität zu verringern, sie gerade erhöht. Bei voller Transparenz brauche ich kein Vertrauen. Eine der sichersten Annahmen unserer Tage, nämlich dass auch am nächsten Tag die Sonne aufgehen wird, resultiert aus der wiederholten Erfahrung der Vergangenheit, dass sie es immer wieder getan hat. In solchen Aspekten unserer Umwelt, die sich von Tag zu Tag gleich oder ähnlich sind, herrscht Vertrautheit. Unser Vertrauen in die Welt beruht zu einem guten Teil auf Vertrautheit. Ohne ein Mindestmaß an Vertrautheit wäre Vertrauen nicht möglich. Wenn die Ampel auf Grün wechselt und wir losfahren, vertrauen wir darauf, dass andere Verkehrsteilnehmer*innen bei Rot anhalten. Tatsächlich ist es nicht sicher, dass ein*e Autofahrer*in nicht auch bei Rot fährt. Wer einmal in Indien Auto gefahren ist, weiß, dass hier Vertrauen eine sehr riskante Strategie ist. In der Regel aber geht die Sonne morgens auf und Autofahrer*innen halten bei Rot. In Zuversicht auf Vertrautheit und Verlässlichkeit entscheiden wir in solchen Fällen nicht täglich neu, ob wir vertrauen können. Wir tun dies nur, wenn sich die Bedingungen ändern oder wenn unser Vertrauen enttäuscht wurde. Wir sprechen von Vertrauen im engeren Sinne erst dann, wenn Unsicherheit und Risiko wahrgenommen werden. Erst wenn ein*e Autofahrer*in bei Rot fährt, wird uns in der Regel bewusst, dass wir vertraut haben. Vertrauen wird dort notwendig, wo die Umwelt unsicher ist und ist daher immer eine riskante Vorleistung. Wir sprechen von Vertrauen im engeren Sinne also dann, wenn Risikosituation und ein Risikobewusstsein vorliegen. Die*Der Vertrauende schenkt in einer risikoreichen Situation der*dem Anderen sein Vertrauen im Sinne einer Vorleistung in der Erwartung, dass diese*r es honoriert. Was motiviert Menschen im Einzelnen dazu? Warum sollte sich das Gegenüber als vertrauenswürdig zeigen oder man selbst in der anderen Position dies tun? Definiert man Vertrauen etwas genauer,

1.2 Vertrauen, Vertrautheit oder Zuversicht?

7.2 Vertrauen

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so zeigen sich verschiedene Verhaltensweisen, die wir erleben und mit dem Wort Vertrauen bezeichnen. Fassaden-Vertrauen: Menschen geben vor, vertrauenswürdig zu sein, um einen Vorteil zu erlangen, sind aber nicht an gegenseitigem Vertrauen, sondern allein an Eigennutz interessiert. Instrumentelles Vertrauen: Menschen zeigen sich als vertrauenswürdig (und vertrauen), um situationsgebunden einen Prozess in Gang zu setzen bzw. fortzuführen, der gegenseitiges Vertrauen ermöglicht. Dies soll Komplexität reduzieren und vertrauensvolle Kooperationen ermöglichen. Prosoziales Verhalten: Menschen zeigen sich vertrauenswürdig (und vertrauen), weil sie überzeugt sind, dass Vertrauen ein positives Gut ist, selbst wenn es Enttäuschungen gibt und manchmal Kosten entstehen, nach dem Motto: ‚Mein Misstrauen muss man sich erst verdienen.’ Dieses intrinsische Vertrauensmotiv ist eng mit dem eigenen Persönlichkeitsbild verbunden und tief verinnerlicht. Dispositionales Vertrauen: Menschen zeigen sich vertrauenswürdig und vertrauen, weil sie ein generalisiertes Vertrauen in Menschen entwickelt haben, eine generelle Neigung dazu, anderen zu vertrauen. Im Fall des instrumentellen Vertrauens ist der Grad der angenommenen Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers für die Bereitschaft, das Vertrauen zu wagen, maßgeblich. Eine verlässliche Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit der*des Anderen soll das einzugehende Risiko kalkulierbar machen und minimal halten. Woran erkennen wir, ob das Gegenüber vertrauenswürdig ist? Menschen entscheiden dabei je nach den Erfahrungen, die sie bisher gemacht haben und ziehen dabei verschiedene Faktoren zu Rate: Reputation: Wir schätzen solche Menschen als vertrauenswürdig ein, die von anderen Personen als vertrauenswürdig eingeschätzt werden.

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Kolumnentitel

7.2 Vertrauen

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Soziale Rolle: Wir vertrauen Menschen aufgrund ihrer sozialen Rolle. Zum Beispiel Menschen, die Berufsgruppen angehören, die Rollenverstöße ahndet (Rechtsanwältinnen*Rechtsanwälte, Polizist*­ innen oder *Ärztinnen*Ärzte). Stereotypen: Nonnen genießen mehr Vertrauen als Prostituierte, Steuerberater*innen mehr als Gebrauchtwagenverkäufer*innen, etc. Soziale Ähnlichkeit: Fehlen andere Informationen, neigen Menschen dazu, jenen zu vertrauen, mit denen sie soziale Ähnlichkeiten teilen, also Ethnische Herkunft, Nationalität, Kultur, Ausbildung, Kleidung, etc. Intuition: Ausschlaggebend sind häufig spontan im Bewusstsein auftauchende Urteile, deren tiefere Gründe uns nicht ganz bewusst sind und die stark genug sind, um danach zu handeln. Möchte man in Gruppen die Bereitschaft zu gegenseitigem Vertrauen erhöhen, dann gilt es gemeinsame Erlebnisräume zu öffnen, in denen man einander begegnet. Dazu gehört es unabdingbar, dass wir uns einander mitteilen, dass wir uns gegenseitig zweigen. In den alten Gruppenkonzepten war dies als ‚Sharing‘ fester Bestandteil des Aufbaus von Vertrauen. Je mehr wir in einem sozialen Umfeld arbeiten, das als kontrolliert und überwacht erlebt wird, in dem die impliziten sozialen Normen als stark erlebt werden, desto schwieriger ist es die*den Andere*n in ihrer*seiner Individualität kennenzulernen. Genau dies aber, dass ‚Freundinnen*Freunde sein können‘, weil man einander begegnet ist, erhöht die Bereitschaft einander zu vertrauen und so die individuelle und kollektive Fähigkeit sich in einer komplexen und kontingenten Welt zu orientieren und handlungsfähig zu bleiben. Und so gibt es auch keine Entwicklung des Vertrauens in Unternehmen ohne dass Diversität als eine respektvolle Haltung gegenüber der Andersheit der*des Anderen die soziale Kultur bestimmt. Individuell können wir auch etwas tun, nämlich verstehen, wie ich denn persönlich gelernt habe zu vertrauen oder aber eben zu misstrauen. Und wie bei jeder Reflexion helfen Fragen den Prozess der Selbstvergewisserung in Gang zu setzen.

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7.2 Vertrauen

• Welche Einstellungen zum Thema Vertrauen haben Sie kennengelernt (Eltern, Familie, Schule, Ausbildung, Beruf, Kultur)? • Kennen Sie einen Menschen, dessen Vertrauenswürdigkeit Sie außergewöhnlich schätzen und bewundern? Was ist an ihm besonders? • Als wie vertraut, verlässlich hat sich das Leben für sie bis heute gezeigt? • Wie versuchen Sie, im Rahmen von instrumentellem Vertrauen einen Prozess gegenseitigen Vertrauens in Gang zu setzen bzw. fortzuführen? • Was in Ihrem Leben ist sicher? Worauf können sie vertrauen? • Vertrauen ist eine Beziehungsform. Wie sehen Sie sich selbst in dieser Beziehungsform und wie glauben sie, werden sie gesehen? • Wie vertrauenswürdig bin ich? • Für wie vertrauenswürdig werde ich gehalten? • Wenn es eine Diskrepanz zwischen 1 und 2 gibt: Wie erklären Sie sie sich? • Wie vertrauensvoll bin ich? • Für wie vertrauensvoll werde ich gehalten? • Wenn es eine Diskrepanz zwischen 1 und 2 gibt: Wie erklären Sie sie sich?

7.2 Leidenschaft – Leib und Sinne

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7.2 Leidenschaft – Leib und Sinne Anstöße zur Reflexion

1. Ein Anfangen – Zwei Ursprungsgeschichten Ein Beginn des Menschen in aufgehobener Sicherheit, in Freude, Versorgtheit und Glück. Der einbrechende Verlust in der Antike als Abstieg, im Christentum als Verstoßung. Im Abstieg die Wahrnehmung, dass der Leib und das Gefühl der Grund allen Elends ist, in der Verstoßung das Wissen, dass der Leib und das Gefühl der Grund der Verstoßung ist – in beiden Variationen ist es der Leib, den es zu beherrschen gilt. Ein Beginn des Menschen im überwältigenden Terror der Wirklichkeit, der Ausgeliefertheit an die Natur. Dann das langsame Gewinnen von Distanz im Handeln, im Machen, der Technik – die sich langsam entwickelnde Beherrschung und Bändigung der Natur. Nach Innen die Beherrschung der autonomen, überwältigenden Gefühle der Angst, der Furcht, des Schreckens durch Mythen, Riten, Gebete – durch Denken und Namen geben. In beiden Geschichten über die Anfänge wird der Leib und mit ihm die Gefühle zu etwas, was es zu leiten, einzuschränken, zu beherrschen, zu domestizieren gilt – in den Worten der Psychoanalyse, zu sublimieren gilt. Die Leidenschaft, als gerichtetes, starkes Gefühl oder als Synonym für alle starken, überwältigenden Gefühle hat so in der Philosophiegeschichte zumeist eine schlechte Presse.

2. Worauf wollen wir blicken? Wir möchten zuerst kurz auf das Konzept der STOA blicken. Epiktet wird hier unsere Quelle sein. Noch heute haftet dem Begriff der stoischen Ruhe – gerade in Zeiten der Krisen – etwas heroisches und erstrebenswertes an. Mit ihm aber ist eine Abwertung des Gefühls, des in der Welt und für die Welt Seins verbunden – die Ruhe verdankt sich der Distanz.

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7.2 Leidenschaft – Leib und Sinne

Nietzsche, der noch die klassischen, klassizistischen Konzepte und Bilder über die Antike gelernt hatte, entdeckt in der Antike eine andere Seite, die er die dionysische nennt und die er gegen die apollinische Haltung seiner Zeitgenossen stellt. Es ist eine Rückkehr des Leibes und der Gefühle in die Philosophie. (Zur gleichen Zeit entdeckte Lou Andreas Salome mit dem Iranologen Andreas das Barfußlaufen durch morgentaufeuchtes Gras) Zuvor hatte schon Hegel, gerade Hegel, wohlwollender auf die Leidenschaft geblickt und sie als unentbehrliche Quelle für alles ‚Große‘ gesehen. Zum Abschluss ein Blick auf Simone Weil, eine der verstörenden Denkerinnen, Mystikerinnen des letzten Jahrhunderts. In ihrer Mystik wird das Untrennbare von Leib, Gefühl und Glauben und Denken deutlich.

3. Eine Einstimmung – Wortfelder Leidenschaft: Affekt, Aufwallung, Begierde, Begehren, Begeisterung, Besessenheit, Drang, Ekstase, Erhitzung, Erregung, Elan, Enthusiasmus, Entzückung, Euphorie, Feuer, Fieber, Gelüste, Gier, Glut, Hingabe, Hitze, Hochdruck, Hochstimmung, Impuls, Innigkeit, Inbrunst, Interesse, Liebe, Manie, Maßlosigkeit, Pathos, Rausch, Rage, Raserei, Schwärmerei, Schwung, Sturm, Taumel, Temperament, Trunkenheit, Überschwang, Ungehemmtheit, Verlangen, Verzückung, aufbrausend, wild, heftig, heißblütig, passioniert, ungestüm Gleichmut: Abgeklärtheit, Ausgeglichenheit, Bedacht, Bedachtsamkeit, Beherrschung, Besonnenheit, Disziplin, Enthaltsamkeit, Entsagung, Erhabenheit, Fassung, Geduld, Gefasstheit, Gelassenheit, Gemächlichkeit, Genügsamkeit, Gemessenheit, Gemütsruhe, Geruhsamkeit, Gleichgewicht, Großmut, Großzügigkeit, Heiterkeit, Langmut, Mäßigkeit, Nachgiebigkeit, Nüchternheit, Ruhe, Seelenruhe, Selbstbeherrschung, Selbstbescheidung, Umsicht, Unempfindlichkeit, Zufriedenheit, Zurückhaltung

7.2 Leidenschaft – Leib und Sinne

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Collage der Leidenschaft Epiktet I – Unser Eigenthum Einige Dinge sind in unserer Ge walt, andere nicht. In unserer Ge walt sind: Meinung, Trieb, Begierde, Wid erwille: kurz: Alles, was unser eig enes Werk ist. – Nicht in unserer Ge walt sind: Leib, Vermögen, Ansehe n, Aemter, kurz: Alles, was nicht uns er eigenes Werk ist.

Epiktet VIII –

Schwimme nicht gegen den Strom ss die DinVerlange nicht, da es wünschest, ge gehen, wie du sie so, wie sie sondern wünsche Leben wird gehen, und dein en. ruhig dahin fließ

Epikte

t XI

V– Begehr e nicht s Unmög liches

Wenn du willst, d ass dein Weib un e Kinde d deine r, dein Freunde sollen, s ewig leb o bist du en ein Thor. mit, das Du wills s Dinge, t dadie walt sin d, in dein nicht in deiner Geer Gewa und was lt sein s nicht de ollen, in ist, so So auch ll dir gehö , wenn d ren. u willst, d keine F ein Sohn ehler m s a oll chen, so Narr; du bist du willst ne ein mlich, S soll nich chlechti t Schlec gkeit htigkeit etwas an sein, so deres. W ndern illst du a ne Wün ber, das sche nic s deih t fehlsc vermags hlagen, t du sch das o n. Das M – darin ögliche übe dich a . lso

Epiktet V – Der schrecklichste

der Schrecken

Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen von den Dingen beunruhigen die Menschen. So ist z.B. der Tod nichts Schreckliches, sonst wäre er auch dem Sokrates so erschienen; sondern die Meinung von dem Tod, dass er etwas Schreckliches sei, das ist das Schreckliche. Wenn wir nun auf Hindernisse stoßen, oder beunruhigt, oder bekümmert sind, so wollen wir niemals einen andern anklagen, sondern uns selbst, das heißt: unsere eigenen Meinungen. – Sache des Unwissenden ist es, andere wegen seines Missgeschicks anzuklagen; Sache des Anfängers in der Weisheit, sich selbst anzuklagen; Sache des Weisen, weder einen andern, noch sich selbst anzuklagen.

372 

7.2 Leidenschaft – Leib und Sinne

Hegel 1

ne Beson, dass sie auf ei ihrer Bestimmung in t äl th die ganze en ch ft Die Leidenscha ist, in welche si mmung beschränkt ti es mung mag sb im en st ll Be Wi r r ne derheit de kt, der Gehalt je en rs ve s um die du vi s Indi willen aber ist Subjektivität de dieses Formellen Um . ll ss wi da er s, r au he ückt nur dies sonst sein, welc se; diese Form dr bö , ch es no nt t le gu Ta r de s, Leidenschaft we e seines Geiste bendige Interess es le oß e Gr nz ts ga ch s ni da t t is . Es ein Subjek halt gelegt habe acht sses in einen In ohne solche vollbr es Charakters, Genu nn ka ch no , en rd wo ht ac lche br we ll t, vo ische Moralitä ohne Leidenschaft ja zu oft heuchler , te to ne ei r nu . werden. Es ist s solche loszieht r Leidenschaft al gegen die Form de

Hegel 2

Von uns eren Em pfindun dass sie gen, Tri uns dien eben, In en, sond teressen Mächte, ern sie sagen w so dass gelten a ir nicht w w ir d ls selbs ren und ies selbs ohl, tändige zu wolle t sind, s Kräfte u o zu em n, in die es vielm nd p s fi unser In nden, die ehr unse teresse z s zu beg r Bewus u Gefühle e le h gen. Ab stsein w , Triebe er wiede erden, d , Leiden r kann ass wir heiten s schaften im tehen, a Dienste , Interes ls dass w unserer sen, ohn bei unse ir sie im e h rer innig in B von Gew e s it z e n h a E ben, noc ohninheit m chen Be h wenig stimmun it ihnen er, dass uns als gen des besonde sie M G ittel die emüts u re im G nen. De nd Geis egensatz rg te bewusst s le z ieigen sic e gegen werden, h uns ba die Allg in der w ld e m dafür, in als einheit, ir unsere diesen B als die Freiheit esonderh wir uns beherrsc h a b e e it n en vielm , und [w ht zu w ehr befa ir] halte erden. S halten, d ngen zu n onach k ass die D sein, vo ö n n e n e n ihnen w nkforme ir – diese d a n n viel w n, die sic seien blo eniger d h durch ß theore afür Empfind alle uns tisch od ere Vors ung, de e r tellunge enthalte m Trieb uns dien n einen n e, dem en, dass Willen Stoff, d wir sie u angehör er der was ist n d t – hindu sie nich uns übr t vielme rchziehe ig gegen meinere hr uns im n, sie, wie über sie B s o e ll s it e n z haben hinauss w ir solches , ic ; h mich tellen, s sind? W als das A ie, die s enn wir ll e legen un g lb e st das A uns in e d uns da llgemein ine Emp rin besc e als findung wir [uns h rä , n Zweck, kt, unfre ] daraus Interess i fühlen heraus – mögen, e , so ist d und in d dieser O er Ort, in ie r F t r der Gew eiheit z d tion, de e n urückzu issheit s s Denke ziehen v einer se ns. lbst, der erreinen A bstrak-

7.2 Leidenschaft – Leib und Sinne

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Hegel 3

So ist es auch in der Weltordn ung; hier sind die Leidenschafte n das eine und das Vernünftige is t die andere Ingred ienz. Die Leid enschaften sind das Betätigende.“ „Die Leidensc haft ist die Beding ung, dass aus dem Menschen etw as Tüchtiges herv orkommt, also is t sie nichts Unmora lisches.

Nietzsche 1

m Schmerz, ltnis des Griechen zu rhä Ve s da ist e ag dfr ? Eine Grun Verhältnis sich gleich ibilität, – blieb dies r me im sein Grad von Sens in se ob wirklich um? – jene Frage, ike ar oder drehte es sich Festen, Lustb nach Schönheit, nach stärkeres Verlangen , aus Melanchogel, aus Entbehrung an M s au n lte Ku n ten, neue nämlich, gerade dies achsen ist? Gesetzt der lie, aus Schmerz erw ides) gibt es uns in rikles (oder Thukyd s da wäre wa hr – und Pe nn müsste da verstehen – : woher zu e red en ich Le n rgroße it nach früher hervo rlangen, das der Ze entgegengesetzte Ve Hässlichen, der gute Verlangen nach dem trat, stammen, das Pessimismus, zum tra eren Hellenen zum ltse strenge Wille des ält Rä ren, Bösen, m Bilde alles Furchtba gischen Mythus, zu dem Grunde des rhängnisvollen auf Ve n, de ten ich rn Ve haften, die stammen? Vielsste dann die Tragö Daseins, – woher mü überströmender Ge aus der Kraft, aus leicht aus der Lust, er Fülle? sundheit, aus übergroß

Nietzsche 2 Der ‚Hass auf die Welt’, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen ins Nichts, ans Ende, ins Ausruhen, hin zum ‚Sabbat der Sabbate’ – dies alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingte Wille des Christentums, nur moralische Werte gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines Willens zum Untergang’,

zum mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigmutigkeit, Erkeit, Miss­ schöpfung, Verarmung an Leben, – denn vor der Moral (insonderheit christlichen, das heißt unbedingten Moral) muss das Leben beständig und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell Unmoralisches ist, – muss endlich das Leben, erdrückt unter dem Gewichte der ­ Verachtung und des ewigen Neins, als begehrensunwürdig, als unwert an sich empfunden werden. Gegen die

Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit – denn wer wüsste den rechten Namen des Antichrist? – auf den Namen eines griechischen Gottes: ich hieß sie die dionysische.

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7.2 Leidenschaft – Leib und Sinne

Nietzsche 3 Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls, das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von unsern Pessimisten missverstanden wor-

den ist. Die Tragödie ist so fern davon, etwas für den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauers zu beweisen, dass sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und Gegen-Instanz zu

gelten hat. Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen, der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend – das nannte ich dionysisch, das erriet ich als die Brücke

zur Psychologie des tragischen Dichters. Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen – so verstand

es Aristoteles –: sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein – jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schließt.. Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausging – die Geburt der Tragödie’ war meine erste Umwer-

tung aller Werte: damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst – ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft....

7.2 Leidenschaft – Leib und Sinne

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Simone Weil 1

Dionysos, chlorophylli scher Gott. Das Chlor ophyll ist das Zwische der Sonnenenergie un nglied zwischen d uns. So wie der M on d uns erlaubt, das So Angesicht und Angesic nnenlicht von ht und lange zu betra chten, so erlaubt uns die Sonnenenergie zu das Chlorophyll, essen und zu trinken . Wenn wir Wein tri die Sonnenenergie sel nken, trinken wir bst. Dessen war ma n sich gewiss immer nicht schwer. bewusst. Das ist Es ist buchstäblich wa hr, dass die Sonnenen ergie in die Pflanzen anschließend in die Ti hinabsteigt und ere, so dass wir sie ess en können, nachdem haben; und dass Pflan wir sie getötet zen und Tiere Vermitt ler sind zwischen der und unserem fleischli Sonne hier unten chen Hunger. Nicht nur unserem Hu nger, sondern allen un seren Bedürfnissen. Häuser, der Schwerk Wir bauen uns raft zum Trotz, mit de r Sonnenenergie in Ge Die Sonnenenergie ste stalt des Holzes. igt in die Pflanzen un d Tiere hinab als leb aber Tod, bevor sie un en, wird sere Bedürfnisse befri edigt. Das Kreuz ist ein toter Baum.

eil 2 W e n o m Si die oß wie

rbt eiWelt. st, sti i t l l ü r f g iebe er ist so ht von L Das Ich c zu i n e i ben neu e, d e l L e e n S i e e s Di Tod. immer, lechten n ist es e h c nen sch s n e ohnen. ße des M ammen w s i e b Die Grö n e, ze Absolut nem Her i h n. e c e i f n l f i k a r h n i c s könne n das w efühle ürde ma w en. n Viele G e g n ühren. ht such erla c V i n s a e d t rmögen f z e n v e s r i Ohne g n e t n eit. nb erksamk er Erken klich U m s r f n i u u w A n s r n a e a d n k Fülle d Begehre ist die e Nur das s a t s chtung hste Ek r Betra e d n i Die höc ‘ von urn achtung ional t r t t o e m B e ‚ r e d de eneginnen en, in n. Leid b m e h n n e n u n ö n r k e r t n De n Un bstrakeschehe schen i keine a iblos g e d l n i m von Men s u a k g des gie ‘ wird eziehun n, Ener b e n l i l E o W ‚Führen e cht e, di wird ni Empathi langen s r , a e t d v f a d h n e c U i s . S tung. t sind, tlinien Betrach relevan e e i i d d ten Lei n i , n n e Mensche gegnung ganzen hen, Be e g g n u . n gegn n zeige ohne Be in ihne s n u r weil wi

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achdenken, wie bedeutend sichtbare, gezeigte Andersheit für eine offene und freie Gesellschaft ist. Und Unternehmen sind auch kleine Gesellschaften in sich selbst. „Es war der über viele Jahre mit einer mörderischen Fatwa belegte Schriftsteller Salman Rushdie, der nach den Attentaten des 11. September 2001 den Kernbestand der westlichen Freiheit in wenige, sehr anschauliche Worte fasste: ‚Küssen in der Öffentlichkeit, Schinken-Sandwiches, öffentlicher Streit, scharfe Klamotten, Literatur, Großzügigkeit, Wasser, eine gerechte Verteilung der Ressourcen der Welt, Kino, Musik, Gedankenfreiheit, Schönheit, Liebe.‘ Scharfe Klamotten sind so wichtig, wie Gedankenfreiheit. Da ist kein Raum für Missverständnisse.“ (R. Mohr)

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espekt Zwei Worte vermissen, sie verschwinden. Was bleibt ist die Anweisung: Durchkommen, Schuhe ausziehen, Tasche öffnen usw. Bitte, danke - wohl nicht mehr präsent. Das Hoheitliche, obrigkeitsstaatliche steht im Vordergrund - Service für den Kunden, Höflichkeit gegenüber dem Bürger - wohl Ballast von gestern, Relikt aus der ‚versifften, rotgrünen 68iger Zeit‘ Da wollte man noch Freiheit wagen. Und dann in den Unternehmen: der Diskurs über Service, Respekt, Offenheit, Augenhöhe, Diversität. Da wartet eine große und schöne Aufgabe.

7.4 Haiku

linien nur, schwarz im morgenlicht der sonne später erst berge

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7.4 Haiku

hoch in den bergen noch gelbblühende disteln der wind wird kühler

7.4 Haiku

unter mir die welt um mich der blaue himmel und immer noch kind

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7.5 Von Außen

„The fact that we live at the bottom of a deep gravity well, on the surface of a gas covered planet going around a nuclear fireball 90 million miles away and think this to be normal is obviously some indication of how skewed our perspective tends to be.“ Douglas Adams

„Nicht ungestraft gehen alle Menschen gleich angezogen […]. Die Monotonie muss notwendig nach innen dringen. Gesichter werden einander ähnlicher durch gleiche Leidenschaft, Körper einander ähnlicher durch gleichen Sport, die Gesichter ähnlicher durch gleiche Interessen.“ Stefan Zweig

7.6 Andere

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7.6 Andere Über die Würde des Menschen Pico della Mirandola, Oratio De Hominis Dignitate Hochverehrte Väter! In den Schriften der Araber habe ich gelesen, der Sarazene Abdala habe auf die Frage, was sozusagen auf der Bühne dieser Welt als das Bewundernswerteste erscheine, geantwortet, nichts erscheine der Bewunderung würdiger als der Mensch. Schon hatte der höchste Vater und göttliche Baumeister dieses Haus der Welt, das wir hier sehen, den hocherhabenen Tempel seiner Göttlichkeit nach den Gesetzen geheimer Weisheit kunstvoll errichtet. Die Gegend oberhalb des Himmels hatte er mit Geistern ausgestattet, des Himmels Sphären mit unsterblichen Seelen belebt und die schmutzigen und unreinen Bereiche der unteren Welt mit einer Schar von Lebewesen aller Art gefüllt. Doch als das Werk vollendet war, da wünschte sein Erbauer, es sollte jemanden geben, der imstande wäre, die Einrichtung des großen Werkes zu beurteilen, seine Schönheit zu lieben, seine Größe zu bewundern. Deswegen dachte er, als alles schon vollendet war (wie Moses und Timaios es bezeugen), zuletzt daran, den Menschen zu erschaffen. Doch gab es unter den Urbildern keines, wonach er den neuen Sprößling hätte formen können, auch fand auch in den Schatzkammern nichts, das er dem neuen Sohn als Erbgut hätte schenken können, und nirgends auf der ganzen Welt gab es noch einen Platz, auf dem dieser Betrachter des Universums sitzen konnte. Schon voll besetzt war alles und alles an die obersten, die mittleren und untersten Rangordnungen verteilt. Es hätte aber nicht für eines Vaters Schöpferkraft gesprochen, wenn diese bei ihrer letzten Zeugung gleichsam erschöpft versagte, es hätte auch der Weisheit nicht entsprochen, aus Mangel an Entschlußkraft bei etwas Notwendigem geschwankt zu haben, auch nicht wohltätiger Liebe, wenn der, der göttliche Freigebigkeit bei anderen loben

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7.6 Andere

sollte, gezwungen würde, sie bei sich selbst als unzulänglich zu verwerfen. So traf der beste Bildner schließlich die Entscheidung, daß der, dem gar nichts Eigenes gegeben werden konnte, zugleich an allem teilhabe, was jedem einzelnen Geschöpf nur für sich selbst zuteil geworden war. Also nahm er den Menschen hin als Schöpfung eines Gebildes ohne besondere Eigenart, stellte ihn in den Mittelpunkt der Welt und redete ihn so an: ‚Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünscht, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Wer also sollte den Menschen nicht bewundern, der nicht zu Unrecht in den heiligen Schriften des Alten und des Neuen Testamentes bald mit dem Ausdruck alles Fleisch, bald mit dem Ausdruck alle Kreatur mit vollem Recht bezeichnet wird, da er sich doch selbst zur äußeren Gestalt von allem Fleisch und zur Beschaffenheit von alle Kreatur ausprägt, ausbildet und umgestaltet? Deswegen schreibt der Perser Euantes in seinem Kommentar zur chaidäischen Theologie, der Mensch besitze keinen besonderen ihm angeborenen Typus, dagegen viele von außen kommende und vom Zufall bestimmte.

7.6 Andere

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Darauf bezieht sich jener Ausspruch der Chaldäer: ‚Enosh hu shinnujim vekammah tebhaoth haj‘, das heißt: ‚Mensch du Lebewesen von bunter und vielgestaltiger und sprunghafter Art.‘ Doch wozu trage ich dies vor? Damit wir begreifen: Wir sind geboren worden unter der Bedingung, daß wir das sein sollen, was wir sein wollen. Daher muß unsere Sorge vornehmlich darauf gerichtet sein, daß man uns jedenfalls nicht das nachsagen kann, wir hätten, als wir in Ansehen standen, keinen Verstand gezeigt, dem Vieh und vernunftlosen Tier ähnlich. Vielmehr soll jener Ausspruch des Propheten Asaph für uns gelten: ‚Götter seid ihr und Söhne des Höchsten alle‘, damit wir nicht das gültigste Geschenk des Vaters, den freien Willen, den er uns verliehen hat, mißbrauchen und ihn gebrauchen statt zu unserem Heil, zu unserem Schaden. Geradezu heiliger Ehrgeiz soll uns befallen, daß wir, nichtzufrieden mit dem Mittelmaß, nach dem Höchsten lechzen und, um es zu erreichen (was wir ja können, wenn wir wollen) mit allem Kräften uns zu bemühen. Apolls heilige Name, wenn jemand ihre tiefere Bedeutung und die darin verborgenen Geheimnisse ergründen will, erweisen zur Genüge, daß jener Gott ebenso ein Philosohp ist wie ein Seher. Da dies Ammonios genügend erörtert hat, brauche ich jetzt dieses Thema nicht nochmals zu behandeln. Doch sollen die drei Weisungen von Delphi, ihr Väter, unseren Geist beschäftigen, die für die höchst norwendig sind, die den ehrwürdigen und hocherhabenen Tempel nicht das Apoll, der in der Dichtung uns begegnet, sondern des wirklichen Apoll betreten wollen, der jede Seele, die in diese Welt gelangt, mit seinem Licht erfüllt; ihr werdet sehen, daß jene Weisungen uns zu nichts anderem auffordern, als daß wir diese aus drei Teilen bestehenden Philosohie, von der wir gerade sprechen, mit allen Kräften zu erfassen suchen. Dann das bekannte Wort μηδε´ν α´γαν, das heißt `Nichts im Übermaß´, bestimmt zutreffend Richtschnur und Maßstab aller Tugenden nach dem Grundsatz der rechten Mitte, mit dem sich die Moralphilosophie beschäftigt.

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7.6 Andere

Sodann rufen uns die Worte γνω θι σεαυτo´ν das heißt `Erkenne Dich selbst!`, sehr nachdrücklich auf zur Erkenntnis der gesamten Natur, in der die menschliche Natur ein Zwischenglied darstellt und sozusagen eine Mischung aus ihr ist. Denn wer sich selbst erkennt, erkennt alles in sich, wie zuerst Zarathustra und später Platon im Alkibiades schreiben. Sind wir durch diese Erkenntnis mit Hilfe der Naturphilosophie schließlich erleuchtet, werden wir, dem Gotte schon sehr nahe, indem wir das Wort ει aussprechen, das heißt ‚Du bist‘, mit theologischer Begrüßung den wirklichen Apoll vertraut und ebenso beglückt anreden. Die chaldäischen Erklärer schreiben, Zarathustra habe oft gesagt, die Seele habe Flügel, und wenn diese die Federn ausfielen, so stürze sie jählings in einen Körper, und wüchsen sie dann wieder nach, fliege sie zu den Himmlischen zurück. Als seine Schüler ihn nur fragten, wie sie die geflügelten Seelen mit gut befiederten Schwingen erlangen könnten, antwortete er ihnen: ‚Besprengt die Flügel mit den Wassern der Lebens!‘ Als die nun weiter wissen wollten, woher sie dieses Wasser nehmen sollten, da gab er ihnen durch ein Gleichnis (denn dies war seine Gewohnheit) folgende Antwort: ‚Vier Ströme benetzen und bewässern Gottes Paradies; aus ihnen könnt ihr euch die heilbringenden Wasser schöpfen. Der Name dessen, der von Norden kommt, heißt Pischon, was das Rechte meint, der von Westen kommt, heißt Gichon, was Reinigung bedeutet, der aus dem Osten hat den Namen Chiddekel, was Licht heißt, und der von Süden kommt, heißt Parath, was wir mit Liebe übersetzen können.‘ Als schwieriger dagegen erweist sich die Art meiner Verteidigung gegenüber denen, die behaupten, ich sei dieser Aufgabe nicht gewachsen. Denn wenn ich sage, ich sei ihr gewachsen, erwecke ich vielleicht den Anschein, als wollte ich den Vorwurf auf mich nehmen, ein unbescheidener Mensch zu sein, der von sich eine allzu hohe Meinung hat.

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Gebe ich aber zu, ich sei ihr nicht gewachsen, so müßte ich mir Übereilung und Unbesonnenheit vorwerden lassen. Seht also, in welcher Klemme ich stecke, in welcher Lage ich mich befinde: ich kann zum einen ein Versprechen, das mich betrifft, nicht abgeben, ohne mir einen Vorwurf einzuhandeln; zum anderen muß ich, will ich einen Vorwurf entgehen, gerade dieses Versprechen in Kürze halten. Ich könnte vielleicht das Wort des Hiob anführen, der Geist sei in allen, und mit Timotheus mir sagen lassen: ‚Niemand verachte deine Jugend!‘ Doch meinem eigenen Gewissen folgend, will – was der Wahrheit entspricht – dies sagen, daß sich an mir nichts finden läßt, was groß oder gar einzigartig wäre. Daß ich mich vielleicht mit Eifer und mit Leidenschaft den schönen Künsten widme, will ich nicht leugnen, doch weder gebrauche ich für mich den Titel Gelehrter, noch maße ich ihn mir an. Daß ich meinen Schultern eine so große Last aufgebürdet habe, geschah nicht deshalb, weil ich der Schwachheit meiner Kräfte mir nicht bewußt gewesen wäre, sondern weil ich wußte, daß das Besondere an solchen, also wissenschaftlichen Kämpfen darin besteht, daß es sogar Gewinn bedeutet, dabei zu unterliegen. So kommt es, daß der Schwächste sie nicht etwa zu fliehen braucht, sondern sie von sich aus mit Recht aufsuchen kann und darf. Denn wer unterliegt, empfängt vom Sieger eine Wohltat, nicht eine Schaden; mit dessen Hilfe nämlich kehrt er nach Hause reicher zurück, das heißt gescheiter, und besser gerüstet für künftige Gefechte. Beseelt von dieser Hoffnung, habe ich es nicht gescheut, als schwacher Krieger mit den Tapfersten und Tüchtigsten von allen einen so schweren Kampf bis an sein Ende durchzufechten.

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Die Kunst des Aufstiegs Sisyphos Auch den Sisyphos sah ich, von schrecklicher Mühe gefoltert, Einen schweren Marmor mit großer Gewalt fortheben. Angestemmt arbeitet‘ er stark mit Händen und Füßen, Ihn von der Au aufwälzend zum Berge. Doch glaubt er ihn jetzo Auf den Gipfel drehn, da mit einmal stürzte die Last um; Hurtig mit Donnergepoltert entrollte der tückische Marmor. Und von vorn arbeitet‘ er, angestemmt, dass der Angstschweiß Seinen Gliedern entfloß und Staub sein Antlitz umwölkte. Homer Odyssee (XI 593-600)

In der griechischen Mythologie erschient Sisyphos als der gerissene König von Korinth, der im Hades die Strafe erhielt, einen schwere Stein einen Berg hinaufzurollen, wobei der Stein jedes Mal wenn er den Gipfel erreichte wieder herabrollte. Dieses Schicksal wird in der Odyssee wiedergegeben. In der Ilias wird von dem in Ephyre (später Korinth) lebenden Sisyphos als dem Sohn von Äolus (nach dem die Äolier benannt wurden) und dem Vater von Glaukus erzählt. In posthomerischer Zeit wurde er auch als der Vater von Odysseus erwähnt: Die Gerissenheit der beiden Figuren war hier offensichtlich die Verbindung. Es wird vermutet, dass Sisyphos die Isthmischen Spiele gründete. Eine spätere Legende erzählte, dass, als der Tod kam um Sisyphos zu holen, dieser den Tod ankettete, so dass niemand sterben konnte bis Ares selber dem Tod zu Hilfe eilte und sich Sisyphos geschlagen geben musste. Er hatte allerdings bis dahin seiner Frau Merope die Anweisung erteilt, keine der im Todesfall üblichen Opfer zu bringen und seinen Körper nicht zu beerdigen. So durfte er, sobald er in der Unterwelt angekommen war, zurückkehren um sie für die Unterlassung ihrer Pflichten zu bestrafen. Wieder heimgekehrt, lebte Sisyphos bis zu einem hohen Alter, bevor ein zweites Mal starb. Tatsächlich war Sisyphos, wie auch Autolykos und Prometheus, eine hoch beliebte Figur der Folklore – der Gauner, der Meisterdieb. Während es einleuchtet, dass er seine immer währende Strafe im Hades erhielt, weil er sich dem Tod nicht beugen wollte, bleibt es ein

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bisher ungelöstes Rätsel, wieso diese Strafe ausgerechnet die war, einen schweren Stein immerfort einen Berg hinaufzurollen. Es scheint sich hier um eine von mehreren Verbildlichungen der griechischen Sicht vom Tod als eine Szene der vergeblichen Arbeit zu handeln. The New Encyclypaedia Britannica, 15. Ausgabe

Unstern Solch eine Last zu stemmen, Sisyphus, bedürfte es deiner Ausdauer! Ob man das Werk auch noch so mutig angreift: lang ist die Kunst, die Zeit ist kurz. Charles Baudelaire

Der Mythos von Sisyphos Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst wieder hinunterrollte. Sie hatten mit einiger Berechtigung bedacht, daß es keine grausamere Strafe gibt als eine unnütze und aussichtslose Arbeit. Es ist nicht schwer zu verstehen: Sisyphos ist der Held des Absurden. Ebensosehr aufgrund seiner Leidenschaften wie seiner Qual. Seine Verachtung der Götter, sein Haß gegen den Tod und seine Liebe zum Leben haben ihm die unsagbare Marter eingebracht, bei der sein ganzes Sein sich abmüht, ohne etwas zu vollenden. Damit werden die Leidenschaften dieser Erde bezahlt. Über Sisyhos in der Unterwelt wird uns nichts weiter berichtet. Mythen sind dazu da, von der Phantasie belebt zu werden. So sehen wir nur, wie ein angespannter Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein fortzubewegen, ihn hinaufzuwälzen und mit ihm wieder und wieder einen Hang zu erklimmen; wir sehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an den Stein schmiegt, sehen, wie eine Schulter sich gegen den erdbedeckten Koloß legt, wie ein Fuß ihn stemmt und der Arm die Bewegung aufnimmt, wir erleben die menschliche Sicherheit zweier erdbeschmutzter Hände. Schließlich ist nach dieser

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langen Anstrengung, die sich an einen Raum ohne Himmel und einer Zeit ohne Tiefe misst, das Ziel erreicht. Und nun sieht Sisyphos, wie der Stein im Nu in jene Tiefe rollt, aus der er ihn wieder auf den Gipfel wälzen muß. Er geht in die Ebene hinunter. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverläsig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewußtsein. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels. Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Leben zuwendet (ein Sisyphos, der seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine unreigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird. Überzeugt vom ganz und gar menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ein Blinder, der sehen möchte und weiß, dass die Nacht kein Ende hat, ist er immer unterwegs. Noch rollt der Stein. Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges. Seine Last findet man immer wieder. Sisyphos jedoch lehrt uns die größere Treue, die die Götter leugnet und Felsen hebt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gramm dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Albert Camus

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Literatur- und Quellenverzeichnis

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Literatur- und Quellenverzeichnis

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Angaben zu Erstveröffentlichungen • Bilderwechsel, Metaphernwechsel – anders beschreiben, anders sehen, anders organisieren Text anlässlich des SYNNECTA Werkhaus 2017 • Das erneuerte Kaizen – Ein Positionspapier zur Renaissance des Kaizen Erstmals erschienen 2005 im Gildenstern Verlag, mit freundlicher Genehmigung vom Gildenstern Verlag • Durchwegung Unter dem Titel „Netzwerke im Unternehmen. Die dynamisch¬-vernetzte Organisation: Wie Communities jenseits des Organigramms Potenziale freisetzen und Wandel ermöglichen“ erschienen in „Anders wirtschaften. Integrale Impulse für eine plurale Ökonomie“, Hollmann, J/ Daniels, K. (Hrsg.), 2012, mit freundlicher Genehmigung vom Gabler Verlag • Führung von Veränderungsprozessen Erstmals erschienen in: „Management-Development: Praxis, Trends und Perspektiven“, Welge, M. K./ Häring, K./ Voss, A. (Hrsg.), 2000, mit freundlicher Genehmigung vom Schäffer-Poeschel Verlag • Glaube, Liebe, Hoffnung – Im Schatten der Organisation Vortrag anlässlich des Sommergespräches 2006 von EUCUSA in Mayerling • Innovation und Veränderung Erstmals erschienen 2000 im Gildenstern Verlag, mit freundlicher Genehmigung vom Gildenstern Verlag • Marktorientierte Kultur im Unternehmen Erstmals erschienen 2003 im Gildenstern Verlag, mit freundlicher Genehmigung vom Gildenstern Verlag • New Organization, New Work, New Mindset. Text anlässlich des SYNNECTA Werkhaus 2018 • Von Fehlern, Irrtümern und Abweichungen: Zwischen Management & Leadership. Vortrag Schloss Solitude 2015. Erschienen in „Neue Freunde 1 – zum aktuellen Stand von art, science & business“, Joly, J.-B./ Merz und Solitude (Hrsg.), Stuttgart, mit freundlicher Genehmigung von der Akademie Schloss Solitude • Was macht es eigentlich so anders? Erstmals erschienen 2000 im Gildenstern Verlag, mit freundlicher Genehmigung vom Gildenstern Verlag • Wie die Athener Matrosen wurden – Kunst und Bildung in Unternehmen Erstmals erschienen 2001 im Gildenstern Verlag, mit freundlicher Genehmigung vom Gildenstern Verlag Verzeichnis der verwendeten Zitate • Von Hentig, H. (1998). Kreativität, Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff mit freundlicher Genehmigung vom Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG • Hüther, G. (1997).Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden mit freundlicher Genehmigung vom Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG Verlag • Smith, M. D. (2014). No One Cares If You Never Apologize for Your White Male Privilege, (Online abrufbar: www.thenation.com/article/no-one-cares-if-you-never-apologize-your-­ white-male-privilege) • Lepore, J. (2014). The Disruptive Machine / NewYorker Online Magazine sinngemäß übersetzt (Online abrufbar: www.newyorker.com/magazine/2014/06/23/the-disruption-machine?­ currentPage=all) • Richter, P. (o.D.). Fred Turner on Tech+Trump+LSD - Über: das Silicon Valley - Trump - LSD (Online abrufbar: www.peterrichter.tv/fred-turner-ueber-das-silicon-valley-trump-und-lsd/) mit freundlicher Genehmigung von Peter Richter

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Die Herausgeber*innen des Buches haben sich bemüht, sämtliche Werke fremder Urheber*innen als solche auszuzeichnen. Sollten trotz aller Sorgfalt und bester Absichten unberücksichtigte Rechtsansprüche bestehen, bitten wir Sie freundlich um Kontaktaufnahme. Urheber*innen werden selbstverständlich branchenüblich vergütet.

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