Längst hat die historische Forschung das hartnäckige Diktum zur Weimarer Republik von einer "Demokratie ohne Demokr
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German Pages 260 [266] Year 2020
Table of contents :
INHALT
VORWORT DER REIHENHERAUSGEBER
Einleitung: Wer trägt die Republik? (Sebastian Elsbach / Marcel Böhles / Andreas Braune)
PARLAMENTARISMUS IM UMBRUCH
(Lars F. Köppen)
Von der Herrschaft der Privilegierten zur Volksvertretung?
Die demografische Transformation der Hamburger Bürgerschaft
nach der Novemberrevolution
(Desiderius Meier)
Hermann Dietrich – ein Demokrat?
Zum liberalen Staatsverständnis in der Weimarer Republik
(Claudius Kiene)
Eine zu demokratische Persönlichkeit?
Karl Spiecker und der Zentrumsparteitag von 1925
(Cornelia Baddack)
Interventionen gegen rechts: Die liberale Reichstagsabgeordnete
Katharina von Kardorff-Oheimb (1879–1962) im Konfliktfeld DVP
(Andreas Marquet)
Sozialstruktur und individuelle Praxis:
Zur Verortung des (Sozial-)Demokraten Friedrich Wilhelm Wagner
(Sebastian Elsbach)
Ein Paladin der Freiheit:
Der Reichsbannermann Hubertus Prinz zu Löwenstein (1906–1984)
POLITISCHE BILDUNG, DEMOKRATISCHE BILDUNG?
(Ronny Noak)
Albert Rudolph. Auf Wanderschaft in die Demokratie
(Janosch Förster)
„Demokratie ist der große Gedanke, der den Volksstaat überhaupt trägt.“
Richard Seyfert als Politiker
(Marcel Böhles)
Albert Kuntzemüller. Badischer Eisenbahnenthusiast, Pädagoge
und Sozialdemokrat im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold
(Christian Lüdtke)
Hans Delbrück. Eine konservative Alternative für Weimar
REPUBLIKANISCHE KULTUR UND PUBLIZISTIK
(Sebastian Rojek)
Ein Hochstapler als „Spion“ der Weimarer Republik:
Der Fall Harry Domela
(Catharina Rüß)
Coole Widerständigkeit unter dem Zeichen des Jazz.
Lässige Demokratiebekenntnisse der „tänzerischen Generation“
um Klaus Mann
(Tobias Julius Wissinger)
Also sprach Thomas Mann. Ein konservativer Kulturkritiker
als bürgerlicher Repräsentant der Demokratie?
(Simon Sax / Sebastian Elsbach)
Der militante Journalist und Archivar Walter Gyssling
AUTORINNEN UND AUTOREN
Demokratische Persönlichkeiten in der Weimarer Republik Herausgegeben von Sebastian Elsbach, Marcel Böhles und Andreas Braune
Weimarer Schriften zur Republik
Franz Steiner Verlag
13
Weimarer Schriften zur Republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Büttner, Prof. Dr. Alexander Gallus, Prof. Dr. Kathrin Groh, Prof. Dr. Christoph Gusy, Prof. Dr. Marcus Llanque, Prof. Dr. Walter Mühlhausen Band 13
Demokratische Persönlichkeiten in der Weimarer Republik
Herausgegeben von Sebastian Elsbach, Marcel Böhles und Andreas Braune
Franz Steiner Verlag
Gedruckt aus Mitteln des Struktur- und Innovationsbudgets des Thüringer Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft.
Umschlagabbildung: „Die große Verfassungsfeier am 11. August in Berlin! Eine Riesen-Reichsflagge wird von Herolden bei der Verfassungsfeier im Stadion in dasselbe hereingetragen.“ © Bundesarchiv, Bild Nr. 102-08215, Fotograf: Georg Pahl, 11. August 1929 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12799-8 (Print) ISBN 978-3-515-12801-8 (E-Book)
INHALT Vorwort der Reihenherausgeber ......................................................................... VII Sebastian Elsbach / Marcel Böhles / Andreas Braune Einleitung: Wer trägt die Republik? ...................................................................... IX PARLAMENTARISMUS IM UMBRUCH Lars F. Köppen Von der Herrschaft der Privilegierten zur Volksvertretung? Die demografische Transformation der Hamburger Bürgerschaft nach der Novemberrevolution ................................................................................. 3 Desiderius Meier Hermann Dietrich – ein Demokrat? Zum liberalen Staatsverständnis in der Weimarer Republik ................................. 21 Claudius Kiene Eine zu demokratische Persönlichkeit? Karl Spiecker und der Zentrumsparteitag von 1925 .............................................. 39 Cornelia Baddack Interventionen gegen rechts: Die liberale Reichstagsabgeordnete Katharina von Kardorff-Oheimb (1879–1962) im Konfliktfeld DVP ................... 55 Andreas Marquet Sozialstruktur und individuelle Praxis: Zur Verortung des (Sozial-)Demokraten Friedrich Wilhelm Wagner ................... 71 Sebastian Elsbach Ein Paladin der Freiheit: Der Reichsbannermann Hubertus Prinz zu Löwenstein (1906–1984)................... 85
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Inhalt
POLITISCHE BILDUNG, DEMOKRATISCHE BILDUNG? Ronny Noak Albert Rudolph. Auf Wanderschaft in die Demokratie ....................................... 101 Janosch Förster „Demokratie ist der große Gedanke, der den Volksstaat überhaupt trägt.“ Richard Seyfert als Politiker ................................................................................ 119 Marcel Böhles Albert Kuntzemüller. Badischer Eisenbahnenthusiast, Pädagoge und Sozialdemokrat im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold .................................. 135 Christian Lüdtke Hans Delbrück. Eine konservative Alternative für Weimar ................................ 153 REPUBLIKANISCHE KULTUR UND PUBLIZISTIK Sebastian Rojek Ein Hochstapler als „Spion“ der Weimarer Republik: Der Fall Harry Domela ........................................................................................ 173 Catharina Rüß Coole Widerständigkeit unter dem Zeichen des Jazz. Lässige Demokratiebekenntnisse der „tänzerischen Generation“ um Klaus Mann .................................................................................................... 189 Tobias Julius Wissinger Also sprach Thomas Mann. Ein konservativer Kulturkritiker als bürgerlicher Repräsentant der Demokratie? ................................................... 209 Simon Sax / Sebastian Elsbach Der militante Journalist und Archivar Walter Gyssling ...................................... 223 Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 239
VORWORT DER REIHENHERAUSGEBER Dieser Band versammelt die Beiträge der dritten Konferenz für den wissenschaftlichen Nachwuchs der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und des Weimarer Republik e.V. Sie fand im August 2018 in Jena unter dem Titel „Demokratische Persönlichkeiten in der Weimarer Republik“ statt. Bei der gemeinsamen Themenwahl war die Überlegung maßgebend, dass der Fokus auf das angebliche ‚Scheitern‘ der Republik und die Feinde der Demokratie lange Zeit den Blick auf diejenigen Akteure verstellt hatte, die sich aktiv für die demokratische Transformation und die neue Staats- und Herrschaftsform einsetzten. Dabei wollten wir ausdrücklich nicht so sehr auf die erste Reihe der republikanischen Politiker schauen, sondern in die Tiefen der Weimarer Transformationsgesellschaft. Wir zielten bewusst auf die heute oftmals fast vergessenen Personen, die sich in der zweiten oder dritten Reihe oder auf regionaler oder kommunaler Ebene für die Demokratie einsetzten und die Republik gegen ihre Feinde verteidigten. Dabei wollten wir nicht nur Politikerinnen und Politiker in den Blick nehmen. Denn die demokratische Transformation erforderte Engagement in allen Bereichen: Zivilgesellschaft (Verbände, Gewerkschaften etc.), Presse und Journalismus, Bildung und Wissenschaft, Polizei, Justiz und Verwaltung, Literatur, Kunst und Kultur etc. Neben einzelnen Ministern und Abgeordneten, Ministerpräsidenten der Länder oder Bürgermeister größerer Städte usw. kamen daher auch Journalisten, Verbandsmitglieder und -funktionäre, hohe Beamte, Juristen, Wissenschaftler, Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler in Betracht. Und da die Transformation hin zu einer demokratischen Ordnung besonders für Frauen eine neue Stellung vorsah, waren wir auch sehr an Beiträgen zu engagierten Demokratinnen in all diesen Bereichen interessiert. All dies deckt der nun vorgelegte Band nicht ab, aber einiges davon. Und er gibt ein anschauliches Bild davon, wie vielfältig und vielgestaltig die neuere Weimar-Forschung ist. Immer wieder werden neue Forschungsfelder erschlossen und rücken damit auch neue Protagonistinnen und Protagonisten der demokratischen Transformation ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die hier versammelten ‚demokratischen Persönlichkeiten‘ müssen daher nicht die letzten sein, die in Form eines solchen Bandes vorgestellt werden. Die Vorbereitung und Durchführung einer solchen Tagung und der Weg zum anschließenden Band sind eine kollektive Anstrengung. Unser erster Dank gilt mit dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und dem Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft den beiden Institutionen, die mit ihrer Grundförderung des Weimarer Republik e.V. und der Forschungsstelle Weimarer Republik das Format der jährlichen Nachwuchstagungen überhaupt erst möglich machen. Beim Weimarer Republik e.V. danken wir Stephan
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Vorwort der Reihenherausgeber
Zänker, Anne Meinzenbach, Markus Hünniger, Markus Lang und Ronny Noak für die Unterstützung und gute Zusammenarbeit in allen Belangen. An der Forschungsstelle und dem Arbeitsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte gilt unser Dank Monika Keilich, Katrin Friske, Tim Niendorf, Tim Haas, Jonathan Overmeyer, Katharina Vogt und Max Streckhardt für alle kleineren und größeren Unterstützungen. Der Leitung der FSU Jena sind wir zu Dank dafür verpflichtet, dass sie uns mit dem Senatssaal ihre ‚beste Stube‘ als Tagungsort zur Verfügung gestellt hat. Ein Dank geht auch an Franz Josef Düwell, vorsitzender Richter a.D. am Bundesarbeitsgericht und Ehrenmitglied des Weimarer Republik e.V., für seinen Abendvortrag „Arnold Freymuth. Ein Jurist für die Demokratie“. In dem Zusammenhang ist auch Torsten Oppelland und dem Helmuth-Loening-Zentrum für Staatswissenschaft e.V. zu danken, die diesen Abend im Rahmen der „Schillerhausgespräche“ mitgestaltet hatten. Auch Alf Rößner, dem Direktor des Stadtmuseums Weimar, danken wir für seine gewohnte Gastfreundschaft beim Besuch der Ausstellung „Demokratie aus Weimar. Die Nationalversammlung 1919“. Im Nachgang zur Tagung hatten wir das Glück, mit Sebastian Elsbach und Marcel Böhles die beiden Wissenschaftler für die hauptsächliche redaktionelle Betreuung des Bandes gewinnen zu können, die mit ihren jeweiligen Arbeiten zum Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold für die Erforschung der demokratischen ‚Zivilgesellschaft‘ der Weimarer Republik in den letzten Jahren Maßstäbe gesetzt haben. Schon diese neuerliche Auseinandersetzung mit dem bedeutendsten prorepublikanischen (Kampf-)Verband veranschaulicht mit allem Nachdruck, dass es vor 1933 zahlreiche ‚Herzensrepublikaner‘ gab und die erste deutsche Demokratie keinesfalls auf verlorenem Posten stand. Wir danken ihnen sehr dafür, mit ihrer Unterstützung in einer sehr arbeitsreichen Phase im Jubiläumsjahr 2019 und im Vorfeld der Eröffnung des „Hauses der Weimarer Republik. Forum für Demokratie“ in Weimar den relativ zügigen Abschluss dieses Bandes möglich gemacht zu haben. Zuletzt ist aber natürlich allen Autorinnen und Autoren für ihren Beitrag und ihre gründliche und verlässliche Zusammenarbeit zu danken. Ohne diese gleichermaßen individuelle wie kollektive Anstrengung läge der Band heute nicht in dieser Form vor. Dabei konnten sogar im Nachgang zur Tagung noch einige weitere Autoren gewonnen werden, denen wir sehr für ihre Bereitschaft danken möchten, auch ohne Teilnahme an der Konferenz etwas beigesteuert zu haben. Besonders freut uns schließlich, dass neben Sebastian Elsbach und Marcel Böhles mit Janosch Förster, Claudius Kiene, Tobias Julius Wissinger und Simon Sax insgesamt sechs Träger des Forschungspreises für Arbeiten zur Weimarer Republik vertreten sind, den die Forschungsstelle und der Weimarer Republik e.V. seit 2016 jährlich in drei verschiedenen Stufen auslobt. Damit bietet dieser Band auch ein Forum dafür, (Teil-)Ergebnisse dieser ausgezeichneten Bachelor- und Masterarbeiten und Dissertationen dem Fachpublikum zugänglich zu machen.
Jena, im Juni 2020
Michael Dreyer & Andreas Braune
EINLEITUNG: WER TRÄGT DIE REPUBLIK? Sebastian Elsbach / Marcel Böhles / Andreas Braune
Abb. 1: Th. Th. Heine: Wer trägt die Republik?1
Diese Karikatur des Simplicissimus ist berühmt: Acht zum Teil recht zwielichtige Gestalten tragen die einzelnen Buchstaben der „Firma“ R-e-p-u-b-l-i-k über ihren Köpfen. Man sieht den Pastoren neben dem Großbürger, den Reichswehrsoldaten neben dem Proletarier stehen. Am Ende reiht sich selbst ein SA-Mann ein, der 1
Bildunterschrift: „Sie tragen die Buchstaben der Firma – aber wer trägt den Geist?!“ In: Simplicissimus v. 21. März 1927, in: http://www.simplicissimus.info/uploads/tx_lombkswjournaldb/pdf/1/31/31_51.pdf. Wirsching/Eder (2008): Vernunftrepublikanismus führen die Karikatur als Titelbild.
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Sebastian Elsbach / Marcel Böhles / Andreas Braune
überraschend zackig dreinblickt. Die Unterschrift des Ganzen fragt, wer von diesen Männern (Frauen sind nicht abgebildet) nun den „Geist“ der Republik trägt. Der Beobachter wird verleitet zu sagen: niemand. Alle vom Karikaturisten abgebildeten Personen sind lediglich Repräsentanten ihrer jeweiligen Partei, Organisation oder Klasse. Gemeinnütziges Verhalten im Dienste für die Republik, so die Botschaft der Karikatur, gab es in Weimar nicht. Hierin mag schon die Erklärung dafür liegen, warum gerade diese Karikatur aus dem Repertoire des Simplicissimus ‚posthum‘ so große Berühmtheit erlangen konnte. Sie bietet ein anschauliches Sinnbild für das Narrativ von der vermeintlichen „Republik ohne Republikaner“, deren Ende scheinbar zwangsläufig war. Dass es sich hierbei jedoch um eine überholte Sichtweise handelt, möchte dieser Sammelband zeigen. Die hier versammelten „demokratischen Persönlichkeiten“ waren allesamt Trägerinnen und Träger der ersten Republik, und sie als einflusslose Einzelgänger abzutun, ist kaum möglich.2 Sie alle waren eingebunden in weitläufige Netzwerke akademischer, parteipolitischer, publizistischer oder kultureller Art, die wiederum Teile der verschiedensten politischen Milieus waren. Der Begriff „demokratische Persönlichkeit“ stellt in diesem Sinne die integrierende Klammer der Beiträge dar, wobei diese heutzutage wenig gebräuchliche Wortprägung eine reiche Geschichte hat. Gesine Schwan erinnerte bereits 1995 an den Ursprung der Debatte um die „demokratische Persönlichkeit“ in der Sozialpsychologie der Nachkriegszeit.3 Während Theodor Adorno (bis heute prominent) nach den Charakteristika der „autoritären Persönlichkeit“4 fragte, wurde in den 1950er und 1960er Jahren auch das Konzept der „demokratischen Persönlichkeit“ rege diskutiert. Schwan zufolge wurde diese sozialpsychologische Fragestellung jedoch nach der gleichfalls berühmten Studie „The civic culture“ von Gabriel Almond und Sidney Verba relativ rasch von der politischen Kulturforschung verdrängt.5 Sozialwissenschaftlerinnen fragten kaum mehr danach, welche psychologische Entwicklung ein Individuum durchmachen musste, um demokratische Einstellung zu entwickeln, sondern konzentrierten sich auf das überindividuelle Phänomen der „politischen Kultur“. Schwan verweist denn auch auf einen irritierenden und seinerzeit kaum hinterfragten Aspekt des Konzepts der „demokratischen Persönlichkeit“. So wurde in den entsprechenden Studien angenommen, dass vorwiegend „gesunde“ Persönlichkeiten demokratische Einstellungen entwickeln würden, während nicht-demokratische Persönlichkeiten von pathologischen Ängsten beherrscht seien. Die „demokratische Persönlichkeit“ sei „wohlintegriert“ in die Gesellschaft, die nicht-demokratische Persönlichkeit hingegen psychisch krank.6 Schwan kritisiert, dass solche absoluten Kategorisierungen tendenziell die psychische Inkohärenz der Persönlichkeiten verdecken
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So Gusy (2000): demokratisches Denken, S. 662. Vgl. hier und im Folgenden: Schwan (1995): Demokratische Persönlichkeit, S. 231ff. Adorno (1950): Authoritarian personality. Almond/Verba (1966): Civic culture. Vgl. Schwan (1995): Demokratische Persönlichkeit, S. 234f.
Einleitung: Wer trägt die Republik?
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würden, aber hält an einer differenzierten Variante des sozialpsychologischen Konzeptes der „demokratischen Persönlichkeit“ fest.7 Was in dieser Darstellung Schwans zudem klar wird, ist der Umstand, dass die Kategorisierung psychisch gesund/nicht-gesund stark durch die jeweils geltenden Herrschaftsverhältnisse geprägt wird. Autoritäre Regime sperrten und sperren Kritiker massenhaft mit der Begründung ein, dass sie „psychisch krank“ seien. Das ursprüngliche Konzept der „demokratischen Persönlichkeit“ spiegelt analog ein demokratisches Herrschaftsverhältnis wider. Auch Demokratien brauchen Persönlichkeiten, die mit ihren persönlichen Einstellungen zur Aufrechterhaltung des politischen Systems beitragen, aber sie können ihrem Selbstverständnis nach diesen Zustand nicht (allein) durch Zwang oder gar Gewalt herstellen. Laut dem Soziologen Karl Mannheim, dessen Beitrag zum Konzept der „demokratischen Persönlichkeit“ erst posthum veröffentlicht wurde,8 sind demokratische Menschen von „geistiger Offenheit und Kooperationsbereitschaft“ geprägt. Anders als „autoritäre Persönlichkeiten“ würden sie keine übertriebene Fixierung auf ihren Status entwickeln, was sich bei „autoritären Persönlichkeiten“ vor allem in einer Angst vor dem Verlust des eigenen Status ausdrücke und zu Abwehrreaktionen (wie Fremdenfeindlichkeit) führe.9 Gleichzeitig spricht sich Mannheim dafür aus, dass nicht der durch die kapitalistische Wirtschaftsweise begünstigte „skrupellose Individualismus“ als Alternative zur „autoritären Persönlichkeit“ aufzufassen sei, da ein unkontrollierter Individualismus zu einer Herrschaft der Wenigen führen müsse. Durch bewusste „Planung“ sei es demgegenüber notwendig, eine demokratische Gesellschaft zu errichten und einen erneuten „Rückfall in die Barbarei“ zu verhindern. Nur die Demokratie ermögliche es den in eine solche Gesellschaft integrierten Individuen, sich als Gleiche zu begegnen und schöpferisch tätig zu werden.10 Auch wenn der Anspruch einer gesellschaftlichen „Planung“ für heutige Leserinnen ebenso irritierend wirken mag, wie die Unterteilung in „gesunde Demokraten“ und „kranke Nicht-Demokraten“, so sind die Grundprämissen des Konzeptes der „demokratischen Persönlichkeit“ nach wie vor aktuell. Die Anwendung des Konzeptes im Rahmen einer sozialwissenschaftlich fundierten Demokratiegeschichte erfordert jedoch eine grundlegende Anpassung. Während eine Beantwortung der Fragen danach, was eine „demokratische Persönlichkeit“ ausmacht, wie sie sich sozialisiert, mit ihren Mitmenschen (politisch) agiert und wie umgekehrt nicht-demokratische Akteure auf sie reagieren, durch die Analyse historischer Quellen grundsätzlich möglich ist, kann die interne Persönlichkeitsstruktur von bereits verstorbenen Personen höchstens in Ausnahmefällen untersucht werden. Für unseren Kontext muss daher der Fokus des ursprünglichen Konzeptes der „demokratischen Persönlichkeit“ vom Nomen auf das Adjektiv verlegt werden. Alle Autorinnen und Autoren dieses Bandes gehen dann auch stillschweigend davon aus, dass ihre Beiträge tatsächlich „Persönlichkeiten“ behandeln, die in der Lage waren, 7 8 9 10
Vgl. ebd., S. 240ff. Hoffmann (1996): Karl Mannheim, S. 150. Vgl. Mannheim (1970): geplante Demokratie, S. 179ff. Vgl. ebd., S. 188ff.
XII
Sebastian Elsbach / Marcel Böhles / Andreas Braune
widerstrebende Charaktereigenschaften und Einstellungen zu einer halbwegs kohärenten Identität zu vereinen. Was das „demokratische“ Selbstverständnis dieser Personen ausmachte, wird dabei in den Beiträgen sehr unterschiedlich beantwortet. Alle hier behandelten Personen waren Teil der Demokratisierung Deutschlands in der Phase der Weimarer Republik und teilten auch die entsprechenden Erfolge und Misserfolge. Jenseits von institutions- oder milieugeschichtlich inspirierten Arbeiten ist es, so denken wir, naheliegend, bei den zahlreichen ‚kleinen‘ Einzelakteuren dieses Demokratisierungsprozesses anzusetzen. Während zu den ‚großen Staatsmännern‘ der Republik inzwischen eine Vielzahl an biographischen Arbeiten vorliegen,11 herrscht für Vertreterinnen und Vertreter der ‚2. und 3. Reihe‘ in Politik, Bildung und Kultur oftmals akademischer Leerstand. Entsprechend gliedert sich dieser Band in drei Teile, die jeweils „demokratische Persönlichkeiten“ aus den genannten Teilbereichen der Weimarer Gesellschaft behandeln. Die Beiträge des ersten Hauptteils verdeutlichen die Probleme und Chancen des tiefgreifenden Umbruchs, den der deutsche Parlamentarismus in den Jahren der Weimarer Republik erlebte. Sicherlich waren die parlamentarischen Erfahrungen aus der Zeit des Kaiserreiches für den Großteil der Akteure prägend,12 aber erst das Prinzip der parlamentarischen Verantwortung der Regierung machte Deutschland zu einer Demokratie im politikwissenschaftlichen Sinne.13 Der „Obrigkeitsstaat“ war vom „Volksstaat“ abgelöst worden, wenngleich der 1919 angestoßene Transformationsprozess weniger abrupt verlief als es das Wort Revolution nahelegt.14 Zu diesem Übergang gehörte vor allem auch eine regelrechte Wahlrechtsrevolution. Sie beinhaltete einerseits die enorme Ausdehnung des Wahlvolkes, die vor allem durch die Absenkung des Wahlalters von 25 auf 20 Jahre und die Einführung des Frauenwahlrechts bewirkt wurde. Erstmals konstituierte sich so ein wirklich umfassender demos, so dass das neue Prinzip der Volkssouveränität auch tatsächlich beansprucht werden konnte. Andererseits – und dies wird in diesem Zusammenhang oft vernachlässigt – veränderte der Übergang vom Mehrheitswahlrecht zum Verhältniswahlrecht die Parameter des Parlamentarismus und der Parteiarbeit grundlegend. So entstand eine moderne Massen- und Parteiendemokratie, die von demokratieskeptischen Persönlichkeiten eher als ‚Parteienstaat‘ diffamiert wurde. Wer der Demokratie positiv gegenüberstand, erkannte und bejahte diese neue Rolle der Parteien und Parlamente.15 Die Kontinuitäten zwischen dem vor- und dem nachrevolutionären Stadtparlament in Hamburg verdeutlicht der Beitrag von LARS F. KÖPPEN. Neben die etablierten, älteren Parlamentarier traten nur vereinzelt jüngere Abgeordnete und, vor allem über die Listen des linken Parteispektrums, erstmals auch Frauen. So wies selbst die Fraktion der MSPD als treibender Kraft der Novemberrevolution ein 11 12 13 14 15
Etwa die pointiert betitelte Arbeit: Wright (2006): Stresemann. Siehe für die letzten Jahre des Kaiserreichs: Llanque (2000): Demokratisches Denken, Vgl. Merkel (2010): Systemtransformation, S. 26. Vgl. Mergel (2012): Reichstag, S. 75 u. 228f. Vgl. für eine demokratiekritische Sichtweise hierauf etwa: Triepel (1928): Staatsverfassung, für eine pro-demokratische: Radbruch (1930): Die politischen Parteien.
Einleitung: Wer trägt die Republik?
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erstaunliches Maß an personeller Kontinuität auf. Die „Traditionsbildung“ war somit bei allen Parteien – egal ob demokratisch oder nicht – sehr stark ausgeprägt, was in einem gleichfalls starken Kontrast zur veränderten Selbstdarstellung aller Parteien im Wahlkampf stand. Keine Partei identifizierte sich – zumindest in ihrer Bildsprache – so stark mit der neuen schwarz-rot-goldenen Republik wie die DDP und dennoch stellt DESIDERIUS MEIER die berechtigte Frage, ob Hermann Dietrich als Spitzenpolitiker der Linksliberalen überhaupt als „Demokrat“ bezeichnet werden kann. Denn eigentlich war Dietrich noch im Ersten Weltkrieg als bekennender Monarchist aufgefallen und seine Kehrtwende zum Republikaner erklärt Meier mit einer Mischung aus Pragmatismus und Opportunismus. Dietrichs Politikverständnis blieb demnach trotz seines demokratischen Engagements von antipluralistischen, vormodernen Elementen geprägt. Eine umgekehrte Fragestellung verfolgt CLAUDIUS KIENE in seinem Beitrag über den Zentrumspolitiker Karl Spiecker. War Spiecker zu sehr Demokrat und gereichte ihm seine entschiedene Bejahung der Republik gar zum Nachteil? Kiene schildert Spieckers Rolle auf dem Zentrums-Parteitag von 1925, wo in der Konsequenz das Verhältnis zur Republik zur Diskussion stand. Mit der SPD oder der DNVP regieren? Dies war die Gretchenfrage, welche das Zentrum entzweite und Spiecker als gewichtige Stimme des pro-SPD-Lagers konnte laut Kiene lediglich einen „Pyrrhussieg“ erringen. Zu stark waren die Beharrungskräfte der Rechtskonservativen im Zentrum, so dass Spieckers Einfluss bald schwand. Dass das Zentrum ein ambivalentes Verhältnis zur Republik aufwies, mag als These vereinzelt angezweifelt werden. Der DVP hingegen wird einvernehmlich als Scharnier zwischen dem demokratischen und dem rechtsautoritären Parteilager aufgefasst. Mit Katharina von Kardorff-Oheimb kann CORNELIA BADDACK eine Führungsfigur des linken Parteiflügels präsentieren, die in vielfältiger Weise, wenn auch letztlich erfolglos, versucht hatte, gegen den Rechtstrend ihrer Partei anzukämpfen. Kardorff-Oheimb war nicht nur als Parteipolitikerin eine Ausnahmeerscheinung, sondern auch als erfolgreiche Industrielle und weitvernetzte „Salondame“ ein Beweis für die wachsende Rolle von Frauen in Politik und Wirtschaft. Friedrich Wilhelm Wagner war als „Funktionär mittlerer Reichweite“ und Reichstagsabgeordneter zwar keine Ausnahmeerscheinung in der Weimarer SPD. Zahlreiche Männer und Frauen trugen die Organisationsarbeit der Partei, aber ANDREAS MARQUET verdeutlicht, wie außergewöhnlich Wagners Lebensweg war. Als bürgerlich sozialisierter und studierter Jurist und Corps-Mitglied hatte Wagner eine Sonderrolle innerhalb der proletarischen Partei, die intern nicht unumstritten war. Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte Wagner als Bundesverfassungsrichter einen enormen beruflichen Aufstieg. Kontinuitätslinien bestanden nicht nur zwischen dem Parlamentarismus der Kaiserzeit und jenem der Weimarer Republik, auch zur Bundesrepublik führen aus Weimar zahlreiche biographische Stränge. Hubertus Prinz zu Löwenstein konnte aufgrund seiner Jugend zwar in Weimar noch keine parlamentarische Karriere machen, doch zog er 1953 für die FDP in den Bundestag ein. Löwensteins politische Sozialisation in der Weimarer Republik, genauer gesagt im Reichsbanner Schwarz-
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Sebastian Elsbach / Marcel Böhles / Andreas Braune
Rot-Gold, war dabei für seinen weiteren Lebensweg prägend, wie SEBASTIAN ELSBACH aufzeigen kann. NS-Diktatur und Exil hatten den wehrhaften Republikaner Löwenstein nicht korrumpiert. Waren die „demokratischen Persönlichkeiten“ allesamt Ausnahmeerscheinungen? Die bisherigen Fallbeispiele mögen dies nahelegen, doch ist es nicht überraschend, wenn ein biographischer Blickwinkel das Außergewöhnliche betont und tendenziell das Alltägliche bzw. für die jeweilige Generation Typische vernachlässigt. Demokratische Politikerinnen und Politiker konnten zweifellos über die Parteien der „Großen Koalition“ in den 1920er Jahren die demokratische Transformation vorantreiben und parlamentarische Erfahrungen sammeln. Ein nicht zu vernachlässigender Teil von ihnen konnte hieran in der frühen Bundesrepublik anknüpfen, deren nachhaltige Demokratisierungserfolge ohne Weimar nicht zu denken sind.16 Das weite Feld der Bildung im Allgemeinen und auch die politische Bildung im Speziellen, aus welchem die biographischen Fallbeispiele des zweiten Hauptteils stammen, verdeutlicht die Diskrepanz zwischen politischer Elite und breiteren Bevölkerungsschichten. Bereits im Kaiserreich hatte sich jener Teil der politisch-parlamentarischen Elite zu demokratisieren begonnen, der die Basis des politischen Systems der Weimarer Republik bilden sollte. Bewusste „Planungsversuche“ zur Heranbildung von „demokratischen Persönlichkeiten“ hatte es vor den 1950er Jahren aber nicht gegeben, so lautete zumindest das Selbstverständnis der ursprünglichen Schöpfer des Konzepts wie Karl Mannheim.17 Jenseits des tendenziell problematischen Anspruchs einer „Planung“ mit einem steuerbaren Endprodukt, sind aber schon in der Weimarer Republik erste Ansätze zur Verbreitung von demokratischen Einstellungen in allen Teilen des Bildungssystems auszumachen. Wie RONNY NOAK zeigt, trug aber auch die demokratische Zivilgesellschaft zur Demokratisierung der Köpfe bei. Mit dem sozialdemokratischen Wanderlehrer Albert Rudolph hat Noak ein Fallbeispiel aus der Basisarbeit politischer Bildung. Die Lehrinhalte, die Rudolph in zahlreichen Kursen vermittelte, waren nicht rein parteipolitisch ausgerichtet, sondern zielten auch darauf ab, dass die Teilnehmenden ein besseres Verständnis des politischen Systems der Weimarer Demokratie entwickelten. Gleichzeitig war Rudolph auch als thüringischer Landtagsabgeordneter darum bemüht, das Bildungssystem in einem demokratischen Sinne zu reformieren. Ein vergleichbares Ziel verfolgte der sozialliberale, sächsische Landtagsabgeordnete und spätere Gründungsdirektor des Pädagogischen Instituts in Dresden Richard Seyfert. In der Nationalversammlung hatte er zudem einen großen Beitrag zur Ausformulierung der Schulartikel leisten können. JANOSCH FÖRSTER problematisiert in seinem Beitrag Seyferts Demokratiebegriff, der, ähnlich wie im Fall von Hermann Dietrich, antipluralistische Elemente aufwies. Förster verdeutlicht, wie dieser Befund mit Seyferts wegweisendem reformpädagogischen Engagement in Zusammenhang steht.
16 Vgl. hierzu Elsbach / Noak / Braune (Hg.) (2019): Konsens und Konflikt. 17 Mannheim (1970): geplante Demokratie, S. 34.
Einleitung: Wer trägt die Republik?
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Einen bemerkenswerten Quellenfund präsentiert MARCEL BÖHLES in seinem Beitrag über Albert Kuntzemüller. Der badische Pädagoge, Eisenbahnexperte und überzeugte Demokrat engagierte sich seit 1924 im Reichsbanner Schwarz-RotGold und schilderte später in seinen Memoiren eindrücklich die Widerstände, die mit einem öffentlichen Eintreten für die junge Republik verbunden waren. Gleichwohl zeigt sein Fall exemplarisch, welch große Handlungsspielräume selbst einem Akteur auf mittlerer Ebene zur Verfügung standen, wenn er sich – wie Kuntzemüller – konsequent für den Weimarer Staat und seine Symbole einsetzte. Als eine „vielversprechende konservative Alternative“ für Weimar präsentiert CHRISTIAN LÜDTKE in seinem Beitrag den Historiker, Publizisten und Politiker Hans Delbrück. Wenngleich sicher kein Republikaner im engeren Sinne, war dieser aber als einer der wenigen Vordenker im Mitte-Rechts-Spektrum dazu geeignet, das konservative Milieu auf Dauer mit der Republik zu versöhnen. So widersetzte sich Delbrück energisch dem Aufkommen der Dolchstoßlegende und plädierte für eine vorsichtige Annäherung an die Sozialdemokratie, um die Klassengegensätze in der deutschen Gesellschaft zu überwinden. Ihre bis heute nachwirkende internationale Reputation bezieht die Weimarer Republik bekanntlich weniger aus ihrer politischen als vielmehr ihrer kulturellen Strahlkraft. Dennoch sollte man nie vergessen, dass erst der Sturz des Kaiserreiches und der mit neuen ungeahnten Freiheiten verbundene Weg zur parlamentarischen Demokratie das ungehemmte Aufblühen all jener Disziplinen anregte, die wir heute unter der legendären Kultur von Weimar subsummieren. So gehörte die Abschaffung der Zensur im Aufruf „An das deutsche Volk!“ vom 12. November 1918 zu den ersten Maßnahmen des Rates der Volksbeauftragten, in Artikel 118 der Weimarer Reichsverfassung bestätigte die Nationalversammlung ein Jahr später die Meinungs- und Pressefreiheit, verbunden mit einer grundsätzlichen Verbot der Zensur.18 Vor diesem Hintergrund wäre zunächst die naive Annahme denkbar, gerade die Kulturschaffenden hätten der Republik aus einer Art „Dankbarkeit“ für diese neuen Freiheiten grundsätzlich aufgeschlossen gegenübergestanden. Doch ist dies nicht der Fall gewesen. Über die gesamten 14 Jahre ihrer Existenz stand die Weimarer Demokratie im Fadenkreuz ihrer Kulturkritiker von rechts und links – freilich aus ganz unterschiedlichen Motivlagen heraus. Während von rechts vor allem die Prägung durch eine anglo-amerikanisch bestimmte „Massenkultur“ und die Zersplitterung der politischen und gesellschaftlichen Kräfte im vermeintlichen „Parteiengezänk“ angeprangert wurden, bemängelten linke Intellektuelle die vermeintliche Kleinbürgerlichkeit der Republik und ihrer führenden Vertreter sowie den unzureichenden Elitenaustausch im Gefolge der Novemberrevolution und ein dadurch bedingtes Fortleben obrigkeitsstaatlicher Strukturen. 18 Wie im Grundgesetz auch steht die Meinungs- und Pressefreiheit in der Weimarer Reichsverfassung unter Gesetzesvorbehalt. Ausdrücklich nannte Art. 118 das noch relativ neue Kino und den Jugendschutz: „Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.“
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Sebastian Elsbach / Marcel Böhles / Andreas Braune
Daran anknüpfend erinnert SEBASTIAN ROJEK an die heute weitgehend vergessene Köpenickiade des deutsch-baltischen Hochstaplers Harry Domela. Mitte der 1920er Jahre hatte sich der frühere Freikorpskämpfer in mehreren deutschen Städten als Prinz verschiedener Adelshäuser ausgegeben und war von den örtlichen Honoratioren buchstäblich fürstlich empfangen worden. Rojek analysiert insbesondere, wie die zeitgenössische Presse den Skandal aufnahm und ihn – ähnlich wie 1906 die Komödie von Köpenick – als ein Symptom des Fortlebens militaristischer und obrigkeitsstaatlicher Vorstellungen interpretierte. Ein Gruppenporträt der sogenannten „tänzerischen Generation“ um Klaus und Erika Mann zeichnet CATHARINA RÜSS. In ihrem Beitrag geht sie der Frage nach, inwieweit dieser Bekanntenkreis von Mittzwanzigern aus bürgerlichen Elternhäusern als Verfechter der Weimarer Republik gelten kann. Stilprägend für die Außenwahrnehmung der „tänzerischen Generation“ als „bohèmehafte Antibürger*innen“ waren nämlich weniger politische Standpunkte als vielmehr die gemeinsame Begeisterung für einen als cool erachteten Lebenswandel amerikanischer Prägung inklusive Jazz. Dagegen beschäftigt sich der Aufsatz von TOBIAS JULIUS WISSINGER mit dem viel diskutierten Verhältnis von Thomas Mann zur Weimarer Demokratie. Wissinger zeichnet den langen Weg des konservativen Kulturkritikers nach, der noch zum Ende des Weltkrieges mit den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ auch ein Bekenntnis zu deutscher Machtpolitik abgelegt hatte. Spätestens mit seiner Rede „Von deutscher Republik“ im Jahr 1922 vollzog der spätere Literaturnobelpreisträger dann einen Kurswechsel. Wissinger interpretiert das öffentliche Bekenntnis zur Weimarer Republik unter anderem als ein „Tribut an ein neues Zeitalter“, das von einer hochgradig massenpolitisierten Gesellschaft geprägt gewesen sei. Schließlich behandeln SIMON SAX und SEBASTIAN ELSBACH in ihrem Beitrag über den Journalisten Walter Gyssling einen entschiedenen Verteidiger der republikanischen Staatsform. Gyssling wirkte nicht nur über eigene Artikel, in denen er die aufsteigende NSDAP angriff, auf die öffentliche Meinungsbildung ein, sondern vor allem als Archivar für das halb-konspirativ arbeitende Büro Wilhelmstraße. Diese privat finanzierte Sammelstelle für Informationen über die NS-Bewegung stellte republikanisch orientierten Zeitungen belastendes Material bereit. Gyssling als „Techniker“ des publizistischen Kampfes gegen die NSDAP setzte bewusst auf eine irrationale, auf die Gefühle der Leserschaft abzielende Kommunikation. Die Auswahl dieser Persönlichkeiten und die Herangehensweise der einzelnen Beiträge mögen etwas kursorisch oder eklektisch erscheinen, und sie sind es in einem Band zu einer wissenschaftlichen Tagung mit einem recht offen gefassten Aufruf auch ein stückweit. In dieser Zusammenstellung bieten sie aber zugleich randomisierte Probebohrungen in die Tiefen der Weimarer Gesellschaft und erbringen den Nachweis, dass die Weimarer Republik keinesfalls eine Republik ohne Republikaner war. Die schwierigen Handlungsumfelder dieser Persönlichkeiten, die Anfeindungen und aggressiven Deutungskämpfe unterstreichen zugleich das bekannte Bild, dass es der Republik durchaus an überzeugten Demokraten mangelte. Aber
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auf verlorenem Posten stand sie wiederum auch nicht, weil sich durchaus Menschen fanden, die für die neue Staats- und Regierungsform einstanden, die die demokratische Transformation selbst gestalteten bzw. um sie kämpften. Der Band umreist damit – im Anschluss an Andreas Wirschings und Jürgen Eders Band zum Vernunftrepublikanismus – nur in ersten Zügen ein weites und offenes Forschungsfeld. Zwar mögen zu den großen ‚Staatsmännern‘ der Republik, wie eingangs erwähnt, wissenschaftliche Biographien vorliegen. Aber jenseits von Ebert, Stresemann und Rathenau wird die Luft schon dünner. Für kaum die Hälfte der Reichskanzler der Republik liegen wissenschaftlich fundierte Studien vor,19 und die Ministerpräsidenten der Länder sind bis auf Otto Braun weitgehend der akademischen und öffentlichen Vergessenheit anheimgefallen. Das betrifft die politischen Spitzenpositionen der Republik. Noch ernüchternder sieht das Bild bei Ministern, führenden Parteipolitikern, Oberbürgermeistern der Großstädte, reformorientierten Beamten oder anderen politischen Funktionsträgern aus. Auch für Verbände und Gewerkschaften, Kunst und Kultur, Wissenschaft und Medien usw. treten erst langsam und nur Stück für Stück einzelne Studien zu Protagonistinnen und Protagonisten hervor, die durch ihre Arbeit die demokratische Transformation gestalteten. Die Frage nach den durchaus vorhandenen ‚überzeugten Demokraten‘ oder gar ‚Herzensrepublikanern‘ beantwortet sich dabei nicht immer nur mit Blick auf die Mitgliedschaft in einer pro-republikanischen Vereinigung oder flammende Appelle am Verfassungstag. Sie kann auch darin gefunden werden, dass Menschen bestimmte Rollen und Funktionen einnahmen, die die demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung zum Funktionieren der Demokratie vorsahen. Ein Demokrat tritt nicht notwendig dadurch in Erscheinung, dass er die Demokratie in öffentlichen Reden bejaht, sondern auch dadurch, dass er an der demokratischen Praxis teilhat, dass er ihre Spielregeln akzeptiert und sich im ‚Geist‘ dieser Ordnung verhält. Daher liegt die Überlegung nahe, dass man durchaus zwischen dem Typus des (Vernunft-)Republikaners und einer demokratischen Persönlichkeit unterscheiden muss. Der Begriff des Vernunftrepublikaners ist bekanntlich auf Friedrich Meinecke und die von ihm für sich selbst beanspruchte Dualität aus Herzensmonarchist und Vernunftrepublikaner zurückzuführen.20 Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Staatsform und der rationalen Akzeptanz des durch die Revolution geschaffenen Staatsgebildes, also nach einer Aussöhnung mit dem Faktischen. Der Topos von der staatsrechtlichen Kontinuität des Reiches21 eröffnete dabei der 19 Als erster Überblick nach wie vor hervorragend: Braun (2013): Die Reichskanzler. 20 Vgl. Wirsching (2008): „Vernunftrepublikanismus“, S. 10. Dort auch in Fußnote 4 das klassische Zitat Meineckes vom Januar 1919, also noch vor dem Zusammentritt der Weimarer Nationalversammlung: „Ich bleibe, der Vergangenheit zugewandt, Herzensmonarchist und werde, der Zukunft zugewandt, Vernunftrepublikaner.“ 21 So lautete die Präambel der Weimarer Reichsverfassung (WRV): „Das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, […] hat sich diese Verfassung gegeben.“ Statt eine Republik ex nihilo zu gründen, wurde demnach das 1871 gegründete Reich ‚erneuert‘ und ‚gefestigt‘, und folglich
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Beamtenschaft und einem staatsorientierten Milieu einen Weg in die Republik. Dieser Republikanismus aus Staatstreue war aber oftmals ein Republikanismus faute de mieux und konnte sich mit einer abwartenden Haltung verbinden, ob denn nach der Republik nicht doch etwas Besseres (oder Altbekanntes) kommen könne. Ein solcher Republikanismus kann schnell einer auf Widerruf sein, wie es sich oftmals in Situationen wie dem Kapp-Putsch oder dem Preußenschlag zeigte. Während die Staatsform der Republik also noch nicht sehr viel mehr über die konkrete Ausgestaltung des Staates aussagt, als dass er keine Monarchie ist, ist das Konzept der ‚Demokratie‘ als Herrschaftsform anspruchsvoller. Im Zentrum steht hier das Prinzip der Volkssouveränität, dessen Geltung in autoritären Republiken weitgehend ausgeschaltet sein kann. In einer demokratischen Republik – als die sich die Republik von Weimar konstituierte22 – geht diese Herrschaftsform mit bestimmten Ordnungsprinzipien wie Parlamentarismus und Mehrheitsprinzip, Wahlen und Wahlämtern, Parteien und Öffentlichkeit etc. einher, in der Regel auch mit dem Prinzip der Gleichheit der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und einem gewissen Verständnis von Grundrechten und Grundrechtsschutz. Von daher sind die Erfordernisse an eine ‚demokratische Persönlichkeit‘ im Vergleich zu einem Vernunftrepublikaner etwas höher, weil er (oder sie) diese Prinzipien und Einrichtungen – im Rahmen des historisch Erwartbaren – mindestens implizit bejahen muss. Denn bei der Analyse von demokratischen Persönlichkeiten in der Weimarer Republik ist von besonderer Bedeutung, dass sie weder in analytischer noch in normativer Hinsicht an den Maßstäben dessen gemessen werden sollten, was wir nach 70 Jahren bundesrepublikanischer Tradition unter ‚Demokratie‘ verstehen und was die Nachgeborenen der nationalsozialistischen Herrschaft im Gegensatz zu den Weimarer Akteuren über ‚Wesen und Wert der Demokratie‘ (Hans Kelsen) wissen können. Ihr Begriff von Demokratie und ihr mal mehr, mal weniger demokratisches Handeln entspinnt sich vor dem Erfahrungsraum des Kaiserreiches, der Novemberrevolution und der erbitterten Deutungskämpfe der Nachkriegszeit, und dies beinhaltet auch ein anders institutionelles, verfassungsrechtliches und prozedurales Setting, als wir dies von der Bonner oder Berliner Bundesrepublik kennen. Es ist eine doppelte Frage historischer Gerechtigkeit: Erstens sollten diejenigen, die sich für die Demokratie einsetzten oder ganz einfach an demokratischer Praxis teilhatten, nicht länger im Schatten der Demokratieverächter und -zerstörer stehen. Und zweitens sollten sie gemessen werden an dem, was sie wissen und tun konnten, und nicht an dem, was sie hätten wissen können und tun sollen.
behielt man auch die Staatsbezeichnung „Deutsches Reich“ bei (siehe Art. 1 WRV, nächste Fußnote). 22 Diese Verbindung von Staats- und Herrschaftsform kommt in Art. 1 WRV zum Ausdruck: „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Für die verfassungsrechtliche und rechtswissenschaftliche Reflexion in der Weimarer Zeit durch einige wenige „demokratische Persönlichkeiten“ in ihrem Fachgebiet siehe: Groh (2010): Demokratische Staatsrechtslehrer.
Einleitung: Wer trägt die Republik?
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LITERATUR Adorno, Theodor W.: The authoritarian personality. New York u.a. 1950. Almond, Gabriel A. / Verba, Sidney: The civic culture: political attitudes and democracy in five nations. Princeton 1966. Braun, Bernd: Die Reichskanzler der Weimarer Republik: Von Scheidemann bis Schleicher. Stuttgart 2013. Elsbach, Sebastian / Noak, Ronny / Braune, Andreas (Hg.): Konsens und Konflikt. Demokratische Transformation in der Weimarer und Bonner Republik. Stuttgart 2019. Groh, Kathrin: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik: Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats. Tübingen 2010. Gusy, Christoph: Fragen an das „demokratische Denken“ in der Weimarer Republik, in: Ders. (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik. Baden-Baden 2000, S. 635–663. Hofmann, Wilhelm: Karl Mannheim zur Einführung. Hamburg 1996. Llanque, Markus: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg. Berlin 2000. Mannheim, Karl: Freiheit und geplante Demokratie. Köln / Opladen 1970 [1950]. Mergel, Thomas: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag. 3. über. Aufl., Düsseldorf 2012. Merkel, Wolfgang: Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung. 2. erw. Aufl., Wiesbaden 2010. Radbruch, Gustav: Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts. In: Anschütz, Gerhard / Thoma, Richard (Hg.): Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 1. Tübingen 1930, S. 285–294. Schwan, Gesine: Die „demokratische Persönlichkeit”: Ein brauchbarer demokratietheoretischer Maßstab? Probleme eines politisch-psychologischen Persönlichkeitskonzepts unter demokratietheoretischem Aspekt, in: Timmermann, Heiner (Hg.): Die Kontinentwerdung Europas. Festschrift für Helmut Wagner zum 65. Geburtstag. Berlin 1995, S. 231–243. Triepel, Heinrich: Die Staatsverfassung und die politischen Parteien. Berlin 1928. Wirsching, Andreas / Eder, Jürgen (Hg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft. Stuttgart 2008. Ders.: „Vernunftrepublikanismus“ in der Weimarer Republik. Neue Analysen und offene Fragen. In: Ders. / Eder, Jürgen (Hg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft. Stuttgart 2008, S. 9–26. Wright, Jonathan: Gustav Stresemann: 1878–1929. Weimars größter Staatsmann. München 2006.
PARLAMENTARISMUS IM UMBRUCH
VON DER HERRSCHAFT DER PRIVILEGIERTEN ZUR VOLKSVERTRETUNG? Die demografische Transformation der Hamburger Bürgerschaft nach der Novemberrevolution Lars F. Köppen 1. EINLEITUNG Im Zusammenhang mit der Ausstellung „Revolution! Revolution? Hamburg 1918/19“ im Museum für Hamburgische Geschichte wurden die Biografien sämtlicher im März 1919 in die Hamburger Bürgerschaft gewählter Abgeordneten gesammelt und systematisch aufgearbeitet. Daraus ist ein umfangreicher Datensatz entstanden, der nicht nur Einsichten in die individuellen Lebensläufe erlaubt, sondern es auch ermöglicht, Kontinuitäten und Brüche gegenüber der Vorkriegs-Bürgerschaft zu entdecken, die demografische Struktur der neuen Bürgerschaft zu analysieren und personelle Schnittstellen zwischen parlamentarischem und außerparlamentarischem Engagement für die junge Republik zu identifizieren. An den Datenbestand können zwei Fragekomplexe gestellt werden, die mit Blick auf die demokratischen Transformationsprozesse um 1918/19 von besonderem Interesse scheinen: Erstens gilt es, das Wahlergebnis quantitativ und statistisch zu beschrieben und dabei Details herauszuarbeiten, die in vergangenen Darstellungen zur Wahl1 zwar keineswegs unterschlagen worden sind, jedoch dort nicht ins Zentrum der Betrachtung gestellt wurden. Ganz grundlegend bedeutet das, danach zu fragen, wer auf den vorderen Listenplätzen der angetretenen und insbesondere der letztlich in die Bürgerschaft eingezogenen Parteien aufgestellt wurde. Hinsichtlich des gerade erst eingeführten aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen wäre auch zu ergründen, ob und wenn ja, welche Listenplätze an Frauen vergeben wurden. Es wäre zweitens daran anschließend zu untersuchen, wie stark die personellen Kontinuitäten zur Vorkriegs-Bürgerschaft waren, in welchem Umfang die Parteien auf bewährte 1
Zuvorderst ist hier die Überblicksdarstellung von Ursula Büttner zu nennen, die viele der hier diskutierten Aspekte bereits erahnen lässt, jedoch noch nicht expliziert (Büttner (1994): Politischer Neubeginn). Ebenso verdienstvoll, weil umfassend, ist Wilhelm Schröders Aufstellung der Kurzbiografien aller sozialdemokratischen Abgeordneten in deutschen Parlamenten bis 1933, die notwendigerweise auch die Hamburger Sozialdemokraten berücksichtigt. Auch Schröders Arbeit ist allerdings kompilatorisch und dokumentarisch angelegt und erhebt nicht den Anspruch, die festgehaltenen Befunde zu interpretieren (Schröder (1995): Sozialdemokratische Parlamentarier).
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Abgeordnete aus dem Kaiserreich setzten und wie sich diese Abgeordneten unter den veränderten Vorzeichen der Republik verhielten – insbesondere, wenn sie Parteien angehörten, die nicht Trägerinnen der Revolution von 1918 gewesen waren. Die demokratische Neugestaltung der politischen Ordnung Hamburgs2 in der unmittelbaren Folgezeit des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution, exemplarisch demonstriert anhand der ersten gewählten Bürgerschaft, durch „Persönlichkeiten“ im Sinne herausragender RepräsentantInnen der neuen Ordnung, war bedingt durch die vorhergehende Legitimation dieser neuen Ordnung in Form von aktiver Inanspruchnahme der neu gewonnenen Rechte und politischen Spielräume durch bis dahin politisch marginalisierte Bevölkerungsschichten. Anstatt – was im Einzelfall berechtigt sein mag – lokalpolitischen Protagonisten die ihnen zustehende Anerkennung zu verschaffen, gilt es, anhand der Biografien bis dahin qua Geschlecht, Klasse und Religionszugehörigkeit marginalisierter Abgeordneter und KandidatInnen aufzuzeigen, wer von der Demokratisierung der Bürgerschaft profitiert hatte, sie in der Breite trug und wessen Rechte es sich in der Folge gegen antidemokratische Angriffe und Revisionsversuche zu verteidigen lohnte. 2. DAS HAMBURGER WAHLRECHT DER KAISERZEIT UND DAS WAHLERGEBNIS VON 1919 Seit 1896 und bis zur grundlegenden Reformierung des Wahlrechts 1918/19 war das aktive Wahlrecht in Hamburg so gestaltet, dass nur Männer ab 24 Jahren mit einem versteuerten Mindesteinkommen von 1.200 Reichsmark durchgängig innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Wahl wählen durften. Von 160 Sitzen in der Bürgerschaft wurden 80 durch eine einkommensgebundene Wahl besetzt. Diese war wiederum seit 19063 aufgeteilt auf zwei Steuerklassen: Eine Klasse ab 1.200 Reichsmark versteuertem Einkommen, die über 24 Sitze abstimmte und eine Klasse ab 2.500 Reichsmark versteuertem Einkommen, die über 48 Sitze abstimmte, während im Landgebiet, d.h. in zum Land Hamburg gehörenden, aber nicht in die Stadt Hamburg eingemeindeten Kleinstädte wie Bergedorf oder dem Amt Ritzebüttel/Cuxhaven, einheitlich alle Wahlberechtigten ab 1.200 Reichsmark Einkommen die letzten 8 Sitze besetzten. Hinzu kamen 40 Abgeordnete, die von Wahlberechtigten mit vererbbarem Grundbesitz gewählt wurden und 40 Abgeordnete, die von den städtischen Notabeln gewählt wurden. Somit wurden per se 128 Abgeordnete von einer sehr kleinen Oberschicht aus Großunternehmern und leitenden Beamten
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Dieser Transformationsprozess ist verfassungs- und institutionsgeschichtlich bereits ausführlich beschrieben worden, so schon 1959 von Jürgen Bolland (Bolland (1959): Die Hamburgische Bürgerschaft). Bis 1906 war das „allgemeine“, d.h. strikt einkommensgebundene Wahlrecht lediglich an der Untergrenze von 1200 RM orientiert, sodass alle Bürger, die die genannten Kriterien erfüllten, gemeinsam über 80 Abgeordnete abstimmten. Die Reform bevorteilte folglich alle, die mehr als 2500 RM versteuert hatten, da sie über 60% der in der allgemeinen Wahl verteilten Sitze abstimmen durften.
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gewählt, da sowohl Grundbesitz als auch zum Teil die für die Notabelnwahl qualifizierenden Ämter an beträchtlichen persönlichen Reichtum gebunden waren.4 Von den restlichen 32 Plätzen entfiel die Wahl von 24 auf einen Mittelstand von selbständigen Handwerkern und Geschäftsleuten, und von acht Plätzen auf ein ähnliches Spektrum in den Kleinstädten sowie Großbauern und Gutsbesitzer im Hamburger Umland. Bis 1901, als mit Otto Stolten der erste Sozialdemokrat in die Bürgerschaft einzog, war diese aufgeteilt in die Fraktionen der Rechten, der Linken und später des linken Zentrums, wobei diese Fraktionen sich keinesfalls als politische Parteien verstanden, sondern eher als Berufs- und Besitzstandesvertretungen fungierten. Ungeachtet dessen waren ihre einzelnen Mitglieder außerhalb der Bürgerschaft auch parteipolitisch engagiert, stellten daraus erwachsende Differenzen aber für die Fraktionsarbeit in der Bürgerschaft hintan.5 Dass der Zuschnitt des Wahlrechts gemäß der Reform von 1906 den Einfluss der neu eingezogenen Sozialdemokraten in der Bürgerschaft limitieren sollte, war evident und wurde von den bürgerlichen bzw. kaisertreuen Zeitgenossen auch offen zugegeben.6 Als Partei der Arbeiterschaft konnte sie überhaupt nur zuverlässig Sitze über die zweite Kategorie der allgemeinen Wahl erlangen. In allen anderen Kategorien war sie auf Sympathisanten angewiesen, die, in marxistischer Diktion formuliert, entgegen ihrer objektiven Klasseninteressen für die SPD stimmten, da Sozialdemokraten, die es zu Reichtum oder gar Grundbesitz gebracht hatten, in Hamburg wie andernorts vor dem Ersten Weltkrieg die absolute Ausnahme darstellten und eine sozialdemokratische Gesinnung zwar nicht formell, aber de facto ein Hinderungsgrund war, um ein Amt zu erhalten, das Zugang zur Notabelnwahl gewährte.7 Wenngleich es der SPD gelang, trotz besagter Hürden immer mehr Mandate zu erlangen, blieb sie trotzdem bis zum Ende des Kaiserreichs eine Minderheit in der Bürgerschaft, obwohl sie zwar absolut die Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte, die meisten davon aber eben in der Wahl mit den wenigsten zu vergebenden Sitzen.8 Nicht vergessen werden sollte dabei, dass selbst die unterste 4 5 6
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Z.T. resultierte das Wahlrecht aus Leitungsfunktionen in Handelshäusern, zu deren überwiegend konservativen Besitzern die Amtsinhaber im Zweifel loyal waren. Wiegand (1987): Die Notabeln, S. 157ff. Eckardt (2002): Von der privilegierten Herrschaft, S. 36. Die Wahlrechtsreform von 1906 war, auch das gehört zur historischen Wahrheit, zugleich im bürgerlichen Lager umstritten. Nicht nur die SPD als unmittelbar Geschädigte, sondern auch einzelne bürgerliche Abgeordnete deklarierten die Reform zu einem „Wahlrechtsraub“, verließen teilweise ihre alten Fraktionen und formierten sich zur Fraktion der Vereinigten Liberalen, die wiederum als Vorläuferin des Hamburger DDP-Landesverbands fungierte. Die meisten dieser Ämter beruhten auf einer Ernennung durch die Bürgerschaft, in der vor 1919 eine dezidiert anti-sozialdemokratische Mehrheit herrschte, sodass Sozialdemokraten keine Chancen hatten, in ein solches Amt zu gelangen. Wiegand (1987): Notabeln, S. 156 und 165. Peter Borowsky hat 1990 in einer durch ein posthum veröffentlichtes Skript der Nachwelt erhaltenen Vorlesung an der Universität Hamburg vorgerechnet, dass gemessen am Verhältnis der Wähleranzahl in den einzelnen Wahlgruppen zu den dabei zu verteilenden Mandaten die Stimme eines grundbesitzenden Notabeln 59 mal, die eines Grundeigentümers ohne Ehrenamt 17 Mal und die eines Wählers mit mehr als 2500 versteuerten Reichsmark Jahreseinkommen
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Wählerklasse ab 1200 versteuerten Reichsmark gemessen am durchschnittlichen Einkommen der Hamburger Arbeiterschaft noch immer eine äußerst privilegierte Gruppe war. Wenngleich immer mehr an politischer Mitbestimmung interessierte Arbeiter es ab 1896 auf sich nahmen, mehr Einkommen zu versteuern, als sie tatsächlich zur Verfügung hatten, um im Gegenzug wahlberechtigt zu sein, waren kurz vor Kriegsausbruch von über einer Million Hamburgern nur 83.187 berechtigt, an der Bürgerschaftswahl teilzunehmen.9 So ergab sich die etwas absurd anmutende Situation, dass die SPD in Hamburg, einer ihrer Hochburgen bei Reichstagswahlen, bis 1918 in den politisch relevanten städtischen Institutionen kaum bis gar nicht vertreten war. Mit der politischen Marginalisierung der SPD als Partei in der Bürgerschaft ging auch eine Marginalisierung ihrer Klientel einher, das heißt vor allem der nichtselbständigen Arbeiterschaft. Analysiert man die Kandidatenlisten der Bürgerschaftswahlen von 1910 und 1913 auf die ausgeübten Berufe hin, fällt außerhalb der SPD-Fraktion auf, dass promovierte Juristen und Mediziner, Industrielle und der Ober- und Mittelbau von Großunternehmen und staatlicher Verwaltung die Mehrheit der jeweils neu gewählten Abgeordneten stellten.10 Auch die Fraktion der Vereinigten Liberalen, neben der SPD die zweite demokratische Kraft und im Gegensatz zu den traditionellen Fraktionen der Bürgerschaft als weltanschauliche und nicht als zuvorderst klientelpolitische Gruppierung angetreten, bestand in ihrer überwiegenden Mehrheit aus hohen Staatsbeamten und Abkömmlingen von Kaufmannsdynastien. Die in der Bürgerschaft vertretenen Handwerker, und hier sind die SPD-Abgeordneten eingeschlossen, waren zum Zeitpunkt ihrer Wahl praktisch ausnahmslos Selbständige mit Meisterbrief oder zumindest mit einflussreichen Positionen in ihren Berufsverbänden.11 Diesen Befunden kann man nun die Verhältnisse in der Bürgerschaft nach dem 16. März 1919 vergleichend gegenüberstellen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass statt knapp 80.000 vor dem Krieg jetzt 661.000 Hamburgerinnen und Hamburger wahlberechtigt waren, also in absoluten Zahlen mehr als achtmal so viele bei etwa gleich groß gebliebener Gesamtbevölkerung. Da die Bürgerschaft nun nicht mehr schichtweise, sondern vollständig neu gewählt
immer noch viermal so viel wog wie die eines Wählers der Gruppe ab 1200 versteuerten Reichsmark. Borowsky (2005): Vertritt die „Bürgerschaft“ …?, S. 107. 9 In Relation zu 261.177 Männern, die für die Reichstagswahl berechtigt waren, bei der zur gleichen Zeit die SPD zwei von drei in Hamburg vergebenen Mandaten erlangte. Dazu Borowsky (2005): Vertritt die „Bürgerschaft“…?, S. 104. 10 Beukemann (1910): Die Wahlen zur hamburgischen Bürgerschaft, S. 14 ff. und Beukemann (1913): Die Ergebnisse der Wahlen, S. 7f. und S. 38 ff. Die erfolgreich gewählten Kandidaten sind dort jeweils fett hervorgehoben. Bei einigen Kandidaten fehlt zwar die Angabe ihrer damaligen beruflichen Stellung, Familiennamen wie Mönckeberg oder Warburg weisen die Betreffenden jedoch als Angehörige generationenalter Kaufmannsdynastien aus, bei denen sich scheinbar die berufliche Einordnung in den Augen der Zeitgenossen erübrigte. 11 Büttner (1994): Politischer Neubeginn, S. 110 ff. Carl Georg Blume beispielsweise hatte das aktive Tischlerhandwerk bereits 1881 aufgegeben und war in den Vorstand der Zentralkrankenund Sterbekasse der Tischler gewechselt, Louis Grünwaldt war seit 1900 Vorsitzender der Zentralkrankenkasse der Tapezierer, Friedrich Lesche war ab 1912 Direktor der „Volksfürsorge“.
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wurde, bildete die Zusammensetzung der Bürgerschaft vom 16. März zudem den aktuellen Wählerwillen vollständig ab und nicht mehr die verschiedenen Wählerwillen im Laufe fast einer Dekade. Die Wahl bescherte der SPD eine absolute Mehrheit von 82 aus 160 Sitzen. Ungeachtet dessen entschloss sie sich, mit der DDP zu koalieren, die weitere 33 Sitze in das Bündnis einbrachte. Dem stand eine linke Opposition in Form der USPD mit 13 Sitzen und eine bürgerlich-konservative Opposition aus der DVP und dem Hamburgischen Wirtschaftsbund (HWB12) mit jeweils ebenfalls 13 Sitzen gegenüber. Hinzu kam die DNVP mit vier Sitzen, die zur Erreichung der notwendigen Fraktionsgröße mit den beiden Abgeordneten der Christlichen Volkspartei (CVP) eine Fraktionsgemeinschaft einging. Immerhin 60 von 160 Abgeordneten hatten bereits vor dem Krieg in der Bürgerschaft gesessen, von denen 20 Mitglieder der DDP und 19 Mitglieder der SPD waren, acht gehörten den Wirtschaftsverbänden an, neun der DVP, zwei der DNVP und einer der CVP. Damit waren insbesondere die konservativen Fraktionen durch eine alte Garde dominiert, die Fraktion der DVP bestand sogar zu mehr als zwei Dritteln aus Abgeordneten, die schon vor der Gründung der Weimarer Republik in die alte Bürgerschaft gewählt worden waren. Dies kann sicher mit einiger Berechtigung als bewusste Kontinuitätsbildung verstanden werden, die nicht nur der Erhaltung von Kompetenzen in der Fraktion diente, sondern auch eine Reverenz an die Vorkriegsordnung formulierte. Der Blick auf die vorderen Listenplätze der Parteien verlangt jedoch nach einer Differenzierung dieser Lesart. 3. DIE LISTENPLATZPOLITIK DER PARTEIEN Fasst man pauschal alle einstelligen Listenplätze als vordere Listenplätze zusammen, oder bei kleinen Fraktionen die erste Hälfte, so sticht erst einmal ins Auge, dass die meisten Listen von Bürgerschaftsabgeordneten aus der Vorkriegszeit angeführt wurden. Die SPD honorierte langjähriges Engagement in der Vorkriegsbürgerschaft mit aussichtsreichen Listenplätzen, zumindest auf ihrer Wahlliste für das Stadtgebiet. Alle Kandidaten bis einschließlich zum 18. Listenplatz hatten vor 1919 der Bürgerschaft angehört, alle weiteren KandidatInnen zogen 1919 zum ersten Mal in die Bürgerschaft ein.13 Die alten Abgeordneten traten alphabetisch geordnet auf 12 Der HWB war ein Zusammenschluss mehrerer Wahllisten, die sich nach Berufsgruppen aufteilten. Die Aufteilung war dabei weitgehend deckungsgleich mit den Fraktionen der alten Bürgerschaft, wodurch der HWB und seine Einzellisten eine klare Präferenz für die politischen Verhältnisse zum Ausdruck brachte, wie sie vor dem Krieg in der Hansestadt geherrscht hatten. Das einzige wesentliche Entgegenkommen gegenüber der neuen politischen Ordnung war die im HWB organisierte und folglich auch vom HWB unterstützte Liste „Erwerbstätige Frauen und Mädchen“. 13 Sköllin (1919): Statistische Mitteilungen, S. 28 f. An dieser Stelle kommt die umfangreiche Vorarbeit von Ursula Büttner ins Spiel. In ihrer Überblicksdarstellung der Wahl zu deren 75. Jahrestag hat sie mit bemerkenswerter Akribie Kurzbiografien sämtlicher Abgeordneten und Nachrücker der ersten Legislaturperiode von 1919–1921 zusammengetragen und diverse
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der Liste an, erst die neu Angetretenen scheinen nach sozialem und innerparteilichem Einfluss aufgestellt worden zu sein. Auf der sozialdemokratischen Liste für die Landgebiete hingegen hatte nur der Listenvorsitzende Wilhelm Wiesner Bürgerschaftserfahrung, was nicht zuletzt auf den Umstand zurückzuführen ist, dass die SPD unter den Bedingungen des alten Wahlrechts wie ausgeführt auf dem Land kaum Chancen auf Mandate gehabt hatte. Ähnliche Verhältnisse können bei der DDP beobachtet werden. Bis auf den Spitzenkandidaten für Cuxhaven, Max Bleicken und die im Stadtgebiet an zweiter Stelle gesetzte Helene Lange waren alle Kandidaten auf den vorderen Plätze schon 1919 Bürgerschaftsmitglieder gewesen. Erst auf Platz 11 trat mit Bertha Wendt wieder eine Kandidatin ohne Bürgerschaftserfahrung an.14 Dieses Muster setzt sich grundsätzlich bei DVP und DNVP fort. In der DVP waren nur Franz Heinrich Witthoefft, der aber immerhin die Stadtliste anführte, und Emma Ender Neulinge, bei der DNVP entfielen die ersten beiden der vier Plätze auf Veteranen. Der HWB wiederum versammelte größtenteils die Spitzenkandidaten sehr kleiner Einzellisten verschiedener Wirtschafts- und Berufsverbände, die sich in der Tradition der alten Fraktionierung der Bürgerschaft institutionell voneinander abgrenzten und die parlamentarische Arbeit als Regulierung der Hamburgischen Wirtschaft unter größtmöglicher Aussparung ideologischer Differenzen betrachteten. Diese Herangehensweise an die parlamentarische Arbeit propagierten die Abgeordneten des HWB auch nach seinem Aufgehen in der DVP, DNVP und Wirtschaftlichen Partei weiter. Der HWB bestand nicht unbedingt aus glühenden Antidemokraten, er postulierte nur ein klares Primat der Wirtschaft, das heißt vorrangig des Profits für Hamburger Großunternehmer und Grundbesitzer, vor allen anderen politischen Zielen, der unabhängig vom politischen System zu gelten habe. Hierzu mussten gemäß den Vorstellungen des HWB die einflussreichsten Unternehmen und Familien verschiedener Branchen miteinander gleichberechtigt in der Bürgerschaft vertreten sein, wenn möglich ohne parlamentarisches Gegengewicht der abhängig Beschäftigten. Dazu stellte der HWB seine einzelnen Listen analog zur alten Fraktionierung der Bürgerschaft auf; als Aufrechterhaltung der alten Bürgerschaft in der neuen Bürgerschaft. Dass dieses Kalkül, aus welchem sich die stabilen Mehrheitsverhältnisse in der Bürgerschaft während des Kaiserreichs herleiteten, in einer allgemeinen und gleichen Wahl ohne Sondersitze für Grundeigentümer nicht mehr aufging, trug zum raschen Verfall des HWB als eigenständige Fraktion bis 1921 und endgültig 1924 bei.15 Diese Traditionsbildung schlug sich auch in Personalfragen nieder, d.h. bis auf drei hatten alle Abgeordneten des HWB schon eine zum Teil bis in die 1880er Jahre zurückreichende Amtszeit in der Bürgerschaft hinter sich. Im Gegensatz zu den anderen Parteien, deren alte Abgeordnete im Kaiserreich über die allgemeine Wahl in die Bürgerschaft eingezogen waren, stellte die Wahlliste 10 unter der Führung von Parameter, darunter auch die Geschlechterverteilung und das Dienstalter der Abgeordneten dokumentiert. Büttner (1994): Neubeginn, S. 99 ff. 14 Sköllin (1919): Statistische Mitteilungen, S. 31. 15. Siehe dazu Büttner (1994): Politischer Neubeginn, S. 35.
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Friedrich Eddelbüttel16 sicher, dass auch Kandidaten aus der früheren Grundeigentümerwahl in der neuen Bürgerschaft saßen. Demografisch interessant ist hier, welche Verschiebungen dadurch entstanden, dass 100 weitere, ökonomisch ebenso privilegierte Abgeordnete nach 1919 nicht wieder in die Bürgerschaft einzogen und ihre Plätze neu besetzt wurden. Der Sieg der SPD bedeutete zunächst einmal eine Wahlniederlage wirtschaftsliberaler, kaisertreuer und konservativer Kräfte. Der provisorische und ephemere Charakter vieler konservativer Wahllisten um 1919 erschwert jedoch die Benennung von Kontinuitäten zu den Fraktionen der alten Bürgerschaft, die eben jenseits von Vereinigten Liberalen und SPD nicht politisch, sondern berufsständisch fraktioniert gewesen war. Wieviel Einfluss deren Klientele sich durch die Wahl von 1919 sichern bzw. erhalten konnten und wieviel Einfluss umgekehrt Gruppen gewinnen konnten, die bis dato politisch marginalisiert waren, kann wesentlich besser als durch die ausschließliche Betrachtung der Parteizugehörigkeit durch einen Blick auf die Berufe der Abgeordneten nachvollzogen werden. Die der hier vorgenommenen Kategorisierung der Berufe zugrunde liegende Galloway Prussia Database (1861 to 1914)17 weist freilich ebenfalls Unschärfen auf, die in der Detailanalyse kompensiert werden müssen.18 Neun der Mandate entfielen auf Personen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgingen. Diese waren allesamt Frauen, die auf ihrer Wahlliste als Beruf „Ehefrau“ oder „Hausfrau“ angaben. Da Frauen vor 1919 schlicht nicht in die Bürgerschaft gewählt werden konnten, kann man nur spekulieren, ob zumindest die ökonomisch und sozial bessergestellten unter ihnen, wie Emma Ender, Kaufmannstochter und Kaufmannsgattin, bei früherer Einführung des Frauenwahlrechts realistische Chancen auf einen Einzug in die alte Bürgerschaft gehabt hätten. Alle anderen gewählten Mitglieder der Bürgerschaft gaben bei ihrer Kandidatur einen Erwerbsberuf an, die Liste 13 hob sogar explizit hervor, dass sie ein Zusammenschluss „erwerbstätiger Frauen und Mädchen“ war. Sieht man einmal von zwei Privatiers und einem Rentner auf der Grundeigentümerliste und weiteren vom Einkommen des Ehemanns abhängigen Haus- und Ehefrauen ab, traten ausschließlich Kandidaten zur Wahl an, die berufstätig waren oder ihre Erwerbslosigkeit doch zumindest durch die Angabe ihrer letzten Tätigkeit kaschierten. Der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst war unter den alten Abgeordneten etwas höher als bei den neuen Abgeordneten. Während die alte Garde vor allem Richter und Vollzugsbeamte stellte, zogen 1919 vor allem Lehrer neu in die Bürgerschaft ein. Der Dienstleistungssektor stellte mit 55 Abgeordneten den größten Teil der Bürgerschaft. 19 dieser Abgeordneten hatten bereits vor 1919 16 Die Liste war der parlamentarische Arm des Hamburger Grundeigentümervereins, deren Vorsitzender bis weit in die 1920er Jahre besagter Friedrich Eddelbüttel war, der allerdings wiederum zur Bürgerschaftswahl 1921 vom HWB in die DVP wechselte. 17 Galloway (1988): Prussia vital registration. 18 So ist z.B. ein Amtsarzt selbstverständlich Vertreter eines Medizinberufs, durch sein Anstellungsverhältnis jedoch zugleich Teil des Öffentlichen Dienstes. Ebenso sagt die Zugehörigkeit zu einer Kategorie noch nichts über deren ökonomische Situation aus: Hoteliers und ihre Pagen waren zwar beide Dienstleister, aber erstere in der Regel wesentlich wohlhabender als letztere.
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in der Bürgerschaft gesessen. Im kursorischen Lesen der Einzelbiografien bietet sich hier eine Einteilung in Juristen einerseits und Angestellte von Gewerkschaften, Berufsverbänden, Versicherungen und Krankenkassen andererseits an. Schon unter den alten Abgeordneten waren die Juristen in der Minderheit gewesen, 1919 kamen fünf studierte Juristen hinzu, von denen vier auch als solche praktizierten, sodass insgesamt zwölf Juristen in der Bürgerschaft saßen. Waren die Juristen aus der alten Bürgerschaft noch mehrheitlich konservativ eingestellt gewesen,19 zogen nun auch zwei Juristen über die Liste der SPD ein. Die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten in dieser Kategorie waren jedoch Angestellte, die oft aus ihrem erlernten Handwerksberuf ausgeschieden und ins Versicherungs- und Gewerkschaftswesen gewechselt waren und dort – mit unterschiedlichem Erfolg – Karriere gemacht hatten. Praktisch ausnahmslos waren diese Abgeordneten Sozialdemokraten aus MSPD und USPD. Auch wenn es hier Einzelfälle gibt, die aus der Regel ausbrechen, kann als Faustformel davon gesprochen werden, dass die arrivierteren unter ihnen – also Regional- und Kommunalgeschäftsführer, hauptamtliche Vorstandsmitglieder etc. – schon vor 1919 in der Bürgerschaft gesessen hatten, während Angestellte aus unteren Hierarchieebenen erst 1919 in größerer Zahl einzogen, was sich einmal mehr aus der alten Wahlordnung ableitete. Der Aufstieg in leitende Positionen führte zum nötigen Wohlstand, um das Wahlrecht zur Bürgerschaft zu erlangen. Aufgrund der Quereinsteigerpraxis könnte man nicht wenige dieser Angestellten auf den unteren Hierarchieebenen auch der Gruppe Handwerk und Produktion, also der „klassischen“ Arbeiterschaft zuordnen. Dieser Gruppe gehörten 34 Abgeordnete an, wobei hier unschärfebedingt drei Industrielle der Gruppe zugeschlagen werden, was erneut eine Binnendifferenzierung erforderlich macht. Die übrigen 31 Mitglieder dieser Gruppe waren überwiegend Handwerker, wobei ins Auge fällt, dass die alten Abgeordneten unter ihnen überproportional oft Meister oder Gesellen in kleineren Betrieben waren, während unter den neuen Abgeordneten, insbesondere denen der USPD, auch Hilfsarbeiter oder Werftarbeiter waren. Das Wahlergebnis vom 16. März verschaffte also nicht nur der SPD das Gewicht in der Bürgerschaft, das ihr gemäß der Wahlergebnisse schon vor der Gründung der Weimarer Republik zugestanden hätte. Die neugewählte Bürgerschaft bildete vielmehr auch die veränderte demografische Realität in der Hansestadt seit der Jahrhundertwende besser ab, wenngleich aber selbstverständlich noch lange nicht vollständig. Trotz der oben erwähnten Frauenliste waren Frauen gemessen am Bevölkerungsdurchschnitt unterrepräsentiert.
19 Der DDP-Abgeordnete Peter Stubmann gehörte im Gegensatz zu den anderen DDP-„Veteranen“ vor 1919 nicht den Vereinigten Liberalen an, sondern der konservativeren Rechten Fraktion. Beukemann (1913): Die Ergebnisse der Wahlen, S. 39.
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4. FRAUEN ALS KANDIDATINNEN UND ABGEORDNETE Das neu eingeführte Wahlrecht für Frauen bedeutete nicht, dass Parteien, deren Abgeordnete bis dahin ja sämtlich Männer gewesen waren, eine Verpflichtung hatten, Frauen auf ihrer Liste aufzustellen20 und noch weniger, dass Männer und Frauen verpflichtet waren, Frauen ins Parlament zu wählen. Von 160 gewählten Abgeordneten waren nur 17 Frauen, rechnet man vorzeitiges Ausscheiden und dementsprechendes Nachrücken mit ein, saßen am Ende der Legislaturperiode sogar nur 15 Frauen in der Bürgerschaft.21 Damit waren sie statistisch schlechter repräsentiert als bei 75 Frauen unter den insgesamt 607 Kandidaten zu erwarten gewesen war; selbst wenn alle kandidierenden Frauen in die Bürgerschaft gewählt worden wären, hätten sie nicht einmal die Hälfte der Abgeordneten stellen können. Wären alle Abgeordneten als Direktkandidaten gewählt worden, könnte man diese Diskrepanz unter einem Wählerwillen verbuchen, der durch soziale Prägung und historisch bedingt22 die politische Kompetenz von Frauen geringschätzte und ihnen deshalb kein Amt zutraute, sodass Frauen folglich unterproportional häufig gewählt wurden. Unter diesen fiktiven Bedingungen, also direkter Wahl mit genau gleichen Chancen für alle Kandidaten,23 wäre die statistische Wahrscheinlichkeit 160 zu 607, also 0,263 (26,3% der Kandidaten würden in die Bürgerschaft einziehen) gewesen, ein Mandat zu erlangen. Unter den Bedingungen des tatsächlichen Wahlrechts, also bei einer allgemeinen, gleichen und geheimen Wahl mit gleichen Chancen für alle Listen, war das ausdrückliche Nichtwählen von Frauen kaum möglich. Wer gegen Frauen in den Parlamenten war, aber einen Kandidaten auf einer gemischten Liste favorisierte, gab seine Stimme auf die Gefahr hin ab, damit einer Frau in die Bürgerschaft zu verhelfen. Die Chancen des einzelnen Kandidaten bzw. der einzelnen Kandidatin waren freilich vor allem durch ihren Listenplatz bestimmt. So sehr das Antreten auf einer gemischten Liste den politischen Erfolg von Frauen und Männern miteinander verknüpfte und damit Tendenzen vorbeugte, die Wahl zu einem Schicksalsvotum pro und contra Frauen in politischen Ämtern werden zu lassen. So sehr erlaubte es 20 Sechs Listen stellten tatsächlich keine Frau auf. Sköllin (1919): Statistische Mitteilungen, S. 27 ff. 21 Emmy Kämmerer und Katharina Kuhn schieden im Laufe des Jahres 1920 aus der Bürgerschaft aus, alle Nachrücker der Legislaturperiode waren Männer, folglich rückte jeweils ein Mann für sie nach. Büttner (1994): Politischer Neubeginn, S. 104 ff. 22 Das heißt konkret: Ein Wählerwille, der die im Kaiserreich kultivierten Argumente und Vorbehalte gegen das Frauenwahlrecht in Wahlentscheidungen übersetzte. Zur Haltung des Kaisers selbst, dass Frauen nicht nach Rechten zu streben, sondern die Kinder zum Gehorsam zu erziehen hätten, siehe Mejer (2009): 90 Jahre Frauenwahlrecht, S. 21. Der in diesem Band ebenfalls besprochene Hans Delbrück wiederum befürchtete, das Frauenwahlrecht würde seinen Verfechterinnen am Ende eher schaden als nützen, laufe es doch notwendigerweise auf eine Zerstörung der Ehe und die „denkbar tiefste Erniedrigung des weiblichen Geschlechts“ hinaus. Dazu Planert (1998): Antifeminismus im Kaiserreich, S. 43. 23 Ceteris paribus versteht sich, d.h. unter Ausblendung von Prestige, Skandalen, unterschiedlich gutem Zugriff auf Wahlkampfmittel etc.
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auch, Frauen dem Anschein nach gleiche Chancen bei der Wahl einzuräumen, sie aber durch aussichtslose Platzierung faktisch weiter von Ämtern auszuschließen oder gezielt durch Kandidaturen auf vorderen Plätzen zu fördern. Wie stark die Positionierung auf der Liste die Chancen verzerrte, zeigt die tatsächliche Einzugsquote der Frauen. Mit 17 von 75 zogen nämlich nur 22,6% der Kandidatinnen tatsächlich in die Bürgerschaft ein. Einen nicht zu unterschätzenden Anteil daran hatte sicher, dass die „Liste Erwerbstätige Frauen und Mädchen“, auf der fast ein Fünftel aller Frauen antraten, den Einzug in die Bürgerschaft verpasste. Zwar zogen nicht über alle übrigen Listen Frauen in die Bürgerschaft ein, aber für alle erfolgreichen Parteien hatten auch Frauen kandidiert. Alle Parteien, selbst die nationalkonservative DNVP und der HWB als parlamentarischer Arm von männerdominierten Berufsorganisationen, hatten sich vor der Wahl in ihren Programmen zum Frauenwahlrecht bekannt. Umso unterschiedlicher fielen die Entscheidungen bei der Besetzung von Listenplätzen mit Frauen aus. Die SPD, zweifellos langjährige Kämpferin für das Wahlrecht der Frau und selbstbewusst mit der Parole in den Wahlkampf gestartet, als einzige Partei schon immer für die Rechte der Frauen gestritten zu haben, wählte einen unter diesen Umständen unkonventionell anmutenden Ansatz, diesen Anspruch in Listenplätze zu übersetzen. Keine gemischtgeschlechtliche Liste stellte Frauen so weit hinten auf, wie die Liste Otto Stolten (SPD Stadtgebiet). Ehe Grete Zabe auf Platz 21 zum Zuge kam, wurde erst die alte Garde, also per se ausschließlich Männer, mit Spitzenplätzen belohnt. Was hier anmutet, als sei das Frauenwahlrecht ein willkommenes Mittel zum populistischen Stimmenfang ohne praktische Konsequenzen gewesen, relativiert sich freilich, wenn man bedenkt, dass die SPD nach den Ergebnissen der allgemeinen Wahl von 1913 und unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse in Hamburg durchaus mit Recht davon ausgehen konnte, weit über ein Drittel der Stimmen und damit mehr als 50 Sitze in der Bürgerschaft zu erhalten. Dass dieses Kalkül aufging, zeigt sich auch daran, dass Otto Stolten gleichzeitig die einzige Liste anführte, auf der alle kandidierenden Frauen in die Bürgerschaft einziehen konnten. Zugleich ist angesichts der gleichstellungspolitischen Vorreiterrolle der SPD im Kaiserreich als historische Kuriosität festzuhalten, dass im Vergleich aller gemischtgeschlechtlichen Listen nur der HWB einen noch geringeren Frauenanteil aufwies als die SPD. Die Mitgliedslisten des HWB verfolgten bei der Zuteilung der Listenplätze grundsätzlich ein ähnliches Schema wie die SPD. Spitzenpositionen gingen mehrheitlich an verdiente Abgeordnete der Vorkriegszeit, Frauen kandidierten zumeist erst auf der zweiten Hälfte der Liste. Allein die Schneiderin Ida Hoffmeister erhielt auf der Liste des „Wahlvorschlag Gutknecht – Handwerk und Gewerbe“ mit Listenplatz 5 von 22 eine relative Spitzenposition.24 Da der HWB aber im Gegensatz zur SPD nach Ende der Wahl kaum Plätze erhielt und diese auf fünf verschiedene erfolgreiche Listen (sowie drei weitere ohne Mandate, unter anderem die Frauenliste) verteilt waren, bedeutete der an sich aussichtsreiche Listenplatz 5, dass Ida 24 Sköllin (1919): Statistische Mitteilungen, S 32.
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Hoffmeister erst einen Sitz hätte erhalten können, wenn der HWB (bei gleichen Anteilen der Mitgliedslisten) mindestens 21 Mandate erhalten hätte. Dabei war der Wahlvorschlag Gutknecht schon nur ein „Juniorpartner“ im HWB, selbst der Wahlvorschlag Eddelbüttel erreichte als stärkste Liste im Bündnis nur vier Sitze. Bei allen gleichstellungspolitischen Einwänden gegen die Platzvergabepolitik des insgesamt von Männern dominierten HWB bleibt jedoch hervorzuheben, dass der HWB zugleich als Dachorganisation der Liste Erwerbstätiger Frauen und Mädchen fungierte. Die Formierung dieses Wahlbündnisses zwischen der dezidierten Frauenliste und den politischen Vertretungen beruflicher Männerdomänen,25 ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die Kandidatinnen der Frauenliste im Gegensatz zu den KandidatInnen auf den erfolgreichen HWB-Listen mehrheitlich abhängig beschäftigt und ökonomisch unterprivilegiert waren,26 ein Bündnis mit einer der beiden ihr klientelpolitisch näherstehenden und für das Frauenwahlrecht wesentlich engagierteren sozialdemokratischen Parteien in der Rückschau wesentlich näherliegend scheint. DVP und DDP hingegen setzten ihr Bekenntnis zum Frauenwahlrecht durch Spitzenpositionen für führende Frauenrechtlerinnen um. So zog mit Emma Ender für die DVP eine Aktivistin ein, die nicht nur im Kaiserreich für die Einführung des Frauenwahlrechts gekämpft und sich als Funktionärin in Frauenorganisationen verdient gemacht hatte, sondern auch unter nationalliberalen Gesinnungsgenossen in Hamburg für die Beteiligung von Frauen in lange Zeit Männern vorbehaltenen politischen Organisationen gestritten hatte. Zusammen mit anderen DVP-Kandidatinnen wie Elisabeth Pape, Mary B. Henckel oder Margarethe Mittell stand sie für ein frauenpolitisches Bündnis, meist von Lehrerinnen,27 dessen Mitglieder sich parteiübergreifend im bürgerlichen Lager der frühen Weimarer Republik engagierten und eine Brücke zur sozialliberalen DDP bildeten. Dort kandidierte ähnlich prominent Helene Lange auf Platz 2 der Stadtliste, die zusammen mit der Journalistin Frieda Radel, der Verbandsfunktionärin Bertha Wendt und der Lehrerin Elisabeth Seifarth für die DDP in die Bürgerschaft einzog. Das überparteiliche Frauenbündnis, das sich hier beim Blick in die Einzelbiografien schon andeutet, setzte sich auf den hinteren Listenplätzen weiter fort, wo Antonie Traun, Helene von Lewicka, Louise Vidal und Klara Fricke als Vertreterinnen der einflussreichsten Frauenverbände Hamburgs kandidierten.28 5. WAR DIE BÜRGERSCHAFT EINE VOLKSVERTRETUNG? Unter den historischen Bedingungen einer neu gegründeten Demokratie, erwuchs die Legitimation der neuen Ordnung nicht allein aus der Einhaltung ihrer formalen Regeln, also der korrekten Durchführung von Wahlen, Einhaltung der Geschäfts 25 26 27 28
Ebd., S. 33. Ebd., S. 30. Siehe Sköllin (1919): Statistische Mitteilungen S. 32 f. Ebd., S. 31.
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ordnung etc., sondern auch und besonders aus der aktiven Inanspruchnahme der aus der neuen Ordnung entspringenden Rechte und Freiheiten. Für die junge Demokratie in Hamburg war es demzufolge essentiell, dass Arbeiter und Frauen nicht nur formal zur Wahl zugelassen waren, sondern von diesem Recht auch aus eigener Initiative Gebrauch machten. Ebenso wichtig war hier neben der nachgewiesenermaßen hohen aktiven Wahlbeteiligung der Arbeiterschaft29 auch die Kandidatur aus diesen Gruppen heraus, um den institutionellen Bruch zum Kaiserreich auch durch einen personellen Bruch bei der Besetzung der neuen Institutionen zu untermauern. Das bedeutete eben nicht nur, dass aus dem Wahlsieg der SPD auch eine parlamentarische Mehrheit resultierte, sondern auch, dass die SPD ihre Klientel aus der Arbeiterschaft nicht mehr nur durch ökonomisch relativ privilegierte Sozialdemokraten repräsentieren ließ., Stattdessen stellte sie Arbeiterinnen und Arbeiter, die unter den Bedingungen der alten Bürgerschaft per se vom Wahlrecht ausgeschlossen gewesen waren auf und verhalf ihnen zu Sitzen in der Bürgerschaft. Gleiches gilt analog für sozialliberal oder nationalliberal orientierte Frauen. Für die nachhaltige Verwirklichung der gewonnenen Rechte war es essentiell, diese symbolisch und praktisch durch Kandidatur und Einzug in die Bürgerschaft einzufordern und zu konsolidieren und diese Aufgabe nicht an wohlmeinende männliche Gesinnungsgenossen zu delegieren. Das frauenpolitische Verdienst der sozialdemokratischen Parlamentarierinnen ebenso wie de „schwarz-gelben“ Frauennetzwerks im Hamburg der Weimarer Zeit – und teilweise noch in der jungen Bundesrepublik – kann kaum groß genug eingeschätzt werden; in der parlamentarischen Arbeit,im außerparlamentarischen Engagement für politische Frauenbildung und vor allem die schrittweise Durchsetzung größerer politischer und rechtlicher Spielräume für Frauen. Ein Aspekt, der bei den amtlichen statistischen Erhebungen zur Wahl etwas zu kurz kommt, aber in der Beschäftigung mit den Einzelbiografien immer stärker durchscheint, ist der gewonnene politische Handlungsspielraum für Juden in Hamburg. Diese hatten – praktizierend, getauft oder atheistisch – zwar schon vor 1919 vereinzelt in der Bürgerschaft gesessen, konnten aber, sofern sie nicht getauft waren, keine Senatorenämter bekleiden30 und erhielten außerhalb der Vereinigten Liberalen und der SPD fast nur dann Listenplätze und Mandate, wenn Konversion
29 Das legen zumindest die Wahlstatistiken für Wahlkreise in Arbeitervierteln nahe. Ebd., S. 42– 44. 30 Es ist gelegentlich kolportiert worden, dass ungetaufte Juden formal vom Senatorenamt ausgeschlossen gewesen seien (siehe dazu beispielsweise Morisse (2013): Ausgrenzung und Verfolgung, S. 10). Dafür gibt es im Text der Verfassung selbst keine Anhaltspunkte mehr (N.N. (1896): Verfassung der freien (sic!) und Hansestadt Hamburg, S. 8–13.). Weder wurde das Amt Juden dort explizit verwehrt, noch war es im mehrheitlich lutherischen Hamburg ein Privileg der Lutheraner. Das Missverständnis geht wahrscheinlich auf einen Nachruf für Albert Wolffson zurück, demzufolge er sich durch seine Entscheidung gegen die Taufe um die Chance auf das Amt gebracht habe (siehe Hamburger (1968): Juden im öffentlichen Leben Deutschlands, S. 390). Die bei Ernest Hamburger überlieferte Charakterisierung dieser Entscheidung als Verzicht auf ein „Opfer des Intellekts“ deutet eher darauf hin, dass der Ausschluss von Juden auf antijüdische Einstellungen in der Bürgerschaft und insbesondere unter den amtierenden Senatoren zurückzuführen war.
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oder zumindest Assimilation und wirtschaftlicher Erfolg ihre jüdische Identität quasi entschuldigten. Die Wahl 1919 verschaffte ihnen zum ersten Mal angemessene Repräsentation in der Bürgerschaft und – abgesehen von der DVP, der dezidiert christlichen CVP und selbstverständlich der DNVP des antisemitischen Spitzenkandidaten Alfred Jacobsen31 – auf den Listen fast aller politischen Richtungen. Auch hier gilt wieder, was schon für mittellose Arbeiter und für Frauen galt: Entscheidend für die Identifikation mit den Institutionen der jungen Republik war für Juden nicht nur die Stimmabgabe, sondern auch die Kandidatur, im vorliegenden Fall überwiegend auf der Liste der DDP. Auch wenn die verunglimpfend intendierte Bezeichnung der Weimarer Republik als „Judenrepublik“ durch völkische und nationalsozialistische Kräfte freilich auf antisemitischen Verschwörungstheorien basierte – positiv gewendet war die Weimarer Republik tatsächlich der erste deutsche Staat überhaupt, der Juden nicht nur formal rechtlich gleichstellte, sondern sie am politischen Gestaltungsprozess auch voll mitwirken ließ. Dass Juden und Frauen sich bei der Bürgerschaftswahl in erdrückender Mehrheit auf Listen des sozialistischen und sozialliberalen Spektrums aufstellen ließen, basierte freilich nicht nur auf Ausschluss und Marginalisierungsversuchen durch die Mehrzahl der rechten Parteien. Vielmehr wussten die Kandidatinnen genau, von wem sie mit Blick auf die politischen Verhältnisse im Kaiserreich mehr als nur Lippenbekenntnisse zu erwarten hatten. Mit dem antisemitischen Multifunktionär Jacobsen wollten Hamburger Juden so wenig tun haben wie er mit ihnen und Frauen, sofern diese sich nicht aus taktischen Gründen vor 1918 gegen das Frauenwahlrecht ausgesprochen hatten oder selbst Antisemitinnen32 waren. Da dazu noch die DDP in Hamburg von Ferdinand Beit angeführt wurde, dem bis dahin engagiertesten Gegenspieler der Clique um Jacobsen, Alfred Diller und Friedrich Raab, war seine Fraktion für bürgerliche Juden und Frauen ein attraktives politisches Betätigungsfeld. Für sich genommen erlaubt die demografische Zusammensetzung eines Parlaments noch keine Aussage über dessen demokratischen Charakter. In einer mustergültig demokratischen Wahl kann ein lebensweltlich homogenes Parlament,, wie man es aus der Vorkriegsbürgerschaft kannte ebenso zustande kommen, wie ein Parlament, das man als „divers“ bezeichnen könnte. „Diversität“ war zur Gründung 31 Jacobsen hatte schon im Kaiserreich mehreren antisemitischen Parteien angehört und nach 1918 auch eine antisemitische Version der Dolchstoßlegende propagiert. Siehe dazu Benz/ Mihok, Brigitte (2012): Handbuch des Antisemitismus, Bd. 5, S. 211. Jacobsens Beteiligungen an kurz- und langlebigen Organisationen im völkischen Milieu und seine Verstrickung in den Kapp-Lüttwitz-Putsch werden ausführlich diskutiert bei: Lohalm (1970): Völkischer Radikalismus, S. 86–88 und S. 197. 32 Die DNVP-Kandidatinnen Antoinette Vaupel (Wittneben (2014): Dora Breyer, S. 23) und Helene Sillem (die Aktenbestände des Nordverbands des Deutschen Evangelischen Frauenbunds legen einen Hang zur Spekulation über die jüdische Herkunft von Vortragenden und KooperationspartnerInnen nahe: Von der Groeben an Sillem (1920) und Sillem an von Werthern (1921); im Archiv der Deutschen Frauenbewegung, Bestand NL-K-16 Deutscher Evangelischer Frauenbund; Konvolut I-112) waren für antisemitische Propaganda zumindest empfänglich oder standen ab 1933 dem Nationalsozialismus wohlwollend gegenüber.
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der Weimarer Republik freilich noch kein demokratischer Wert an sich. Nichts desto weniger verbanden bis dato politisch marginalisierte Gruppen im Kaiserreich den Kampf um ihre partikularen politischen Rechte immer auch mit dem Kampf um allgemeine politische Gleichstellung: Teile der Arbeiterbewegung kooperierten mit Teilen der Frauenbewegung, JüdInnen brachten sich in beiden Bewegungen ein, während sie gleichzeitig für die Durchsetzung ihrer Rechte als JüdInnen stritten. Diese in der jungen Republik vorläufig von Erfolg gekrönten Kämpfe schufen zugleich Freiräume für die politische Besserstellung weiterer Identitäten und Lebensentwürfe. Darin könnte man durchaus eine diversitätsorientierte Politik avant la lettre erkennen33. Wie bereits diskutiert, stand und steht es den Wählerinnen in einer Demokratie offen, durch Stimmabgabe den einen wie den anderen Ausgang herbeizuführen, auch wenn sie im letzteren Fall billigend in Kauf nehmen, dass ihre Repräsentanten mit ihnen und ihrer ökonomischen, geschlechterbezogenen und ethnisch-religiösen Lebenswirklichkeit nichts gemeinsam haben. Die Diversität eines Parlaments, insbesondere der darin vertretenen demokratischen Fraktionen, ist jedoch ein Gradmesser für den in den Parteien vorhandenen Willen, die Bevölkerung adäquat zu repräsentieren. Die Tatsache, dass SPD und USPD als dezidierte Arbeiterparteien mit klarem Bekenntnis zum Frauenwahlrecht 1919 tatsächlich mit ihren 82 bzw. dreizehn errungenen Mandaten Arbeitern und Arbeiterinnen den Einzug in die Bürgerschaft auf Plätzen ermöglichten, die wohlhabende konservative Männer hatten räumen müssen, sollte nicht überraschen. Ebenso wenig erstaunlich ist es, dass die DDP das langjährige politische Engagement bürgerlicher Frauen, die sich schon immer nicht nur monothematisch für das Frauenwahlrecht, sondern auch für andere sozialliberale Ziele eingesetzt hatten, mit Mandaten honorierte. Sozialdemokraten wie Sozialliberale taten somit einfach das, was ohnehin in ihrem politischen Programm vorgesehen war: Unter den Bedingungen einer Demokratie, für die sie jahrelang gestritten hatten,34 stellten sie KandidatInnen aus den Klientelen auf, deren Interessen zu vertreten sie angetreten waren. Wesentlich aufschlussreicher ist die Kandidatenauswahl der konservativen Parteien, also derjenigen Parteien, die der repräsentativen Demokratie wenigstens zu Beginn skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Das Bedürfnis, eine personelle
33 Beispielhaft sei hier nur die Biografie von Magnus Hirschfeld genannt, der im Kaiserreich in seinem Engagement für die Besserstellung und Entpathologisierung von Homosexuellen und Transpersonen vor allem durch staatliche Stellen in seinem Wirken beschränkt wurde. In der jungen Weimarer Republik hingegen fand er Bedingungen vor, unter denen er sein Engagement durch eine Institutsgründung konsolidieren konnte. Erst der Terror der SA setzte dem ein Ende. Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld und seine Zeit, Berlin 2017, S. 73 ff., S. 287 und S. 372. 34 Man kann hier einwenden, dass die USPD mit dem Status Quo keinesfalls zufrieden war. Dass ihr zudem von der MSPD und den bürgerlichen Parteien unterstellt wurde, sie habe die Hungerunruhen im Juni 1919 orchestriert (Schulte-Varendorff (2010): Die Hungerunruhen in Hamburg, S. 75), trug ebenfalls kaum zu ihrer Integration bei. Zugleich ist aber festzuhalten, dass sie im Angesicht des Kapp-Putsches bereit war, ihre Vorbehalte gegenüber SPD und DDP hintanzustellen und einen gemeinsamen Aufruf zum bewaffneten Widerstand gegen den Putsch zur Abstimmung in der Bürgerschaft zu stellen. Hamburgische Bürgerschaft (1920): 14. Sitzung, S. 387 f.
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Kontinuität zur alten Bürgerschaft aufrecht zu erhalten, war bei DVP, HWB und DNVP in Form der eindeutigen Priorisierung langjährig aktiver Abgeordneter auf ihren Wahllisten evident. Zwar war es allein der HWB, der auch die alte Fraktionierung nach ökonomischen Kriterien in die Weimarer Republik zu überführen suchte, dennoch stellten DVP, HWB und DNVP in ihrer Gesamtheit ein Konglomerat von Parteien dar, das personell deckungsgleich mit der Gesamtheit der traditionellen Fraktionen der Bürgerschaft war. Diesem Konglomerat standen aber nach der Wahl von 1919 nicht mehr die Mandate zur Verfügung, auf die die alten Fraktionen noch hatten zugreifen können, sodass die Frage weniger lauten müsste, ob die konservativen Parteien eine Kontinuität zur alten Bürgerschaft herzustellen versuchten, sondern mit welchem Personal. Für die DNVP ist diese Frage nicht nur wegen der Kürze ihrer Liste, sondern auch wegen der Eindeutigkeit ihrer Positionierung am schnellsten beantwortet: Listenführer Jacobsen war, wie bereits oben diskutiert, ein Antisemit, der an seiner Ablehnung einer demokratisch verfassten Republik keinen Zweifel ließ und sie durch seine Beteiligung am Kapp-Lüttwitz-Putsch auch in der Praxis unter Beweis stellte. Mit ihm, dem Anwalt Andreas Rasmus Koch und der Fabrikantengattin Anna Schaper saß für die DNVP nur Alfred Diller als Angestelltengewerkschafter in der Bürgerschaft. Die Tatsache, dass letzterer parteiintern gegen die im Hamburger Landesverband dominierenden Bankiers und Werftbesitzer für die stärkere Akzentuierung von Arbeitnehmerinteressen im Programm stritt, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er zugleich Funktionär des antisemitischen35 Deutschen Handlungsgehilfenverbandes war und sich nach dem Bruch mit der DNVP 1930 der NSDAP zuwandte.36 Der HWB untermauerte seine Präferenz für das Kaiserreich in jeder Hinsicht. Auch wenn er auf hinteren Listenplätzen Angestellte und Arbeiter aufbot und mit den Liste „Erwerbstätige Frauen und Mädchen“ kooperierte, führte das Wahlergebnis in Form der HWB-Fraktion dazu, Residuen der alten Bürgerschaft in der neuen Bürgerschaft zu konservieren. Die mit der Maxime, wirtschaftsorientierte Politik zu betreiben, verbundene Absage an ein weltanschaulich begründetes Parteiprogramm führte dazu, dass Abgeordnete in die Bürgerschaft einzogen, die nach dem Zerfall des HWB in Parteien des gesamten konservativen Spektrums wechselten, besonders in die DVP. Die Mehrheit der Abgeordneten, allen voran Friedrich Eddelbüttel, trat 1921 der DVP-Fraktion bei. Karl Anton Gutknecht wiederum gehörte ab 1920 der Reichstagsfraktion der DNVP an, während Max Isaac und Franz Victor Liebermann nach nur zwei Jahren wieder aus der Politik ausschieden. Letzteres Beispiel verdeutlicht die Ambivalenz der HWB-Fraktion: Einerseits hatte sie durch die Entsendung der Abgeordneten Liebermann37 und Isaac38 den konservativeren 35 36 37 38
Rütters (2009): Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband, S. 82 und 105. Büttner (1982): Hamburg in der Staats- und Wirtschaftskrise, S. 319 ff. Walk (1988): Kurzbiographien zur Geschichte der Juden, S. 235. Isaac war Teilhaber der belgisch-deutschen Kaufhauskette Hirsch & Cie., deren von ihm geleitete Hamburger Filiale 1937 vom NS-Staat enteignet wurde, gefolgt von einer Enteignung
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jüdischen Angehörigen des Hamburger Bürgertums zu einer gewissen politischen Repräsentation verholfen, andererseits bot sie mit Gutknecht einem Angehörigen der DNVP eine politische Heimat, deren Landesverband davon ausging, dass an Kriegsniederlage und Republikgründung letztlich die Juden schuld gewesen seien.39 Auch die Fraktion der DVP weist einige Ambivalenzen auf. Der Werdegang ihres Spitzenkandidaten Franz Heinrich Witthoefft legt zunächst eine klar antidemokratische Ausrichtung nahe, fand dieser sich doch 1932 im „Freundeskreis Reichsführer-SS“ wieder und zeichnete die sogenannte Industrielleneingabe an Reichspräsident Hindenburg mit.40 Ebenso hingen bei der Trauerfeier für den Abgeordneten Friedrich Rode ausweislich eines Berichts im DVP-nahen Hamburgischen Correspondent am Rednerpult „die deutschen Farben Schwarz-Weiß-Rot“.41 Besagter Nachruf enthält aber zugleich ein Indiz dafür, dass die DVP bei der Auswahl ihrer KandidatInnen durchaus Personen den Vorrang gab die, bei aller Ablehnung gegenüber der SPD als treibender Kraft bei der Gründung des neuen Staates, doch offen waren für die Republik. So hätten der verstorbene Pastor Rode und weitere Abgeordnete seinerzeit gegen den sogenannten Wahlrechtsraub opponiert, sich jedoch nicht zum Bruch mit ihren alten Fraktionen durchringen können. Der Nachrufende, welcher dies lobend hervorhebt, war Paul de Chapeaurouge, selbst Abgeordneter der DVP. Ein weiterer Mitstreiter Rodes in den Auseinandersetzungen um das Wahlrecht im Jahr 1906 war Max Mittelstein, der 1919 ebenfalls erfolgreicher für die DVP kandidiert hatte. De Chapeaurouge führt weiterhin aus – wiederum in affirmativer Absicht, – dass Rode sich nach dem für ihn schmerzlichen Zusammenbruch des Kaiserreichs für die Mitarbeit im neuen Staat entschied. Auch die Tatsache, dass die DVP-Fraktion in einer gemeinsamen Erklärung mit dem HWB während des Kapp-Putsches in der anberaumten außerordentlichen Bürgerschaftssitzung ihre Ablehnung gegenüber dessen politischen Hintermännern erklärte,42 scheint mir ein Indiz dafür zu sein, dass die Hamburger DVP-Fraktion in der Frühphase der Weimarer Republik sich in wichtigen Momenten entschieden auf die
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seines Privatbesitzes 1939. Er verstarb 1940 in Hamburg, nur ein Sohn überlebte die nationalsozialistische Judenverfolgung. Staatsarchiv Hamburg, 213-13_9307 Isaac, Moses, gen. Max, Erben. Wobei sie selbst den kaisertreuen Albert Ballin nicht verschonten, dessen Suizid aus Trauer über den Zusammenbruch des Kaiserreichs sie zu einem Schuldeingeständnis bezüglich seiner angeblichen verräterischen Machenschaften gegen Deutschland umdeuteten. Verein zur Abwehr des Antisemitismus (1922): Mitteilungen, S. 1. Schulz (1992): Von Brüning zu Hitler, S. 1019. N.N. (1923): Gedenkfeier für Senior Dr. Rode, o.S. Wortführer Paul de Chapeaurouge betonte, dass die DVP immer eine der Republik gegenüber loyale Oppositionspartei gewesen sei und sich gegen den Vorwurf verwahre, die „Unbesonnenheiten radikaler Hitzköpfe der äußersten Rechten“ zu unterstützen. Den dauerhaften Übergang der Regierungsgewalt an die „Reaktionäre der äußersten Rechten“ lehne die DVP ab, sie bevorzuge eine Regierung der bisherigen Mehrheitsparteien unter Einbeziehung von Parteien „die sie ihrerseits von der Regierung ausgeschlossen haben“, vulgo der DVP. Hamburgische Bürgerschaft (1920): 14. Sitzung, S. 389.
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Seite der Demokratie stellte.43 Es kann also gewissermaßen das Urteil über Sozialdemokraten und Sozialliberale auch für die konservativen Parteien gelten. Sowohl was die Repräsentation ihrer demografischen und ökonomischen Klientel betrifft, als auch was ihre Positionierung zur jungen Republik anging, hielten sie jede auf ihre Weise Wort. Sie alle entsandten Abgeordnete, die schon in der alten Bürgerschaft der Privilegierten gesessen hatten oder angesichts ihrer Lebenswirklichkeit dort hätten sitzen können, vertraten so das konservative Bürgertum und erhielten die Kontinuität zur alten Bürgerschaft aufrecht. Die Abgeordneten der DNVP, erklärte Gegnerin der Republik der DemokratInnen, ArbeiterInnen und JüdInnen, ergriff im Kapp-Putsch die erste Gelegenheit beim Schopfe, einen Staat zu schaffen, in dem DemokratInnen, ArbeiterInnen und JüdInnen im für sie noch günstigsten Fall nicht mehr an den politischen Entscheidungsprozessen teilgehabt hätten. HWB und DVP hingegen entschieden sich an diesem politischen Scheideweg, wenn schon nicht vollends auf der Seite der regierenden Demokraten, dann doch zumindest nicht in deren Wege zu stehen. QUELLEN Archiv der Deutschen Frauenbewegung, Bestand NL-K-16 Deutscher Evangelischer Frauenbund; Konvolut I-112: Schreiben von Helene Sillem an Emilie von Werthern betr. u.a. die jüdische Herkunft der Referentin im Pflegeamt Hamburg, Frau Blumenfeld, 13.08.1921. Archiv der Deutschen Frauenbewegung, Bestand NL-K-16 Deutscher Evangelischer Frauenbund; Konvolut I-112: Schreiben von Selma von der Groeben an Helene Sillem problematisiert u.a. die jüdische Herkunft von Bertha Pappenheim, 06.12.1920. Beukemann, Adolf Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Die Wahlen zur hamburgischen Bürgerschaft im Jahre 1910, in: Statistische Mittelungen über den Hamburgischen Staat, Bd. 1.1910, Hamburg 1910. Ders. (Hrsg.): Die Ergebnisse der Wahlen zur hamburgischen Bürgerschaft im Jahre 1913, in: Statistische Mittelungen über den Hamburgischen Staat, Bd. 3.1913, Hamburg 1913. Hamburgische Bürgerschaft (Hrsg.): 14. Sitzung der Bürgerschaft, Sonnabend, den 13. März 1920, in: Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg im Jahre 1920, Hamburg 1920, S. 387–390. Jansen, Robert (Hrsg.): Die Vereinigten Liberalen in der Hamburger „Bürgerschaft“. Bericht über die Tätigkeit der Fraktion der Vereinigten Liberalen in der Hamburger Bürgerschaft 1907– 1910, Hamburg 1910.
43 Die im gleichen Atemzug getätigte Absage an bewaffneten Widerstand gegen die Putschisten war jedoch erklärungsbedürftig. Die DVP verwies darauf, dass sie in einer von ihr wahrgenommenen Phase wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Regeneration in Hamburg vor dem Risiko zurückschrecke, durch die Aufstellung von Volkswehren erneut bürgerkriegsartige Zustände zu verursachen (Hamburgische Bürgerschaft (1920): 14. Sitzung, S. 389), was für seine Zeitgenossen mit Blick auf die Hungerunruhen durchaus plausibel gewesen sein muss (SchulteVarendorff (2010): Die Hungerunruhen in Hamburg, S. 73 ff.). In der Abstimmung über den Antrag verzeichnet das Protokoll konsequenterweise die Annahme mit 84 von 95 Stimmen, bei elf Enthaltungen und ohne Gegenstimmen, was dafür spricht, dass die DVP-Fraktion hier als Bedenkenträgerin agierte, sich jedoch nicht offen gegen SPD und DDP stellen wollte.
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Lars F. Köppen
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HERMANN DIETRICH – EIN DEMOKRAT? Zum liberalen Staatsverständnis in der Weimarer Republik Desiderius Meier Fahndet man nach „demokratischen Persönlichkeiten“ in der Weimarer Politik, wird man bei den liberalen Parteien nicht ohne weiteres fündig. Nicht nur auf Gustav Stresemanns Deutsche Volkspartei (DVP) trifft dies zu, sondern auch auf die Deutsche Demokratische Partei (DDP), die gemeinhin dem republiktreuen Lager zugerechnet und – im Anschluss an gelegentliche zeitgenössische Selbstbeschreibungen – gerne als „Verfassungspartei“ bezeichnet wird.1 Das ist gewiss nicht ganz falsch, stellt aber doch eine Vereinfachung dar und zeichnet letztlich ein schiefes Bild. Sobald man sich im Detail mit dem liberalen Staatsverständnis auseinandersetzt, ergibt sich ein differenzierteres, facettenreiches Bild. Ambivalenzen und Widersprüche treten ebenso zutage wie der Umstand, dass sich Überzeugungen während der Weimarer Zeit erheblich wandeln konnten.2 Zum einen standen viele Liberale der Republik mit (mehr oder weniger erheblichen, temporären oder dauerhaften) Vorbehalten gegenüber. Im Grunde ist das nicht verwunderlich. Der Zusammenbruch des monarchischen Staatswesens erforderte keine geringe Anpassungsleistung, schließlich wurden genuin demokratische und republikanische Verfassungskonzeptionen innerhalb des liberalen Lagers bis 1918 nur von Außenseitern vertreten: Das galt für die Fortschrittliche Volkspartei (FVP) und selbstverständlich erst recht für die Nationalliberale Partei (NLP), von der die im November 1918 gegründete DDP enormen Zuzug erhielt. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass die Weimarer Verfassung zwar unter wesentlicher Beteiligung der DDP entstand, wichtige Punkte aber nicht den Vorstellungen der Liberalen entsprachen oder zumindest umstritten waren – insbesondere die Artikel über das Schulwesen, die Aufrechterhaltung der föderalen Ordnung des Reichs, die sozial- und wirtschaftspolitischen Bestimmungen, aber auch die neuen Reichsfarben und die verbreitet als zu stark empfundene Stellung von Parlament und Parteien.3 Zum anderen ging das demokratische Denken innerhalb der DDP vielfach mit Vor 1 2 3
Schneider (1978): Deutsche Demokratische Partei, S. 46–49; außerdem z.B. Langewiesche (1988): Liberalismus, S. 265f. u. Möller (2004): Weimarer Republik, S. 266. Ansätze dazu z.B. bei Heß (1980): Überlegungen; Hertfelder (2008): Meteor; an den Beispielen von Theodor Heuss und Gustav Stresemann: Radkau (2013): Heuss, S. 122–124 u. Pohl (2015): Stresemann, S. 213–216. Vgl. Albertin (1972): Liberalismus, S. 265–308.
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stellungen einher, die in Theorie und Praxis mit den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie schlecht harmonierten. Ein aufschlussreicher Fall ist Hermann Dietrich (1879–1954), der zu den liberalen Spitzenpolitikern der Weimarer Zeit zählte.4 Dietrich begann seine Laufbahn als Bürgermeister von Kehl (1908–1914) und Oberbürgermeister von Konstanz (1914–1919) sowie als nationalliberaler Abgeordneter im badischen Landtag (ab 1912). Im Zuge der Novemberrevolution wurde er badischer Außenminister und schloss sich, gemeinsam mit dem gesamten Landesverband der NLP, der badischen DDP an, in der er fortan eine führende Stellung einnahm. So wurde er schlagartig zu einer der maßgebenden politischen Figuren auf Landesebene, wodurch ihm wiederum der Sprung in die Reichspolitik gelang. Im Januar 1919 zog er in die Verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung und 1920 in den Reichstag ein, dem er bis 1933 angehörte. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte er als Ernährungsminister im Kabinett der Großen Koalition (1928–1930) und als Finanzminister und Vizekanzler im Kabinett Brüning (1930–1932). Ab 1930 war er außerdem Vorsitzender der Deutschen Staatspartei (DStP), der Nachfolgepartei der DDP. 1. DIE REVOLUTION: BEDROHUNG UND CHANCE Die Revolution stellte für Dietrich, ebenso wie für viele bürgerlich-liberale Politiker und Beamte, ein Sprungbrett in höchste öffentliche Ämter dar, die ihm dank der republikanisch-demokratischen Staatsform nicht nur kurzfristig, sondern auf Dauer zugänglich wurden, während sie unter den Bedingungen der monarchischen Verfassung vorrangig mit Angehörigen des Adels besetzt worden waren. Freilich hatte Dietrich den Umsturz, von dem er profitierte, weder erwartet noch erhofft. Bis 1914 war er zwar ein Vertreter des reformorientierten jungliberalen Flügels der NLP und befürwortete vehement den „Großblock“, ein Bündnis der liberalen Parteien mit der SPD. An seiner monarchischen Gesinnung ließ er allerdings keinen Zweifel, und während des Ersten Weltkriegs rückte er nach rechts. Im April 1917 feierte er, angelehnt an die Geschichtsdeutung Heinrich von Treitschkes, pathetisch die historische Bedeutung der Hohenzollern. Erst durch sie habe Deutschland seine jahrhundertelange „Uneinigkeit“ überwunden und sei damit in die Lage versetzt worden, jetzt „fast alleinstehend allen Weltmächten zu widerstehen“. Der Weltkrieg, von dessen siegreichem Ausgang er die Verwirklichung weitreichender Kriegsziele und einen „Aufstieg zum Weltstaat“ erhoffte, war für ihn der beste Beweis, dass „die Einheit und die Kraft des deutschen Volkes“ durch das „deutsche Kaisertum“ garantiert werde. Zugleich sei die preußisch-deutsche Monarchie „sozial“ und Garant einer gleichsam maßvollen Verfassungsentwicklung, der Dietrich die Westmächte als Negativfolie gegenüberstellte: „Wir brauchen einen Kaiser, weil wir nicht ein Staat werden wollen wie Amerika, in dem das Geld regiert, […] weil wir nicht ein
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Meier (2018): Dietrich; einen guten biographischen Überblick bietet Frölich (2005): Dietrich; s. außerdem die ältere Arbeit von Saldern (1966): Dietrich.
Hermann Dietrich – ein Demokrat?
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Staat werden wollen, in dem das Volk geführt wird von gewissenlosen Advokaten und einer noch gewissenloseren Presse, sondern weil wir sein und bleiben müssen ein Staatswesen, das langsam, sicher und auf nicht zu steiler Bahn sich vorwärts entwickeln will.“5 Das Bekenntnis zur Monarchie und ihre Verknüpfung mit dem Staatsgedanken war im deutschen Liberalismus fest verankert, ebenso wie in Abgrenzung von den Verfassungsformen der Kriegsgegner die Suche nach spezifisch „deutschen“ Formen von Demokratie und Parlamentarismus weit verbreitet war.6 In der intensiv geführten Diskussion um innenpolitische Reformen ergriff Dietrich allerdings Partei gegen die Parlamentarisierungsbestrebungen, die auch von prominenten Nationalliberalen befürwortet wurden.7 Bis zuletzt verkannte er den Ernst der Lage: Als sich Anfang November 1918 in Norddeutschland die revolutionären Unruhen ausbreiteten, befürwortete er vorsichtig eine „demokratische Entwicklung“, hielt aber eine Fortsetzung des Krieges für möglich und für erforderlich, um ungünstige Friedensbedingungen zu vermeiden.8 Während Kriegsniederlage und Revolution ihn also weitgehend unvorbereitet trafen, erkannte er sofort die sich bietenden Chancen und passte sich den veränderten Verhältnissen an. Als am 10. November auch in Baden die Revolution ausbrach, in Karlsruhe eine „vorläufige Volksregierung“ gebildet und Dietrich als Außenminister nominiert wurde, zögerte er keinen Augenblick und verließ Konstanz buchstäblich über Nacht.9 Seinen Eintritt in die Regierung und die Zusammenarbeit der NLP mit den revolutionären Kräften rechtfertigte er, indem er als pflichtbewusster Diener des Staates auftrat, der „nicht aus eigenem Willen, sondern auf die Forderung der Nationalliberalen Partei“ hin das Außenministerium übernommen habe, um die „Staatsmaschine in Gang zu halten“. Gleichzeitig hielt er fest, „dass am vergangenen Staat doch nicht alles gar so schlecht war, wie es heute Mancher ansieht“.10 Während er sich zur Republik bekannte, sprach er von der „Dankbarkeit“, die er und seine Partei gegenüber den Zähringern empfänden: „Wir haben unsere monarchische Gesinnung nicht einfach an den Nagel gehängt“ – doch nun müsse man sich mit den „Tatsachen“ arrangieren.11 5 6
Rede Dietrichs in Konstanz am 18.4.1917, Konstanzer Zeitung Nr. 105 vom 19.4.1917. Grosser (1970): Konstitutionalismus, S. 135–139 u. 163–174; Llanque (2000): Demokratisches Denken, S. 103–135. 7 So, freilich aus unterschiedlichen Motiven, von Gustav Stresemann und Hartmann von Richthofen: Grosser (1970): Konstitutionalismus, S. 112–118. 8 Rede Dietrichs in Konstanz am 5.11.1918, Konstanzer Zeitung Nr. 303 vom 7.11.1918. 9 Zu den revolutionären Ereignissen in Baden Brandt et al. (1991): Volksbewegung, bes. S. 73– 86; Schmidgall (2012): Revolution, S. 90–127; in der Revolutionsregierung waren alle in der badischen Politik maßgebenden Parteien vertreten – neben SPD und USPD also auch FVP, NLP und das Zentrum. Dietrich, nach wie vor Oberbürgermeister von Konstanz, befand sich bereits am Morgen des 11. November in Karlsruhe: Schilderung einzelner Begebenheiten bei Ausbruch der Revolution durch Anton Geiß, 6.5.1919, S. 9f., GLAK 233/27960. 10 Rede Dietrichs in Karlsruhe am 20.11.1918, Badische Landeszeitung Nr. 544 vom 21.11.1918. 11 Rede Dietrichs in Mannheim am 11.12.1918, Badische Landeszeitung Nr. 582 vom 13.12.1918.
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Die Kehrtwende, welche Dietrich vollzog und die er mit diesem wenig überzeugenden Lavieren beschönigte, trug zweifellos opportunistische Züge. Zugleich ging es um politische Schadensbegrenzung. Das Eintreten für die „demokratische Republik“, baldige Wahlen und eine neue Verfassung verband sich mit der Sorge vor einer „Diktatur des Proletariats, in der Bürger und Bauer ausgeschaltet werden“. Die „russischen Zustände“ vor Augen, galt es, „das Schlimmste“, nämlich die „Ausbreitung des Bolschewismus […] abzuwenden“ und dafür zu sorgen, dass „Ruhe und Ordnung erhalten“ sowie „Leben und Eigentum sicher“ blieben.12 Verhalten und Wortwahl Dietrichs entsprachen der typischen Reaktion des Bürgertums, das eine Radikalisierung der Revolutionsbewegung fürchtete.13 Angesichts der Aktivitäten des Spartakusbundes und der ersten blutigen Unruhen in Berlin zeichnete er zur Jahreswende 1918/19 ein düsteres Bild der Lage. Die Regierungen im Reich und in den meisten Bundesstaaten seien „aktionsunfähig und machtlos“, statt „Ordnung“ herrsche das „Chaos“ und man müsse auf einen „Kampf aller gegen alle“ gefasst sein.14 Gelinge es nicht, „den Staat, der überhaupt nicht mehr vorhanden ist, sondern nur noch ein Scheindasein führt, wieder in Ordnung [zu] bringen […], dann ist der Zusammenbruch in den nächsten Monaten unvermeidlich, und dann wird unser Gewerbe, unsere Industrie und unsere Arbeiterschaft eben untergehen.“15 Doch so bedrohlich Dietrich die Zustände nach der Revolution phasenweise empfand, war sein Handeln nicht nur von Pragmatismus bestimmt, sondern folgte zugleich dem Bewusstsein eines vielversprechenden Neubeginns. Er zeigte sich tief ernüchtert über das Kaiserreich. Für das badische Herrscherhaus fand er noch immer freundliche Worte, nicht aber für die Hohenzollern. Jenes monarchische Staatswesen, das er als Garant eines deutschen Sieges betrachtet hatte, machte er nun für die Kriegsniederlage verantwortlich – ausgehend von der zweischneidigen Behauptung, das Reich sei militärisch „nicht geschlagen“ worden, sondern „zusammengebrochen […] an inneren Fehlern“. Dazu rechnete er die Unfähigkeit der politischen Führung im Reich, aus zwischenzeitlichen militärischen Erfolgen Kapital zu schlagen und einen günstigen Frieden abzuschließen. Doch vor allem konstatierte er einen Legitimationsverlust der Monarchie, verursacht durch ein fundamentales Scheitern auf der Gesetzgebungs- und Verwaltungsebene sowie sozial- und finanzpolitisches Versagen. In der Flut kriegswirtschaftlicher Maßnahmen und Vorschriften habe sich niemand zurechtgefunden, weshalb diese auch nicht befolgt worden seien.16 Gleichzeitig sei der Staat nicht gegen die Profiteure des Krieges vorgegangen, die „Kriegsgewinner“, zu denen Dietrich in erster Linie Handel, Schwerindus 12 Rede Dietrichs in Konstanz am 28.11.1918, Konstanzer Zeitung Nr. 326 vom 30.11.1918. 13 Vgl. Schumann (2001): Politische Gewalt, S. 43–63. 14 Hermann Dietrich: Politik oder Interessenwirtschaft, Badische Landeszeitung Nr. 3 vom 3.1.1919. 15 Dietrich an Heinrich Wagner, 31.12.1918, BAK N Dietrich 216, pag. 125f. 16 Rede Dietrichs in Mannheim am 11.12.1918, Badische Landeszeitung Nr. 582 vom 13.12.1918 (Zitate) u. Rede Dietrichs in Konstanz am 28.11.1918, Konstanzer Zeitung Nr. 326 vom 30.11.1918.
Hermann Dietrich – ein Demokrat?
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trie und Großbanken zählte: „Dass der Gute an der Front sein Leben in die Schanze schlug für die Heimat, während der Schlechte daheim die Allgemeinheit aussog, musste mit eiserner Notwendigkeit das Staatsgebäude ins Wanken bringen.“ Deshalb hielt er gerade auf ökonomischem Gebiet den Moment für gekommen, „neue Grundlagen“ zu schaffen, „auf denen ein neuer Staat emporblühen kann, in dem ein jeder einer glücklicheren Zukunft entgegensehen wird“. Er wollte eine „Wiedergutmachung“ herbeiführen und ein neues, stark vom Staat beeinflusstes Wirtschaftssystem mit massiven Eingriffen in das Privateigentum errichten. Insbesondere plädierte er für die vollständige Erfassung und Enteignung aller nennenswerten Vermögenszuwächse seit August 1914, die Verstaatlichung der Bodenschätze und Elektrizitätswerke, die Beseitigung der großen Privatbanken und eine Bodenreform.17 Unbeschadet aller Befürchtungen und skeptischen Äußerungen, und obwohl diese bald die Oberhand gewannen, lässt sich bei Dietrich jene „Aufbruchsstimmung“ ausmachen, die in den ersten Wochen nach der Revolution viele Liberale, insbesondere in der DDP, verspürten.18 2. DIE REPUBLIK ALS STAATSFORM AUF BEWÄHRUNG Dietrichs Reaktion auf die Revolution war also höchst ambivalent. Er trauerte dem Kaiserreich nach und warf ihm zugleich Versagen vor; er fürchtete den Zusammenbruch von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, hoffte aber auf eine bessere Zukunft, in der alte Missstände behoben würden. Ebenso war, besonders bis 1923, seine Haltung gegenüber der jungen Demokratie von Schwankungen und Widersprüchen bestimmt. Der Anreiz, sich auf den „Boden der Tatsachen“ zu stellen, ergab sich auch aus seinem Politikverständnis, in dessen Zentrum die an aktuellen Sachfragen orientierte „Politik der praktischen Arbeit“ stand.19 Wenn er seinen Eintritt in die Revolutionsregierung als Dienst am Staat präsentierte, entsprach das dem klassisch liberalen Ideal der Mitwirkung am Gemeinwesen, dem gouvernementalen Selbstverständnis der badischen Nationalliberalen, die seit den 1860er Jahren die Geschicke des Großherzogtums als Regierungspartei mitbestimmt hatten, und seinem Werde 17 Rede Dietrichs in Karlsruhe am 20.11.1918, Badische Landeszeitung Nr. 544 vom 21.11.1918 (Zitate); „Programmatischer Vorschlag des Mitglieds der Volksregierung Dietrich“, o. D., GLAK 233/28117; Sitzung der provisorischen Regierung vom 21.11.1918, abgedruckt in Furtwängler (2012): Protokolle, S. 14f. Das Vorgehen gegen die Kriegsgewinne und die Frage der Sozialisierung standen Ende 1918 im Zentrum der politischen Debatten und fanden Eingang in die Programme beider liberaler Parteien; vgl. Albertin (1972): Liberalismus, S. 57 u. 72–74. Dietrichs Überlegungen waren vergleichsweise weitgehend und zum Teil äußerst konkret. Sie waren auch nicht als taktisches Entgegenkommen gegenüber den Arbeiterparteien gedacht. Im badischen Revolutionskabinett war er es, der die Initiative ergriff und auf ein entsprechendes Regierungsprogramm drängte (zu dem es am Ende nicht kam). 18 Langewiesche (1988): Liberalismus, S. 254; Albertin (1972): Liberalismus, S. 76f. 19 Hermann Dietrich: Weihnachten 1920, Badische Landeszeitung Nr. 372 vom 24.12.1920.
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gang als kommunaler Verwaltungsfachmann, der Politik aktiv gestaltete und sich in erster Linie der täglichen Detailarbeit widmete. Dieses staatsbürgerliche Ethos, gepaart mit der Bereitschaft zum politischen Kompromiss und der Geringschätzung dogmatischer Standpunkte, war ein wichtiger Faktor für seine Integration in den Weimarer Staat. Außerdem war Dietrich bereit, der Republik einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Er zeigte sich überzeugt, dass eine schnelle Besserung der wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Lage nicht zu erwarten war und predigte Geduld: Nur durch „schwere Arbeit“ und „im Laufe langer Jahre“ könne „eine Gesundung und eine Wiedergewinnung der alten politischen und wirtschaftlichen Stellung“ erreicht werden.20 Er mahnte, die Republik nicht an den Zuständen vor 1914 zu messen. Nach dem „Chaos des verlorenen Kriegs und des revolutionären Zusammenbruchs“ und angesichts der Belastung durch den Versailler Vertrag könne und dürfe man sich nicht an den „alten goldenen Zeiten“ orientieren.21 Ungeachtet aller Missstände müsse die Frage lauten, was „seit dem 9. November wieder erreicht worden“ sei, und so verteidigte er die Regierungen und Parlamente gegen das „Schimpfen und Kritisieren“ aus den Reihen des Bürgertums.22 Diese Perspektive einer Stunde Null im November 1918 war ebenfalls ein wichtiger Referenzpunkt für seine Hinwendung zur Republik. Im Übrigen betrachtete er den Übergang zu der neuen Staatsform als ein zwar nicht unvermeidliches, aber folgerichtiges Ergebnis der historischen Entwicklung – ein Argumentationsmuster, das im intellektuellen Umfeld der DDP weit verbreitet war.23 Nach dem kläglichen Ende der Monarchie gab es für Dietrich weder eine konkrete noch eine theoretische Alternative zur demokratischen Verfassung, weil er sie als Konsequenz eines gesellschaftlichen Evolutionsprozesses wahrnahm. Umsturzgedanken von rechts betrachtete er nicht nur als gefährlich, sondern auch als illusorisch. Er hielt es für unmöglich, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die Arbeiterschaft von der politischen Teilhabe auszuschließen. Nach dem Ende des von ihm scharf verurteilten Kapp-Lüttwitz-Putsches im März 1920 unterstrich er, dass an der Zusammenarbeit des Bürgertums mit der SPD kein Weg vorbeiführe. Die Arbeiterschaft sei „ein politischer Faktor ersten Ranges […] und ein viel entschlossenerer als die Bürgerlichen. Es ist nicht mehr möglich, ohne die Mehrheitssozialdemokratie den Staat in Ordnung zu halten.“24 In den ersten Jahren nach der Revolution war diese Sichtweise jedoch starken Einschränkungen unterworfen, die umso schwerer wogen, als Dietrich selbst den exekutiven und legislativen Organen der Republik angehörte und die DDP fast ununterbrochen Regierungspartei war.
20 Hermann Dietrich: Nationale Politik, Badische Landeszeitung Nr. 165 vom 24.4.1920. 21 Hermann Dietrich: 1920, Badische Landeszeitung Nr. 377 vom 31.12.1920. 22 Rede Dietrichs in Donaueschingen am 11.1.1920, Badische Landeszeitung Nr. 20 vom 13.1.1920. 23 Vgl. z.B. Klueting (1986): Meinecke, S. 76–80; Hertfelder (2008): Meteor, S. 30f. u. 42–44. 24 Hermann Dietrich: Der Ausweg aus dem Wirrwarr, Badische Landeszeitung Nr. 130 vom 22.3.1920.
Hermann Dietrich – ein Demokrat?
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Seine Vorbehalte hingen eng mit seinem funktionalistischen Staatsverständnis zusammen. Als er im Januar 1919 heimkehrende Truppen begrüßte, erläuterte er, wie es gelingen könne, „einen neuen Staat“ zu „bauen“: „Nur ein geordneter und starker Staat kann uns helfen. Ihn wieder aufzurichten auf dem heutigen republikanischen Boden, das ist die Aufgabe“.25 Wenngleich Dietrich Begriffe selten trennscharf verwendete oder gar eine Staatstheorie formulierte, wird deutlich, dass die republikanische Staatsform nicht das eigentliche Ziel war, sondern lediglich das Mittel zum Zweck, der „Boden“ für den leistungsfähigen Staat als solchen, der sich unabhängig von der jeweiligen Staatsform durch die – ständig schlagwortartig wiederholten – Attribute „Stärke“, „Macht“ und „Ordnung“ auszeichnete. Im Inneren hatte der Staat wirtschaftliche Prosperität und sozialen Frieden sicherzustellen. Dadurch wiederum wurde ihm ein machtvolles Auftreten in der Außenpolitik ermöglicht. Diesem eher schlichten, unkomplizierten Ideal hatte die Monarchie gemäß der Kritik, die er nach der Revolution äußerte, im Krieg nicht mehr entsprochen – sie war dysfunktional geworden. Gleichzeitig ergab sich aber aus diesem politischen Funktionalismus, der in der Weimarer Republik lagerübergreifend verbreitet war, eine Hypothek für die Beurteilung der neuen Staatsform, weil diese ihre Tauglichkeit unter Beweis stellen musste.26 Angesichts der schweren wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Krisen, welche die Republik bis 1923 in Atem hielten, stellte sich fast zwangsläufig die Frage, was sie nicht leistete. Gleichzeitig behielt das Kaiserreich für Dietrich eine gewisse Vorbildfunktion und blieb somit als belastende Vergleichsfolie präsent – er selbst orientierte sich eben doch an den „alten goldenen Zeiten“. Das Nebeneinander von „wieder“ und „neu“ in seiner Wortwahl ist bezeichnend: Der Republik fiel sowohl die Aufgabe eines Neuaufbaus als auch die eines Wiederaufbaus zu. Auf der einen Seite trat Dietrich für die Republik ein, auf der anderen äußerte er fortwährend, und nicht selten im gleichen Atemzug, seine Unzufriedenheit und zog gegen zahllose Missstände zu Felde, für die er die neue Staatsform direkt oder indirekt verantwortlich machte. Dabei bediente er sich teilweise eines drastischen Vokabulars. So übte er an der Beamtenpolitik in Preußen, wo die SPD zumindest auf der Ebene des höheren Dienstes die Demokratisierung der Verwaltung vorantrieb, scharfe Kritik. Durch die Förderung „politischer Streber“ habe man den „festgefügten alten Verwaltungsorganismus“ des Staates „zerschlagen“, der bisher aus „zwar reaktionären aber zuverlässigen Beamten“ bestanden habe.27 Er übertrieb damit nicht nur das Ausmaß der Eingriffe in den Beamtenapparat, sondern verharmloste auch den Umstand, dass zahlreiche altgediente Spitzenbeamte sich während des Kapp-Putsches illoyal verhalten hatten.28 In den ohnehin begrenzten Ansätzen einer prorepublikanischen Personalpolitik erblickte er also einen Angriff auf den Staat, nicht etwa den Versuch, ihn zu schützen – hier traten die Konsequenzen einer Tren 25 26 27 28
Rede Dietrichs in Konstanz am 12.1.1919, Konstanzer Zeitung Nr. 12 vom 13.1.1919. Wirsching (2008): Vernunftrepublikanismus, S. 22–25; s. auch Gusy (2000): Einleitung, S. 35. Hermann Dietrich: 1920, Badische Landeszeitung Nr. 377 vom 31.12.1920. Vgl. Orlow (1986): Weimar Prussia, S. 119–135 u. Runge (1965): Politik, S. 100–134.
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nung von Staatsform und dem als überparteilich bzw. unpolitisch begriffenen Staat markant hervor. Einen steten Stein des Anstoßes stellte die Finanz- und Wirtschaftspolitik dar. Den verzweifelten Versuchen des Reiches, den Haushalt zu sanieren, brachte Dietrich wenig Verständnis entgegen. Anfang 1922 stellte er die gesamte Steuergesetzgebung seit der Revolution als Produkt von inhaltsleeren, lediglich öffentlichkeitswirksamen „Schlagworten“ an den Pranger.29 Die Aufrechterhaltung der Zwangswirtschaft in der Lebensmittelversorgung geißelte er als Fehlschlag, der die „Autorität des Staates“ untergrabe, weil rationierte Güter selbst gegen Bezugsscheine kaum zu erhalten waren und der Schleichhandel blühte. Somit beging man laut Dietrich nun „denselben Fehler“ wie die „kaiserliche Regierung“ während des Krieges.30 Noch negativer fiel sein Urteil über die kommunalen und staatlichen Betriebe aus, die hohe Defizite verursachten, „während der alte Staat seine Betriebe, Post und Eisenbahnen in einer geradezu glänzenden Verfassung hatte“.31 Die Inflationsspirale aus Lohn- und Preiserhöhungen lastete er auch der Schwäche des Staates an, der nicht in der Lage sei, den Forderungen der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst entgegenzutreten,32 und im Oktober 1923, anlässlich der fortgeschrittenen Verhandlungen über die Währungsreform, bezeichnete er die geplante Rentenmark als „Produkt von schwächlichen und faulen Kompromissen“.33 Es gab gewiss Anlass, die finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu beanstanden. Häufig beschränkte Dietrich sich aber nicht auf eine sachliche und konstruktive Kritik, sondern ließ die republikanischen Organe in ihrem Agieren als fahrlässig und inkompetent erscheinen, rückte Missstände in einen Zusammenhang mit der Staatsform und diagnostizierte einen Rückschritt gegenüber den Zuständen im Kaiserreich. Gerade hier wäre jene Geduld am Platze gewesen, die er sonst anmahnte, schließlich wurde er nicht müde, auf die gravierenden Folgen des Weltkriegs und des Versailler Vertrags hinzuweisen und den Ausnahmecharakter der wirtschaftlichen Lage hervorzuheben. Im Juli 1922 betonte er, alle Bereiche staatlichen Handelns seien „restlos bedingt durch die unerträglichen Lasten und Leistungen auf Grund des Versailler Vertrags“. Solange dieser in Kraft bleibe, könne „kein Staatsmann und keine Partei Deutschland zur Gesundung bringen“.34 Allerdings stellte er der Republik gerade außenpolitisch ein schlechtes Zeugnis aus, weil er die Annahme der Waffenstillstandsbedingungen 1918, die Unterzeichnung des Versailler Vertrages 1919 und die Erfüllungspolitik, generell die vermeintliche Nachgiebigkeit gegenüber den Siegermächten als kapitale Fehler be-
29 Hermann Dietrich: Steuerpolitik oder Schlagworte, Königsberger Hartungsche Zeitung Nr. 45 vom 27.1.1922. 30 Hermann Dietrich: Zwangswirtschaft und kein Ende, Badische Landeszeitung Nr. 247 vom 31.7.1920. 31 Hermann Dietrich: 1920, Badische Landeszeitung Nr. 377 vom 31.12.1920. 32 Hermann Dietrich: Teuerungsbeihilfen, Badische Landeszeitung Nr. 500 vom 26.10.1919. 33 Hermann Dietrich: Zur Bodenmark, Seebote Nr. 227 vom 4.10.1923. 34 Geleitwort zum Mord an Walther Rathenau (Entwurf) für die RdE Korrespondenz des Volksbundes „Rettet die Ehre“, 13.7.1922, BAK N Dietrich 68, fol. 67.
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trachtete. Eine wichtige Rolle spielte, dass Dietrich nach wie vor glaubte, der Weltkrieg sei nicht militärisch verloren worden.35 Er bezeichnete die Befürworter der Unterzeichnung als „die Leichtgläubigen“ und behauptete, diese hätten „die Nerven […] völlig verloren“ – wie schon im November 1918, als man im Vertrauen auf Wilsons 14-Punkte-Programm „im verkehrten Augenblick die Waffen aus der Hand gelegt“ habe.36 Die verantwortlichen Politiker, im wesentlichen also die Mitglieder von SPD und Zentrum, brandmarkte er als naiv und unfähig: „Mit Leuten, die zunächst auf den Wilson-Schwindel und später auf den Versailler Frieden hineingefallen sind, ist naturgemäß eine ernsthafte Politik nicht zu machen.“37 Wer sich so ausdrückte, näherte sich argumentativ der Dolchstoßlegende – zumindest waren derartige Äußerungen nicht geeignet, dieser entgegenzuwirken. 3. DAS LEITBILD VOM EINIGEN „STAATSVOLK“ Die Polemik, mit der Dietrich sich durch die öffentliche Arena bewegte, war nicht auf Einzelfälle beschränkt. Sie richtete sich implizit gegen die Republik – mal konnte, mal musste sie so verstanden werden. Doch wann immer er sich ausdrücklich mit der Weimarer Verfassung auseinandersetzte, bekannte er sich zu der republikanisch-demokratischen Ordnung. Dabei legte er ein paradoxes Demokratieverständnis an den Tag. Als letztlich entscheidende Voraussetzung für den funktionstüchtigen, innenund außenpolitisch starken Staat betrachtete er die „Einheit des deutschen Volkes“. Der nationale Machtstaat war gleichermaßen Produkt und Symbol dieser Einheit, und es war nicht zuletzt diese idealisierte Wechselbeziehung, welche für die Staatsfixierung in Dietrichs Denken verantwortlich war und dem allgegenwärtigen Begriff „Staat“ den Charakter eines Schlagworts verlieh. Als Garanten der deutschen Einheit hatte er bislang das Kaisertum der Hohenzollern betrachtet. Nun galt es, die nationale Geschlossenheit im Rahmen der Republik zu erreichen – und gerade hier war die Bilanz des Weimarer Staates ernüchternd, waren die Nachkriegsjahre doch von heftigen wirtschaftlichen Interessenkonflikten und innenpolitischen Auseinandersetzungen, wiederholt gar von bürgerkriegsähnlichen Zuständen geprägt. „Misstrauen aller Stände gegeneinander, Hass und Zwietracht“ beherrschten aus Dietrichs Sicht das „Volk“, welches von „gewissenlosen und unverständigen Politikern“ gespalten werde und deshalb „todkrank“ sei: „Statt in geschlossenem natio 35 Diese Auffassung war selbst bei Linksliberalen verbreitet, die dezidiert gegen die Dolchstoßpropaganda vorgingen: Barth (2003): Dolchstoßlegenden, S. 444–463; s. zu dieser Thematik auch den Beitrag von Christian Lüdtke in diesem Band. 36 Hermann Dietrich: Ostern, Badische Landeszeitung Nr. 71 vom 26.3.1921. 37 Hermann Dietrich: Der Ausweg aus dem Wirrwarr, Badische Landeszeitung Nr. 130 vom 22.3.1920; die große Mehrheit der DDP-Fraktion hatte in der Nationalversammlung gegen die Unterzeichnung des Versailler Vertrags gestimmt, und bis 1923 überwogen in der Partei die Stimmen gegen die Erfüllungspolitik; vgl. Heß (1978): Demokratischer Nationalismus, S. 76– 142.
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nalen Wollen und Handeln sich gegen seine Not und seine Feinde durchzusetzen, […] droht es […] sich in Parteien und Interessencliquen aufzulösen und in inneren Kämpfen zu sterben.“38 Dafür machte Dietrich aber nicht die Demokratie verantwortlich, sondern ihre gegenwärtigen, als abnorm verstandenen Erscheinungsformen. Zum einen richtete sich seine Kritik gegen die radikalen Kräfte von rechts und links, deren Hetze und Fundamentalopposition gegenüber der Republik. Als im Oktober 1923 mehr als je zuvor die Funktionsfähigkeit des Weimarer Parlamentarismus in Frage stand, erblickte er den eigentlichen Grund für das Ausmaß der Krise „nicht im parlamentarischen Leben an sich“, sondern in der Weigerung der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), die Republik anzuerkennen und sich an der Regierungsbildung zu beteiligen – mithin „in der traurigen Tatsache, dass wir immer noch nicht alle miteinander, ob rechts oder links, […] uns auf den Boden der Verfassung stellen“.39 Zum anderen ging er davon aus, das „Volk“ sei für die neue Staatsform nicht bzw. noch nicht reif. Es sei „über Nacht souverän geworden“ und nun „durch die von ihm gewählten Parlamente und die daraus hervorgegangenen parlamentarischen Regierungen […] selbst der Staat“. Den entsprechenden „Staatsgedanken“ habe es aber bislang nicht verinnerlicht. Dietrich machte ein Defizit an staatsbürgerlichem Denken in der Gesellschaft aus, das er auf die Tradition des konstitutionellen Verständnisses vom Staatsbürger als Objekt, nicht als Subjekt der Politik zurückführte. Die innenpolitischen Antagonismen waren demnach die Folge einer „Kinderkrankheit“, auf deren Beseitigung er hoffte.40 Dieser Diagnose lag ein Politikverständnis zugrunde, das den pluralistischen Charakter der modernen Gesellschaft nicht angemessen berücksichtigte. Die Vorstellung von dem Volk als „Einheit“, wie sie auch in den physiologischen Metaphern „Organismus“, „Krankheit“ und drohender „Tod“ zum Ausdruck kam,41 war zumindest im Kern antipluralistisch. Dietrich leugnete weder die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der gesellschaftlichen Interessen noch die Notwendigkeit ihrer politischen Vertretung und betrachtete „starke Meinungsverschiedenheiten“ zwischen den Parteien als nützlich: „Wo kein Kampf ist, da ist kein Leben, keine Entwicklung und keine Zukunft.“42 Außerdem waren das Ausmaß der innenpolitischen Polarisierung und die verfassungsfeindliche Agitation, mit der die junge Republik kon 38 Hermann Dietrich: Weihnachten 1920, Badische Landeszeitung Nr. 372 vom 24.12.1920 u. ders.: Zum Geleit, Seebote Nr. 244 vom 4.11.1922. 39 Hermann Dietrich: Der Rechtsabmarsch, Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 469 vom 10.10.1923. 40 Hermann Dietrich: Wo es uns politisch fehlt, Badische Landeszeitung Nr. 457 vom 1.10.1919; dabei hatte der bisweilen erzieherische Duktus in Dietrichs Reden und Artikeln nicht eine vermeintlich unverständige Masse, sondern das Bürgertum im Blick, dem er mangelnde Bereitschaft zur „Mitarbeit“ vorwarf. Zur mitunter elitär angehauchten Vorstellung von der demokratischen „Unreife“ Deutschlands und den damit verknüpften Vorbehalten gegenüber der parlamentarischen Demokratie im (links)liberalen Spektrum: Llanque (2000): Demokratisches Denken, S. 231–237; Gottschalk (1969): Die Linksliberalen, S. 49–55. 41 Vgl. Föllmer (2001): Volkskörper. 42 Hermann Dietrich: Nationale Politik, Badische Landeszeitung Nr. 165 vom 24.4.1920.
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frontiert wurde, in der Tat nicht demokratieverträglich. Er ging aber davon aus, dass es, sobald man sich nur in der Verfassungsfrage einig war, einen homogenen Volkswillen gab, der auf den per se überparteilichen Staat als höchstes Gut bezogen und allen divergierenden Teilwillen übergeordnet war. Diese Vorstellung war in ihren praktischen Auswirkungen überaus weitreichend. So forderte er, dass „aller politischer Kampf und Hader […] zurücktreten“ müsse hinter „dem einen Gedanken: wie richten wir […] die deutsche Wirtschaft und den deutschen Staat wieder auf?“ Auf dieses vorrangige Ziel müssten alle Parteien „uneigennützig“ hinarbeiten, statt zu versuchen, „lediglich um eigener Interessen willen die politische Macht an sich zu reißen“.43 Der „Wiederaufbau“ nicht nur des Staates, sondern auch der Wirtschaft hatte damit gleichsam objektiven Kriterien zu folgen, denen alle sozioökonomischen „Sonderinteressen“44 unterzuordnen waren. Dietrich teilte also Staat und Gesellschaft in getrennte Sphären auf und folgte damit jenem konstitutionellen Denken, das er selbst für überholt erklärte. Die Orientierung am Konstitutionalismus des Kaiserreichs und die mit dem Leitgedanken des Volks als organischer Einheit verknüpften antipluralistischen Denkhaltungen sind charakteristisch für das Staats- und Demokratieverständnis in der Weimarer Republik, das auch im liberalen Spektrum vorherrschte.45 Dietrich erkannte das Volk als Träger der Staatsgewalt an, begriff die demokratische Willensbildung aber in letzter Konsequenz nicht als komplexen Prozess und rückte nicht den einzelnen Bürger, sondern den Staat ins Zentrum seiner Erwägungen. Letztlich erwartete er von der demokratischen Verfassung etwas, das sie per se nicht erfüllen konnte, und gelangte zu einer widersprüchlichen Verknüpfung von demokratischem und konstitutionellem Denken, die sich dadurch aufrechterhalten ließ, dass er die alltäglichen Auswirkungen des gesellschaftlichen Pluralismus in der Politik als nicht demokratieimmanent interpretierte. So stellte er in den grundsätzlichen Äußerungen über die Republik keinen Gegensatz zwischen seinem Staatsideal und der demokratischen Verfassung fest, zog also nicht die Schlussfolgerung, die sich im rechten antidemokratischen Denken fand.46 Die Fixierung auf den überparteilichen Staat war der rote Faden, der das politische Denken Dietrichs von der Revolution bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme durchzog. Sie trat nicht zuletzt während seiner Ministerzeit in der Spätphase der Republik markant hervor, als er in dem Bewusstsein handelte, eine unausweichliche, über allen Einzelinteressen stehende „Staatspolitik“ zu betreiben. Da die Mehrheit der Staatsbürger und der von ihnen gewählten Parteien sich dieser „objektiven“ Politik verweigerten, sich mithin nicht wie ein „Staatsvolk“, sondern
43 Ebd. 44 Hermann Dietrich: Wirtschaftsprovinzen, Badische Landeszeitung Nr. 36 vom 12.2.1921. 45 Wirsching (2000): Demokratisches Denken; Gusy (2000): Fragen, S. 649–660; Bollmeyer (2007): Weg, bes. S. 255–270; Hertfelder (2008): Meteor. 46 Sontheimer (1962): Antidemokratisches Denken, bes. S. 188–268.
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wie ein „Haufen von Interessenten“ verhielten,47 betrachtete er die extensive Anwendung des Artikels 48 durch das Kabinett Brüning als gerechtfertigt, um der Weltwirtschaftskrise Herr zu werden. Sein Staats- und Demokratieverständnis änderte sich also nicht mehr – wohl aber änderte sich ab Ende 1923 seine Haltung gegenüber der Republik. 4. DIETRICH ALS REPRÄSENTANT DER WEIMARER DEMOKRATIE Nach den katastrophalen Entwicklungen des Jahres 1923, die in dem völligen Zusammenbruch der deutschen Währung, der Selbstentmachtung des Parlaments und Umsturzversuchen von rechts und links kulminierten, erfuhr Dietrichs Einstellung zum Weimarer Staat eine nachhaltige Korrektur. Möglicherweise führten ihm die innenpolitischen Ereignisse im Herbst 1923, nicht zuletzt der von ihm als „verbrecherisch“ verurteilte Hitlerputsch,48 vor Augen, dass die Republik einer engagierteren Verteidigung bedurfte, als er bislang für nötig befunden hatte. Doch vor allem bewährte sie sich, indem sie die schwerwiegende Krise bewältigte. Die Republik, so sein Resümee im Frühjahr 1925, hatte die Angriffe der verfassungsfeindlichen Kräfte abgewehrt, anschließend die Stabilisierung der Währung bewerkstelligt, die öffentlichen Finanzen „beispiellos schnell geordnet“ und dadurch „die Wirtschaft wieder in Gang gesetzt“. Seit der Revolution sei zwar „vieles passiert, was einen hätte zur Verzweiflung bringen können“, entscheidend sei aber, dass es „vorwärts und aufwärts […] geht“. Deutschland habe nun „den Weg zu einem neuen Staat und zu einer neuen Zukunft […] gefunden“.49 Das funktionalistische Staatsdenken sprach jetzt für die Republik. Bislang hatte Dietrich die neue Ordnung in erster Linie ex negativo verteidigt – als einzig mögliche Staatsform und mit Mahnungen zur Geduld. Nun hatte sie ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt und war damit positiv legitimiert. Dietrich betrachtete die Republik nicht nur für den Moment als die gegebene Staatsform, sondern sah sie mit einer langfristigen Zukunftsagenda ausgestattet. In einer Rede zum Verfassungstag 1926 stellte er fest, dass es nicht genüge, die Reichsverfassung als unumgängliche Tatsache hinzunehmen: „Sie ist nicht ein toter Buchstabe, mit lebendigem Geiste muss sie erfüllt werden.“ Er verwies auf die sozialpolitischen Verheißungen im Grundrechtskatalog, die ein „Programm der Zukunft“ beinhalteten, das es zu verwirklichen gelte: „Die Verfassung will jedem Bildung und Schule garantieren, Geistes- und Religionsfreiheit will die Tüchtigen an die Spitze bringen, [sic!] sie will das Wirtschaftsleben nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle ordnen. Sie will Verteilung und Nutzung des Bodens […] zum Vorteil 47 So die Formulierung in Dietrichs vielzitierter Reichstagsrede vom 18.7.1930, in der er die ersten beiden Notverordnungen der Regierung Brüning verteidigte: Verhandlungen des Reichstags Bd. 428, S. 6516f. 48 Hermann Dietrich: Der Präsident, Seebote Nr. 70 vom 22.3.1924. 49 Hermann Dietrich: Gedanken zum Tode des Reichspräsidenten, Seebote Nr. 56 vom 10.3.1925.
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der Gesamtheit überwachen und jedem Deutschen eine gesunde Wohnung garantieren.“ Als besondere nationale Aufgabe, so fügte Dietrich hinzu, obliege der Republik die Revision der Grenzziehungen des Versailler Vertrags, die „Vereinigung aller mit uns im geschlossenen geographischen Zusammenhang wohnenden Deutschen unter deutscher Flagge“. Nehme man diese Ziele zusammen, „so haben wir für ein Jahrhundert die Aufgaben, die es zu lösen gilt“.50 Der Wandel seiner Auffassungen lässt sich zum Beispiel anhand seiner Meinung zur Beamtenpolitik nachvollziehen, die sich ins Gegenteil verkehrte. Bei einem alten Bekannten, der in den preußischen Staatsdienst eintreten wollte und ihn um Unterstützung bat, erkundigte er sich zunächst, „was Du für eine politische Stellung einnimmst“. Er sei gerne bereit, zu helfen: „Aber ich kann niemand für die jetzige Verwaltung empfehlen, der zwar einen Gehalt einstecken, dafür aber den gegenwärtigen Staat bekämpfen will. Solche Menschen, die in einer törichten historischen Kritik […] ihre Befriedigung finden, sind natürlich als Verwaltungsbeamte nicht zu brauchen.“51 Ebenso bekannte Dietrich sich zur „Erfüllungspolitik“. Aus „der Tatsache, dass wir machtlos sind“, schloss er nun, dass man sich dem Willen der Siegermächte im Zweifelsfall beugen und den Versailler Vertrag „ernsthaft und ohne Winkelzüge erfüllen“ müsse.52 Dabei gelangte er zu einer Neubewertung der Kriegsniederlage. Hatte er das Militär früher von der Verantwortung freigesprochen, konstatierte er Anfang 1925: „Wenn man heute weiß, dass […] die diplomatische Führung vor und während des Krieges mehr als kläglich war, so stellt sich auch mehr und mehr heraus, dass die militärische Führung nicht viel besser gewesen ist.“53 Dietrich identifizierte sich mit der republikanischen Ordnung und trat als ihr Repräsentant auf, und zwar auch im politischen Tagesgeschäft: Soweit er Missstände diagnostizierte, äußerte er Kritik zurückhaltend und beschränkte sie auf bestimmte Aspekte. Die Rundumschläge, in denen er vom jeweiligen Stein des Anstoßes ins Grundsätzliche abgeschweift war, verschwanden nun aus seinen Reden, Artikeln und Briefen. Dadurch wurde sein Bekenntnis zur Republik von den bisherigen Zweideutigkeiten befreit. Er verteidigte Regierung und Verwaltung, Parlament und Gesetzgebung nun auch dann, wenn es nicht opportun war – und der Unmut der Wählerschaft, der Parteibasis oder des privaten Umfelds wurde während der Phase der „relativen Stabilisierung“ 1924–1929 kaum geringer, blieb die Innenpolitik doch von heftigen Auseinandersetzungen geprägt, deren Konfliktlinien in vielen Fällen die Wählerklientel der DDP durchzogen. Nicht zuletzt befanden sich weite Teile der Mittelschichten in einer als prekär empfundenen sozioökonomischen Lage. Dietrich versuchte, Verständnis für Sachzwänge zu wecken, erläuterte volkswirtschaftliche und politische Zusammenhänge, warnte vor überzogenen Erwartungen und mahnte, bereits erzielte Erfolge zu würdigen. Dabei bediente er sich 50 Rede Dietrichs in Lahr am 11.8.1926, Badische Presse Nr. 368 vom 12.8.1926. 51 Dietrich an Heinrich Kalek, 16.7.1925, BAK N Dietrich 72, fol. 89; ähnlich Dietrich an Fritz Herpell, 17.2.1926, BAK N Dietrich 79, fol. 152. 52 Hermann Dietrich: Was wird werden? Seebote Nr. 119 vom 21.5.1924. 53 Hermann Dietrich: Fester Boden, Vossische Zeitung Nr. 1 vom 1.1.1925.
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einer moderaten, auf Begriffe wie „Sachlichkeit“, „Verantwortung“ und „Vernunft“ gestützten Sprache. Exemplarisch ist sein Verhalten in der Kontroverse um die Aufwertung, einem der großen politischen Reizthemen ab Ende 1923. Über die brisante Frage, in welchem Umfang die durch die Inflation entwerteten Hypotheken, festverzinslichen Wertpapiere und sonstigen Gläubigerforderungen aufgewertet werden sollten, wurde insbesondere in den Reichstagswahlkämpfen von 1924 erbittert gestritten. Die Rechte präsentierte sich als Sachwalter der Inflationsgeschädigten und propagierte Maximalforderungen. Diese waren undurchführbar, brachten aber die Regierungsparteien, darunter die DDP, in Bedrängnis, weil die bislang vorgesehenen Sätze niedrig oder nicht näher bestimmt waren.54 Dietrich versuchte damit zu punkten, dass er sich für die Aufwertung von Sparguthaben stark machte, die noch unsicher war. Im März 1924 veröffentlichte er zum Wahlkampfauftakt eine Broschüre, in der er forderte, den Sparern möglichst weit entgegenzukommen. Er blieb jedoch vorsichtig, wies auf die volkswirtschaftlichen Schwierigkeiten hin, mit denen die Materie verknüpft war, und betonte, es könne sich „nicht darum handeln, das volle Sparvermögen wieder herzustellen“. Man müsse die wirtschaftliche Entwicklung abwarten, die Belastbarkeit der mit den Sparkassen zusammenhängenden kommunalen Haushalte berücksichtigen und dürfe folglich „heute noch nichts Bestimmtes versprechen, denn das wäre verbrecherisch“. Erst nach „einer Reihe von Jahren“ könne man die Sparer mit „vielleicht 15 Prozent“ entschädigen.55 Solche moderaten Töne wirkten wenig beeindruckend. Als sogar in der DDP-nahen Presse der Vorwurf laut wurde, Dietrich bemühe sich nicht hinreichend um die Opfer der Inflation, wehrte er sich gegen die „uferlosen Versprechungen“ anderer Parteien wie der DNVP: „Ich habe den Willen, wirklich zu helfen, und wenn man diesen Willen hat, dann muss man den Mut haben, zu sagen, was ungefähr möglich ist“.56 Ebenso verfuhr er in seinem Schriftverkehr mit Verbänden, DDP-Vereinen und einzelnen Betroffenen – die Eingaben der Inflationsgeschädigten gingen ihm in Massen zu. Er warnte beständig vor übertriebenen Hoffnungen, argumentierte, dass die „fürchterlichen Zustände“ eine Kriegsfolge seien und die Franzosen ähnlich schwere Inflationsverluste erlitten hätten, „wobei doch nicht übersehen werden darf, dass wir den Krieg verloren und die Anderen ihn gewonnen haben“.57 Im Juli 1925 verabschiedete die Mitte-Rechts-Koalition des ersten Kabinetts Luther – mit den Stimmen der DNVP – schließlich zwei Aufwertungsgesetze, die weit hinter den Erwartungen der Inflationsgeschädigten zurückblieben und eine Welle der Empörung auslösten. Diese Stimmung machte Dietrich sich nur eingeschränkt zunutze, obwohl er eine etwas großzügigere Aufwertung befürwortete, und obwohl die DDP zu diesem Zeitpunkt Oppositionspartei war und gegen das Gesetz stimmte. Zwar 54 Vgl. Jones (1985): Shadow, S. 25–27; Childers (1982): Inflation, bes. S. 417–423. 55 Dietrich (1924): Sparguthaben, Zitate S. 6 u. 8–10; vgl. Hughes (1988): Paying, S. 75f. 56 Erwiderung Dietrichs auf eine Notiz in der Neuen Badischen Landeszeitung, 29.4.1924, BAK N Dietrich 217, pag. 231–233. 57 Dietrich an Leonie Huth, 16.12.1924, BAK N Dietrich 71, fol. 346; s. außerdem die Unterlagen in BAK N Dietrich 295 u. 296.
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ließ er es sich nicht nehmen, die „demagogische Politik“ der Deutschnationalen anzuprangern. Im Wesentlichen agierte er aber defensiv, indem er sich auf die Feststellung konzentrierte, die DDP habe von Anfang an auf die Grenzen des Möglichen hingewiesen und somit recht behalten.58 5. FAZIT Dietrichs Verhältnis zur Republik stellt sich, wie bei vielen Zeitgenossen, als Prozess dar. Dabei sind Schwankungen und Gegensätze festzustellen, die über Nuancen weit hinausgingen: An seinem Beispiel wird deutlich, wie problematisch es sein kann, verschiedene Typen von Republikanern zu unterscheiden – oder demokratisches und antidemokratisches Denken strikt zu trennen.59 Mit dem ohnehin unscharfen Begriff „vernunftrepublikanisch“, der auf der individuellen Ebene leicht zur „Leerformel“ verkommt, lässt sich Dietrichs politisches Denken und Handeln nur unzulänglich beschreiben.60 In den Weimarer Anfangsjahren trat er mal als aufrichtiger Republikaner in Erscheinung, der sich als Erzieher im Dienst einer fortschrittlichen demokratisch-parlamentarischen Verfassung verstand, mal als „Verlegenheitsrepublikaner“, dessen Bekenntnis zur Republik der „Logik des geringsten Übels“ folgte,61 und in manchen Fällen ähnelte sein Verhalten dem der radikalen Rechten. Die Erfahrungen des Jahres 1923 mit seinen wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Erschütterungen markierten einen Wendepunkt; Mitte der zwanziger Jahre war Dietrich zu einem überzeugten Republikaner geworden – nicht aus einem durch den Mangel an Alternativen bedingten Pragmatismus heraus, sondern aufgrund der Erfolge der parlamentarischen Demokratie, zu denen er mit seiner Arbeit im Reichstag beizutragen glaubte, und ihrer vielversprechenden Zukunftsperspektiven. Doch sein Demokratieverständnis erweist sich als simplifizierende Annäherung an ein modernes demokratisches Denken, die mit vormodernen Deutungen von Staat, Gesellschaft und Politik befrachtet blieb. QUELLEN 1. Archivalien Bundesarchiv Koblenz (BAK): Nachlass Hermann Dietrich (N 1004) Generallandesarchiv Karlsruhe (GLAK): Bestand 233 (Badisches Staatsministerium)
58 Rede Dietrichs am 8.5.1925, Verhandlungen des Reichstags Bd. 385, S. 1623–1630, Zitat S. 1626; dies entsprach im Allgemeinen der Linie seiner Partei: Schneider (1978): Deutsche Demokratische Partei, S. 176–178. 59 Vgl. Gusy (2000): Fragen, S. 646. 60 Vgl. die pointierte Kritik bei Gusy (2008): Vernunftrepublikanismus, S. 196–200, Zitat S. 200. 61 Ebd., S. 199.
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2. Gedruckte Quellen Badische Landeszeitung Badische Presse Deutsche Allgemeine Zeitung Dietrich, Hermann: Was wird aus den Sparguthaben? Karlsruhe 1924. Furtwängler, Martin (Bearb.): Die Protokolle der Regierung der Republik Baden. Erster Band: Die provisorische Regierung. November 1918 – März 1919. Stuttgart 2012. Königsberger Hartungsche Zeitung Konstanzer Zeitung Seebote Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte. Berlin 1920–1932. Vossische Zeitung
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EINE ZU DEMOKRATISCHE PERSÖNLICHKEIT? Karl Spiecker und der Zentrumsparteitag von 1925 Claudius Kiene Als die Deutsche Zentrumspartei im November 1925 anlässlich ihres vierten Reichsparteitages in Kassel zusammenkam, erwarteten aufmerksame Beobachter eine lebhafte Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Flügeln und Gruppierungen der konfessionellen Mittelpartei.1 Bereits in den vorhergegangenen Monaten hatten manche Funktionäre und Führungspersönlichkeiten der Partei ihrem Unmut über vermeintliche Fehlentwicklungen Luft gemacht. Zu dem wohl drastischsten Mittel hatte Joseph Wirth gegriffen, der ehemalige Reichskanzler und „führende Repräsentant des Zentrumsrepublikanismus“,2 der im August 1925 aus Protest gegen die Koalition seiner Partei mit der DNVP aus der Reichstagsfraktion des Zentrums austrat. Unter den Rechtskatholiken, aber auch in Teilen der vernunftrepublikanisch orientierten Mitte, hatte demgegenüber der Reichspräsidentschaftswahlkampf des Frühjahres für Irritationen gesorgt, den das Zentrum in einem gemeinsamen „Volksblock“ mit SPD und DDP gegen einen „Reichsblock“ um den Kandidaten Paul von Hindenburg führte. Dass sich dabei auch die bayerische Schwesterpartei BVP für den „Helden von Tannenberg“ statt für den Parteivorsitzenden des Zentrums, Wilhelm Marx, ausgesprochen hatte, ließ die Zerrissenheit des politischen Katholizismus besonders deutlich zutage treten. Die geschichtswissenschaftliche Forschung hat den hieraus resultierenden, besonderen Charakter des Kasseler Reichsparteitages von 1925 mehrfach hervorgehoben. Der Historiker Heinrich Lutz bemerkte bereits in seiner 1963 erschienenen Studie Demokratie im Zwielicht, dass in Kassel im Zeichen der Wahlniederlage Marx „zum erstenmal die Stellung der Partei zur Republik mit offenem Visier erörtert“ worden sei.3 Demnach liefere der Parteitag ein „Beispiel für den tatsächlichen Stand der innerkatholischen Diskussion in den Kreisen der aktiven Politiker“.4 Auch Detlef Junker befand, dass die in Kassel verabschiedete „Entschließung Spiecker einen gewissen Abschluß unter die Verfassungsdiskussion setzte“, die in den Vorjahren und -monaten so lebhaft geführt worden war.5 Dabei habe der Parteitag insbesondere „im Zeichen des Angriffs von links gegen ein nur formales 1 2 3 4 5
Siehe zum Selbstverständnis als konfessioneller Mittelpartei: Ruppert (1986): Zentrumspartei in der Mitverantwortung. So die Charakterisierung Wirths bei: Ruppert (2012): Interaktionen, S. 240. Lutz (1963): Demokratie im Zwielicht, S. 104f. Ebd., S. 104. Junker (1969): Zentrumspartei und Hitler, S. 143.
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Bekenntnis zur Republik“ gestanden.6 Für Elke Seefried wiederum werden anhand dieser Episode „differente und ambivalente Haltungen gegenüber der Weimarer Republik innerhalb der Zentrumspartei [evident].“7 Damit wird dem Kasseler Reichsparteitag zu Recht der Charakter eines Brennglases zugeschrieben, das Aufschluss über die Stellung der Deutschen Zentrumspartei zur Weimarer Republik gewährt. Angesichts dessen muss überraschen, dass mit Karl Spiecker (1888–1953) der Namensgeber der Kasseler Resolution, in der sich das Zentrum zu „eine[r] klare[n], entschlossene[n], positive[n] Einstellung zur Staatsform“ bekannte, eine deutliche Randstellung in der jüngeren Literatur zur Weimarer Zentrumspartei einnimmt.8 Während Heinrich Lutz mit Blick auf den linken Zentrumsflügel von der „Gruppe Wirth-Spiecker“ sprach und Spiecker als „Sprecher der entschiedenen Republikaner“ auswies und Detlef Junker den gelernten Journalisten immerhin noch als gleichrangigen Wortführer neben Wirth identifizierte, verengt sich die Perspektive der jüngeren Forschung auf den prominenteren Altreichskanzler.9 Einzig in Karsten Rupperts Studie zum Zentrum als regierender Partei in der Weimarer Republik wird Spieckers Rolle im innerparteilichen Diskurs vereinzelt mit in den Blick genommen.10 Wer war dieser weitgehend vergessene Mann, der nach Wirth als der wohl wortgewaltigste Exponent des linken Zentrumsflügels gelten muss? 1. DER AUFSTIEG EINES VORZEIGEDEMOKRATEN Karl Spiecker wurde 1888 im heutigen Mönchengladbach11 geboren. Ein Studium der Philosophie und erste Gehversuche im Lokaljournalismus der preußischen Rheinprovinz brachten ihn 1912 in die Position des Chefredakteurs der CentrumsParlaments-Correspondenz, womit er erstmals eine Tätigkeit im direkten Umfeld der Zentrumspartei übernahm.12 Eine Anstellung in der Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes seit 1917 sowie seine Versiertheit mit dem geschriebenen Wort verschafften ihm 1919 schließlich die Stellung des deutschen Nachrichten- und Propagandachefs im zwischen Deutschland und Polen umkämpften Oberschlesien, die er offiziell als Stellvertreter des preußischen Staatskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung ausübte. „Seine Aufträge empfing er“, so verrät es aber eine später entstandene Aufzeichnung aus der Reichskanzlei, „in erster Linie
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Ebd., S. 150. Seefried (2008): Verfassungspragmatismus und Gemeinschaftsideologie, S. 58. Offizieller Bericht des Vierten Reichsparteitages, S. 114. Lutz (1963): Demokratie im Zwielicht, S. 105f.; Junker (1969): Zentrumspartei und Hitler, S. 150. 10 Ruppert (1992): Im Dienst am Staat. 11 Damalige Schreibweise: München-Gladbach. 12 Siehe zur politischen Biographie Karl Spieckers ausführlich: Kiene (2020): Karl Spiecker.
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von der Reichsregierung (Reichskanzlei, Auswärtiges Amt), der Herr Spiecker dieserhalb vom Preußischen Staatskommissar zur Verfügung gestellt war.“13 Wichtige Ämter in der Reichsregierung übte seinerzeit Spieckers lebenslanger persönlicher und politischer Freund und Mentor Joseph Wirth aus, der als Finanzminister und schließlich als Kanzler in die Vorgänge des Abstimmungskampfes involviert war. Auf „Weisung des Reichskanzlers gegen geltendes Haushaltsrecht“ nutzte Wirth die Dienststelle Spieckers in der Breslauer Tauentzienstraße, um Gelder für Propagandaaktivitäten sowie den oberschlesischen „Selbstschutz“ unter jenen Akteuren zu verteilen, die sich für einen Verbleib der Industrieregion beim Deutschen Reich einsetzten.14 Für Spionage und paramilitärische Verbände verausgabte Spieckers Breslauer Dienststelle vom Februar 1920 bis zum September 1921 etwa 138 Millionen Mark.15 Spiecker avancierte in der Folge zum „große[n] Gewährsmann Wirths in Oberschlesien“ (Heinrich Küppers).16 Neben Wirth war es Matthias Erzberger, der dem Rheinländer Spiecker in den Anfangsjahren der Weimarer Republik politische Orientierung bot. Dessen Bemühen um eine inhaltliche Neuausrichtung der konservativ-aristokratisch dominierten Parteizeitung Germania trug dazu bei, dass der gelernte Journalist 1922 das Amt des dortigen Verlagsdirektors übernehmen konnte. Als solcher wirkte Spiecker nach eigenem Bekunden für eine „unbeirrbare christlich-demokratische Zentrumspolitik der mittleren Linie“.17 Aufgrund eines respektablen Aktienanteils am Verlag, den er von der Witwe Erzbergers hatte erwerben können, sowie besten Verbindungen in die Redaktion blieb Spiecker auch nach dem Ende seiner hauptamtlichen Tätigkeit im Umfeld des Verlages aktiv. Er betätigte sich zum einen als Kommentator des politischen Tagesgeschehens, zum anderen versuchte er, weiterhin Einfluss auf die politische Ausrichtung der Zeitung auszuüben. In dem langwierigen, von öffentlichem Interesse begleiteten „Kampf um die Germania“, der in erster Linie ein politischer Konflikt zwischen linkem und rechtem Parteiflügel war und auch als ein solcher verstanden wurde, blieb Spiecker als Akteur bis in die zweite Hälfte der zwanziger Jahre verwickelt und wurde so nach dem Urteil Jürgen A. Bachs „im Laufe der Jahre zum eigentlichen Gegenspieler Papens“.18 Spieckers dritter und wichtigster Förderer war aber Wilhelm Marx, der langjährige Parteivorsitzende und Reichskanzler, der seinen Protegé Ende 1923 zum Chef der Vereinigten Presseabteilung der Reichsregierung und des Auswärtigen Amtes im Rang eines Ministerialdirektors ernannte. Als Reichspressechef unter 13 Aufzeichnung zur Strafanzeige gegen den verantwortlichen Redakteur der Zeitschrift „Das Gewissen“. BArch Berlin, R 43-I/3406, Bl. 37. 14 Küppers (1997): Joseph Wirth, S. 147. 15 Witt (1973): Finanzierung des Abstimmungskampfes, S. 69. 16 Küppers (1997): Joseph Wirth, S. 147. 17 Spiecker (1924): Zuschrift; siehe zum Hintergrund: Evans (1981): German Center Party, S. 258. 18 Bach (1977): Franz von Papen, S. 221, Anm. 2. Der damalige preußische Landtagsabgeordnete Franz von Papen war ab 1924 der größte Anteilseigner des Verlages und wurde 1925 schließlich zu dessen Aufsichtsratsvorsitzendem gewählt.
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Marx wurde Karl Spiecker von Freunden wie Feinden ein großer Einfluss auf die Politik der Reichsregierung zugeschrieben. So kursierte unter anderem das „Bonmot“, Marx lese „erst morgens in der Zeitung, was er am Tage vorher geredet und getan hat.“19 Antonina Vallentin, eine Publizistin und „gute Bekannte der Spieckers“,20 gab zudem die Äußerung eines namentlich nicht bekannten Staatssekretärs wieder, dem zufolge Spiecker „besser unter dem Namen Wilhelm Marx bekannt“ sei.21 Die Rede vom „Kabinett Spiecker, auch Marx genannt“, wurde noch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vereinzelt aufgegriffen.22 Zu einem für die Zeitgenossen wohl überaus eingängigem Vergleich griff ferner die Weltbühne, die gar meinte: „Wie Hindenburg ohne seinen Generalstabschef Ludendorff, so wäre Marx ohne seinen Pressechef Spiecker niemals bekannt oder doch niemals vorteilhaft bekannt geworden.“23 Diese überraschend hochgegriffenen Einschätzungen zu Spieckers Einfluss auf die Regierungspolitik bedürfen einer kritischen Einordnung. Sie sind schließlich aufs Engste mit der Bewertung des Reichskanzlers Marx selbst verknüpft, der sicherlich nicht „zu den überragenden Führergestalten des deutschen Katholizismus“ zählte, aber zugleich ein außergewöhnlich hohes Maß an Integrität besaß.24 Mit dem Narrativ vom „heimlichen Reichskanzler“ ließen sich sowohl die Sympathien der Linken und Liberalen für Spiecker ausdrücken als auch die Kritiken derjenigen, die Marx aus der Verantwortung nehmen wollten oder glaubten, ihn aufgrund seiner Integrität nicht angreifen zu können. Auszuschließen ist ein großer Einfluss Spieckers im Umkehrschluss deshalb aber noch nicht. Schließlich war Marx tatsächlich keine durchsetzungsstarke Führungspersönlichkeit und Spiecker ein umtriebigerer und politisch versierterer Reichspressechef als sämtliche seiner Vorgänger und Nachfolger. Seine Amtszeit endete mit der Übernahme des Kanzleramtes durch Hans Luther im Januar 1925. Eine Fortführung der Tätigkeit durch den bekennenden und bekannten Zentrumsrepublikaner dürfte wohl unabhängig vom politischen Schicksal seines Förderers Marx nicht zuletzt aufgrund der erstmaligen Regierungsbeteiligung der DNVP ausgeschlossen gewesen sein. Tatsächlich konnten wohl nur wenige Mitglieder der Weimarer Zentrumspartei ein derart großes Engagement für den Fortbestand und die Weiterentwicklung der Weimarer Demokratie vorweisen wie Karl Spiecker. Laut Karl Rohe war er „der erste prominente Zentrumsmann, der seinen Namen dem Reichsbanner zur Verfügung stellte.“25 Seit 1928 gehörte er dem Vorstand der Republikschutzorganisation
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Reibnitz [Anonym] (1929): Gestalten rings um Hindenburg, S. 32. Hüwel (1982): Karl Spiecker, S. 160. Vallentin (1930): Stresemann, S. 152. Heimatlos. In: Allgemeine Zeitung, 12. Februar 1949, zit. nach Pressearchiv der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sammlung Karl Spiecker. 23 Antworten. In: Die Weltbühne Nr. 26, 29. Juni 1926, S. 1030. 24 Hehl (1987): Wilhelm Marx, S. 489–493; Zitat S. 490. 25 Rohe (1966): Das Reichsbanner, S. 70; siehe zum Reichsbanner jüngst: Elsbach (2019).
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an, deren überparteilichen Charakter er schon frühzeitig hervorgehoben hatte.26 Da das Verhältnis zwischen Zentrum und Reichsbanner distanziert blieb,27 übernahm Spiecker eine wichtige Brückenbauer-Funktion zwischen dem katholischen und dem sozialistischen Lager, an die er nach 1933 im Exil sowie in der westdeutschen Nachkriegspolitik anknüpfen konnte. Noch vor Eintritt in den Vorstand des Reichsbanners hatte Spiecker bereits 1927 die Vereinigung Republikanische Presse mitbegründet, der „sofort über 150 Mitglieder bei[traten]“ und zu deren Vorsitzendem er gewählt wurde.28 Die Führung der Berliner Ortsgruppe übernahm er gemeinsam mit Theodor Wolff, dem Herausgeber des Berliner Tageblatts. Einen ähnlichen Charakter hatte sein Engagement beim Republikanischen Reichsbund, dessen Vorstand er von 1926 bis 1932 mit dem Reichstagspräsidenten Paul Löbe und dem Nürnberger Oberbürgermeister Hermann Luppe bildete.29 Vor diesem Hintergrund erscheint es nur folgerichtig, dass er ebenso dem Leitungsgremium des im März 1931 gegründeten „Kartells aller Republikanischen Verbände Deutschlands“ angehörte. Höhepunkt seines Wirkens für den Erhalt der Demokratie war allerdings die Stelle eines Sonderbeauftragten zur Bekämpfung des Nationalsozialismus, die er 1930/31 unter der Aufsicht seines Mentors Wirth im Reichsministerium des Innern ausübte. Dass Spiecker den Schwerpunkt seiner politischen Tätigkeit ab Mitte der zwanziger Jahre zunehmend auf die skizzierte Mitarbeit in den republikanischen Verbänden verlagerte, war auch dem Ende seiner so vielversprechend begonnenen Karriere in der Zentrumspartei geschuldet. Die Gründe dieser Entwicklung offenbaren sich vor allem mit Blick auf das Jahr 1925, das mit den polarisierenden Ereignissen der Bildung des Kabinetts Luther I unter Beteiligung von Zentrum und DNVP, der Reichspräsidentenwahl und dem Parteitag in Kassel nicht nur Aufschluss über die Partei als Ganzes, sondern auch über die politische Biographie Karl Spieckers gewährt. 2. AM SCHEITELPUNKT: DAS JAHR 1925 Wie eingangs gezeigt, brachte das Jahr 1925 eine Zuspitzung der innerparteilichen Konflikte mit sich, die sich insbesondere an der changierenden Koalitionspolitik des Vorsitzenden Marx entzündeten. Konkret rangen der rechte Parteiflügel um den Gewerkschaftsführer und ehemaligen preußischen Ministerpräsidenten Adam Stegerwald und der linke Flügel um Wirth um die Wahl zwischen den möglichen Koalitionspartnern DNVP und SPD. Relevanz kam dieser grundsätzlichen Frage nicht zuletzt anlässlich der Wahl eines Nachfolgers für den verstorbenen Reichspräsiden 26 Rohe (1966): Das Reichsbanner, S. 298, Anm. 2; Spiecker (1925): Reichskonferenz des Reichsbanners. 27 Knapp (1969): Center Party and Reichsbanner, S. 178. 28 Vereinigung „Republikanische Presse“. Gestrige Gründungsversammlung im Reichstag. In: Berliner Tageblatt Nr. 305, 30. Juni 1927, S. 1. 29 Fritsch (1986): Republikanischer Reichsbund.
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ten Friedrich Ebert zu. Für das Zentrum als Mittelpartei verband sich hiermit konkret die Frage, wo man sich im Falle eines Lagerwahlkampfes positionieren sollte und ob sich hierüber Einvernehmen mit der Schwesterpartei BVP erzielen ließe. In seiner Rolle als Marx’ Vertrauter reiste Spiecker daher nach Rom, um dort Gespräche mit den kirchlichen Autoritäten im Vatikan zu führen. Die New York Times nahm an, dass der Zeitpunkt („when Ebert´s condition became hopeless”) darauf hindeute, „that he sought advice on the German situation from the pope.”30 Besonderes Gewicht maß die Zeitung der Frage bei, inwieweit „the former press chief’s Rome mission probably will determine the attitude of the Catholic Bavarian People’s Party toward the Presidential question”. Die New York Times deutete die Intention des Zentrumsvorsitzenden Marx richtig. Im April suchte Marx mitten zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl gar selbst um eine Audienz beim Papst nach, um seine Koalitionspolitik zu verteidigen.31 Dass zunächst sein Vertrauter Spiecker als Bote fungiert hatte, war wohl dessen persönlicher Bekanntschaft mit Pius XI. geschuldet, den er seinerzeit als Nuntius Achille Ratti bei der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitskommission für Oberschlesien kennengelernt hatte. Nicht nur im Vorfeld, auch im Wahlkampf selbst spielte Spiecker eine tragende Rolle. Nachdem im ersten Wahlgang am 29. März erwartungsgemäß keiner der Kandidaten die erforderliche Mehrheit auf sich hatte vereinen können, spitzten sich die Ereignisse auf den zweiten und entscheidenden Wahlgang am 26. April zu. Der Parteivorsitzende Marx trat nun als gemeinsamer Kandidat des „Volksblocks“ aus Zentrum, SPD und DDP an. Den Parteien der Weimarer Koalition stand Hindenburg als Kandidat des „Reichsblocks“ gegenüber, dem trotz der Vermittlungsbemühungen des Vatikans auch die BVP angehörte. Zur Koordinierung der Wahlkampfaktivitäten wurde auf Seiten des Volksblocks ein zentraler Ausschuss gebildet, dessen Leitung Spiecker übernahm. Der medienaffine und -erfahrene Journalist griff im Rahmen der Wahlkampagne auch auf die neuen Medien Rundfunk und Film zurück und erwies sich nach Marx’ Ansicht insgesamt „als gewandter und erfindungsreicher Agitator“.32 Werner Stephan, der als Vertreter der DDP dem Ausschuss angehört hatte, fand später ebenfalls lobende Worte für die Arbeit Spieckers, „der, verbindlich und energisch zugleich, den Vorsitz führte.“33 Nachdem Marx bei der Wahl schließlich dem Weltkriegsgeneral unterlegen war, musste der Parteivorsitzende sich scharfe Kritik aus den Reihen von Reichstagsfraktion, Partei und parteinaher Öffentlichkeit gefallen lassen. Als Vertreter der vernunftrepublikanischen Mitte der Partei hatte Marx nur einen brüchigen Schulterschluss zwischen linkem und rechtem Flügel herbeiführen können, der nun mit verstärkter Intensität wieder aufbrach. Die Kritik des rechten Parteiflügels richtete sich insbesondere gegen die Personalie Spiecker, der „bekanntermaßen“ Marx’ 30 Marx’s Aid visits Pope. Spiecker believed to have consulted Vatican on German Situation. In: The New York Times Nr. 24,514, 7. März 1925, S. 8. 31 Ruppert (2012): Interaktionen, S. 241. 32 Zit. nach Hehl (1987): Wilhelm Marx, S. 343. 33 Stephan (1983): Acht Jahrzehnte, S. 130.
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„starker Schildknappe“ sei.34 So machte Wilhelm Fonk, Generalsekretär der Handels- und Industriebeiräte der Zentrumspartei, im Vorfeld des Wahltags auf den Unmut über das „Zusammengehen mit links“ aufmerksam und riet Marx entschieden davon ab, Spiecker im Falle eines Wahlsieges zum Staatssekretär in der Präsidialkanzlei zu ernennen.35 Noch Mitte Juli kam es im Fraktionsvorstand zu „riesiger Mißstimmung“ gegen den Wahlkampforganisator, dessen Kritik an der vermeintlichen Rechtsorientierung des Zentrums Marx abzuschwächen versuchte.36 Die Kölnische Zeitung äußerte mit einer gewissen Genugtuung, dass „auch andere, die damals mit dem Strom schwammen“, sich mittlerweile von der „Linksrichtung Wirth-Spieker [sic]“ abgewandt hätten, in die Marx sich im Zuge der Reichspräsidentenwahl habe drängen lassen.37 Spiecker zeigte sich angesichts der erlittenen Wahlniederlage sowie der internen und öffentlichen Kritik unbeeindruckt und trat weiterhin mit Verve für seine „Linksrichtung“ ein. Bereits drei Wochen nach dem zweiten Wahlgang hatte er in der Germania zur Koalitionspolitik Position bezogen und definierte seine Rolle dabei als die eines „Nichts-als-Zentrumswählers“, was mit Blick auf ein fehlendes Mandat oder Funktionärsamt ja durchaus der Realität entsprach.38 Das ungeklärte Verhältnis zur Sozialdemokratie bezeichnete Spiecker hierbei als eine „Kernfrage der deutschen Innenpolitik“.39 Zugunsten der SPD als Bündnispartner führte er unter anderem deren Rolle in der Novemberrevolution an, wo diese eine „Heldentat“ begangen habe, indem sie Deutschland vor dem „bolschewistischen Unheil“ bewahrte. „In Deutschlands schwersten Jahren“, so Spiecker weiter, „ist die Zentrumspartei mit der Sozialdemokratie den steinigen Weg der Rettung vor dem Untergang gegangen, und wenn das Zentrum mit Recht von sich sagen darf, daß es in diesen Jahren das Vaterland stets über die Partei gestellt hat, so erfordert Recht und Billigkeit die gleiche Feststellung für das Tun und Lassen der Sozialdemokratie.“40 Damit knüpfte Spiecker an den wirksamen „Topos des Opfers“ (Rudolf Morsey) an.41 Der Appell an „Opfergedanke“ und „Verantwortungsbewußtsein“ war im Zentrum bis 1930 ein probates Mittel, um Mehrheiten für unliebsame Aufgaben zu sammeln und spielte eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis der Partei. Im Fall des Umgangs mit der SPD lag die Aufgabe des Zentrums nach Spieckers Auffassung darin, die Sozialdemokratie nicht wieder in die „Opposition und Negation, in den Klassenkampf und
34 Hermann Pünder, Über die gegenwärtigen Verhältnisse im Zentrum, 9. September 1925. BArch Berlin R 43 I/2657, Bl. 133f.; Zitat Bl. 134. 35 Hehl (1987): Wilhelm Marx, S. 352. Werner Stephan deutet an, dass Spiecker sich dieses Amt („die erhoffte große politische Stellung“) gewünscht hatte: Stephan (1983), Acht Jahrzehnte, S. 135. 36 Tagebuch Marx, 13./14. Juli 1925, zit. nach Hehl (1987): Wilhelm Marx, S. 357. 37 Vom Wesen des Zentrums. In: Kölnische Zeitung Nr. 603, 16. August 1925, S. 1. 38 Spiecker (1925): Wir und die Sozialdemokraten, S. 1. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 2. 41 Morsey (1966): Die Deutsche Zentrumspartei, S. 611f.
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Klassenhaß zurückdrängen zu lassen“,42 sondern sie in die politische Verantwortung einzubinden. Dem gegenüber kritisierte er die gegenwärtige Zusammenarbeit mit der DNVP mit Nachdruck. Seine Vorbehalte seien „sowohl grundsätzlicher wie politischer und taktischer Natur.“43 Als politisches und taktisches Problem nannte er insbesondere die Ablehnung der von seinem Mentor Wirth initiierten „Erfüllungspolitik“ von Seiten der Deutschnationalen.44 Als die DNVP-Minister Ende Oktober das Kabinett tatsächlich aus Protest gegen die Locarno-Politik Stresemanns verließen, konnte sich Spiecker nicht zu Unrecht in seiner Haltung bestätigt sehen. Er bewertete die Demission der deutschnationalen Kabinettsmitglieder als „Nachweis ihrer Regierungsunfähigkeit“ und verwies auf den Parteivorsitzenden Marx als Kronzeugen der Einsicht, dass zu dessen Amtszeit eine Einbindung der DNVP in die Regierungskoalition „den von ihm und seinem Kabinett als richtig erkannten und entschlossen beschrittenen außenpolitischen Weg“ gefährdet hätte.45 Unter diesen Vorzeichen kamen die Delegierten schließlich am 16. und 17. November 1925 zum vierten Reichsparteitag des Zentrums in Kassel zusammen. 3. DER PYRRHUSSIEG VON KASSEL Am Kasseler Reichsparteitag nahm Karl Spiecker als Delegierter der Bezirke Berlin, Potsdam II und Niederbarnim teil. Der ausführliche Wortbeitrag, mit dem er sich an der politischen Aussprache beteiligte, zielte erwartungsgemäß in eine ähnliche Richtung wie seine vorherigen Kommentare in der Germania. Er unterstrich abermals seine These, dass die Deutschnationalen keine verlässlichen Partner in der Außenpolitik sein könnten. Die „tiefste Sorge“ unter den Anhängern der Partei sah er ganz allgemein darin, „ob wir in der Zentrumspartei noch am Werke seien, das neue Deutschland aufzubauen, oder ob wir nicht doch vielleicht jenen Kräften die Hände reichten, die [...] in unsere Deutsche Republik das alte Deutschland wieder hineinschmuggeln wollen.“46 Vor allem aber stellte Spiecker im Zuge seiner Ausführungen weite Teile der Parteiführung und Reichstagsfraktion bloß, indem er öffentlich auf deren fehlende oder unzureichende Unterstützung für Marx und den hinter ihm versammelten „Volksblock“ hinwies. Der Vorwurf erregte zum Teil „außerordentlich großes Aufsehen“ und wurde in der Presse ausführlich erörtert.47 Das Berliner Tageblatt stellte fest, dass es die leitenden Kreise als „besonders peinlich“ empfunden haben müssten, „daß Spiecker vor aller Oeffentlichkeit und ungeschminkt in Form einer Frage 42 43 44 45 46
Spiecker (1925): Wir und die Sozialdemokraten, S. 2. Spiecker (1925): Warum nicht die Deutschnationalen, S. 1. Ebd., S. 1f. Spiecker (1925): Das Ende, S. 2 u. S. 1. Offizieller Bericht des Vierten Reichsparteitages, S. 43. Der Wortbeitrag Spieckers erstreckt sich über die Seiten 43 bis 48. 47 Der Zentrumsparteitag in Kassel. In: Berliner Tageblatt Nr. 544, 17. November 1925, S. 4.
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stellung festgestellt hatte, daß der Parteivorstand seinerzeit mit Zweidrittelmehrheit sich ursprünglich gegen die Kandidatur Marx ausgesprochen hatte, und ferner besonders, daß sich so wenige Abgeordnete der Reichstagsfraktion des Zentrums am Wahlkampf für Marx beteiligt hatten.“48 In der zeitgenössischen Nachbetrachtung gerieten gegenüber diesem Eklat die Inhalte ein wenig ins Hintertreffen. Dabei hatte Spiecker in Kassel gerade auf inhaltlicher Ebene den größten Erfolg seiner Parteilaufbahn erzielen können. Im Namen seines Verbandes brachte er eine Resolution ein, welche die Stellung des Zentrums zur Verfassung und zur Republik klären sollte, und die in leicht abgewandelter Form als sogenannte Entschließung Spiecker Eingang in die Geschichte der Partei fand: Die Zentrumspartei ist ihrem Wesen nach eine Verfassungspartei. [...] Zur Erfüllung dieser Aufgabe ist eine klare, entschlossene, positive Einstellung zur Staatsform um so mehr geboten, je abhängiger die Staatsform vom Willen des Volkes ist. Darum bekennt sich die Zentrumspartei zur deutschen Republik, die in der Weimarer Verfassung festgelegt ist und deren Schutz und Durchdringung mit christlichem Geiste sie als ihre Aufgabe und Pflicht betrachtet.49
Angesichts dieses Erfolges, wohl aber auch in dem Bewusstsein, dass er die Mitglieder der Führungsgremien seiner eigenen Partei öffentlichkeitswirksam bloßgestellt hatte, schlug Spiecker in der Germania überaus versöhnliche Töne an, indem er erklärte, „daß unsere Zentrumspartei lebendiger, mutiger, innerlich stärker ist denn je, und daß all das, worum der Streit uns geht, doch nur leicht an der Oberfläche haftet und zum größten Teil in den Bezirken des Taktischen und Persönlichen beheimatet ist.“50 Zudem äußerte er wie schon auf dem Parteitag seine Solidarität mit Wirth, dessen Austritt aus der Reichstagsfraktion in weiten Teilen der Partei auf großen Unmut gestoßen war: „Wir stehen nicht zu jedem Worte, daß der mächtige Streiter Wirth im Kampfe gesprochen haben mag, aber das heilige Feuer, das in diesem leidenschaftlichen Kämpfer brennt, ist unser aller Besitz und darum ist und bleibt Wirth unser Freund und Führer.“ Die Illustrierte Reichsbanner-Zeitung druckte als Reaktion prompt ein Bild Spieckers ab und rühmte dessen gemeinsam mit Wirth geführten „erfolgreichen Kampf für eine entschlossene republikanische Politik.“51 So erfreulich sich die Lage aus Spieckers Sicht Ende des Jahres 1925 öffentlich gestaltete, seine auf dem Reichsparteitag eingebrachte Entschließung sollte ein politischer und persönlicher Pyrrhussieg bleiben. Seiner Partei blieb auch nach Kassel die staatliche Ordnung wichtiger als das politische System, sodass sich Spieckers in den folgenden Monaten und Jahren immer wieder öffentlich geäußerte Hoffnung auf die Große Koalition mit der SPD erst 1928 erfüllte.52 Bemerkenswerter ist jedoch der Abstieg, den Spiecker infolge seines offenen Angriffs auf Parteispitze und 48 49 50 51 52
Der Erfolg Dr. Wirths. In: Berliner Tageblatt Nr. 546, 18. November 1925, S. 3. Offizieller Bericht des Vierten Reichsparteitages, S. 114. Spiecker (1925): Parteitagswerk, S. 1. Illustrierte Reichsbanner-Zeitung Nr. 48, 28. November 1925, S. 757. Ruppert (2008): Zentrumspartei und Weimarer Demokratie, S. 34.
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Fraktion hinzunehmen hatte. Ihm gelang es nicht mehr, wie Jürgen A. Bach zutreffend anmerkt, „in die erste Garnitur der Zentrumspartei aufzurücken.“53 Diesen Abstieg, der sich bereits bald nach dem Kasseler Reichsparteitag andeutete, gilt es im Folgenden in den Blick zu nehmen. 4. DER ABSTIEG EINES VORZEIGEDEMOKRATEN Zwei Vorgänge nahmen in und vor dem Reichsparteitag in Kassel ihren Ausgang, die Spieckers zunehmende Isolierung innerhalb des Zentrums illustrieren. Zum einen wurde auf dem Parteitag eine Arbeitsgemeinschaft der Zentrumsdiaspora ins Leben gerufen, in der Spiecker und der republikanisch dominierte Berliner Verband eine wichtige Rolle spielten. Im Februar 1926 trat die Arbeitsgemeinschaft erstmalig zusammen und wählte den ehemaligen Reichspressechef einstimmig zu ihrem Vorsitzenden. Im Zusammenhang mit seiner Wahl erfuhr Spiecker weiteren Gegenwind, als sich der Reichstagsabgeordnete Clemens Lammers der Mitarbeit in der Zentrumsdiaspora verweigerte. Gegenüber Marx verwies dieser auf die „Unzweckmäßigkeit der Wahl einer Person, die in der Partei hier und da umstritten erscheint.“54 Spiecker selbst bekannte gegenüber Lammers, dass er „im Rufe einer scharf gezeichneten und nicht allseitig gebilligten polit[ischen] Einstellung“ stehe und bat ihn dennoch um seine Mitarbeit.55 Lammers rief gegenüber Marx in Erinnerung, dass nach dessen Befürwortung der Wahl Spieckers „eine weitere Diskussion nicht angängig gewesen sei“ und er daher hoffe, dass genau wie in der damaligen Versammlung die Aussprache jetzt beendet sei: „Dies wäre mir um so lieber, als mir auf polit[ischem] Gebiete das takt[ische] Geschick fehlt, persönl[ichen] Dingen einen so grundsätzl[ichen] Anstrich zu geben, wie es Herr Dr. Spiecker bezüglich der ihm zuteil werdenden Kritik versucht.“56 Nicht nur bei seiner Wahl zum Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft konnte Spiecker auf die weitere Unterstützung seines Fürsprechers Marx zählen. Zum anderen unternahm dieser im November 1925 einen Versuch, seinem Schützling zu einem beruflichen Fortkommen zu verhelfen. Der Vertrag von Locarno hatte Deutschland verpflichtet, dem Völkerbund beizutreten. Das unter den Zentrumsanhängern weit verbreitete Gefühl, im besonders geachteten Auswärtigen Dienst unterrepräsentiert zu sein, traf sich mit der Aussicht auf zu vergebende Stellen in Genf.57 Marx übermittelte daher, allerdings ohne Rücksprache mit seiner Partei, einem Vertrauten in Genf eine Liste der Personen, „von denen ich den dringenden und lebhaften Wunsch hege, daß sie in den Dienst des Völkerbundes übernommen werden möchten.“58 Spiecker nannte er in dem Schreiben einen „hervorragend 53 54 55 56 57 58
Bach (1977): Franz von Papen, S. 221, Anm. 2. Lammers an Marx, 16. Februar 1926. In: Nachlaß Marx, Teil III, S. 407f.; Zitat S. 408. Spiecker an Lammers, 17. Februar 1926. In: Ebd., S. 408. Lammers an Marx, 1. März 1926. In: Ebd., S. 409. Hierzu ausführlich: Ruppert (1992): Im Dienst am Staat, S. 205–207. Marx an Henseler, 6. November 1925. In: Nachlaß Marx, Teil III, S. 383.
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tüchtigen Menschen“ mit einem „scharfen, ausgezeichneten, politischen Sinn“. Zwei Wochen später – Marx hatte seinen Genfer Vertrauten in Kassel nur kurz sprechen können – warb er abermals dafür, Spiecker für das Amt des deutschen Untergeneralsekretärs beim Völkerbund zu berücksichtigen. Vertreter der ausländischen Presse hätten ihm „wiederholt ihre Anerkennung über seine Leistungen und die Art seines Verkehrs mit den ausländ[ischen] Herren ausgedrückt.“59 Das Bekanntwerden dieses Vorstoßes entwickelte sich für Marx zu einer ernsthaften politischen Affäre. Die Rechte „frohlockte“ angesichts der offensichtlichen „Pöstchenjägerei“.60 Der Parteivorsitzende musste ein Machtwort der Reichstagsfraktion über sich ergehen lassen. Als er im Juni 1926 abermals Reichskanzler wurde, konnte er Spiecker schließlich nicht mehr wie beabsichtigt als seinen Staatssekretär durchsetzen. Die Fraktion sah Spiecker als Drahtzieher des Vorstoßes in Genf an und bemühte zur Verhinderung der Personalie öffentlich bekannt gewordene Vorwürfe, dieser habe beim Erwerb seiner Germania-Aktien die Witwe Erzbergers übervorteilt.61 Zwar hatte diese Marx persönlich versichert, dass sie sich „in keiner Weise“ für übervorteilt halte.62 Im Fraktionsvorstand musste er dennoch erklären: „Lediglich in Rücksicht auf die vielfachen gegen Dr. Spiecker erhobenen Angriffe, die ich allerdings alle als unbegründet ansehe, halte ich die Berufung von Dr. Spiecker zum Staatssekretär für unangebracht“.63 Auch bei der Besetzung des Untergeneralsekretärs in Genf stellte sich die Fraktion quer. Infolge dieser „doppelten Enttäuschung“ (Karsten Ruppert) kam es zum Bruch zwischen Spiecker und Marx.64 Anfang August klagte Spiecker in einem Brief an den nun wieder amtierenden Reichskanzler, er sei „aufs tiefste berührt“, dass er „dabei [der Vergabe des Postens in Genf, C.K.] erneut vor aller Welt gedemütigt werden soll.“65 Er griff Marx persönlich an, da dieser seine Stellung als Reichskanzler in den Verhandlungen nicht ausreichend geltend gemacht habe: [...] und heute, wo es als RK [Reichskanzler, C.K.] Ihnen nur ein Wort bei Sir Eric Drummond66 kosten würde, um Ihren damaligen Vorschlag durchzusetzen, soll ich überhaupt nicht mehr in Frage kommen. Seit 1 ½ Jahren bin ich von einflußreichen Mitgliedern der Z-Fraktion allen Demütigungen und Kränkungen, die sie gegen mich ausfindig machen konnten, ausgesetzt gewesen; [...]. Ich bin kein Stellenjäger, wenn Parteigenossen mich auch so höhnen; aber ich will und muß wieder eine Tätigkeit ausüben können, weil ich mich durch ‚Parteifreunde‘ nicht ewig lahm legen lassen und meine Familie nicht leiden lassen darf und will.67
59 60 61 62 63 64 65 66 67
Marx an Henseler, 21. November 1925. In: Ebd., S. 384. Ruppert (1992): Im Dienst am Staat, S. 205. Ebd., S. 206. Vermerk Marx’ über eine persönliche Unterredung mit Paula Erzberger am 21. Mai 1926. In: Nachlaß Marx, Teil III, S. 409f. Sitzung des Fraktionsvorstands der Zentrumspartei, 11. Juni 1926. In: Die Protokolle der Reichstagsfraktion und des Fraktionsvorstands, S. 47. Ruppert (1992): Im Dienst am Staat, S. 207. Spiecker an Marx, 2. August 1926. In: Nachlaß Marx, Teil III, S. 389f.; Zitat S. 389. Drummond war von 1919 bis 1933 der erste Generalsekretär des Völkerbundes. Spiecker an Marx, 2. August 1926. In: Nachlaß Marx, Teil III, S. 389f.
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Spätestens infolge des hiermit besiegelten Bruches mit seinem bisherigen Förderer Marx war Spiecker parteiintern endgültig ins Abseits geraten. Dass Marx als das nominell mächtigste Parteimitglied sich im Vorfeld aber nicht dazu in der Lage gesehen hatte, seinem Protegé zu einer entsprechenden Stellung zu verhelfen, offenbart doch die weitreichenden Widerstände, die sich gegen dessen Person mobilisierten. Welche Gründe lassen sich hierfür ausmachen und wie sind diese im Einzelnen zu gewichten? War Spiecker womöglich eine zu demokratische Persönlichkeit für eine Partei, deren Verhältnis zur republikanischen Staatsform – aller gezeigten Verantwortungsbereitschaft zum Trotz – zumindest ambivalent blieb? 5. ZU DEMOKRATISCH? Mit Blick auf die bisherigen Ausführungen zu Spieckers Biographie liegt die Vermutung nahe, dass seine betonte Parteinahme für die republikanische Staatsform und das Bündnis mit den Sozialdemokraten die dargelegten Widerstände erzeugt hat. Tatsächlich dürfte die entschieden demokratische Haltung auf dem konservativ-aristokratischen Parteiflügel, in dem sich auch monarchistische Strömungen wiederfanden, für Befremden gesorgt haben. Spätestens nach der Wahl des Prälaten Ludwig Kaas zum Parteivorsitzenden, die eine Reduzierung des Programms der Partei auf ihren „konfessions- und kirchenpolitischen Kern“ bedeutete,68 fand der von Spiecker verkörperte Republikanismus innerhalb der eigenen Partei kaum noch Anklang. In dieser Hinsicht erging es ihm ähnlich wie seinem Mentor Wirth, nur dass der ehemalige Reichkanzler als Integrationsfigur für die Partei unverzichtbar blieb. Dieser Umstand lenkt den Blick weg von ideologischen auf taktische Fragen, sowohl was das Verhalten Spieckers betrifft als auch über ihn im Umlauf befindliche Gerüchte, die seine Position empfindlich schwächten. So sehr Spieckers kompromisslose Haltung gegenüber allen demokratiekritischen und -feindlichen Kräften in der Rückschau Respekt abringt und Sympathien weckt – angesichts des ausgeprägten Binnenpluralismus im Zentrum haftete seinem forschen Auftreten etwas Unversöhnliches an. Mit dem offenen Angriff auf die Führungsriege seiner Partei vor den versammelten Medienvertretern des Reiches hatte der „Nichts-als-Zentrumswähler“ seine Kompetenzen ohnehin eindeutig überschritten. Von seiner Kritik an der Koalitionspolitik musste sich nicht zuletzt sein wichtigster Fürsprecher, der Parteivorsitzende Marx, adressiert fühlen. Hier offenbarte sich ein Wesenszug, der auch während seiner zweiten politischen Karriere nach 1945 zu Tage trat, die er zunächst im wiedergegründeten Zentrum und schließlich seit 1949 als Mitglied der CDU durchlief. Auch hier galt Spiecker als „sehr eigenwillig“, mit seinem Tod 1953 hätten entweder die CDU oder die deutsche Politik insgesamt „eine ihrer eigenwilligsten Persönlichkeiten“ verloren.69 Wie in den 68 Loth (2018): Soziale Bewegungen, S. 90. 69 Der „große Weg“ blieb Spiecker verschlossen. In: Husumer Tageszeitung, 18. November 1953; Hugo Grüssen, Der Weg Karl Spieckers. Seine Konzeption blieb unbestätigt. In: Ruhr Nachrichten, 18. November 1953, zit. nach BArch Koblenz, N 1043/38.
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Weimarer Jahren isolierte sich der Rheinländer mit einer konfrontativen Grundhaltung gegenüber der eigenen Parteispitze und verpasste trotz aussichtsreicher Ämter wie dem des Vorsitzenden des Frankfurter Exekutivrats abermals den Sprung in die vorderste Reihe der deutschen Politik. Begünstigt haben dürften seine Ausbootung im Weimarer Zentrum in erster Linie aber die vielen Gerüchte und Unterstellungen, die sich angesichts der fragwürdigen Tätigkeiten im oberschlesischen Abstimmungskampf mit seiner Person verbanden. Mehrmals wurde Spiecker mit dieser Vergangenheit konfrontiert. Neben der bis heute bestehenden Unklarheit, wie er zu seinem beträchtlichen (Aktien)Vermögen gelangte, die 1926 in dem Vorwurf mündete, er habe die Witwe Erzbergers übervorteilt, war Spiecker in den Wahljahren 1924 und 1928 das Ziel umfangreicher Kampagnen der Weimarer Rechtspresse. Zwar konnte er sich vor Gericht erfolgreich gegen diverse Verleumdungen und Falschbehauptungen zur Wehr setzen. Seine politische Reputation trug aber empfindlichen Schaden davon. Besonders geschmerzt haben dürfte ihn der Umstand, dass er im Vorfeld der Kandidatenaufstellung für die Reichstagswahl vom Mai 1928 aufgrund einer von der radikalen Rechten entfachten Amnestiekampagne für verurteilte Fememörder öffentlich in die Defensive geriet. Nachdem es noch am 11. April geheißen hatte, er sei für die Reichswahlliste des Zentrums vorgeschlagen worden,70 diagnostizierte die Frankfurter Zeitung zwei Tage später eine „effektive Rechtsschwenkung“ der Partei, als Spiecker „die von zahlreichen Zentrumsrepublikanern verlangte Kandidatur“ schließlich verweigert wurde.71 Zwar wurde er beim Kölner Parteitag im Dezember noch als Mitglied in den Reichspartei-Ausschuß gewählt, seine Parteikarriere aber war endgültig an ihr Ende gelangt. Gänzlich aus der Luft gegriffen waren die Vorwürfe indes nicht. Im Stettiner Fememordprozess von 1928 hatte sich Spiecker schließlich sogar als einer der wenigen Beteiligten zu einer Mitverantwortung für die von Freikorps verübten politischen Morde in Oberschlesien bekannt. Spiecker umgibt auch in der Retrospektive eine Aura des Anrüchigen, die Historikerinnen und Historiker trotz seiner vielfältigen Verdienste für die Weimarer Demokratie nicht beiseiteschieben sollten. FAZIT Wenngleich Karl Spieckers Isolierung im Weimarer Zentrum auch als Ausdruck des ambivalenten Verhältnisses seiner Partei zur republikanischen Staatsform gedeutet werden kann, haben sein konfrontatives Vorgehen sowie die mit seiner Person verbundenen Gerüchte um seine Zeit als deutscher Nachrichten- und Propagandachef in Oberschlesien es seinen Gegnern durchaus leicht gemacht, sich des ungeliebten Parteifreundes zu entledigen. Dass seine Bedeutung innerhalb der Weimarer 70 Wirths Platz auf der Zentrumsliste. In: Berliner Tageblatt Nr. 172, 11. April 1928, S. 3. 71 Frankfurter Zeitung Nr. 277, 13. April 1928, S. 1. Karsten Ruppert führt als weiteren Grund den Konfrontationskurs an, welchen das Berliner Zentrum unter Spiecker gegenüber Marx eingeschlagen habe: Ruppert (1992): Im Dienst am Staat, S. 272, Anm. 76.
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Zentrumspartei ab Mitte der zwanziger Jahre tatsächlich erheblich schwand, sollte für die Geschichtswissenschaft aber kein Grund sein, sich nicht mit seiner Person zu beschäftigen. Im Gegenteil: Karl Spiecker war nicht nur eines der lautesten Sprachrohre des linken Zentrumsflügels, anhand seines biographischen Beispiels und des Umgangs mit seiner „demokratischen Persönlichkeit“ lassen sich auch wichtige Rückschlüsse über das Verhältnis der Deutschen Zentrumspartei zur Weimarer Demokratie ziehen. QUELLEN Bundesarchiv Berlin, R 43 I/2657: Reichskanzlei, Christliche Volkspartei/Zentrum Bundesarchiv Berlin, R 43-I/3406: Reichskanzlei, Personalakte Spiecker Bundesarchiv Koblenz, N 1043/38: Nachlass Johannes Maier-Hultschin Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx, Teil III. Bearb. von Hugo Stehkämper. (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Bd. 54), Köln 1968. Die Protokolle der Reichstagsfraktion und des Fraktionsvorstands der Deutschen Zentrumspartei 1926–1933. Bearb. von Rudolf Morsey. (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe A: Quellen, Bd. 9), Mainz 1969. Offizieller Bericht des Vierten Reichsparteitages der Deutschen Zentrumspartei. Tagung zu Cassel am 16. und 17. November 1925. Hrsg. vom Reichsgeneralsekretariat der Deutschen Zentrumspartei. Berlin o. J. Pressearchiv der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sammlung Karl Spiecker. Reibnitz, Kurt von [Anonym]: Gestalten rings um Hindenburg. Führende Köpfe der Republik und die Berliner Gesellschaft von heute. Zweite, verbesserte Auflage, Dresden 1929. Spiecker, [Karl]: Zuschrift. In: Germania Nr. 94, 20. März 1924, S. 3. Ders.: Wir und die Sozialdemokraten. In: Germania Nr. 226, 15. Mai 1925, S. 1–2. Ders.: Warum nicht die Deutschnationalen. In: Germania Nr. 247, 28. Mai 1925, S. 1–2. Ders.: Zur Reichskonferenz des Reichsbanners. In: Germania Nr. 480, 14. Oktober 1925, S. 4. Ders.: Das Ende. In: Germania Nr. 502, 27. Oktober 1925, S. 1–2. Ders.: Parteitagswerk. In: Germania Nr. 541, 19. November 1925, S. 1–2. Stephan, Werner: Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland. Ein Liberaler in vier Epochen. Düsseldorf 1983. Vallentin, Antonina: Stresemann. Vom Werden einer Staatsidee. Leipzig 1930.
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INTERVENTIONEN GEGEN RECHTS Die liberale Reichstagsabgeordnete Katharina von Kardorff-Oheimb (1879–1962) im Konfliktfeld DVP Cornelia Baddack Katharina von Kardorff-Oheimb (1879–1962), deren Name heute nur noch Spezialisten der politischen Kulturgeschichte ein Begriff ist, gehörte zu den bekanntesten Politikerinnen der Weimarer Republik. Angestoßen durch die Einführung des Frauenstimmrechts war die vermögende Unternehmenserbin 1918/19 aktiv geworden, indem sie politische Bildungskurse für Frauen aus vornehmlich rechtsbürgerlichem Milieu organisierte und sich in der neu gegründeten Deutschen Volkspartei (DVP) engagierte. Als politische Newcomerin kandidierte sie erfolgreich zu den Wahlen im Sommer 1920 im Wahlkreis Magdeburg und gehörte dem Reichstag bis 1924 an. In öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen mit dem dominierenden rechten Flügel ihrer eigenen Partei sprach sich die Abgeordnete wiederholt für eine explizite Anerkennung der Republik als der gegebenen Staatsform Deutschlands aus und eroberte sich den Ruf einer unabhängigen und liberalen Persönlichkeit, die nicht als Vertreterin eines bestimmten Interessenverbandes agierte und sich von den allzu ‚nationalistischen Elementen‘ in ihrer Partei deutlich distanzierte. Diese Positionierung vollzog sich sichtbar im Jahr 1921 und wird im folgenden Beitrag näher dargestellt – beginnend mit einer Skizze des biografischen Hintergrunds und politischen Werdegangs Kardorff-Oheimbs1 in der Weimarer Republik. 1. BIOGRAFISCHER HINTERGRUND Als Kardorff-Oheimb nach dem Ende des Ersten Weltkriegs politisch aktiv wurde, war sie knapp vierzig Jahre alt, eine vermögende Frau mit weitreichenden Beziehungen, Inhaberin zweier keramischer Fabriken im Rhein-Main-Gebiet, Mutter von sechs Kindern und zum dritten Mal verheiratet. Am 2. Januar 1879 als Tochter der wohlhabenden und kinderreichen Kaufmannsfamilie van Endert in Neuss am Rhein geboren, war sie in einem wirtschaftsbürgerlichen Haushalt aufgewachsen, der zu 1
„von Oheimb“ (ab 1913) und „von Kardorff“ (ab 1927) sind die beiden Namen, unter denen die Akteurin als Politikerin in Erscheinung trat. Hieraus entwickelte sich ab 1927 die (zivilrechtlich nie festgeschriebene) Konstruktion des Doppelnamens „von Kardorff-Oheimb“, der hier unter Weglassen des „von“ einheitlich verwendet wird. Zur Benennungsproblematik vgl. Baddack (2016): Katharina von Kardorff-Oheimb, S. 12–14.
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gleich von den Riten katholischer Konfessionszugehörigkeit geprägt war. Ganz auf das Leben einer bürgerlich-kultivierten Ehefrau und Mutter vorbereitet – mit privatem Unterricht zu Hause und dem Besuch eines katholischen Mädchenpensionats in Lyon –, hatte sie im Alter von 19 Jahren einen Ingenieur in Düsseldorf, Felix Daelen, geheiratet und innerhalb von vier Jahren drei Kinder zur Welt gebracht. Von ihrem ersten Mann trennte sie sich, nachdem sie sich in Ernst Albert, Sohn des hessischen Industriellen und Gründers der Chemischen Werke Albert in Wiesbaden-Biebrich Heinrich Albert, verliebt hatte und von ihm schwanger geworden war. Das Scheidungsurteil von 1906 sprach sie, die ‚Ehebrecherin‘, allein schuldig2 – mit der Konsequenz, dass sie das Sorgerecht für alle, inzwischen vier Kinder verlor, die sie während ihrer ersten Ehe zur Welt gebracht hatte.3 Die Eheschließung mit Ernst Albert ein Jahr später setzte der im Zuge ihrer Trennung vom ersten Mann erlebten finanziellen Unsicherheit und sozialen Stigmatisierung ein Ende. Als Mitglied der vermögenden Unternehmerfamilie Albert lebte Kardorff-Oheimb, zunächst in Frankfurt am Main, dann in Wiesbaden, das mondäne Leben jener Wirtschaftselite, die sich Ende des 19. Jahrhunderts zu formieren begonnen hatte, und adaptierte einen großbürgerlichen Lebensstil, dessen auffälligste Kennzeichen das Zurschaustellen von Reichtum sowie eine ausgeprägte Soziabilität waren. Zugleich begann sie sich außerhalb des beruflichen Wirkungsbereichs ihres Mannes zu engagieren, was als ein erstes Indiz beginnender Politisierung interpretiert werden kann: Als sich im Oktober 1907 in Frankfurt eine Ortsgruppe des Bundes für Mutterschutz gründete, schloss sie sich dieser sogleich an; auch sicherte sie die Finanzierung einer kostenlosen Beratungsstelle für schwangere Frauen und gehörte etwa anderthalb Jahre dem Vorstand an, bevor sie 1909 mit ihrem Mann nach Wiesbaden zog.4 Nach nur vier gemeinsamen Ehejahren verunglückte Ernst Albert, mit dem Kardorff-Oheimb noch einen Sohn und eine Tochter bekommen hatte, bei einem Bergunfall. Ein Erbauseinandersetzungsvertrag regelte, dass neben einem umfangreichen Kapitalerbe auch die beiden Betriebe, die zuvor von Ernst Albert geleitet worden waren, in den Besitz der Witwe übergingen: die Klingenberg Albertwerke sowie die Keramischen Werke Worms-Offstein, die im Rhein-Main-Gebiet keramische Boden- und Wandplatten produzierten. Reich und finanziell unabhängig, siedelte die Fabrikbesitzerin im Jahr 1912 mit ihren zwei kleinen Kindern nach Berlin um, bezog ein Haus im vornehmen Tiergartenviertel und heiratete kurz darauf 2 3
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Eine gütliche Einigung wäre aufgrund des strengen Verschuldensgrundsatzes des erst wenige Jahre zuvor eingeführten Bürgerlichen Gesetzbuches ohnehin nicht möglich gewesen. Vgl. Blasius (1992): Ehescheidung, S. 147–154. Das viertgeborene Kind wuchs zusammen mit den älteren drei Geschwistern bei Felix Daelen auf; dass es das Kind von Ernst Albert war, erfuhren die Nachkommen Kardorff-Oheimbs erst nach deren Tod. Mündliche Auskunft von Christoph Ackermann, Sohn der jüngsten Tochter Kardorff-Oheimbs, Elisabeth. Jahresbericht des Frankfurter Mutterschutzes 1907/08, S. 43–49, in: ISG, Magistratsakten, R/23, Bd. 2, Bl. 30; Jahresbericht 1908/09, S. 5f. und 10, in: ISG, Magistratsakten, V/595, unfol.
Interventionen gegen rechts: Katharina von Kardorff-Oheimb
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wieder: Jochem von Oheimb, Rittergutsbesitzer aus Westfalen. Für ihn – von Oheimb war ein passionierter Jäger, aber bei Weitem nicht so vermögend wie sie selbst – schloss sie im Juni 1914 einen Jagdpachtvertrag mit der Stadt Goslar ab5 und erlernte bald darauf das Schießen selbst. Dank regelmäßiger Jagd- und Erholungsaufenthalte im Harz entwickelte sich Goslar zum Sommer- und Zweitwohnsitz der von Oheimbs, bevor sie während des Ersten Weltkriegs ihren Berliner Haushalt ganz aufgeben und Kardorff-Oheimb Mitte 1919 eine Villa in Goslar erwerben sollte.6 Im Ersten Weltkrieg erfuhr die Politisierung Kardorff-Oheimbs ihren eigentlichen Schub. Nicht darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, engagierte sie sich vier Kriegsjahre lang mit privaten Initiativen an der sogenannten Heimatfront: In einer ihrer Fabriken – in den Albertwerken in Klingenberg – ließ sie ein Lazarett einrichten. In Berlin unterhielt sie ein Abendheim für Unteroffiziere, das unter dem Ehrenvorsitz von Generaloberst Helmuth von Moltke, in dessen letzter Funktion als Chef des stellvertretenden Generalstabes der Armee in Berlin, stand.7 Sie unterstützte Suppenküchen durch Geldzuwendungen und organisierte Spendenaktionen zur Entsendung von Schauspielergruppen ins Feld. Als Auszeichnung für ihren Einsatz erhielt Kardorff-Oheimb mehrere Orden, darunter den vom hessischen Großherzog Ernst Ludwig gestifteten Stern von Brabant,8 und wurde im Februar 1918 vom Deutschen Lyceumclub, einem 1905 auf Initiative Marie von Bunsens in Berlin gegründeten exklusiven Frauenklub, als außerordentliches Mitglied aufgenommen – zeitgleich mit Käte Stresemann, der Frau des nationalliberalen Parteivorsitzenden Gustav Stresemann.9 2. POLITISCHE AKTIVITÄTEN IN DER WEIMARER REPUBLIK Im Erleben von Kriegsniederlage und Revolution gab die Einführung des Frauenstimmrechts im November 1918 Kardorff-Oheimb den Anstoß, politisch aktiv zu werden. Zum einen schuf sie in Goslar politische Bildungsangebote für Frauen aus einem vornehmlich rechtsbürgerlichen Milieu, zunächst in Form einzelner Informationsveranstaltungen vor den Wahlen zur Nationalversammlung,10 bevor sie im Mai 1919 ihren ersten von insgesamt drei Kursen in Goslar durchführte. Dieser dauerte drei Wochen lang und verknüpfte thematische Vorträge zum Beispiel über 5
Pachtvertrag zw. Magistrat Stadt Goslar u. K. v. Oheimb v. 3.1.1914, gez. 20.6.1914, in: StA Goslar, Bestand Forstamt, Zg. 5/63, Nr. 7–9. 6 Diese Villa am Oberen Triftweg 30 steht noch heute und ist Station einer kulturtouristischen Route des 2011 eröffneten frauenORTs Goslar Katharina von Kardorff-Oheimb. Weitere Informationen online unter (31.12.2019). 7 Aushang Unteroffizier-Abendheim, in: BArch, N 1039/9, Bl 200; vgl. Kardorff-Oheimb [1965]: Politik und Lebensbeichte, S. 77. 8 Vgl. Baddack (2016): Katharina von Kardorff-Oheimb, S. 160. 9 Meldung in: DLC Mitteilungen, Nr. 2, Februar 1918, S. 6. 10 Inserat in: Goslarsche Zeitung, o. Nr., 4.1.1919.
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die Geschichte des Parlamentarismus und der Verfassung, „wirtschafts- und sozialpolitische Gegenwartsfragen“ oder Forderungen der Frauenbewegung mit praktischen Übungen in Rede- und Argumentationstechniken.11 Als Referenten gewann sie bekannte Staatsrechtler und Politiker – auch Politikerinnen wie Clara Mende und Paula Otfried-Müller – aus hauptsächlich volksparteilichen und deutschnationalen Kreisen, wie überhaupt die Besetzung aller ihrer Goslarer Veranstaltungen zeigt, wie gut Kardorff-Oheimb mit Teilen des politischen Berlins vernetzt war.12 Zum anderen und parallel hierzu betrieb Kardorff-Oheimb Wahlkampf- und Aufbauhilfe für die Deutsche Volkspartei (DVP). Diese war Mitte Dezember 1918 von Gustav Stresemann gegründet worden und verstand sich formal als Nachfolgerin der früheren Nationalliberalen Partei, verlor allerdings große Teile ihrer alten Organisation an die ebenfalls neu gegründete Deutsche Demokratische Partei (DDP). In Goslar aber schloss sich der nationalliberale Ortsverein kurz vor Weihnachten 1918 der Partei Stresemanns an.13 Wenig später gründete Kardorff-Oheimb vor Ort eine volksparteiliche Frauengruppe und hielt zwei Tage vor den Wahlen zur Nationalversammlung auf einer öffentlichen Versammlung der DVP Goslar ihre erste politische Rede.14 Nach den Wahlen am 19. Januar 1919, bei denen die DVP einen Stimmenanteil von nur 4,4 Prozent erhalten hatte, machte sie schnell Karriere in der Partei. Zunächst wurde sie Mitglied im Vorstand der DVP-Ortsgruppe Goslar15 und gehörte als deren einzige Vertreterin zur Delegation des DVP-Wahlkreisverbandes Hannover, die im April 1919 zum ersten Parteitag der DVP nach Jena entsandt wurde.16 Einen Monat danach wurde sie zweite (später dritte) Vorsitzende im Reichsfrauenausschuss, der für den Aufbau einer reichsweiten Frauenorganisation innerhalb der DVP zuständig war und unter der Führung von Clara Mende stand.17 Zu den Wahlen im Sommer 1920 kandidierte Kardorff-Oheimb erfolgreich im Wahlkreis Magdeburg-Anhalt und gehörte dem Reichstag während der ersten Legislaturperiode bis 1924 an. Wiederholte Konflikte mit der Parteirechten wie auch mit dem Vorsitzenden Gustav Stresemann führten dazu, dass sie 1924 weder zu den Sommer- noch zu den Dezemberwahlen zum Reichstag kandidierte und im März 1925 die DVP ganz verließ. Kurze Zeit war sie ausschließlich publizistisch tätig, brachte einige Monate lang auch eine eigene politische Wochenillustrierte, die 11 „Zeiteinteilung für den 1. politischen Ausbildungskursus“, in: BArch, N 1039/25, Bl. 7f. Ein weiterer Kurs folgte im Januar 1920, ein dritter und letzter Kurs fand im Mai 1922 statt. 12 Eine Auflistung der von Kardorff-Oheimb nachweislich organisierten Veranstaltungen findet sich zum Download unter (31.12.2019): Digitaler Anhang, hier S. 29–31. 13 „Deutsche Volkspartei“, in: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, Nr. 353, 24.12.1918. 14 „Aus der Stadt Goslar“, in: Goslarsche Zeitung, Nr. 15, 18.1.1919 (3. Blatt). 15 Vgl. Kardorff-Oheimb [1965]: Politik und Lebensbeichte, S. 87; K. v. Oheimb an Katja Daelen, o.D. [Dezember 1919], in: PrA Ackermann, Ordner „Briefe der Kinder“, unfol. 16 Liste der Parteitagsdelegierten in: Nationalliberale Correspondenz, Nr. 70, 27.3.1919. 17 Zur Aufbauphase des DVP-Reichsfrauenausschusses vgl. Baddack (2016): Katharina von Kardorff-Oheimb, S. 167–177.
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Aktuelle Bilder-Zeitung, heraus, bevor sie sich für anderthalb Jahre der Reichspartei des deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei) anschloss.18 Im Frühjahr 1927 gab sie – parallel zu ihrer Verlobung mit Siegfried von Kardorff – ihren Austritt aus der Wirtschaftspartei bekannt und war von nun an als parteilose Politikerin aktiv. Dabei konzentrierte sie sich auf frauenpolitische Themen und Kontexte – auch mit Rücksicht auf das politische Engagement ihres Mannes, der bis 1932 für die DVP dem Reichstag angehörte. 1928 übernahm sie an der Berliner Lessing-Hochschule, an der sie schon als Abgeordnete Vorträge gehalten hatte, die Leitung einer neu eingerichteten „Hochschule der Frau“,19 um sich bald darauf wieder verstärkt der politischen Bildung von Frauen zu widmen: 1930 gründete sie in Berlin die Nationale Arbeitsgemeinschaft e.V., auf deren Basis sie unter dem Namen „Hochschule der Frau zur politischen Erziehung“ semesterweise ein Programm in Form wöchentlicher Vorträge und Studienkreise anbot.20 Daneben publizierte sie eine Vielzahl an Zeitungsartikeln und trat erstmals auch als Buchautorin in Erscheinung. So findet sich in dem von der Reichsregierung 1928 herausgegebenen Buch Zehn Jahre deutsche Geschichte ein längerer Beitrag von ihr,21 wie auch in dem 1931 von Ada Schmidt-Beil veröffentlichten Sammelband Die Kultur der Frau. Dieses als Handbuch angelegte Werk, dessen fast hundert Beiträge allesamt von aus Politik und Frauenbewegung bekannten Frauen geschrieben wurden, bot einen breiten Querschnitt an Themen mit je frauenspezifischem Fokus. Hierin platzierte Kardorff-Oheimb einen Beitrag mit dem Titel „Brauchen wir eine Frauenpartei?“22 – eine damals viel diskutierte Frage, war die Zahl der weiblichen Abgeordneten nach ihrem höchsten Anteil von 8,7 Prozent in der Nationalversammlung doch weiter rückläufig. Zugleich stellte dieser Artikel Kardorff-Oheimbs die publizistische Quintessenz ihrer politischen Arbeit Anfang der 1930er Jahre dar. Denn die Titelfrage bildete den Ausgang einer Reihe von Vorträgen und Artikeln sowie eines politischen Programms, das sie 1932 an die Vorstände anderer Frauenorganisationen schicken sollte. Im Kern ihrer damaligen Bemühungen ging es darum, die Möglichkeiten einer gemeinsamen „Parteinahme der Frau zu all den wichtigen Fragen des politischen Lebens“ auszuloten, wobei sie die Gründung einer eigenen Frauenpartei nur als allerletzte politische Konsequenz in Betracht zog.23 Einen wichtigen Antrieb hatte die Debatte über Sinn und Zweck einer Frauenpartei aus dem Erstarken der Nationalsozialisten erhalten, die im September 1930 mit 107 Abgeordneten in den Reichstag eingezogen waren. Und auch wenn Kardorff-Oheimbs Aktivitäten vor der politischen Großlage wenig erfolgversprechend 18 Ihre Mitgliedschaft in dieser Partei hat allerdings in den überlieferten Quellen so gut wie keinen Niederschlag gefunden. Vgl. ebd., S. 277–280. 19 Vgl. Lewin 1960: Zur Geschichte, S. 16–19. 20 Baddack (2016): Katharina von Kardorff-Oheimb, S. 424–426 und 445–447. 21 Kardorff (1928): Die Frau im modernen Staat. 22 Kardorff (1931): Brauchen wir eine Frauenpartei? 23 Ebd., S. 376. Zum politischen Programm Kardorff-Oheimbs vgl. Baddack (2016): Katharina von Kardorff-Oheimb, S. 456–465.
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waren, so war sie sich der Gefahr für das politische Funktionieren des Staats im Allgemeinen und für die Partizipation der Frau im Besonderen bewusst. Im März 1932, als Hitler gegen Hindenburg für das Amt des Reichspräsidenten kandidierte, richtete sie einen Wahlaufruf speziell an die Frauen und warnte darin eindringlich vor den Konsequenzen, sollte Hitler bzw. die NSDAP als Sieger aus diesen Wahlen hervorgehen: Unter Hitlers Führung werdet ihr in eure unsagbare hilflose und unbedeutende Stellung in Familie und Staat von früher zurücksinken. Denn eine Partei, die bei den Wahlen keine Frauen als Kandidaten aufstellt, degradiert die Frau als Wesen zweiter Klasse, bezeichnet sie als Minderwertige. Ihr werdet wieder wie vor 1918 zusammengeworfen mit Kindern, Unmündigen und Geisteskranken, die nicht wahlberechtigt sind. Diese Männer wollen euch nicht als Kameradinnen, sondern als Dienerinnen.24
Im Zuge der ein Jahr später einsetzenden nationalsozialistischen Machtübernahme verlor Kardorff-Oheimb alle Möglichkeiten vorheriger politischer Betätigung und verschwand damit auch aus der Öffentlichkeit. In der gleichgeschalteten Presselandschaft konnte sie nicht mehr publizieren; ihr Verein, die Nationale Arbeitsgemeinschaft, griff einer Gleichschaltung durch Selbstauflösung vor – wobei Kardorff-Oheimb damals außerdem Präsidentin des 1927 gegründeten Damen-Automobil-Clubs war und in dieser Funktion einen Gleichschaltungsprozess mitvollzog, bevor sie auch dort dauerhaft ihren Vorsitz niederlegte.25 Die in ihren Aktivitäten eher unbeständige Politikerin, die sich auch nach 1945 wieder politisch betätigen sollte,26 besaß im Berlin der Weimarer Republik eine enorme Präsenz, wovon eine große Zahl und Vielfalt medial vermittelter Repräsentationen Kardorff-Oheimbs in der Überlieferung aus der Zeit wie die wiederholte Nennung ihres Namens in den Gesellschaftskolumnen der Berliner Presse zeugen. Bestens vernetzt, führte sie zudem etwa sieben Jahre lang einen politischen Salon, dem in den bürgerlich geprägten und republikanisch gesinnten parlamentarischen Kreisen Berlins eine bedeutsame Funktion beigemessen wurde. Der erste Reichspräsident Ebert verkehrte hier, ebenso wie die wechselnden Reichskanzler und andere Mitglieder der jeweiligen Regierung, Abgeordnete verschiedener Parteien, Diplomaten, hohe Ministerialbeamte und politische Redakteure. So schuf die Politikerin, die als erste und einzige Berliner Salonnière einen Salon führte und ein politisches Mandat innehatte,27 Gelegenheiten für politische Gespräche über die Parteigrenzen hinweg und einen den parlamentarischen Diskurs prinzipiell fördernden kommunikativen Raum – im Unterschied zu dem sich nach Parteienzugehörigkeit, 24 K. v. Kardorff: „Frauen müssen Hindenburg wählen!“, in: Berliner Tageblatt, Nr. 122, 12.3.1932. 25 Vgl. Baddack (2016): Katharina von Kardorff-Oheimb, S. 465–472. 26 Im Januar 1946 schloss sie sich in Berlin der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) an, war zeitweise Vorsitzende von deren Frauenarbeitsgemeinschaft sowie Mitglied im Vorstand des Berliner Landesverbands der LDP, trat aber bereits im August 1947 aus der Partei wieder aus. Baddack (2016): Zäsuren, S. 297–303. 27 Vgl. Wilhelmy (1989): Der Berliner Salon, S. 390. Zur ausführlicheren Beschreibung ihres politischen Salons vgl. Baddack (2016): Katharina von Kardorff-Oheimb, S. 130–141.
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ideologischer Ausrichtung und/oder Geschlecht zunehmend segregierenden politischen Klubleben der Weimarer Republik.28 In dieses Bild einer im Grundsatz überparteilichen und prorepublikanischen Orientierung fügen sich auch KardorffOheimbs langjährige Mitgliedschaft im Republikanischen Reichsbund29 sowie ihre Mitwirkung im 1931 gegründeten Kartell Republikanischer Verbände, dessen leitendem „Aktionsausschuss“ sie als Vertreterin der Deutschen Liga für Menschenrechte angehörte.30 3. DIE LIBERALE ‚PERSÖNLICHKEIT‘ IM KONFLIKTFELD DVP 3.1 Zeitgenössische Konstruktionen der volksparteilichen Abgeordneten Dem deutschen Parlament fehle es an „politische[n] Köpfen“, klagte im März 1924 der Ministerialrat beim Preußischen Staatsministerium, Fritz Cohn (Corsing) in einem längeren Beitrag für die Vossische Zeitung. Im Vergleich zur Anfang des Jahres in Großbritannien gebildeten Minderheitsregierung unter Ramsay MacDonald, die – so Cohn – aus einer gewissen Homogenität der Weltanschauung im Sinne eines „sozialen und internationalen Ausgleichs“ ihre politische Schlagkraft beziehe, habe sich in Deutschland bisher noch jede Regierung an kabinettsinternen Kämpfen aufgerieben. „Aber man vergleiche auch das menschliche und geistige Niveau der neuen englischen Minister mit dem unserer Parlamente, um beschämt das Haupt zu senken.“ Bei diesen handele es sich um „starke Individualitäten“, um „Persönlichkeiten, deren Namen allein Programm“ bedeuteten. Vergleichbare „Kabinette der Köpfe“ seien in Deutschland nur schwerlich zu bilden – in Ermangelung von „Persönlichkeiten“ notwendiger Fasson: Gewiß sitzen auch in unseren Parlamenten und Regierungen einige Männer und Frauen, die den politischen und allgemein-geistigen Ideengehalt der Zeit verkörpern, aber Persönlichkeiten wie Wirth, Braun, Severing, Preuß, Düringer, Hötzsch, Frau v. Oheimb sind doch nur Ausnahmeerscheinungen, die hinter der Mehrzahl der von den Parteimaschinerien und Wirtschaftsverbänden ans Licht gebrachten Abgeordneten auch an Einfluß zurücktreten, während politische
28 Vgl. Postert (2017): Klubs gegen Parteien, v.a. S. 177. Der Dynamik zeitgenössischer Klubgründungen folgte schließlich auch Kardorff-Oheimb, als sie den exklusiven „Damenclub 1930“ im selben Jahr ins Leben rief. Baddack (2016): Katharina von Kardorff-Oheimb, S. 427– 436. 29 Einem Schreiben des damals stellvertretenden Vorsitzenden Karl Vetter an K. v. Oheimb vom 16.1.1923, in: BArch, N1039/23, Bl. 204, entnimmt sich, dass Kardorff-Oheimb bereits 1923 dem Republikanischen Reichsbund (RBB) angehörte; 1930 wählte sie dessen Berliner Ortsgruppe außerdem in den Vorstand. Meldung o. T., in: Berliner Börsenzeitung, Nr. 250, 31.5.1930, Presseausschnitt in: BArch, R8034-III/338, Bl. 9. 30 Vgl. Fritsch (1985) Kartell, S. 179. Zur Mitwirkung bekannter bürgerlicher Politiker auch aus den Reihen der Reichspartei des deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei) im Republikanischen Reichsbund und im Kartell Republikanischer Verbände vgl. Elsbach (2019): Reichsbanner, S. 172.
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Cornelia Baddack Talente aller Lager bei der gegenwärtigen politischen Zuchtwahl gar nicht in die parlamentarische Arena kommen.31
Dass Cohn als einzige weibliche Persönlichkeit unter den damaligen Parlamentariern Kardorff-Oheimb nannte, dürfte zunächst einmal dem Umstand zuzuschreiben sein, dass diese einen Monat zuvor hatte verlautbaren lassen, für den nächsten Reichstag nicht wieder kandidieren zu wollen.32 Darüber hinaus hatte sich die volksparteiliche Reichstagsabgeordnete selbst im damaligen Krisendiskurs „über ‚Parteiismus‘, ‚Parteisucht‘, ‚Parteigeist‘ oder ‚Parteiegoismus‘“33 – zu dem auch der Artikel Cohns zu zählen ist – öffentlich sichtbar positioniert. So hatte sie ihren Verzicht auf eine erneute Kandidatur offiziell mit der gescheiterten Hoffnung auf eine Wahlrechtsreform begründet, die „das Verhältnis zwischen den Wählern und den Kandidaten wieder persönlicher und unabhängiger von der Parteimaschine“ gestalten würde.34 Möglicherweise kam auch zum Tragen, dass Kardorff-Oheimb selten als Vertreterin politischer Fraueninteressen wahrgenommen wurde, wenngleich sie sich mit emanzipatorischem Anspruch zu frauenpolitischen Fragen äußerte und sich der Schwerpunkt ihres Engagements nach der Heirat mit Siegfried von Kardorff dahingehend verschieben sollte. Mitte der 1920er Jahre aber hatte sie sich noch nicht als „Repräsentantin überparteilicher politischer Frauenarbeit“ etabliert, als die sie 1929 im Rundfunk zum Thema „Der Weg der Frau in die Politik“ sprechen sollte.35 Auch galt sie nicht als Expertin zu einem speziellen Themenbereich, sondern beeindruckte nebst „gesundem Menschenverstand und nationalem Verantwortungsgefühl“36 vor allem mit „Mut zur eigenen Meinung“37, wie auch die Vossische Zeitung Kardorff-Oheimbs „Einfluss in politischen Kreisen“ auf „ihren Mut, ihre Sachlichkeit und ihre Überzeugungstreue“ gegründet sah.38 „Though her political armor is not very weighty, her sound common sense is a valuable asset“, hieß es in einem ausländischen Zeitungsporträt über die Politikerin, das einen Tag, nachdem diese am 13. März 1925 ihren Austritt aus der DVP erklärt hatte, erschien.39 31 Fritz Cohn: „Persönlichkeit und Politik“, in: Vossische Zeitung, Nr. 146, 26.3.1924 (eigene Hervorhebung). 32 „Frau v. Oheimb kandidiert nicht zum Reichstag“, in: Magdeburgische Zeitung, Nr. 99, 23.2.1924. 33 Raithel (2005): Funktionsstörungen, S. 260. 34 „Frau v. Oheimb kandidiert nicht zum Reichstag“, in: Magdeburgische Zeitung, Nr. 99, 23.2.1924. Vgl. Katharina v. Oheimb: „Wohin treiben wir?“, in: 8 Uhr-Abendblatt, Nr. 252, 25.10.1924. 35 Vorschau auf eine Vortragsreihe im Frauenfunk der Deutschen Welle, Dinghaus (2002): Frauenrundfunk, S. 180. 36 „Ein Aufruf an die Frauen“, in: Berliner Tageblatt, o. Nr., 26.7.1931, Presseausschnitt in: BArch, R 8034-III/338, Bl. 9. 37 „Politische Schulung der Frau“, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 86, 20.2.1930, Presseausschnitt in: BArch, R 8034-III/338, Bl. 14. 38 „Deutschnationale Kampfesweise“, in: Vossische Zeitung, Nr. 575, 5.12.1923. 39 „Germany in the Melting-Pot“, in: The Graphic, o. Nr., 14.3.1925, Presseausschnitt in: BArch, N 1039/48, Bl. 26.
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Weniger profunde Detailkenntnis als vielmehr – so klingt es hier an – die Vernunft und Vorurteilslosigkeit ihrer politischen Argumentation und Überzeugung machten Kardorff-Oheimb in den Augen vieler ihrer Mitmenschen zu einer veritablen und liberalen Politikerin. So erhielt sie das Verdienst dafür zugeschrieben, dass sich auf dem linken Flügel der DVP „eine Gruppe von verständigen, vorurteilslosen, man darf wohl sagen: liberalen Politikern“ gebildet habe,40 wie umgekehrt ihr Parteiaustritt als symptomatisch für den liberalen Werteverfall in der DVP betrachtet wurde. 3.2 Interventionen gegen den rechten Flügel der DVP 1921 Diese von verschiedenen Zeitgenossen konstatierte Positionierung der volksparteilichen Abgeordneten auf einem linken Flügel der Partei hatte sich deutlich sichtbar im Jahr 1921 vollzogen. Den Anfang machte ihre Haltung in der Frage des sogenannten Londoner Ultimatums vom 5. Mai 1921, das Deutschland dazu aufforderte, innerhalb von sechs Tagen den von der Alliierten Reparationskommission ausgearbeiteten Zahlungsplan zur Tilgung der auf 132 Milliarden Goldmark festgelegten deutschen Reparationsschuld zu akzeptieren, und bei Nichtannahme die sofortige Besetzung des Ruhrgebiets androhte.41 In der sich verschärfenden Entwicklung in der Reparationsfrage war kurz zuvor die deutsche Reichsregierung aus Zentrum, DDP und DVP zurückgetreten, nachdem letztere ihre drei Minister aus dem Kabinett Fehrenbach zurückgezogen hatte.42 Als die am 10. Mai neu gebildete Regierung aus Zentrum, SPD und DDP unter Reichskanzler Joseph Wirth dem Reichstag die Annahme des Ultimatums empfahl,43 stellte sich Kardorff-Oheimb gegen die Mehrheit ihrer eigenen Fraktion, indem sie mit „Ja“ stimmte; insgesamt wurde das Ultimatum mit 220 gegen 172 Stimmen vom Reichstag angenommen, wobei nur 393 von knapp 460 Abgeordneten anwesend waren.44 In den nächsten Wochen war Kardorff-Oheimb wie die anderen fünf ‚Dissidenten‘ der DVP-Reichstagsfraktion – mit ihr hatten Rudolf Heinze, Siegfried von 40 Anm. der Redaktion zu: Katharina v. Oheimb: „Gedanken über politische Erziehung“, in: Neue freie Presse, Nr. 21262, 19.11.1923 (Beilage „Frauenzeitung“). Vgl. auch den Leserbrief von Dr. Friedrich Müller „Frau v. Oheimb“, in: Vossische Zeitung, Nr. 138, 22.3.1925, wonach Kardorff-Oheimb wie nur Wenigen in der DVP das Wort liberal „ehrliche Überzeugung“ gewesen sei. 41 Vgl. Richter (2002): Die Deutsche Volkspartei, S. 233–239; Kolb / Schumann (2013): Die Weimarer Republik, S. 43–47. 42 Zu den genauen Gründen des Austritts der DVP aus dem Kabinett Fehrenbach und zwischenzeitlich verfolgten Optionen im Hinblick auf eine alternative Regierungsbildung unter Stresemanns Führung vgl. Richter (2002): Die Deutsche Volkspartei, S. 235f., sowie die Anmerkungen bei Kolb / Richter (1999): Nationalliberalismus, S. 420–426, v. a. 422. 43 103. Sitzung, 10.5.1921, in: VRT, Bd. 349, S. 3629f. 44 Abstimmungsergebnis in: VRT, Bd. 349, S. 3652–3654. Nur 57 der 65 DVP-Abgeordneten waren zur Abstimmung, für welche die DVP den Fraktionszwang aufgehoben hatte, erschienen, wobei von den acht Abwesenden nur Clara Mende entschuldigt fehlte.
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Kardorff, Hans von Raumer, Werner von Rheinbaben und Otto Thiel für eine Annahme des Ultimatums gestimmt – damit beschäftigt, ihr Votum in Parteikreisen zu rechtfertigen.45 Während sich ihre inhaltliche Argumentation vor allem um die damals akute Oberschlesische Frage drehte, welche die meisten der mit „Ja“ stimmenden Abgeordneten als das zentrale Motiv vorbrachten,46 interpretierte sie ihre Haltung auch im Sinne eines generellen Politikverständnisses. Sie sah, so formulierte sie in einem Artikel in der volksparteilichen Wochenschrift des DVP-Wahlkreisverbandes Magdeburg, „als aktive politische Persönlichkeit“ ihre bzw. die Aufgabe ihrer Partei nicht in einer „Abstinenzpolitik“, sondern darin, die „Verantwortlichkeit der Regierung zu teilen“: Die Deutsche Volkspartei hat immer die Pflichtnotwendigkeit zu positiver politischer Arbeit anerkannt, und ich erkläre immer und immer wieder, daß die einfache Negation kein Mittel ist, Deutschland wieder aufzubauen und vor neuem Unheil zu bewahren.47
‚Positive politische Arbeit‘ war die semantische Entgegnung auf die dogmatische Verweigerungshaltung eines großen Teils der Partei und entsprach inhaltlich der „sachlichen Opposition“, auf die Stresemann die DVP-Politik im Herbst 1921 neu auszurichten versuchte.48 Doch war dessen Taktieren während des Londoner Ultimatums durchaus widersprüchlich und im Ergebnis erfolglos gewesen,49 was diejenigen wie Kardorff-Oheimb, die sich ein entschiedenes Zurückdrängen des rechten Parteiflügels wünschten, zunehmend ungeduldig machte. Als sich nach der Ermordung von Matthias Erzberger am 26. August 1921 durch Mitglieder der „Organisation Consul“ die innenpolitischen Fronten erneut verschärften, sah sie den Moment gekommen, die generelle Regierungsfähigkeit der DVP durch eine eindeutige Abgrenzung nach rechts zu untermauern. Vierzehn Tage, nachdem Stresemann auf Anfrage der Vossischen Zeitung dort einen Artikel über die Haltung seiner Partei veröffentlicht hatte,50 meldete sich Kardorff-Oheimb an gleicher Stelle und mit Stresemanns Einverständnis51 zu Wort. Dabei bezog sie Position in zwei sensiblen Fragen, die der Parteivorsitzende wegen des hohen Konfliktpotenzials, das darüber in der DVP bestand, eher vage gehalten hatte. Zum einen distanzierte sich Kardorff-Oheimb von Ambitionen, die Wiederherstellung der 45 Vgl. Richter (2002): Die Deutsche Volkspartei, S. 236–241; Baddack (2016): Katharina von Kardorff-Oheimb, S. 196–199. 46 Vgl. Kolb / Schumann (2013): Weimarer Republik, S. 46. 47 K. v. Oheimb. „Nach der Annahme des Ultimatums“, in: Der Herold, Nr. 21, 4.6.1921. 48 Vgl. Richter (2002): Die Deutsche Volkspartei, S. 242f. 49 Vgl. Wright (2006): Gustav Stresemann, S. 188. 50 G. Stresemann: „Vor wichtigen Entscheidungen“, in: Vossische Zeitung, Nr. 404, 28.8.1921. Die Redaktion der Zeitung hatte Stresemann um Stellungnahme zu einem Beitrag Rudolf von Campes in der Kölnischen Zeitung gebeten. Darin hatte sich der Vorsitzende der preußischen Landtagsfraktion der DVP für eine explizite Anerkennung der gegebenen Verfassungsgrundlagen und ein Zusammengehen der bürgerlichen Parteien der Mitte mit der Sozialdemokratie ausgesprochen. 51 Vgl. K. v. Oheimb an Ernst Posse, 11.9.1921, in: BArch, N 1039/20, Bl. 97–99, hier 97.
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Monarchie entgegen der Weimarer Reichsverfassung erzwingen zu wollen; zum anderen und damit zusammenhängend zog sie eine klare Trennlinie zur DNVP: Das Bekenntnis der Deutschen Volkspartei zur monarchischen Staatsform als Ideal hat sie fälschlich zu einer Rechtspartei gestempelt. Dies Prinzip zu betonen, fiel aber der Deutschnationalen Volkspartei zu, die in offener Opposition gegen die Verfassung dafür eingetreten ist.52
Am Ende ihres Beitrags bezeichnete sie es als das „würdigste Ziel einer Partei, durch ihre Arbeit die vollkommenste Republik der Welt herauszubilden“. 53 Hinter ihren Ausführungen lag dieselbe Einsicht, wie sie ihr Fraktionskollege von Raumer eine Woche später in einem Brief an Stresemann formulierte: „Der Eintritt in die Regierung steht und fällt mit der Beantwortung unserer Stellung zur Republik.“ Solange sich die DVP – deren Fraktion in der Nationalversammlung 1919 gegen die Weimarer Reichsverfassung gestimmt hatte – nicht eindeutig auf den Boden der Republik stelle, werde sie „den anderen Parteien nicht vertrauenswürdig“ erscheinen und damit „[j]eder Einfluss von uns in einer möglichen Koalition […] unterbunden“. Aus diesem Grunde sprach von Raumer dem Artikel Kardorff-Oheimbs eine positive Wirkung „in den Blättern der Koalitionsparteien und im Auslande“ zu.54 Tatsächlich bezog sich der SPD-Vorsitzende Hermann Müller zehn Tage später auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Görlitz explizit auf ihren Beitrag als „Zeichen der Besserung“ in der DVP und merkte an: „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Aber wir können uns doch über diese Schwalbe freuen, die aus den Reihen der Deutschen Volkspartei aufgestiegen ist.“55 Parteiintern allerdings rief Kardorff-Oheimbs Artikel vehemente Kritik hervor,56 und als im Zuge der Völkerbundentscheidung zu Oberschlesien, die eine für Deutschland ungünstige Teilung des Gebiets empfohlen hatte, das Kabinett Wirth am 22. Oktober 1921 zurücktrat, nahm die DVP bei den anschließenden Koalitionsgesprächen erneut eine solch kompromisslose Haltung ein, dass die Bildung einer Großen Koalition auf Reichsebene scheiterte.57 Dies erfüllte auch Stresemann, der seit Monaten auf eine Regierungsbeteiligung der DVP hingewirkt hatte, mit
52 K. v. Oheimb: „Volksgemeinschaft und Staatsgedanke, in: Vossische Zeitung, Nr. 427, 10.9.1921. 53 Ebd. 54 Hans v. Raumer an Gustav Stresemann, 18.9.1921, in: PA/AA, NL Stresemann, Bd. 230. 55 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Görlitz vom 18. bis 24.9.1921, Berlin u.a. 1973 [Neudruck], S. 179 (2. Verhandlungstag, 20.9.1921). 56 Auf einer Sitzung der preußischen Landtagsfraktion der DVP am 12. September sei ihr Artikel in Gegenwart Stresemanns verlesen und „allgemein verurteilt“ worden. Hans v. Eynern an K. v. Oheimb, 13.9.1921, in: BArch, N 1039/18, Bl. 129. Auch von Mitgliedern der Reichstagsfraktion kam Protest, vgl. Dr. Most an Gustav Stresemann, 16.9.1921, in: PA/AA, NL Stresemann, Bd. 247. 57 In Preußen dagegen kam es trotz erheblicher Vorbehalte in der SPD- wie der DVP-Fraktion am 5. November 1921 zu einer Großen Koalition unter Führung des Sozialdemokraten Otto Braun, die bis zu Beginn des Jahres 1924 Bestand haben sollte.
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größtem Unmut. Dennoch stellte er sich hinter den rechten Fraktionsflügel, um den tiefen Riss, der Partei und Fraktion zu spalten drohte, zu verdecken.58 Im Ringen um die Deutungshoheit innerhalb der DVP sah Kardorff-Oheimb Ende des Jahres 1921 erneut Veranlassung, gegen die „nationalistischen Elemente, die nichts mit unserer Partei zu tun haben“,59 vorzugehen. Hintergrund war die auszugsweise Veröffentlichung eines Briefwechsels zwischen Wilhelm II. und Paul von Hindenburg in der Rechtspresse in dem offensichtlichen Versuch, die Entscheidung des Kaisers im November 1918 zur Flucht nach Holland dem Generalfeldmarschall anzulasten.60 Damit wurde zugleich die Debatte um die Staatsform erneut angefacht, wogegen Kardorff-Oheimb mit einem weiteren Beitrag in der Vossischen Zeitung intervenierte. Unter dem Titel „Der Ratgeber des Kaisers“, erschienen in der Morgenausgabe vom 23. Dezember 1921, wies sie auf die negative außenpolitische Wirkung der Veröffentlichung des sogenannten Kaiserbriefs hin und rief gegenüber diesem offenkundig monarchistischen Manöver erneut zu einer gemeinsamen Aufbauarbeit auf, bei der das Wohl des Staates über allen Streitereien ob der Staatsform zu stehen habe.61 Diese Intervention der volksparteilichen Abgeordneten verursachte – zu ihrer eigenen Überraschung – einen enormen Pressewirbel, der noch dadurch angefacht wurde, dass sich am Abend desselben Tages das offizielle Parteiorgan der DVP, die Nationalliberale Correspondenz, von den Ausführungen Kardorff-Oheimbs distanzierte.62 Mit Kommentaren in der Rechts- wie demokratischen und sozialdemokratischen Presse sowie Reaktionen bis nach Frankreich63 gewann die Angelegenheit bald den Rang einer öffentlich ausgetragenen „Oheimb-Kontroverse“.64 Zwar erhielt Kardorff-Oheimb auch Zustimmung aus den Reihen der DVP, doch überwog dort eindeutig die Kritik65, woraufhin die Abgeordnete wie schon nach den Anfeindungen infolge ihrer Abstimmung zum Londoner Ultimatum mit dem Entschluss 58 Richter (2002): Die Deutsche Volkspartei, S. 248f. 59 K v. Oheimb an Ernst Posse, 7.12.1921, in: BArch, N 1039/20, Bl. 100. 60 Kohlrausch (2005): Der Monarch, S. 340. Zum genauen Ablauf der Veröffentlichungen vgl. Hubatsch (1966): Hindenburg, S. 44f.; den Anfang machte demnach am 18.12.1921 die Deutsche Tageszeitung (Nr. 291) mit einem Abdruck des Briefs Wilhelms II. an Hindenburg vom 5. April 1921 („Deutschlands Unschuld am Weltkrieg“), ebd., S. 44. 61 Katharina v. Oheimb: „Der Ratgeber des Kaisers“, in: Vossische Zeitung, Nr. 603, 23.12.1921. Zu den Hintergründen und diskursiven Einordnungen des Artikels vgl. Kohlrausch (2005): Der Monarch, S. 374–378. Wie Kardorff-Oheimb gegenüber Ernst Posse von der Kölnischen Zeitung darlegte, sei sie von ausländischen Gesandten auf die negative Wirkung dieses Vorgangs auf die anstehende Konferenz über Reparationsfragen zwischen Deutschland und den Alliierten in Cannes (6.–13.1.1922) angesprochen und gefragt worden, „ob nicht meine Partei in der Lage wäre, […] endlich […] auszusprechen, wie unvorteilhaft die Veröffentlichung des Briefwechsels war.“ K v. Oheimb an Ernst Posse, 2.1.1922, in: BArch, N 1039/20, Bl. 101–104. 62 „Zur Feststellung“, in: Nationalliberale Correspondenz, Nr. 267, 23.12.1921. 63 Siehe gleichlautende Meldungen in den französischen Zeitungen Excelsior, Paris, La Lanterne, L’Internationale und La France Libre in: BArch, N 1039/47, Bl. 61. 64 Kohlrausch (2005): Der Monarch, S. 376. 65 Vgl. diesbezügliche Zuschriften von Januar 1922 in: BArch, N 1039/51, u.a. Bl. 17f., 21f., 24, 29 und 50.
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rang, „aus dieser Fraktion auszuscheiden“. Sie fühle immer stärker, schrieb sie Anfang 1922 an den Chefredakteur der Kölnischen Zeitung, Ernst Posse, „dass man, um wirklich jetzt politische Ziele zu verwirklichen, eine Organisation hinter sich haben muss, oder durch Geld die Fraktion beherrscht. Beides habe ich nicht.“66 Eines ihrer verfolgten politischen Ziele – das Mitregieren der DVP in einer Großen Koalition mit der SPD auch auf Reichsebene – sollte sich zwar noch während ihrer Mandatszeit realisieren, als Stresemann im August 1923 Reichskanzler wurde und sein Abbruch des ‚Ruhrkampfs‘ längerfristig eine Phase außenpolitischer und wirtschaftlicher Beruhigung einleitete. Doch wurde Kardorff-Oheimb auf dem Höhepunkt der Staatskrise im November 1923 als Mitglied der DVP-Reichstagsfraktion zugleich Zeugin, wie die innerparteiliche Rechtsopposition offen gegen Stresemann revoltierte und in der Vertrauensabstimmung des Reichstags am 23. November 1923 dem eigenen Reichskanzler die Unterstützung versagte – ein desillusionierendes Erlebnis, das sich tief in die Erinnerungen Kardorff-Oheimbs einschrieb.67 4. FAZIT Auch wenn die volksparteiliche Abgeordnete Kardorff-Oheimb nach eigener Aussage „nicht zu den Ängstlichen [gehörte], die bemüht sind, das Wort [Republik] möglichst zu vermeiden, und wenn sie genötigt sind, von diesen Dingen zu reden, gern von der jetzigen Staatsform sprechen“,68 so verwandte sie den Begriff in den von ihr überlieferten Texten doch eher selten. Die zentrale Bezugsgröße in ihrem politischen Sprachgebrauch, wie im politischen Diskurs der Weimarer Republik generell, war der „Staat“, und das in der bürgerlichen Mitte besonders stark ausgeprägte Konsensideal hing als Leitstern auch über ihren politischen Erwartungen, wenn sie zu ‚positiver Mitarbeit‘ aufrief und wiederholt die Bildung einer Großen Koalition forderte. In einer solchen Vorstellung war für das pluralistische Konkurrieren unterschiedlicher politischer Kräfte wenig Platz und wenn Kardorff-Oheimb doch einmal über demokratische Entscheidungsprozesse sprach oder schrieb, erwähnte sie im selben Atemzug die sich aus der Masse heraushebende liberale Persönlichkeit. Entsprechend inszenierte sie auch sich selbst als unabhängige, frei von Verbands- oder Parteiinteressen agierende Politikerin und nicht als loyale Dienerin einer bestimmten politischen Organisation. Dies allerdings ist auch im Zusammenhang mit ihrem eingangs konstatierten Status als Newcomerin zu sehen. Als sie 1920 in den Reichstag gewählt wurde, hatte „[k]ein Mensch außerhalb ihrer Kreise […] bisher etwas von ihr gehört,“ wie die Schriftstellerin Hildegard Felisch es 1928 66 K v. Oheimb an Ernst Posse, 2.1.1922, in: BArch, N 1039/20, Bl. 101–104. 67 Vgl. Kardorff-Oheimb [1965]: Politik und Lebensbeichte, S. 134f. Die DVP-Abgeordneten Dannemann, Hepp, Moldenhauer, Oertel, Stinnes und Vögler waren der Abstimmung demonstrativ ferngeblieben. 393. Sitzung, 23.11.1923, in: VRT, Bd. 361, S. 12290–12294. 68 Katharina v. Oheimb: „Der Wert der Reichseinheit“, Manuskript o.D. [Frühjahr 1923].
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in einem biografischen Porträt der Politikerin formulierte.69 Den Weg in die DVP hatte Kardorff-Oheimb mittels persönlicher Kontakte gefunden und war in der rechtsliberalen Partei, die sich in den ersten Jahren ihres Bestehens personell wie finanziell erst konsolidieren musste, als finanzkräftige, mit ihren Goslarer Kursen insbesondere die weibliche Wählerschaft ansprechende Kandidatin schnell in die hervorgehobene Position einer Reichstagsabgeordneten gelangt. Bei aller Aufmerksamkeit, die sie auch mittels öffentlicher Interventionen wie den hier dargestellten auf sich zog, und einem weitreichenden persönlichen Beziehungsnetzwerk zeigte sich aber gerade in Konfliktphasen ihre schwache organisatorische Verankerung. So fand ihr Bemühen um eine erneute Kandidatur bei den Reichstagswahlen im Dezember 1924 weder in ihrem früheren Wahlkreisverband Magdeburg-Anhalt noch im Reichsfrauenausschuss der DVP Unterstützung.70 Noch deutlicher wird Kardorff-Oheimbs mangelnde organisatorische Untermauerung ihres Anspruchs auf eine führende politische Rolle mit Blick auf ihre Aktivitäten im Rahmen der deutschen Frauenbewegung. Als Vereinsgründerin und Veranstalterin politischer Bildungskurse spielte sie einen sichtbaren Part in politischen Frauenkontexten der Weimarer Republik, und als 1929 der Weltbund für Frauenstimmrecht sein 25-jähriges Bestehen mit einem Internationalen Frauenkongress in Berlin feierte, trug sie als Vorsitzende des Finanz- und Repräsentationsausschusses zu seinem Gelingen bei. Faktisch aber blieb Kardorff-Oheimbs Präsenz in der organisierten Frauenbewegung auf repräsentative Funktionen und damit auf ihre Rolle als prominente Frau im politischen Berlin beschränkt. Von ihr unternommene Versuche, in die Vorstände des Bundes Deutscher Frauenvereine oder des Deutschen Staatsbürgerinnenverbandes aufgenommen zu werden, scheiterten, denn ein Vordringen in den inneren Zirkel der Frauenbewegung, ohne zuvor auf lokaler oder regionaler Verbandsebene beständig ‚gedient‘ zu haben, war nicht bewegungskonform.71 Ohnehin war die Frauenbewegung für Kardorff-Oheimb nur eines von mehreren Feldern, auf dem sie sich als Politikerin zu entfalten suchte. Mit einem eher pragmatischen denn theoretischen Verständnis von Politik ausgestattet und in der Regel situativ agierend, setzte sie sich weder mit zeitgenössischen Demokratiediskussionen auseinander noch fühlte sie sich der Staatsform „Republik“ aus einem tieferen Verständnis heraus verbunden.72 Den ‚massendemokratischen‘ Erscheinungen ihrer Zeit stand Kardorff-Oheimb verständnislos gegenüber und wusste angesichts der Zersplitterung der bürgerlichen Parteienmitte nichts anderes zu tun, als an dem längst zur Utopie zerronnenen Modell einer ‚bürgerlichen Sammlung‘, in dem sich antisozialistische Ressentiments und bürgerliches Elitedenken gleichermaßen bewahrten, festzuhalten – wobei sie angesichts der männlichen Dominanz im Reichstag wie in den bürgerlichen Parteien zunehmend auf Frauen als Motor einer solchen Sammlung setzte. 69 70 71 72
Felisch (1928): Die deutsche Frau, S. 380. Vgl. Baddack (2016), Katharina von Kardorff-Oheimb, S. 264–267. Vgl. Baddack (2015): Bewegte Frau. Vgl. Gusy (2002): Demokratisches Denken, S. 11f.
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Lässt sich Kardorff-Oheimb auch nicht als „demokratische Persönlichkeit“ im Sinne eines entsprechend fundierten Politikverständnisses bezeichnen, so ordnete sie sich als eine der bekanntesten Politikerinnen der Weimarer Republik gegenüber systemfeindlichen Kräften zweifelsohne ins republikanische Lager ein und brachte sich auf verschiedene Art und Weise für ein Funktionieren des Weimarer Parlamentarismus ein: durch ihren Einsatz im Bereich staatsbürgerlicher Erziehung, das Vermitteln von Frauenforderungen in Kreisen, die der Bewegung eher fernstanden, das Mitgestalten politischer Kommunikationsräume über Parteigrenzen hinweg und durch öffentliche Interventionen, mit denen sie wie beschrieben gegen antirepublikanische Manöver von rechts vorging. Dabei verweisen ihre verschiedenen Aktivitäten auf solche politische Soziabilitätsformen, die quer zur Parteienlandschaft im Berliner Politikbetrieb existierten. Im Changieren zwischen Partei und Parlament, Frauenbewegung und Publizistik, Politik und gesellschaftlicher Repräsentation lässt sich die Reichweite des Beziehungsnetzes, das Kardorff-Oheimb mit der politischen und publizistischen Prominenz der Hauptstadt verband, zumindest erahnen – und steht für das Vorhandensein einer lebendigen und konstruktiven Kommunikationskultur jenseits der oft beschriebenen Grenzziehungen entlang parteipolitischer Fragmentierung und Polarisierung der Weimarer Gesellschaft. QUELLEN Bundesarchiv (BArch): Nachlass Katharina von Kardorff-Oheimb (N 1039) Reichslandbund-Pressearchiv / Sammlung Personalia (R 8034-III), Bände 337, 338: Artikel von und über Katharina von (Kardorff-)Oheimb Institut für Stadtgeschichte (ISG), Frankfurt am Main: Magistratsakten Kardorff, Katharina von: Brauchen wir eine Frauenpartei? In: Ada Schmidt-Beil (Hrsg.): Die Kultur der Frau. Eine Lebenssymphonie der Frau des XX. Jahrhunderts, Berlin 1931, S. 364–376. Kardorff-Oheimb, Katharina von: Politik und Lebensbeichte, hrsg. von Ilse Reicke, Tübingen o. J. [1965]. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA/AA): Nachlass Gustav Stresemann (NL Stresemann) Privatarchiv (PrA) Christoph Ackermann, Hamburg Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Görlitz vom 18. bis 24.9.1921, Berlin u.a. 1973 [Neudruck]. Stadtarchiv (StA) Goslar: Bestand Forstamt, Zg. 5/63 Verhandlungen des Reichstags (VRT) 1. Wahlperiode 1920. Stenographische Berichte. Bd. 349: Von der 90. Sitzung am 19. März 1921 bis zur 115. Sitzung am 16. Juni 1921, Berlin 1921; Bd. 361: Von der 378. Sitzung am 8. August 1923 bis zur 411. Sitzung am 13. März 1924, Berlin 1924.
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LITERATUR Baddack, Cornelia: Katharina von Kardorff-Oheimb (1879–1962) in der Weimarer Republik. Unternehmenserbin, Reichstagsabgeordnete, Vereinsgründerin, politische Salonnière und Publizistin (L’Homme Schriften. Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft, Bd. 23), Göttingen 2016. Baddack, Cornelia: Zäsuren, Leerstellen und Wiederanknüpfungsversuche. Zur Biografie der liberalen Politikerin Katharina von Kardorff-Oheimb (1879–1962) nach 1933. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 28 (2016), S. 287–314. Baddack, Cornelia: Bewegte Frau am Rande der Frauenbewegung. Die Politikerin Katharina von Kardorff-Oheimb (1879–1962) in der Weimarer Republik. In: Ariadne 67–68 (2015), S. 90– 98. Blasius, Dirk: Ehescheidung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992. Dinghaus, Angela: Frauenfunk und Jungmädchenstunde: ein Beitrag zur Programmgeschichte des Weimarer Rundfunks, Hannover 2002. Elsbach, Sebastian: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik (Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 10), Stuttgart 2019. Felisch, Hildegard: Die deutsche Frau, Berlin 1928. Fritsch, Werner: Kartell Republikanischer Verbände Deutschlands (KRVD) 1931–1933. In: Dieter Fricke (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), Bd. 3, Leipzig 1985, S. 179–181. Gusy, Christoph: Einleitung: Demokratisches Denken in der Weimarer Republik – Entstehungsbedingungen und Vorfragen. In: Ders. (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 11–36. Hubatsch, Walther: Hindenburg und der Staat. Aus den Papieren des Generalfeldmarschalls und Reichspräsidenten von 1878 bis 1934, Göttingen 1966. Kardorff, Katharina von: Die Frau im modernen Staat. In: Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918– 1928, Berlin 1928, S. 525–534. Kohlrausch, Martin: Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005. Kolb, Eberhard / Richter, Ludwig (Hrsg.): Nationalliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Volkspartei 1918–1933. Erster Halbband 1918–1925, Düsseldorf 1999. Kolb, Eberhard / Schumann, Dirk: Die Weimarer Republik. 8. Aufl., München 2013. Lewin, Ludwig: Zur Geschichte der Lessing-Hochschule 1914–1933. In: Berliner Arbeitsblätter für die deutsche Volkshochschule, Nr. 11 (1960), S. 1–48. Postert, André: Klubs gegen Parteien. Geschichte eines politischen Modells in der Zwischenkriegszeit. In: Frank-Michael Kuhlemann / Michael Schäfer (Hrsg.): Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke. Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation 1890–1960, Bielefeld 2017, S. 169–187. Raithel, Thomas: Funktionsstörungen des Weimarer Parlamentarismus. In: Föllmer, Moritz / Graf, Rüdiger (Hrsg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 2005, S. 243–266. Richter, Ludwig: Die Deutsche Volkspartei 1918–1933, Düsseldorf 2002. Wilhelmy, Petra: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914), Berlin / New York 1989. Wright, Jonathan: Gustav Stresemann 1878–1929. Weimars größter Staatsmann, München 2006.
SOZIALSTRUKTUR UND INDIVIDUELLE PRAXIS Zur Verortung des (Sozial-)Demokraten Friedrich Wilhelm Wagner Andreas Marquet 1. EINLEITUNG Friedrich Wilhelm Wagner gehörte zu jenen Demokraten und Verteidigern der Weimarer Republik, von denen es gelegentlich heißt, sie seien zu wenige gewesen – zumindest, so der ex post gewählte Bezugsrahmen –, um die Republik vor dem Untergang zu bewahren. Lehren hatte Wagner aus dem Scheitern von Weimar und der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten gezogen und vertrat sie im Verfassungsgebungsprozess als Mitglied des Parlamentarischen Rates mit von transnationalen Erfahrungen seiner Exiljahre geprägtem Nachdruck. Politisch war er nie reichs- bzw. bundesweit in die erste Reihe der sozialdemokratischen Politiker_innen vorgedrungen. Gleichwohl war er Führungsfigur der pfälzischen SPD und nahm eine Transmissionsstellung zwischen Berlin/ Bonn und seiner Heimatstadt Ludwigshafen am Rhein ein. Friedrich Wilhelm Wagner war als Politiker und sozialdemokratischer Funktionär mittlerer Reichweite von entscheidendem Einfluss auf die regionalen innerparteilichen Willensbildungsprozesse bis hin zur Haltung gegenüber die Weimarer Republik existenziell betreffenden Fragen. Insofern stellt Wagner ein Beispiel jener Demokrat_innen dar, die abseits der auf bekanntere Persönlichkeiten gerichteten Aufmerksamkeit im Einsatz für die Republik von Weimar wie von Bonn waren.1 Wagners Eintreten für die Demokratie bildet daher einen Interessenschwerpunkt, der insbesondere als Beitrag verstanden wird, die Auseinandersetzung mit anderen Persönlichkeiten zu schärfen. Dies müssen weder notwendig Sozialdemokrat_innen, noch, allgemeiner, Demokrat_innen gewesen sein. Gerade auch Republikgegner_innen lassen sich kontrastieren und damit in ihrer negativen Wirkungsmächtigkeit darstellen. Ein Gruppenbild der zweiten politischen Reihe muss Persönlichkeiten wie Wagner in den Blick nehmen. Dies führt zu einem weiteren Erkenntnisinteresse dieses Beitrags: die soziostrukturelle Verortung Wagners. Gefragt wird nach Zusammenhängen, Determinanten und Ermöglichungen einer Biografie, die ihrer Anlage nach zunächst typisch 1
Ein Anschluss an Ansätze, den konzeptionellen Zugang der Elitenforschung in die Geschichtswissenschaft einzubringen, erscheint an dieser Stelle lohnenswert, kann jedoch im Rahmen dieser Ausführungen nicht weiter verfolgt werden. Vgl. Seemann (2004): Konzept der „Elite(n)“.
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für eine Familie aus der großstädtischen Industriearbeiterschaft der Jahrhundertwende zu stehen scheint. Dabei ist das bereits früher ausformulierte Motiv des sozialen Aufstiegs von entscheidender Bedeutung.2 Damit wird zugleich das Verhältnis von Individuum und sozialen Konfigurationen verhandelt, dessen Ausleuchtung idealiter über Wagner hinaus Erklärungskraft beanspruchen kann. Sicher bestimmten zudem Strukturen, Prägungen und Dispositionen der pfälzischen Sozialdemokrat_innen ganz wesentlich einerseits Wagners Parteikarriere selbst wie auch die Reaktionen auf seine Rolle als Transmissionsriemen zur Reichs-/ Bundespolitik. Insofern ergibt sich ein doppelter Begründungszusammenhang zur Einordnung Wagners. Dies geschieht zunächst unter Rekurs auf das sozial-moralische Milieu nach M. Rainer Lepsius, um Wagners Herkunft und frühe Lebensumstände aufzuzeigen. Mit dem von Karl Mannheim entwickelten Generationenkonzept steht eine weitere, ergänzende Perspektive zur Verortung des Individuums im sozialen Raum zur Verfügung, die sich auf milieuunabhängige soziale Konfigurationen bezieht. Wie sich Wagners sozialer Aufstieg manifestierte, soll anhand der zentralen Kategorien Habitus, Feld und Kapital nach Pierre Bourdieu darüber hinaus genauer beleuchtet werden. Abschließend werden wesentliche Ergebnisse zum Verhältnis von Struktur und Individuum am Beispiel Wagners als mögliche Bezugsgrößen und Muster über den Einzelfall hinaus dargestellt. 2. SOZIO-STRUKTURELLE VERORTUNG: MILIEU, FELD UND GENERATION Als Friedrich Wilhelm Wagner am 28. Februar 1894 in Ludwigshafen am Rhein geboren wurde, wohnte die Familie im Stadtteil Hemshof, der als an das Fabrikgelände der BASF angrenzendes Quartier typische Züge großstädtischer Arbeiterstadtteile aufwies. Obwohl verhältnismäßig wenig Fläche beanspruchend, sorgten enge Bebauung und starke Überbelegung ihrer Wohnungen für ein dichtes und sozial homogenes Gefüge von in der Regel männlichen und vielfach ungelernten Fabrikarbeitern und Tagelöhnern.3 Zur Jahrhundertwende teilten sich 45 % der Ludwigshafener Bevölkerung eine Wohnung von zwei, gelegentlich drei Zimmern, was einer Durchschnittsbewohnerzahl von 6,4 entspricht. In absoluten Zahlen ausgedrückt, waren dies etwa 28.000 Menschen – bei einer Gesamtbevölkerung von 62.000 Menschen.4 Der Trend ging ohnehin zum starken Wachstum, 1922 wurde die Großstadtgrenze von 100.000 Einwohner_innen genommen.5 Das räumliche Umfeld ist durch die sich u.a. in massiver Wohnungsnot auswirkenden Wachstumsschmerzen einer Industriestadt nur unzureichend gekennzeichnet. Die BASF und die sie umgebenden Arbeiterstadtteile, insbesondere der Hems 2 3 4 5
Braun (1999): Wagner. Vgl. Breunig (1990): Soziale Verhältnisse, S. 104–109. Vgl. ebd., S. 69 sowie S. 742; Hippel (2003): Ludwigshafen im Kaiserreich, S. 585. Vgl. Fauck (1989): Ludwigshafen in Daten, S. 82.
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hof, konzentrierten die Interessen von Kapital und Arbeit auf engstem Raum. Neben Stadt und BASF wuchs freilich auch die Arbeiterbewegung, die in Ludwigshafen ihren Sitz für die pfälzische Gliederung nahm. Der Vater von Friedrich Wilhelm Wagner, Friedrich Wagner, war „Hemshöfer“, Arbeiter in der BASF und Mitglied der SPD. Der 1866 Geborene gehörte zu jenen Sozialdemokraten, die am Vorabend der Jahrhundertwende in den Ludwigshafener Stadtrat einzogen und damit den Aufstieg der lokalen Arbeiterbewegung maßgeblich vorantrieben. Friedrich Wagner hatte noch die Bismarcksche Verbotszeit unter dem Sozialistengesetz erlebt und unter Führung des etwas älteren Franz Josef Ehrhart als Teil einer gerade zehn Jahre umfassenden Kohorte eine erste Parteiführungsgeneration, die als „verlängerte Pioniergeneration“6 bezeichnet werden kann, mit ausgeprägt. Mit Josef Huber, dem Bruder von Friedrich Wilhelms Mutter Elisabeth, war zudem ein weiterer Parteipionier und herausgehobener Politiker Teil der Familie. Josef Huber war mehr als 21 Jahre lang Abgeordneter des bayerischen Landtags und von 1909 bis 1912 Mitglied des Reichstags.7 Friedrich Wilhelms familiäre Situation wie auch die Wohn- und Lebensverhältnisse waren also in hohem Maße von der Industriearbeit und ihren sozialen wie politischen Folgen geprägt. Er wuchs tief verwurzelt im sozialistischen Milieu auf, das die gesamte Lebenswelt der Arbeiterschaft einschloss und sich klar vom katholischen, dem liberal- sowie dem konservativ-protestantischen Milieu abgrenzte. Mitglieder von Milieus teilen gemeinsame Weltanschauungen, Normen und Werte und verfügen über ähnliche sozio-strukturelle Eigenschaften. Politische Exponent_innen können in diesem Sinn als Interessenwahrer_innen verstanden werden, die nicht jeweiligen Partikularinteressen verpflichtet waren, sondern dem jeweiligen Milieu. Von zentraler Bedeutung ist die Verbindung von Parteien und Politiker_innen mit dem Milieu, dessen Existenz hierdurch stabilisiert und konserviert wird. Dies lässt für politische Kompromisse und Entgegenkommen wenig Raum.8 Die Verwurzelung Wagners innerhalb des sozialistischen Milieus war somit typisch und keineswegs eine spezielle Prägung, die ihm sein politisch aktives Elternhaus vermittelt hätte. Gleichwohl hatte er zweifelsohne bereits in jungen Jahren einen direkten Einblick in politisches Engagement, das mindestens doch etwaiger Distanz gegenüber politischen Arenen entgegengewirkt haben dürfte. Die Folgen politischen Handelns wurden für die gesamte Familie Wagner in den 1890er Jahren spürbar, als Friedrich Wagner – mutmaßlich, weil er eine SPDVeranstaltung geleitet hatte – von der BASF entlassen wurde.9 Das daraufhin zur Sicherung des Lebensunterhalts eröffnete Einzelhandelsgeschäft warf offenbar einen deutlich höheren Gewinn als die Lohnarbeit in der Chemiefabrik ab. Sicher 6 7 8 9
Vgl. Marquet (2010): Generation Ludwigshafener Sozialdemokratie, S. 303. Vgl. Breunig (1990): Soziale Verhältnisse, S. 686–688. Vgl. Lepsius (1966): Parteiensystem und Sozialstruktur sowie Hübinger (2008): Milieu als Grundbegriff, S. 209. Die Quellenlage ermöglicht keine genaueren Konkretisierungen zu Zeitpunkt und genauen Umständen. Vgl. hierzu die Quellenlage und den Forschungsstand zusammenfassend Marquet (2015): Wagner politische Biografie, S. 26–27.
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nicht zufällig hatte Friedrich Wagner das Geschäft im Hemshof eröffnet, wo die Arbeiterschaft den politischen Einsatz honorierte. Der wirtschaftliche Erfolg war zugleich Grundlage für Friedrich Wilhelms sozialen Aufstieg, da ihm der Besuch einer Oberrealschule ermöglicht wurde. Mit der Immatrikulation an einer Universität 1913, um Rechts- und Staatswissenschaften zu studieren, war zugleich ein gesellschaftlicher Übertritt verbunden. Hatte sein Onkel Josef Huber noch typisch sozialdemokratische Wanderjahre verbracht, wechselte Wagner seine Wohnorte in Verbindung mit den von ihm besuchten Universitäten von Heidelberg, Tübingen, München und Berlin. Er traf auf Kommiliton_innen, die anderen Milieus entstammten und war zugleich außerhalb des Einflussbereichs seines sozialdemokratischen Elternhauses. Die versiegelt erscheinenden lebensweltlichen Grenzen waren endgültig aufgebrochen und führten ihn in ein anderes soziales Feld. Hierunter kann nach Pierre Bourdieu ein gesellschaftlicher Ausschnitt, ein sozialer Raum, begriffen werden, der durch Strukturen angelegt und von anderen abgegrenzt ist. Die inneren Logiken sozialer Felder manifestieren sich im Habitus, der zu homogenen sozialen Praktiken und Dispositionen führt. Dabei ist das Konzept des Habitus nicht in einem deterministischen Sinn unveränderlich konzipiert. Betreten Personen ein für sie neues soziales Feld, werden sie unweigerlich mit habituell fremden Praxisformen konfrontiert und setzen sich mit diesen auseinander, wodurch Anpassungsprozesse evoziert werden.10 Im Fall von Wagner weist das soziale Feld der Wissenschaft erhebliche Distanz zum sozialistischen Milieu auf, die auch als Spannung oder dialektische Herausforderung angesehen werden kann. Die weitgehend von höheren staatlichen Bildungseinrichtungen ausgeschlossene Arbeiterbewegung hatte sich milieuspezifische Bildungszugänge wie etwa Bibliotheken und Bildungskurse geschaffen. Die Blüte des Arbeiterkulturlebens – und hier insbesondere mit Blick auf Bildungsangebote – kann als Reaktion auf den Ausschluss aus bürgerlichen Vereinigungen bzw. die unüberwindbaren Hürden beim Zugang zu staatlichen Institutionen begriffen werden, zumal gerade Bildungsinstitutionen zur Vererbung sozialer Ungleichheit beitrugen. Zudem manifestierte sich die emanzipatorische Leitidee der Arbeiterbewegung in einem humanistischen Bildungsideal. Für den politischen Kampf war ein gewisses Maß an Bildung ohnehin geboten.11 Mithin genoss Bildung – und hierunter wird Wissenschaft an dieser Stelle als höhere Ausprägungsform subsumiert – einen besonderen Stellenwert für die Arbeiterbewegung. Schon beim Besuch der Oberrealschule muss Wagner auf Kinder aus bürgerlichen Elternhäusern getroffen sein, denen andere Einstellungen und Werte vermittelt worden sind. Er hatte sich offenbar in dieses Umfeld gut eingefunden und hielt 1913 die Abschiedsrede seines Jahrgangs.12 Insofern war es für den Studenten Wagner keine gänzlich neue Situation, sich in bürgerlichen Kreisen zu bewegen. Dass er 10 Vgl. Barlösius (2006): Bourdieu, S. 84–94; Schwingel (1998): Bourdieu Einführung, S. 69–75. 11 Vgl. Wunderer (1980): Arbeitervereine, S. 34–38. 12 Vgl. Marquet (2015): Wagner politische Biografie, S. 35.
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dies mit Erfolg tat, dokumentiert ein Foto, das ihn im Kreis von Verbindungsstudenten zeigt. Mittig auf einem der wenigen Stühle sitzend nimmt er eine auf dem Bild zentrale Position ein. Dies war bei einem aufwendig inszenierten Gruppenbild mit insgesamt 13 Personen sicher kein Zufall.13 Die Gepflogenheiten, den Habitus des Universitätslebens, so scheint es, hatte er angenommen und inkorporiert.
Abb. 1: Wagner als Student, sitzend in der Bildmitte [Stadtarchiv Ludwigshafen, N 25, Nr. 192]
Mit dem Beispiel von der Abschlussrede ist ein weiteres Themenfeld gestreift, das bislang nicht beachtet wurde: Wagners individuelle Voraussetzungen und Fähigkeiten. So ist eine Anekdote überliefert, wonach Wagner als Jugendlicher Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation aus der elterlichen Wohnung zum Hinterhaus vortrug. Unverständnis war die Reaktion darauf.14 Über die Parteigrenzen hinweg wurde ihm rhetorisches Geschick attestiert. Carlo Schmid urteilte in seinen Memoiren gar, Wagner sei „der feurigste Sprecher der SPD-Fraktion“ im Deutschen Bundestag gewesen. „Seine Eloquenz“, so Schmid weiter, hatte „gelegentlich etwas von der Beredsamkeit, die Don Quichotte in der verzauberten Schenke entfaltete, aber man liebte diesen aufrechten Demokraten“15 Wagner brachte das mit, was mit Talent oder Begabung treffend umschrieben werden kann.
13 Wagner selbst hat sich 1962 allgemein in dem Sinn geäußert, niemals einer studentischen Verbindung angehört zu haben. Er habe kurzzeitig über einen Beitritt nachgedacht, dann jedoch aus Distanz gegenüber monarchistischen Bestrebungen in zumindest einem Einzelfall auf Geheiß seines Vaters davon abgelassen. Vgl. Marquet (2015): Wagner politische Biografie, S. 38. 14 Vgl. Marquet (2015): Wagner politische Biografie, S. 34. 15 Schmid (1979): Erinnerungen, S. 410.
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Dazu kam noch ein ebenfalls erkennbar stark ausgeprägtes Maß an Aufstiegswillen und Ehrgeiz. Bildung war während des Ersten Weltkriegs für Wagner von entscheidender Bedeutung, da er das Privileg des Einjährig-Freiwilligen genoss. So blieben ihm die Gräuel des Stellungskrieges erspart. Stattdessen setzte er sein wiederholt durch Hilfsdiensteinsätze in der Stadtverwaltung Ludwigshafen unterbrochenes Studium fort und schloss 1919 mit dem Staatsexamen bzw. 1922 mit der Zulassung beim Ludwigshafener Amts- und Handelsgericht seine berufliche Ausbildung ab. Leistete Wagner seine Arbeiten im Rahmen des Hilfsdienstgesetzes zunächst im statistischen Amt der Stadtverwaltung ab, erwuchs daraus seit 1917 die Leitung des kommunalen Brennstoffamtes, eine 100 Mitarbeiter_innen umfassende Behörde, die die Kontingentierung und Zuweisung von Brennstoffen für Industrie und Bevölkerung organisierte. Hieran lässt sich zweierlei festmachen: Einem Studenten von 23 Jahren diese Leitungsfunktion anzuvertrauen, lässt auf großes Vertrauen in dessen Geschicke schließen. Weiter deuten die Hintergründe dieser Amtsübernahme an, dass Wagner von seinen Genossen in den entscheidenden kommunalen Ausschüssen vorgeschlagen und wohl protegiert wurde.16 Dieses Beispiel zeigt auch, wie – in diesem Fall: soziales – Kapital nach Bourdieu erfolgreich eingesetzt werden kann. Inwiefern Wagner selbst bereits hinreichend vernetzt oder aber sein familiärer Hintergrund entscheidend war, kann – und muss – freilich nicht aufgelöst werden. Dass Wagner als junger Hoffnungsträger der lokalen SPD angesehen wurde, wird daran deutlich, dass er 1920 zu ihrem Vorsitzenden gewählt wurde. Er war zu diesem Zeitpunkt gerade 26 Jahre alt und die Ludwigshafener SPD war die größte und bedeutendste Parteigliederung in der gesamten Pfalz. Die genaueren Umstände, unter denen Wagner zum Vorsitzenden gewählt wurde, müssen ebenso unklar bleiben, wie seine Aufgabe des Postens nach zwei Jahren. Ebenfalls 1920 wurde er Mitglied der pfälzischen SPD-Bezirksleitung, der er bis 1933 ununterbrochen angehörte.17 Insofern könnte sich der noch im Vorbereitungsdienst befindliche Wagner, der formal zudem noch bis 1924 als Leiter des allerdings weitgehend in seiner Bedeutung geminderten Brennstoffamtes fungierte, unter dem Eindruck der Ämterhäufung vom Vorsitz der Ludwigshafener SPD zurückgetreten sein. Wagners Vorrücken in die erste Reihe der Ludwigshafener SPD war auch Baustein eines generationellen Veränderungsprozesses, in dessen Zuge die Parteipioniere in den frühen 1920er Jahren die Plätze für die Jüngeren räumten. Die mehr oder weniger im Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende geborenen Nachrücker hatten am Ersten Weltkrieg teilgenommen. Topoi vom Militärischen und, in den späten Jahren der Republik, vom Bürgerkrieg, wirkten als Übersetzungen des Politischen nach, weshalb der Erste Weltkrieg generationelle Prägekraft entfaltete. Auch die nach 1900 Geborenen konnten trotz ihrer Nicht-Teilnahme direkte Bezüge zum Ersten Weltkrieg entwickeln, die sich generationell prägend als Generations-
16 Vgl. Marquet (2015): Wagner politische Biografie, S. 40–42. 17 Vgl. ebd., S. 52–53.
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zusammenhang nach Karl Mannheim, als gemeinsamer Erfahrungshorizont, auswirkten.18 Als „weltkriegsbelastete Generation“19 fiel das politische Wirken der Ludwigshafener Genossen in die Zeit der krisengeschüttelten Weimarer Republik. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurden die politischen Wirkungsmöglichkeiten auf Widerstand und Exil reduziert. Die NS-Zeit stellt daher eine biografische Unterbrechungskategorie dar, auf die in der Nachkriegszeit die Wiederaufnahme der Tätigkeit folgte. Neben der politischen Tätigkeit ging Wagner stets seinem Beruf als Rechtsanwalt in Ludwigshafen nach. Die formalen Voraussetzungen hatte er in Form von Prüfungen und Zeugnissen hinreichend erfüllt, er hatte kulturelles Kapital angehäuft. Seine florierende Anwaltspraxis war Garant dafür, dieses Kapital auch in ökonomisches zu konvertieren. Wagner genoss einen auskömmlichen Lebensstil, verfügte über Kanzlei und eigenes Haus in besten Lagen der Stadt. Sein sozialer Aufstieg manifestierte sich nicht zuletzt auch in seinem äußerlichen Auftreten. Dass hierin ein Gegensatz zu wesentlichen sozio-ökonomischen Variablen des Arbeitermilieus liegt, machten sich die Nationalsozialist_innen in ihren politischen Kampagnen zu eigen. Sie desavouierten Wagner als „Seidenwilli“, der eine Villa und ein Auto besaß. Zudem bemühten sie das Narrativ vom vaterlandslosen Gesellen mit Blick auf seine Tätigkeiten während des Ersten Weltkriegs sowie missglückte Loslösungsbestrebungen der Pfalz von Bayern innerhalb des Reichsverbandes, die ihm und seinen Mitstreitern als Separatismus ausgelegt wurden.20 In diesem Zusammenhang zeigt ein Flugblatt, dessen Urheber_innen unbekannt sind, dass beide Themen miteinander verknüpft wurden und dabei Wagners Integrität als Sozialdemokrat infrage gestellt wurde. So wurde ihm parasitäres Verhalten auf Kosten der Arbeiterschaft vorgeworfen. Aus dem Pamphlet lassen sich Begriffspaare als Gegensätze destillieren wie „von Ehrgeiz schwindsüchtig gewordene(s), größenwahnsinnige(s) Bürschlein“ und „aufgeblasener Bourgeois“ gegen „arme Proletarier“ und „deutscher Sozialdemokrat“, wobei der Kontext des letzten Begriffs keinerlei pejorative Konnotation erkennen lässt.21 Wagners Aufstieg wurde also instrumentalisiert und selbst zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Tatsächlich hatte sich Wagners Werdegang zu diesem Zeitpunkt schon deutlich von typischen Partei- und Funktionärskarrieren der SPD unterschieden. Er hatte keine Funktion wie Parteisekretär oder Journalist eingenommen, war auch nicht von sozialdemokratischen Mehrheiten abhängig, die ihm Zugang zu öffentlichen Ämtern verschafft hätten. Es bestand keine wechselseitige Beziehung von bezahltem Parteiamt und freiem Mandat, wie dies bei vielen seiner Genoss_innen üblich war.22 18 Vgl. Mannheim (1928): Problem der Generationen; Giesen (2003): Generation und Trauma. 19 Marquet (2010): Generation Ludwigshafener Sozialdemokratie, S. 304–308. 20 Vgl. Marquet (2015): Wagner politische Biografie, S. 133–134. Hier auch der Hinweis auf die Originalfundorte. 21 Vgl. ebd., S. 65. Hier auch der Hinweis auf die Originalfundorte. 22 Schröder (2001): Sozialdemokraten in Reichs- und Länderregierungen hat kollektivbiografisch herausgearbeitet, wie eng in der Regel die Verflechtung von Partei- und Staatsamt war. Diese Erkenntnisse können auch auf Wagner übertragen werden.
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Wagners wirtschaftliche Existenz war grundlegend von seiner Position in der SPD unabhängig, was ihm auch eine eigenständige politische Haltung ermöglichte. Mit der Ausübung des Anwaltsberufs zeichnet sich eine Kontinuität ab. So war Wagner beruflich zeitlebens in einem sozialen Feld tätig, das nicht typisch für das sozialistische Milieu war. Die Kollegenschaft, die Gepflogenheiten und Umgangsformen, Anschauungen und Bewertungsdispositionen waren im Gegenteil bürgerlicher Prägung. Insofern mag in den Verbalinjurien der Nationalsozialist_innen auch der Bezug auf Wagners habituelle Erscheinung zum Ausdruck kommen, die neben der politischen Gegnerschaft auch auf eine Diskrepanz hinweist, die sich im Habitus ausdrückt. 3. FUNKTIONÄR MITTLERER REICHWEITE Durch den Tod des Kaiserslauterer Reichstagsabgeordneten Johannes Hoffmann 1930 rückte Wagner in den Reichstag nach. Er war damit endgültig zum führenden pfälzischen Sozialdemokraten aufgestiegen. Kurz zuvor, im August 1930, hatte er eine hierfür entscheidende Hürde genommen, indem er eine Kampfabstimmung gegen den Parteilinken und in der Vergangenheit vor Wagner platzierten Gerhard Jacobshagen um den zweiten Listenplatz hinter Hoffmann für sich entschieden hatte. Die Hintergründe dieser Vorgänge sind nicht gänzlich aufgeklärt und lassen Raum für den Eindruck, dass gegen Jacobshagen gezielt vorgegangen wurde. Der zumindest nach außen als neutraler Gastredner auftretende Wilhelm Dittmann bezog Stellung zu den vorgeschlagenen Kandidat_innen. Inwiefern Dittmann überhaupt ein qualifiziertes Urteil über seine pfälzischen Genoss_innen abgeben konnte, ist zumindest fraglich. In diesem Kontext interessant ist jedoch seine Empfehlung für Wagner, die er auch an seinem Beruf festmachte. Die SPD-Fraktion verfüge nur über sehr wenige Jurist_innen, so Dittmann. Der Rechtsanwalt Wagner wurde denn auch Mitglied des Strafrechtsausschusses. Die Auflösungen des Reichstags und die damit verbundene eingeschränkte Arbeitsweise des Parlaments wie seiner Ausschüsse setzten Wagners parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten jedoch enge Grenzen.23 Als sozialdemokratischer Funktionär und vor allem als gefragter Redner war er hingegen durchgehend aktiv. So war er bei der Gründung des pfälzischen Gaus des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold beteiligt. Wahrscheinlich um die Überparteilichkeit des faktisch stark sozialdemokratisch dominierten Reichsbanners auch öffentlich zu unterstreichen, wurde der Liberale Richard Müller (DDP) zum Vorsitzenden gewählt, während Wagner sein Stellvertreter wurde. Wagner war neben dem in organisatorischen Fragen zuständigen Gausekretär Adolf Schumacher der umtriebigste Reichsbannerfunktionär. Als Müller 1927 nicht mehr zur Wiederwahl als Vorsitzender antrat, folgte ihm Wagner nach – ein Amt, das er bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ausüben sollte.
23 Vgl. ebd., S. 98–108.
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Der flächendeckende Auf- und Ausbau der Organisation lief schleppend, was Wagner offenbar an der Notwendigkeit des Republikschutzes nicht zweifeln ließ. 1929 hatte er zudem die Leitung des pfälzischen Büros der Republikanischen Beschwerdestelle übernommen, um auch auf dem Beschwerde- und Klageweg der Verletzung des Rechtsstaates entgegenzuwirken.24 Als Reichsbanner- wie als Parteifunktionär setzte sich Wagner früh mit den Gefahren des Nationalsozialismus auseinander, warnte vor dessen Verharmlosung und forderte: „Wachsamkeit ist erste Pflicht des Republikaners.“25 Die Auseinandersetzung mit den Nationalsozialist_innen fand in erster Linie als Reaktion auf Ereignisse statt und hatte oftmals abwehrenden und das Errungene bewahrenden Charakter. Doch formulierte Wagner, wie etwa im Zusammenhang mit der Volksabstimmung zur Fürstenenteignung 1926, auch offensive Plädoyers für die Republik, die das überkommene monarchistische System abgelöst habe.26 Die Funktion Wagners als Transmissionsriemen zwischen politischer Kapitale und Provinz lässt sich an der Debatte um die Tolerierung des Präsidialkabinetts unter Heinrich Brünings Kanzlerschaft nachzeichnen. In einem Grundsatzreferat zur allgemeinen politischen Lage warb Wagner auf dem Bezirksparteitag der pfälzischen SPD im April 1931 vor dem Hintergrund sich erneut verschärft darstellender Diskussions- und Abspaltungsprozesse innerhalb der politischen Linken, in deren Kontext die SAP gegründet worden war, für die offizielle Parteilinie. Bereits der Titel seiner Rede deutet seine Funktion als Mittler zwischen dem Vorstand und nachgeordneter Gliederung an, da explizit auf die zu vermittelnde „Taktik“27 der Partei abgehoben wurde. Der inhaltliche Argumentationsstrang folgte der Parteilinie und warb darum, die Entscheidung angesichts der zur Macht strebenden Nationalsozialist_innen als einzig verantwortbare Alternative zu begreifen. Hierfür forderte er unbedingte „Parteidisziplin“28 ein, die vom pfälzischen Bezirksausschuss in einer eigens verabschiedeten Resolution erneut proklamiert wurde. Gleichwohl weisen die Berichte über weitere Parteiveranstaltungen auf kritische Diskussionen hin, die die Tolerierungspolitik infrage stellten. Trotz der keineswegs unhinterfragten Haltung stützte die pfälzische SPD zu übergroßen Teilen den Kurs der Reichstagsfraktion, von einigen Abweichler_innen abgesehen.29 Die Rolle Wagners in diesem beispielhaft ausgewählten Prozess zu beurteilen, kann jedoch nicht ohne Rekurs auf die Parteitradition erfolgen. Die pfälzische SPD, als der bayerischen SPD zugehörig, jedoch vom übrigen Staatsgebiet abgetrennt, wurde seit ihrem Durchbruch von der politischen Sekte zur Partei von 24 Vgl. ebd., S. 68–80. 25 Pfälzische Post, 31. Jg., Nr. 261 vom 9.11.1925, Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Ortsgruppe Ludwigshafen. 26 Vgl. Marquet (2015): Wagner politische Biografie, S. 75. 27 Pfälzische Post, 37. Jg., Nr. 83 vom 13.4.1931, Die politische Lage u. die Taktik der Sozialdemokratie. Referat des Genossen Fr. W. Wagner, Ludwigshafen a. Rh. 28 Pfälzische Post, 37. Jg., Nr. 292 vom 15.12.1931, Das kleinere Uebel. Die Entscheidung der Reichstagsfraktion. 29 Vgl. Marquet (2015): Wagner politische Biografie, S. 115–120.
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Politiker_innen repräsentiert, die zum reformistischen Lager zählten. In der Breite zeigte sich diese Ausrichtung beispielsweise auch während und nach der Revolution von 1918/19. Die pfälzische SPD war darum bemüht, angesichts von Kriegsauswirkungen und französischen Besatzungstruppen einen geordneten Übergang in die neue Staatsform zu organisieren.30 Auch Wagners politische Positionierungen können entsprechend verortet werden, weshalb eine Kohärenz von Parteitradition, regionaler Führungspersönlichkeit und konkreter politischer Situation konstatiert werden kann. Dieser Befund kann freilich nicht überraschen. Vielmehr erscheinen, insbesondere vor dem Hintergrund der Quellenlage, Grenzen der Analyse erreicht, die nach der Wirkungsmächtigkeit des Individuums fragt. Vollends der Betrachtung entzieht sich die umgekehrte Richtung dieses reziproken Kommunikationsprozesses, also die Frage nach Wagners Rolle im Diskurs der Reichstagsfraktion wie auch insgesamt der offiziellen Parteilinie. Wagner war ein Politiker der zweiten Reihe. Der viel beachteten Rede von Otto Wels in der Krolloper vom 23. März 1933 konnte er nicht beiwohnen, nicht an der Seite seiner Genoss_innen stehen, als die deutsche Demokratie ihre bitterste Stunde hatte. Bereits am 10. März war Wagner verhaftet worden. Als Exponent der pfälzischen SPD geriet er unmittelbar ins Visier der Nationalsozialist_innen, nachdem sie in Bayern zentrale Machtpositionen eingenommen hatten. Die Flucht noch in der Nacht war zugleich der Auftakt eines 14 Jahre währenden Exils.31 4. ABSCHLIESSENDE BETRACHTUNGEN Die politische Biografie Friedrich Wilhelm Wagners endet freilich nicht mit der Flucht ins Exil. Er nahm dort verschiedene Funktionen in der Exil-Community wahr, brachte sich auch hier dezidiert als Sozialdemokrat und Parteifunktionär ein. Zugleich konnte er – wenn schon nicht als Anwalt tätig – seine juristischen Kenntnisse nutzen. Das Exil stellte aus demokratischer Perspektive für Wagner eine Unterbrechung, keinen endgültigen Bruch dar. 1947 kaum nach Deutschland zurückgekehrt, wurde er als Mitglied des rheinland-pfälzischen Landtags in den Parlamentarischen Rat entsandt, wo er mit Nachdruck und Erfolg für die Verankerung der Abschaffung der Todesstrafe im Grundgesetz eintrat. Hierin sah er einen wesentlichen zivilisatorischen Entwicklungssprung nach Jahren der Gewaltverbrechen an der Menschheit. Als Mitglied der oppositionellen Bundestagsfraktion blieben Wagner Regierungsämter verwehrt. Als Ausschussvorsitzender für Patentrecht und gewerblichen Rechtsschutz während der ersten beiden Wahlperioden und anschließend als Mitglied des Rechtsausschuss knüpfte er parlamentarisch dort an, wo er bereits im Reichstag tätig war. Sein primäres politisches Terrain war die Rechts-
30 Vgl. Fenske (1999): Jahre des Aufstiegs; Nestler (1999): Pfälzische SPD Weimarer Republik; Marquet (2008): Revolution Provinz, S. 394–400. 31 Vgl. Marquet (2015): Wagner politische Biografie, S. 150–153.
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politik. Allerdings trat er auch in der Nachkriegszeit nicht stärker in Erscheinung und erlangte keine höheren Bekanntheitsgrade. Ebenfalls mit seiner Rückkehr aus dem Exil nahm er seine Tätigkeit als Anwalt wieder auf. Noch im Exil hatte Wagner sich vehement für eine deutsche Gerichtsbarkeit zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen ausgesprochen. Der Nürnberger IG Farben-Prozess 1947/48 war ein von den USA eingerichtetes Tribunal, in dem Wagner schließlich die Gelegenheit hatte, den Nationalsozialismus vor Gericht zu beleuchten. Allerdings nahm er die Funktion des Verteidigers von Carl Wurster ein, der als Ludwigshafener Werksleiter der IG Farben der Beteiligung am Massenmord in Auschwitz beschuldigt wurde. Zur Erklärung dieses zunächst irritierenden Engagements mag einerseits Wagners Situation selbst dienen. Als Exilant war er weitgehend mittellos in seine Heimat zurückgekehrt. Der Prozess versprach neben einer auskömmlichen Bezahlung überregionale Bekanntheit. Doch dürfte ein weiteres Motiv eine Rolle gespielt haben: Die Belegschaft des Ludwigshafener Chemiewerks hatte auf Wursters Anklage mit einem Solidaritätsstreik reagiert, wohl auch oder sogar primär, um gegen eine mögliche Zerschlagung und einen etwaigen Arbeitsplatzverlust zu demonstrieren. Wagner selbst gab sich freilich von der Richtigkeit seines Tuns und der Unschuld seines schließlich freigesprochenen Mandanten überzeugt.32 Die Vertretung von Lina Herbst, Witwe des mutmaßlich im KZ Dachau ermordeten KPD-Politikers Eugen Herbst, von 1955 bis 1960 vor dem Oberlandesgericht Neustadt an der Weinstraße kann sicher als Mandat gesehen werden, das ebenfalls ein von parteipolitischen Standpunkten losgelöstes Berufsverständnis dokumentiert. Gemein ist diesen beiden Prozessen jedoch außerdem, dass sie Aufmerksamkeit im sozialistischen Milieu fanden. Seit 1948 durfte Wagner den Titel Justizrat führen, wovon er fortan ausweislich seiner Korrespondenz regen Gebrauch machte. Über viele Jahre hinweg nahm er Funktionen der anwaltschaftlichen Standesvertretung wahr, worin auch ein Hinweis auf die Bedeutung des Berufs für Wagner gesehen werden kann.33 Von 1961 bis 1967 saß er dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts vor und führte die beiden bedeutendsten Stränge seines Schaffens in einer Funktion zusammen, die er selbst als Krönung seiner Lebensleistung empfand. Eingangs wurde das Interesse an Wagner als sozialdemokratischem Politiker und Funktionär mittlerer Reichweite skizziert. Seine Mittlerstellung zwischen politischer Kapitale und Provinz behielt er auch in der Nachkriegszeit zunächst bei. Dies ist zunächst mit Blick auf das Exil bemerkenswert, belegt die Exilforschung doch nicht wenige Fälle von nicht vollzogenen oder nicht gelungenen Remigrationsprozessen. Wagner scheint von den mit Exil und Nach-Exil einhergehenden Unsicherheiten und Volatilitäten hinsichtlich der sozialen Position nachgerade unberührt geblieben zu sein. Seine Berufung in eines der höchsten Staatsämter steht 32 Vgl. Marquet (2015): Wagner politische Biografie, S. 362–369. 33 Vgl. ebd., S. 371–373.
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hierzu keineswegs in Widerspruch, da die SPD nicht über ein Überangebot an befähigten Kandidatin_innen verfügte. Rhetorisches Können, politisches Talent und juristisches Geschick – Wagner verband diese Fähigkeiten mit Aufstiegswillen und Selbstbewusstsein. Individuelle Eigenschaften und Leistungen müssen in Verbindung mit sozio-strukturellen Variablen betrachtet werden, um die biografische Ausgestaltung hinreichend nachvollziehen und erklären zu können. Prosopografisch ergeben sich auf diese Weise Erkenntnismöglichkeiten, die insbesondere den Blick für weniger bekannte Politiker_innen der zweiten Reihe schärfen können. QUELLEN Stadtarchiv Ludwigshafen, N 25, Nachlass Friedrich Wilhelm Wagner
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EIN PALADIN DER FREIHEIT Der Reichsbannermann Hubertus Prinz zu Löwenstein (1906–1984)* Sebastian Elsbach Aus der Reihe prominenter Persönlichkeiten im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold sticht im Rückblick ein Name hervor und insofern kann es nicht verwundern, dass Hubertus Prinz zu Löwenstein (1906–1984) auch in der 2018 eingeweihten Wanderausstellung „Für Freiheit und Republik! Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold 1924 bis 1933“ der Gedenkstätte Deutscher Widerstand einen auffälligen Platz einnimmt.1 Allerdings hat diese Prominenz weniger mit Löwensteins Engagement während der Weimarer Republik zu tun, als mit seinem Eintreten für die schwarzrot-goldenen Reichsbanner-Ideale in den Jahren nach 1933. Für den Jugendfunktionär des Berliner Reichsbanners war das durch die Nationalsozialisten erzwungene Exil keine Endstation, sondern vielmehr Startpunkt einer ereignisreichen journalistischen, wissenschaftlichen und politischen Karriere.2 Ohne Übertreibung lässt sich feststellen, dass Löwenstein der wichtigste bundesrepublikanische Politiker und Publizist war, der sich offensiv mit dem Reichsbanner wie der Weimarer Republik insgesamt identifizierte und publizistisch deren Andenken wahrte. Löwenstein warb in mehreren autobiographischen Publikationen und Sachbüchern sowie zahllosen Versammlungen für ein positives Erinnern an die Weimarer Republik, deren Errungenschaften er im Gegensatz zu der überwiegenden Mehrheit seiner Zeitgenossen alles andere als gering schätzte.3 Löwenstein erscheint in mehrfacher Hinsicht ein individualistischer „Außenseiter“,4 doch machte ihn gerade dies zu einem passenden Vertreter Weimars als der „Republik der Außenseiter“.5 Zu diesem Profil gehört, dass der gläubige Katholik Löwenstein als Mitglied der Zentrumspartei Teil einer Minderheit im sozialdemokratisch dominierten Reichsbanner war.6 Nach dem Zweiten Weltkrieg schloss er sich wiederum nicht – wie es naheliegend gewesen wäre – der CDU an, sondern der FDP, die er von 1953 bis 1957 im Bundestag vertrat. Nicht unwesentlich ist zudem, dass Löwenstein der einzige Vertreter des deutschen Hochadels in * 1 2 3 4 5 6
Ich danke für hilfreiche Anregungen der Redaktion des Jahrbuches für Liberalismus-Forschung, wo dieser Beitrag aufgrund der Corona-Krise leider nicht erscheinen konnte. Behrens et al. (2018): Für Freiheit und Republik!, S. 96–99 u. 139. Seefried (2002): Löwenstein im Exil. Ullrich (2009): Weimar-Komplex, S. 71–75. Reytier (2009): Löwenstein, S. 2. Gay (1968): Republik der Außenseiter. Seefried (2006): Reich und Stände, S. 271 f.
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den Reihen des Reichsbanners war, was ihm von antirepublikanischer Seite den Spitznamen „roter Prinz“ eintrug. Anhand seiner Biographie und seines Schrifttums lässt sich daher nicht nur das ideengeschichtliche Spannungsfeld zwischen Sozialdemokratie, Liberalismus und Konservatismus exemplarisch untersuchen, sondern es lassen sich auch die Nachwirkungen der Weimarer Republik in der weiteren deutschen Demokratiegeschichte analysieren. Für Löwenstein war der Kampf um die Republik nicht 1933 beendet. Vielmehr sah er sich als Teil einer chiliastischen Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Knechtschaft, in die er gewissermaßen am 16. Oktober 1930 eingetreten war. An diesem Tag war der damals 24-jährige Löwenstein mit einer kleinen Zeremonie zum Mitglied des Reichsbanners geworden. In seinen Erinnerungen heißt es dazu: Einer der jungen [Reichsbanner-]Männer nahm die große, schwarz-rot-goldene Fahne, die neben [des Gauvorsitzenden Arthur] Neidhardts Schreibtisch stand und hielt sie mir hin. Ich legte die rechte Hand auf dieses Tuch, geheiligt als Sinnbild von Einigkeit und Recht und Freiheit, und sagte: ‚Ich gelobe, diesen Farben und der Republik für die sie stehen, treu zu sein bis zum Tode.‘ Das war der entscheidendste Augenblick meines Lebens, fast wie eine neue Geburt. Alles spätere, bis zum heutigen Tag, ist bestimmt durch die Sterne, die über dem 16. Oktober 1930 standen.7
In diesem Sinne zeichnet dieser Beitrag die Weimarer Erfahrungen Löwensteins nach (1.) und arbeitet die Kontinuitätslinie zu den weiteren Stationen seines Lebens im Exil (2.) und der Bundesrepublik heraus (3.). Hierbei wird der Frage nachgegangen, warum gerade das Weimarer Reichsbanner für Löwenstein zu einer so prägenden Erfahrung werden konnte, während es für viele seiner ehemaligen Kameraden mit der Weimarer Republik unterging. 1. DAS DEUTSCHE REICH IST EINE REPUBLIK Die Politisierung Löwensteins erfolgte nach seinen autobiographischen Selbstzeugnissen bereits in jungen Jahren. Er hatte den Ersten Weltkrieg als Kind miterlebt und insbesondere die längere kriegsbedingte Abwesenheit des Vaters, Hunger und gesundheitliche Beschwerden überstehen müssen. Sein Elternhaus war liberal geprägt. Der Vater war nicht vermögend, sondern musste seinen Lebensunterhalt als Offizier und später Journalist verdienen. Löwenstein verbrachte aufgrund von Umzügen seine Jugend in mehreren europäischen Staaten. Er berichtet in seinen Erinnerungen, wie in ihm durch die Einflüsse von Familie, Freunden und Lehrern ein europäisches, demokratisches Bewusstsein heranreifte. Die Weimarer Republik empfand Löwensteins als Friedensprojekt, wobei zu Beginn die Hoffnungen auf eine Vereinigung Deutschlands und Deutsch-Österreichs hinzukam.8 Seine aus diesem Empfinden entsprungene Verehrung für Gustav Stresemann und dessen europäisch ausgerichtete Verständigungspolitik verarbeitete Löwenstein in späteren 7 8
Löwenstein (1983): Abenteurer der Freiheit, S. 68. Vgl. ebd., S. 30–32 u. 43 f.
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Jahren zu einer Biographie über den Staatsmann.9 Die humanistische Bildung, die Löwenstein erfuhr, wurde auf zahlreichen Italienreisen abgerundet und insofern lag es nahe, dass ihn seine juristische Doktorarbeit erneut nach Italien führte. Sie widmete sich dem Wirken Mussolinis, dessen faschistischen Staatsaufbau er mit der Weimarer Republik kontrastierte.10 Erneut ist hier das großdeutsche Motiv Löwensteins erkennbar, der als gebürtiger Tiroler die faschistischen Versuche zur „Entnationalisierung der deutschen Bevölkerung“11 Südtirols besonders schmerzlich empfand. Dieses Eintreten für den großdeutschen Gedanken findet sich wiederum auch beim Reichsbanner an prominenten Stellen wieder.12 Als journalistisches Debüt konnte Löwenstein aus dem Thema seiner Doktorarbeit einen Artikel für die Vossische Zeitung ableiten. Für den jungen Prinzen war diese Publikation in einem der liberalen Zeitungs-Flaggschiffe ein enorm bedeutsamer Einstand in seinem späteren Hauptberuf. In dieser Analyse des Nationalsozialismus vertrat Löwenstein bereits einen „abendländischen“ Standpunkt: Was ist jedoch dieses „Dritte Reich“? Das Wort weist darauf hin, daß es innere Beziehungen zu den früheren Reichen haben soll, die es jedoch überwindet und vollendet. Das erste Reich war seiner Idee nach universal, es hatte keine begrenzte territoriale nationale Bindung, sein Geltungsanspruch erstreckte sich auf das gesamte Abendland, ohne Unterschied von Völkern und Ländern. Aber – und das muß hier ausdrücklich betont werden – seine Idee war nicht auf der Hegemonie eines Volkes über die anderen aufgebaut, alle standen sich im wesentlichen gleichberechtigt gegenüber. Die Einigung der zerstreuten Teile erfolgte durch die Unterordnung unter die zentrale, abendländische Gewalt.13
Löwensteins Verständnis der deutschen Reichstradition basierte somit auf dem Bild Europas als christliches Abendland, welches in der katholischen Gedankenwelt einen wichtigen Platz einnahm. Aber Löwenstein wurde durch verschiedene geistige Strömungen beeinflusst. So zeigte er sich von dem Dichter Stefan George sehr beeindruckt.14 Löwenstein gehörte schon ob seiner Jugend nicht zu diesem Kreis im engeren Sinne, aber er pflegte Kontakte zu George-Anhängern wie Ernst Kantorowicz oder Karl Wolfskehl.15 Was ihn jedoch klar vom George-Kreis abhob, war sein politischer Aktivismus und seine demokratische Ausrichtung. Der starke Wunsch, die Republik vor den Angriffen durch Faschisten und Kommunisten verteidigen zu wollen, sorgte schnell dafür, dass Löwenstein Kontakte zu führenden sozialdemokratischen Mitgliedern des Reichsbanners wie Theodor Haubach aufbaute. Erst nach seinem bereits dargestellten Eintritt in die Republikschutzorganisation wurde er Mitglied der Zentrumspartei. Ein parteipolitisches Engagement wurde von Funktionären des Reichsbanners erwartet und Löwensteins Wahl für das 9 10 11 12 13
Löwenstein (1952): Stresemann. Löwenstein (1931): Idee des faschistischen Staates. Löwenstein (1983): Abenteurer, S. 53. Hochman (2016): Republican Nationalism; Saage (1986): gefährdete Republik. Hubertus Prinz zu Löwenstein: Das Dritte Reich. In: Vossische Zeitung, 12.7.1930 (Morgenausgabe). 14 Raulff (2012): Georges Nachleben, S. 170–187. 15 Löwenstein (1983): Abenteurer, S. 55; Grünewald (2004): das „wahre Deutschland“, S. 385.
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katholische Zentrum lag allein schon aus religiösen Gründen nahe. Die Parteiarbeit interessierte ihn offenkundig jedoch nicht. Hingegen engagierte sich Löwenstein für das Reichsbanner sehr stark in der Jugendarbeit des Berliner Gaues, wo er den Vortrupp Schwarz-Rot-Gold maßgeblich aufbaute. So vergrößerte sich der Vortrupp im Laufe des Jahres 1932 von rund 30 auch über 1.000 junge ReichsbannerMitglieder.16 Dass Löwenstein hierbei auf bündische Organisationselemente zurückgriff, wie insbesondere die verantwortungsvolle Stellung der Gruppenführer, stellt ebenfalls einen Bezugspunkt zur Gedankenwelt des George-Kreises dar, wobei Löwenstein den Vortrupp als dezidiert antifaschistische, überparteiliche Organisation verstand. Dies grenzte den Vortrupp eindeutig von der Hitlerjugend und den kommunistischen Jugendverbänden, aber auch von der SAJ (Sozialistische Arbeiterjugend) ab. Die sozialdemokratische Jugendorganisation erzog die Jungen aus Löwensteins Sicht lediglich zu kleinen Erwachsenen,17 wobei die SAJ ihrerseits den Vortrupp als Konkurrenz betrachtete und dessen Aufbau zu unterbinden versuchte.18 Löwenstein war als Journalist und Jugendfunktionär sicherlich eine durchaus gewichtige Persönlichkeit des Reichsbanners, aber einen großen Einfluss auf die Entscheidungsprozesse innerhalb der Organisation – etwa während des Preußenschlages am 20. Juli 1932 – hatte er nicht.19 Der ideengeschichtliche Aspekt von Löwensteins Engagement im Reichsbanner ist hier wichtiger. Der „adelige Renegat“20 fand im antimonarchistisch und überparteilich ausgerichteten Reichsbanner eine politische Wahlheimat, die ihm die einzelnen demokratischen Parteien so nicht hätten bieten können. Während er in seinen politischen Ansichten zwar Verbindungspunkte zu SPD, Staatspartei und Zentrum besaß, trennte ihn genau dieser Umstand von jeder dieser Parteien auch. Löwensteins Leitbild eines christlichen, europäischen Abendlandes, in dem ein demokratisches Groß-Deutschland friedlich mit seinen Nachbarn zusammenlebte, stimmte nicht völlig, aber doch weitgehend mit dem nationalrepublikanischen Reichsbanner-Programm überein, welches die neue Demokratie mit nationalem Traditionsgut zu versöhnen versuchte.21 Das parteipolitisch Trennende, etwa in der religiösen oder der sozialen Frage, versuchte auch Löwenstein angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung nicht zu betonen. So waren seine weiteren öffentlichen Wortmeldungen vor 1933 mit entsprechenden Verweisen auf die Notwendigkeit einer demokratischen Mehrheitsbildung und die Geschlossenheit der „republikanischen Front“ gegen ihre Feinde von links und 16 Rundschreiben von Hubertus Prinz zu Löwenstein für den Vortrupp Schwarz-Rot-Gold Gau Berlin-Brandenburg vom 30.12.1932. In: Bundesarchiv Berlin, RY 12/7, Bl. 60. 17 Larson (2014): German Friend, S. 348. 18 Böhles (2014): Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten, S. 113 f.; Elsbach (2019): Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, S. 514–519. 19 Ziemann (2011): Zukunft der Republik?, S. 62 ff. 20 Vgl. Malinowski (2003): Vom König zum Führer, S. 471 f. 21 Ausführlicher zum „Nationalrepublikanismus“: Elsbach (2019): Reichsbanner Schwarz-RotGold, S. 115–133.
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rechts gespickt.22 Frieden – und dies sowohl im Inneren wie im Äußeren – war für Löwenstein somit nur in einer Demokratie bzw. zwischen Demokratien möglich. Ein so verstandener Demokratischer Frieden wurde für Löwenstein folgerichtig von einer harten Haltung gegenüber antidemokratischen Kräften begleitet und in den auf 1933 folgenden Jahren stellte er diese harte Haltung stets zur Schau.23 2. SCHWARZ-ROT-GOLD IM EXIL Als prominenter Gegner der NSDAP musste Löwenstein mitsamt seiner Familie bereits im Frühjahr 1933 emigrieren. Die im Februar zur Hilfspolizei ernannte SA hatte ihn wiederholt bedroht, seine Wohnung verwüstet und Vertraute Löwensteins körperlich misshandelt. Für ihn und seine Frau Helga begann damit eine Lebensphase, die von ständigen Ortswechseln und finanzieller Unsicherheit geprägt war. Erleichtert wurde dieses Leben jedoch wenigstens durch die internationalen Verwandtschaftsbeziehungen Löwensteins. In seinem Geburtsland Österreich machte die Familie zunächst Station, doch die auch dort aufstrebende nationalsozialistische Bewegung verhinderte einen längeren Verbleib.24 Prinzessin Helga sowie Volkmar von Zühlsdorff, der als enger Vertrauter Löwensteins den Prinzen ins Exil begleitet hatte, wurden in Wien von bewaffneten Nationalsozialisten angegriffen und mussten sich ihrerseits mit Schusswaffen verteidigen. Als auch das Tiroler Anwesen Löwensteins zur Zielscheibe weiterer Angriffe wurde, zwang ihn dies nach weniger als zwei Jahren Aufenthalt in Tirol erneut zur Flucht.25 22 Vgl. Hubertus Prinz zu Löwenstein: Verfassungsfeier im Wahlkampf. In: Vossische Zeitung, 14.8.1930 (Morgenausgabe). 23 Weiterführend zur Idee der wehrhaften Demokratie in der Weimarer Republik: Hacke (2018): Existenzkrise der Demokratie, insb. S. 209–218. 24 Elke Seefried widmet sich in ihrer ausführlichen Arbeit zur deutschen Emigration in Österreich auch Löwenstein näher, aber scheint mitunter bestimmte Tendenzen, die in dieser Zeit bei Löwenstein auftraten, zu verabsolutieren. So geht sie davon aus, dass Löwenstein ein Sympathisant ständestaatlicher Ideen gewesen sei (Seefried (2006): Reich und Stände, S. 275–290), während es offenkundig ist, dass Löwenstein die parlamentarisch-demokratische Weimarer Reichsverfassung verteidigte. Kritik am Parlamentarismus, die Anfang der 1930er aufgrund der schweren politischen Krise auch im demokratischen Spektrum durchaus üblich war (Hacke (2018): Existenzkrise der Demokratie, S. 176 f.), ist in diesem Sinne bei Löwenstein als Vorschlag einer Reform der Weimarer Reichsverfassung zu betrachten, die auch rätedemokratische Elemente beinhaltete. Der in der Verfassung angelegte Reichswirtschaftsrat als ursprünglich mehrheitssozialdemokratischer Idee war aber nur ansatzweise realisiert worden und sollte auch nicht mit dem konservativen Ständegedanken verwechselt werden, da der Reichswirtschaftsrat, dessen Wiederbelebung Löwenstein 1931 befürwortete (vgl. Seefried (2006): Reich und Stände, S. 275), immer nur als Ergänzung einer parlamentarischen Demokratie gedacht war. Dass Löwenstein versteckte Sympathien zum italienischen Faschismus besessen hätte ist auch nicht korrekt (vgl. ebd., S. 274), da Seefried hier das Interesse an der Erforschung der Funktionsweise des Faschismus mit dessen Affirmation zu verwechseln scheint. 25 Löwenstein (1983): Abenteurer, S. 105–120.
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Löwenstein wich ins Saargebiet aus, wo die Vorbereitungen für die für 1935 geplante Volksabstimmung bereits im vollen Gange waren. Das Engagement des Prinzen gegen den Wiederanschluss an Deutschland sorgte für internationales Interesse und sorgte schließlich für die Ausbürgerung Löwensteins durch das NS-Regime.26 Zum dritten Mal musste Löwenstein mitsamt seiner Familie fliehen und zog 1935 nach England weiter. Man mag hier einen Widerspruch zwischen Löwensteins Patriotismus und dessen Engagement gegen die Wiedervereinigungspläne der Nationalsozialisten vermuten. Doch aus Löwensteins Sicht war das „Dritte Reich“ kein legitimer Vertreter der deutschen Nation oder gar der abendländischen Reichstraditionen. Vielmehr interpretierte er die Machtergreifung als gewaltsame Besetzung Deutschlands durch die Nationalsozialisten, welche – sofern sie nicht gestoppt würden – unweigerlich dazu übergehen würden, weitere europäische Länder zu annektieren.27 So wie Löwenstein in der Weimarer Republik die Einheit der demokratischen Parteien in einer „republikanischen Front“ bzw. dem Reichsbanner gefordert hatte, so forderte er im Exil die Einheit der republikanischen Kräfte Europas gegen den Nationalsozialismus und verurteilte jegliche Form des Appeasement.28 In diesem Sinne bereiste er auch das republikanische Spanien während des Bürgerkrieges und verurteilte die Verbindungen Francos zur katholischen Kirche als antichristlich.29 Ein dauerhaftes Exil sollte Löwenstein von 1936 bis 1946 in den USA finden. Will man sein Engagement in den USA auf einen Nenner bringen, so war dies Löwensteins Anliegen, den undeutschen Charakter des Nationalsozialismus nachzuweisen und gegenüber der schwarz-weiß gemalten Kriegspropaganda die schwarzrot-goldene Tradition der Weimarer Republik und der deutschen Reichstradition hochzuhalten: „Hitler ist nicht Deutschland“.30 Die maßgeblich von Löwenstein vorangetriebene Gründung der „Deutschen Akademie der Künste und Wissenschaften im Exil“ und deren Hilfsorganisation American Guild for German Cultural Freedom sollte der Öffentlichkeit des Gastlandes zeigen, dass die ins Exil geflüchteten Kulturschaffenden als einzig wahre Vertreter des deutschen Kulturlebens aufzufassen seien. Tatsächlich finden sich von Berthold Brecht über Thomas Mann bis Anna Seghers die großen Namen der deutschsprachigen Literatur im Umkreis der Akademie und der Guild wieder.31 Löwensteins wissenschaftliches Wirken in den USA als Professor an verschiedenen Universitäten zielte ebenfalls darauf ab, die geschichtlichen Traditionslinien vom römisch-abendländischen Reich, über das Mittelalter bis zur Weimarer Republik herauszuarbeiten. Mit The Germans in Hist-
26 o. A.: L’incident de Sarrebruck. In: L’echo de Paris, 17.12.1934; o. A.: Ausweisung Prinz Löwensteins zurückgezogen. In: Hamburger Nachrichten, 6.1.1935. 27 Vgl. Löwenstein (1934): Tragödie eines Volkes, S. 268–278. 28 Schilmar (2004): Europadiskurs, S. 201 u. 208 f. 29 Löwenstein (1937): Republican Spain; Gusejnova (2013): Adel als Berufung, S. 270. 30 Löwenstein (1951): Deutsche Geschichte , S. 594. 31 Berthold et al. (1993): Deutsche Intellektuelle im Exil.
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ory,32 das gänzlich auf dieser Grundthese aufgebaut war, schuf Löwenstein ein vielbeachtetes Werk, dessen deutschsprachige Übersetzung in der Nachkriegszeit in 10 Auflagen erschien: Es ist unbestritten, daß allein schon die Wahl dieser Worte [Deutsches Reich, S. E.] beweise: Nicht eine Neugründung war beabsichtigt, sondern die Fortsetzung der Staatspersönlichkeit mit neuen Organen. Es hat demnach, klar ausgedrückt durch die Verfassungsgebende Nationalversammlung, keine Unterbrechung der deutschen Reichsgeschichte stattgefunden. Die Republik, die 1918/19 entstand, ist in ihrer Persönlichkeit identisch mit dem Deutschen Reiche von 1871, so wie dieses das im Jahre 1806 ‚aufgelöste‘, jedoch nicht ausgelöschte Reich erneuerte und fortsetzte.33
Die Erhaltung dieser Reichstradition verbindet Löwenstein eng mit den Leistungen der großen Staatsmänner der Republik, zu denen er neben Stresemann und Friedrich Ebert auch den Prinzen Max von Baden zählte, einen „treuen Paladin des Reiches“.34 Dass sich Löwenstein in diesen historischen Untersuchungen zur Weimarer Republik auf die außenpolitischen Entwicklungen konzentrierte,35 stand in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dessen publizistischer Strategie während des Zweiten Weltkrieges. Es galt durch solche historischen Ausführungen, insbesondere solchen über die verderblichen Auswirkungen des Versailler Vertrages, die US-amerikanische Öffentlichkeit zu einer milden Behandlung Deutschlands nach einem Sieg der Alliierten zu bewegen. Einen zweiten Versailler Vertrag mit erneuten Gebietsabtretungen, Reparationen, Kollektivschuldanschuldigungen oder sonstigen Demütigungen – oder gar eine schärfere Variante wie den Morgenthau-Plan – durfte es aus Löwensteins Sicht nicht geben, da auf dieser Basis kein dauerhafter Frieden zwischen einem besiegten, aber unweigerlich demokratischen Deutschland und den übrigen Völkern des Abendlandes möglich gewesen wäre. Stattdessen sollten die europäischen Völker – nicht die Nationalstaaten – in einem „Europäischer Bund“ auf föderaler Basis gleichberechtigt zusammenleben. Dies verstand Löwenstein – ähnlich wie etwa der Sozialdemokrat Friedrich Stampfer – als Versuch, die politische Eigenständigkeit Europas gegenüber den USA und insbesondere der Sowjetunion zu bewahren.36 Löwenstein vertrat seinen Standpunkt mit äußerster Konsequenz, so etwa auf einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 20. Todestages von Friedrich Ebert 1945 in New York: The meeting of Friday night was wonderful. It was the most inspiring and moving one I have been to since 1932. The hall was crowded. There were two large flags; one of them was draped with black veils of mourning. Also the speaker’s desk was covered with black-red-gold, and behind the desk, at the wall of the platform there was Ebert’s picture. Everyone from the republican camp was there – I met people whom I hadn’t seen in years. […] Quite a few wore the emblem of the Reichsbanner; I don’t have it anymore (but I think I can get one), so I was
32 Hier wird die von Löwenstein vorgenommene deutsche Übersetzung des englischen Originals zitiert: Löwenstein (1951): Deutsche Geschichte. 33 Ebd., S. 532. 34 Vgl. ebd., S. 512. 35 Ebd., S. 514–530 u. 547–559. 36 Schilmar (2004): Europadiskurs, S. 216, 220, 280 f., 305 u. 310 f.
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Sebastian Elsbach just wearing the tri-coloured ribbon. […] [Friedrich] Stampfer’s address was great. It was one of the best speeches I have ever heard, if not the best. In his words trembled his love for the Republic, his holy hatred for its enemies (past and present …) and an unshakeable faith in ‚DAS VOLK‘. I spoke as the last speaker, going very far, furthest of all. […] But there was even more to it. You know my favourite thought about wine which is transplanted to other shores. When spring comes, and the vineyards at home are in flower, the wine, thousands of miles away, even though it was planted abroad, may flower in the glass. Wine always retains the rhythm of its land of origin. Thus – Black-Red-Gold flowered on that evening. It was not a memorial celebration, it was not a review of the past, not just a protest meeting; it was the token, the symbol, the proof almost, that the black-red-golden Realm lives.37
Sehr zu Löwensteins Bedauern gab es keine demokratische deutsche Exilregierung, die von den Alliierten anerkannt wurde und nach der Niederlage des NS-Regimes wieder die Geschäfte hätte übernehmen können, quasi als nahtlose Fortsetzung der Weimarer Republik. An einem Versuch der Bildung einer solchen Exilregierung hatte Löwenstein jedoch trotz dieser Überlegungen nicht mitgewirkt. Am sogenannten Free German Commitee, welchem der ehemalige Reichsbanner-Vorsitzende Karl Höltermann (SPD) angehörte, mit dem Löwenstein bereits 1932 aufgrund eines Streites um den Vortrupp Schwarz-Rot-Gold aneinandergeraten war, beteiligte er sich nicht, obwohl diese Organisation sich wie auch Löwenstein gegen die kommunistisch dominierte Exil-Organisation Nationalkomitee Freies Deutschland ausgesprochen hatte.38 Da in Löwensteins Logik die schwarz-rot-goldenen Reichstraditionen aber wenigstens in kultureller Form im Exil erhalten werden konnten, also insbesondere in den von ihm geleiteten Organisationen wie der Akademie oder der Guild, mussten die prominenten Exilanten nach Deutschland zurückkehren, um den Wiederaufbau zu unterstützen, sobald sich die Gelegenheit hierzu ergab. Diese Frage der Rückkehr war im Exil jedoch hoch umstritten und führte zu folgendem Streitgespräch Löwensteins mit Friedrich Stampfer. [Stampfer] said, ‚If I should return to Germany, I could not write the way I do here.‘ (Some of his Volkszeitungsartikel are almost, or entirely, as sharply worded as mine in the Herald.) ‚Here I may attack the Allies – but in Germany, this is done by the Nazis. And you will have to understand that too.‘ So I said, ‚Then you will be called an allied propagandist, a ‚collaborateur,‘ and you will leave to ‚Nazis‘ – whatever that word means today – to say the thing which must be said.’ He literally covered his face with both hands and said, ‚You are right. My god.’39
In den letzten Jahren seines US-amerikanischen Exils hatte Löwenstein seine Kritik an der alliierten Kriegspolitik in christlichen und/oder liberalen Blättern wie The Commonweal, New York Herald Tribune und New York Times sowie dezidiert linken Publikationen wie The Nation und The Progressive veröffentlicht.40 Es ist hierbei trotz der radikal anderen Umstände eine bemerkenswerte Kontinuität in seinen Ansichten auszumachen. Wie bereits in der Weimarer Republik verteidigte er die 37 Larson (2014): German Friend, S. 310 f. 38 Schilmar (2004): Europadiskurs, S. 240 f.; o. A.: SPD, Gewerkschaften und Schleicher. In: Hamburger Anzeiger, 23.12.1932. 39 Larson (2014): German Friend, S. 556. 40 Ebd., S. 658–666.
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historischen Errungenschaften der deutschen Demokratie – also insbesondere das Andenken an die Weimarer Reichsverfassung und bedeutende Staatsmänner Weimars – gegen Angriffe von mehreren Seiten. Nur waren es diesmal nicht nur Nationalsozialisten und Kommunisten, denen Löwenstein in den Weg trat, sondern auch die demokratische Öffentlichkeit seiner Gastländer versuchte er zu überzeugen. 3. REPUBLIKANISCHER AKTIVISMUS NACH 1945 Löwensteins Rückkehr nach Deutschland war ob der katastrophalen Versorgungslage alles andere als triumphal. Er lebte an wechselnden Orten und musste nach der Exilerfahrung einen weiteren beruflichen Neustart verkraften. Immerhin konnte Löwenstein als eine Art freischaffender Deutschlandkorrespondent zunächst seine publizistische Tätigkeit für amerikanische Blätter fortführen.41 Hierbei knüpfte er auch inhaltlich an seien Publikationstätigkeit im Exil wieder an. So hielt Löwenstein an der Staatsbezeichnung „Reich“ weiterhin fest.42 Es zeigt einen beschämenden Mangel an geschichtlicher und allgemeiner Bildung […], wenn man vom Reiche nichts mehr wissen will, weil in diesem Worte angeblich imperialistische Traditionen zu Ausdruck kommen. […] Niemand als eine vom ganzen deutschen Volk frei gewählte und souveräne Nationalversammlung hat auch das Recht, eine Reichsverfassung zu geben […]. Die fortgesetzte Anerkennung der Gültigkeit der Weimarer Reichsverfassung ist ein Grundgebot der Demokratie. […] Da sich das Deutsche Reich als einen Wesensbestandteil der Abendländischen Gemeinschaft betrachtet, wird es für die Bildung eines auch rechtlich begründeten Europäischen Bundes freier Nationen eintreten. Ein solcher Bund ist ohne ein gesundes, freies und territorial unvermindertes Deutschland nicht zu denken[…].43
Angesichts der sowjetischen Bedrohung müssten sich Europa und Amerika ihres gemeinsamen abendländischen Erbes bewusstwerden, so Löwensteins Logik. Doch er beschränkte sich nicht lediglich auf öffentliche Wortmeldungen. Größeres Aufsehen erregte sein Engagement für die Beendigung der Bombenabwürfe auf Helgoland durch die Royal Air Force in Form einer „Besetzung“ der Insel, die Löwenstein mit einigen Mitstreitern unternahm.44 Auch in der erneut aufgeworfenen Saar-Frage knüpfte er an seine Vorkriegs-Aktivitäten an. Diesmal warb Löwenstein anders als 1934/35 freilich für eine Wiedervereinigung mit Deutschland. Eine nachhaltige Lösung dieser territorialen Streitfrage zwischen Deutschland und den Westalliierten war aus Löwensteins Sicht grundlegend für eine wirkliche Versöhnung innerhalb der abendländischen Zivilisation. Die Saar-Frage war es denn auch, die Löwenstein von der CDU als eigentlich naheliegender Parteiheimat deutlich trennte. Durch die Unterstützung von Friedrich Middelhauve, den Frontmann des rechten FDP 41 Löwenstein (1983): Abenteurer, S. 254–281. 42 Löwenstein (1951): Deutsche Geschichte, S. 466 u. 553; Ullrich (2009): Weimar-Komplex, S. 194. 43 Löwenstein (1949): Über die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 158 u. 160. 44 Elzer (2005): Wer „befreite“ Helgoland?, S. 223–257.
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Flügels,45 erhielt Löwenstein einen aussichtsreichen Listenplatz im Rheinland, was ihn 1953 in den Bundestag brachte. Dort bekämpfte er als FDP-Bundestagsabgeordneter das von Bundeskanzler Konrad Adenauer unterstützte Saar-Statut leidenschaftlich, welches eine Europäisierung des Gebietes vorgesehen hatte und in einer Volksabstimmung 1955 von der Saarbevölkerung eindeutig abgelehnt wurde.46 Der Ungarnaufstand 1956 war eine weitere Station von Löwensteins ungebrochenen politischen Aktionismus. Der Bundestagsabgeordnete war sofort nach dem Ausbruch der Kämpfe nach Budapest gereist, um die freiheitlichen Kräfte dort zu unterstützen. Löwenstein nahm Kontakte zu führenden Figuren des ungarischen Widerstandes gegen die Sowjetunion wie Kardinal József Mindszenty auf und versuchte als Mittler in den Westen zu wirken. Die Erstürmung von Budapest durch die Rote Armee erlebte Löwenstein hautnah mit, was aus seiner Sicht eine Wiederholung seiner Fronterlebnisse während des Spanischen Bürgerkrieges darstellte. Nur nach größeren diplomatischen Bemühungen gelang ihm die Ausreise.47 Zwischen Faschismus und Sowjetkommunismus sah Löwenstein keinen grundlegenden Unterschied und in diesem Sinne scheute er auch das Label des „kalten Kriegers“ nicht. Gleichzeitig muss festgestellt werden, dass Löwenstein bereits seit seinem Eintritt ins Reichsbanner diese doppelte Frontstellung vertreten hatte. Auch die aus der Weimarer Zeit überlieferte Militanz Löwensteins findet ihren Ausdruck in seiner kompromisslosen Bejahung der Wiederbewaffnung und des NATO-Beitritts der Bundesrepublik. Genauso wie er die Appeasement-Politik gegenüber dem NS-Regime in den 1930ern abgelehnt hatte, vertrat Löwenstein in der Nachkriegszeit eine Politik der Abschreckung gegenüber der Sowjetunion. In diesem Sinne bewarb Löwenstein die NATO als beste Verwirklichung der abendländischen Gemeinschaft und ihre Verteidigungskapazitäten als beste Garantie für den Frieden in Europa.48 Hiermit ist bereits Löwensteins Grundhaltung beschrieben, die er bis zu seinem Lebensende vertreten sollte,49 wobei ihn diese Haltung mit der Zeit von der FDP entfremdete.50 Nachdem auch sein Förderer Middelhauve Mitte der 1950er an Einfluss verloren hatte, war es konsequent, dass sich Löwenstein – nach einem
45 Zu Middelhauve: Buchna (2010): Nationale Sammlung, insb. 109–113. Löwenstein vertrat eine ähnlich pointierte Kritik am „Parteienstaat“ als vermeintlicher Ursache für den Untergang der Weimarer Republik wie Middelhauve und auch in der Frage des „Reichs“-Begriffes glichen sie sich, aber per se antiparlamentarisch oder gar antidemokratisch war diese Position nicht. 46 Löwenstein (1983): Abenteurer, S. 320; Grobe (2012): „Die Saar zu Helgoländern“. 47 Löwenstein (1983): Abenteurer, S. 326–332. Die diplomatischen Umstände von Löwensteins Befreiung aus sowjetischer Haft können hier nicht weiter erörtert werden, da die Literatur hierüber keine weitere Auskunft bietet. So etwa: Mende (1984): Die neue Freiheit. 48 Löwenstein / Zühlsdorff (1960): Verteidigung des Westens, S. 388 u. 395. 49 Hubertus Prinz zu Löwenstein: Pazifismus, was ist das?. In: Das Reichsbanner. Forum aktiver Demokraten, Heft 2 / Jg. 25 (1981), S. 8. 50 Zur Position der FDP als zu dieser Zeit sehr heterogener Partei: Geiger (2019): Außen- und Deutschlandpolitik der FDP.
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Intermezzo bei der Deutschen Partei (DP) im Saarland51 – 1958 der CDU anschloss.52 Im wiedergegründeten Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold engagierte sich Löwenstein anders als in der CDU sehr stark und 1979 wurde er Bundesvorsitzende des Vereins, was er bis zu seinem Tod 1984 blieb.53 Gewissermaßen schloss sich hiermit für Löwenstein ein Kreis, der sein gesamtes politisches Leben seit 1930 umspannte. Während hier die vielfältigen Kontinuitäten in Löwensteins politischem Denken und Handeln über drei Systemwechsel hinweg betont wurden, bleibt die Einordnung seiner Persönlichkeit weiterhin eine Herausforderung. Löwenstein war zeitlebens ein ausgeprägter Individualist. Die eingangs aufgeworfene These seines Außenseitertums muss jedoch relativiert werden. Löwenstein war ein Grenzgänger – adeliger Republikaner, katholischer Reichsbannermann, demokratischer Georgeianer – der in seiner Person widerstrebende politische Konzepte miteinander verband und sich hierdurch nicht nur Feinde, sondern auch zahlreiche Freunde schuf. Wo im George-Kreis die „Masse“ aus einer elitären Haltung heraus gemieden wurde,54 stürzte sich Löwenstein freudig in die Arbeit für die Massenorganisation Reichsbanner. Diesem überparteilichen Engagement entsprechend war Löwenstein kein ausgesprochener Parteimann, was sich auch in mehrfachen Wechseln ausdrückte. In der Gesamtschau stellt der Prinz als Streiter für die Demokratie somit einen bemerkenswerten biographischen Fall dar, der für die neuere Forschung zur Kontinuität zwischen der Weimarer und der Bonner Republik Relevanz besitzt, aber bislang wenig beachtet wurde.55 Was gleichwohl prominent hervortritt ist der bisweilen blinde Eifer, den Löwenstein für die demokratische Sache entwickelt, die er stets auch als nationale Frage verstand. Die nach wie vor uneingeschränkte Bejahung der deutschen Nation ließ ihn in der Bonner Republik an den rechten Rand des demokratischen Spektrums rücken, wobei aber bedacht werden muss, dass Löwensteins „Nationalrepublikanismus“ seinen Ursprung in der Weimarer Republik und keineswegs im Dritten Reich hatte, dessen Boden er nur wenige Wochen bewohnte. Ob dieses kompromisslose Festhalten an bisherigen Überzeugungen nun als Beharrlichkeit oder als Ignoranz zu interpretieren ist, ist gleichwohl diskutierbar.
51 Das Engagement bei der DP entsprang wohl weniger parteipolitischen als inhaltlichen Erwägungen, da Löwenstein sich primär bei der DP im Saarland engagierte und nach der Vereinigung des Saarlandes mit der Bundesrepublik nicht mehr für die DP aktiv war. Der Freien Volkspartei, die sich 1956 von der FDP abgespalten hatte, weil sie anders als Löwenstein das SaarStatut unterstützte, gehörte er nicht, auch wenn die Mitglieder dieser Partei sich später ebenfalls mehrheitlich der CDU anschlossen. 52 Löwenstein (1983): Abenteurer, S. 334. 53 Robert Becker: In Memoriam. In: Das Reichsbanner. Forum aktiver Demokraten, Heft 4 / Jg. 28 (1984), S. 8. 54 Stiewe (2013): Aristokratismus im George-Kreis. 55 Greenberg (2014): The Weimar Century; Strote (2017): Lions and Lambs; Elsbach / Noak / Braune (2019): Konsens und Konflikt.
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Während das Label eines demokratischen „Kreuzritters“ zu machtpolitisch agierenden Staatsmännern wie Woodrow Wilson nicht so recht passen mag,56 bewies Löwenstein ein ums andere Mal die chiliastische Denkweise eines Paladins, wenn er sich mit den Feinden der Freiheit auseinandersetzte. Seine journalistischen wie auch seine autobiographischen Texte sind stark auf den Effekt bzw. die Einwirkung auf die Lesenden ausgerichtet. Hierbei gehen Grauschattierungen zwangsläufig verloren, doch ist dies eben die Konsequenz von Löwensteins Politik- und Agitationsstils. Eine vollwertige Biographie dieses wehrhaften Demokraten stünde somit vor größeren Herausforderungen, als es auf den ersten Blick scheinen mag. QUELLEN Becker, Robert: In Memoriam. In: Das Reichsbanner. Forum aktiver Demokraten, Heft 4 / Jg. 28 (1984), S. 8. Bundesarchiv Berlin, RY 12/7. Larson, John W. (Hg.): The German Friend. War and Postwar Letters from German Anti-Nazi Prinz Hubertus zu Löwenstein to American Hans Christian, 1942–1947, St. Paul, MN 2014. Löwenstein, Hubertus Prinz zu: Abenteurer der Freiheit. Ein Lebensbericht, Frankfurt/M u.a.1983. Ders.: Pazifismus, was ist das?. In: Das Reichsbanner. Forum aktiver Demokraten, Heft 2 / Jg. 25 (1981), S. 8. Ders.: Stresemann – Das deutsche Schicksal im Spiegel seines Lebens, Frankfurt/M. 1952. Ders.: Deutsche Geschichte. 10. Aufl., Bindlach 1990 [1951]. Ders.: A catholic in republican Spain, London 1937. Ders.: Die Tragödie eines Volkes. Deutschland 1918–1934, Amsterdam 1934. Ders.: Umrisse der Idee des faschistischen Staates und ihre Verwirklichung. Unter Vergleichung mit den wichtigsten Gebieten des deutschen Staatsrechts, Kirchhain 1931. Ders.: Verfassungsfeier im Wahlkampf. In: Vossische Zeitung, 14.8.1930 (Morgenausgabe). Ders.: Das Dritte Reich. In: Vossische Zeitung, 12.7.1930 (Morgenausgabe). Ders.: Über die Verfassung des Deutschen Reiches. Ein Vortrag gehalten in Heidelberg am 11.1.1949. In: Heinz Boberach (Hg.): Exilpolitiker zur staatlichen Neuordnung nach Hitler. Texte aus den Jahren 1940 bis 1949, Hamburg o.J., S. 157–160. Ders. / Volkmar von Zühlsdorff: Die Verteidigung des Westens, Bonn 1960. o. A.: Ausweisung Prinz Löwensteins zurückgezogen. In: Hamburger Nachrichten, 6.1.1935. o. A.: L’incident de Sarrebruck. In: L’echo de Paris, 17.12.1934. o. A.: SPD, Gewerkschaften und Schleicher. In: Hamburger Anzeiger, 23.12.1932.
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56 Berg (2019): Woodrow Wilson, S. 104 f.
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POLITISCHE BILDUNG, DEMOKRATISCHE BILDUNG?
ALBERT RUDOLPH Auf Wanderschaft in die Demokratie Ronny Noak 1. DER „PROTOTYP“ DER SOZIALDEMOKRATIE ZWISCHEN KAISERREICH UND REPUBLIK Lange galt die Weimarer Republik als „Demokratie ohne Demokraten“. Doch nicht nur in der Wissenschaft, auch in der Öffentlichkeit wandelt sich dieses Bild. So hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede zur Gedenkstunde des Deutschen Bundestages am 9. November 2018, dem Tag des Zentenarium der Ausrufung der ersten deutschen Republik, auf ein gebrochenes Narrativ hingewiesen: „Lassen Sie uns nicht länger behaupten, dass die Weimarer Republik eine Demokratie ohne Demokraten war! Diese mutigen Frauen und Männer standen viel zu lange im Schatten der Geschichte vom Scheitern der Weimarer Demokratie.“1 Dennoch besteht bisher kaum detaillierte Kenntnis über die Demokratinnen und Demokraten der ersten deutschen Republik. Davon keine Ausnahme bildet auch Albert Rudolph2, geboren 1875 in Erfurt. Wenn sein Name genannt worden ist, dann bisher fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Gründung des Landes Thüringen 1920/21. Als Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates (ASR) Jena gelangte Rudolph in das Amt des „Vorsitzenden des Zwölfer-Ausschusses zur Vorbereitung der staatlichen Vereinigung Thüringens.“3 Sein Engagement war jedoch wesentlich vielfältiger und reichte deutlich weiter. In einer Selbstauskunft über seinen Werdegang gab er bis 1922 folgende Positionen und Tätigkeiten an: Schriftsteller, Hauptschriftleiter, Stadtverordneter, Vorsitzender des Bezirksarbeiterbildungsausschusses, Vorstandsmitglied des rheinischen Volksbildungsverbandes, Volkshochschullehrer, Herausgeber, Unterstützer der Volksbühnenbewegung, Mitglied der Comeniusgesellschaft, des 1 2
3
Steinmeier (2018): Demokratie!, S. 22. Teilweise findet sich in den Akten die Schreibweise Albert Rudolf. Zugunsten der Einheitlichkeit wird diese hier stillschweigend in Rudolph geändert. Nicht zu verwechseln ist dieser mit seinem Namensvetter Albert Rudolph (*1901), Landrat in Quedlinburg, Mitglied der NSDAP und Verfasser des Bandes Rudolph (1935): Zwischen Harz und Lausitz. In diesem Zusammenhang findet Rudolph Erwähnung bei: John (2009): „Land im Aufbruch“, S. 33, Häupel (1995): Gründung des Landes Thüringen, S. 82 sowie Bergmann (2001): Entwicklung Thüringens, S. 70 und S. 80. Als Vorsitzender des Jenaer ASR während der Novemberrevolution 1918 wird Rudolph und sein Wirken bei Hesselbarth (2018): Novemberrevolution 1918 betrachtet.
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Landtages Sachsen-Weimar-Eisenach,4 der Gewerkschaft, der Sozialdemokratischen Partei und schließlich des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Diese Liste ist dabei nur ein Ausschnitt und lässt sich weiterhin ergänzen. Mit der Vielzahl der Tätigkeiten lässt er sich damit als der „Prototyp“ eines Sozialdemokraten zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik bezeichnen. Seine Tätigkeiten waren vielfältig, wandelbar, häufigen Brüchen unterlegen, dabei aber stets dem Ziel der Demokratisierung verpflichtet. Frühzeitig verkörperte Rudolph damit den „Multifunktionär“ der Sozialdemokratischen Partei – ein Etikett, das auch Friedrich Ebert angetragen wurde.5 Unablässiges Engagement, Eifer und das Inkaufnehmen persönlicher Nachteile, um Ziele zu erreichen, die auf eine allgemeine Veränderung abzielen, zeichnete dabei Rudolphs Lebensweg. Wesentliche Grundlage seines Schaffens waren dabei die Erfahrungen seiner Jugendjahre und schließlich der Glaube, mit Hilfe einer umfassenderen Bildung und eines erweiterten Erfahrungsschatzes und politischer Betätigung die Verhältnisse zugunsten einer Demokratisierung zu verändern. Diesen Weg und Rudolphs bisher unbeachtetes umfassendes Wirken zeichnet der Beitrag nach. 2. LEHRJAHRE – ALBERT RUDOLPH IM KAISERREICH Rudolph stammte aus einem militärisch geprägten Haushalt. Sein Vater nahm am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 teil und war „mit Leib und Seele Soldat“,6 auch wenn er alsbald das Amt des Wagenmeisters in Erfurt ausübte. Die Mutter ist in Rudolphs Memoiren vor allem als stets bemühte Hausfrau und strenggläubige Protestantin eingewoben. Die Familie zog mehrmals um. Albert, das älteste von zwölf Kindern, besuchte die Schule regelmäßig. Nach dem Abschluss der erweiterten Volksschule – die Familie lebte mittlerweile in der Nähe von Heidelberg, der Vater wurde in einer Heilanstalt für psychisch Kranke behandelt und starb noch vor dem Beginn der Lehre seines Sohnes – soll er zum Maschinenbauer ausgebildet werden. Seine Tätigkeit entsprach jedoch keinesfalls dieser Beschreibung. Er bediente ausschließlich den Fahrstuhl des Betriebes. Zum Schlüsselerlebnis seiner Jugend – so zumindest stellte Albert Rudolph es selbst dar – wurde eine Begegnung mit dem ehemaligen Universitätslehrer Falk. Der junge Maschinenbauer kam erst dadurch in den Genuss der Hausbibliothek des Lehrers und begann, sich autodidaktisch einen Wissensschatz anzueignen. Seine Lektüre reichte dabei von Lessings Nathan der Weise über Spinoza und Büchner bis hin zu Ludwig Feuerbach. Die Beschäftigung mit der Literatur steigerte Rudolphs Missstimmung über den Stand seiner Ausbildung weiter. Nach einem gescheiterten Versuch, seine Unzufriedenheit dem Direktor der Werft zu übermitteln, wurde die örtliche Presse, die Volksstimme, auf den auf Änderungen bedachten Lehrling aufmerksam. Rudolphs 4 5 6
Vgl. Schreiben an das Thüringische Ministerium für Volksbildung in Weimar, vom 21.1.1922. In: Thüringisches Hauptstaatsarchiv (ThHStA) Weimar, 25653, Bl. 3–5. Vgl. Walter (2018): SPD, S. 43–45. Rudolph (1916): Wie ich flügge wurde, S. 8.
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Ziel wurde es, eine Versammlung aller Lehrlinge einzuberufen. Gemeinsam mit zwei älteren Lehrlingen gelang es ihm, den Großteil der Auszubildenden an einem Freitag nach Dienstschluss zu versammeln. Damit hatte Rudolph erste Erfahrungen in der Versammlungsarbeit erworben. Auch wenn der weitere Versuch der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, wobei es sich vor allem um eine grundsätzlichere Ausbildung mit Wissen über die Arbeit handelte, zunächst keinen Erfolg brachte, bedeute die Aufmerksamkeit durch die örtliche Presse eine Veränderung der Arbeitsstelle Rudolphs, die ihn schließlich für den Rest seines Lebens prägen sollte: Sein neuer Vorgesetzter nahm ihn daraufhin mit in einen sozialdemokratischen Diskussionsklub. Hier begann sein Weg in die organisierte Arbeiterschaft. An gleicher Stelle hielt er auch bald sein erstes Referat. Es behandelte das Parteiprogramm der SPD. Wenig geübt in der Rednerkunst, blieb der Vortrag mit „verworrenen Ausführungen“7 zurück, was Rudolph jedoch erneut zum Selbststudium antrieb. Wie sein weiterer Lebensweg zeigt, erwarb er recht bald die Fähigkeiten zur politischen Rede und zur Abhaltung eines Vortrags. Da die Parteistrukturen aufgrund des Sozialistengesetzes in Rudolphs Lehrlingsjahren nur rudimentär ausgeprägt waren, blieb der Weg in den sozialdemokratischen Wahlverein zunächst versperrt. Der Diskussionsklub verstand sich selbst eher als Nachwuchs- bzw. Jugendorganisation. Im gleichen Zeitraum wurde Rudolph aber ebenso Gewerkschaftsmitglied – eine Mitgliedschaft, die sich nach seinen anschließenden Wanderjahren als zukunftsweisend erweisen würde. In Hildesheim begann dann schließlich Rudolphs Karriere innerhalb der Arbeiterbewegung. In einer Stadt, die laut seinen Angaben kaum gewerkschaftlich organisiert war, versuchte der nun als Maschinenbauer tätige Rudolph den Organisationsgrad zu heben. Dieses Engagement sollte dem jungen Arbeiter jedoch bald darauf die Anstellung kosten. Ähnlich verläuft sein weiterer Aufenthalt in Braunschweig, wo seine Anstellung ebenso abrupt endete. In beiden Orten wird Rudolph schnell in die örtlichen Strukturen der SPD integriert. Nach einer weiteren Wanderung auf Arbeitssuche, die Rudolph nun auch in den Norden führte, versuchte er in der Heimat erneut eine Anstellung zu finden. Dies gelang und bedeutete gleichsam die stärkere Eingliederung in der örtlichen Sozialdemokratie. Innerhalb von vier Jahren wurde Rudolph nun in Wilhelmshaven-Bant Vorsitzender des Kartells der Vereinigten Gewerkschaften und Vertrauensmann der Partei. Da sich der Arbeitgeber jedoch in Staatsdienst befand und somit von staatlichen Aufträgen abhängig war, währte auch diese Anstellung nicht lange. Ein Vortrag von Albert Rudolph über die Einführung des Achtstundentages bei einer Versammlung der Metallarbeiter in Bremerhaven hatte abermals seine Entlassung zur Folge. Dies war die letzte Station seines Lebens als Maschinenbauer. Der 22.12.1897 wurde zur persönlichen Zäsur. An diesem Tag erhielt Rudolph seine Entlassungspapiere in der Maschinenbauwerkstatt. Laut seinen Memoiren wurde ihm fälschlicherweise zuzüglich der Entlassungsantrag zugestellt. Dieser führte als Begründung an: „wegen agitato 7
Ebd., S. 54.
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rischer und sozialdemokratischer Umtriebe“.8 Seine Jugenderinnerungen beendete Rudolph schließlich mit den Worten: „Fehlgeschlossen hatte die Werftleitung, wenn sie annahm, ich müßte Wilhelmshaven verlassen. Fortan stand ich vollständig im Dienste der Arbeiterbewegung.“9 Diese Schilderung seiner Jugendjahre beruht zwar auf den zunächst in loser Reihung und später als Gesamtband verfassten Jugenderinnerungen und überhöht womöglich Rudolphs Einsatz für seine Kollegen. Da durch ihre Veröffentlichung aber mit weiteren Repressionen im Kaiserreich zu rechnen war, sind sie dennoch Teil seines persönlichen Einsatzes für die Gewinnung weiterer Nachahmer. Mit der Entlassung in Wilhelmshaven begann für Rudolph der zweite Lebensabschnitt, der nun gänzlich unter dem Zeichen der Arbeiterbewegung stand. Auf der Suche nach Parallelen zu anderen Sozialdemokraten der Zeit, zeigt sich bis hier vor allem eine Übereinstimmung mit dem Lebensweg von Eduard Bernstein. Auch dieser war zwar in keiner klassischen Arbeiterfamilie, aber auch nicht im Bildungsoder Großbürgertum großgeworden. Die Großfamilien konnten durch den Beruf des jeweiligen Vaters – wobei beide als Lokführer bzw. Schaffner im Eisenbahndienst tätig waren – nur schwerlich ernährt werden. Die Kinder mussten frühzeitig im Haushalt tätig werden. Am ehesten unterschied die beiden die jüdische Herkunft Bernsteins. Rudolph hingegen war in einem protestantischen Haushalt aufgewachsen. Diese frühe Prägung brachte beiden aber die politische Positionierung im realpolitischen, reformerischen Flügel der Partei ein. Der Einsatz für konkrete Veränderungen der aktuellen Umstände bildete für beide die Grundlage der politischen Arbeit. In der Alterskohorte gehörte Rudolph zur zweiten Generation der deutschen Sozialdemokratie, die den Gründern und maßgeblich im Kaiserreich Wirkenden wie Ferdinand Lassalle, August Bebel, Eduard Bernstein und Karl Kautsky nachfolgte. Aus dieser zweiten Generation entstammten auch die führenden Köpfe der SPD in der Weimarer Republik wie Reichspräsident Friedrich Ebert und die SPDReichskanzler Hermann Müller und Gustav Bauer, die wie Rudolph allesamt zwischen 1870 und 1876 geboren worden waren. Diese Alterskohorte, denen vor allem die Erfahrung der Unterdrückung durch das Sozialistengesetz fehlte, wurde bereits als „Generation Ebert“ beschrieben und unterschied sich von den Gründern der deutschen Sozialdemokratie, die vorrangig vor oder während der Zeit des Kaiserreiches politisch sozialisiert worden waren, der sogenannten „Generation Bebel“.10 Rudolphs folgender Einsatz für die Arbeiterbewegung verlief daher ebenso in generationstypischen Bahnen. 1897 arbeitete er als Redakteur in WilhelmshavenBant, anschließend in Erfurt, Stuttgart, Nürnberg und Frankfurt a.M. Er schlug damit einen weitverbreiteten Karriereweg der Sozialdemokraten während des Kaiserreichs ein und schuf sich so eine Möglichkeit, um der Facharbeit zu entkommen 8 Ebd., S. 96. 9 Ebd., S. 97. 10 Vgl. Braun: „Generation Ebert“. In: Schönhoven / Braun (Hrsg.): Generationen, S. 69–86.
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und gleichzeitig eine Emanzipationschance zu ergreifen.11 Zur gleichen Zeit entsprangen weitere politische Ambitionen. 1905 trat Rudolph öffentlich für die Partizipation der Frau in der Politik ein.12 Als Delegierter Frankfurts nahm er erstmals am Parteitag der SPD 1907 in Essen teil. Aktiv wurde er allerdings erst auf den beiden folgenden Parteitagen. 1908 in Nürnberg wurde Rudolph in die Kommission für die Jugendorganisation und 1909 in Leipzig zum Berichterstatter der Beschwerdekommission gewählt.13 Auch für die folgenden vier Parteitage wurde Rudolph delegiert. Letztmalig besucht er als Jenaer Delegierter den Parteitag 1913 in Jena. Erste kommunalpolitische Erfahrungen konnte er aber noch in Frankfurt als Stadtverordneter sammeln. Hier war er im Finanz- und Schulausschuss tätig. Letzteres sollte seine gesamte weitere Tätigkeit prägen, denn dem Politikfeld der Bildung blieb Rudolph in nahezu allen kommenden Positionen behaftet. So verwundert es nicht, dass sich Rudolph auch nach seinem Umzug nach Jena kommunalpolitisch zunächst auf diesem Gebiet engagierte. Eine seiner ersten Amtshandlungen war der Einsatz für den Umbau eines Theaters, an dem sich die Arbeiterschaft der Stadt bereits beteiligt hatte und das explizit als Volks- und nicht als Hoftheater geschaffen werden sollte.14 Nach der Jahrhundertwende gründete Rudolph mit Agnes Ida Amalie Stahl eine Familie. Dem Paar werden die Söhne Ulrich (*4.12.1901) und Heinz-Dietrich (*3.10.1909) geboren.15 Amalie Rudolph war eine ebenso engagierte Sozialdemokratin, die bereits in Frankfurt in Kontakt mit den Gewerkschaften stand, spätestens in den Jenaer Jahren aber auch aktiv für die Mehrheitssozialdemokratie eintrat. So ergriff sie das Wort beispielsweise auf einer Versammlung der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), wobei der berichtende Zeitungsartikel sie als MSPDlerin auswies.16 Erfolgreich kandidierte sie später für den Landtag. Der sich an den Umzug nach Jena anschließende Heeresdienst war für Rudolph nur von kurzer Dauer, vom Juli 1915 bis Januar 1916.17 Bis dahin hatte dieser offenbar weiter an der Verlegung seiner bereits zuvor verfassten Kindheitserinnerungen gearbeitet. In diesen schilderte er seine oben aufgezeigten Jugendjahre.18 Rudolphs Werk reihte sich dabei in das gerade um die Jahrhundertwende aufblühende Genre der proletarischen Kinder- und Jugendliteratur ein, wobei hier die Werke von Edwin Hoernle (Erobert Kanonen; Der Mai ist gekommen), Richard Woldt (Im Reich der Technik) und Käte Duncker (Gerechtigkeit) zu den prägendsten ihrer 11 12 13 14 15 16 17
Vgl. Walter (2018): SPD, S. 44 f. Vgl. Klausmann (1997): Frauenbewegung, S. 124. Vgl. SPD (1908): Parteitagsprotokoll, S. 226 und SPD (1909): Parteitagsprotokoll, S. 479. Vgl. Jenaische Zeitung vom 2.3.1913. Vgl. [Auskunft] Kinder. In: ThHStA Weimar, 25653, Bl. 12. Vgl. Jenaer Volksblatt vom 17.1.1919. Vgl. Berechnung des ruhegehaltsfähigen Dienstalters des Oberregierungsrat Albert Rudolph. In: ThHStA Weimar, 25653, Bl. 32. 18 Bereits in der Arbeiter-Jugend hatte Rudolph ab Februar 1912 Teile des vollständig 1916 erschienenen Werkes veröffentlicht, wobei er hier erwähnte, dass wiederum in einer weiteren Zeitschrift zuvor diese Erinnerungen publiziert worden waren. Vgl. [Rudolph] (1912): Jugenderinnerungen eines Arbeiters. In: Arbeiter-Jugend, 4.1912, S. 210.
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Gattung gehörten. Seine schriftstellerischen Fähigkeiten – in den Memoiren erneut unter Beweis gestellt – bildeten dann schließlich auch den Grundstock seiner weiteren Tätigkeit. Seit 1912 arbeitete er als Redakteur der Weimarischen Volkszeitung für das Herzogtum Sachsen-Weimar in Jena. Erstmals wurde Rudolph nach seinen Jahren auf Wanderschaft längere Zeit sesshaft und seine Vorstellungen einer erstarkten Arbeiterbewegung schienen sich zu realisieren. Die Novemberrevolution 1918 beseitigte die fürstlichen Dynastien – und Rudolph wurde Teil des demokratischen Aufbruchs. 3. VON JENA NACH WEIMAR UND IN DIE REPUBLIK – RUDOLPH ALS PROTAGONIST DER REVOLUTION, POLITIKER UND BEAMTER Rudolph traf mit seinem Umzug nach Jena bereits auf eine starke oppositionelle und organisierte Sozialdemokratie. Folgerichtig kam es im Zuge der Revolution 1918 auch in Jena zur raschen Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten, nachdem ein unbefristeter Ausstand der Arbeiter der Stadt vom 7. November 1918 der Anfang vom Ende der Fürsten des Landes geworden war. In Jena selbst war die Revolution verhältnismäßig friedlich und unspektakulär verlaufen. Größere Impulse kamen aus den Städten der Umgebung, insbesondere Weimar. Am Nachmittag des 9. November 1918 gründete sich aber auch vor Ort ein Arbeiter- und Soldatenrat, der die Regierungsgeschäfte der Stadt übernahm und an dessen Spitze Albert Rudolph gewählt wurde. Neben ihn trat Gertrud Morgner, die Vorsitzende der örtlichen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD). Auch wenn Rudolph eine Zusammenarbeit mit dem Bürgertum öffentlich zunächst ablehnte und auf der MSPD-Landeskonferenz Sachsen-Weimar diesen Beschluss des Jenaer ASR weiterhin vertrat,19 präferierte er die Abhaltung von Wahlen und die Schaffung einer parlamentarischen Demokratie, was ihn der Kooperation mit dem Bürgertum nahe brachte. Schließlich stand Rudolph aber bald, ganz im Zuge des Beschlusses der Konferenz der Arbeiter- und Soldatenräte des Regierungsbezirkes Erfurt vom Dezember 1918, für die Wahl einer Nationalversammlung ein.20 Rudolphs Agieren zog mit diesem Einsatz allerdings den Unmut der örtlichen USPD auf sich. Kloße, ein Vertreter der Unabhängigen, hatte Rudolph und den Mehrheitssozialdemokraten eine „bewusste Feindschaft gegen die Revolution“ unterstellt, was Rudolph zu einer vorzeitigen Beendigung der Sitzung des Rates am 25. Februar 1919 und dem Verlassen der Versammlung veranlasste. Die Fraktion der MSPD hatte hier bereits deutlich gemacht, dass sie die Arbeiter- und Soldatenräte nur solange für notwendig erachtete, bis die gewählten demokratischen Körperschaften ihre Arbeit aufnahmen. Arbeiterräte sollten aber auf wirtschaftlicher 19 Zur Rolle Rudolphs in der Revolution 1918 vgl. Hesselbarth (2018): Novemberrevolution 1918, S. 77 f. und S. 112. 20 Zum Demokratisierungspotential und der heterogenen Ausprägung der Thüringer Rätebewegung vgl. Kachel (2011): Rot-roter Sonderweg?, S. 145–154.
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Ebene weiterhin fortbestehen.21 Rückendeckung erhielt Rudolph in seiner Funktion nun von den örtlichen Liberalen. Die Presse der Jenaer DDP sah in ihm einen Vertreter „für Demokratie und gegen jeden Terror.“22 In Jena hatte sich damit frühzeitig das für die Anfangsjahre des Landtages in Thüringen prägende Bündnis aus MSPD und DDP angebahnt. Noch in der Phase der Revolution hatte Rudolph die Bedeutung der Bildung für den neuen Staat erkannt und daher jene Gruppe als Ziel seiner Bemühungen auserkoren, die sich wie keine andere mit der Bildung auseinanderzusetzen hatte: die Jenaer Lehrerschaft. Bereits am 18. November 1918 hatte der Redakteur als Führer des Arbeiterrates der Stadt eine Lehrerversammlung einberufen, in der er über die Rolle der Lehrerschaft im neuen Deutschland sprach.23 Ein zweites Referat am Abend hielt Professor Wilhelm Rein zum Thema „Einheitsschule im neuen Deutschland“. Beide Referenten sollten sich später beim Aufbau der Volkshochschule in Jena wiederbegegnen. Festzuhalten ist aber, dass sich Rudolph direkt mit der Demokratisierung der Lehrerschaft und der Institution Schule befasste. So kam es in Jena neben der Gründung der Arbeiter- und Soldatenräte gar zur Schaffung eines Lehrerrates, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, „das gesamte Bildungswesen auf eine breite demokratische Grundlage“ zu stellen. Eine „wahrhaft demokratische Schulverfassung, Organisation und Handhabung, soll dafür sorgen, die Schule von unten bis oben hinauf volkstümlich im besten Sinne des Wortes zu machen.“24 Den Weg hierzu hatte Rudolph durch seine Initiative des Zusammentretens der Lehrerschaft geebnet und vorgezeichnet. Im Sinne der politischen Philosophie der Neuzeit hatte er die gegenseitige Bedingung und Durchdringung von Demokratie und Bildung erkannt, auf die auch Immanuel Kant hingewiesen hatte: Der kleine, naturgetriebene Mensch muss erst einen Prozess der auf Freiheit zielenden Erziehung durchlaufen haben, bevor er Mitglied eines sich selbst regierenden Staatsvolks werden kann, so wie umgekehrt nur autonome Bürgerinnen und Bürger eine öffentliche Erziehung institutionalisieren können, die ihren Kindern den Weg in die politische Mündigkeit ermöglicht.25
Daran knüpfte Rudolph an. Sein weiteres Engagement beschränkte sich hierbei aber nicht nur auf die Schule. Da ein Großteil der „neuen Demokraten“ dieser ja bereits entwachsen war, suchte Rudolph nach einer Möglichkeit für weitere Kreise Bildungsangebote zu unterbreiten. Hierzu wurde er in der Volkshochschulbewegung fündig. Im Gründungsprozess der Volkshochschule Jena wirkte das Ehepaar Rudolph gemeinsam mit. Beide zählten zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufs der Thüringischen Volkshochschulen. Dieser datiert auf den 1. März 1919 und 21 22 23 24 25
So vertreten von Röder. Vgl. Jenaer Volksblatt vom 27.2.1919. Jenaer Volksblatt vom 26.2.1919. Vgl. Jenaer Volksblatt vom. 14.2.1919. Ebd. Honneth (2012): Erziehung, S. 429 f. Honneth verweist auch auf die häufige Verbindung der Demokratietheorien des 18. und 19. Jahrhunderts mit einer spezifischen Demokratiepädagogik. Neben Kant befassten sich unter anderem Rousseau und Schleiermacher mit der „Erziehung zum Demokraten“. Vgl. ebd., S. 429–431. Weiterführend hierzu: Dreyer et. al. (Hrsg.) (2013): Bildung.
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forderte „den Ausbau seines [des Volkes, R.N.] geistigen Lebens und eine neue Teilnahme aller seiner Kinder an dem großen gemeinsamen Besitz unserer geistigen Güter.“26 Rudolphs Unterstützung blieb aber nicht auf diesem Akt beschränkt. Prominent trat er während der Eröffnungsfeier der Volkshochschule hervor. Im Anschluss an den Vorsitzenden des Arbeitsausschusses zur Gründung der Volkshochschule Jena, Dr. Wilhelm Rein, und den Oberbürgermeister der Stadt, Dr. Fuchs, sprach Rudolph. Sein Referat verband schließlich die Tradition der Arbeiterbildung sozialistischer Prägung, wobei er auf das bereits von Wilhelm Liebknecht bemühte Zitat der Aufklärung „Wissen ist Macht“ zurückgriff, mit den aktuellen Gegebenheiten, in denen er die Volkshochschule als „Teil der Erneuerungsarbeit unseres ganzen Geistesleben zum Vorteil unserer demokratischen Entwicklung“27 sah. Rudolphs Vorstellungen reihten sich damit ganz in die Vorstellungen der Jenaer Volkshochschulgründer ein, denen das Ideal einer Volksbildung mit dem Ziel der Erziehung selbstständiger und mündiger (Staats-)Bürger vorschwebte. Bewusst wurde dabei die Arbeiterschaft, denen der Zugang zu Bildung im Kaiserreich weitestgehend verwehrt geblieben war, in der Republik hierfür angesprochen.28 So reihte sich auch die später folgende Arbeit ein, denn während des Ferienkurses der Universität Jena im August 1921 hatte Rudolph vor Volkshochschullehrern und -leitern gesprochen. Sein Thema hierbei: „Das deutsche Arbeiterbildungswesen in Vergangenheit und Gegenwart.“29 Rudolph, der sich mit den Bildungsbestrebungen der Gewerkschaften befasst hatte, berührte hiermit ein neues Terrain für die Teilnehmer und trug somit erneut zur Verbindung von Arbeiterbildung und demokratischer Volksbildung an den Volkshochschulen bei. Albert Rudolphs Einsatz blieb jedoch nicht auf den kommunalen Rahmen beschränkt. Mit den Wahlen zum neuen demokratischen Landtag Sachsen-WeimarEisenach gelang es ihm erstmals, ein Mandat auf Landesebene zu erlangen. Durch die Wahlen vom 9. März 1919 waren sowohl Albert Rudolph als auch seine Frau Amalie in den Landtag eingezogen. Als zwei von 18 Abgeordneten der MSPD waren der Schriftleiter und seine Frau bis zur Auflösung durch den Zusammenschluss der thüringischen Staaten am 1. Mai 1920 im Parlament vertreten. Nach der Wahl war Rudolph im Staatsrat des Freistaates Sachsen-Weimar-Eisenach zunächst für das Kulturdezernat vorgesehen.30 Seine in Jena begonnene Arbeit zur Demokra 26 Aufruf! In: Blätter der Volkshochschule Thüringen, 1 (1919), S. 1. Auch Amalie Rudolph war Unterzeichnerin des Aufrufs. 27 Zitiert nach: Jenaer Volksblatt vom 3.4.1919. 28 Zur Idee der Gründer der Jenaer Volkshochschule vgl. Herrmann (1994): Gründer der Volkshochschule Thüringen. In: Volkshochschule Jena (Hrsg.): 1919 bis 1994, S. 31–62 und Rölker (1994): Programm der Volkshochschule. In: Ebd., S. 85–115. Beide Beiträge erwähnen Albert Rudolph allerdings nicht namentlich. Rölker berichtet vom anwesenden „Vertreter der Arbeiterschaft“, womit wohl Rudolph gemeint ist. Ebd., S. 85. 29 Vgl. Schreiben an das Thüringische Ministerium für Volksbildung in Weimar, vom 21.1.1922. In: ThHStA Weimar, 25653, Bl. 3–5. Einen Bericht über die Veranstaltung, die Rudolphs Beitrag erwähnt, findet sich in: o.A., Die Jenaer Ferienkurse. In: Blätter der Volkshochschule Thüringen 3 (1921), S. 87 f. 30 Vgl. Jenaer Volksblatt, vom 5.6.1919.
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tisierung des Staates, der Verwaltung und der Gesellschaft setzte er nun im Parlament fort. Als einer der ersten Beiträge im Landtag hatte Rudolph für die Demokratisierung der Hochschule geworben. In seiner Rede führte er aus: [W]ir sind der Auffassung, daß der staatsbürgerlichen Erziehung alle diejenigen Anstalten, die wir als Schulanstalt bezeichnen, in erhöhtem Maße zur Verfügung stehen müssen. Das gilt […] für staatsbürgerliche Erziehungszwecke aller Parteien, aller Gesinnungen und Weltanschauungen, das gilt selbstverständlich auch für den Universitätsbetrieb.31
Wie bereits in der Einleitung erwähnt, bildete jedoch der Vorsitz des Zwölfer-Ausschusses zur Vorbereitung der staatlichen Vereinigung Thüringens den vorläufigen Höhepunkt seiner politischen Arbeit. In diesem war er zuständig für die zukünftige Konzeption eines Staates Thüringen, der sich nun in seiner Gründungsphase vor allem mit der Reichsleitung, dem Staate Preußen und den thüringischen Gliedstaaten und ihren Vertretern im Zuge der Neugliederung des Landes zu befassen hatte. Rudolph als Vorsitzender des Rates wurde dabei ermächtigt, die Frage der Staatsgliederung im Namen Thüringens zu verhandeln.32 Er war es denn auch, der am 11. April 1919 im Landtag den Antrag zum Zusammenschluss der thüringischen Staaten vortrug. Dabei wollte er den Zusammenschluss „mit einem gewissen idealen Schwung“33 angehen, um damit auch die Demokratisierung weiterer Teile des Landes zu ermöglichen.34 Mit fraktionsübergreifender Mehrheit stimmte der Landtag diesem Antrag schließlich zu. Rudolph hatte damit erfolgreich die Vereinigung der ehemaligen thüringischen Fürstentümer zu einem Staat mit dem Anliegen der Demokratisierung verbunden. Damit war die Landesgründung für ihn nicht nur eine Angelegenheit der Verwaltung, sondern auch eine Möglichkeit der Demokratisierung weiter Teile der öffentlichen Ordnung. Sein weiteres Engagement im Landtag galt folgerichtig unter anderem der Errichtung von Forstausschüssen, um somit Erwerbslosen Arbeitsmöglichkeiten verschaffen zu können.35 31 Vgl. Verhandlungen des Landtags und der Gebietsvertretung von Sachsen-Weimar-Eisenach 1919–1921, 29. Stenographenprotokoll, vom 2.6.1919, Rede Rudolph, S. 736 f., hier S. 737. Zu einer Debatte hierzu war es gekommen, da die sozialistische Studentengruppe der Universität Jena eine Petition an den Landtag eingereicht hatte, in der sie die Abhaltung einer parteipolitischen Versammlung an der Universität Jena ermöglicht sehen wollte, die ihr zuvor vom Prorektor der Universität untersagt worden war. 32 Eine Bekanntmachung dazu findet sich bspw. in: Jenaer Volksblatt vom 1.1.1919. Detaillierte Überblicke über die Gründung des Landes Thüringen: Häupel (1995): Gründung des Landes Thüringen. Zur Arbeit des Landtags des Freistaates Sachsen-Weimar-Eisenach; Hermann (2002): Übergangslandtag. In: Thüringer Landtag (Hrsg.): Die vergessenen Parlamente, S. 53– 79. Dieser Prozess, der sich vor allem um die Frage einer groß- oder kleinthüringischen Lösung drehte, kann hier nicht näher dargestellt werden. 33 Verhandlungen des Landtags und der Gebietsvertretung von Sachsen-Weimar-Eisenach 1919– 1921, 4. Stenographenprotokoll, vom 11.4.1919, S. 57–60, hier S. 60. 34 Vgl. ebd., S. 59. 35 Vgl. Verhandlungen des Landtags und der Gebietsvertretung von Sachsen-Weimar-Eisenach 1919–1921, 42. Stenographenprotokoll, vom 30.6.1919, Rede Rudolph, S. 977–979. Die
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Rudolphs Wirken im Zwölfer-Ausschuss und die im Jenaer ASR unter Beweis gestellte Regierungsfähigkeit, gepaart mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit, prädestinierten ihn für Höheres. Nach dem Erfolg der Revolution in den thüringischen Staaten und deren Überführung in das Land Thüringen, wurde ihm daher weitere Verantwortung im Staatsdienst übertragen. Staatsminister Dr. Arnold Paulssen ernannte Rudolph am 1. Oktober 1919 zum Leiter des Presseamtes Thüringen.36 Hier war er zunächst mitverantwortlich für die Herausgabe der Schriftenreihe „Das neue Thüringen“. Diese hatte „die Verbreitung der Kenntnis des öffentlichen Rechtes des neuen Landes Thüringen“37 zum Ziel. Damit begannen in Thüringen erste Formen der historisch-politischen Bildung, oder – um mit den Worten der Weimarer Reichsverfassung zu sprechen – „sittliche Bildung [und] staatsbürgerliche Gesinnung“,38 aus den Reihen der Regierung. Als Staatsrat und Leiter des Presseamtes wurde Rudolph auch Teil des Volksrates von Thüringen vom 16.12.1919 bis zum 20.7.1920. In dieser Funktion zählte er auch zu den Unterzeichnern des Gemeinschaftsvertrages über den Zusammenschluss der thüringischen Staaten am 4. Januar 1920.39 Im ersten Kabinett des Landes Thüringen nach seiner Gründung und den ersten gesamtthüringischen Wahlen fand er jedoch keine Berücksichtigung. Eine Kandidatur für den ersten gesamtthüringischen Landtag hatte er nicht mehr in Erwägung gezogen. Seine Position als Staatsrat blieb ihm erhalten.40 So übernahm er vom 20.5.1919 bis zum 31.3.1922 das Amt des Staatsrats im Staatsministerium Thüringen bzw. seit Januar 1921 der Gebietsregierung unter Staatsminister Arnold Paulssen (DDP) und Staatskommissar August Baudert (SPD). Von den fünf Staatsräten hatten neben Rudolph zwei weitere der SPD angehört und zwei der DDP.41 Bald wechselte Rudolph in jenes Ministerium, das seiner Ausbildung und seinen Interessen aus der Kaiserzeit besonders gelegen schien: das Thüringische Ministerium für Volksbildung. Hier übernahm er die für ihn neu geschaffene Stelle eines Staatsrates zum 1. Januar 1922.42 Bereits ein Jahr später stieg er zum Oberregierungsrat auf.43 Dabei hatte Rudolph die Zuständigkeit für die Geschäfte der
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Überführung der Forstwirtschaft vom Privat- in den Staatsbetrieb sah Rudolph „intensiver und gewinnbringender für das Allgemeinwohl.“ Ebd., S. 979. Vgl. Anstellungs-Vertrag Albert Rudolph. In: ThHStA Weimar, 3936, Bl. 2. Rosenthal (1920): Einleitung. In: Rauch / Rudolph (1920): Die staatsrechtlichen Grundlagen des Landes Thüringen, S. 1. Neben Rudolph und Eduard Rosenthal, dem „Vater“ der Thüringer Landesverfassung, gehörte der Reichskunstwart Edwin Redslob zu den stetig wechselnden Autoren und Herausgebern der Schriftenreihe. Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Art. 148, Abs. 1. Vgl. Gemeinschaftsvertrag über den Zusammenschluß der thüringischen Staaten, vom 4.1.1920, abgedruckt in: Rauch / Rudolph (Hrsg.) (1920): Die staatsrechtlichen Grundlagen des Landes Thüringen, S. 8. Vgl. Leimbach (2016): Landtag, S. 450 f. Vgl. Post / Wahl (1999): Thüringen-Handbuch, S. 271. Vgl. Beschluss des Thüringischen Staatsministeriums, vom 2.1.1922. In: ThHStA Weimar, 3936, Bl. 17. Vgl. [Auszugsweise Abschrift]. In: ThHStA Weimar, 25653, Bl. 23.
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Weimarischen Anstalt für Wissenschaft und Kunst inne. Hierzu zählte neben der Staatlichen Hochschule in Weimar, den Zeichenschulen in Weimar und Eisenach sowie dem Staatsarchiv in Weimar auch das Bauhaus. So kam Rudolph in Kontakt mit dessen Leiter Walter Gropius.44 Die vielfältige Betätigung Rudolphs in seiner Zeit in Frankfurt in den verschiedenen Ausschüssen und seine Arbeit in den Vorfeldorganisationen der Sozialdemokratie, die sich einer umfassenden Arbeiterbildung verschrieben hatten, machten aus ihm einen geeigneten Kandidaten für die Arbeit im Volksbildungsministerium. Verglichen mit seinem Vorgesetzten, dem sozialdemokratischen Volksbildungsminister Max Greil, mangelte es Rudolph allerdings an einer formalen höheren Bildung und größeren Erfahrungen im Schulbereich, sodass ihm diese Position verwehrt blieb.45 Was sich bis dahin zunächst als Aufstieg in der ministeriellen Verwaltungsebene lesen lässt, wurde allerdings um die Jahreswende 1924/25 von den politischen Ereignissen eingeholt. Unter den Nachwehen der Reichsexekution des Landes Thüringen hatten die Wahlen 1924 das Ende des „roten Freistaates“ eingeläutet. Die Sammelliste „Thüringer Ordnungsbund“ (ein Zusammenschluss der bürgerlichen, nationalen und rechten Parteien) ging aus den Wahlen zum dritten Thüringer Landtag am 10. Februar 1924 als Sieger hervor. Die Sozialdemokratie schied dauerhaft aus der Regierung aus. 4. VOM LEHRLING ZUM LEHRER – DIE JAHRE 1924–1933/44 Dieser politische Umbruch hatte auch für Rudolph gravierende Folgen. Mit der Begründung, dass Rudolphs Stelle unter der neuen Regierung nicht mehr notwendig und durch andere Stellen abgedeckt werden könnte, wurde er in den Wartestand versetzt, da nach „der Art ihres [Albert Rudolphs, R.N.] Bildungsganges und ihrer auf besonderem Gebiet liegenden Fähigkeiten […] aber auch eine anderweitige Verwendungsmöglichkeit nicht“46 bestand. Rudolphs Entlassung in diesem Rahmen war kein Einzelfall, er gehörte aber zu den bekanntesten Leidtragenden dieser „Einsparungsmaßnahmen“. Die Presse beschrieb im April 1925 die Entlassung Rudolphs mit den Worten: „Nachdem jetzt auch die Thüringische Regierung den Oberregierungsrat im Volksbildungsministerium, den ehemaligen Staatsrat Genossen Rudolph, mit Wirkung v. 1. Mai in den Wartestand versetzt hat, dürfte die 44 Vgl. Schreiben von Walter Gropius an die Staatsminister Frölich, Greil und Hartmann sowie den Referenten Rudolph 1922–1924. In: ThHStA Weimar, Staatliches Bauhaus Weimar, Nr. 8. Vgl. hierzu Boblenz (2009): Gedenktafel. 45 Programmatisch verband Greil und Rudolph aber die Idee einer Zusammenarbeit von Bürgertum und Arbeiterschaft durch und in der Republik. Zu Greils Werdegang und seinen Demokratievorstellungen vgl. Mitzenheim (2006): Max Greil. In: Hesselbarth / Schulz / Weißbecker (Hrsg.): Gelebte Ideen, S. 187–196. 46 Schreiben Leutheußer an Rudolph vom 28.3.1925. In: ThHStA Weimar, 25653, Bl. 36.
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Staatsverwaltung des Landes Thüringen so ziemlich sozialistenrein sein.“47 Als Oberregierungsrat ereilte ihn das Schicksal der Entlassung aus dem ministeriellen Dienst aus parteipolitischen Gründen. Rudolphs Versetzung in den Wartestand bedeutete jedoch noch längst nicht das Ende seiner Tätigkeit. Er nutzte nun verstärkt erneut die Möglichkeit der Mitwirkung in der SPD. Dabei besann er sich wiederum auf jenen Bereich, dem er bereits in jungen Jahren und während der Revolutionszeit besonders zugetan schien: der politischen Bildungsarbeit. Als episodenhafter Einstieg hierin lässt sich Rudolphs Arbeit an der Heimvolkshochschule Tinz werten. Die Heimvolkshochschule nahe Gera hatte sich zunächst als sozialistische, aber überparteiliche Bildungsanstalt 1919 gegründet. Anfänglich noch mit einem Lehrerkollegium aus MSPD, USPD und KPD bestückt, entwickelte sich die Schule aber recht bald zur Ausbildungsstätte der jüngeren und vor allem linken SPD-Mitglieder.48 Hier wurde Rudolph nun beim ersten Kursus des Jahres 1927 Gastdozent und befasste sich mit dem Thema „Gewerkschaftswesen: Geschichte, Rolle, Stellung zu Staat und Partei“. Diese Tätigkeit führte ihn zusammen mit Ernst Fraenkel und Hermann L. Brill – beide im selben Jahr Lehrer an der Heimvolkshochschule.49 Was Rudolph jedoch deutlicher vorschwebte, hatte er bereits zuvor in einem Artikel dargelegt. Seine Programmatik erschien im November 1925 in der Zeitschrift der Sozialistischen Arbeiterjugend. Hierin wollte Rudolph die Abkehr vom Untertanengeist, den er offenbar weiterhin wahrnahm, in der Jugend befördern, daher wohl auch seine Tätigkeit in Tinz. Explizit hatte er dabei auf den Artikel 1 der Weimarer Reichsverfassung Bezug genommen: Wir brauchen den neuen republikanischen Staatsbürger, ohne den die deutsche Republik nicht bleiben darf, sollen nicht an ihrer Spitze auf viele Jahre hinaus Menschen mit kaltem Herzen stehen, die nur „Vernunftrepublikaner“ sind, denen der Volksgenosse nie Eigenzweck sein wird, die nie begreifen werden, was der zweite Satz des Artikel 1 in Deutschlands republikanischer Reichsverfassung bedeutet.50
Die sich anschließende Beschreibung der Untertanenerziehung des letzten Jahrhunderts endet mit dem Jahr 1918, mit dem er eine neue Epoche eingeleitet sah. 47 O.A., Unentwegter Abbau, Artikel vom 8.4.1925, [Zeitung unbekannt], Kopie. In: ThHStA Weimar, 25653, Bl. 35. Leimbach (2016): Landtag, S. 183 hat bereits auf die unterschiedliche Wahrnehmung dieser Entlassungswelle verwiesen, die zwischen „blindwütiger, parteipolitischer Maßregelung aller Andersdenkenden“ (Sozialdemokratische Landtagsfraktion (1926): Kampf, S. 80) und notwendigen Einsparungsmaßnahmen oszillierte. 48 Eine Zusammenfassung zu Gründung und Arbeit der Heimvolkshochschule Tinz findet sich bei Reimers (2011): Hermann Brill als Wegbereiter. In: Knigge-Tesche / Reif-Spirek (Hrsg.): Hermann Louis Brill, S. 37–55. In dem auf S. 44 f. genannten Lehrerkollegium ist der Name Rudolph allerdings nicht zu finden. 49 Vgl. Lehrplan Männerkurs 1. Halbjahr 1927. In: Thüringisches Staatsarchiv Greiz, Bestand Tinz. Nr. 59, Bl. 1–4. 50 Albert Rudolph, Die Erziehung zum republikanischen Staatsbürger. In: Arbeiter-Jugend, 17 (1925), S. 335–337, hier S. 335.
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Dies galt auch für Rudolph persönlich, denn seit Mitte der 1920er Jahre wurde er als Wanderlehrer für die SPD tätig.51 Diese hatte die Partei zur Unterrichtung ihrer Mitglieder durch das gesamte Reich entsendet. In meist mehrtätigen Kursen an Abenden und am Wochenende konnten somit teilweise mehr als 120 Mitglieder in verschiedensten Fragen geschult und unterrichtet werden. Die Wanderlehrer ersetzten somit die nach dem Ersten Weltkrieg nicht wieder errichtete Parteischule.52 Angegliedert und koordiniert wurden die Wanderlehrer dabei durch den Reichsausschuss für sozialistische Bildungsarbeit. Hier konnten Rudolph und seine Kollegen Christian Döring (Bremen) und Walter Fabian (Berlin) für wissenschaftliche Kurse angefragt werden.53 Während sich Döring vor allem mit den Themen Wirtschaftsgeschichte, der Lehre Marx’ und der Geschichte bis 1918 befasste und Fabian sich der sozialistischen Dichtung und Erziehung widmete, übernahm Rudolph die Thematiken Geschichte des deutschen Reiches und der Arbeiterbewegung, in Verbindung mit der Gewerkschaftsbewegung und sozialistischen Theorie. Aber auch die Weimarer Reichsverfassung (WRV) war Teil seiner Referatsreihe.54 Bei der Betrachtung derselben hob er in seinen Referaten unter anderem die Bedeutung der demokratischen Staatsform, das Prinzip der Volkssouveränität und die sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften der WRV hervor.55 Rudolph hatte so eine rege Unterrichtungstätigkeit entwickelt. Im Zeitraum vom 22. September bis 22. November 1930 hatte er nur sieben Tage ohne Rednertätigkeit verbracht. An den übrigen Tagen schulte er vor allem in Form von Abendkursen die SPD-Mitglieder teilweise mehrtägig in den Unterbezirken Saarbrücken, Trier, Koblenz, Aachen und Köln. Jeder Kurs wies dabei eine Teilnehmerzahl von 40 bis 50 Teilnehmern auf. Rudolphs Themenspektrum hatte sich hierzu auch den Erfordernissen der Zeit angepasst. Weiterhin betonte er die Errungenschaften der Demokratie durch seinen Vortrag „Von der Monarchie zur Republik“. Ergänzt und aktualisiert wurde die Vortragsreihe aber vor allem durch die beiden Vorträge „Der Marxismus der Gegenwart“ und „Das Heidelberger Programm“. In Berichten über die Veranstaltungen wurde positiv angemerkt, dass es Rudolph gelungen sei „durch seine Art die
51 Zur Verortung der Wanderlehrer der SPD in der Tradition der Arbeiterbildung vgl. Scharfenberg (1984): Bildungsarbeit. Für einen Überblick über die darüberhinausgehende Schulungsarbeit der Parteien der Weimarer Republik vgl. Noak (2017): „Staatsbürgerausbildung“ und „Kaderschmieden“. 52 Zur Arbeit der Parteischule zwischen 1906 und 1914 vgl. Braun (2001): Parteihochschule. Die Institution der Wanderlehrer besaß die SPD aber auch vor 1918. Parallel zur Parteischule arbeiteten auf diese Weise unter anderem Otto Rühle und Hermann Duncker. 53 Später trat noch Wilhelm Schack hinzu. 54 Vgl. Reichsausschuss für sozialistische Bildungsarbeit. Winterprogramm 1925/26. In: Bundesarchiv (BA) Berlin, R 1507/3061, Bl. 153–156. 55 Albert Rudolph, [Referatsskizze] Die Reichsverfassung und die politischen Parteien. In: BA Berlin, RY 20/II/145/24, Bl. 66.
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Herzen der Rheinländer auf[zuschließen und es] gehen die Zuhörer mit.“56 Allerdings schienen Rudolphs Kurse einige SPD-Mitglieder, insbesondere jene der jüngeren Generation (wobei das Durchschnittsalter der Kursteilnehmer bei 33,5 Jahren lag), nicht anzusprechen. Denn Jungsozialisten und Studenten blieben überwiegend fern, da ihnen, wie der Bericht ausführt, „der Genosse Rudolph zu weit rechts steht.“57 An anderer Stelle wurde aber gerade sein Wissen um den theoretischen Sozialismus gelobt, wohingegen jenes der Teilnehmer als „beinahe ungenügend“ eingestuft wurde, sodass Rudolph wiederholt erneut als Referent angefragt wurde.58 Der Wissensdrang in den SPD-Bezirken war offenbar besonders groß. Auffällig ist zudem ebenso die hohe Anzahl an Funktionären, die an den Kursen teilnahmen. Deren Anteil machte in einigen Kursen mehr als die Hälfte der Anwesenden aus. Ebenso hervorstechend war, dass die Kurse bei Rudolph – mit einer Ausnahme – für die Teilnehmer kostenfrei waren, wohingegen der Wanderlehrer Wilhelm Schack in circa der Hälfte seiner Kurse eine Teilnahmegebühr verlangte.59 Womöglich war Rudolph finanziell nicht von der Betätigung als Lehrer abhängig oder der Reichsausschuss für sozialistische Bildungsarbeit bzw. die Ortsverbände übernahm die anfallenden Beträge. Im Rahmen seiner Wanderkurse wurde zusätzlich Rudolphs Einsatz bei der Agitation gegen den Nationalsozialismus (NS) positiv eingestuft. Hatte sich der Wanderlehrer in den Kursen zuvor dem gesamten politischen Spektrum gewidmet, so verdichtete sich seine Arbeit Ende 1930 auf die Auseinandersetzung mit der neuen Gefahr für die Demokratie. Dabei fokussierte sich Rudolph auf die Ausbildung geeigneter, vor allem jüngerer, Redner als Widersprecher in Veranstaltungen der NSDAP.60 Mit seinem Engagement arbeitete Rudolph somit der folgenden politischen Radikalisierung entgegen. Die ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten bildete einen radikalen Einschnitt in seine Tätigkeit. Als Mitglied des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold seit seinem Gründungjahr 1924 bis September 193261 und SPDler bis 193362 wurde Rudolph im Juni 1933 durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 56 Bericht über die Wandervorträge des Genossen A. Rudolph, Weimar, im Bezirk „Obere Rheinprovinz“ in der Zeit vom 22. September bis einschl. 22. November 1930. In: BA Berlin, RY 20/II/145/24, Bl. 107–109, hier Bl. 108. 57 Ebd. 58 Vgl. Schreiben SPD Bezirk Baden an SPD-Parteivorstand, vom 15.12.1930. In: Ebd., Bl. 117 f. 59 Angaben beruhen auf den Fragebögen über den Verlauf der [wissenschaftlichen Wander-] Kurse. In: Ebd., Bl. 126–160. 60 Vgl. Schreiben SPD Bezirk Baden an Reichsausschuss für sozialistische Bildungsarbeit. In: Ebd., Bl. 119 f. 61 Sein Ausscheiden aus dem Reichsbanner im September 1932 könnte mit den sich intensivierenden Konflikten zwischen Reichsbanner und SPD zusammenhängen. Diese Konflikte kreisten auch um die Frage der Jugenderziehung. Vgl. Elsbach (2019): Reichsbanner, S. 514–526. 62 Laut seines Fragebogens, den er aufgrund zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 7. April 1933 ausfüllte. In: ThHStA Weimar, 25653, Bl. 64 f. In einer persönlichen Erklärung am darauffolgenden Tag gab Rudolph allerdings an aktuell keiner sozialdemokratischen oder kommunistischen Partei anzugehören. Vgl. [Erklärung vom 8. April 1933]. In: Ebd., Bl. 62.
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Wartestand in den Ruhestand versetzt. Er war nun endgültig in das Visier der Nationalsozialisten geraten. Der Beschluss des thüringischen Staatsministeriums nennt neben Rudolph zwei weitere Beamte, die Opfer des Gesetzes wurden: Wilhelm Lämmle ereilte das identische Schicksal. Auch Richard Gonnermann wurde aus seiner Position entlassen.63 Für Rudolph wurde wie 1924 seine Mitgliedschaft in der SPD als Grund der Entlassung angeführt.64 Sein Eintritt in die sozialdemokratische Partei reichte 1933 bereits exakt ein halbes Jahrhundert zurück. Die erzwungene Auflösung der SPD brachte das Ende seiner Mitgliedschaft in der Partei. Aufgrund dieses Verbotes blieb dem engagierten Sozialdemokraten und Wanderlehrer offenbar keine weitere Option zur fortgeführten Betätigung auf seinem Arbeitsfeld. Über die letzten Jahre in Albert Rudolphs Leben lassen sich nur spärliche Informationen finden. Nach seiner Versetzung in den Ruhestand aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zog der ehemalige Staatsdiener und Wanderlehrer nach Süddeutschland. Für ein knappes halbes Jahr lebte er zunächst in Stuttgart, ab November 1933 war er in Nellingen bei Esslingen wohnhaft, beides wird einzig durch ein Schreiben der Thüringer Landeshauptkasse belegt,65 die offenbar seine Pensionszahlungen weiterhin leistete, was Rudolph zumindest ein ausreichendes Auskommen für die letzten Lebensjahre beschert haben dürfte. Mit diesem Schreiben enden die archivalischen Überlieferungen Albert Rudolphs. Der Umzug bedeutete wohl den Abbruch sämtlicher Beziehungen und damit auch das Ende seines politischen Engagements. Er ging in die innere Emigration. Am 20. September 1944 – im Alter von knapp 70 Jahren – verstarb er in Esslingen am Neckar.66 5. DIE REALISIERUNG DER DEMOKRATISCHEN HOFFNUNG Albert Rudolph gehörte sicher zu der Vielzahl kaum bekannter Demokraten der Weimarer Republik, die nicht an herausgehobenen Positionen, sondern in der zweiten Reihe – in seinem Fall könnte man sogar eher von der dritten Reihe sprechen – für eine Demokratisierung der Gesellschaft und die Nutzung der gewonnenen Freiheiten sowie für eine Selbstemanzipation zuvor unterdrückter Teile der Gesellschaft kämpften.67 Mit der Schaffung der ersten deutschen Demokratie wandelte sich 63 64 65 66 67
Vgl. Beschluss des Thüringischen Staatsministeriums vom 22. Juni 1933. In: Ebd., Bl. 73. Vgl. Schreiben vom Thüringischen Volksbildungsministerium. In: Ebd., Bl. 84. Vgl. Schreiben der Thüringischen Landeshauptkasse, vom 7.10.1933. In: Ebd., Bl. 82. Vgl. Sterbeurkunde Albert Rudolph, vom 21.9.1944. In: Ebd., Bl. 88. Den bereits erwähnten Weggefährten Rudolphs, Hermann Brill, immerhin später Teilnehmer am Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee im August 1948, bezeichnete Karsten Rudolph als „Exponenten der ‚zweiten Führungsgarnitur‘“ (Rudolph (2011): Vom Linksrepublikanischem Projekt. In: Knigge-Tesche / Reif-Spirek (Hrsg.): Hermann Louis Brill, S. 131). Diese Einschätzung mag für die Jahre 1918–33 zutreffen, nach 1945 rückte Brill unter anderem durch seine Teilnahme am Verfassungskonvent aber in die vorderste Reihe.
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dieses Kämpfen dann in ein Eintreten und Nutzen der gewonnenen Freiheit sowie ihre weitere Verbreitung und Verteidigung. Was Rudolph allerdings besonders auszeichnete, ist seine Wandelbarkeit und die vielfältigen Ausprägungen seiner unermüdlichen Arbeit. Als gewissermaßen „Prototyp“ eines (gemäßigten) Sozialdemokraten zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, der nahezu zeitlebens in sozialdemokratische (Vorfeld-)Organisationen eingebettet war, gelang es ihm im Zuge der Novemberrevolution und der demokratischen Umgestaltung des politischen Systems eine verantwortungsvolle Position zu erlangen. Dabei schien sein Werdegang als Maschinenbauer aufgrund seiner Herkunft als ältester Sohn einer in Armut lebenden Großfamilie eigentlich in eine gänzlich andere Richtung vorgezeichnet. Erst seine politische Betätigung änderte diese Vorsehung. Rudolph selbst sah den Schlüssel seines Aufstiegs in der erlangten Bildung – die Begegnung mit einem ehemaligen Universitätslehrer wurde so zu einem Schlüsselerlebnis. In dem bereits am Anfang dieses Beitrags angeführten, von Rudolph selbst verfasstem Lebenslauf, endet er mit den Worten: „dass neben den altgewohnten Wegen wissenschaftlicher Vorbildung und Schulung im Leben auch noch andere Vorbereitungsmöglichkeiten vorhanden sind.“68 Diese hatte er vielfach genutzt. Diese Option ist auch als ein Versprechen der Arbeiterbildung identifizierbar, die schließlich mit jenem Ziel etabliert worden war, der Arbeiterschaft die verwehrte Bildung zukommen zu lassen. Rudolph verwies auf die Bedeutung der Bildung für eine Demokratisierung und der damit einhergehenden Verbesserung der persönlichen und gesellschaftlichen Situation. Neben dieser Ebene des Engagements ist sein Lebenslauf aber auch Beleg dafür, wie sehr die Weimarer Demokratie überhaupt erst Voraussetzung dafür war, dass es gelingen konnte, durch Selbstbildung, Engagement und demokratischen Einsatz das „Credo“ des Aufstiegs nicht nur als Leitbild sondern als tatsächliche Option zu implementieren. Rudolphs Werdegang ist gewissermaßen Beleg und Einlösung der Forderungen der Sozialdemokratie im Kaiserreich. Gerade obwohl er durch die rechtskonservative Regierung Thüringens aus dem Amt gedrängt worden war, nutzte er die Möglichkeit, durch weitere Unterrichtungen als Lehrer die Idee der Bildung als Emanzipationsmöglichkeit weiterzutragen und sich in den Dienst der Sozialdemokratie und Republik zu stellen. Seine eigene Erfahrung, durch Bildung an gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen, prägte so sein lebenslanges Engagement auf diesem Feld. Für Rudolph war das Jahr 1924 und die Entlassung aus dem Staatsdienst wahrscheinlich kein biografischer Bruch, sondern vielmehr eine Fortsetzung seiner Tätigkeit – allerdings in einem anderen, ihm jedoch genauso vertrauten Umfeld. Bereits in seinen Jugenderinnerungen 1916 hatte er sich als selbstbildenden, ebenso wie lehrenden Charakter dargestellt – unwissend, dass dies bald seine Haupttätigkeit werden würde und er so Lehre und Lernen miteinander in Einklang zu bringen 68 Rudolph, Schreiben an das Thüringische Ministerium für Volksbildung in Weimar, vom 21.1.1922. In: ThHStA Weimar, 25653, Bl. 3–5, hier Bl. 5.
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suchte. Oder, um erneut Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu zitieren: „vor allem wir als Demokraten können lernen von denen, die vor uns kamen.“69 Albert Rudolph ist ein Beispiel dafür, welche Bedeutung das Lernen von vorangegangen Generationen für die Demokratie haben kann. QUELLEN Arbeiter-Jugend. Monatsschrift der Sozialistischen Arbeiterjugend Deutschlands. Blätter der Volkshochschule Thüringen. Bundesarchiv Berlin: R 1507/3061; RY 20/II/145/24. Rauch, Karl / Rudolph, Albert (Hrsg.): Die staatsrechtlichen Grundlagen des Landes Thüringen. Verfassung, Gemeinschaftsvertrag und Landtagswahlgesetz. Mit einer Einleitung von Geh. Justizrat Prof. Dr. Eduard Rosenthal, Erfurt 1920. Jenaer Volksblatt. Zeitung der Deutschen Demokratischen Partei. Jenaische Zeitung. Amts-, Gemeinde- und Tageblatt. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Nürnberg vom 13. bis 19. September 1908, Berlin 1908. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Leipzig vom 12. bis 18. September 1909, Berlin 1909. Rudolph, Albert: Wie ich flügge wurde. Jugenderinnerungen eines Arbeiters, Stuttgart 1916. Sozialdemokratische Landtagsfraktion (Hrsg.): Der politische Kampf um die Gestaltung des Landes Thüringen. Bericht der Sozialdemokratischen Landtagsfraktion 1924–1926, Gera 1926. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar: Haupt-Akten Thüringisches Ministerium des Inneren in Weimar über Leiter des Thüringischen Presseamtes Staatsrat Rudolph, Albert Karl Wilhelm, 3936; Thüringisches Ministerium für Volksbildung. Personalakten Regierungsrat Albert Rudolph, 25653; Staatliches Bauhaus Weimar, Nr. 8. Thüringisches Staatsarchiv Greiz, Bestand Tinz, Nr. 59. Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Verhandlungen des Landtags und der Gebietsvertretung von Sachsen-Weimar-Eisenach 1919–1921: Protokolle.
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69 Steinmeier (2018): Demokratie!, S. 24 f.
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„DEMOKRATIE IST DER GROSSE GEDANKE, DER DEN VOLKSSTAAT ÜBERHAUPT TRÄGT.“ Richard Seyfert als Politiker Janosch Förster 1. EINLEITUNG Richard Seyfert (1862–1940) ist heute, wenn überhaupt, nur als Pädagoge bekannt. Ohne Frage nimmt sein Wirken als Lehrer, Schuldirektor, Autor akademischer und praxisnaher erziehungswissenschaftlicher Literatur und schließlich als Gründungsprofessor des Pädagogischen Instituts der Technischen Hochschule Dresden den größten Raum in seiner Biographie ein. Dass Seyfert über zwei Jahrzehnte auch als aktiver Politiker auftrat, gerät zumeist in den Hintergrund.1 Daher wird im Folgenden sein politisches Handeln und sein demokratisches Denken in den Fokus genommen.2 Seyfert trat unmittelbar nach der Novemberrevolution der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei und blieb ihr bzw. der Deutschen Staatspartei bis zur Machtergreifung treu. Seine Verdienste für die Ziele dieser Partei waren zeitgenössisch unbestritten, insbesondere wenn es um ihre Funktion als Mittlerin zwischen Sozialdemokratie und liberalem Bürgertum ging.3 Doch beweist allein die formalen Mitgliedschaft in einer Partei, die den Begriff der Demokratie im Namen trug, noch nicht die These, dass eines ihrer Mitglieder zwangsläufig auch als ‚Demokrat‘ im heutigen Sinne gelten kann. Schon die Unbestimmtheit des Begriffs ließe dies nicht zu. Heute ist die Demokratie als Konzept positiv besetzt und die übergroße Mehrheit in Deutschland bekennt sich zu ihr. Wenn aber nachgefragt wird, was genau 1
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Zur Biographie Seyferts siehe umfassend bisher nur Keppeler-Schrimpf (2005): „Bildung ist nur möglich…“. Hier auch weitere Literatur. Die Autorin konzentriert sich ganz auf den Lehrer und Erziehungswissenschaftler Seyfert. Seine politische Karriere wird nur sehr oberflächlich und an mehreren Stellen fehlerhaft dargestellt. Seine Tätigkeit im Landtag zum Beispiel erwähnt die Autorin nur beiläufig. Siehe auch Stratmann (1993): Richard Seyfert (1862–1940) Eine kurze Erwähnung, ebenfalls fehlerbehaftet, findet Seyfert als Politiker in Widra (2016): Geschichte des sächsischen Liberalismus, S. 104f. Der vorliegende Beitrag basiert auf einer ersten biographischen Skizze in Pastewka (2018): Koalitionen statt Klassenkampf, S. 143ff. Siehe etwa die zahlreichen Glückwünsche und Zeitungartikel zu seinen Amtsjubiläen und runden Geburtstagen in den Jahren 1922, 1927 und 1932, überliefert im Sächsischen Staatsarchiv Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsHStAD), Bestand 12785 Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 1.08 Ehrungen, Anerkennungen, Aufsätze über Seyfert.
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unter Demokratie zu verstehen sei, gehen die Meinungen darüber sehr schnell sehr weit auseinander.4 Das war vor rund einhundert Jahren ebenso. In einem programmatischen Artikel schrieb Christoph Gusy im Jahr 2000, über das „Demokratische Denken“ in der Weimarer Republik wüssten wir bisher nur wenig.5 Diese Forschungslage hat sich inzwischen deutlich gebessert – der vorliegende Band beweist dies eindrücklich. Verwiesen sei exemplarisch auch auf die bereits 2007 erschienene Untersuchung Heiko Bollmeyers zur Nationalversammlung. Bollmeyer konnte hier durch umfangreiche qualitative Analyse zeigen, dass der Begriff Demokratie zunächst eine Brückenfunktion zwischen Sozialdemokraten und Demokraten hatte, später aber mehr und mehr zu einem „unspezifischen Fahnenwort“ herabsank.6 Ohne Frage war der Demokratiebegriff damals also mindestens genauso schillernd wie heute. Die Frage sollte also nicht lauten, ob Seyfert Demokrat war, sondern was für ein Demokrat er war. Dabei steht Seyfert möglichweise pars pro toto für den Typus eines Liberalen, der sich zu Lebzeiten mit drei Systemen arrangieren musste – und arrangieren wollte. Offener Widerstand war seine Sache nicht. Als praxisnaher Akademiker sah er sich in der Pflicht, seine Ideale vom Volksstaat, wie er die Demokratie in der Praxis nannte, durch sein politisches Wirken in Parlament und Staatsdienst und durch seine publizistische Tätigkeit im System zu verwirklichen. Im Folgenden sei zunächst ein Blick auf die Biographie Seyferts im Kaiserreich und der Weimarer Republik bis in das Jahr 1926 geworfen. Jenes Jahr stellte für den Politiker einen Wendepunkt dar. Im Oktober scheiterte sein wichtigstes politisches Projekt, seine „Mission“ wie er es nannte: eine Koalition zwischen gemäßigter Sozialdemokratie und liberalen Kräften im sächsischen Landtag.7 Wenige Monate zuvor hatte er anlässlich des Verfassungstages eine Rede gehalten, in der er seine Vorstellungen von den Rechten und Pflichten des Volksstaates darlegte. Das unveröffentlichte und unkorrigierte Redemanuskript ist im zweiten Abschnitt Ausgangspunkt für eine Untersuchung seines demokratischen Denkens. Anschließend wird seine Biographie bis zum Tode nachgezeichnet. In diesem dritten Abschnitt ist vor allem von Interesse, wie Seyfert auf den aufkommenden Nationalsozialismus reagierte.
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Vgl. zum Beispiel die Erörterung in der aktuellen „Mitte-Studie“: Zick/Küpper/Berghan (Hrsg.) (2019): Verlorene Mitte, S. 227ff. Gusy (2000): Einleitung: Demokratisches Denken in der Weimarer Republik – Entstehungsbedingungen und Vorfragen, S. 12. Bollmeyer (2007): Der steinige Weg zur Demokratie, S. 317. Seyfert (1935): Lebensbuch eines Lernenden, S. 296.
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2. VOM SCHULMANN ZUM LANDESPOLITIKER Hermann Richard Seyfert wurde am 20. April 1862 in Neudorf bei Dresden geboren.8 Damit gehörte er einer Generation an, die später die „Wilhelminische“ genannt werden sollte.9 Er nahm die Reichsgründung als Neunjähriger bereits bewusst war und wurde in den rund vierzig Jahren, die das deutsche Kaiserreich währte, sozialisiert. Sein Vater war Soldat, später Ingenieur bei der Sächsischen Staatseisenbahn, daher zog die Familie mehrfach um. Seine Mutter starb kurz nach der Geburt. Er wuchs mit zahlreichen Geschwistern bei seiner Stiefmutter auf. Seyfert besuchte das Lehrerseminar in Waldenburg, wurde 1881 zunächst Hilfslehrer, dann Lehrer und 1888 Schuldirektor in Marienthal bei Zwickau. 1896, im Alter von 34 Jahren, nahm er in Leipzig ein Studium auf und wurde 1902 bei dem Psychologen Wilhelm Wundt promoviert. Politisch aktiv wurde er erstmals 1906, also mit 44 Jahren, als er den jungen Dresdner Stadtverordneten Gustav Stresemann im Reichstagswahlkampf dabei unterstützte, einen für die Nationalliberalen scheinbar uneinnehmbaren Sitz im Erzgebirge (sächsischer Wahlkreis Nr. 21, Annaberg) zu erobern.10 Der Coup gelang: Die Nationalliberalen konnten dem sozialdemokratischen Amtsinhaber Ernst Grenz Anfang 1907 das Mandat streitig machen. Seyfert trat der Nationalliberalen Partei bei. Ob diese Entscheidung die richtige gewesen war, zweifelte er in seinen 1935 erschienenen Lebenserinnerungen an: Einerseits bezeichnet er sich hier als glühenden Verehrer Bismarcks, andererseits kannte er die Not der arbeitenden Bevölkerung aus seiner eigenen Familie, seinem Schulalltag und dem Leben im vielerorts bitterarmen Erzgebirge. Seiner Autobiographie nach hatte er auch Marx, Bebel und andere sozialistische Autoren gelesen und studiert, diese aber, wie er schreibt, nicht verstanden: „Meinem sozialistischen Denken nach gehörte ich in keine bürgerliche Partei“, notiert er, „meinem wirtschaftlichen und nationalen Denken nach nicht in die sozialdemokratische Partei“.11 Die Nationalliberale Partei Friedrich Naumanns, zu dessen Anhängern damals auch Stresemann gehört hatte, sei jene Partei gewesen, die am meisten für die Freiheit des Individuums eingetreten sei.12 Mit Blick auf seine gesamte Biographie wird deutlich, dass sich Seyfert tatsächlich zeitlebens im politischen Feld zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus bewegte, dem „nationalen“ Liberalismus dabei aber immer verhaftet blieb.13 8 9 10 11 12 13
Der Abschnitt basiert im Wesentlichen auf der Autobiographie Seyferts, ergänzt durch Erkenntnisse aus seinem im Sächsischen Hauptstaatsarchiv bewahrten Nachlass. Siehe Seyfert (1935): Lebensbuch eines Lernenden. Der Begriff geht zurück auf das Generationenkonzept von Peukert (2009 [1987]): Die Weimarer Republik, S. 16–31 sowie S. 91–100. Buero des Reichstages (Hrsg.) (1907): Reichstags-Handbuch, Zwölfte Legislaturperiode, S. 137. Seyfert (1935): Lebensbuch eines Lernenden, S. 218f. Seyfert (1935): Lebensbuch eines Lernenden, S. 218. Einige Gegenbeispiele liefert Lehnert (2015): Von der Liberaldemokratie zur Sozialdemokratie zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik
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1909 wurde er in die Zweite Kammer des sächsischen Landtages gewählt und profilierte sich dort als liberaler Bildungspolitiker. Der Erste Weltkrieg stürzte Seyfert in eine nationalistische Euphorie. Sein 1915 erschienenes Buch Vom deutschen Wesen nach dem Krieg enthält Formulierungen, die dem damaligen Zeitgeist entsprechen, etwa wenn er versucht, das „Undeutsche“ gegen das „Edeldeutsche“ auszuspielen.14 Den größten Vorteil des Krieges sah Seyfert in der Schaffung des inneren Friedens. Die Erinnerung an den „Schützengrabengeist“ jener Jahre blieb für ihn eine zentrale Motivationsquelle für sein politisches Engagement.15 Gegen Ende des Krieges engagierte sich Seyfert in der so genannten Neuordnungsdeputation des königlich-sächsischen Landtages.16 Ziel der Reformen, die hier diskutiert wurden, war eine parlamentarische Monarchie. Bereits zu dieser Zeit arbeitete Seyfert eng auch mit moderaten Sozialdemokraten zusammen. An eine Abschaffung der Monarchie dachte in dieser Runde niemand. Kurz vor Ausbruch der Revolution wurde Seyfert noch Mitglied des sogenannten Staatsrats, einer eigentümlichen Mischung aus Krone, Exekutive und Legislative.17 Dieser sollte die Parlamentarisierung Sachsens vorbereiten, trat aber nur einmal, am 29. Oktober 1918, zusammen. Danach wurde aus der Reform des politischen Systems eine Revolution. Ende 1918 brach Seyfert mit vielen seiner nationalliberalen Freunde, die sich zur Deutschen Volkspartei (DVP) orientieren und trat der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei. Diese bestand zu jener Zeit in Sachsen etwa zur Hälfte aus ehemaligen Nationalliberalen und ehemaligen Freisinnigen.18 Seyfert wurde für seine neue Partei in die Weimarer Nationalversammlung gewählt.19 Hier war er maßgeblich an der Formulierung der Schulartikel 142 bis 150 beteiligt.20 Zurück in Dresden war er beratend für den sozialdemokratischen Kultusminister Wilhelm Buck tätig und wurde im Oktober 1919 selbst Minister für Kultus und öffentlichen Unterricht, nachdem die erste sozialliberale Koalition in Sachsen erfolgreich zustande kam.21 Richard Seyfert war auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere. 14 Seyfert (1915): Vom deutschen Wesen. 15 Seyfert (1926): Verfassungsfeier, pag. 3. 16 Zur Deputation für Neuordnung siehe Pastewka (2018): Koalitionen statt Klassenkampf, S. 155f. 17 Zum Staatsrat siehe Pastewka (2018): Koalitionen statt Klassenkampf, S. 156. Ähnlich auch Karsten Rudolph der von einer „haltlosen Vermischung von abgeleiteten, parlamentarischen, ständestaatlichen, monarchischen und bürokratischen Elementen“ spricht. Rudolph (1995): Die sächsische Sozialdemokratie, S. 164. 18 Rudloff (2002): Von den Nationalliberalen zur Deutschen Volkspartei 19 Buero des Reichstages (Hrsg.) (1919): Handbuch der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung, S. 262. 20 Der ursprüngliche Artikel zur Schulpolitik im Verfassungsentwurf von Hugo Preuß (Art. 31) war äußerst knapp gehalten, da Bildungspolitik zunächst Ländersache bleiben sollte. Seyfert formulierte Ende März 1919 einen neuen Artikel, der in Form eines Antrages (Antrag Dr. Seyfert, Weiß, Frau Pfülf, Nr. 98 vom 2. April 1919) in den Verfassungsausschuss eingebracht wurde. Ein Faksimile seines Entwurfes findet sich in seiner Autobiografie: Seyfert (1935): Lebensbuch eines Lernenden, S. 272. 21 Sächsische Volkskammer (Hrsg.) (1919): VSV, 3. Bd., S. 2043.
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Schon bei dieser ersten Koalition über die Lagergrenzen zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum hinweg war er ein zentraler Akteur im Hintergrund. Seine Beziehungen zur Führung der damaligen sächsischen Sozialdemokraten, unter ihnen der Ministerpräsident Georg Gradnauer, waren professionell und, der persönlichen Korrespondenz nach, von Respekt und Vertrauen geprägt. 1920 beendete die Volkskammer, wie der sächsische Landtag zunächst hieß, ihre Arbeit mit der Verabschiedung der Landesverfassung. Bei den Wahlen zum ersten Landtag erlitten jedoch sowohl MSPD als auch DDP herbe Niederlagen. Die Ursachen dafür waren primär in der Reichspolitik zu suchen. Die Auswirkungen waren gerade in Sachsen dennoch beträchtlich. Weder das sozialdemokratische noch das „bürgerliche“ Lager verfügten nun über eine Mehrheit, denn die Kommunisten stellten sich klar und entschieden gegen die Verfassung und das parlamentarische System. Wie schon unmittelbar nach der Revolution versuchten sich die Sozialdemokraten an einer Minderheitsregierung. In der sächsischen Sozialdemokratie wurde die Generation der Reform-Sozialisten um Gradnauer und den Parlamentspräsidenten Julius Fräßdorf, die wie Seyfert bis zum November 1918 auf eine umfassende Reform der Monarchie und eine sanfte Parlamentarisierung gesetzt hatten, durch jüngere, „linkere“ Genossen ersetzt.22 Die Stellung der SPD-Parteibasis zur Koalition mit den Liberalen war ab diesem Zeitpunkt grob ablehnend. Hinter den Kulissen im Landtag war Seyfert, inzwischen Abgeordneter und Vorsitzender seiner Fraktion, einer der wichtigsten Protagonisten hin zu einer Verständigung. Sein parlamentarisches Engagement in dieser Zeit brachte ihm den leicht süffisanten Titel eines „Gralshüters des Parlamentarismus“ ein.23 1923, im Jahr der Ruhrkrise und der Hyperinflation, näherte sich der SPD-Ministerpräsident Erich Zeigner der KPD an, die seine Minderheitsregierung stützte. Im Oktober nahm er zwei Kommunisten in die Regierung auf. Dieser Umstand und Zeigners Ankündigung, geheime Informationen über die so genannte Schwarze Reichswehr öffentlich zu machen, gaben schließlich den Ausschlag zur Reichsexekution.24 Zeigner wurde abgesetzt, der Landtag stand kurz davor, von Reichswehrtruppen besetzt zu werden. In jenen Tagen spielte Richard Seyfert als Vermittler zwischen den Abgeordneten des sächsischen Parlamentes, den Abgesandten der Parteien aus Berlin und der Reichswehr eine wichtige Rolle.25 Während des Jahreswechsels 1923/24 nutzte Seyfert seine Beziehungen zum Fraktionsvorsitzenden der SPD, Robert Wirth, um seiner Vorstellung einer stabilen Regierung der Mitte doch noch zum Durchbruch zu verhelfen.26 Das Zustandekommen der Großen Koalition in Sachsen, die dem Land nach einer schwierigen Anfangsphase bis Ende der 20er Jahre Stabilität sicherte, war im 22 Zur Entwicklung innerhalb der SPD siehe unter anderem Rudolph (1995): Die sächsische Sozialdemokratie; Schmeitzner (2000): Alfred Fellisch. 23 Sächsischer Landtag (Hrsg.) (1924): VdSL, 2. WP, 2. Bd., S. 1857C. 24 Zur Reichsexekution siehe unter anderem Schmeitzner (2003): Einheitsfront oder Große Koalition?; Schmeitzner (2006): Erich Zeigner; Mühlhausen (2006): Friedrich Ebert, S. 641ff. 25 Pastewka (2018): Koalitionen statt Klassenkampf, S. 215f. Hier auch weitere Literatur. 26 Pastewka (2018): Koalitionen statt Klassenkampf, S. 220ff.
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Wesentlichen Seyferts Verdienst und sein größter politischer Erfolg. In der Regierung von 1924 war Seyfert erneut als Kultusminister im Gespräch, das Ministerium ging aber an die DVP. Die DDP übernahm das Finanzministerium mit Julius Dehne als Ressortchef. Seyfert blieb Abgeordneter und Fraktionsvorsitzender und als solcher erneut im Hintergrund wichtiger Moderator zwischen sozialdemokratischer Parlamentsmehrheit und Volkspartei. Auch außerhalb des Landtags machte Seyfert Karriere und wurde Professor und Gründungsdirektor des Pädagogischen Instituts der Technischen Hochschule Dresden (PI). Trotz dieser Verpflichtungen blieb Seyfert politisch aktiv, sprach häufig im Plenum, publizierte über den Landtag und die demokratische Partei in Sachsen oder nahm Einladungen zu Wahlkampfveranstaltungen an.27 1926 wurde er erneut ins Parlament gewählt, zog sich aber zunehmend aus der aktiven Politik zurück. 3. SEYFERTS DEMOKRATIEBEGRIFF Die sächsische Demokratie verlor durch diesen Rückzug fraglos einen ihrer wichtigsten Vertreter. Was aber verstand Richard Seyfert Mitte der 1920er Jahre unter Demokratie? Seine Ausführungen zu Fragen der Staatsordnung und zum Parlamentarismus vor 1918 sind vom damaligen politischen Mainstream kaum zu unterscheiden. Der Beamte im sächsischen Staatsdienst und Abgeordnete der Zweiten Kammer des königlichen Landtags (die bisweilen noch immer als die „getreuen Stände“ bezeichnet wurden) äußerte sich nicht öffentlich kritisch über die Monarchie, da ihm dies wohl als Akt des Aufbegehrens hätte ausgelegt werden können.28 Wie bereits erwähnt begrüßte Seyfert den Weltkrieg insofern, als dass der gemeinsame Kampf die gespaltene Nation scheinbar zusammenbrachte und die Gelegenheit eröffnete, nach dem Krieg die Monarchie grundsätzlich zu modernisieren und die Arbeiterschicht in das politische System zu integrieren. Freilich lehnte er den damals in Sachsen vorherrschenden Konservatismus genauso ab, wie alle Liberalen des späten Kaiserreichs. Zwanzig Jahre später, in seiner Autobiographie, unternahm er den Versuch, sein geistiges Werk im Bereich der Pädagogik und der Schulpolitik sowie sein politisches Wirken im Nachhinein mit der Ideologie des Nationalsozialismus, so wie Seyfert sie verstand, in Einklang zu bringen.29 Die Demokratie erwähnte er nun gar nicht mehr, von der Bezeichnung seiner ehemaligen Partei einmal abgesehen. 27 Exemplarisch seien erwähnt: Seyfert (1922): Die politische Lage in Sachsen.; Seyfert (1924): Zurück zur Vergangenheit oder vorwärts.; Seyfert (1926): Land und Landtag; Seyfert (1928): Sachsen 28 Sein späterer Parteifreund Oskar Günther etwa hatte 1903 einen kleinen Skandal ausgelöst, da er sich als einziger Landtagsabgeordneter geweigert hatte, eine Ergebenheitsadresse der Ständeversammlung an den König zu unterschreiben. Vgl. Pastewka (2018): Koalitionen statt Klassenkampf, S. 141. Solche Regelübertretungen sind von Seyfert nicht bekannt. 29 Vgl. vor allem die „Feierabendgedanken“ in Seyfert (1935): Lebensbuch eines Lernenden, S. 328ff.
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So sind denn Aussagen über die tatsächlichen Überzeugungen des Politikers Richard Seyfert in jener Zeit und in jenem System zu vermuten, in der eine freie Meinungsäußerung und eine politische Positionierung ohne Probleme und ohne Angst vor Repression möglich waren: in der Weimarer Republik. Ein Mann seiner Position hatte es nicht nötig, als Apologet der Demokratie nur zu erscheinen, um sich zu behaupten. Hätte er die Republik und die Demokratie verächtlich machen wollen, hätte er es in jener Zeit tun können – so wie zahlreiche seiner Kollegen, die dem deutschnationalen Spektrum zuzuordnen sind. Er tat es nicht, sondern er verteidigte die junge Demokratie und ihre Verfassung bis zu ihrem Ende. Die folgenden Ausführungen zu Seyferts politischem Denken basieren daher ausschließlich auf Quellen aus den 1920er Jahren, bei denen davon auszugehen ist, dass sie nicht nachträglich revidiert, geändert oder geschönt worden sind. Jedenfalls finden sich im Nachlass keinerlei Hinweise auf Kürzungen oder Korrekturen der handschriftlichen Manuskripte. Auch die Protokolle seiner Reden im sächsischen Landtag wurden unmittelbar nach den Sitzungen gedruckt und bestenfalls redaktionell, nur in den seltensten Fällen inhaltlich korrigiert. Sie stellen also ebenfalls recht verlässliche zeitgenössische Quellen dar. Eine zusammenhängende politischtheoretische Schrift hinterließ er nicht. Wie also sehen den genannten Quellen zufolge die Demokratievorstellungen dieses sächsischen Landespolitikers aus? Zunächst ist festzustellen: Wie die meisten Liberalen des 19. Jahrhunderts ist Seyfert klassischer Idealist. Im Hintergrund der Dinge sei stets die Idee, führt Seyfert aus, und „alles Menschliche muss zumeist einmal Gedanke sein“.30 Er unterscheidet folglich zwischen der Demokratie als Idee und dem Volksstaat als der praktischen Anwendung dieser Idee, als Staatsprinzip einer Republik. Im Landtag fasste er dies so zusammen: „Es kann in einem parlamentarischen Staate eben die Einigung nur ermöglicht werden auf der Linie der Demokratie. Demokratie ist der große Gedanke, der den Volksstaat überhaupt trägt.“31 Sein Idealismus trennt ihn damit grundsätzlich von den ihm sonst durchaus wohl gesonnenen Sozialdemokraten. Aus ihrer Sicht steht Seyfert, wenn man ein berühmtes Marx-Zitat heranziehen mag, noch immer ganz hegelianisch auf dem Kopf, während jene ihre praktische Philosophie bereits auf die Füße gestellt hatten.32 Grundvoraussetzung ist für ihn das gleiche und geheime Wahlrecht, für das sich Seyfert und die Demokraten bereits vor der Revolution eingesetzt hatten.33 Zum Frauenwahlrecht äußert sich Seyfert nicht, er schließt es freilich aber nicht aus und war mit führenden Frauenrechtlerinnen aus dem demokratischen Spektrum wie 30 Zur Verfassungsfeier, Chemnitz, 11.8.1926. Unveröffentlichtes Manuskript. SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 804, pag. 1. (im Folgenden: Seyfert (1926): Verfassungsfeier). 31 Sächsischer Landtag (Hrsg.) (1924): VdSL, 2. WP, 3. Bd., S. 2250A. 32 Vgl. hierzu die Würdigung „50 Jahre Pädagogik“ des sozialdemokratischen sächsischen Landtagspräsidenten Kurt Weckel für Richard Seyfert anlässlich dessen 50-jährigen Amtsjubiläums. In: Dresdner Volkszeitung (DVZ) Nr. 96 vom 25. April 1931. 33 Pastewka (2018): Koalitionen statt Klassenkampf, S. 155.
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Getrud Bäumer oder Else Ulich-Beil persönlich befreundet, so dass davon auszugehen ist, dass er gegen diese historische Erweiterung des Wahlrechts keinerlei Einwände hatte. Das Wahlrecht ist für Seyfert die Vorbedingung für den eigentlichen Zweck der Demokratie, nämlich die Umsetzung der Idee, nach der das Volk „aus eigener Macht mit eigener Verantwortung sein Schicksal gestaltet“.34 Als langjähriger Parlamentarier ist Seyfert Anhänger der repräsentativen Demokratie. Die Volksvertretung ist für Seyfert der Ort, an dem die unterschiedlichen Meinungen zum Ausgleich gebracht werden sollten. Hier solle im Interesse des Ganzen entschieden werden. Es sei eine „Verirrung“, wenn im Parlament nur wirtschaftspolitische Interessen durchgesetzt würden.35 Zur Volksgesetzgebung, die im Verfassungsrecht des Freistaates Sachsen verhältnismäßig stark ausgeprägt war, äußert Seyfert sich nicht.36 Grundsätzlich hatten sich seine Parteikollegen in den sächsischen Verfassungsberatungen sehr positiv über die Möglichkeiten von Volksbegehren und Volksentscheiden geäußert. Man fürchte, „nach der ganzen wenig politischen Art unseres Volkes keinen Mißbrauch“, so der demokratische Abgeordnete Erich Wullfen in der Volkskammer.37 Dass es dann doch immer wieder zu einem solchen Missbrauch kam, irritierte die Demokraten. Ihre Unterstützung für ein Volksbegehren zur Auflösung des Landtages durch Volksentscheid 1922 war dann auch nur lauwarm. Das Selbstbestimmungsrecht des Volkes, sich in Freiheit seine Staatsform zu geben, ist für Seyfert die entscheidende Neuerung, die es zu verteidigen gilt. Dies sei das Staatsideal, das im deutschen Geistesleben schon immer eine bedeutsame Rolle gespielt habe und von „guten und großen deutschen Männern“ bereits 1848 gepriesen worden sei. Bisher [also bis 1918] sei diese Idee revolutionär gewesen, jetzt könne sie „völlig unbefangen und unbesorgt“ erörtert werden. Da er die Novemberrevolution als solche jedoch ablehnt, projiziert Seyfert ihr Ergebnis auf die Weimarer Reichsverfassung, an der er selbst mitgewirkt hatte. Die Verfassung sei, so Seyfert, die „Überwindung der Revolution“.38 Seyferts Volksstaat erinnert stark an den Hobbes’schen Leviathan. Der Staat sei eine „Gesamtpersönlichkeit“, eine „Organisation, der eigenes persönliches Leben zukommt.“39 Dem entsprechen die Pflichten der Staatsbürger, nämlich „einen Teil seines Wesens, seiner Leistung, seine Einkünfte dem Ganzen zu geben“, sich „dem Ganzen ein- und unterzuordnen“ und „im Ganzen gestaltend mitzuwirken“.40 34 Seyfert (1926): Verfassungsfeier, pag. 4. 35 Seyfert (1926): Verfassungsfeier, pag. 4. 36 Laut Artikel 36 der Verfassung des Freistaates Sachsen vom 1. November 1920 war es bereits möglich, ein Volksbegehren über die Auflösung des Landtages anzustrengen, wenn nur zehn Prozent der Wählerinnen und Wähler dies verlangten. 37 Verhandlungen der Sächsischen Volkskammer im Jahre 1920, 4. Bd., 116. Sitzung vom 12. Mai 1920, S. 3672(A). 38 Seyfert (1926): Verfassungsfeier, pag. 2. 39 Seyfert (1926): Verfassungsfeier, pag. 1. 40 Seyfert (1926): Verfassungsfeier, pag. 4.
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Gleichzeitig unterscheidet Seyfert „Masse“ und „Führer“, aber, so Seyfert, „die freie Führerwahl, die Wahl der geeignetsten an jeder Stelle, der Tüchtigsten an die höchste Stelle ist die wichtigste Erscheinungsform der Demokratie.“41 Seine Demokratievorstellungen wenden sich in erster Linie gegen die beiden alternativen Ordnungssysteme seiner Zeit: die autoritäre Monarchie und die marxistische Räterepublik. Beide spalten aus seiner Sicht die Gesellschaft in Klassen. Dieser Spaltung stellt er die „innere Einheit unseres Volkes im nationalen Volkstum“ gegenüber. Das individuelle Heimatgefühl solle sich allmählich erweitern zum Staatsgefühl, zu einer staatsbürgerlichen Verantwortung, denn diese sei geeignet, die Klassengegensätze zu überwinden. Er kämpfe, so Seyfert 1920 im Landtag, für die Aufhebung dieser als „Kastengeist“ bezeichneten Überreste ständestaatlich begründeter gesellschaftlicher Organisation einerseits und die Überwindung des marxistisch-materialistischen „Klassenbewußtseins“ der Arbeiterschichten andererseits.42 Hier spiegelt sich noch einmal der Front- und Schicksalsgemeinschaftsgedanke des Weltkrieges wieder, der nun, bereits zu Beginn der Republik, im Begriff der Volksgemeinschaft populär wurde.43 Seyfert differenziert allerdings sehr genau: Er grenzt sich gegen die Monarchie als Staatsform ab, nicht aber als Teil der deutschen und sächsischen Geschichte und Tradition, die es zu respektieren und zu pflegen gilt. Gleichzeitig lehnt er den Historischen Materialismus ab, nicht aber die pragmatische Sozialdemokratie und ihre Repräsentanten. In einer Wahlkampfrede 1926 betonte er: Wir sollten doch mancherlei gelernt haben: dass der Sozialdemokrat ebenso gut ein Bürger ist wie wir anderen. Nachdem diese so gut wie alle anderen im Felde ihren Mann gestanden haben […] sind sie keine Bürger 2. Klasse – Männer wie Ebert, David, Löbe, Braun, Semmering, Gradnauer, Buck, Harnisch: die kann man nicht mehr wie früher, vor dem Kriege, behandeln.44
In seiner Rede über die Rechte und Pflichten des Volksstaates formuliert Seyfert weiterhin, welche Pflichten die Staatsbürger und einzelne Gruppen zu erfüllen hätten. Von den Staatsbediensteten und Beamten fordert er Loyalität zur Republik und unbedingte Verfassungstreue, von den Lehrern die Erziehung der Jugend im „Geiste des neuen Staates“, ohne aber die Schule für parteipolitische Propaganda zu missbrauchen.45 Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass besonders der Art. 148 WRV teilweise Seyferts Handschrift trägt.46 Sein Ursprünglicher Entwurf forderte, in allen Schulen sei „edle Menschlichkeit, persönliche und 41 Seyfert (1926): Verfassungsfeier, pag. 4. Zum Führerbild des Liberalismus siehe Lange (2012): Genies im Reichstag. 42 Sächsischer Landtag (Hrsg.) (1921): VdSL, 1. WP, 1. Bd., S. 93D. 43 Zum Problem des Begriffes „Volksgemeinschaft“ und seiner Bedeutung in der Weimarer Republik siehe unter anderem Wildt (2010): Volksgemeinschaft und Führererwartung in der Weimarer Republik; Hardtwig (2013): Volksgemeinschaft im Übergang; Llanque (2015): Der Weimarer Linksliberalismus und das Problem politischer Verbindlichkeit; Retterath (2016): Was ist das Volk; Retterath (2019): „Parteihader“ versus „Volksgemeinschaft“ 44 SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 816, pag. 6. 45 Seyfert (1926): Verfassungsfeier, pag. 11. 46 Vgl. Fn. 20.
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staatsbürgerliche Tüchtigkeit auf deutsch-volkstümlicher Grundlage“ zu erstreben.47 Die Eliten des Staates, er nennt sie die „Berufenen“, sieht er in der Pflicht, am Staate mitzuwirken. Sollten sie sich verweigern, würde sich das Volk dazu genötigt sehen, unberufene Demagogen zu unterstützen. Darin sieht er die Gefahr.48 Dies kann man als Kritik an den Nationalsozialisten, aber auch an linkssozialistischen bzw. kommunistischen Führern deuten. Seyfert nahm sich auch persönlich in die „Pflicht“. In seinen Texten, aber auch in Briefen betonte er immer wieder, dass er sich nicht in politische Posten gedrängt habe, sondern, ganz Kind seiner Zeit, aus Pflichtgefühl den Bitten seiner Partei nachgekommen sei. Wenn es um die konkrete Ausformung des Volksstaates geht, dann lässt Seyfert bei aller Betonung des Individuums auch sozialistische Elemente in seine Überlegungen und Reden einfließen. So fordert er, nicht nur der Gemeinschaftsbesitz nationaler deutscher Kulturgüter, sondern auch der Boden, die Bodenschätze, die Naturkräfte und die allgemeinen Verkehrsmittel sollten „nicht Gegenstände des wirtschaftlichen Kampfes sein“.49 Damit geht er weit über das hinaus, was heute in Deutschland an Sozialisierung realisiert ist. Auch in seiner Theorie eröffnet er somit Anschlussstellen für das linke Lager. Wenn die Begrifflichkeiten Seyferts wie Volkstum, Volksgemeinschaft, Führertum und so weiter den heutigen Leser vermuten lassen könnten, Seyfert habe bereits in den 20er Jahren nationalsozialistischem Gedankengut nahe gestanden, so verkennt eine solche Vermutung zum einen, dass es sich um damals über die Parteigrenzen hinweg durchaus geläufige Begriffe handelte, zum anderen, dass bei Seyfert ein entscheidendes Element fehlt: Nirgends findet sich in seinem Denken eine Forderung der Exklusion. Die Volksgemeinschaft wird nicht rassisch definiert. Niemand wird von ihr a priori ausgeschlossen. Im Gegenteil wird jeder motiviert, an ihr teilzuhaben und sich einzubringen. Nirgends findet sich in Seyferts Ausführungen eine Anspielung auf antisemitisches Gedankengut oder antisemitische Stereotype. Mit Blick auf die politische Lage in Russland, Italien und Spanien lehnt er Gewalt als Mittel der Politik ab. Gleichzeitig tritt er leidenschaftlich für eine „wehrhafte Demokratie“ ein, wie man es heute nennen würde. Er schreibt 1926: Nicht ungestraft darf es bleiben, wenn die neue Staatsform verhöhnt und verächtlich gemacht wird, wenn seine [sic] Hoheitszeichen, seine Farben verunglimpft werden, wenn seine Vertreter in Regierung und Parlament beschimpft werden. Der neue Staat muß Mittel und Wege finden,
47 Seyfert (1935): Lebensbuch eines Lernenden, S. 272f. Diese etwas pathetisch anmutenden Formulierungen wurden im Laufe der Verfassungsberatungen entschärft und durch den Antrag Löbe/Gröber Nr. 566 vom 15. Juli 1919 um den Begriff der „Völkerversöhnung“ ergänzt, was Seyfert, trotz der hoch emotionalisierten Stimmung nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages und dem zeitweisen Ausscheiden der Demokraten aus der Reichsregierung (21.6.1919), im Plenum der Nationalversammlung begrüßte. Er warnte die „Erziehung“ davor, dem „Gefühle des Hasses sich hinzugeben“. Siehe: Protokolle der Sitzungen der Nationalversammlung, 60. Sitzung vom 18. Juli 1919, S. 1686A. 48 Seyfert (1926): Verfassungsfeier, pag. 6. 49 Seyfert (1926): Verfassungsfeier, pag. 7.
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daß diejenigen, die sich zu ihm bekennen, sich geschützt wissen gegen Verunglimpfung. Gegen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Boykott. Vereine und Verbände, die Republikaner deshalb ausschließen, weil sie Republikaner sind, sind als politische und staatsfeindliche zu verbieten.50
Was in Seyferts Demokratievorstellungen dennoch fehlt, ist eine klare, explizite Abgrenzung gegen die Nationalsozialisten. Es ist zu vermuten, dass er dies 1926 für unnötig, bzw. die „Hitlerleute“ für unwürdig befand, sich ausführlich mit ihnen zu beschäftigen. Drei Jahre später stellte er in einem Redemanuskript zu 10 Jahre Deutsche Verfassung stichpunktartig immerhin fest: „Gegner dreist – Krasse gegnerische Häme – Stahlhelm – Nationalsozialistische Propaganda“.51 Weitere Erwähnungen finden sich jedoch auch hier nicht. Eine parlamentarische Auseinandersetzung zwischen ihm und den Abgeordneten der NSDAP blieb aus, da sie erst in nennenswerter Stärke ins Parlament einzogen, als Seyfert es verließ. Ebenfalls fällt auf – und hier steht Seyfert wohl stellvertretend für die übergroße Mehrheit der politischen Akteure der Weimarer Republik – dass Pluralismus nicht als ein positiver Wert beschrieben wird. Das ist, Jahrzehnte bevor Theoretiker wie Ernst Fraenkel oder Jürgen Habermas ihre positiv konnotierten Pluralismus-Vorstellungen entwarfen, nicht weiter verwunderlich, aber doch entscheidend, wenn es um die Absicherung seiner Demokratievorstellungen gegenüber totalitären Staatsvorstellungen geht. Auch Seyfert beklagt, dass es zu viele politische Anschauungen gäbe und es wird gefordert, diese zu homogenisieren und zu einigen. Dass es normativ richtig und wichtig sein könnte, in einer Demokratie Meinungsvielfalt innerhalb weit gesetzter Grenzen zuzulassen, weil nur so letztlich der demokratische Prozess am Leben gehalten wird – diese Idee findet sich bei Seyfert nicht. Statt der pluralistischen Gesellschaft bleibt wie erwähnt die Volksgemeinschaft das Ziel.52 Weiterhin gibt es bei Seyfert keine Überlegungen dazu, das positive Recht des Volksstaates durch überpositives, der Reichsverfassung vorgeschaltetes Naturrecht abzusichern. Dass die Demokratie als Staatsform sich aus unveräußerlichen Menschenrechten ableite und daher auch nicht ohne Weiteres wieder abgeschafft werden könne, ist ihm fremd. Für ihn ist die Weimarer Verfassung, ganz im Sinne Hegels, ein „geschichtlicher Vorgang“ sie hat einen „geschichtlichen Sinn“ und in ihr wirken „geschichtliche Kräfte“.53 Das macht ihn mit seiner leidenschaftlichen Begeisterung für die Arbeit der Weimarer Nationalversammlung zunächst zu einem Weimarer Demokraten. Was jedoch passieren solle, wenn der Weltgeist sich anschickte, über die Demokratie hinweg zu gehen, dazu findet sich bei Seyfert nichts. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass Richard Seyferts Vorstellungen in den 1920er Jahren zahlreiche Kriterien erfüllen, die auch heute von einer repräsenta 50 Seyfert (1926): Verfassungsfeier, pag. 9 51 SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 832, pag.2. 52 Leider ist nicht überliefert, ob Seyfert sich mit Ferdinand Tönnies’ Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft eingehender beschäftigt hat, oder ob er den Geimeinschaftsbegriff ähnlich unreflektiert übernahm wie viele andere Zeitgenossen. 53 SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 832, pag.3.
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tiven Demokratie verlangt werden: Universelles Wahlrecht, Parlamentarismus, sozialstaatliche Elemente, wehrhafte Demokratie. Und dennoch lässt seine Theorie einige Hintertüren offen, durch die nationalsozialistisches Gedankengut eindringen und die vorgebrachten Überlegungen quasi umprogrammieren können: Den Wunsch nach einer sozialen Volksgemeinschaft kann der geneigte Leser problemlos in den nach einer rassisch definierten umdeuten, aus der Forderung der Wahl der „Tüchtigsten“ als Führer wird leicht eine nach dem stärksten oder skrupellosesten. Auf eben diese Interpretationsleistung verlässt sich Seyfert in seiner Autobiographie. Eigentlich speist sich seine Theorie jedoch aus seinen Erfahrungen der Vergangenheit. Ihm geht es bei seinen Überlegungen um die Überwindung der Aristokratie von Adel und Militär sowie um die Beseitigung der sozialen Spaltung. Mit der politischen Entwicklung, die sich in den 1930er Jahren in Deutschland abspielen sollte, war Seyfert zunehmend überfordert. 4. NATIONALSOZIALISMUS, TOD UND NACHWIRKUNG Überhaupt schien ihn die aktive Politik immer weniger zu reizen. Bei den Landtagswahlen 1929 verzichtete Seyfert darauf, ein weiteres Mal anzutreten. In einem privaten Brief gab er gesundheitliche Gründe an, aber es dürften vor allem politische Ränkespiele innerhalb der sächsischen Demokraten gewesen sein, die ihm die Lust an der politischen Betätigung nahmen.54 Nach seinem Ausscheiden aus dem Parlament konzentrierte sich Seyfert auf sein akademisches Werk. Mit 69 Jahren ging er 1931 in Pension. Er blieb aber publizistisch auf dem Gebiet der Pädagogik noch bis 1935 tätig. Mit der Machtübernahme der Nazis kam Seyfert in Schwierigkeiten. Er verlor den Rückhalt der Studentenschaft im von ihm gegründeten PI. Zeitweise wurde zum Boykott seiner Vorlesungen aufgerufen, die er als Emeritus weiterhin hielt. Ausgerechnet sein schärfster Kritiker in Bildungsfragen, Wilhelm Hartnacke, übernahm das sächsische Volksbildungsministerium und drohte Seyfert auf Basis des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 ein Berufsverbot und empfindliche Pensionskürzungen an. Er habe als demokratischer Abgeordneter und Minister „die nationale und christliche Erziehung ungezählter Kinder in Sachsen verhindert“. Weiter hieß es in dem Schreiben Hartnackes: Es ist mit dem neuen Geiste im Staate nicht zu vereinigen, eine Persönlichkeit zur künftigen Lehrerschaft sprechen zu lassen, die wesentliche Grundlagen der heutigen [nationalsozialistischen] Staatsführung bisher verneint hat.55
Hartnacke verschärfte seine Drohungen noch einmal mit einem Schreiben vom 19. Oktober 1933.56 54 Vgl. den Brief seines Parteifreundes Julius Dehne an Seyfert vom 16.4.1929. SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 923. 55 SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 150. 56 SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 156.
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Mit diesen Anschuldigungen konfrontiert, zog sich Seyfert nicht in die äußere oder innere Immigration zurück, sondern ging in die Offensive. Überliefert sind zahlreiche Briefe an Fachkollegen, in denen er unter anderem schreibt: [Hartnacke] betrachtet mich nicht nur als politischen Gegner von früher, sondern auch als solchen der neuen Bewegung. Damit tut er mir schwer unrecht, denn ich stehe überzeugt auf dem Boden des neuen Staates nicht erst seit gestern und heute. Mein früheres Leben, Lehren und Wirken ist als Menschenwerk mit Schwächen behaftet, aber in nationaler, sozialer und religiöser Hinsicht makellos.57
Die Entwicklungen nach der Machtergreifung belasteten ihn sehr. Seine Enkelin Marianne Schluttig erinnerte sich Anfang der 1970er Jahre: Ja, es stimmt; im Oktober [1933] als das Laub im Garten fiel, da war damals mit ihm nichts zu wollen. Öfters ging er wie verstohlen in den nahen Heidewald; er lebte Woche für Woche zurückgezogen in seinem Arbeitszimmer.58
Ein erstes Antwortschreiben, in dem er sich zu verteidigen suchte, schickte er nicht ab. Darin schrieb er: „Ich weiß, daß ich alter Mann abzutreten habe. Das habe ich als Politiker vor vier Jahren freiwillig getan. Aber ich fordere für mich das Recht, in Ehren in die Reserve treten zu können.“59 In seinem zweiten Antwortschreiben auf Hartnacke formulierte er dann: „Ich bin heute, nicht aus Angst und nicht aus äußerem Zwang, sondern aus Überzeugung ein freudiger und zuverlässiger Bekenner des neuen Staates.“60 Im November wurde das gegen ihn angedrohte Verfahren eingestellt, da sich die adressierten ehemaligen Kollegen, die sich mit den Nationalsozialisten bereits arrangiert hatten oder ihnen ohnehin schon lange gefolgt waren, für Seyfert einsetzten. Anfang Dezember 1933 stellte Seyfert selbst einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP, der aber aufgrund seiner bisherigen politischen Tätigkeit und wohl auch wegen seiner aktiven Mitgliedschaft in einer Dresdner Freimaurerloge abgelehnt wurde. In seiner 1935 erschienen Autobiographie bemühte er sich wie erwähnt, sein bisheriges Wirken so darzustellen, als sei es von vornherein mit der Ideologie des Nationalsozialismus vereinbar gewesen. Die früh genutzten Begriffe wie Volksgemeinschaft, Volkstum, Führertum usw. kamen ihm nun zugute. Jetzt war er der Auffassung, Demokratie sei nicht „Herrschaft des Volkes“, sondern „Dienst am Volke“ – eine Formulierung, die leicht auch im Führerstaat Bestand haben konnte.61 Ob der hoch betagte Pädagoge sich dabei jedoch mit der nationalsozialistischen Weltanschauung tatsächlich gemein machte oder nur so tat, bleibt umstritten.62 Politisch wurde er nicht mehr aktiv. 57 Schreiben Seyfert an Min. Schemm, München, SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 158. 58 SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 225-4, S. 39. 59 SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 155. 60 SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 151. 61 Vgl. Seyfert (1935): Lebensbuch eines Lernenden, S. 268. 62 Siehe hierzu den ausführlichen Exkurs bei Keppeler-Schrimpf (2005): „Bildung ist nur möglich…“, S. 114ff.
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Seyfert starb am 23. August 1940 nach zweijährigem Krebsleiden in DresdenBühlau. „Ich sterbe als ein geächteter Mann, das wollte ich nicht!“, sollen nach Angaben der Enkelin seine letzten Worte gewesen sein.63 Seyfert geriet nach dem Krieg weitgehend in Vergessenheit. Als Pädagoge wurde er in der Fachliteratur zunächst noch erwähnt, als Politiker fand er dagegen keine Beachtung. Zwei Schulen in der DDR, die nach ihm benannt worden waren, erwogen 1966 ihre Umbenennung, nachdem Seyferts Verbindungen zur NSDAP bekannt wurden. Gleichwohl: Zu seinem 110. Geburtstag 1972 erschienen noch einmal Nachrufe durch ehemalige Schüler in Fachzeitschriften.64 Danach wurde es still um Richard Seyfert. 5. SCHLUSSBEMERKUNGEN Was für ein Demokrat war Richard Seyfert, der Schulmann aus der Provinz, der sich zum Politiker aufgeschwungen hatte? Seine politische Biographie lässt zum Ende hin viele Fragen offen. Seine wahren Gedanken aus seinem Nachlass zu ermitteln, scheint vor allem für jene Zeit schwierig, in der Lebenswerk, Vermögen und letztlich sogar Leib und Leben auf dem Spiel standen. Seyfert machte allerdings nie einen Hehl daraus, dass er sich dem sächsischen und vor allem dem deutschen Volkstum hingezogen fühlte und daraus Motivation für sein pädagogisches, aber auch sein politisches Handeln zog. Für ihn bedeutete Demokratie in erster Linie die Versöhnung und Verständigung der sozialen Klassen und Stände innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches. Gleiches Wahlrecht, Republik und Parlamentarismus waren für ihn entscheidende Elemente. Sein Demokratiebegriff war dennoch nie exkludierend. Von 1919 bis mindestens 1931 war er ein überzeugter und leidenschaftlicher Verteidiger der Weimarer Verfassung, das zeigen insbesondere seine Reden aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Und dennoch biederte er sich den Nationalsozialisten nach 1933 an, obwohl diese mit Diktatur, Führerkult und rassischer Volksgemeinschaft genau das Gegenteil dessen vertraten, wofür die Partei stand, deren Mitglied und Funktionsträger er über 13 Jahre lang war. Weitergehend wäre zu prüfen, inwiefern Seyfert mit seiner persönlichen Entwicklung und seinem Demokratieverständnis aus dem Mainstream liberaler Theorien seiner Zeit heraussticht.65 Diese Frage muss jedoch einer zukünftigen Untersuchung vorbehalten bleiben. Seyferts politischer Werdegang in drei politischen Systemen lässt jedenfalls eines deutlich werden: Demokratie kann man lernen, Demokrat kann man werden. Man kann Demokratie aber auch wieder verlernen und verleugnen. 63 Zitiert nach den Aufzeichnungen Herbert G. Uhligs, SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 225-4, S. 152. 64 SächsHStAD, Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert, Nr. 225/1–3. 65 Als Ansatzpunkt bietet sich hier die Untersuchung von Jens Hacke zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit an. Hacke (2018): Existenzkrise der Demokratie.
Richard Seyfert als Politiker
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QUELLEN Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsHStAD), Bestand 12785, Personennachlass Richard Seyfert: Nr. 150, 152, 225, 804, 816, 819. Sächsische Volkskammer (Hrsg.): Verhandlungen der Sächsischen Volkskammer im Jahre 1919. Dritter Band, Nr. 59–84, Dresden 1919. Sächsische Volkskammer (Hrsg.): Verhandlungen der Sächsischen Volkskammer im Jahre 1920. Vierter Band, Nr. 59–84, Dresden 1920. Sächsischer Landtag (Hrsg.): Verhandlungen des Sächsischen Landtages (VdSL) 1. Wahlperiode. Erster Band, Nr. 1–29, Dresden 1921. Sächsischer Landtag (Hrsg.): Verhandlungen des Sächsischen Landtages (VdSL) 2. Wahlperiode. Erster Band, Nr. 1–29, Dresden 1923. Sächsischer Landtag (Hrsg.): Verhandlungen des Sächsischen Landtages (VdSL) 2. Wahlperiode. Zweiter Band, Nr. 41–78, Dresden 1924. Sächsischer Landtag (Hrsg.): Verhandlungen des Sächsischen Landtages (VdSL) 2. Wahlperiode. Dritter Band, Nr. 79–103, Dresden 1924. Buero des Reichstages (Hrsg.): Reichstags-Handbuch, Zwölfte Legislaturperiode, Berlin 1907. Buero des Reichstages (Hrsg.): Handbuch der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung, Weimar 1919
LITERATUR Gedruckte Quellen und Literatur vor 1945 Seyfert, Richard: Vom deutschem Wesen nach dem Krieg Leipzig 1915. Seyfert, Richard: Die politische Lage in Sachsen. In: Die Hilfe 29 (1922), S. 416–417. Seyfert, Richard: Zurück zur Vergangenheit oder vorwärts in die Zukunft? In: Die Hilfe 18 (1924), S. 374–377. Seyfert, Richard: Land und Landtag. In: Külz, Wilhelm (Hrsg.): Jahrbuch Sachsen (Jahrbuch Sachsen, Bd. 2), Leipzig 1926, S. 1–10. Seyfert, Richard: Sachsen. In: Erkelenz, Anton (Hrsg.): Zehn Jahre Deutsche Republik. Berlin 1928, S. 189–196. Seyfert, Richard: Lebensbuch eines Lernenden. Lebenserinnerungen, Leipzig 1935.
Literatur ab 1945 Bollmeyer, Heiko: Der steinige Weg zur Demokratie. Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik (Historische Politikforschung, Bd. 13), Frankfurt am Main 2007. Gusy, Christoph: Einleitung: Demokratisches Denken in der Weimarer Republik – Entstehungsbedingungen und Vorfragen. In: Gusy, Christoph (Hrsg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, Bd. 16), Baden-Baden 2000, S. 11–36. Hacke, Jens: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. Band 2250), Berlin 2018. Hardtwig, Wolfgang: Volksgemeinschaft im Übergang. In: Lehnert, Detlef; Brandt, Peter (Hrsg.): Gemeinschaftsdenken in Europa (Historische Demokratieforschung, Bd. 5), Köln 2013, S. 227–254.
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Keppeler-Schrimpf, Helga: „Bildung ist nur möglich auf der Grundlage des Volkstums.“ Eine Untersuchung zu Richard Seyferts volkstümlicher Bildungstheorie als volkschuleigene Bildungskonzeption (Pädagogik und Zeitgeschehen, Bd. 5), Münster 2005. Lange, Carolin Dorothée: Genies im Reichstag. Führerbilder des republikanischen Bürgertums in der Weimarer Republik, Hannover 2012. Lehnert, Detlef: Von der Liberaldemokratie zur Sozialdemokratie zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. In: Lehnert, Detlef (Hrsg.): Vom Linksliberalismus zur Sozialdemokratie (Historische Demokratieforschung, Bd. 8), Köln 2015, S. 7–35. Llanque, Marcus: Der Weimarer Linksliberalismus und das Problem politischer Verbindlichkeit. Volksgemeinschaft, demokratische Nation und Staatsgesinnung bei Theodor Heuss, Hugo Preuß und Friedrich Meinecke. In: Doering-Manteuffel, Anselm; Leonhard, Jörn (Hrsg.): Liberalismus im 20. Jahrhundert (Wissenschaftliche Reihe / Stiftung Bundespräsident-TheodorHeuss-Haus, Bd. 12), Stuttgart 2015, S. 157–181. Mühlhausen, Walter: Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006. Pastewka, Janosch: Koalitionen statt Klassenkampf. Der sächsische Landtag 1918–1933 (Studien und Schriften zur Geschichte der sächsischen Landtage, Bd. 3), Ostfildern 2018. Peukert, Detlev J. K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne (Edition Suhrkamp, Bd. 1282 = N.F., 282), Frankfurt am Main 2009 [1987]. Retterath, Jörn: „Was ist das Volk?“. Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 110), Berlin, Boston 2016. Retterath, Jörn: „Parteihader“ versus „Volksgemeinschaft“. Kritik an Parteien und Parlamentarismus seitens der politischen Mitte in den Anfangsjahren der Weimarer Republik. In: Elsbach, Sebastian; Noak, Ronny; Braune, Andreas (Hrsg.): Konsens und Konflikt. Stuttgart 2019, S. 133–152. Rudloff, Michael: Von den Nationalliberalen zur Deutschen Volkspartei. Der Umbruch im sächsischen Parteiensystem im Spiegel der Korrespondenz des Kriebsteiner Unternehmers Dr. Konrad Niethammer. In: Zwahr, Hartmut; Hetting, Manfred; Schirmer, Uwe; Schötz, Susanne; Volkmar, Christoph (Hrsg.): Figuren und Strukturen. München 2002, S. 699–735. Rudolph, Karsten: Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik (1871–1923) (Demokratische Bewegungen in MitteldeutschlandKöln 1995. Schmeitzner, Mike: Alfred Fellisch 1884–1973. Eine politische Biographie (Geschichte und Politik in Sachsen, Bd. 12), Köln 2000. Schmeitzner, Mike: Einheitsfront oder Große Koalition? Der sächsische Landtag im Krisenwinter 1923/24. In: Matzerath, Josef (Hrsg.): Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte. Dresden 2003. Schmeitzner, Mike: Erich Zeigner. Der Linkssozialist und die Einheitsfront (1923). In: Schmeitzner, Mike; Wagner, Andreas (Hrsg.): Von Macht und Ohnmacht. Beucha 2006, S. 125–158. Stratmann, Kurt: Richard Seyfert (1862–1940). In: Glöckel, Hans (Hrsg.): Bedeutende Schulpädagogen (Beiträge zur Fachdidaktik und Schulpädagogik, Bd. 5), Bad Heilbrunn 1993, S. 107– 123. Widra, Thomas: Die Geschichte des sächsischen Liberalismus und der Freien Demokratischen Partei. 150 Jahre liberale Parteien in Sachsen, Dresden 2016. Wildt, Michael: Volksgemeinschaft und Führererwartung in der Weimarer Republik. In: Daniel, Ute; Welskopp, Thomas; Pyta, Wolfram (Hrsg.): Politische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren (Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Bd. 14), München 2010, S. 181–204. Zick, Andreas/ Küpper, Beate/ Berghan, Wilhelm (Hrsg.): Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018, Bonn 2019.
ALBERT KUNTZEMÜLLER Badischer Eisenbahnenthusiast, Pädagoge und Sozialdemokrat im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold Marcel Böhles Der badische Pädagoge, Publizist, Eisenbahnexperte und überzeugte Republikaner Albert Kuntzemüller (1880–1956) ist im Südwesten Deutschlands heute einschlägigen Kreisen allenfalls noch als Autor zahlreicher Werke zur Eisenbahngeschichte und -geographie ein Begriff.1 Dabei bietet das bewegte Leben und Wirken Kuntzemüllers eine Vielzahl von Aspekten, die es gerade für den Historiker zur Weimarer Republik zu einem bemerkenswerten Gegenstand machen. Kuntzemüllers unmittelbar nach Kriegsende im Sommer 1945 fertiggestellte Autobiographie „Mein Leben“ – als 180-seitige maschinenschriftliche Abfassung in erster Linie für seine Familie und Nachkommen gedacht – stellt dafür die Hauptquelle dar. Fachliteratur zu Kuntzemüller existiert abgesehen von einer Ausnahme nicht. Die biographische Beschäftigung mit Kuntzemüller lohnt jedoch, denn die niemals veröffentlichte Lebensbeschreibung des langjährigen Freiburger Schulleiters präsentiert sich als eine der ganz wenigen Quellen, die einen Einblick in die mittlere Führungsebene des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold bietet und den Alltag eines streitbaren und überzeugten, aber überregional nicht prominenten Republikaners in einer nicht immer sehr republikfreundlichen Umwelt schildert. 1. HERKUNFT UND LEBEN BIS 1914 Albert Kuntzemüller wurde am 22. Mai 1880 als erstes Kind des Photographen Wilhelm Kuntzemüller und dessen Frau Helene, geb. Hertz in Baden-Baden 1
Durch die lebenslange Beschäftigung Kuntzemüllers mit dem Eisenbahnwesen entstand ein umfangreiches Werk von Monographien, Aufsätzen, Artikeln und Festschriften zu historischen wie auch aktuellen Themen, unter anderem über „Die badischen Eisenbahnen im deutsch-französischen Krieg 1870/71“ (1914), „Krieg und Verkehr (Krieg und Volkswirtschaft)“ (1916), „Die Baugeschichte der Odenwaldbahn Heidelberg-Würzburg“ (1922), „50 Jahre Schwarzwaldbahn“ (1923), „50 Jahre Kraichgaubahn“ (1930), „Die Badischen Staatsbahnen 1840– 1940“ (1940), „Schaffhausen im links- und rechtsrheinischen Eisenbahnverkehr“ (1951), „100 Jahre Badischer Bahnhof Basel“ (1954) und viele andere mehr. Mehrere seiner Abhandlungen, unter anderem die Biographie über den Eisenbahnbauer Robert Gerwig („Robert Gerwig – ein Pionier der Technik“, Freiburg 1949) genießen in der Fachwelt den Rang von Standardwerken, Merz/Wilke (1999): Kuntzemüller.
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geboren. Der Vater war als Inhaber eines blühenden Photoateliers in der mondänen Kurstadt zu einigem Wohlstand gelangt: Nach den Erinnerungen des Sohnes zählten neben dem badischen Großherzog unter anderem der damalige Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, der Schah von Persien sowie die Monarchen von Montenegro und Siam zu seinen Kunden. Als Hoffotograf am großherzoglichen Haus Baden verstand sich Kuntzemüller senior als treuer Anhänger der Monarchie, was im liberalen „Musterland“ Baden aber mit einer toleranten und weltoffenen Gesinnung einherging. Als langjähriges Mitglied der Freisinnigen Partei Badens (und später der Fortschrittlichen Volkspartei) vertrat Wilhelm Kuntzemüller zudem das liberale Bürgertum als Stadtverordneter und Stadtrat in BadenBaden.
Abb. 1: Wilhelm Kuntzemüller mit seinen Kindern, Albert ganz rechts2
Entsprechend seiner Herkunft aus einem bildungsbürgerlichen Hause genoss Albert Kuntzemüller von Beginn an eine humanistisch-musische Bildung inklusive der obligatorischen Klavierstunde, was ihn angeblich dazu befähigte, „Noten [zu] lesen und Klavier [zu] spielen, bevor ich lesen und schreiben konnte“.3 Schon während seiner Zeit als Schüler am großherzoglichen Gymnasium in Baden-Baden keimte 2 3
Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kuntzem%C3%BCller_00008595.jpg (17.4.2020). Stadtarchiv Freiburg (K1/111): Nachlass Albert Kuntzemüller („Mein Leben“. Maschinenschriftliches Manuskript), Freiburg 1945 (zit. als: Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 5.
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in Kuntzemüller ein besonderes Interesse für historische und politische Fragestellungen, ebenso für seine lebenslange Leidenschaft zur Eisenbahn. Nach seinem Abitur im Sommer 1898 konnte der junge Kuntzemüller dieser Leidenschaft erstmals frönen: Noch in der Absicht, eine spätere Laufbahn als Postbeamter einzuschlagen, nahm Kuntzemüller ein Studium der Staatswissenschaften in Berlin auf. Den Aufenthalt in der aufstrebenden Millionenmetropole nutzte der junge Student dabei auch zu stundenlangen Spazierfahrten auf den Stadtbahntrassen. Nachdem sich die Ambitionen auf eine Postlaufbahn zerschlugen, nahm Kuntzemüller 1899 mit Blick auf den Lehrerberuf ein Studium der neueren Sprachen, Geographie und Geschichte in Freiburg und später in Heidelberg auf. Die Studienzeit im heimatlichen Baden nutzte Kuntzemüller nach eigenen Angaben, sich eine umfangreiche politische Bildung anzueignen, nicht zuletzt durch die Lektüre zahlreicher in- und ausländischer Zeitungen. Politisch charakterisiert sich Kuntzemüller für die damalige Zeit als einen treuen Anhänger des alten Großherzogs Friedrich I., der sich mit „Bescheidenheit und Leutseligkeit von den meisten seiner Standeskollegen [abgehoben]“ habe und die Monarchie als etwas „Selbstverständliches, […] als eine Institution [erscheinen]“4 ließ. Mit nur 22 Jahren wurde Kuntzemüller im Sommer 1902 bei dem Germanisten Friedrich Kluge mit einer Dissertation zur neuhochdeutschen Grammatik zum Dr. phil. promoviert.5 Im Anschluss daran unternahm Kuntzemüller seine erste von zahlreichen ausgedehnten Auslandsreisen während der Vorkriegszeit, die ihn als Eisenbahnenthusiasten fast zwangsläufig nach Großbritannien führte.6 In einer Zeit vermehrter deutsch-britischer Spannungen – die deutsche Öffentlichkeit sympathisierte während der Burenkriege größtenteils mit den Gegnern Londons – bedeutete die Reise für Kuntzemüller einen persönlichen Wendepunkt – „in politischer [Hinsicht] eine förmliche Revolution in meinem Innern“.7 Von den Eindrücken auf der Insel mehr als angetan, wandelte sich Kuntzemüller zu einem bekennenden Bewunderer des britischen Weltreiches, seiner Sprache und Lebensart. Die Begeisterung für England ging so weit, dass er rückblickend die britische Kriegserklärung vom 4. August 1914 als „größte politische Enttäuschung“ seines Lebens bezeichnete, jene vom 3. September 1939 dagegen als „größte politische Genugtuung“.8 Auch in den Folgejahren unternahm Kuntzemüller umfangreiche Reisen, die er bevorzugt mit dem Studium der jeweiligen Eisenbahn seiner Gastländer verknüpfte: 1904 besuchte Kuntzemüller die USA, wo ihn sein Weg unter anderem nach New York, Washington, Chicago, St. Louis (zur gerade stattfindenden Weltausstellung),
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Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 15. Kuntzemüller, Albert: „Zur Geschichte des substantivierten Infinitivs im Neuhochdeutschen (wissens haben, aufhebens machen, nach essens), Straßburg 1902 (=Philosophische Dissertation Freiburg i. Br.). Seine Reise führte ihn über London unter anderem nach Oxford, Stratford-upon-Avon, Chester, Liverpool, Birmingham und Cambridge sowie zuletzt nach Schottland, wo er tief beeindruckt die Eisenbahnbrücke des Firth of Forth besuchte. Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 21. Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 22.
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Denver, Salt Lake City, San Francisco und in den Yellowstone Nationalpark führte.9 Nach Aufenthalten in Frankreich und der Schweiz reiste der mittlerweile zum Realschulprofessor ernannte Badener im Jahr 1909 nach Island, im Sommer 1911 gar ins ferne Spitzbergen.10 Eine Reise per Zug in den hohen Norden Skandinaviens und danach per Schiff in die Einsamkeit des Nordpolarmeeres stellte damals – ein Jahrhundert vor dem Boom der Kreuzfahrtschiffe – noch ein echtes und exklusives Abenteuer dar, über das Kuntzemüller später in eigens verfassten Reiseberichten publizierte. Kuntzemüllers umfangreiche Reisetätigkeit wurde erleichtert durch seinen parallel verlaufenden steilen beruflichen Aufstieg. Nach seinem Staatsexamen an der Universität Heidelberg im Winter 1902/03 war Kuntzemüller als Lehramtspraktikant – vergleichbar mit einem heutigen Referendar – in den Staatsdienst getreten. Über Stationen an der Oberrealschule in Freiburg, der Realschule und schließlich dem Gymnasium in Offenburg schloss Kuntzemüller bis 1908 seine Ausbildung zum Pädagogen ab. Seine erste Stelle trat Kuntzemüller dann im nordbadischen Bretten an, wo er vier Jahre bleiben sollte, bevor er 1912 an das Realgymnasium (Lessingschule) in Mannheim versetzt wurde. Praktisch zeitgleich mit dem Kriegsausbruch 1914 folgte schließlich die Ernennung zum Direktor der Realschule in Tauberbischofsheim. Dies bedeutete für Kuntzemüller einen weiteren bedeutenden Karrieresprung, der dafür jedoch für acht Jahre mit der fränkisch geprägten Peripherie Badens vorlieb nehmen musste.11 Politisch entwickelte sich Kuntzemüller schon vor dem Krieg – für einen Mann seiner Herkunft durchaus außergewöhnlich – zu einem heimlichen Anhänger der Sozialdemokratie. Sowohl 1907 als auch 1912 wählte der junge Gymnasiallehrer nach eigenem Bekunden bei den Reichstagswahlen die SPD, was er als Staatsbeamter freilich für sich behielt. Als Hauptmotiv für seine Wahlentscheidung nennt Kuntzemüller in seinen Memoiren den „Kampf gegen den Dreiklassenstaat Preußen mit seinem elenden Wahlrecht“, der ihn zur „Opposition mit dem Stimmzettel“12 veranlasst habe. Ein vergleichsweise harmloses, für Kuntzemüller dennoch folgenschweres Erlebnis bestärkte ihn in der Abkehr vom preußisch geprägten Obrigkeitsstaat: Im Sommer 1907 musste der zuvor vom Wehrdienst ausgemusterte Reservist wegen Verstößen gegen die Auflagen der Militärbehörde eine 24-stündige Arreststrafe absitzen. Auch wenn die Sanktion vergleichsweise milde ausfiel und Kuntze-
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Zur USA-Reise veröffentlichte Kuntzemüller später die Reiseberichte „Quer durch Amerika“ (1905) und „Das Wunderland am Yellowstone“, Beilage zum Jahresbericht des Großherzoglichen Gymnasiums Offenburg (1908). 10 Auf dem Weg dorthin traf sich Kuntzemüller in Stockholm zu einem Gespräch mit dem schwedischen Entdeckungsreisenden und Schriftsteller Sven Hedin. 11 Wenig schmeichelhaft berichtet Kuntzemüller über seine ersten Eindrücke nach Ankunft am Bahnhof der Stadt Tauberbischofsheim – selbstverständlich aus Sicht des Eisenbahnkenners: „Nicht einmal Bahnsteigsperre gab es dort, soweit waren wir von der ‚Kultur‘ weg.“, Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 50. 12 Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 44.
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müller die Zeit sogar auf seine Weise nutzen konnte,13 bestärkte sie den Lehramtsanwärter doch in seiner inneren Abkehr vom militaristisch geprägten Kaiserreich. 2. SCHULDIREKTOR UND KRIEGSDIENST (1914 BIS 1918) Vom Kriegsgeschehen war Kuntzemüller, der im Jahr 1913 seine ehemalige Schülerin Klara Issel geheiratet hatte, zunächst nicht unmittelbar betroffen. Als einschneidendes politisches Erlebnis gleich nach Kriegsausbruch schildert der 34-Jährige den Tod des badischen Reichstagsabgeordneten Ludwig Frank, der am 3. September 1914 als Kriegsfreiwilliger gefallen war.14 „Fast kommt mir’s vor, als ob ich einen nahen Anverwandten verloren hätte. Schade um diesen vorzüglichen Mann. Was hätte Deutschland und Baden noch an ihm haben können!“,15 notierte Kuntzemüller wenige Tage später in sein Tagebuch. Auch hier lässt sich schon die spätere politische Entwicklung Kuntzemüllers ablesen, zumal das badische Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold nach 1924 den Mannheimer Ludwig Frank systematisch zu einem märtyrerhaften Vorkämpfer der Weimarer Republik stilisierte.16 In den Jahren 1915/16 bot der andauernde Krieg dem mittlerweile zum anerkannten Eisenbahnexperten gereiften Kuntzemüller sogar die Chance zu zwei ungewöhnlichen Studienreisen. Durch eine Intervention bei den badischen Staatsbahnen und mit Genehmigung des Chefs des Feldeisenbahnwesens – des damaligen Oberst Wilhelm Groener – reiste Kuntzemüller zunächst in die besetzten Gebiete im Westen (mit Aufenthalten in Lüttich, Löwen, Brüssel, Antwerpen, Lille und Luxemburg) und wenig später im Osten (über die Stationen Wien, Krakau, Przemysl, Lemberg, Czernowitz, Tschenstochau, Lodz, Warschau und Brest-Litowsk zurück nach Berlin). Beide Reisen bildeten die Grundlage für weitere Publikationen von Kuntzemüller in Fachzeitschriften, so wie er sie schon seit vielen Jahren immer wieder veröffentlichte. Im Frühjahr 1916 musste Albert Kuntzemüller entgegen seiner Hoffnungen dann doch noch als 36-jähriger Rekrut den Militärdienst antreten und zur Grundausbildung bei der Fernsprech-Ersatz-Abteilung 4 in Karlsruhe einrücken. Für den gebildet-kultivierten Kuntzemüller bedeutete die Degradierung „vom Schulleiter zum willenlosen ‚dreckigen‘ Rekruten einen gewaltigen geistigen Abstieg“, über die er in seinen Memoiren nur das Nötigste schreibt. „Man ist völlig Maschine, selbstständiges Denken und geistige Tätigkeit sind beim Kommiss ausgeschaltet, was mir das Bedrückendste dünkt. […] Systemlosigkeit ist Trumpf, und gewurstelt wird in einer Art und Weise, die ich mir vom jüngsten Praktikanten verbitten 13 Nach eigenen Angaben verbrachte Kuntzemüller die „24 Stunden gelinden Arrestes“ mit dem Studium Mirabeaus für das anstehende Abitur, dem Berechnen von Fahrgeschwindigkeiten für Lokomotiven und der Lektüre von Johann Peter Hebel, Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 28. 14 Berger (2012): Ludwig Frank. 15 In: Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 51. 16 Vgl. Böhles, S. 156–160.
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würde.“17 Kuntzemüller wurde angesichts seines für Soldaten fortgeschrittenen Alters nicht direkt an die Front, sondern ins Hinterland der Ostfront ins heutige Polen abkommandiert, wo er zunächst in der Festungs-Fernsprech-Abteilung Warschau diente, später dann auf ähnlichen Posten in Lomza und Jablonna bei Warschau. Wie Kuntzemüller rückschauend berichtet, habe sich ihm schon 1917 die Erkenntnis aufgedrängt, dass der Krieg „nicht mehr zu gewinnen sei“ und dass „Preußentum und Militarismus eine ständige Gefahr für den Frieden“ bedeuteten. Der abkommandierte Schuldirektor selbst hatte zu keinem Zeitpunkt Ambitionen auf militärische Großtaten, vielmehr berichtet er in seinen Erinnerungen ausführlich über die kleinen Tricks und Winkelzüge, mit denen er gelegentlich seine wenigen Urlaubstage in der Heimat verlängern konnte. „Sich drücken und bescheißen lernt man beim preußischen Kommiss“.18 Seine zwischenzeitliche Abkommandierung in die Abteilung „Unterrichtsoffizier beim Gouvernement Warschau“ im August 1917 – laut Kuntzemüller „eine Art Aufklärungs- und Propagandaministerium im kleinen“19 – stand dies jedoch nicht im Wege, auch nicht seine zunehmend linken Positionen, die der Badener jedoch wohlweislich für sich behielt. Das Kriegsende erlebte Kuntzemüller wiederum als Unteroffizier im Fernsprechamt Warschau, wo er kurz nach dem militärischen Zusammenbruch zum Soldatenrat gewählt wurde. Mit einem der letzten Rücktransporte aus dem nun unabhängigen Polen brach Kuntzemüller am 18. November 1918 Richtung Heimat auf, wo er fünf Tage später ankam. 3. BEKENNTNIS ZUR JUNGEN REPUBLIK (1918 BIS 1924) Nach seiner Rückkehr nach Tauberbischofsheim und zwischenzeitlicher Okkupation des Schulgebäudes durch den örtlichen Arbeiter- und Soldatenrat konnte Albert Kuntzemüller im Januar 1919 wieder seine Stelle als Realschuldirektor antreten. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung wählte Kuntzemüller wiederum die SPD und trat ihr am 22. März 1919 auch offiziell bei. Im ländlich-katholischen geprägten Tauberbischofsheim kam das politische Bekenntnis des nun offen „roten“ Schuldirektors offenbar nicht sehr gut an: „Eine Handgranate, unter die [Tauberbischofsheimer] haute-volée geschleudert, hätte nicht verheerender wirken können“.20 Die SPD erwog nach den Erinnerungen Kuntzemüllers anfangs sogar zeitweise, den Neuzugang als Landtagskandidaten aufzustellen, wo er als Experte für Verkehrsfragen im Gespräch stand – oder aber ihn ins Unterrichtsministerium zu berufen, was aber wohl beides jeweils an der reservierten Haltung Kuntzemüllers schei-
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In: Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 59f. In: Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 63. Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 64. Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 72.
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terte.21 Gleichwohl ließ sich der frischgebackene Sozialdemokrat auf der SPD-Liste ins Stadtparlament seiner Wahlheimat wählen, seine erste öffentliche Rede außerhalb der Schule hielt Kuntzemüller dann zum ersten Jahrestag der Revolution am 9. November 1919. Im Januar 1921 ließ Kuntzemüller mit einer vor seinen Schülern gehaltenen Rede zum 50. Jahrestag der Reichsgründung aufhorchen, in der er bekundete, das Reich sei „mehr gegen als durch die Hohenzollern zustande gekommen“ und ein klares Bekenntnis zur Republik und ihren Farben Schwarz-Rot-Gold ablegte. Die Rede wurde aufgrund ihrer klaren Ausrichtung vom sozialdemokratischen Volksfreund in Karlsruhe Anfang Februar 1921 über drei Tage abgedruckt und fand dadurch regional Verbreitung.22 Im Wahlkampf zur Landtagswahl am 30. Oktober 1921 engagierte sich Kuntzemüller für die SPD: Noch wenig begeistert von „reiner Zweckagitation“, absolvierte er widerstrebend mehrere Auftritte, nach denen er jedoch selbstkritisch bekannte, sich eher dozierend in „historischen oder wirtschaftlichen Ausführungen“ ergangen zu haben, womit der Sache der Partei „meistens nicht oder nur wenig gedient war“.23 Wenn auch nicht der geborene Wahlkämpfer, so engagierte sich Kuntzemüller doch umso mehr in Wort und Schrift mit einer Vielzahl von Artikeln in lokalen wie überregionalen Zeitungen.24 Ein großer Teil davon befasste sich mit Eisenbahnfragen, doch regelmäßig äußerte sich der streitbare Badener darin auch zu politischen Themen und kritisierte darin gleichermaßen Vertreter des Militarismus und Bürokratismus, „deren deutsche Männerfaust unentwegt mit dem Pappdeckelschwert weiter um sich haut (im Norden noch unentwegter als im Süden“, das „brave Bürgertum, die Bourgeoisie im schlechten Sinne des Wortes“ oder diejenigen „Diener Gottes, die […] den ‚lieben Kaiser, den armen Verlassenen von Doorn, nicht vergessen können“,25 aber auch gelegentlich die alliierten Siegermächte mit ihren ausgedehnten Reparationsforderungen. Wie viele Zeitgenossen empfand auch Albert Kuntzemüller die Morde an Matthias Erzberger im August 1921 und Walther Rathenau im Juni 1922 als tiefe Zäsuren. Anlässlich der Ermordung Rathenaus sprach der kurz zuvor ins Schwarzwaldstädtchen Triberg versetzte Kuntzemüller vor einer Versammlung, die von den drei Weimarer Koalitionsparteien SPD, Zentrum und DDP einberufen worden war. Zu seinen persönlichen Bekannten noch aus gemeinsamen Studienzeiten in Freiburg zählte auch der damalige Reichskanzler Joseph Wirth,26 mit dem er eine regelmäßige Korrespondenz pflegte und sich auch über den Rathenau-Mord austauschte. Einen weiteren – auch unmittelbar erlebten 21 Im Jahr 1921 trat die SPD im Vorfeld der Landtagswahl erneut an Kuntzemüller heran, um ihn als möglichen Schulexperten für die Landtagsfraktion zu gewinnen. Kuntzemüller fand sich diesmal zur Kandidatur bereit, wurde jedoch nur auf den vierten Platz der Kreisliste gewählt, was nicht zum Einzug in den Landtag reichte, Kuntzemüller (1945): Erinnerungen S. 82. 22 Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 81f. 23 Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 84. 24 Allein die vom ihm selbst zusammengestellten „Gesammelten Aufsätze“ (in neun Bänden) umfassen mehr als 1000 Artikel, die zwischen 1900 und 1931 in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, Merz/Wilke (1999): Kuntzemüller. 25 In: Merz/Wilke (1999): Kuntzemüller. 26 Braun/Hörster-Philipps (2016): Joseph Wirth.
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– Einschnitt bedeutete das Krisenjahr 1923, zu dessen Beginn Frankreich nicht nur das Ruhrgebiet, sondern auch einige Brückenköpfe des „Grenzlandes“ Baden besetzte und die wichtige Verkehrsverbindung Karlsruhe-Basel kappte. Auch die seit Jahren schwelende und 1923 eskalierende Inflation traf die Familie Kuntzemüllers, indem sie die Erlöse aus dem 1920 verkauften elterlichen Anwesen sowie dem Photographenatelier des Vaters in Baden-Baden zunichtemachten. Von einem amerikanischen Studienfreund Kuntzemüllers erhielt die Familie zum Höhepunkt der Inflationskrise sogar materielle Unterstützung in Form von Lebensmittelpaketen, die der einstige Kommilitone beim US-Hilfswerk in Hamburg geordert hatte. Trotz der Not zeigte sich die Familie auch in der Zeit der Einschränkungen solidarisch und nahm im Rahmen einer SPD-organisierten Solidaritätsaktion für unterernährte Kinder aus dem Ruhrgebiet während des Sommers 1923 für mehrere Wochen ein Mädchen bei sich auf. Am überzeugten Eintreten Kuntzemüllers für die Republik und ihre Verfassung änderte sich trotz der zahlreichen Krisenmomente nichts – es sollte sich vielmehr durch die Gründung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold im Jahr 1924 noch verstärken.
Abb. 2: Porträtbild Albert Kuntzemüllers aus den 1920er Jahren27
4. ENGAGEMENT IM REICHSBANNER SCHWARZ-ROT-GOLD (1924 BIS 1933) Noch zu seiner Zeit in Triberg nahm Albert Kuntzemüller am 25. Oktober 1924 an der Gründungsversammlung der lokalen Ortsgruppe teil und stürzte sich danach mit
27 Quelle: Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung des Enkels Ulrich Fiedler.
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großem Engagement in die Verbandsarbeit. Im Winter 1924/25 nahm er an mehreren Kundgebungen und Aufmärschen im südbadischen Raum teil, die von einem großen Aufbruchsoptimismus kündeten. „Wenn man bedenkt, dass all diese Massen freiwillig und ohne jeden Zwang, wie er nach 1933 üblich wurde, zu uns kamen, große Opfer an Zeit und Geld brachten, die ihnen kein Mensch ersetzte, und manche persönliche Unannehmlichkeiten mit in Kauf nahmen, dann durften wir uns des Erfolges wohl aufrichtig freuen.“28 Auch eine erneute Versetzung und seine Ernennung zum Direktor der Oberrealschule II (Neuburg-Realschule) in Freiburg – der einstweilige Höhepunkt von Kuntzemüllers pädagogischer Laufbahn – taten dem Engagement im Reichsbanner keinen Abbruch, das sich inzwischen auch im Südwesten Deutschlands in zahlreichen Ortsgruppen ausgebreitet hatte. Am 15. September 1925 wählten ihn die Mitglieder des Bundes zum Kreisleiter des Kreises Freiburg, am 8. Dezember desselben Jahres nahm er zum ersten Mal an einer Großveranstaltung des Bündnisses in Freiburg teil, die er in seinem Tagebuch als sein „wohl größtes politisches Erlebnis der Nachkriegszeit“ wahrnahm.29 Auf der Kundgebung mit Altreichskanzler Joseph Wirth habe dieser mit seinem klaren Bekenntnis für Schwarz-Rot-Gold die mehr als 2000 Zuhörer zu wahren Beifallsstürmen hingerissen. Im Reichsbanner engagierte sich Kuntzemüller regelmäßig, nach eigenem Bekunden meist an seinen freien Sonntagen. Vor allem als Redner bei Veranstaltungen des Gaues Baden trat er in den folgenden Jahren in Erscheinung, ebenso als gewohnt scharfzüngiger Berichterstatter und Kommentator in verbandsnahen Publikationen. In seinen 1945 aufgezeichneten Erinnerungen versicherte Kuntzemüller zwar, ihm sei „jeglicher Uniformkram in tiefster Seele verhasst“ gewesen, weswegen er seine Reichsbanneruniform auf das Mindestmaß beschränkt und sie auch nur zu seiner „dienstlichen“ Tätigkeit angezogen habe.30 Dennoch scheint ihn seinerzeit dieser Umstand nicht gehindert zu haben, sich zu den offiziellen Anlässen regelmäßig in Uniform zu zeigen. In der Alltagspraxis des Reichsbanners spielten die paramilitärischen Komponenten freilich eine weit geringere Rolle als bei den Rechtsverbänden, so fand beispielsweise eine systematische Vorbereitung auf bürgerkriegsähnliche Szenarien nicht statt. Im Südwesten sorgte allein ein Nachtausmarsch mehrerer Ortsgruppen bei Donaueschingen am 28./29. August 1926 mit rund 400 Mann für größere Aufregung, woraufhin sogar mehrere deutschnationale Reichstagsabgeordnete eine Anfrage einreichten, ob und wann die Reichsregierung gedenke, dem „staatsfeindlichen und ungesetzlichen Treiben des Reichsbanners“31 ein Ende zu bereiten.32 Während die sozialdemokratische Presse den Vorfall relativierte, behauptete die rechtskonservative „Süddeutsche Zeitung“, der Nachtausmarsch habe den Charakter einer militärischen Übung besessen. Es habe sich „trotz aller militärischen 28 29 30 31
Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 103. Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 118. Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 117. Anfrage Nr. 220 an den Reichstagspräsidenten vom 19.01.1927, GLA Karlsruhe 233, Nr. 25982. 32 Zu den reichsweiten Wellen des Vorfalls auch Elsbach (2019): Reichsbanner, S. 232f.
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Stümperei“ um eine „regelrecht militärisch aufgezogene Nachtübung“33 gehandelt mit dem Ziel einer fiktiven Einkesselung der ansässigen Reichswehr. Auch Albert Kuntzemüller nahm an dem nächtlichen Ausmarsch teil – in seinen Schilderungen wirkte die Veranstaltung vergleichsweise harmlos: Viele Kameraden aus Württemberg und ganz Oberbaden nahmen daran teil. Sie stand unter dem ‚Oberbefehl‘ des technischen Leiters, Kameraden Kopp, der wesentlich militärischer gesinnt und geschult war als ich. Die Nacht war kalt und mondhell, während ich von Abteilung zu Abteilung inspizierend ging. Bei Sonnenaufgang wurde von Hüfingen aufgebrochen und in die fürstliche Residenz einmarschiert. Bürgermeister Fischer, der mich von meinen Vorträgen kannte, winkte mir vom Rathause zu, und auch manche andern bekannten Gesichter begrüßten mich. Männiglich mochte sich wundern, dem sonst in feierliches Schwarz gekleideten Redner am Vortragspult nun in so ganz andrer Aufmachung zu erblicken. Die Bevölkerung schien allenthalben sichtlich interessiert, sodass wir gewiss ein schönes Plus unsrer republikanischen Propaganda buchen durften.34
Auch bei anderen Gelegenheiten zeigte sich Kuntzemüller vom paramilitärischen Auftreten des Bundes durchaus angetan, etwa bei einer Ehrung des zum Pazifisten gewandelten ehemaligen Generals der Infanterie, Berthold von Deimling (1853– 1944).35 Von Deimling, der sich bei der Bekämpfung des Herero- und Nama-Aufstands seit 1904 und im Weltkrieg an der Flandernfront 1914/15 einen zweifelhaften Ruf als militärischer Hardliner erworben hatte, überraschte nach dem Ende seiner Karriere mit seinem spektakulären Sinneswandel. Deimling trat der DDP und dem Reichsbanner bei und wurde damit zu einem der ganz wenigen hohen Offiziere aus der kaiserlichen Armee in den Reihen des Republikanerbundes. Aufgrund seines „Verrats“ sah sich Berthold von Deimling beständig Angriffen vonseiten der Rechten ausgesetzt, was das Reichsbanner zur demonstrativen Solidarität mit seinem prominenten Mitglied bewegte. Bei einer Bannerweihe in Baden-Baden am 30. und 31. Juli 1927, verbunden mit einer Ehrung des Ex-Generals, berichtete Kuntzemüller in der Reichsbanner-Zeitung: Wir Reichsbannerleute fühlen uns gewiß von jedem Personenkult frei und lehnen es als undemokratisch ab, Persönlichkeiten […] über Gebühr zu preisen und zu beweihräuchern. Das hindert uns aber nicht, unsern Führern die Ehren zu erweisen, die ihnen gebühren, schon um sie für die Kübel voller Schlamm und Schmutz zu entschädigen, die ihnen von der Gegenseite entgegengeschleudert werden. Wenn sie gar auf einem so exponierten Posten wie der internationalen Bäderstadt Baden-Baden stehen, […] dann verdienen sie ob dieses gewiß nicht beneidenswerten Postens erst recht eine Ehrung und gewiß unsern Dank. […]Hier begegnete der in mustergültiger Disziplin marschierende Zug frohen Gesichtern, begeisterten Zurufen und Blumengrüßen, und die blasierten Mienen aus den Luxusautos der Allee waren bald vergessen.36
Albert Kuntzemüller, der persönlich an der Ehrung in Baden-Baden teilgenommen hatte, berichtete in seinen Memoiren, er habe seit dieser Zeit bis zu Deimlings Tod im Jahr 1944 in engem Kontakt mit diesem gestanden. Beide besuchten sich
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Süddeutsche Zeitung, 06.01.1927, in: BArch, R 72, 1930/II. Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 120. Zirkel (2008): Deimling. Reichsbanner-Zeitung, 18/1927, Gaubeilage Baden.
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gegenseitig und führten nach den Worten des Freiburger Sozialdemokraten eine „manchmal nicht ganz ungefährliche militärisch-politische Korrespondenz“. „Wir, der Soldat und der Sozialdemokrat, haben uns ausgezeichnet verstanden, er war mir schließlich ein wahrhaft väterlicher Freund geworden, die Liebe zur badischen Heimat und der Abscheu vor dem preußischen Militarismus haben uns miteinander verbunden.“ Als streitbarer Republikaner erachtete es Kuntzemüller als Selbstverständlichkeit, auch in seiner Eigenschaft als Schuldirektor weiterhin offensiv für seine Überzeugungen einzustehen. Als damals frisch gebackener Direktor der Neuberg-Oberrealschule in Freiburg sorgte er anlässlich einer im September 1925 zu seinem Dienstantritt gehaltenen Rede vor der versammelten Lehrerschaft und sämtlichen Schülern für Aufsehen: Am 15. September berief ich dann auf zwölf Uhr alle 500 Schüler mit der Lehrerschaft in den Festsaal der Anstalt, um auch sie in kurzer, aber gut republikanisch-demokratischer Ansprache zu begrüßen. […] dann sprach ich von der Schwere der Zeit und dem Zusammenbruch 1918. Hierbei rühmte ich im Gegensatz zu den Männern, die ‚damals in Holland und Schweden das Weite gesucht hätten‘, den ‚ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert als Staatsmann und den zweiten, Paul von Hindenburg als Militär‘, die beide in schwerster Zeit dem Reiche die Treue gehalten hätten. Danach kam noch – o Schmerz lass nach! – eine energische Hervorhebung der Farben Schwarzrotgold, als ihre Träger nannte ich Lützows wilde Jäger, den Turnvater Jahn und Fritz Reuter. An den Mienen etlicher Schüler, selbst kleinerer, bemerkte ich gelegentlich ein verstecktes, halb süffisantes, halb verlegenes Lächeln, eine sichtbare Folge der rechtsradikalen Propaganda […]37
Kuntzemüller berichtet ferner, dass seine Rede bei Kollegen, in der bürgerlichen Presse und selbst im Stadtrat hohe Wellen geschlagen habe, neben der Anspielung auf Wilhelm II. und Ludendorff hätten sich einige daran gestoßen, dass er „Ebert und Hindenburg auf eine Stufe gestellt“38 habe. Doch auch das unmissverständliche Bekenntnis zu Schwarz-Rot-Gold scheint eine Umkehrung der bisherigen Verhältnisse an der Schule bedeutet zu haben – so bemängelt Kuntzemüller in seinen Erinnerungen aus dem Jahr 1945, dass zum Beispiel bei den von den Schulen veranstalteten Reichssportfesten „von 1919 bis 1926 kein Mensch an die Hissung der schwarzrotgoldenen Reichsflagge gedacht hatte – eine von den vielen Unbegreiflichkeiten der ‚Systemzeit‘ (sic!)“. Er hingegen habe von Beginn an gerade bei festlichen Anlässen und Schulfeiern auf Embleme stets großen Wert gelegt, „zumal solche Äußerlichkeiten in der Republik – sehr zu ihrem Schaden! – in falsch verstandener Großzügigkeit sträflich vernachlässigt wurden“. So habe das Reichssportfest 1927 auf seine Initiative hin erstmals unter den Farben Schwarz-Rot-Gold stattgefunden, für Kuntzemüller ein Beleg dafür, „welch geringen Anstoßes es im allgemeinen bedarf, einer Sache zum Durchbruch zu verhelfen und Gleichgesinnte dafür zu gewinnen“. Es sei nicht auszudenken, wie alles anders hätte kommen können, wenn diese Zivilcourage Gemeingut aller Gebildeten gewesen wäre“.39 37 Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 111f. 38 Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 112 39 Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 117.
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Schon 1922 – wenige Wochen nach dem Rathenau-Mord hatte Kuntzemüller in einem Leitartikel für die Frankfurter Zeitung das Fortleben alter Geschichtsbilder besonders im Geschichts- und Geographieunterricht kritisiert. In dem Beitrag unter dem Titel „Republikanische Erziehung“ moniert er ein entsprechendes Schulbuch: Aber daß das Deutsche Reich eine Republik ist, diese Erkenntnis könnte seine Seele [die des Schülers, d. Verf.] vergiften. Darum wird es verschwiegen, wie so vieles andere auch. Stattdessen ergeht sich das „Lehrbuch“ in den höchsten chauvinistischen Geschmacklosigkeiten, spricht von unseren „Feinden“ […] Kein Wort von der Republik und der Weimarer Verfassung; dafür wird an der Stelle, wo man das Wort „Republik“ vermutet, von Bismarck als größtem deutschen Staatsmann, von ruhmreichen Krieg und Sieg gesprochen, und noch dazu in einem so jämmerlichen Deutsch, daß jeder Tertianer davonlaufen möchte…40
Kuntzemüller ging dafür gemäß seiner Prinzipien mit gutem Beispiel voran: Bei der Abiturfeier 1928 verlieh er den beiden besten Abiturienten als Preis die beiden vergangenheitskritischen Bücher „Wilhelm II.“ von Emil Ludwig sowie Herbert Eulenbergs „Hohenzollern“. Kuntzemüller berichtet, dass es aufgrund dieser Auswahl im städtischen Bürgerausschuss als geldgebender Behörde ein „großes Geschrei“ gegeben habe, wo die Bücher als „pseudowissenschaftlich“ und „Schundliteratur“41 beschimpft wurden. Der Schulleiter freilich ließ sich davon nicht beirren, sondern nahm Kontakt zu den Autoren auf, diese wiederum brachten den Vorfall in die Presse, sodass am 24. September 1928 ein Artikel in der Berliner Wochenzeitung „Montag Morgen“ erschien. Die Rechtsparteien nahmen den Vorfall zum Anlass, Beschwerde bei der Stadtverordnetenversammlung und beim badischen Kultusministerium einzulegen, die aber beide nach einiger Zeit abfällig beschieden wurden. „So endete eine von den Rechtsradikalen mit großem Tamtam in Scene gesetzte Affäre wie das Hornberger Schießen, und ich habe mir auch später über die Auswahl meiner Preisbücher […] nie Vorschriften machen lassen.“42 Im ersten Halbjahr 1926 stand die Frage der Fürstenenteignung ganz oben auf der politischen Agenda. Da es sich beim Reichsbanner trotz SPD-Dominanz offiziell um einen überparteilichen Verband handelte, der auch auf die Meinung der beiden anderen Trägerparteien Zentrum und DDP Rücksicht nehmen musste, blieb die Organisation formal neutral. Da aber auch viele Zentrums- und DDP-Anhänger dem Anliegen der Fürstenenteignung positiv gegenüberstanden, scherten sich viele Reichsbanner-Gliederungen nicht weiter um die offiziell ausgerufene Neutralität. Die Generalversammlung der Freiburger Ortsgruppe Anfang 1926 stand folglich ganz im Zeichen der Enteignungsfrage, wobei Kreisführer Kuntzemüller in seiner Rede die ehemaligen Monarchen scharf attackierte: Der Redner verstand es in altgewohnter meisterhafter Weise, die Zuhörer durch seine volkstümliche Redeweise zu fesseln. Er zog eine Parallele zwischen der deutschen Fürstenabfindung und der Verabschiedung der Bourbonen. Das französische Volk hat keine Abfindung gezahlt.
40 Frankfurter Zeitung, 13.07.1922 (Morgenausgabe). 41 Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 141. 42 Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 142.
Albert Kuntzemüller: Badischer Sozialdemokrat im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold 147 Und dabei hatten die Bourbonen keinen verlornen Krieg auf dem Gewissen, wie unsre fürstlichen Herrschaften. […] Und diese von Größenwahn befallenen Herrschaften wollen heute noch unser armes Volk von einer Sorge in die andere hetzen und verlangen für ihre überflüssige Lakaiengesellschaft und Mätressenherde Pensionen und Gehälter. […] Nichts darf uns abhalten, dafür zu sorgen, daß die nötige Zahl Stimmen zusammenkommt.43
Dass die neuen Reichsfarben auch im vermeintlich republikanisch gesinnten Südwesten weiterhin alles andere als unumstritten blieben, verdeutlicht ein Vorkommnis, mit dem Kuntzemüller den schwierigen Stellenwert von Schwarz-Rot-Gold illustriert. In einem eigens verfassten Artikel im „Singener Volkswille“ unter der Überschrift „Wie sehen die deutschen Reichsfarben aus?“ warf darin der damals noch in Triberg (Schwarzwald) lebende Kuntzemüller dem Festausschuss eines örtlichen Vereins vor, bei einem von der Stadt mitfinanzierten Fest neben SchwarzRot-Gold auch mit Schwarz-Weiß-Rot geflaggt zu haben. Er monierte in dem Beitrag, dass dieses Verhalten „weder schlau noch neutral, sondern charakterlos“44 gewesen sei, was offenbar einen Proteststurm von Leserbriefen auslöste und Kuntzemüller nach eigenen Worten zum Gegenstand des Stadtgesprächs werden ließ.45 Angesichts der stabilisierten politischen Gesamtlage schrieb Albert Kuntzemüller 1927 jedoch zufrieden, selbst die Gegner des Reichsbanners müssten inzwischen erkennen, dass sie den 3,5 Millionen Anhängern nichts Gleichwertiges gegenüberstellen könnten. Mit Genugtuung zitierte er aus konservativen Zeitungen, die den Republikanerbund als „nicht unklug“, „keineswegs ungefährlich“, „starke Volksbewegung“ und dessen Arbeit als „ungemein rege“ bezeichnet hätten.46 Im Juli 1928 fand der Gautag des badischen Reichsbanners in Freiburg statt, womit Albert Kuntzemüller als einem der Gastgeber die Aufgabe der Organisation zufiel. Als Mitglied des „Ehrenausschusses“ – einer Art kollektiven Schirmherrschaft – firmierte Kuntzemüller dabei in einer Reihe von lokalen und regionalen Honoratioren. Prompt geriet der streitbare Republikaner in einen Konflikt mit der örtlichen Universität, die sich weigerte, aus Anlass des Republikanertages ihre Gebäude zu beflaggen. Mit Verweis auf einen Senatsbeschluss von 1888 (sic!) hatte es der Rektor abgelehnt, über seiner Hochschule Schwarz-Rot-Gold zu hissen, da die Universität „auf die Wahrung ihrer Neutralität bedacht sei“.47 Der Sozialdemokrat Kuntzemüller ließ sich jedoch nicht derart abspeisen, sondern nutzte die persönliche Bekanntschaft mit dem badischen Kultusminister Otto Leers (DDP), der auf sein Betreiben hin intervenierte. In den Erinnerungen Kuntzemüllers wird der sehr kurze Dienstweg beschrieben: Während die Stadt […] dem Reichsbanner in großzügiger Weise entgegenkam, lehnte z.B. die Universität in sturem Beharren auf irgendeiner uralten Verordnung jegliche Beflaggung ab. Diesmal aber war sie an den Unrechten gekommen. Am 3. Juli 1928, als die Vorbereitungen
43 Reichsbanner-Zeitung, 4/1926, Gaubeilage Baden. 44 Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 105. 45 Allgemein zum Flaggenstreit zwischen Schwarz-Rot-Gold und Schwarz-Weiß-Rot: Wirtz (2017): ‚Flaggenstreit‘. 46 Reichsbanner-Zeitung, 13/1927, Gaubeilage Baden. 47 Nachlass Albert Kuntzemüller, Schreiben vom 26.06.1928.
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Marcel Böhles zum Gautag sich ihrem Ende zuneigten, telefonierte ich kurzerhand Minister Leers in Karlsruhe an, und bereits 48 Stunden später – eine geradezu unglaubliche Leistung des sonst so lahmen Amtsschimmels – lag allen Freiburger Staatsbehörden, also auch der Universität, ein von Leers gezeichneter Erlass wegen Beflaggung der Dienstgebäude am Reichsbannergautag vor.48
Selbstverständlich sorgte Schulleiter Kuntzemüller während des Gautages auch für eine angemessene Beflaggung seiner eigenen Schule, worüber es laut ihm wohl „manches Raunen und Fragen gegeben haben“ müsse, aber das sei eben im besten Sinne „republikanische Erziehung“49 gewesen. Einen besonderen Stellenwert für die Arbeit im Reichsbanner besaß der Verfassungstag am 11. August, der bekanntlich nie auf Reichsebene, wohl aber in mehreren Ländern den Status eines offiziellen Feiertages genoss.50 Für das Freiburger Reichsbanner gestaltete Albert Kuntzemüller 1927 eine Verfassungsfeier vor mehr als 3000 Zuhören – „das größte Auditorium meines Lebens“ –, auf der er nach eigenem Bekunden eine „stark pazifistische Rede“51 hielt. Mit welch unverhüllter Skepsis viele Menschen auch in der republikanischen Bastion Baden der Verfassung gegenüberstanden, illustrieren dagegen Kuntzemüllers Erinnerungen an einen Auftritt in Donaueschingen zum Verfassungstag 1929: Ich fuhr am Nachmittag […] im Auto nach Donaueschingen, wo ich abends zu reden hatte, das viertemal binnen wenigen Jahren, dass ich in der fürstlichen Residenz sprach. […] In Donaueschingen begrüßte uns Bürgermeister Fischer, mit Fackeln zog das Reichsbanner zur Festhalle, die gedrängt voll war. Major, Landrat, Forstrat und etliche andre Prominente saßen am Honoratiorentisch. Ostentativ reichte ich beim Kommen und Gehen nur meinem Parteifreund, Gemeinderat Messmer, die Hand, die andern lohnten nicht. Der Landrat eine offenbare Null, der Major sicherlich noch königlich preußisch, aber immerhin: Man musste eben anwesend sein. Ich sprach vor einer lautlosen Zuhörerschaft, immer die größte Freude für einen Redner. Was ich sagte, war für manchen vielleicht ganz heilsam. [Meine Frau] konnte beobachten, wie der Major gelegentlich nervös hin und her rutschte, während der Landrat ziemlich entgeistigt dreinschaute, wahrscheinlich konnte er nicht anders.52
Dass der Verfassungstag drei Jahre später schließlich auch in Baden „zum simplen Werktag degradiert“ wurde, wie Albert Kuntzemüller klagte, sah der Freiburger Reichsbanner-Funktionär als Beleg, dass der 11. August auch im „liberal-demokratischen Musterländle seinen Charakter als Feiertag“53 eingebüßt habe. Über das Versagen des Reichsbanners in den entscheidenden Monaten 1932/33 reflektierte Kuntzemüller unmittelbar nach dem Krieg in seinen 1945 verfassten Erinnerungen. Dabei suchte er in erster Linie die Verantwortung außerhalb der Grenzen seiner Heimat Baden, das er vielmehr als Opfer darstellte – freilich übersah er dabei jedoch die breite Zustimmung zur NSDAP, die in Baden Anfang der 1930er Jahre sogar leicht über dem reichsweiten Durchschnitt gelegen hatte: 48 49 50 51 52 53
Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 138. Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 138. Poscher (1999): Verfassungstag. Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 134. Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 145. Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 162.
Albert Kuntzemüller: Badischer Sozialdemokrat im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold 149 Der Hauptgrund des Versagens des Reichsbanners und der gesamten Linken im entscheidenden Augenblick war aber sicherlich der Umstand, dass in weiten Teilen des Reiches, so in Bayern und Norddeutschland, die republikanisch-demokratische Gesinnung nicht entfernt so ins Volk gedrungen war wie im einstigen liberalen ‚Musterländle‘ Baden und dass auch die Propaganda in dieser Hinsicht anderwärts viel zu wünschen übrigließ. Wäre es auf Baden allein angekommen, so hätte es nie ein Nazirégime im Reiche gegeben […] Das badische Land wurde ganz gegen seinen Willen in die Diktatur des Nazirégimes hineingezwängt und dem badischen Reichsbanner kann nicht der geringste Vorwurf ob eines Versagens gemacht werden, weil die Entscheidung über das Kommen oder Nichtkommen des Nazirégimes außerhalb der gelbrotgelben Grenzpfähle fiel.54
In der Schlussphase der Republik haderte auch Kuntzemüller mit wichtigen Institutionen und Organisationen,55 in diese Phase fiel schließlich auch die Entfremdung des gläubigen Protestanten Kuntzemüller von der evangelischen Kirche sowie von seiner Partei, der SPD. Schon im Sommer 1932 hatte sich Kuntzemüller eine Rüge des badischen Kultusministers eingehandelt, nachdem er scharfe Kritik an der Praxis der Todesstrafe geübt hatte.56 Wegen ihrer distanzierten Haltung zur Republik trat Kuntzemüller am 27. Dezember 1932 aus der Kirche aus, im Januar 1933 wegen persönlicher Gründe aus der Sozialdemokratischen Partei. Obwohl diese Schritte zu genau diesem Zeitpunkt irritieren mögen, erscheint seine Beteuerung „glaubwürdig“,57 dass diese Entscheidungen keine Anbiederung an die zukünftige Staatsführung gewesen seien. 5. LEBEN NACH 1933 UND FAZIT An die ersten Wochen nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ erinnerte sich Albert Kuntzemüller Jahre später als eine Zeit der Ungewissheit, in der er stündlich mit seiner Verhaftung rechnen musste, da Denunziationen an der Tagesordnung gewesen seien. In seinem Tagebuch notierte er: „Jetzt kann ich die alten Achtundvierziger verstehen, die den deutschen Staub von den Füßen schüttelten. Wenn ich zwanzig oder auch nur zehn Jahre jünger wäre, wüsste ich was tun“.58 Bereits am 23. März 1933 wurde Kuntzemüller wegen mangelnder „politischer Zuverlässigkeit“ von den Dienstgeschäften beurlaubt und am 10. August desselben Jahres in den einstweiligen Ruhestand geschickt – im Januar 1934 folgte der endgültige Ruhestand.59 Auch Eingaben des Kollegiums und selbst seines regimenahen 54 Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 121. 55 Merz/Wilke (1999): Kuntzemüller, 56 Kuntzemüller entgegnete hier mit einem Satz, der stellvertretend für sein gesamtes Staatsverständnis stehen kann: „Das ist ja gerade das Wesen des demokratischen Staates, daß er die Kritik nicht zu scheuen braucht, sondern um nicht zu stagnieren, ihrer sogar bedarf, im Gegensatz zum Obrigkeitsstaat, wo alles, auch Ethik und Moral, von der Regierung verordnet und kommandiert werden kann“, in: Merz/Wilke (1999): Kuntzemüller. 57 Merz/Wilke (1999): Kuntzemüller. 58 Kuntzemüller (1945): Erinnerungen, S. 168. 59 Merz/Wilke (1999): Kuntzemüller.
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Nachfolgers, ihn zumindest als „hervorragenden, geistvollen und frischen Lehrer“60 an der Schule zu belassen, konnten die Ministerialbürokratie in Karlsruhe nicht umstimmen. Eindrücklich schilderte der überzeugte Republikaner in seinen Erinnerungen die erzwungene Anpassung an die neuen Verhältnisse. Politisch seien er und seine Familie bis in den Winter 1937/38 „in konsequenter Opposition“ verharrt – so hätten sie beispielsweise bis dato konsequent den Hitlergruß verweigert. Der Druck von außen, vor allem durch den Spitzelapparat der Gestapo (u.a. die NichtVerlängerung des Reisepasses, was Fahrten in die nahe Schweiz unmöglich machte), sei dann aber derart groß geworden, dass man sich entschlossen habe, die Opposition nach außen aufzugeben. „Wenn siebzig Millionen heuchelten, dann kam es auf einen oder zwei ‚Volksgenossen‘ nicht mehr an.“ Allerdings brachte das Einlenken für Kuntzemüller noch einen besonders bitteren Moment mit sich: Der Reichsbannerführer, der sich jahrelang vehement für die Verbreitung und Akzeptanz von Schwarz-Rot-Gold eingesetzt hatte, musste am 1. Mai 1938 erstmals die Hakenkreuzflagge an seinem Haus hissen. „Äußerlich waren wir Nationalsozialisten geworden, aber innerlich schämten wir uns wie noch nie zuvor. Fünf Jahre Terror, Bespitzelung und Entzug des Auslandspasses hatten auch uns das politische Rückgrat gebrochen.“61 Publizistisch verlegte sich Kuntzemüller in den Jahren der Diktatur vor allem auf die Beschäftigung mit der Schweizer Eisenbahn, was einer Art gedanklichen Flucht in die von ihm zeitlebens als Sehnsuchtsort verehrte Eidgenossenschaft gleichkam. Auch gilt Kuntzemüller als der anonyme Autor einer Reihe von Artikeln in der Basler Zeitung, die sich unter dem Titel „Briefe aus der badischen Nachbarschaft“ mit den Verhältnissen im NS-Deutschland auseinandersetzten. Nach Ende des Krieges 1945 übernahm der mittlerweile 65-Jährige noch einmal für drei Jahre die Leitung der Mädchen-Oberrealschule in Freiburg, bevor er endgültig in den Ruhestand ging. In seiner Wahlheimat Freiburg starb Albert Kuntzemüller am 6. Januar 1956. Als echter „Herzensdemokrat“62 kann Kuntzemüller in seiner beruflichen Stellung tatsächlich als eine Ausnahmeerscheinung gelten. Mit seinem konsequenten Eintreten für die Republik, den demokratischen Geist ihrer Verfassung sowie ihre Symbole führt er uns vor Augen, welche Handlungsspielräume selbst Eliten im Bildungsbereich auf mittlerer Ebene im Sinne der Republik zur Verfügung standen. Er lässt uns damit erahnen, welche Potenziale die Weimarer Republik gehabt hätte, wäre eine tiefgreifende „Republikanisierung“ ihrer Schlüsselpositionen gelungen.
60 In: Merz/Wilke (1999): Kuntzemüller 61 Kuntzemüller (1945): Erinnerungen (Anhang), S. 7a. 62 Merz/Wilke (1999): Kuntzemüller.
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QUELLEN Frankfurter Zeitung Reichsbanner-Zeitung, Gaubeilage Baden, Jahrgänge 1924 bis 1933. Stadtarchiv Freiburg (K1/111): Nachlass Albert Kuntzemüller („Mein Leben“. Maschinenschriftliches Manuskript), Freiburg 1945. Süddeutsche Zeitung
LITERATUR Berger, Michael: Dr. Ludwig Frank – Idealist, Visionär und Kämpfer für den Frieden. In: Ders./ Römer-Hillebrecht, Gideon (Hg.): Jüdische Soldaten – jüdischer Widerstand in Deutschland und Frankreich, Paderborn u.a. 2012, S. 33–47. Böhles, Marcel: „Im Gleichschritt für die Republik“. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten 1924–1933, Essen 2016. Braun, Bernd/ Hörster-Philipps, Ulrike: In jeder Stunde Demokratie – Joseph Wirth (1879–1956): ein politisches Porträt in Bildern und Dokumenten, Freiburg i.Br. 2016. Elsbach, Sebastian: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik, Stuttgart 2019. Merz, Hans-Georg / Wilke, Klauspeter: Kuntzemüller, Albert August Julius Gustav: Pädagoge, Eisenbahnhistoriker, Gegner des NS-Regimes. In: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), S. 289–292. Poscher, Ralf: Der Verfassungstag. Reden deutscher Gelehrter zur Feier der Weimarer Reichsverfassung, Baden-Baden 1999. Wirtz, Verena: ‚Flaggenstreit‘. Zur politischen Sinnlichkeit der Weimarer Demokratie. In: Braune, Andreas/ Dreyer, Michael (Hg.): Republikanischer Alltag. Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität, Stuttgart 2017, S. 51–67. Zirkel, Kirsten: Vom Militaristen zum Pazifisten. General Berthold von Deimling – eine politische Biographie, Essen 2008.
HANS DELBRÜCK Eine konservative Alternative für Weimar Christian Lüdtke „Sollten wir wirklich gezwungen werden, die Vergangenheit von Friedrich dem Großen bis zum 14. August 1914 für ethischen Schutt und Trümmer zu erklären, um uns eine neue Weltanschauung aufzubauen?“1 So fragte Hans Delbrück Ende 1918 unter dem Eindruck von Niederlage und Revolution in den von ihm herausgegebenen Preußischen Jahrbüchern. Damit deutete er an, dass Deutschland trotz des furchtbaren Krieges weiterhin auf eine lange und vielfach auch sinnstiftende Geschichte zurückblicken konnte. Diese Traditionen wollte Delbrück nicht alle über Bord geworfen sehen, wenngleich er wie nur wenige andere Vertreter des bürgerlichen Milieus die Machtumwälzung als Folge des Unvermögens der alten Eliten sofort akzeptierte. Er bekannte sich zu der Notwendigkeit eines neuen Staatsaufbaus, warb aber zugleich dafür, nicht alle bisherigen Werte und Gepflogenheiten auf einmal für nichtig zu erklären. In dieser Kombination konservativer Prägung liegt die Quintessenz von Hans Delbrücks Wirken für die Weimarer Republik. 1. EINLEITUNG Immer noch ist wenig bekannt über einzelne demokratische Persönlichkeiten in der Weimarer Republik. Hans Delbrück ist in diesem Zusammenhang sicher ein besonderes Beispiel, da auf ihn als Intellektuellen der gemäßigten Rechten nicht unmittelbar das Etikett „demokratische Persönlichkeit“ im engeren Sinne passt. Gleichwohl stellt sein Wirken eine chancenreiche Alternative für den Weimarer Staat dar. Insofern müsste der Begriff der „demokratischen Persönlichkeit“ etwas weiter gefasst werden auf „Persönlichkeiten, die sich für ein Gelingen der Weimarer Republik einsetzten“. Diese müssen nicht zwingend überzeugte liberale Demokraten nach heutigen Maßstäben sein. Die Faktoren für das Gelingen dieses Staates lagen auch an anderer Stelle. Delbrück plädierte für faktenbasierte Diskussionen, die Schaffung positiver Symbole und eine Stärkung der liberal-konservativen Mitte. Hans Delbrück (1848–1929), Historiker und politischer Publizist, war Teil der Familie Delbrück, deren Angehörige im langen 19. Jahrhundert viele herausragende Ämter in Verwaltung, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft innehatten. Er war Frontkämpfer im Deutsch-Französischen Krieg und blieb bis 1885 Reserveoffizier. 1
Hans Delbrück: „Danksagung“, in: PJb 174 (1918), S. 442–445, Zitat S. 444.
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Nach seiner Promotion im Fach Geschichte 1873 bei Heinrich von Sybel arbeitete er einige Jahre als Erzieher des Prinzen Waldemar, einem Bruder des späteren Kaisers Wilhelm II. Hier entstanden intensive Kontakte zu dem damaligen Kronprinzenpaar, dem späteren Kaiser Friedrich III. und dessen Frau, sowie mit hohen Offizieren. Diese Zeit war für seine wissenschaftliche und politische Arbeit genauso prägend wie seine Tätigkeit als Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag in den 1880er Jahren. Delbrücks Lebensmittelpunkt war Berlin. Dort erhielt der gläubige Protestant 1896 den Lehrstuhl Heinrich von Treitschkes für Weltgeschichte. Sein Spezialgebiet war die Kriegsgeschichte, die er als erster ziviler Historiker als eigenes Fach etablierte und damit der Deutungshoheit der Militärgeschichtsschreiber des Generalstabs entzog.2 Parallel zu diesem wissenschaftlichen Streben fungierte er jahrzehntelang als Herausgeber der Preußischen Jahrbücher. Im Ersten Weltkrieg war Delbrück von Beginn an eine prägende Figur der Gemäßigten in der Kriegszieldebatte, welche er deutlich trennte von der Debatte um die Kriegsursachen – hier blieb er stets der Überzeugung, Deutschland kämpfe einen Verteidigungskrieg. Theodor Heuss konstatierte später, Delbrück sei „aus einer konservativen Grundhaltung heraus von Beginn einer der schärfsten Gegner von jeglichem Annexionismus gewesen“.3 Als Angehöriger der konservativen Elite lehnte er die expansiven Kriegsziele der alldeutschen Bewegung ab und warb seit 1914, ohne sich von Propaganda oder Einzelerfolgen beirren zu lassen, für einen Verständigungsfrieden auf der Basis des status quo ante. Zugleich forderte er Reformen des Wahlrechts, um die Akzeptanz der Hohenzollernmonarchie in allen Schichten aufrecht zu erhalten. Der liberale Historiker Walter Goetz bemerkte dazu, Delbrück „hat im ganzen sehr vieles richtiger gesehen als die deutschen Staatsmänner der wilhelminischen Zeit.“4 Als er sich gegen das alldeutsche Programm nicht durchsetzen konnte, zog sich Delbrück in seinem hohen Alter – er feierte seinen 70. Geburtstag am 11. November 1918,5 dem Tag des Waffenstillstands, – nicht zurück. Zwar sah es zunächst danach aus, als würde Delbrück sein politisches Engagement beenden, weil er sich Ende 1919 von seinen Preußischen Jahrbüchern trennte, wie Anna Schlieffen ihm nach der Lektüre seines letzten Hefts schrieb: Mitten im Zusammenbruch des Deutschen Reichs steht Ihr Abschied von den ,Preussischen Jahrbüchernʻ als der Abschluß einer Geistesepoche von deren Wert nicht zum mindesten auch die ergreifende Schlichtheit Ihrer Abschiedsworte spricht. Die Wiederholung Ihrer Mahnungen vom Jahre 1914, deren Wahrheit heute im Lichte der Ereignisse seit 1916 in erschütternder
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Vgl. Bucholz (1985): Hans Delbrück; Lange (1995): Strategiestreit. Heuss (1963): Erinnerungen, S. 220. Goetz (1957): Hans Delbrück, S. 317. Vgl. Lüdtke (2016): Kassandra. Emeritiert wurde er 1921, was ihn aber nicht von weiteren, größeren wissenschaftlichen Tätigkeiten abhielt.
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Weise offenbart ist, gibt im Zusammenhang mit dem ,Abschiedʻ dem Dezemberheft der Preussischen Jahrbücher die Bedeutung eines geschichtlichen Dokuments.6
Aber Hans Delbrück orientierte sich nur um und konnte seine Stellung im politischen Deutschland als einflussreicher Publizist noch weiter ausbauen. Statt in seiner eigenen Zeitschrift publizierte er nun immer häufiger in diversen Tageszeitungen, was auch zu einer weiteren Zuspitzung seiner Texte führte. Wichtigste Organe waren für ihn das Berliner Tageblatt, die Deutsche Allgemeine Zeitung und das Neue Wiener Tagblatt. Ebenso in vielen anderen Zeitungen und Zeitschriften des liberalen bis gemäßigt rechten Spektrums, aber auch im Vorwärts, brachte er seine Anschauungen dar. Durch diese publizistische Pluralität konnte er sehr unterschiedliche Milieus direkt erreichen, was seine Wirkung in der Weimarer Republik deutlich erhöhte. Seine Breitenwirkung vergrößerte sich auch, da er über seine publizistische Tätigkeit hinaus in Erscheinung trat als Sachverständiger in diversen Kommissionen, als Moderator und Taktgeber in relevanten Gesprächszirkeln, als kraftvoller Redner in unterschiedlichen Konstellationen – von der universitären Vorlesung über Ansprachen in wissenschaftlichen und politischen Institutionen bis zum neuen Medium Radio – und schließlich als Impulsgeber auf privater Ebene, was sich in der viele tausend Briefe umfassenden Korrespondenz deutlich zeigt. Er wurde von allen politischen Lagern aufmerksam rezipiert – freilich in unterschiedlicher Weise: Sozialdemokraten zogen ihn häufig zur Bekräftigung ihrer Anschauungen gegen die politische Rechte heran, wenn es um die Dolchstoßlegende ging, Linksliberale fühlten sich meist von ihm bestätigt, bisweilen aber auch düpiert, wenn er ausdrücklich nicht „die reine Lehre“ der Republik vertrat, Rechtsliberale und gemäßigt Konservative beriefen sich gegenüber der politischen Linken auf ihn, wenn er eine Lanze für das Hohenzollernreich brach, und instrumentalisierten ihn bisweilen gegen die Republik, während die radikale Rechte in der Regel nur höhnischen Zynismus für ihn übrig hatte, übrigens anders als die radikale Linke, die ihm durchaus hin und wieder bei aller betonten Distanzierung Respekt für seinen Kampf gegen Rechts zollte. Hans Delbrücks politische Beiträge in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zu seinem Tod 1929 zeigten Möglichkeiten zur Integration monarchietreuer Bürger in die Republik und spiegeln die Bedeutung der Wahrnehmung von Niederlage und 6
Anna Schlieffen an Hans Delbrück am 11. Dezember 1919, in: SBB, NL Delbrück, Briefe Anna Schlieffen, Bl. 53–56. Es handelt sich vermutlich um Anna-Sabine Gräfin von Schlieffen (1873–1960), Ehefrau von Jaspar Friedrich Carl Otto Ulrich von Bülow. Sell (1953): Tragödie, S. 432, schreibt, die Preußischen Jahrbücher (PJb) hätten den rückwärtsgewandten Rechtsruck am Ende der Weimarer Republik begrüßt, sich zum Nationalsozialismus aber zunächst „vorsichtig“ verhalten. Als „Hitler die Maske fallen ließ und man Stellung nehmen mußte“, nämlich im Zusammenhang mit der NS-Propaganda um den Mord von Potempa im Sommer 1932, hätten sich die PJb in der Nach-Delbrück-Ära selbst aufgegeben: „Kein Deutscher konnte nach dem Telegramm von Potempa sein Zusammengehen mit dem Nationalsozialismus damit entschuldigen, er habe die Natur des Führers nicht gekannt. Die Haltung der Preußischen Jahrbücher war bezeichnend. Sie berührten den ungeheuerlichen Skandal überhaupt nicht“. Deutlich wird hier, wie sehr Delbrück in der Zeit seiner Herausgeberschaft bestimmenden Einfluss im Sinne einer aufgeklärten Tradition auf politische Debatten gehabt hatte.
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Revolution für die Nachkriegsjahre wider.7 Delbrück setzte sich als Intellektueller der gemäßigten Rechten für den neuen Staat und die Gewinnung einer neuen Mitte gegen „nationalen Fanatismus“8ein. Auch ein überzeugter Konservativer und Vertreter der wilhelminischen Epoche – eben kein mustergültiger liberaler Republikaner – konnte sich wirksam für die Weimarer Republik engagieren. Dies lässt sich anhand der folgenden wesentlichen Aspekte in der Tätigkeit und Wirkung Delbrücks zeigen. 2. DIE HISTORISCHE BILDUNG Seine Vorstellungen und Vorschläge auf dem Gebiet der Politik entwickelte Hans Delbrück wesentlich auf der Grundlage seiner geschichtlichen Studien. Die europäischen Staaten bildeten für ihn einen historisch entwickelten geistig-kulturellen Zusammenhang, der sich aus der Bildung der Antike, dem Christentum des Mittelalters und dem Staats- und Nationsbegriff der Neuzeit speiste. So konnte er für nationales Gedankengut werben – und war damit ganz Kind seiner Zeit – und geriet doch nicht in die Gefahr der nationalen Überheblichkeit, die den anderen „großen, so nahe verwandten Kulturvölkern“9 das eigene Recht auf nationale Gesinnung absprach. In seiner fünfbändigen „Weltgeschichte“, die er in den 1920er Jahren veröffentlichte, arbeitete er diese Vorstellungen heraus. Als wesentliche Lehre für die praktische Politik galt ihm die Warnung vor nationaler Überhebung. Es sei stets eine gemäßigte Politik, die in der Geschichte erfolgreich gewesen sei. Daher formulierte Delbrück auch in seinen Beiträgen für die deutsche Politik nach dem verlorenen Krieg den Ratschlag, sich nicht von blindem Nationalismus lenken zu lassen. Er forderte für Deutschland einen gleichberechtigten Platz in der Völkergemeinschaft, aber keinen hervorgehobenen. So kämpfte er gegen die in Teilen ihrerseits nationalistisch geprägte Politik der Siegermächte gegenüber Deutschland, zugleich aber auch gegen eine zwar populäre, aber letztlich unrealistische und gefährliche deutsche Revanchepolitik. 1924 beispielsweise übte sich Delbrück unter Rückgriff auf die deutsche Vergangenheit in Zuversicht, als er in der Berliner Lessing-Hochschule anlässlich der Reichsgründung von 1871 daran erinnerte, dass auch in der Ära Bismarck politische 7 8
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Umfassend dazu: Lüdtke (2018): Hans Delbrück und Weimar. Den Begriff des „nationalen Fanatismus“ hatte Delbrück in Abgrenzung zum Bekenntnis zu einem „nationalen Idealismus“ im Programm seiner Preußischen Jahrbücher geprägt. Zitiert nach: Christ (1989): Hans Delbrück, S. 163. Diese Leitlinie zog sich zeit seines Lebens durch sein politisches Engagement: Indem er sich für ein Gedeihen des deutschen Nationalstaats einsetzte, war er als Konservativer seiner Zeit gekennzeichnet. Zugleich aber wandte er sich stets gegen die radikale Rechte, die diesen „nationalen Idealismus“ übersteigerte zu einer Aggressivität, die Deutschland in der Welt isolierte und die innenpolitische Atmosphäre vergiftete. Diese Konstante lässt sich bei Delbrück ohne wesentliche Änderung über die Epochengrenze von 1918/1919 hinweg nachweisen. Hans Delbrück: „Payers Kriegserinnerungen“, in: Frankfurter Zeitung, 68. Jahrgang, Nr. 14 vom 6. Januar 1924, in: BArch, N 1017/2.
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Kämpfe mit harten Bandagen ausgefochten worden seien. Er dekonstruierte damit den Bismarck-Mythos, der vor allem rechten Kreisen dazu diente, auf eine nur vermeintlich gute und innenpolitisch einige Zeit zu verweisen. Damit bezweckten sie eine Delegitimation der Republik, deren systemimmanenter und notwendiger Parteienstreit in Parlamenten und Öffentlichkeit als etwas Schlechtes diffamiert wurde. Die Rückschau auf die auch zu Bismarcks Zeiten heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen nutzte Delbrück für den Hinweis: „Dies gibt die Möglichkeit und das Recht, auch die heutige Zeit unter einem weniger trüben Aspekt zu erblicken, als wir für gewöhnlich geneigt sind.“10 Damit relativierte er den vielfach von Antirepublikanern kritisierten demokratischen Streit. Eine Dimension im Bemühen Delbrücks um eine gesicherte Zukunft Deutschlands zeigte sich in seinem Bestreben, volkspädagogisch zu wirken. Die Königsberger Hartungsche Zeitung bemerkte dazu in einem Nachruf im Juli 1929: Der Haß der Chauvinisten11 gegen Delbrück erklärt sich in der Hauptsache gerade daraus, daß er Verbreitung tieferen Wissens um die politischen Grundfragen verlangte, dessen Mangel gerade den Nährboden für jenen inhaltlosen Ueberpatriotismus [sic] abgab, gegen den er sich immer wieder wandte, und der auch heute noch nicht überwunden ist.12
Um dieser „Verbreitung tieferen Wissens“ willen sei die Universität für Delbrück „Erziehungs-, nicht nur […] Forschungsinstitut“ gewesen und habe ihm gegen „die Halbbildung“ gedient.13 Ähnlich schrieb auch Theodor Heuss in Bezug auf Delbrücks Publizistik, sie sei „als politisches Erziehungsmittel gedacht, aber mehr als einmal wurde sie zur politischen Waffe.“14 Darin zeigt sich seine Bedeutung über seine Person hinaus: Man kann Hans Delbrück in diesem Sinne als Antipopulisten bezeichnen. Da, wo die politischen Extreme mit gezielt geschürten Halbwahrheiten manipulierte Stimmungen erzeugten, nach innen Exklusion und nach außen Ag 10 Richard Wolf: „Der Reichsgründer. Bismarck im Bilde Hans Delbrücks. Zum 18. Januar“, in: Unbekannte Zeitung vom 10. Januar 1924, in: SBB, NL Delbrück, Fasz. 134. 11 Dieser Hass der radikalen Rechten erklärte sich daraus, dass Delbrück stets gegen „nationale Fanatisten“ (siehe Anmerkung 8) kämpfte und sich dadurch ihre Abneigung zuzog. Er wiederholte immer wieder, „daß die alldeutsche Bewegung gefährlicher sei als die sozialdemokratische“ (Delbrück (1926): Weltkrieg, S. 404). 12 Erich Hellmut Wittenberg: „Delbrücks Vermächtnis“, in: Königsberger Hartungsche Zeitung vom 20. Juli 1929, in: SBB, NL Delbrück, Fasz. 12.4, Hervorhebung ebenda. 13 Vgl. ebd.. 14 Weiter schrieb er im Rückblick auf Delbrücks Vorlesungen: „Es sind jetzt viereinhalb Jahrzehnte her, daß wir vor seinem Katheder saßen – noch sehen wir die bärtige, männliche Erscheinung mit noch ungebleichtem Haar, die mittelgroße Gestalt, die nachdrückliche Bewegung beim Vortrag, noch hören wir das kräftige, aber nicht strapazierte Organ mit leicht gutturaler Artikulation. Er hätte wie der alte Fontane von sich sagen können, daß ihm der Sinn für Feierlichkeit abgehe.“ (Heuss (1951): Delbrück, S. 458f). Der Historiker Gustav Roloff schrieb 1922 an Delbrück: „Aber so lange unser Volk in seinem patriotischen u. intelligenten Teil diesen Leuten [Ludendorff und seinesgleichen, d. Verf.] nachläuft, kann nichts aus uns werden.“ (Roloff an Delbrück am 18. März 1922, in: SBB, NL Delbrück, Briefe Roloff II, Bl. 17–21). Hier wird auch die Absicht Delbrücks und seiner Gesinnungsgenossen deutlich, volkspädagogisch zu wirken.
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gression predigten sowie in den zunehmend polarisierten öffentlichen Debatten Maß und Mitte verloren ging, warb er für faktenbasierte Diskurse und gegenseitige Anerkennung. Und das tat er nicht in einem wissenschaftlichen Elfenbeinturm mit begrenzt vermittelbaren Theorien, sondern auf eine populäre und massenwirksame Art, indem er die politische Arena nicht scheute und seinerseits mit zugespitzten und einprägsamen Formulierungen hantierte.15 3. KRIEGSSCHULD UND AUSSÖHNUNG IN EUROPA Deutlich wird dies in Delbrücks Engagement in der sogenannten Kriegsschuldfrage. Hans Delbrück war in den 20er Jahren einer der wichtigsten Akteure in der deutschen Debatte über die Ursachen des Weltkriegs. Er wandte sich deutlich gegen den von den Siegermächten in Versailles formulierten Vorwurf, das Deutsche Reich habe den Krieg geplant und vorsätzlich begonnen. Ganz im Sinne seiner Weltgeschichte trachtete Delbrück aber nicht nach Revanche: Für ihn war die „Kriegsschuldlüge“ ein entscheidendes Hindernis für eine Aussöhnung in Europa. Denn Deutschland war mit dem Stigma des Verbrechers ausgegrenzt aus der von Delbrück so hoch gehaltenen Gemeinschaft der westlichen Kulturstaaten.16 Dadurch entstand in Deutschland weiterer Hass auf die vormaligen Gegner. Delbrück erkannte, dass eine Aussöhnung und dauerhafte Friedenssicherung nur funktionieren könne, wenn dieser Hass verschwände und Deutschland international als gleichwertig behandelt würde. Nur damit würde der Grund für die deutschen nationalistischen Leidenschaften wegfallen. Die Voraussetzung hierfür war eine Revision des Versailler Vertrages im Hinblick auf die Kriegsschuldfrage. Das war ein nationales Programm, aber kein nationalistisches. Die Nationalisten wollten Deutschland über die anderen Völker stellen. Delbrücks jahrzehntelangen wissenschaftlichen Forschungen zur Kriegsgeschichte waren die Basis, auf der er zu seinen realistischen und abwägenden Einschätzungen des Versailler Vertrags kam: Er war zu der Erkenntnis gelangt, dass in der Geschichte zumeist eine gemäßigte Kriegspolitik, bei der der Sieger dem Unterlegenen anschließend ein gesichtswahrendes Fortkommen ermöglichte, langfristig erfolgreich war. Bei allen Handlungszwängen, denen die alliierten Regierungen in Versailles tatsächlich unterlagen, ist die Prägnanz der Delbrückschen Warnung vom 28. Juni 1919 nicht von der Hand zu weisen: Den (neu geschaffenen) Völkerbund hätte die Entente „erwürgt“, da der Versailler Vertrag „keinerlei Kennzeichen des neuen Zeitalters [trägt], sondern [...] der Gewaltfriede alter und ältester Art [ist], 15 Er pflegte eine „höchst farbige schriftstellerische Kunst“, wie Heuss (1951): Delbrück, S. 459 bemerkte. 16 1920 und 1924 war Deutschland sogar von der Teilnahme an den Olympischen Spielen ausgeschlossen – die Deutschen mussten also feststellen, dass auch ihre neue Staatsform Republik keine Gewähr für eine internationale Achtung bot. Damit ist ein Baustein in der schrittweisen Delegitimation der Republik beschrieben.
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der nicht einen, sondern hundert neue Kriege im Bauche trägt.“17 Delbrück stieß sich dabei allerdings weniger am Inhalt der Friedensbestimmungen, also etwa an den territorialen Verlusten des Deutschen Reichs als solche, als mehr an der Form: Die Tatsache, dass der Vertrag den Deutschen buchstäblich ohne Verhandlungen diktiert wurde, hat ihn als Sachverständigen der deutschen Delegation außerordentlich ernüchtert. Noch schlimmer wogen für ihn die moralische Verurteilung hinsichtlich der deutschen Alleinkriegsschuld, mit der die Bedingungen des Vertrags gerechtfertigt wurden, oder die Forderung nach der Auslieferung des ehemaligen Kaisers. Eher war er geneigt, die Bedingungen selbst als Ausdruck der von ihm vollauf akzeptierten Niederlage hinzunehmen. Aber die moralische Doppelbödigkeit, mit der diese begründet und flankiert wurden, die „inszeniert[e] Demütigung“18 durch die Entente, erzürnte ihn. Denn im gleichen Atemzug wurde von denselben Akteuren der Völkerbund aus der Taufe gehoben, der ein neues Zeitalter der Menschheit einläuten sollte. An dessen hehren Idealen gemessen wirkte der Versailler Vertrag in Form und Stil auf die Deutschen wie Hohn. Aber so sehr er in den folgenden Jahren die (falsche) These der deutschen Alleinkriegsschuld bekämpfte, so sehr trug Delbrück zugleich dazu bei, die Debatte über die Kriegsschuldfrage für die politische Mitte zu behaupten:19 Er instrumentalisierte die Kriegsschuldfrage nicht für einen nationalistischen Kurs. Er hatte ein ganz anderes Anliegen; genau diese Kreise, die das taten, bekämpfte er, weil er eine weitere Radikalisierung verhindern wollte. Er lehnte die vielfache Verknüpfung der Schmach des Versailler Vertrags mit der Staatsform der Republik ab, was ihn deutlich von der radikalen Rechten abhob. Gleichwohl blieb Delbrück mit seinem Mantra von der Nichtschuldigkeit des Deutschen Reichs entfernt von der politischen Linken, die von Theodor Wolff bis Kurt Eisner diese umgekehrte Einseitigkeit ablehnte. 4. KAMPF UM DIE DEUTUNGSHOHEIT ÜBER DIE NOVEMBERREVOLUTION Man erkannte in Deutschland nicht den wesentlichen Vorteil des Versailler Vertrages: Das Deutsche Reich von 1871 wurde nicht aufgelöst, sondern formell anerkannt und damit langfristig gesichert. Es war den Deutschen aber psychologisch offenbar nicht möglich, die militärische Niederlage zu akzeptieren, zu tief saß wohl 17 Hans Delbrück: „Der Entehrungsfriede“, in: PJb 177 (1919), S. 142–149, Zitat S. 146. Gleichwohl setzte Delbrück in den folgenden Jahren hohe Erwartungen in den Völkerbund und warb immer wieder für ihn. Vgl. Lüdtke (2018): Hans Delbrück und Weimar, S. 92–96. 18 So Jörn Leonhard in einem Interview (Schütz (2018): Interview). 19 Immer wieder pochte er darauf, dass gerade Politiker und Intellektuelle aus dem Lager der bürgerlichen Mitte in besonderer Weise in der Aufklärung der Schuldfrage engagiert seien, während aus den Reihen der Scharfmacher von Rechts hierzu wenig Substanzielles geleistet würde (siehe beispielsweise: Hans Delbrück: „Für die Demokratie“, in: Frankfurter Zeitung vom 4. November 1924, in: SBB, NL Delbrück, Fasz. 88e).
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der selbstgerechte Stolz über die Siege in den Einigungskriegen 1864, 1866 und 1870/71. Die wahren Zusammenhänge und Schuldigen von 1918 konnte und wollte man vielfach nicht unmittelbar sehen. Die Dolchstoßlegende schloss diese Erklärungslücke auf angenehme Weise, denn mit ihr musste niemand nach der Verantwortung derjenigen Kreise fragen, die die öffentliche Meinung dominiert hatten und die eine breite Unterstützung im Volk gehabt hatten. Die Dolchstoßlegende konstruierte einen inneren Zusammenhang von Republikgründung und Verantwortung für die Niederlage: Die Revolution, die in Wahrheit die Folge der militärischen Niederlage in Form einer „Meuterei“20 gewesen war, wurde mit dieser Legende umgedeutet zur Ursache des Zusammenbruchs, die Träger der Republik zu den Totengräbern des Kaiserreichs deklariert. Die Niederlage wurde also mit der Verfassungsform der Republik erklärt und die Verantwortung für den als ungerecht empfundenen Versailler Vertrag an die Revolution delegiert. Nach außen wurde das „Versailler Diktat“ zum Kampfwort, das alles Übel verkörperte. Diese Projektionen sind zwar verständlich, aber falsch gewesen. Hans Delbrück ging den ehrlichen Weg und benannte die Schuldigen an Deutschlands Katastrophe – die Militärführung und die Alldeutschen, – weil es ihm in erster Linie um die Wahrheit ging, die Feststellung und Benennung der wahren Verantwortlichen. Mit dem gleichen Selbstverständnis prangerte er auch nach außen diejenigen Strömungen bei den Siegermächten an, die ihrerseits übertrieben und zu Unrecht Deutschland die alleinige Kriegsschuld aufbürdeten. Damit trat Delbrück zwar für eine (begrenzte) Revision der Versailler Nachkriegsordnung ein, tat dies aber auf einer Grundlage, die eine Verständigung ermöglichte. Wie hartnäckig sich immer noch auch in manchen bürgerlichen Kreisen Varianten der Dolchstoßlegende halten, illustriert ein größerer Artikel in der FAZ im Zusammenhang mit dem einhundertjährigen Jubiläum der Novemberrevolution: Dort schreibt Martin Eich von einer heutzutage verbreiteten „romantischen Verklärung der Meuterer“, obwohl diese durch eine Sabotage des geplanten Flottenvorstoßes Ende Oktober 1918 in Wahrheit Deutschland „die letzte Chance“ genommen hätten, „militärisch einen akzeptablen Verhandlungsfrieden zu erreichen“.21 Das ist als Analyse der Novemberrevolution im Jahr 2018 an Fehldeutung, mangelnder Quellenkenntnis, gezielter Instrumentalisierung von Halbwahrheiten und historisch fehlgehender Kontextualisierung kaum zu überbieten. Oder, um mit den Worten von Vize-Admiral Karl Galster, der publizistisch mit Delbrück zusammenarbeitete, zu sprechen, wird deutlich, dass immer noch die „Marine mit allen Mitteln danach strebt ihre Wichtigkeit nachzuweisen. […] Es wird nicht für beschämend gehalten, dem Publikum Sand in die Augen zu streuen.“22 Denn wenn es tatsächlich das Bestreben für einen „akzeptablen Verhandlungsfrieden“ gegeben hätte, hätte es hierfür 20 Delbrück sprach von „zur Verzweiflung gebrachten Massen. Es war viel mehr eine Meuterei als eine Revolution.“ (Hans Delbrück: „Graf Waldersee und Wilhelm II.“, in: Neue Freie Presse, Nr. 21192 vom 8. September 1923, in: SBB NL Delbrück, Fasz. 88c). 21 Martin Eich: „Als Deutschland den Frieden verlor“, in: FAZ, Nr. 256 vom 3. November 2018, S. 7. 22 Karl Galster an Hans Delbrück am 3. Januar 1927, in: BArch, N 1017/55.
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durchaus auch erfolgversprechende Optionen in allen Kriegsjahren gegeben. Sie waren bewusst nicht genutzt worden, weil die von den Alldeutschen dominierte Öffentlichkeit und eine politisch verantwortungslos handelnde Oberste Heeresleitung (OHL) sich in dem Traum von einem deutschen Siegfrieden wähnten. Stattdessen wurde jahrelang immer wieder aufs Neue versucht, die Gegner mit militärischer Stärke zu einem Siegfrieden zu zwingen. Der geplante Flottenvorstoß stellte hier, wenn überhaupt, nur einen weiteren derartigen (sinnlosen) Versuch dar. Für einen „akzeptablen Verhandlungsfrieden“ war es im Oktober 1918 zu spät. Die totale deutsche Niederlage war unausweichlich, die Lage des Heeres an der Westfront war desaströs, die „Armee war nur noch ein Schatten ihrer selbst“,23 sodass es nichts mehr zu retten gab – ob mit Flotte oder ohne. Da musste es das Ziel jeder verantwortlichen Führung sein, so schnell wie möglich jedes weitere Blutvergießen zu beenden.24 Als „der letzte verbliebene strategische Aktivposten Deutschlands“25 war die Hochseeflotte im Herbst 1918 nicht anzusehen. Die „letzten strategischen Aktivposten“, nämlich aufgefrischte Truppen, hatte die OHL in der ausufernden Frühjahrsoffensive ohne strategischen Sinn für bloße taktische Erfolge aufgerieben. Deshalb war nach deren Scheitern die Einleitung von Waffenstillstandsverhandlungen sofort und zwingend geboten, eine strategische Veränderung der militärischen Situation des Deutschen Reichs hätte seine Flotte nicht herbeiführen können. Mithin war es ja kein Zufall, dass diese (nach der Skagerrakschlacht 1916) nicht mehr eingesetzt worden war – eben weil die Marineführung um die Aussichtslosigkeit eines Flottenvorstoßes wusste. Gerade die Skagerrakschlacht, die von Eich als Beispiel für die angebliche Stärke der deutschen Seemacht herangezogen wird, hatte deutlich gezeigt, dass unter äußerst günstigen Umständen vielleicht ein taktischer Einzelerfolg möglich, ein strategischer Durchbruch gegen die Übermacht der Royal Navy aber völlig ausgeschlossen war.26 Wieso sollte diese Lage 1918 plötzlich eine andere gewesen sein? Der Entschluss der Marineführung Ende Oktober 1918, die 23 Deist (1991): Zusammenbruch, S. 229. 24 Der entscheidende Punkt bei dem Befehl zum Flottenvorstoß war vor allem seine Eigenmächtigkeit: Dieser in seiner Tragweite gar nicht hoch genug einzuschätzende Befehl der Marineführung erfolgte, ohne den verantwortlichen Reichskanzler Max von Baden (oder auch den Kaiser als Obersten Kriegsherrn) auch nur in Kenntnis zu setzen. Es handelte sich also in gewisser Weise um Hochverrat. Damit wurde am Ende des Krieges noch einmal in aller Deutlichkeit klar, wie sehr die politische Führung im Deutschen Reich von der militärischen unterlaufen wurde. Es ist eine zentrale Lehre von Carl von Clausewitz, dass die politische Führung in einem Krieg stets Vorrang vor der militärischen Führung haben müsse und jede Verselbstständigung der letzteren fatale politische Folgen haben kann. Die Dominanz der Militärs im Ersten Weltkrieg machte Delbrück denn auch als einen entscheidenden Grund für die Niederlage aus, da sie politische Chancen auf einen Verständigungsfrieden zunichte gemacht habe. Es war jedenfalls der Kardinalfehler der deutschen Kriegsführung, auf rein militärische Initiativen zu setzen und nicht auf (zumindest parallele) politische. Martin Eich verharrt somit in einer merkwürdigen Position. 25 Wie Anm. 21. 26 Vgl. Rahn (2011): Seeschlacht.
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Flotte zu einer angeblich entscheidenden Schlacht gegen die Royal Navy auslaufen zu lassen, erfolgte vor dem Hintergrund dieses Wissens. Es war eine bewusste Entscheidung für einen heroischen Untergang, kein letzter „strategischer Aktivposten“. Die deutschen Matrosen sollten für diese unverantwortliche Idee geopfert werden – eine „ungeheure Zumutung“, wie Hans Delbrück in seinem Gutachten für den parlamentarischen Untersuchungsausschuss feststellte.27 Der Autor in der FAZ allerdings unterstellt ihnen, sie hätten diese vermeintlich rettende Idee der Marineführung durch ihre Meuterei zum Scheitern gebracht. Den Matrosen kommt genau die gegenteilige Bewertung zu: Sie hatten den völligen politischen und moralischen Bankrott der kaiserlichen Führung offenbart und ihr ein Ende bereitet. Die Hintergründe über den geplanten und durch die Meuternden vereitelten Flottenvorstoß sind im Übrigen erst 1925 und danach einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden, und zwar im Rahmen des „Dolchstoßprozesses“ und der anschließenden Aufarbeitung der dort gewonnenen Erkenntnisse im Untersuchungsausschuss des Reichstags, vor allem durch Delbrück und Galster.28 Auch dieser späte Zeitpunkt ist ein klarer Hinweis auf das schlechte Gewissen der verantwortlichen Admiräle, die die Umstände sicherlich schon viel früher öffentlich gemacht hätten, hätte es sich aus ihrer Sicht wirklich um eine aussichtsreiche militärische Chance gehandelt. In einer Buchbesprechung der Kriegserinnerungen des DDP-Mitbegründers und letzten kaiserlichen Vizekanzlers Friedrich Payer warnte Delbrück 1924, dass „die Wahrheit [über 1918, d. Verf.] bereits in höchst gefährlicher Weise überwuchert“ worden sei von der apologetischen Memoirenliteratur der rechten Kreise um Erich Ludendorff. „[W]er nach der letzten Ursache unseres heutigen Elends sucht“, werde stets zur Kriegsschuldfrage gelangen und zur Kriegsverlängerungsfrage.29 Die Kriegsverlängerungsfrage war für Delbrück der Vorläufer der Dolchstoßlegende: Diejenigen, die durch ihre annexionistische Kriegszielpolitik jede Aussicht auf einen durchaus möglichen, frühzeitigen Verständigungsfrieden zunichte gemacht hätten, verschleierten ihre Verantwortung mit der nachträglichen Konstruktion der Dolchstoßlegende, mit der denjenigen die Schuld an der Niederlage zugeschoben wurde, die im Krieg gegen das Annexionsprogramm gekämpft hatten. Insofern haben zentrale Konfliktlinien gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit ihren Ursprung bereits im Ersten Weltkrieg. Tie 27 WUA IV,6, S. 76. Der 1. Vorsitzende des Obersten Soldatenrats der Ostseestation schrieb 1927 an Delbrück, „daß die Bewegung in erster Linie nur das Ziel hatte, so schnell wie möglich einen Frieden herbeizuführen.“ (Karl Artelt an Hans Delbrück am 17. Januar 1927, Abschrift in: SBB, NL Delbrück, Fasz. 108.5). Eich schreibt hingegen von einer „Legende vom beabsichtigten Opfergang der Kaiserlichen Marine und [dem] Zerrbild des verantwortungslosen Offiziers, der Untergebene in den sicheren Tod schicken wollte“ (wie Anmerkung 21). 28 Vgl. Lüdtke (2018): Hans Delbrück und Weimar, S. 353–355. 29 Payers Memoiren würdigte Delbrück als wohltuende Korrektur der ausufernden Konjunktur verzerrender Erinnerungsschriften (Hans Delbrück: „Payers Kriegserinnerungen“, in: Frankfurter Zeitung, 68. Jahrgang, Nr. 14 vom 6. Januar 1924, in: BArch, N 1017/2).
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fergehende Analysen zu den Auseinandersetzungen im Krieg können folglich Aufschlüsse für die politische Kultur der Weimarer Republik liefern. Delbrück stellte sich innenpolitisch sofort auf den Boden der neuen Verhältnisse. Er kritisierte das Ausbleiben innenpolitischer Reformen zur Integration der Arbeiterschaft. Und er wandte sich gegen die fatale Kriegsführung, die den Primat der Politik ausgehebelt hatte. Die Novemberrevolution sah er als Monarchist zwar als bedauerlich an. Er wies ihr jedoch keine bedeutende Rolle zu im Hinblick auf die Niederlage des Heeres. Auch aufgrund seiner militärhistorischen Expertise wurde Delbrück zu einem der wichtigsten Kämpfer gegen diese Deutung des Zusammenbruchs. Er führte dabei seinen Kampf gegen die Dolchstoßlegende so energisch, eben weil er so sehr an dem alten Reich hing und die Schuldigen für den Niedergang in die Pflicht nehmen wollte. Denn er war seit September 1914 davon überzeugt, dass Deutschland zu wenig für einen Verständigungsfrieden getan hatte. Erich Ludendorff und seinesgleichen hätten einen durchaus möglichen frühzeitigen Verständigungsfrieden sabotiert. Und weil Ludendorff anders als sein (formaler) Vorgesetzter in der OHL, Hindenburg, sehr schnell nach der Niederlage versuchte, gestaltend in den neuen Staat einzugreifen und an seine Politik aus der Kriegszeit anzuknüpfen, zog er sich die volle Aufmerksamkeit von Hans Delbrück zu. Dieser legte fortan alles in seiner Macht stehende darauf aus, Ludendorff in der Weimarer Republik politisch unschädlich zu machen. Seine Motivation wird deutlich in einem Brief an den vormaligen Kronprinzen: „Es ist die schmerzlichste Empfindung die es gibt sich hinterher klar machen zu müssen, wie leicht und wie nahe die Rettung gewesen wäre, und dass sie nur an der Ueberhebung [sic] und dem Starrsinn eines Menschen gescheitert ist.“30 Als Erklärung diente Delbrück der für die Position eines Feldherrn ungenügende Charakter Ludendorffs.31 Deshalb habe er zum Beispiel die Frühjahrsoffensive 1918 falsch angesetzt. Der dabei zunächst errungene taktische „Sieg blieb nutzlos, weil der General Ludendorff in dem Bewußtsein, daß er für einen strategischen Sieg zu schwach sei, ihn bloß taktisch angelegt hatte und doch sich zu dem Kriegsziel, für das der taktische Sieg ausgereicht hätte, nicht zu bekennen wünschte. Er hat das Vaterland seinem Ehrgeiz geopfert.“32 Im Ergebnis ist es in hohem Maße Delbrück zu verdanken, dass Ludendorff ab 1922 in der breiten Öffentlichkeit keine politisch ernstzunehmende Persönlichkeit mehr war.
30 Hans Delbrück an Kronprinz Wilhelm am 19. November 1923, Briefkonzept in: BArch, N 1017/57. 31 „Ludendorffs Wesen und Handeln ist darauf zurückzuführen, daß sich in ihm ein starker Wille verband mit mäßiger Intelligenz und noch geringerer Bildung.“ (Hans Delbrück: „LudendorffKritik“, in: Berliner Tageblatt, 51. Jahrgang, Nr. 157 vom 2. April 1922, in: BArch, N 1017/2). 32 Hans Delbrück: „Ludendorffs ,doppeltes Gesichtʻ“, in: Berliner Tageblatt vom 28. Oktober 1922, in: SBB, NL Delbrück, Fasz. 121.2.
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5. PLÄDOYER FÜR EINEN ENTKRAMPFTEN UMGANG MIT DEM KAISERREICH Delbrücks Kampf gegen die Dolchstoßlegende ist ein wesentlicher Aspekt dafür, weshalb sein Wirken gerade wegen seiner konservativen Grundlage eine vielversprechende Alternative für Weimar darstellte: Weil er diese von einem anderen Weltanschauungspunkt als die Sozialdemokraten bekämpfte, nämlich von konservativer Seite aus, war er für die radikale Rechte so gefährlich. Hans Delbrück war durch sein Engagement für die Republik nicht automatisch ein Republikaner. Das war auch nicht zwingend. Franz Schnabel oder Walter Goetz, Historiker wie Delbrück, aber liberal-republikanisch gesinnt, waren in der Minderheit. Aber gerade weil Hans Delbrück vom konservativen Staatsverständnis her kam, konnte er für die Mehrheit der Bevölkerung, die zunehmend im Mitte-Rechts Spektrum stand, chancenreiche Anknüpfungspunkte liefern und sie an den Weimarer Staat heranführen. Insofern ist die Frage, wer in der Weimarer Republik Demokrat gewesen war und als solcher eine Stütze dargestellt hat (prominent formuliert in der unrichtigen These, Weimar sei eine Demokratie ohne – oder doch mit zu wenigen – Demokraten gewesen), zu eng geführt. Sie impliziert, dass alle, die nicht Demokraten im Geiste der Verfassung gewesen sind, als Gegner der Republik einzuordnen wären. Ein Blick auf Delbrück beweist das Gegenteil, sodass dieser Zuschnitt künftig weiter ausdifferenziert werden muss. Denn: Bot ein Hans Delbrück weniger Chancen für das Gelingen der Weimarer Republik als ein Franz Schnabel? Schnabel steht unseren heutigen Vorstellungen sicher wesentlich näher und hat unzweifelhaft durch seine klaren Stellungnahmen gegen Feinde der Weimarer Demokratie viel geleistet. Sein Denken war in der Zeit jedoch nicht mehrheitsfähig. Delbrücks zielte zwar nicht auf die liberale, westliche Demokratie, bot aber Kompromisse an, die konservative Skeptiker integrieren konnten.
Eine elementare Bedeutung hatte für Delbrück das Bestreben, einen modernen Staat wie den von Weimar auf eine breite gesellschaftliche Grundlage und Zustimmung zu stellen. Das bedeutete die Überwindung der Klassengesellschaft der wilhelminischen Ära. In einem Wahlaufruf für die linksliberale DDP zur Reichstagswahl von Dezember 1924 mahnte Delbrück, es könne „keine verderblichere Parole geben als den Schlachtruf: Bürgerblock gegen Arbeiterschaft.“ Die Vertretung von Klassen und deren Gegensätze durch Parteien sei zwar ein natürlicher Vorgang, dieser Kampf aber darf nicht zum alleinherrschenden Motiv werden, und es ist für das Gedeihen des Staates von der höchsten Wichtigkeit, daß auch Gruppen und Persönlichkeiten zu Worte gelangen, die zwischen den Gegensätzen vermitteln, die wildesten Ausbrüche der Leidenschaft verhindern und für die großen Staatszwecke möglichst alle Volkskräfte zusammenfassen.
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Diese Rolle würde aktuell nur die DDP einnehmen und müsse daher zum gesamtgesellschaftlichen Wohl gestärkt aus den Wahlen hervorgehen.33 In der Tat sind diese Bestrebungen Delbrücks von großer Bedeutung für die Weimarer Republik gewesen: Die Überwindung der Klassengegensätze zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum war eine Grundvoraussetzung für die friedliche Entwicklung, „die Lebensgrundlage“ der Republik.34 Delbrück und viele andere wie etwa Friedrich Meinecke führten die gemäßigten Bürgerlichen an diese neue Mitte mit so viel Energie heran wie Friedrich Ebert und viele weitere in der Sozialdemokratie für eine Überwindung des Klassenkampfes gegen das Bürgertum warben. Die Sehnsucht der Deutschen nach dem alten Reich zeigte sich sehr deutlich 1925 bei der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten: Dieser siegte im zweiten Wahlgang knapp gegen Wilhelm Marx, einen Vertreter der Weimarer Koalition. Ein Schlüssel zum Erfolg des Generalfeldmarschalls lag in seinem auch von ihm selbst geschickt aufgebauten Mythos.35 Obwohl er als (formaler) Oberbefehlshaber der deutschen Armee seit 1916 maßgeblich für die militärische Niederlage und auch für den politischen Bankrott des Hohenzollernreichs verantwortlich zeichnete, wurde er nur wenige Jahre später von der Mehrheit der Bevölkerung als positive Lichtgestalt gesehen, da er offenbar etwas verkörperte, was viele Menschen vermissten. Hindenburg avancierte zum Objekt einer romantischen Sehnsucht nach der vermeintlich guten alten Zeit des Kaiserreichs. Dieser sehr wirkmächtige Hindenburgmythos stand also im Gegensatz zur Weimarer Republik, weil die Republik nur unzureichend eine integrative Wirkung ausstrahlte. Insofern führt die Analyse des Hindenburgmythos zu einer Aufklärung darüber, was dem Weimarer Staat für eine breite Fundierung fehlte: eine Versöhnung mit dem untergegangenen Hohenzollernreich. Hans Delbrück und andere hatten vor der Wahl Hindenburgs gewarnt und sie durch einen Kompromisskandidaten zu verhindern versucht.36 Delbrücks vornehmliches Ziel war dabei, die offensichtliche Spaltung in Befürworter und Gegner der Staatsform zu vermeiden. Gleichwohl betonte er nach der Wahl, dass mit Hindenburg als Reichspräsident die Chance zu einer konservativen Ausrichtung der Republik bestünde. Denn nun könne der sinnstiftende Hindenburgmythos in den Dienst des Weimarer Staates gestellt und dieser damit stabilisiert werden. Ähnliche Mechanismen werden mit Blick auf den Mythos der Reichsgründung von 1871 deutlich. Dieser wurde „zur Waffe gegen die Republik von Weimar“,37 weil in ihm eine klare Trennungsfolie erkennbar war zwischen den beiden Staats 33 Hans Delbrück: „Für die Demokratie“, in: Frankfurter Zeitung vom 4. November 1924, in: SBB, NL Delbrück, Fasz. 88e. Auch nach dem Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch 1920 mahnte Delbrück, es brauche „Einsicht und guten Willen auf beiden Seiten“, also im Offizierkorps und in der Arbeiterschaft, um den jungen Staat zum Wohle alle Bevölkerungsteile aufzubauen (Hans Delbrück: „Die Republik und das Offizierkorps“, in: Berliner Tageblatt, 49. Jg., Nr. 222 vom 13. Mai 1920, in: ebenda). 34 Vgl. Winkler (1993): Weimar, S. 277. 35 Vgl. Pyta (2007): Hindenburg. 36 Vgl. Lüdtke (2018): Hans Delbrück und Weimar, S. 151–157. 37 Gerwarth (2004): Republik und Reichsgründung, S. 117.
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formen – die alte, die das Reich ruhmvoll begründete, und die neue, die im Schatten einer verheerenden Niederlage entstand. Auch im Flaggenstreit vertrat Delbrück eine konservative Alternative. Er warnte davor, mit den neuen Farben symbolisch die Brücken zur jüngsten Vergangenheit abzureißen. Eine identitätsstiftende Wirkung könnten sie nicht entfalten, da sie als Gegensatz zu den alten konstruiert worden seien, die Herzen der Mehrheit der Deutschen aber weiterhin an SchwarzWeiß-Rot hingen. So würde Schwarz-Rot-Gold zu einem antirepublikanischen Affekt führen und die alte Fahne als wirkmächtiges Symbol den Gegnern des neuen Staates unverdient in die Hände fallen. Im Vergleich dazu als positives Beispiel benannte er die Entscheidung der Nationalversammlung, den Begriff „Deutsches Reich“ beibehalten zu haben: Es handelte sich nur um das Wort, aber auch Worte wie Symbole sind von der höchsten Bedeutung. Was uns auch immer an Werten zertrümmert worden ist, das Deutsche Reich ist uns geblieben. In allen wechselnden Verfassungsformen, aufgelöst und wiedererrichtet, ist es dasselbe tausendjährige Deutsche Reich, das einst von Heinrich I. und Otto dem Großen begründet, in dessen Rahmen das deutsche Volkstum erwachsen und der Begriff des deutschen Vaterlandes geschaffen worden ist. An diesem deutschen Reich als unserem Vaterlande halten wir fest! Für dessen Zukunft leben und arbeiten wir. Das Deutsche Reich ist das Wort, in dem wir alle einig sind.38
Mit dieser Argumentation wollte Delbrück vor allem auch den „nationalen Fanatisten“ verwehren, diese Symbole für sich zu vereinnahmen. Delbrück mahnte, die Republik sei „nicht stark genug“, um nur auf überzeugten Demokraten aufzubauen. Daher sei es erforderlich, auch diejenigen einzubinden, die innerlich weiterhin am Kaiserreich hingen, sich aber als Vernunftrepublikaner zu einer Mitarbeit in der neuen Staatsform bereit erklärten. „Man sollte sich doch sehr hüten, diese Kreise zu verärgern, indem man sie geistig vergewaltigt.“39 Die alten, nationalen Symbole hatten folglich eine enorme Wirkungskraft für die politische Kultur der 20er Jahre. Eine auf selbstbewusster Grundlage stehende Einbindung und Nutzbarmachung dieser Symbole, wie es Delbrück an verschiedenen Stellen vorschlug, hätte zu einer Stabilisierung der Republik beitragen können. Denn die Strömungen aus dem untergegangenen Hohenzollernreich waren zu stark, um sie zu ignorieren oder tilgen zu wollen. Eine begrenzte Übernahme konservativer Gedanken und Politik des alten Reichs hätte für Weimar nichts Radikales oder Republikfeindliches gehabt. Diese Aufladung erfuhren die alten Symbole erst durch ihre scharfe Ausgrenzung. Eine Stabilisierung der Weimarer Republik gegen Rechts wäre gelungen, weil sie mit Teilen des (gemäßigt) rechten Spektrums erfolgt wäre. Wie sehr Delbrück bei aller Indienstnahme des alten Reichs für das neue ehrlich von dem alten überzeugt blieb, illustriert die Tatsache, dass er Wilhelm II. weiterhin in Schutz nahm und sich für eine ausgewogene Bewertung seiner Persönlichkeit 38 Hans Delbrück: „Danksagung“, in: Wille und Weg (1928), Heft 17, S. 387, Sonderdruck in: SBB, NL Delbrück, Fasz. 11.2. 39 Hans Delbrück: „Glaubenszwang“, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 66. Jg., Nr. 287 vom 23. Juni 1927, in: SBB, NL Delbrück, Fasz. 88a.
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einsetzte.40 Das ist insofern bemerkenswert, als gerade die rechten Scharfmacher unter den früheren Funktionsträgern häufig genug dem ehemaligen Kaiser maßgebliches Versagen vorwarfen, nur um damit von ihrer eigenen Verantwortung abzulenken. Für diese Kreise war Wilhelm II. ein willkommener Sündenbock, was ihre eigene Unaufrichtigkeit belegt. Sie waren insofern keine ehrlichen Monarchisten, wie es Delbrück blieb. Die Weimarer Republik pflegte einen verkrampften Umgang mit dem Hohenzollernreich. Das ist insoweit nachvollziehbar, als es in einer mustergültigen Republik keine Huldigung eines Monarchen geben kann. Andererseits ist die Institution eines Monarchen an sich nicht zwingend antidemokratisch und Zeichen einer illiberalen Gesellschaft, wie ein Blick ins Vereinigte Königreich, nach Dänemark oder in die Niederlande heutzutage zeigt. Man hätte also durchaus der Geschichte der deutschen Fürsten mehr Spielraum geben können, ohne damit die Republik abzuwickeln. Vielleicht bestand das Problem darin, dass man versuchte, Weimar zu einer mustergültigen Republik zu machen. Die Erfolgsaussichten in so kurzer Zeit dafür standen nicht gut, denn die Deutschen waren sozialisiert in einem anderen Staat, der ihnen stets als die Krönung der Geschichte vermittelt worden war. 6. ZUSAMMENFASSUNG Zieht man zentrale Lehren aus der politischen Kultur der Weimarer Republik, sind das zumeist die fehlenden Fähigkeiten sowohl zum demokratischen Streit als auch zum daran anschließenden Kompromiss. Für beides steht Hans Delbrück: Er selbst war ein überaus streitbarer Publizist, dem es zwar nicht um die Lust am Streit ging, der aber durch seinen pointierten Stil im besten Sinne demokratischen Streit ausübte. Zugleich suchte er inhaltlich nach Kompromissen für die von Krieg, Niederlage und Revolution tief zerstrittene Gesellschaft. Damit war er ein anerkannter Intellektueller.41 Mit seinem spezifischen Programm für die zentralen Herausforderungen der deutschen Politik und Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg stellte er eine konservative, aber vielversprechende Alternative für die Weimarer Republik dar. Es ignoriert den historischen Kontext einer Gesellschaft, die in einer durch militärische Siege gefestigten konstitutionellen Monarchie sozialisiert worden war, zu erwarten, dass sie fähig sei, eine vollkommen neue und bislang entschieden abgelehnte Staatsform zu übernehmen und innerlich sofort als richtig und überlegen 40 Das bedeutete nicht, dass Delbrück Fehler des Kaisers nicht offen kritisierte. Vgl. Lüdtke (2018): Hans Delbrück und Weimar, S. 45–47. 41 „Seine Haltung hat in der Verbindung von nüchterner Realistik und tatbereiter Resignation damals vielen geholfen, mit den bösen Dingen fertig zu werden. Denn er lebte ihnen, bis zum raschen Sterben im Sommer 1929, das Beispiel der inneren Freiheit vor.“ (Heuss (1951): Delbrück, S. 461). Das galt auch international, wie ein Brief aus South Carolina zeigt: „Your courage and optimism under the trying circumstances is most admirable and is always an inspiration to me.“ (Mac Elwee an Delbrück am 31. März 1924, in: SBB, NL Delbrück, Briefe Mac Elwee, Bl. 17).
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aufzunehmen. Demokraten nach dem Geist der Weimarer Reichsverfassung befanden sich zu kaum einem Zeitpunkt in der Mehrheit; das Bürgertum verharrte vielfach in Ambivalenz. Eine dezidiert republikanische Politik war – vor allem unter dem Eindruck außenpolitischer und ökonomischer Krisen – nicht mehrheitsfähig, wie Alexander Gallus konstatiert: So oder so traf die Revolution, wie sie tatsächlich stattgefunden hatte, auf wenig Akzeptanz – ob von rechts oder von links. Die rechte Kritik war zutiefst antidemokratisch und zielte auf die vollkommene Zerstörung des Novemberwerks durch eine anders geartete Revolution. Die linke Kritik dagegen begrüßte grundsätzlich einen Neuanfang, drang aber zugleich auf Weiterführung und Vollenden.42
Damit verglichen, stellten sich gemäßigt konservative Vorschläge wie die von Hans Delbrück als chancenreich dar. Sicher war er kein liberaler Demokrat, und sein Appell für die Einigkeit des Volks für den außenpolitischen Kampf gegen die Kriegsschuldlüge sowie seine Ablehnung dezidiert republikanischer Symbole und Verfahren zeigen auch, dass er den Geist des neuen Staates im Prinzip ablehnte. Aber er zielte mit seinen Vorschlägen nie auf eine Zerstörung der Republik, wie es die radikalen Milieus Links und vor allem Rechts taten. Im Gegenteil, er suchte auf der Basis seiner konservativen Anschauungen nach Wegen, das gemäßigt rechte Bürgertum zu versöhnen mit dem neuen Staat. Das äußerte sich in seinem historisch entwickelten Staats- und Nationsbegriff, den er auf die neue Zeit anwandte, seiner daraus abgeleiteten Forderung in der Kriegsschuldfrage, Deutschland zu einem gleichberechtigten internationalen Partner zu machen, und seinem innenpolitischen Kampf gegen die Dolchstoßlegende, die den Fortbestand des neuen Staates aufs Spiel setzte. Ihm ging es zuvorderst um eine Entradikalisierung und um eine dauerhafte und fundierte Friedensordnung in Europa. Er versuchte, die politischen Debatten in seiner Zeit auf die Grundlage von Fakten zu stellen. Denn von gezielt geschürten Halbwahrheiten ging nach seiner Erkenntnis für den Fortbestand Deutschlands innen- und außenpolitisch die größte Gefahr aus. Er suchte danach, der Gesellschaft auf einer emotionalen Ebene eine positive Identifikation mit dem neuen Staat jenseits einer nüchternen Bejahung der Verfassung zu ermöglichen, um der Reminiszenz an die Größe des untergegangenen Hohenzollernreichs etwas entgegenzusetzen. „Vernunftrepublikaner“43 wie Hans Delbrück waren wichtig für die Festigung der Republik, wie auch sein Appell zur Zusammenarbeit aller Schichten belegt. Und letztlich entsprang dieser Haltung auch sein Plädoyer für einen sensiblen Umgang mit Symbolen. Geleitet wurde er dabei von einem kaum erschütterbaren Optimismus. Bereits Ende November 1918, voll Trauer über den vollständigen Zusammenbruch, schrieb er: „wir dürfen nicht verzweifeln“.44 Damit ist Hans Delbrück eine konservative Alternative für Weimar. 42 Alexander Gallus: „Eine mehrfach überschriebene Zäsur“, in: FAZ, Nr. 263 vom 12. November 2018, S. 6. 43 Vgl. zur Debatte über den Begriff „Vernunftrepublikaner“ Wirsching / Eder (2008): Vernunftrepublikanismus. 44 Hans Delbrück: „Danksagung“, in: PJb 174 (1918), S. 442–445, Zitat S. 445.
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Die Ideen, die er als Intellektueller der gemäßigten Rechten präsentierte, waren vielversprechend, auch und gerade, weil sie nicht von einem überzeugten Republikaner formuliert wurden. QUELLEN Bundesarchiv Koblenz: N 1017 Nachlass Hans Delbrück. Delbrück, Hans: Vor und nach dem Weltkrieg. Politische und historische Aufsätze 1902–1925, Berlin 1926. Goetz, Walter: Hans Delbrück (1848–1929) zum 80. Geburtstag. In: Ders.: Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze. (hrsg. v. Herbert Grundmann), Köln / Graz 1957, S. 316f. Heuss, Theodor: Hans Delbrück, in: Ders.: Deutsche Gestalten. Studien zum 19. Jahrhundert, 8. Aufl., Tübingen 1965, zuerst 1951. Ders.: Erinnerungen 1905–1933, Tübingen 1963. Preußische Jahrbücher. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz: Nachlass Hans Delbrück. Das Werk des Untersuchungsausschusses der Deutschen Verfassungsgebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919–1926 [WUA]. Vierte Reihe: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918, Bd. 6: Gutachten der Sachverständigen von Kuhl, Schwertfeger, Delbrück, Katzenstein, Herz, Volkmann zur „Dolchstoß“-Frage. (hrsg. v. Albrecht Philipp), Berlin 1928.
LITERATUR Bucholz, Arden: Hans Delbrück & the German Military Establishment: War Images in Conflict, Iowa City 1985. Deist, Wilhelm: Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs. Zur Realität der „Dolchstoßlegende“. In: Ders.: Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991, S. 211–233. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Gerwarth, Robert: Republik und Reichsgründung. Bismarcks kleindeutsche Lösung im Meinungsstreit der ersten deutschen Demokratie (1918–1933). In: Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004, S. 115–133. Christ, Karl: Hans Delbrück. In: Ders.: Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, 3. Aufl., Darmstadt 1989, S. 159–200. Lange, Sven: Hans Delbrück und der „Strategiestreit“. Kriegführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse 1879–1914, Freiburg im Breisgau 1995. Lüdtke, Christian: Hans Delbrück als „Kassandra“: Die Feier seines 70. Geburtstages am 11. November 1918 als Brennpunkt der liberalen Sinnsuche im deutschen Zusammenbruch. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 28 (2016), S. 315–325. Lüdtke, Christian: Hans Delbrück und Weimar. Für eine konservative Republik – gegen Kriegsschuldlüge und Dolchstoßlegende. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 99), Göttingen 2018. Pyta, Wolfram: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007. Rahn, Werner: Die Seeschlacht vor dem Skagerrak: Verlauf und Analyse aus deutscher Perspektive. In: Epkenhans, Michael / Hillmann, Jörg / Nägler, Frank (Hrsg.): Skagerrakschlacht. Vorgeschichte – Ereignis – Verarbeitung, 2. Aufl., München 2011, S. 139–196.
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Schütz, Wolfgang: „Interview: Wie Versailles die Welt veränderte“. In: Augsburger Allgemeine vom 11. November 2018, URL: www.augsburger-allgemeine.de/kultur/Journal/InterviewWie-Versailles-die-Welt-veraenderte-id52652281.html, abgerufen am 30.12.18. Winkler, Heinrich August: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993. Wirsching, Andreas / Eder, Jürgen (Hrsg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008.
REPUBLIKANISCHE KULTUR UND PUBLIZISTIK
EIN HOCHSTAPLER ALS „SPION“ DER WEIMARER REPUBLIK Der Fall Harry Domela Sebastian Rojek Die Forschungsdebatte über die Erfolgschancen der Weimarer Republik pendelt seit Jahrzehnten grob gesehen zwischen zwei Positionen: Entweder wird das Scheitern der Republik bereits den Belastungsfaktoren zu Beginn der jungen Demokratie angelastet oder aber einem Krisenbündel gegen Ende der Republik, in dem insbesondere die Weltwirtschaftskrise eine gewichtige Rolle spiele. Auch Kombinationen beider Argumente mit je unterschiedlichen Gewichtungen sind keine Seltenheit.1 In den letzten Jahren hat sich die Forschung allerdings verstärkt den Selbsteinschätzungen der Zeitgenossen zugewandt. Anstatt ‚objektive‘ Krisenphänomene oder Belastungsfaktoren ‚von außen‘ zu beschreiben, werden nun die Krisensemantik und Zukunftsvorstellungen der Weimarer Zeitgenossen selbst als zusätzliche Faktoren in den Blick genommen.2 Auf dieser Linie bewegt sich auch der vorliegende Beitrag. Anhand eines Fallbeispiels wird – in aller Kürze – analysiert, wie die Medienöffentlichkeit Mitte der 1920er Jahre – also in der Zeit, die in großen Teilen der Forschung als eine „Phase der relativen Stabilisierung“3 der Republik gilt – über das Ausmaß der Demokratisierung ihrer Gesellschaft verhandelten. Denn schon den Zeitgenossen war klar, dass die Demokratie nicht allein formal durch eine Verfassungsänderung zur Realität wurde, sondern demokratischer Persönlichkeiten bedurfte, die sich in unterstützender Weise zur Republik und ihren Verfahren verhielten. Zunächst seien die Abläufe des zeitgenössisch breit debattierten, aber heute kaum noch bekannten Falls dargestellt: der Fall des Harry Domela (1904/05– 1979).4 Um die Jahreswende 1926/27 erfuhr die Öffentlichkeit, dass ein Hochstap 1
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Vgl. die Forschungsüberblicke bei Kolb / Schumann (2013): Republik, S. 160–162, S. 172– 178, S. 255–278; Büttner (2018): Ausgeforscht; Maubach (2018): Weimar, plädiert überzeugend dafür, beide Positionen zusammenzudenken und Weimar insgesamt als eine herausgeforderte Demokratie zu verstehen. Vgl. insbesondere Föllmer / Graf (2005): Die „Krise“; Graf (2008): Zukunft; als Überblick Thonfeld (2016): Krisenjahre, bes. S. 391–403, S. 419–420. Vgl. Kolb / Schumann (2013): Republik, S. 57–111. Vgl. zum Folgenden die Darstellungen bei Reese (1930): Hochstapler, S. 159–190 (populär u. ohne Quellenangaben); Frank Arnau (1964): Talente, S. 255–317 (ohne Quellenangaben und teilweise mit Faktenfehlern); knapp: Claßen (1988): Darstellung, S. 128–139; Porombka
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ler in Mitteldeutschland sein Unwesen getrieben hatte. Es handelte sich um den Deutsch-Balten Harry Domela, der 1904 oder 1905 in Livland geboren worden war. Die Wirren des Ersten Weltkriegs hatten ihn von seinen Eltern getrennt und er wuchs zeitweise in einem Waisenhaus auf. 1917 schloss er sich dem „Freikorps Brandis“ an, um gegen die Bolschewisten zu kämpfen. Schließlich verschlug es ihn – staatsrechtlich als Ausländer – nach Deutschland, wo er sich auf Seiten der Reichsregierung an der Niederschlagung des Ruhraufstandes beteiligte. Nach seiner Entlassung aus dem Militär führte er ein unstetes Vagabundenleben und finanzierte seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeiten oder kleinere Diebstähle. Zwischendurch war er immer wieder obdachlos, nicht zuletzt da (deutschstämmige aber staatenlose) Zuwanderer wie er, nach dem Ersten Weltkrieg als ökonomische Belastung galten und kaum eine Anstellung finden konnten.5 Mitte der 1920er Jahre begann Domela damit, sich als Prinz verschiedener Adelshäuser auszugeben, schließlich sogar als Prinz Wilhelm von Preußen, den ältesten Sohn des ehemaligen Hohenzollernkronprinzen, und damit als Enkel des Exil-Kaisers Wilhelm II. Eine Rolle, die er für einige Wochen mit Erfolg spielte. Doch als ihm die Aufdeckung drohte, floh er ins Rheinland, wo er sich zur Fremdenlegion melden wollte. Bevor er diesen Plan in die Tat umsetzen konnte, nahm ihn die Polizei Anfang Januar 1927 fest und inhaftierte ihn in Köln. Der Fall avancierte bald zu einem großen Medienskandal. Versteht man unter einem Skandal einen veröffentlichten Normbruch, so wird deutlich, dass für die Demokraten die Normüberschreitung darin bestand, dass die von Domela hereingelegten Akteure eben nicht als demokratische Persönlichkeiten gehandelt hatten.6 Stattdessen waren sie dem angeblichen Prinzen mit Ehrfurcht begegnet und hatten offen ihre Sehnsucht nach einer Hohenzollernherrschaft formuliert. 1. INTERPRETATIVE ANEIGNUNG DES „FALSCHEN PRINZEN“ IN DER PRESSE Insbesondere zwei Episoden waren es, die das Interesse der Journalisten weckten: Zum einen hatte Domela als angeblich baltischer Prinz Lieven eine gewisse Zeit bei dem adeligen Studentenkorps der Saxo-Borussen in Heidelberg zugebracht, zum anderen hatte er unter dem Namen Baron von Korff in Weimar und Gotha in
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(2001): Felix Krulls Erben, S. 67–73; ders. (2000), Pseudologia; wenig ergiebig: Sprecher (2011): Literatur, S. 411–416; Kollmann (2018): Federn, S. 34–37, S. 94; gründlichste Untersuchung bislang Jens Kirsten (2010): Prinz. Eine Analyse der öffentlichen Debatten um Domela fehlt bislang. Im vorliegenden Beitrag können lediglich Schneisen geschlagen werden. Eine umfassendere Untersuchung zum Phänomen des Hochstaplers bereitet der Verfasser vor. Vgl. Oltmer (2007): Deutsche ‚Rückwanderer‘, S. 506–508; ders. (2016): ‚Schutz, bes. S. 505– 517, S. 531–532. Erst gegen Ende der 1920er Jahre setzten Bemühungen ein, ‚deutschstämmige‘ Ausländer als Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft zu gewinnen, vgl. ebd., S. 524– 531, S. 533. Vgl. zum Normbruch als wesentliches Kennzeichen von Skandalen Bösch (2004): Skandalforschung; ders. (2009): Geheimnisse, S. 8–10.
Ein Hochstapler als „Spion“ der Weimarer Republik: Der Fall Harry Domela
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dem Luxushotel „Erfurter Hof“ logiert und war von der ansässigen Gesellschaft aus Adel und Honoratioren hofiert worden. Dabei hatte Domela seine Rolle geschickt gespielt, indem er seiner sozialen Umwelt nahegelegt hatte, dass der „Baron von Korff“ lediglich ein Inkognito7 sei, hinter dem sich in Wahrheit der Prinz Wilhelm von Preußen verberge, so dass er bald als Hohenzoller behandelt wurde. Gerade die Tatsache, dass die lokale Gesellschaft – vom Hoteldirektor bis zum Oberbürgermeister und Reichswehroffizieren – dem falschen Prinzen den roten Teppich ausgerollt hatte, wies eine eminent politische Dimension auf. Denn schon die erste Jahreshälfte 1926 war von öffentlichen Debatten um den letztlich gescheiterten Volksentscheid zur „Fürstenenteignung“ mithin dem Verhältnis von (altem) Adel und Republik gekennzeichnet gewesen.8 An diese Themen konnte die journalistische Rezeption des Falles Domela nahtlos anknüpfen. Das gesamte Jahr 1927 über erschienen nun Medienberichte, die den im Sommer in Köln stattfindenden Gerichtsprozess gegen Domela und seine im selben Jahr erschienene Autobiographie kommentierten. Ende des Jahres erschien noch ein Stummfilm über die Geschehnisse, in dem der Deutsch-Balte selbst die Hauptrolle spielte. Bei der Analyse der Medienberichterstattung fällt auf, dass die Geschichte Domelas insbesondere für die linksliberale, sozialdemokratische und kommunistische Presse nutzbar war. Die konservative bis rechtsradikale Presse scheint den Fall weitgehend ignoriert und totgeschwiegen zu haben, was die linksdemokratischen Publikationen auch immer wieder kritisierten.9 Der Fall war also anschlussfähig für das politische Spektrum von den die Republik tragenden Kräften bis zur äußersten Linken. Worin lag dieses Potential? Beobachtet man die entsprechenden Artikel und Kommentare, so fällt auf, dass sich bestimmte Argumenttypen stets wiederholen. Für die Republikaner bot der Fall die Möglichkeit, ihn als Indikator für den „Geist der Republik“, so der Publizist Georg Bernhard in der Vossischen Zeitung, zu verwenden.10 Bernhard erkannte schon im Januar 1927: „Der Hochstapler Domela hat der Republik einen Dienst erwiesen.“11 Da die Deutschnationalen den Fall totschwiegen, sollten sich insbesondere „die Republikaner um den Fall kümmern“,12 der belege, dass immer noch allzu viele angebliche Demokraten bereit seien, sich vor einem Adeligen in den Staub zu werfen, von lokalen Honoratioren 7 8
Vgl. zur langen (Zeremonial-)Geschichte des Inkognito Barth (2013): Inkognito. Vgl. Lüdtke (2018): Delbrück, S. 157–171; Kluck (1996): Protestantismus, S. 27–240, S. 301– 302; Jung (1989): Demokratie, S 49–65; Ulrich Schüren (1978): Volksentscheid; Pleyer (1960): Werbung; Generell zum öffentlichen Streit um die Staatsform und die Ausgestaltung der Republik im Verhältnis zur Monarchie Eitz (2015): Republik, bes. S. 131–142, der verdeutlicht, dass die jeweiligen politischen Gruppen an ihren Begriffen festhielten und die Republikaner „allmählich in die Defensive gerieten“ (S. 142). 9 Vgl. exemplarisch Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung 56. Jg., Nr. 15 (10.01.1927, AbendAusgabe), S. 1–2; Vossische Zeitung Nr. 20 (13.01.1927, Morgen-Ausgabe), S. 3. Vgl. zur parteipolitischen Fraktionierung der deutschen Presselandschaft und den Folgen für Skandalisierungspotentiale: Daniel (2018): Politische Sprache, bes. S. 58–63. 10 Vossische Zeitung Nr. 14 (09.01.1927 Sonntagsausgabe), S. 1–2. 11 Ebd. 12 Ebd.
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bis hin zur Reichswehr, die den falschen Prinzen angeblich empfangen habe. In dasselbe Horn blies das Berliner Tageblatt: „Hohe Beamte der Republik und Offiziere der Reichswehr und Schutzpolizei haben, unter Mißachtung ihres Eides, einen geradezu lächerlichen und beschämenden Byzantinismus an den Tag gelegt und sich von einem grünen Jungen in beispielloser Weise an der Nase herumführen lassen.“13 Die Sozialdemokraten knüpften ebenfalls an diese Erzählung an, konnten sie damit doch ein Narrativ bedienen, dass ihre politische Medienstrategie bereits im Kaiserreich ausgezeichnet hatte. Schon damals hatten die Sozialdemokraten sich bemüht, skandalträchtige Geschichten aufzunehmen, die entweder den Untertanengeist geißelten oder die moralische Verkommenheit der Eliten anprangerten. Insbesondere seit den 1890er Jahren publizierten sie in ihren Zeitungen ‚Geheimberichte‘ aus der Welt der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Herrschaftsschichten, die diese als moralisch korrumpiert skandalisierten und ihnen somit die Herrschaftslegitimation entziehen sollten.14 In der Weimarer Republik, als die SPD selbst in die Sphäre politischer Herrschaft eintrat, kehrte sich diese Sensationsberichterstattung allerdings mit voller Wucht gegen sie. Nun waren es die Republikgegner, die versuchten, die Demokratie durch sensationelle Berichte, insbesondere über die angebliche Korruption der sozialdemokratischen Minister, zu delegitimieren.15 Der Fall des falschen Hohenzollern bot nun den Sozialdemokraten die Möglichkeit, selbst wieder in die Offensive zu gehen, ihre Medienstrategie zu revitalisieren und auf die Gefahren hinzuweisen, die der Republik aus dem angeblich durch Domela aufgedeckten „militärischen Kadavergehorsam“ und dem „residenzlichen Lakaientum“ erwuchsen.16 Dabei dienten immer wieder zwei ‚Fälle‘ als Vergleichsfolie: Der reale, sogenannte Hauptmann von Köpenick17 und Heinrich Manns Romanfigur Diederich Heßling.18 Im erstgenannten Fall war es dem arbeitslosen Schustergesellen Wilhelm Voigt im Oktober 1906 gelungen, mithilfe einer alten Uniform einige Stadtsoldaten unter seine Befehlsgewalt zu bekommen und sich anschließend der Köpenicker Stadtkasse zu bemächtigen. Dieses Ereignis hatte sich für die oppositionelle Presse schon zeitgenössisch als ideale Illustration geeignet, um die bereits länger 13 Berliner Tageblatt u. Handels-Zeitung 56. Jg. Nr. 14 (09.01.1927 Morgen-Ausgabe), S. 3. Der Begriff ‚Byzantinismus‘ wies zeitgenössisch ein breites Bedeutungsspektrum auf, zielte aber schon seit dem Kaiserreich immer auf negative Erscheinungen im Verhältnis zwischen Adel und Volk. Vgl. Kohlrausch (2005), S. 166–167, S. 180–181, S. 261, S. 348. 14 Vgl. Hall (1977): Scandal, bes. S. 11, S. 143–187, S. 192–194; Bösch (2004): Skandalforschung, S. 445–446; ders. (2009): Geheimnisse, S. 209; Domeier (2010): Eulenburg-Skandal, S. 53–57, S. 180, S. 196, S. 281–299. 15 Vgl. Bösch (2014): Skandale, S. 9–10; Geyer (2018): Kapitalismus, bes. S. 454; Klein (2014): Korruption, S. 489–491. 16 Vorwärts 44. Jg., Nr. 324 (12.07.1927, Morgenausgabe), S. 1–2, hier S. 1 (Hervorhebung i. O.). 17 Vgl. hierzu Müller (2002): Journalismus; ders. (2005): Suche, S. 175–180, S. 196–205, S. 325– 335. 18 Vgl. Mann (1914 / 1918): Untertan.
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existierende Kritik am preußisch-deutschen Militarismus und Obrigkeitsstaat scheinbar zu bestätigen.19 Kein Wunder, dass die Chronistin der wilhelminischen Hofgesellschaft, die Baronin Spitzemberg, 1906 in ihrem Tagebuch die Befürchtung äußerte, „daß allgemein die Empfindung vorherrschen werde, ein solches Ereignis sei nur möglich unter einem Regimente wie dem des Kaisers“.20 Das subversive Element in der Erzählung sicherte dem arbeitslosen Schuster hohe Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit. Seine 1909 erschienene Autobiographie verkaufte sich hervorragend.21 Postkarten und andere Artikel wurden rasch in Produktion gebracht und werden teilweise bis heute angeboten. Dabei sollte der Vorfall allerdings nicht undifferenziert als Beleg für einen realen Untertanengeist im Kaiserreich interpretiert werden. Eine solche Lesart ist vielmehr als Teil bestimmter zeitgenössischer Deutungen zu verstehen. Genauere Analysen des Militarismusphänomens kommen dementsprechend zu keinem derart eindeutigen Bild.22 Für die Republikaner im weitesten Sinne allerdings ließen sich die beiden Fälle gut auf eine Linie bringen. In ihrer Einschätzung demonstrierten die Fälle Voigt und Domela, dass es um die Demokratie nach wie vor nicht gut bestellt sei.23 Selbst der nach Ende des Ersten Weltkriegs zum Vernunftrepublikaner konvertierte Thomas Mann erklärte in einer öffentlichen Mitteilung von 1927, dass „die Figur dieses trügerischen Harry [...] diejenige des Hauptmanns von Köpenick“ hinsichtlich ihrer „bewußt satirische[n] Kraft“ bei weitem überrage.24 In der links-republikanischen bzw. zunehmend links-radikalen Weltbühne25 beschrieb Kurt Tucholsky Harry Domela, als eine Figur, die auch ein Heinrich Mann nicht besser habe erfinden können. Die Wirklichkeit sei schlimmer, als die im Untertanen-Roman geschilderten Zustände. Die gesamte Geschichte sei daher ein „einwandfreier Beweis jener 19 Vgl. Müller (2002): Journalismus, S. 44–45; zur zeitgenössischen Militarismus-Kritik generell Wette (2008): Militarismus, S. 80–99. An einer analytischen Verwendung des MilitarismusBegriffs bestehen berechtigte Zweifel vgl. hierzu die Überlegungen bei Salewski (2001): Militarismus. 20 Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg (1960), S. 466 (17.10.1906). 21 Vgl. Voigt (1909): Hauptmann. 22 Überzeugend ist die Interpretation bei Clark (2006): Preußen, S. 680–687, die den Erfolg der Erzählung völlig zu recht über die verbreitete Militarismuskritik erklärt. Seine differenzierte, mit dem innereuropäischen Vergleich argumentierende Analyse des Militarismusphänomens begeht dabei nicht den Fehler, die zeitgenössischen Kritiker einfach zu bestätigen. Vgl. auch Ziemann (1999): Symbol. 23 Vgl. exemplarisch für die Vergleichsebene Domela und Voigt: Berliner Tageblatt und HandelsZeitung 56. Jg., Nr. 15 (10.01.1927, Abend-Ausgabe), S. 1–2, hier S. 2; Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs 40. Jg., Nr. 12 (Wien, 13.01.1927), S. 7; Vorwärts 44. Jg., Nr. 324 (12.07.1927, Morgenausgabe), S. 1–3, hier S. 3. 24 Vorwärts 44. Jg., Nr. 446 (21.09.1927 Morgenausgabe), S. 2. Vgl. zu Thomas Manns Hinwendung zur Republik und seinem diesbezüglichen Engagement Hansen (2013): Betrachtungen. Vgl. allgemein zur Rolle der Vernunftrepublikaner Wirsching (2008): Vernunftrepublikanismus sowie die Beiträge in diesem wichtigen Band. 25 Vgl. zum Profil der Zeitschrift Sösemann / Holly (1989): Weltbühne. In der Weimarer Republik lag die Auflage bei ca. 16.000, ebd., S. 9–10, S. 13; Tiemann (2002): Tucholsky; Gallus (2012): Heimat, S. 51–61; ders. (2015): Weltbühne.
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These die hier seit [...] Jahren verfochten wird: In Deutschland hat sich in der herrschenden Klasse so gut wie nichts geändert.“26 Dies also in groben Zügen das Argumentationsmuster, mit denen Demokraten und politische Linke sich den Fall Domela aneigneten und ihn politisch nutzbar machten. Tatsächlich stellte ihre Version der Geschichte nahezu die einzige dar, denn die deutschnationalen Blätter zogen es vor den Fall zu ignorieren. So konnten die republiktreuen Kräfte sich – zumindest in ihren eigenen Presseorganen – unangefochten durchsetzen. Lediglich gelegentlich fand sich Kritik an den Versuchen, die Geschichte „politisch auszuwerten“.27 In solchen Kommentaren lag der Normbruch weniger im Handeln der von Domela getäuschten Personen begründet als vielmehr im unlauteren Politisierungsbestreben der Presse. Der Erfolg der republikanischen Aneignung hing auch damit zusammen, dass die Personen, die Domela hereingelegt hatte, sich gegenüber der Staatsanwaltschaft als nicht-geschädigt erklärt hatten, um einem potentiell peinlichen Auftritt vor Gericht zu entgehen.28 Berücksichtigt man die hohe Medienaufmerksamkeit, die Gerichtsprozesse in der Weimarer Republik generell fanden,29 so ist es bemerkenswert, dass die Geschädigten nicht versuchten, sich dieser Bühne zu bedienen, um zumindest Schadensbegrenzung vorzunehmen. Joseph Roth, der für die Frankfurter Zeitung, über den Prozess im Sommer 1927 berichtete, urteilte daher, andernfalls wäre bei den Aussagen sicherlich deutlich geworden, dass ein Honoratior „auch noch was anderes kann, als vor lauter Byzantinismus einem [sic] Hochstapler hereinzufallen. So aber, da nur Domela von ihnen erzählte [...], erschien von all den abwesenden Zeugen nur ihre grenzenlose Dummheit, riesengroß stand sie da und erfüllte den Gerichtssaal.“30 Das Kölner Gerichtsurteil fiel nicht zuletzt deshalb für Domela einigermaßen glimpflich aus. Denn dem Staatsanwalt blieben nur einige kleinere Betrugsdelikte zur Anklage übrig. So wurde Domela im Juli 1927 zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt und war aufgrund der Anrechnung der sechsmonatigen Untersuchungshaft schon bald nach der Urteilsverkündung wieder auf freiem Fuß.31
26 Ignaz Wrobel [d. i. Kurt Tucholsky]: Mit Rute und Peitsche durch Preußen-Deutschland (23.08.1927). In: Tucholsky [1998]: Gesamtausgabe, Zitat S. 467. 27 Persich (1928): Hochstapler, S. 19. 28 Vgl. Berliner Volks-Zeitung 75. Jg., Nr. 17 (11.01.1927, Abendausgabe), S. 2; Vossische Zeitung Nr. 16 (11.01.1927 Morgenausgabe), S. 6; Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung 56. Jg., Nr. 21 (13.01.1927, Abend-Ausgabe), S. 3; Vorwärts 44 Jg., Nr. 322 (10.07.1927 Sonntagsausgabe), S. 6. 29 Vgl. Siemens (2007): Metropole, bes. S. 61–81. 30 Vgl. Joseph Roth: Der falsche Kronprinzensohn (Frankfurter Zeitung, 12.07.1927). In: ders. (1989): Werke 2, hier S. 746. 31 Vorwärts 44. Jg., Nr. 324 (12.07.1927, Morgenausgabe), S. 1–3.
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2. DIE MEMOIREN DES HARRY DOMELA In der Zwischenzeit allerdings hatte er bereits begonnen seine Memoiren vorzubereiten. Wie war es hierzu gekommen? Domelas Kölner Rechtsanwalt Friedrich von der Heyden, der nach eigener Aussage aus einer „demokratisch-sozialistischen Familie“ stammte, und als „Strafverteidiger des kleinen Mannes und in politischen Prozessen auftrat“,32 hatte sich von seinem Klienten eine „Ermächtigungs-Erklärung“ geben lassen, um dessen Lebenserinnerungen aufzuschreiben und sie unter Abtretung sämtlicher Rechte am Text einem Verlag anzubieten.33 Ende Juni 1927 wandte sich von der Heyden an den Berliner Malik-Verlag, der politisch links stand und vornehmlich proletarisch-revolutionäre Literatur vertrieb,34 und bot diesem ein Manuskript an, das er nach den Erzählungen Domelas verfertigt habe. Verlagschef Wieland Herzfelde hatte großes Interesse und so war der Verlagsvertrag schon Anfang Juli von allen Seiten unterzeichnet. Nach seiner Haftentlassung allerdings beklagte sich der in die Hauptstadt geeilte Harry Domela bei seinem künftigen Verleger darüber, dass sich das Manuskript seines Anwalts nicht mit seinen Erzählungen decke. Fatalerweise war aber das Buch bereits angekündigt worden. Nun handelte der Verlag relativ schnell, der Anwalt des Malik-Verlags war der Ansicht, dass der Pflichtverteidiger sein Amt missbraucht habe und die Ermächtigungs-Erklärung daher ungültig sei.35 Auf Betreiben des Verlags wurde von der Heyden aus der Kölner Anwaltskammer ausgeschlossen,36 während Domela und Wieland Herzfelde persönlich den Text überarbeiteten.37 Tatsächlich, so erinnerte sich Herzfelde 1979, seien Domela und seine Erzählungen damals von „politische[r] Ignoranz“ gezeichnet gewesen.38 Erst ihm und der Verlagsmitarbeiterin und späteren Schriftstellerin Maria Osten39 (eigentlich: Gresshöner) sei es zu verdanken, in Domela „Sympathie für die Linke“ geweckt zu haben.40 Die Vermutung liegt also nahe, dass es wesentlich Wieland Herzfelde und seinen Mitarbeitern zuzuschreiben ist, das ursprünglich eher unpolitische Manuskript auf die Argumentationsmuster der Republikaner und der Linken abzustimmen, die die Presseberichterstattung seit Anfang des Jahres durchzogen. Sie sorgten dafür, dass Domela in dem Buch als eine Art Spion oder Enthüllungsjournalist der republikanischen Linken erschien. Nicht zuletzt aufgrund der durch die Medienberichte erfolgten kostenlosen Werbung wurde das Buch, als 32 Heyden (1946): Volk, S. 208. 33 Vgl. Ermächtigungs-Erklärung (04.07.1927), Faksimile abgedruckt bei: Herzfelde (1979): Nachwort, S. 315. 34 Vgl. zum Malik-Verlag Helmuth Kiesel (2017): Geschichte, S. 848–849; sowie als Selbstdarstellung und Dokumentation Der Malik-Verlag (1967). 35 Vgl. zu diesen Vorgängen Herzfelde (1979): Nachwort; Kessler (2010): Tagebuch, S. 134 (23.08.1927). 36 Von der Heyden sprach in einer Selbstdarstellung lediglich von einem „Berufswechsel“, Heyden (1946): Volk, S. 208. 37 Kessler (2010): Tagebuch, S. 132 (15.08.1927). 38 Herzfelde (1979): Nachwort, S. 312. 39 Vgl. zur Person Barck (2010): Ein ‚schwarzes Schaf‘. 40 Herzfelde (1979): Nachwort, S. 312.
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es am 3. August 1927 in den Läden stand, ein großer kommerzieller Erfolg und erlebte in rascher Folge sechs Auflagen mit 122.000 verkauften Exemplaren.41 Damit avancierte Domela kurzzeitig zu einer Berühmtheit, die insbesondere von den Anhängern der Republik verehrt wurde.42 Gegenüber seinem Bekannten Harry Graf Kessler gab Herzfelde zu, dass dieser Erfolg nicht von ungefähr komme, da er ihn „richtig vorbereitet“, ja geradezu „‚organisiert‘“ habe, indem die Geschichte sowohl für kleine Leute interessant sei, da sie aus der Welt des Adels berichte, als auch eine politische Stoßrichtung aufweise, deren „Wirkung in der Diskreditierung“ der Monarchie „voraussichtlich verheerend sein werde.“43 Den Text selbst, behauptete der Verleger gegenüber Kessler, habe er aber lediglich stilistisch überarbeitet und gekürzt. Im übrigen sei von Domela in literarischer Hinsicht zukünftig eher wenig zu erwarten, da er homosexuell und „haltlosen Charakters“ sei.44 Die Geschichte lässt sich also – ähnlich wie diejenige Wilhelm Voigts – nicht einfach als Indikator für den Stand der Republikanisierung der Gesellschaft lesen, sondern sie enthüllt vielmehr, wie ganz bestimmte Akteure sie zur politischen Instrumentalisierung nutzen, um die Monarchisten lächerlich zu machen. Dieses Potential erkannte auch Kurt Tucholsky, der gegenüber George Grosz in einem Brief offen zugab, dass er, „vor allem aus taktischen Gründen [...] ein riesiges Gebrüll in der W[elt]b[ühne] gemacht“ habe, obwohl er privat daran zweifele, dass sich alles so zugetragen habe, zumal er wisse, dass der Text von Herzfelde überarbeitet worden sei.45 Tatsächlich enthalten die unter dem Titel „Der falsche Prinz. Leben und Abenteuer von Harry Domela“46 publizierten Memoiren zahlreiche Lektürehinweise, die eine Interpretation im Sinne der Republik bzw. der politischen Linken nahelegten. Die Paratexte verhüllten dabei den Anteil, den der Verleger und seine Mitarbeiter selbst an der Genese des Buches hatten, sei dieses doch – so der Untertitel – von Domela „im Gefängnis zu Köln von ihm selbst geschrieben“ worden. Im Vorwort empfahl Herzfelde seinen Lesern das Buch als „ein Dokument der gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse [...], aus denen [es] erwachsen konnte“. Damit sollte es zu der „Erkenntnis“ führen, „daß diese Verhältnisse reif sind zur Ablösung.“47 Insbesondere die beiden Episoden, die auch in der Presse das Jahr über breit debattiert worden waren, präsentierte das Werk mit zahllosen kleinen Details: Einmal der Aufenthalt Domelas bei den Saxo-Borussen, die als dumpfe Saufbolde ge 41 Vgl. Der Malik-Verlag (1967), S. 99. In den ersten drei Wochen gingen bereits 17.000 Exemplare über die Ladentheken, vgl. Kessler (2010): Tagebuch, S. 133 (23.08.1927). 42 Vgl. die satirische Auseinandersetzung damit in Lachen Links. Das republikanische Witzblatt, 4. Jg., Nr. 5 (Berlin, 28.01.1927), S. 55. 43 Kessler (2010): Tagebuch, S. 135 (23.08.1927). 44 Ebd., S. 134. 45 Kurt Tucholsky an George Grosz (05.09.1927), in: Tucholsky (2007): Gesamtausgabe, S. 304. 46 Vgl. Domela (1927): Prinz. 47 Wieland Herzfelde: Vorwort, In: Domela (1927): Prinz, S. 5–8, hier S. 8.
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schildert werden, die sich aber einbilden etwas Besseres zu sein als die einfache Gesellschaft und außerdem zur Herrschaft berufen. Zum anderen seinen Aufenthalt in Erfurt. Damals habe der Hoteldirektor Domela gebeten, seinen Namen ins goldene Gästebuch einzutragen und zwar direkt neben Reichskanzler Wilhelm Marx, denn, so angeblich der Hoteldirektor: „[H]ier müßte sich eine der höchsten Persönlichkeiten eintragen, eine Persönlichkeit, die der hohen Stellung eines Reichskanzlers gleichkommt, ein Name, der einen noch volleren Klang hat.“48 Der Regierungschef der Republik und ein Vertreter der Hohenzollern standen also in dem Gästebuch direkt nebeneinander. An dieser Szene wird besonders augenscheinlich, inwiefern die Memoiren eine Geschichte erzählten, die an Domelas Hochstapelei den Konflikt zwischen junger Republik und alten Monarchisten und deren zweifelhafter Loyalität zur neuen Staatsform ausformulierte. Beide Episoden lassen das Attraktivitätspotenzial des Betrugs erkennen: Domela erschien einerseits als ein „Spion, der in ein gesellschaftlich höheres Lager eindringt“,49 wie Tucholsky sich ausdrückte. Andererseits bot der um die Jahrhundertwende zuerst im angloamerikanischen Raum aufgekommene New Journalism mit seinen gelegentlich unter falscher Identität recherchierenden Investigativjournalisten, den Hintergrund um Domela nicht als Kriminellen sondern als einen „geschickten Reporter“ darzustellen, der sich lediglich verkleidet habe, „um Material über die Zustände im neuen Deutschland zu beschaffen“.50 Dabei erschien das neue Deutschland durchaus noch vom alten durchdrungen. Egon Erwin Kisch sprach in diesem Zusammenhang gar von einer „monarchistischen [...] Republik“.51 Im Zuge der republikanischen Aneignung der Hochstaplergeschichte löste sich der Bezug auf seine quasi investigative Reportage mitunter weitgehend auf und der Name Domelas ließ sich auch generell verwenden, um den angeblich preußischen Untertanengeist, die moralische Verkommenheit des Adels und immer noch vorhandene monarchische Loyalitäten zu kritisieren. So verglich beispielsweise Erich Kästner in einer Rezension den Hochstapler mit dem als Darsteller Friedrichs des Großen populär gewordenen Schauspieler Otto Gebühr, dessen zahlreiche Friedrich-Filmen insbesondere bei Konservativen auf Anklang stießen.52 Gebühr – so Kästner – biete kein authentisches Bild des Preußenkönigs, sondern er lebe „wie ein Domela, von der Ähnlichkeit“ und könne daher lediglich „für einen kleinen Charlatan gehalten“ werden, der durch seine Filme dazu beitrage, dass die Untertanenmentalität sich erhalte.53 48 Domela (1927): Prinz, S. 201. 49 Ignaz Wrobel [d. i., Kurt Tucholsky]: Mit Rute und Peitsche durch Preußen-Deutschland (23.08.1927). In: Tucholsky (1998): Gesamtausgabe S. 465. 50 Vossische Zeitung Nr. 14 (09.01.1927 Sonntagsausgabe), S. 1–2. Vgl. zur Genese des investigativen Journalismus bzw. New Journalism um 1900 Bösch (2005): Populärkultur, S. 567–573; ders. (2006): Volkstribune, bes. S. 114–116; ders. (2011): Mediengeschichte, S. 114–115, S. 118; Duttenhöfer (2006): Innovationen, S. 142–149. 51 Kisch (1983): Falsche Prinzen, S. 47. 52 Vgl. Popp (2012): Friedrich, S. 285; vgl. auch Sösemann (2012): Instrumentalisierung, S. 352; Courtade / Cadars (1975): Geschichte, S. 68–70. 53 Vgl. Kästner (1928): Fritz, S. 105–106.
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Im Medium des Films trat auch Domela auf, spielte allerdings sich selbst. Sein Film ist heute verschollen, erhielt aber damals verhalten positive Kritiken, auch wenn der Vorwärts meinte, der Hauptakzent hätte stärker „auf die erbärmliche Dummheit der Speichellecker [...] gelegt werden müssen“.54 Überblickt man die politische Entwicklung sowie die Debatten um Domela, so zeigt sich, dass der Deutsch-Balte keineswegs von Beginn an ein überzeugter Demokrat oder gar Linker gewesen war. Im Gegenteil: Er hatte sich an den Einsätzen der Freikorps beteiligt und war selbst erst durch die Aneignung seines Falles seitens der Republikaner maßgeblich politisiert worden. Er verdiente mit seinem Buch und dem Film viel Geld, eröffnete damit ein Kino in Berlin,55 steckte aber aufgrund von Misswirtschaft bald wieder in finanziellen Schwierigkeiten. Soweit bekannt, bewegte er sich in einem Netzwerk linksdemokratischer Künstler und Journalisten, die ihm gelegentlich finanziell aushalfen und auch hier und da Publikationsmöglichkeiten verschafften. Im spanischen Bürgerkrieg kämpfte er an der Seite Ludwig Renns als Soldat und floh nach dem Sieg Francos ins südamerikanische Exil, wo er unter falschem Namen lebte und 1979 in Venezuela verstarb.56 Seine Geschichte allerdings führte, während er persönlich nach dem Spanischen Bürgerkrieg als verschollen galt, ein Eigenleben. Dem Deutschen Adelsblatt galt sie schon in der Weimarer Republik schlicht als Teil einer allumfassenden antimonarchischen Propaganda, die dazu diene, das Reich gegenüber seinen Feinden zu schwächen,57 während die Memoiren im Nationalsozialismus als „kommunistische Tendenzschrift“ gebrandmarkt wurden, die „zur Verhöhnung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer rührenden Treue zum angestammten Herrscherhaus der Hohenzollern“ beitrugen.58 Es mag daher nicht verwundern, dass die Reichsschrifttumskammer des „Dritten Reiches“ das Buch verbot.59 Nach 1945 knüpfte vor allem die DDR an die alten Argumentationsmuster wieder an, ließ sich doch die unterhaltsame Geschichte nutzen, um die nunmehr angeblich erfolgte Abkehr vom preußischen Untertanengeist zu inszenieren. Schon 1946 erschienen in der sowjetischen Besatzungszone Zeitungsartikel, die des zwanzigjährigen Jubiläums des Falls Domela gedachten und darauf hinwiesen, dass eine Untertanenmentalität im neuen Deutschland nun endgültig keinen Platz mehr hätte.60 Tatsächlich sorgte die DDR-Kulturpolitik dafür, dass Domela auch noch Jahrzehnte später medial in Erinnerung gehalten wurde. 1949 erschien ein Hörspiel im Berliner Rundfunk, das als „Spiegelbild deutscher Schwächen“61 fungieren 54 Vgl. Aus der Film-Welt, Beilage zu Vorwärts 44. Jg., Nr. 573 (04.12.1927 Morgenausgabe) (Zitat); Das Kino-Journal 20. Jg., Nr. 901 (Wien, 05.11.1927), S. 19–20; Schiffer (1928): Mir. 55 Domela (1929): Kinobesitzer. 56 Vgl. Kirsten (2010): Prinz, S. 54–80. 57 Wrochem (1928): Zersetzung, hier bes. S. 707. 58 Wencker-Wildberg (1934): Könige, S. 701. 59 Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums (1938), S. 27. 60 Berliner Zeitung, 2 Jg., Nr. 24 (30.01.1946), S. 2; Neue Zeit. Tageszeitung der Christlich-Demokratischen Union, 2. Jg. 1946, Nr. 158 (09.07.1946), S. 1. 61 Neues Deutschland, 4. Jg., Nr. 59 (11.03.1949), S. 5.
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sollte, zehn Jahre später folgte eine Fernsehspiel62 und 1978 gar ein Musical an den Städtischen Bühnen Erfurts.63 Kein Wunder, dass sein Buch auch in der DDR immer wieder neu aufgelegt wurde.64 3. FAZIT In der Gesamtschau wird man Domela selbst nur eingeschränkt als demokratische Persönlichkeit bezeichnen können. Allerdings diente sein Fall der politischen Öffentlichkeit von den Liberalen bis hin zur äußeren Linken als eine Möglichkeit, die Frage nach der Relevanz demokratischer Persönlichkeiten für die Stabilität der Republik aufzuwerfen. Hierbei beschrieben sie eine Situation, in der die Weimarer Demokratie als quasi-monarchistisch erschien und forderten die Bevölkerung implizit dazu auf, sich zu demokratischen Persönlichkeiten zu entwickeln. Im Laufe der Zeit allerdings – und wohl nicht zuletzt durch Domelas eigene politische Entwicklung – reduzierte sich die Verwendung seiner Geschichte zunehmend auf die Kommunisten, die noch in der DDR versuchten, die Weimarer Demokratie mithilfe der Hochstaplergeschichte zu delegitimieren und das „bessere Deutschland“ zu begründen – auch im Osten diente Weimar also als Argument.65 Die Geschichte der demokratischen Potentiale Weimars wird anhand der aufgezeigten Debatte lesbar als eine Geschichte, in der die Verhandlung über diese Potentiale selbst Teil des zeitgenössischen Meinungsstreits war. Diese Debatte allerdings überschritt kaum die Milieugrenzen, der Skandal hatte also eher zersplitternde Wirkung, da sich offenbar kein Konsens im Hinblick auf den verhandelten Normbruch etablieren ließ.66 Ein solcher Konsens – und damit ist letztlich eine zumindest mehrheitliche Vorstellung adäquaten demokratischen Verhaltens gemeint – wäre allerdings notwendig gewesen, damit der Fall Domela selbst als Motor fortschreitender Demokratisierung hätte wirken können. QUELLEN Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg geb. Freiin v. Varnbühler. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches. Ausgewählt und herausgegeben von Rudolf Vierhaus. Mit einem Vorwort von Peter Rassow. (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 43.), Göttingen 1960.
62 Berliner Zeitung, 15. Jg., Nr. 122 (29.05.1959), S. 6. 63 Neues Deutschland, 33. Jg., Nr. 81 (06.04.1978), S. 4; Neue Zeit, 34. Jg., Nr. 103 (03.05.1978), S. 4. 64 Neues Deutschland, 38. Jg., Nr. 95 (23.04.1983), S. 14; Neues Deutschland, 39. Jg., Nr. 54 (03.03.1984), S. 14. 65 Vgl. Gusy (2003): Schatten; Leonhard (2018): Selbstversicherung. 66 Vgl. zur zersplitternden und polarisierenden Wirkung von Skandalen Domeier (2010): Eulenburg-Skandal, S. 18–19, S. 51–53, S. 58; ders. (2014): Katalysatoren.
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COOLE WIDERSTÄNDIGKEIT UNTER DEM ZEICHEN DES JAZZ Lässige Demokratiebekenntnisse der „tänzerischen Generation“ um Klaus Mann Catharina Rüß Demokratisierung des Vergnügens ist er, von großartiger Nüchternheit [...] eine romantische Pflicht einer zugleich amerikanisierten und tänzerischen Generation. [...] Der Tanz ist heute Freude, demokratische, und mehr als Einzelvergnügen.1
Als „tänzerische Generation“ bezeichnet Wilhelm Emanuel Süskind in seinem 1925 im Neuen Merkur erschienenen Essay seinen Bekanntenkreis, der sich aus ungefähr gleichaltrigen, zwischen 1901 und 1908 geborenen Akteuren im Umfeld von Klaus und Erika Mann zusammensetzt wie etwa Erich Ebermayer, Willi R. Fehse, Herbert Schlüter, Wolfgang Hellmert, Annemarie Schwarzenbach und Ruth LandshoffYorck.2 Diese junge Autor*innen dokumentieren während der Weimarer Republik in ihren Arbeiten vielfach einen cool3 wirkenden Lebensstil einer Großstadtjugend, die sich in Abgrenzung zu ihren bürgerlichen Elternhäusern als bohèmehafte Antibürger*innen präsentiert und sich für neue Moden, Tanzformen und Musikstile wie den Jazz begeistert. Häufig werden diese Zeitgeistphänomene, wie am Beispiel von Süskinds Ausführungen deutlich wird, sowohl mit dem Schlagwort Amerika als auch mit dem Begriff Demokratie assoziiert. Dabei erscheinen einige Äußerungen der Gruppe, die sich im Spannungsfeld von ästhetizistischem Snobismus und politischer Verantwortung, von antibürgerlicher Rebellion und moralischem Gewissen 1 2
3
Süskind (1925): Die tänzerische Generation, S. 589. Süskind steht zwar nicht mit Schwarzenbach und Landshoff-Yorck in engem Kontakt. Beide Frauen zählen aber zum Freundeskreis der Manns, die wiederum während der 1920er Jahre mit Süskind befreundet sind. Zu diesem Netzwerk können zahlreiche weitere Autor*innen gezählt werden wie auch der mit Hellmert befreundete Soziologe René König. „Obwohl der Begriff cool als Ausdruck für eine nonchalante und rebellische Haltung bereits in den 1920er Jahren in den USA geprägt wird, findet er sich während der Weimarer Republik noch nicht im deutschen Sprachgebrauch. Doch mit Blick auf die […] Bekleidungspraktiken lässt sich feststellen, dass es für die coole Attitüde, die mit diesen Praktiken ganz offensichtlich evoziert wird, keine geeignete deutsche Bezeichnung gibt.“ Rüß (2019): Wilde ‚Girls‘, Hipster und ‚White Negroes‘, S. 101–102, vgl. auch Rüß (2018): Coole Posen in schwarzem Leder, S. 136–158; Rüß (2016): Mode und Coolness.
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verorten lassen, zum Teil widersprüchlich und sind im Kreuzungspunkt von Ästhetik, Ethik und Politik zu lesen. Im vorliegenden Artikel soll vor diesem Hintergrund dargelegt werden, inwieweit die Akteure der „tänzerischen Generation“ als Verfechter*innen des demokratischen Systems der Weimarer Republik gedeutet werden können. 1. MERKMALE DER „TÄNZERISCHEN GENERATION“ Der Terminus Generation wird in diesem Zusammenhang nicht als eine objektiv essentialistische Kategorie verwendet, sondern vielmehr als eine Selbstbeschreibungsvokabel verstanden, mit der sich unterschiedliche Künstler*innen aus Klaus und Erika Manns Bekanntenkreis als überindividuelles Kollektiv imaginieren.4
Abb. 1: Klaus und Erika Mann 1927, Foto: Eduard Wasow
Diese Gruppe bezeichnet sich zwar in der Öffentlichkeit nicht mit dem von Süskind geprägten Begriff „tänzerische Generation“, spricht aber von sich mehrfach als 4
Vgl. Nicolai (1998): „Wohin es uns treibt…“ sowie Winter (2012): Generation als Strategie. In beiden Untersuchungen liegt der Fokus auf den männlichen Schriftstellern der Gruppe. Zahlreiche Einblicke in die Essayproduktion von Erika Mann, Landshoff-Yorck und Schwarzenbach liefert Anke Hertling. Vgl. Hertling (2013): Eroberung der Männerdomäne Automobil.
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Generation oder Jugend. Wenn im vorliegenden Artikel die Bezeichnung „tänzerische Generation“ verwendet wird, ist die Gruppe der während der Weimarer Republik mit dem Schreiben beginnenden Autor*innen im Umkreis von Klaus und Erika Mann gemeint. Als Nichte des Verlagsgründers Samuel Fischer gehört etwa Landshoff-Yorck ähnlich wie die Geschwister Mann oder die Schweizer Industriellentochter Annemarie Schwarzenbach5 zu einer privilegierten „Jeunesse doreé“,6 die aufgrund ihrer Kontakte zu bekannten Verlegern schon früh die Möglichkeit erhält, eigene Texte zu veröffentlichten. Diese jungen Schriftsteller*innen publizieren ähnlich wie heutige Pop-Autor*innen7 leichthändig verfasste Gesellschaftsreportagen, Theater-, Buch- und Filmbesprechungen sowie belletristische Texte über ihre Alltagserfahrungen und das internationale Nacht- und Bohèmeleben. Es handelt sich dabei in der Regel um ein Ich-zentriertes und (auto-)biographisch geprägtes Konzept von Literatur, in der die Künstler*innen ihr Leben als repräsentativ darstellen. In Abgrenzung zu ihren Eltern treten die männlichen und weiblichen Akteure dieser Szene als gleichberechtigte Kamerad*innen auf. Sie experimentieren mit Geschlechterrollen und Rauschmitteln und leben zum Teil ihre homosexuellen Leidenschaften in urbanen Subkulturen8 offen aus. Wiederholt inszenieren sie sich in ihren frühen Essays und Romanen als Vertreter*innen einer neuen „kühnen Dandyund Artistenjugend“,9 wobei sie sich in der Regel aber nur auf einen bestimmten privilegierten Teil der Jugend in den Großstädten beziehen. Ein nicht unwesentlicher Vergemeinschaftungsaspekt für diese Gruppe dürfte zudem die Bi- und Homosexualität von Klaus und Erika Mann, Schwarzenbach, Landshoff-Yorck, Ebermayer und Hellmert sein.10 Denn mit der Tabuisierung der gleichgeschlechtlichen Liebe in den 1920er Jahren ist für diese Akteure auch eine Präferenz für bestimmte geheime Orte und Freizeitaktivitäten sowie für spezifische künstlerische Referenzen verbunden, die innerhalb der Community als Erkennungscodes und als literarische Camouflagetechniken11 zur Kaschierung von homoerotischen Inhalten fungieren. Häufig schreiben die jungen Autor*innen, wenn sie von persönlichen Erfahrungen berichten, in der überindividualistischen ‚Wir-Form‘.12 Wie oft sich allein Klaus Mann als Wortführer seiner Generation in Szene setzt und über das Phänomen der Jugend reflektiert, zeigt sich allein mit Blick auf die Titel seiner essayistischen Arbeiten, die gehäuft die Begriffe ‚Jugend‘ oder ‚Generation‘ aufweisen.13 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Schwarzenbach wird als Tochter eines der wohlhabendsten Seidenfabrikanten der Schweiz geboren. Sie lebt aber phasenweise in Deutschland und besucht dort regelmäßig ihre Freunde. Vgl. Fähnders (2001): Nachwort, S. 169. Vgl. Arnold (2003): Pop-Literatur. Vgl. Beachy (2015): Das andere Berlin. Klaus Mann (1925): Der fromme Tanz, S. 174. Vgl. Winter (2012): Generation als Strategie, S. 159. Heinrich Detering prägt den Begriff „literarische Camouflage“. Vgl. Detering (2002): Das offene Geheimnis. Klaus Mann (1927): Heute und Morgen, S. 132. Winter (2012): Generation als Strategie, S. 399–401.
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Mit seinem Aufsatz über die „tänzerische Generation“ ist Süskind jedoch einer der ersten aus der Gruppe, der sich öffentlich zur zeitgenössischen Generationsthematik äußert und dabei den Lebensstil seiner Bekannten stellvertretend als Ausdruck eines neuen generationellen Kollektivs entwirft.14 Ähnlich verfahren etwas später auch andere Autor*innen dieser Gruppe, wenn sie in ihren Publikationen generalisierend im Namen der Jugend den Habitus ihres sozialen Milieus entfalten. Sie greifen dabei die in den 1920er Jahren populäre Debatte rund um die Problematisierung der Beziehung zwischen den Generationen auf. Denn das Typisieren, Stilisieren und Definieren unterschiedlicher kultureller Phänomene auf Grundlage des Konzepts der Generation scheint in den 1920er Jahren regelrecht ‚en vogue‘ zu sein.15 Häufig dient der Generationsbegriff als Beschwörungsformel, deren „einziger Inhalt der Zeitgeist“ ist, „dessen prägende Signaturen“ oft aber auch „beliebig ausgefüllt werden können“.16 Als typische Kennzeichen des Generationendiskurses erweisen sich narrative Muster, die zum einen auf die Verantwortung der Älteren für den Krieg und seine fatalen Folgen verweisen und zum anderen die künstlerische und mentalitätsspezifischen Unterschiede zwischen den Eltern und Kindern hervorheben.17 Zugleich beschäftigen sich in dieser Zeit zahlreiche Wissenschaftler eingehend mit dem Konzept der Generation.18 Die „Amalgamierung von Weltkriegserfahrung, historischer Kritik und lebensphilosophischer Emphase“19 bestimmt dabei häufig zahlreiche Versuche komplexe kulturelle Erscheinungen mit dem Generationsbegriff zu typisieren und zu erklären.20 Angesichts der Konjunktur des Generationsthemas während der Weimarer Republik verwundert es nicht, dass sich auch Süskind und seine Bekannten als bedeutungsvoll erscheinendes Kollektiv demonstrativ von anderen Künstlergruppierungen abzugrenzen versuchen. Als generationsstiftende Programmatik fungiert für sie jedoch keine hitzig wirkende Kampfparole, sondern vielmehr eine im Kontext von Jazz und Bars betont zur Schau gestellte Coolness, die Klaus Mann rückblickend in 14 Vgl. Nicolai (1998): „Wohin es uns treibt…“, S. 106. 15 Das Generationskonzept verliert zwischen 1933 und 1945 seine Popularität. Denn in einer Diktatur, wo sich alle Schichten und Generationen dem Dogma einer Ideologie zu unterstellen haben, bleibt kein Spielraum für öffentliche Auseinandersetzungen und Kontroversen. Vgl. Winter (2012): Generation als Strategie, S. 181. 16 Kamphausen (2002): Die Erfindung Amerikas, S. 111. 17 Vgl. Brockmeier (2010): „… es ist ihnen alles einerlei“, S. 28. In den Texten der Expressionisten erscheint die Kontroverse zwischen den Generationen als eines der beliebtesten Sujets und gipfelt im literarischen Topos des Vatermords. 18 Während des 18. Jahrhunderts wird der Generationsbegriff zunehmend an Phänomene der Kunst gekoppelt. Diese Entwicklung hat mit der Entstehung von bürgerlichen Künstlerzirkeln zu tun, die sich als neue Generationen vermarkten und dabei von sich behaupten, die Repräsentanten einer neuen Ära zu sein. 19 Lauer (2010): Einleitung, S. 14. 20 Lüscher / Liegle (2003): Generationsbeziehungen, S. 245. In diesem Kontext sind besonders Wilhelm Pinders Studie über Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas und auf Karl Mannsheims wegweisende Arbeit Das Problem der Generationen zu erwähnen.
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seiner Autobiographie Der Wendepunkt als „die Philosophie aller foxtrottfreudigen kleinen Nachkriegskreise“21 bezeichnet. Unter Coolness wird in diesem Zusammenhang eine Aura der Autonomie und Distanz zu Autoritäten, eine individualistische „Ästhetik und Politik strategischer Entemotionalisierung“22 und eine „habitualisierte Technik des Sich-Entziehens“23 verstanden, die jedoch nicht mit Gefühlskälte24 gleichzusetzen ist: „man ist natürlich sentimental, man hat natürlich seinen Pathos irgendwo“.25 Die „tänzerische Generation“ zeichnet sich in Distinktion zu anderen Künstlerkollektiven wie den Expressionisten durch eine kühle Haltung der Abgeklärtheit aus, die von einem „nüchtern sachliche[n] Grundprinzip“26 geprägt ist und sich auch beim Charleston- und Shimmy-Tanzen in gelangweilt aussehenden und „oft von […] Sachlichkeit“27 geprägten Mienen ausdrückt. Als wenig angriffsfreudig beschreibt Klaus Mann diese Mentalität seines Bekanntenkreises, der sich sowohl von den Radikalismen der Extremparteien als auch von der älteren Generation weniger durch Revolten, sondern vielmehr durch einen speziellen Lebensstil abgrenzt. Das politische Engagement der Jugendlichen verlagert sich gewissermaßen auf eine ästhetisch stilistische Sphäre des körperlichen Ausdrucks im Zeichen des Jazz, der die Funktion einer neuen „Weltanschauung“28 gewinnt.29 Mit ihren lässigen Bewegungen in den Clubs der Großstädte figurieren sie „einen krassen Gegensatz zur abgerundeten Körperbeherrschung des traditionellen Tanzens“30 ihrer Eltern. Zugleich erscheint ihnen der Jazz als Ausdrucksmittel, das den alten „verlogenen bürgerlichen Idealen“31 der älteren Generation, ein Ende machen soll. Diese „sieht Glieder und Gesichter junger, tanzender Paare an und findet frostige Langeweile in ihnen und kann es nicht begreifen, daß sich das mit dem aufrichtigen Tonfall Vergnügen nennt“,32 schreibt Süskind. Insgesamt steht der Jazz nicht nur für neue Rhythmen und Tanzformen, sondern auch für ein modernes Lebensgefühl und einen sozialen Raum, der sich als Möglichkeit eröffnet, sich in Abgrenzung zu anderen Altersgruppen mit differierenden Freizeitaktivitäten, Körperpräsentationen und Sprachstilen als Erlebnisgemeinschaft zu inszenieren.
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Klaus Mann (1952): Der Wendepunkt, S. 180. Holert (2013): Cool, S. 43. Sommer (2007): Coolness, S. 31. Es handelt sich bei der Coolness nicht um die Kälte, die Helmut Lethen als zentrales Merkmal der Mentalität der Zwischenkriegszeit ausmacht. Zur Differenzierung zwischen Coolness und Kälte vgl. Rüß (2016): Mode und Coolness, S. 20–24. Süskind (1925): Die tänzerische Generation, S. 592. Nicolai (1998): „Wohin es uns treibt…“, S. 116. Süskind (1925): Die tänzerische Generation, S. 588. Ebd., S. 590 Vgl. dazu auch Nicolai (1998): „Wohin es uns treibt…“, S. 112. Partsch (2000): Schräge Töne, S. 64. Ebd., S. 106. Süskind (1925): Die tänzerische Generation, S. 586.
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Zugleich erweist sich das hedonistische Bohèmeleben der Jazz-Boys und Girls33 vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs als provokante Umarmung der sogenannten Kultur des Feindes,34 gegen den die Älteren noch einige Jahre zuvor in den Kampf gezogen sind.35 Die jugendliche Feier des Jazzerlebnisses kommuniziert besonders für rechtskonservative Bürger nichts anderes, als dass erneut Amerika über Deutschland – nun auch auf dem Tanzparkett – triumphiert.36 Denn die Begegnung mit dem Jazz wird während der Weimarer Republik nicht nur mit Modernität, Internationalismus und Amerikanismus37 assoziiert, sondern auch mit der Kriegsniederlage und dem Verlust alter Werte.38 2. DAS POLITISCHE IM SUBKULTURELLEN STIL Um den Kosmopolitismus seines Bekanntenkreises zu betonen, flicht Süskind in seinen Artikel mehrfach collagenhaft englische Wörter ein und zitiert ein französisches Gedicht von Valery Larbaud. Nicht zuletzt spricht er in diesem Kontext auch von der „Demokratisierung des Vergnügens“39 der Jugendlichen, die sich vom Fluss des Rhythmus’, dem „sway of it“, den „die famose Jazzband“ 40 spielt, gewissermaßen über nationale Grenzen hinweg treiben lassen. Viele Akteure der „tänzerischen Generation“ reisen regelmäßig und besuchen Künstlerkolleg*innen in Lon-
33 Die sportlich gekleideten jungen Frauen werden in Deutschland als Girls typisiert. In seinem 1926 erschienenen Roman Jazz bezeichnet Hans Janowitz die Musiker einer durch die Welt tourenden Band als Jazz-Band-Boys. 34 Dass der Jazz in Deutschland teilweise als Musik des Feindes verunglimpft wird, hat auch mit seiner Verbreitungsgeschichte zu tun. Besonders die afroamerikanische, zum 359. InfanterieRegiment des US-Militärs gehörende Jazzband Hellfighters trägt zur Popularisierung der Musik bei. Diese Gruppe spielt für die Alliierten an der Front und erhält die Erlaubnis, durch einige europäische Länder zu touren. Rasant verbreitet sich so während des Krieges in England, Belgien und Frankreich die neue Musik, wogegen die meisten Deutschen mit dem Jazz erst ab dem Jahr 1920 durch den Modetanz Shimmy in Berührung kommen. Schnell wird dann bei dem Thema Jazz von „Tanzwut“ oder „Tanzmanie“ gesprochen. Vgl dazu Nagl (2009): Die unheimliche Maschine, S. 647 und Vincent (1995): Keep Cool, S. 12. 35 Schivelbusch (2001): Die Kultur der Niederlage, S. 247–251. 36 Vgl. Partsch (2000): Schräge Töne, S. 8. 37 Der Begriff Amerikanismus bezieht sich in der Weimarer Republik auf die Rolle der USA als wirtschaftliches und gesellschaftliches Vorbild. Für die Kritiker der USA ist damit aber auch eine abwertende Bedeutung verbunden. Vgl. dazu Beyer (2014): Soziologie des Antiamerikanismus; Kamphausen (2002): Die Erfindung Amerikas; Urban (2005): Offizielle und halboffizielle Amerikabilder. 38 Schivelbusch spricht hier auch von der sogenannten Kultur der Niederlage. 39 Vgl. Süskind (1925): Die tänzerische Generation, S. 589. 40 Ebd., S. 588.
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don, Zürich oder Paris.41 Als „girldriver“42 bezeichnen sich Landshoff-Yorck und ihre Freundinnen Erika Mann und Schwarzenbach, die als emanzipierte Garçonnes mit Kurzhaarfrisuren, in Ledermänteln, „Jungenshemden und Sweaters“43 gekleidet mit ihren Wagen unterwegs sind und sich als diese „Art von Mädchen“ begreifen, „die nicht den Eindruck erwecken wollen, sie seien Damen und wollen sich in den Mantel helfen lassen“.44
Abb. 2: Ruth Landshoff-Yorck in Die Dame 1927, Foto: Ullstein Bild
In ihren Texten schreiben sie wie ihre männlichen Kollegen über diverse Reiseerfahrungen und stellen Europa als „ein Ding zum Durchfahren“45 dar. „Uns muß das Leben Bewegung sein, unser Körper, unser Geist immer in Sehnsucht und Tätigkeit sind uns wortloser Beweis dafür“,46 hält Schwarzenbach in ihrem Artikel Stellung der Jugend fest. Ihr geht es dabei nicht um ein Vorwärtskommen, um irgendwo
41 In Paris pflegen sie Kontakte zu Jean Cocteau und André Gide und in England zur Bright young things-Szene wie Harold Acton, Wystan H. Auden, Cecil Beaton, Brian Howard, Aldous Huxley, Christopher Isherwood und Evelyn Waugh. Anschaulich lässt sich dies an dem im Jahr 2016 dem Deutschen Literaturarchiv vermachten Teilnachlass von Ruth Landshoff-Yorck belegen. Vgl. Bürger / Blubacher et al. (2017): Vom Pariser Platz nach Manhattan – und Marbach, S. 5–13. 42 Landshoff-Yorck (1927): Das Mädchen mit wenig PS, S. 12 f. 43 Landshoff-Yorck (1963): Klatsch, Ruhm und kleine Feuer, S. 162. 44 Ebd., S. 162. 45 Erika Mann (1931): Fahrt ohne Schlaf, S. 88. 46 Schwarzenbach (1930): Stellung der Jugend, S. 14.
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anzukommen, sondern um ein Fortbewegen, um nicht zu stagnieren.47 „Abschied ist das ewige Motiv“,48 sagt in diesem Sinne auch der Schriftsteller Sebastian in Klaus Manns Roman Treffpunkt im Unendlichen und bringt damit die On-the-RoadProgrammatik seines sozialen Umfelds auf den Punkt. Dieses Sich-Treibenlassen provoziert jedoch nicht nur die Kritik rechtskonservativer Kreise, sondern auch von einigen linken Intellektuellen. Siegfried Kracauer etwa sieht im Nicht-Gebunden-Sein der Jugendlichen ein zentrales Motiv der Mentalität der modernen Jugendkultur, für die das orientierungslose „Driftertum“ charakteristisch zu sein scheint. In seinem im Jahr 1925 veröffentlichten Artikel Die Reise und der Tanz setzt er die zwei für den Lebensstil der „tänzerischen Generation“ typischen Aktivitätsmodi – das Bewegen zur Jazzmusik und das Bewegen auf Straßen und Schienen – miteinander in Verbindung. Beide Formen betrachtet er als inhaltsleere Modephänomene, die für ihn über ihre „sportliche Ausübung“ der Bewegung „hinaus nichts wesentlich Sinnhaftes“49 bedeuten. Ähnlich äußert sich auch Thomas Mann über die Jugendkultur seiner Kinder in seiner ebenfalls 1925 herausgegebenen Novelle Unordnung und frühes Leid sowie in seinem zeitgleich publizierten Essay Die Ehe im Übergang. In beiden Texten werden die neuartigen Musik-, Mode- und Sprachstile als Zerfallserscheinungen alter Ordnungsmuster präsentiert. Die Wilhelminische Welt von Thomas Manns Jugend, die Welt manieristischer Höflichkeiten und der „steifen Etikette“ scheint unwiderruflich passé zu sein, denn „von Salon, von Ritter- und Damentum, Galanterie und Minauderie“ ist „nicht viel mehr zu spüren“.50 Vorbei ist das alte Männlichkeitsbild des 19. Jahrhunderts, das „Martialische […] der Stock im Rücken“ und „das Hackenzusammenschlagen“.51 Mit ihrer coolen „Shimmy-Geselligkeit“ wirkt die „tänzerische Generation“ komplett „zwanglos“ und verkörpert mit ihrem Aussehen „das Gepräge lässigen Notbehelfs“.52 Viele Autor*innen der „tänzerischen Generation“ sind jedoch nicht nur von amerikanischen Trends beeinflusst, sondern sie konzeptualisieren sich zwar als eine demokratische, aber auch als eine elitäre Gruppe, die sich sowohl für Jazz und moderne Künstler*innen als auch für die romantisierend-innerliche Lyrik53 von Autoren der Jahrhundertwende wie Stefan George, Rainer Maria Rilke oder Hugo von Hofmannsthal sowie für die Philosophie Friedrich Nietzsches begeistert. In ihrem 47 Dieses Motiv ist in den 1940er Jahren in der Literatur der Beatniks wie etwa in Kerouacs Kultroman On The Road und in den 1960er Jahren im Filmgenre der Road Movies ein zentrales Narrativ der Coolness. Das Fahren wird hier wie bereits in den 1920er Jahren zum Selbstzweck und Zeichen der Freiheit von Aussteigern und Nichtangepassten. 48 Klaus Mann (1932): Treffpunkt im Unendlichen, S. 152. 49 Kracauer (1925): Die Reise und der Tanz, S. 216. Kracauer entfaltet hier einige Denkfiguren, die 1936 sein Freund Theodor Adorno in seinem Aufsatz Über Jazz ausführlicher darlegt. Adorno teilt mit Kracauer die Überzeugung, dass der Jazz als eine Art „irrationale Mode“ zur inhaltsleeren, „fetischisierten Warenwelt“ gehört. Adorno (1936): Über Jazz, S. 108. 50 Thomas Mann (1925): Die Ehe im Übergang, S. 1029 f. 51 Ebd., S. 1029 f. 52 Thomas Mann (1925): Unordnung und frühes Leid, S. 197 f. 53 Winter (2012): Generation als Strategie, S. 269.
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Artikel Bücher für uns! stellt Landshoff-Yorck die literarischen Vorbilder ihrer Freunde vor und behauptet, dass niemand, der nicht George kenne, etwas über die deutsche Sprache wisse.54 Besonders Georges Kult um „geistigen Adel“ berührt in einer heute schwer nachvollziehbaren „Weise einen Nerv einer durch den Ersten Weltkrieg von den Transzendenzversprechen des 19. Jahrhunderts abgeschnittenen Generation“,55 für die das von George geprägte „Konzept der Dichtung und Elite“ offensichtlich ebenso bedeutsam ist wie der unter den Schlagworten Neue Sachlichkeit, Amerikanismus und Neue Frau „zu fassende Modernisierungsschub“.56 So erweisen sich auch die Texte der jungen Autor*innen im Unterschied zur Literatur der Neuen Sachlichkeit als Hybriderscheinungen, in denen auf der einen Seite gegenwartsbezogene Passagen im nüchternen Dokumentarstil und ein Lebensgefühl urbaner Coolness verhandelt werden, auf der anderen Seite aber auch eine nostalgisch wirkende Verträumtheit und Empfindsamkeit zum Ausdruck kommen. Zugleich spielt die Reform- und Wandervogel-Bewegung für das Selbstverständnis der jungen Autor*innen eine zentrale Rolle.57 Dies zeigt sich zum einen an der häufigen Verwendung von Leitbegriffen wie Jugend, Bewegung und Körperlichkeit58 und zum anderen am oftmals informell wirkenden Erscheinungsbild der „tänzerischen Generation“, die „bürgerliche Festkleider offenbar weder besitzt noch besitzen will“.59 Nicht nur die mobilen Garçonnes dieser Szene stellen in burschikosen Monturen des Motorsports konventionelle Weiblichkeitsstereotypien in Frage. Auch ihre männlichen Freunde experimentieren mit Geschlechterrollen und begehren mit ihrem Aussehen gegen traditionelle Männlichkeitsentwürfe auf. Gleich zu Beginn seines Romans Der fromme Tanz präsentiert Klaus Mann den jugendkulturellen Stil seiner Generation mit der Figur des Malers Andreas, der als rebellischer Jazzkenner „unbürgerlich gekleidet“ in einem „blauen, russisch geschnittenen Anzug“60 auf dem Klavier einen Shimmy spielt. 54 55 56 57
Vgl. Rohlf (2010): Neue Frauen und feminine Dichter, S. 181. Ebd., S. 180. Ebd. Viele Autor*innen der Gruppe wachsen in Landschulheimen und in einem reformpädagogischen Umfeld auf oder sind Mitglieder der Wandervögel. 58 Vgl. Priebe (2007): Vom Schulturnen zum Schulsport, S. 11. Diese Begriffe tauchen als Leitformeln schon im Jugendstil auf, verlieren aber in der Weimarer Republik nicht an Relevanz. Sie finden sich in den Überschriften und Titeln zahlreicher Aufsätze und Romane wieder. Wolfgang Gräser veröffentlicht 1927 seine Arbeit Körpersinn. Gymnastik, Tanz, Sport. Süskind bringt zwei Jahre später seinen Roman Jugend heraus. Über beide Werke verfasst Klaus Mann Rezensionen. 59 Thomas Mann (1925): Unordnung und frühes Leid, S. 192. Die Wandervögel-Bewegung entwickelt eine „Art Antikleidung, die in kein Muster der herrschenden Gesellschaftsordnung“ hineinzupassen scheint. Vgl. Weber-Kellermann (1979): Die Kindheit, S. 137. Siehe auch Füllmann (2008): Alte Zöpfe und Vatermörder, S. 316. 60 Klaus Mann (1925): Der fromme Tanz, S. 39 f.
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Im Gegensatz zu älteren Bürgern der Weimarer Republik verzichten die Jünglinge der „tänzerischen Generation“ oft auf Hosenträger, Bärte und eng geschnittene Anzüge. Sie tragen lockere hochgekrempelte Hemden und stecken ihre „Hände amerikanisch in die Hosentaschen“61 ihrer weiten Oxfordhosen, die ihre Faszination für den Jazz und für Hollywoodstars wie Rudolph Valentino zum Ausdruck bringen.62 Diesen legeren Kleidungsstil beschreibt Wilhelm Speyer in seinem Roman Charlott etwas verrückt als „weniger dramatisch“ und „demokratischer“.63 Denn mit der aus Amerika und England kommenden Sport- und Herrenmode wird in den 1920er Jahren lässiges Understatement und teilweise auch die demokratischparlamentarische Regierungsform Englands und der USA assoziiert.64 Hier offenbart sich das Politische subtil im scheinbar Unpolitischen des subkulturellen Kleidungsstils der Jugendlichen, der eine Oppositionshaltung gegen verschiedene Autoritäten und Gesellschaftsordnungen ausdrückt. Dick Hebdige spricht in seiner Arbeit Subculture: The Meaning of Style von der „Herausforderung an die Hegemonie“, die von Jugendkulturen nicht direkt, sondern oftmals indirekt ausgedrückt wird: „Die Einwände werden auf der im Grunde oberflächlichen Ebene der Erscheinungen eingebracht“.65 Wie rebellisch allein das Erscheinungsbild der „tänzerischen Generation“ auf viele Zeitgenossen wirkt, verdeutlicht sich an zahlreichen Artikeln, in denen das nonkonformistische Auftreten der Jugendlichen kritisiert wird. Während den Garçonnes vorgeworfen wird, sie hätten vor, „Maschinen zu regieren“ und „Sportkämpfe zu gewinnen“66 und dabei angeblich den Irrtum begingen, die Männer nachahmen zu wollen, indem sie sich „eine brutale Handschrift“67 aneignen, wird den eher effeminiert wirkenden Jünglingen dieser Szene unterstellt, dass sich ihr Erscheinungsbild mit der Aneignung der aus den USA stammenden Sportgürtel vom „täglichen Angestrafftsein“68 zu einer „allgemeinen Haltlosigkeit“69 entwickelt. Ironisch setzt Siegfried Kracauer den lässigen Fall der Hosen der Jüngeren mit dem „Denken der sportbeflissenen“ Generation und dem allgemeinen „Zerfall, in dem die Welt sich befindet“,70 in einen Zusammenhang. Aus seiner Sicht verspüren die
61 Süskind (1929): Jugend, S. 51. 62 Nach dem Ersten Weltkrieg tragen afroamerikanische Jazzmusiker den sogenannten „sack suit“, einen leger geschnittenen Anzug im „baggy style“ mit weiten Hosen. Diese Mode wird auch von weißen Showstars getragen und gelangt Mitte der 1920er Jahre nach Europa. In England machen die Oxford-Studenten Harold Acton und Brian Howard die extrem breit geschnittenen Hosen bekannt und forcieren damit die Ausbreitung des Trends der weiten Männerhosen, die auch Oxford-Bags genannt werden. Vgl. McClendon (2015): Fashion and Jazz, S. 59–61; Savage (2008): Teenage, S. 260. 63 Speyer (1927): Charlott etwas verrückt, S. 37. 64 Vgl. Hollander (1995): Anzug und Eros. 65 Diederichsen/Hebdige et al. (1983): S. 22. 66 von der Vring (1929): Offensive der Frau, S. 55–58. 67 Ebd., S. 57. 68 Kracauer (1926): Die Hosenträger, S. 483. 69 Ebd., S. 485. 70 Ebd., S. 484
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Sportgürtel tragenden Jazz-Boys „nicht den mindesten Hang“ über ihr „Niveau hinauszustreben“.71 Das juvenile Lebensgefühl sportlicher Lässigkeit72 im Sinne einer „schlampigen“ Nachlässigkeit drückt sich für Kracauer auch im Schreibstil der jungen Autor*innen aus. Wie das moderne Reisen, den Tanz und den Jazz betrachtet er auch die Texte aus Klaus Manns „Clique“ als oberflächliche Signaturen des „Leerlaufs“.73 Mit dieser Einschätzung spricht er vielen jungen Autor*innen, die angeblich unentwegt „fortfließen und fortschreiben, statt in der Sprache auszuharren“, von vornherein „eine haltbare schriftstellerische Leistung“74 ab. Daneben provozieren einige Schriftsteller*innen dieser Gruppe auch mit ihren Schilderungen von homoerotischen Themen Spott und Kritik. Das Schreiben über gleichgeschlechtliche Liebe stellt während der 1920er Jahre eine riskante Angelegenheit dar, denn in Deutschland steht die sogenannte Unzucht unter Strafe. Aufgrund einer speziellen Sonderregelung können zwar in Berlin Schriften verbreitet werden, in denen die Gleichstellung der Homosexuellen propagiert wird.75 Doch vielen Zeitgenossen sind die skandalträchtigen Prozesse rund um den EulenburgSkandal76 und gegen Oscar Wilde noch in lebhafter Erinnerung. Beide Affären tragen dazu bei, die Intoleranz gegen Homosexuelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verhärten. Vor allem Klaus Mann wird für sein Bekenntnis zur Homosexualität von verschiedenen politischen Lagern angegriffen.77 Einen größeren Raum nimmt in diesem Diskurs die Feindschaft zwischen Bertolt Brecht und der Familie Mann ein. Brecht distanziert sich nicht nur von der literarischen Ästhetik von Thomas und Klaus Mann, sondern attackiert beide Männer auch für ihre sexuelle Orientierung78 und die Thematisierung von homoerotischen Motiven in ihren Werken. Dabei differenziert er kaum zwischen Vater und Sohn. Vielmehr lassen sich Brechts Polemisierungen gegen Klaus Mann auch als Ausdruck seiner antihomosexuellen Aversionen gegen Thomas Mann verstehen.79 Immer wieder betont Brecht, der seine eigene bürgerliche Herkunft verschleiert, sowohl seine Abneigung gegen das
71 Ebd. 72 Sportlichkeit wird während der Weimarer Republik häufig mit den USA konnotiert. In der Kritik am Sport drückt sich oft auch eine subtile Kritik am Amerikanismus aus. Vgl. dazu Becker (1993): Amerikanismus in Weimar. 73 Kracauer (1932): Zur Produktion der Jungen, S. 106. 74 Ebd. 75 Zu Berlins Duldungspolitik vgl. Beachy (2015): Das andere Berlin. 76 Noch 1973 setzt Ernst Jünger in seinem Texten die Bezeichnung „Eulenburger“ als Synonym für einen Homosexuellen ein. Vgl. dazu Domeier (2010): Der Eulenburg-Skandal, S. 374. Siehe auch Bruns (2008): Männlichkeit, Politik und Nation; Winzen (2010): Das Ende der Kaiserherrlichkeit. 77 Vgl. Beachy (2015): Das andere Berlin, S. 151. 78 Während sich Klaus Mann öffentlich zu seiner Homosexualität bekennt, kaschiert Thomas Mann stärker seine homosexuellen Neigungen, die er in seinen Tagebüchern offen zum Ausdruck bringt. 79 Winter (2012): Generation als Strategie, S. 269.
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Bildungsbürgertum als auch gegen die gleichgeschlechtliche Liebe. Besonders sein „Hass auf Thomas Mann ist dafür ein Symptom“.80 3. DIE PROBLEMATIK DER NICHT-FESTLEGBARKEIT Auf den ersten Blick geben sich viele Akteure der „tänzerischen Generation“ zu Beginn ihrer schriftstellerischen Laufbahn betont unpolitisch. Obwohl sie mit ihrem Habitus die Wirkung von potentieller Widerständigkeit erzeugen und einen Lebensstil verkörpern, der gegen zahlreiche konservative Werte ihrer Gesellschaft verstößt, vermeiden sie eindeutige Solidaritätsbekundungen zu bestimmten Parteien. Sie halten es offenbar „nicht für angemessen“, der Welt „politisch oder durch ein neues Wirtschaftssystem […] ihren Stempel aufzudrücken“ und „mit Weltanschauungen auf Weltanschauungen loszutrümmern“.81 Als Ursache für diese Zurückhaltung nennt die „tänzerische Generation“ in ihren Texten wiederholt den Ersten Weltkrieg, der aus ihrer Sicht zur Zerstörung jeglicher Gewissheiten und Ideale der Elterngeneration geführt hat, so dass ihnen vor dem Horizont der Schrecken der Schützengräben nur noch eine Positionierung im Modus skeptischer Distanziertheit möglich erscheint. In seinem 1926 veröffentlichten Essay Fragment von der Jugend hält Klaus Mann fest: „Mir scheint die Ratlosigkeit groß, mir scheint beinah alles in Frage gestellt. [...] Aber man hat Angst vor dem Dogma, die begrenzte ‚Meinung‘ kann niemals erlösen.“82 Vergleichbare Äußerungen finden sich auch in den Texten von Schwarzenbach. In ihrem Aufsatz Stellung der Jugend betont sie die von ihr empfundene Unentschlossenheit ihrer Generation, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in einer Welt ohne Sicherheiten wiederfindet: „Wir wissen, dass nichts Einseitiges und Erstarrtes für uns taugen kann“.83 Mit solchen Äußerungen stellen sich die jungen Künstler*innen als Vertreter*innen einer lost generation dar, die, wie es F. Scott Fitzgerald in seinem Roman This Side of Paradise ausdrückt, „aufgewachsen war, um herauszufinden, daß alle Götter tot waren, alle Kriege ausgefochten, alle Überzeugungen im Menschen erschüttert“.84 Von der Zersetzung jeglicher ideologischen Heilsversprechen überzeugt finden sie nicht den Mut „zum großen Anklageschrei“.85 Vielmehr präsentieren sie sich als Suchende und Hadernde. Der erst 19-jährige Fehse stellt in einem Leserbrief an die Zeitschrift Literarische Welt klar, dass aus diesem Skeptizismus jedoch nicht automatisch ein Fatalismus der Indifferenz folgt: „Unsere Jugend glaubt nicht. Sie ringt. Sie kämpft. Sie zweifelt.“86
80 Müller (2007): Fotografie und Lyrik, S. 80. Zu Th. Mann siehe den Beitrag von Tobias Julius Wissinger in diesem Band. 81 Süskind (1925): Die tänzerische Generation, S. 593. 82 Klaus Mann (1926): Fragment von der Jugend, S. 63. 83 Schwarzenbach (1930): Stellung der Jugend, S. 13. 84 Fitzgerald (1920): Diesseits vom Paradies, S. 407. 85 Klaus Mann (1926): Unser Verhältnis zur vorigen Generation, S. 74. 86 Fehse (1926): Die Jugend antwortet, S. 7.
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Sich in der Nachfolge der von Nietzsche und Hofmannsthal vertretenden Denktradition der Sprachkrise87 begreifend stellen sie nicht nur unterschiedliche Ideologien, sondern insgesamt die Sprache als Grundlage sämtlicher Kommunikationspraktiken in Frage. Das Ich scheint unrettbar,88 in sich brüchig, zwiespältig und einsam einer Welt ausgesetzt zu sein, die den jungen Autor*innen weder fassbar noch sprachlich fixierbar und nur defizitär vermittelbar erscheint. In dieser ambivalent wahrgenommenen Wirklichkeit, die von einem Grundgefühl des „Ins-Ungewisse-Getriebenwerden“89 beherrscht wird, fällt es ihnen schwer, präzise Programmatiken zu formulieren. Ihre Kritik an sprachlichen Simplifizierungen führt nicht zuletzt zur Unfähigkeit der Gruppe, sich auf eine klare Richtlinie festzulegen, woraus sich die Verkomplizierung der Kategorisierung und Einordnung ihrer Werke in den Literaturmarkt ergibt. Da sie idealistische Konzepte als anfechtbar betrachten, betonen sie in ihren Arbeiten vielfach das Fluide, Umschattete und Undefinierte, wobei der Vitalismus des Körpers beim Tanz, beim Sport und abenteuerlichen Reisen zur letzten Bastion der Gewissheit avanciert. Letztendlich erscheint für die „tänzerische Generation“ die einzige gemeinsame Direktive inmitten der „Ruinen traditioneller Werte“ 90 die Suche zu sein. Vor diesem Hintergrund ist auch ihre Begeisterung für den amerikanischen Lyriker Walt Whitman zu erklären, der in seinem Gedichtband Leaves of Grass die Vorstellung propagiert, dass „Welterkenntnis“ maßgeblich „über den Körper“91 im Prozess des Sich-Bewegens und Suchens erfolgt. Doch der Lyriker dient ihnen nicht nur als literarisches Vorbild, sondern er fungiert in der Homosexuellenbewegung auch als Ikone für Emanzipation, Freiheit und Gleichberechtigung.92 Unter dem Schock von Rathenaus Ermordung stehend, bezieht sich Thomas Mann in seiner 1922 gehaltenen Rede Von deutscher Republik explizit auf Whitman, den er als Verkörperung der Humanität lobt.93 Dabei stellt er „Whitmans Homosexualität als Grundlage einer neuen, erst zu schaffenden republikanischen Ideologie“94 dar. Drei Jahre später verweist sein Sohn Klaus in seinem Roman Der 87 Als Schlüsseltext des unter dem Leitgedanken der Sprachkrise stehenden Skeptizismus gilt Hofmannsthals 1902 veröffentlichter Brief des Lord Chandos. Nach dem Ersten Weltkrieg verdichtet sich diese Krise für viele Künstler*innen zum grundlegenden Zweifel an sämtlichen metaphysischen Ideen. Auch Ludwig Wittgenstein begreift seine in den 1920er Jahren veröffentlichte Sprachtheorie als Sprachkritik. 88 Die Vorstellung von der Destabilisierung des Ichs wird schon während der Jahrhundertwende von Ernst Machs Diktum vom unrettbaren Ich geprägt. 89 Klaus Mann (1926): Fragment von der Jugend, S. 64. 90 Miermont (2008): S. 74. 91 Grünzweig (1991): Walt Whitman, S. 97. 92 1905 publiziert Eduard Bertz einen langen Artikel über die Homoerotik in Whitmans Gedichten. 1922 wird diese Abhandlung noch einmal in Magnus Hirschfelds Jahrbuch für Sexuelle Zwischenstufen veröffentlicht. Vgl. Beachy (2015): Das andere Berlin, S. 245–284. 93 So kann diese Rede, wie Walter Grünzweig feststellt, auch als Thomas Manns Bekenntnis zur Homosexualität interpretiert werden. Vgl. Grünzweig (1991): Walt Whitman, S. 124. 94 Ebd. S. 125.
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fromme Tanz auf diese Deutung seines Vaters. Hier präsentiert sich der Künstler Andreas mit seiner Whitman-Lektüre nicht nur als Demokrat, sondern „outet“ sich auch als Homosexueller, der Whitmans Verse „über den Körper“ und seine Darstellungen der „süßen Leiber“ einer „demokratisch-erotischen Gemeinschaft“95 lobt. Auch in Landshoff-Yorcks Roman Die Vielen und der Eine trägt der homosexuelle Bohemien Hugh stets einen „Band Whitman“96 mit sich. Diese intertextuellen Bezüge lassen sich zwar als implizite Bekenntnisse zu einer republikanischen Gesellschaft interpretieren. Gleichwohl bleiben sie als lose Versatzstücke zu sehr im Vagen, als dass sie eine gesellschaftspolitisch relevante Wirkung entfalten könnten. So führt die aus ihrem Sprachskeptizismus herrührende Strategie der Nicht-Festlegung der „tänzerischen Generation“ letztendlich zum Scheitern der Gruppe97 als einheitlich wahrnehmbare Größe im literarischen wie im politischen Feld. Denn aus der Maxime des individuellen Suchens rekurriert ein Stimmen-Partikularismus sowie eine Haltung des abwartenden Zögerns, die es den Autor*innen a priori verunmöglicht, eine einheitliche Kraft zur Verteidigung ihrer (Sub-)Kultur vor den Feinden des liberal-demokratischen Systems zu entwickeln. An der folgenden Gegenüberstellung lassen sich einige Ursachen für die Zurückhaltung und potentielle Unterlegenheit der pluralistisch orientierten Akteure der „tänzerischen Generation“ gegenüber den autoritär organisierten Kräften im politischen Kampf veranschaulichen: Autoritarismus
„Tänzerische Generation“ / Links-Liberale Intellektuelle
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Eindeutigkeit
Vielfalt
Fixierung
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Hitze/Empörung/Wut
Kühle/Abwägung/Reflektion
Einfache Slogans/Phrasen
Verkomplizierungen/Intertextualität
Simple Lösungen
Ambivalente Lösungen
Gerade das von den jungen Autor*innen bevorzugte Leben im Provisorium, ihr Kosmopolitismus und Nonkonformismus sowie ihr künstlerisches Konzept der Offenheit als Zeichen der Nichtunterwerfungsbereitschaft setzen eine Toleranz und 95 Klaus Mann (1925): Der fromme Tanz, S. 171. 96 Landshoff-Yorck (1930): Die Vielen und der Eine, S. 48. 97 Vgl. Winter (2012): Generation als Strategie, S. 387.
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Freiheit des Handelns und Denkens voraus, die letztendlich nur durch eine republikanische Gesellschaft garantiert werden können. Dies ist einigen Akteuren dieser Gruppe klar, wenn sie sich selbstkritisch mit ihrem Hang zum politischen Phlegmatismus auseinandersetzen. Vor der Reichstagswahl 1924 wirbt Ebermayer in seinem Artikel Republik und Jugend für ein stärkeres politisches Engagement seiner Bekannten. Zugleich fordert er auch von den republikanischen Parteien, sich vehementer der Aufklärung der Heranwachsenden zu widmen, um die Vereinnahmung der Jugendlichen durch die Radikalen zu verhindern und die Umsetzung einer „humanen, sozialistisch-individualistischen, tolstoi-goetheschen“98 Gesellschaft nicht zu gefährden. 1927 wiederholt Klaus Mann diesen Appell und warnt vor dem Verlust der Freiheit durch politische Gleichgültigkeit: Wir sind Mitglied einer höchst gefährdeten Gemeinschaft, wir sind Europäer – wehe uns, vernachlässigen wir hier unsere Pflicht! Dann bleiben unsere Träumereien ohne Bedeutung, unsere […] Selbstgespräche werden uninteressant, wenn wir auf dieser anderen Seite versagen. Die andere Seite ist unsere soziale Verpflichtung […] als geistiger Nachwuchs Europas. Wir sind verloren, vergessen wir sie.99
Der Gefahr des aufkommenden Faschismus bewusst klagt auch sein jüdischer Freund Hellmert in seiner Erzählung Fall Vehme Holzdorf die kriminellen Verbrechen und Morde der rechtsradikalen Parteien an.100 Während sich Klaus Mann spätestens nach dem erdrutschhaften Wahlerfolg der NSDAP im Jahr 1930 klar gegen den Nationalsozialismus101 positioniert und seinen Bekanntenkreis als nüchterne Pazifisten charakterisiert, beschreibt er die politisch rechts stehenden „Ekstatiker“ als „Hysteriker“,102 die mit ihrer „finsteren Glut“103 den Frieden gefährden. In Opposition zu diesen Eiferern fordert er von der Jugend: „Gehen wir kühler ans Werk“,104 um die Demokratie als „die vernünftigere Staatsform par excellence“105 zu verteidigen. Um so erstaunlicher erscheint es, dass sich ausgerechnet seine Freunde Ebermayer und Süskind Anfang der 1930er Jahre mit dem Nationalsozialismus nicht nur abzufinden, sondern auch zu arrangieren scheinen. Schon Ende der 1920er Jahre äußern sie ihren Wunsch aus der Suche und Wirrnis heraus Ordnung, Ruhe und eine klare Führung zu finden, worin sich auch ihre zunehmende Sympathie zu „rechtskonservativen, nationalistischen, antimodernen Strömungen“106 abzeichnet. Im Gegensatz dazu kritisiert Schlüter in seinem 1928 publizierten Artikel Beruf und Aussicht einer Jugend die Ruhe einer leicht erworbenen Ordnung, wenn mit dieser 98 Ebermayer (1924): Republik und Jugend, S. 2. 99 Klaus Mann (1927): Heute und Morgen, S. 142. 100 Nach der Machtergreifung der NSDAP flieht Hellmert nach Paris, wo er 1934 an einer Überdosis Morphium stirbt. 101 Albrecht (2009): Klaus Mann der Mittler, S. 142. 102 Klaus Mann (1930): Die Jugend und Paneuropa, S. 267. 103 Ebd., S. 269. 104 Ebd., S. 273. 105 Ebd., S. 266–270 106 Winter (2012): Generation als Strategie, S. 388.
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Ordnung ein Rückwärtsgehen und Sich-Einfügen in modernefeindliche Strukturen verbunden ist.107
Abb. 3: Herbert Schlüter, Foto: Lilienfeld Verlag
Schließlich spaltet sich die Gruppe der „tänzerischen Generation“ während der NSHerrschaft endgültig in zwei Lager. Während die einen gegen den Nationalsozialismus kämpfen und besonders den jüdischen Akteuren unter ihnen nur noch die Flucht ins Exil oder der Selbstmord möglich ist, gehen die anderen in die vermeintlich Innere Emigration.108 Süskind, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Journalist der Süddeutschen Zeitung und Herausgeber des Wörterbuch des Unmenschen als Antifaschist ausgibt, übernimmt während der NS-Herrschaft die Leitung der Zeitschrift Die Literatur. In dieser Position agiert er kaum als Opportunist, sondern als Täter, der sich aktiv an der Diffamierung der Werke seiner ehemaligen Freunde beteiligt und sich so für die Bücherverbrennungen in der NS-Diktatur als mitverantwortlich zeigt.109
107 Ebd., S. 245. 108 Knud von Harbou macht deutlich, wie sich das Konzept der Inneren Emigration oft als Lebenslüge erweist, die nur dazu dient, die während der NS-Herrschaft begangenen Taten zu verschleiern. Vgl. von Harbou (2015): Als Deutschland seine Seele retten wollte. 109 Vgl. dazu ebd., S. 81–87.
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Dagegen kämpfen Schlüter und Hellmert mit Erika und Klaus Mann für die Idee der demokratischen Gesellschaft und des freien Denkens. In mehreren Artikeln verurteilt auch Schwarzenbach das Erstarken von autoritären Regimen und Diktaturen. Außerdem finanziert sie die mit Klaus Mann gegründete antifaschistische Monatszeitung Die Sammlung mit, für die sie unterschiedliche Autor*innen divergierender Jahrgänge und Stilrichtungen wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Aldous Huxley, Leo Trotzki, Ernest Hemingway oder Else Lasker-Schüler gewinnen können. An dieser Kooperation verdeutlicht sich, wie für einige Künstler*innen im Exil und Widerstand gegen die NS-Herrschaft ehemalige Kontroversen und generationelle Differenzen an Gewicht zu verlieren scheinen. QUELLEN Ebermayer, Erich: Republik und Jugend. Berliner Tageblatt (2. Mai 1924), S. 1–2. Fehse, Willi Richard: Die Jugend antwortet. Zuschriften an die Literarische Welt. In: Die Literarische Welt 2, H. 18 (30.04.1926), S. 7. Fitzgerald, F. Scott: Diesseits vom Paradies. Zürich 2006 [1920]. Janowitz, Hans: Jazz. Bonn 1999 [1927]. Kracauer, Siegfried: Die Reise und der Tanz. Frankfurter Zeitung (15. März 1925) In: Mülder-Bach, Inka (Hrsg.): Siegfried Kracauer. Essays, Feuilletons, Rezensionen. Band 5.2. 1924–1927. Berlin 2011, S. 214–223. Kracauer, Siegfried: Die Hosenträger. Eine historische Studie. Frankfurter Zeitung (30. Oktober 1926): In: Mülder-Bach, Inka (Hrsg.): Siegfried Kracauer. Essays, Feuilletons, Rezensionen. Band 5.2 1924–1927. Berlin 2011. S. 482–485. Kracauer, Siegfried: Zur Produktion der Jungen. Bei Gelegenheit zweier Bücher von Klaus Mann. Frankfurter Zeitung (1. Mai 1932) In: Mülder-Bach, Inka (Hrsg.): Siegfried Kracauer. Essays, Feuilletons, Rezensionen. Band 5.3. 1928–1931. Berlin 2011, S. 102–108. Landshoff-Yorck, Ruth: Das Mädchen mit wenig PS. Die Dame 55, (1927/28 H. 4. Zweites Novemberheft), S. 12–13. Landshoff-Yorck, Ruth: Die Vielen und der Eine. Hrsg. von Fähnders, Walter. Berlin 2001 [1930]. Landshoff-Yorck, Ruth: Klatsch, Ruhm und kleine Feuer. Biographische Impressionen. Frankfurt am Main 1997 [1963]. Mann, Erika: Fahrt ohne Schlaf. Tempo (27. März 1931). In: von der Lühe, Irmela / Naumann, Uwe (Hrsg.): Erika Mann. Blitze überm Ozean. Aufsätze, Reden, Reportagen. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 87–89. Mann, Klaus: Der fromme Tanz. Reinbek bei Hamburg 2010 [1925]. Mann, Klaus: Unser Verhältnis zur vorherigen Generation. Uhu: das neue Ullsteinmagazin 1926. In: Naumann, Uwe / Töteberg, Michael (Hrsg.): Klaus Mann. Die neuen Eltern. Aufsätze, Reden, Kritiken 1924–1933. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 74–75. Mann, Klaus: Fragment von der Jugend. Die neue Rundschau (März 1926). In: Naumann, Uwe / Töteberg, Michael (Hrsg.): Klaus Mann. Die neuen Eltern. Aufsätze, Reden, Kritiken 1924– 1933. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 60–71. Mann, Klaus: Jüngste deutsche Autoren. Neue Schweizer Rundschau (Dezember 1926). In: Naumann, Uwe / Töteberg, Michael (Hg.): Klaus Mann. Die neuen Eltern. Aufsätze, Reden, Kritiken 1924–1933. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 100–109. Mann, Klaus: Heute und Morgen. Zur Situation des jungen geistigen Europas. In: Naumann, Uwe / Töteberg, Michael (Hrsg.): Klaus Mann. Die neuen Eltern. Aufsätze, Reden, Kritiken 1924– 1933. Reinbek bei Hamburg 1992 [1927], S. 131–152.
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ALSO SPRACH THOMAS MANN Ein konservativer Kulturkritiker als bürgerlicher Repräsentant der Demokratie? Tobias Julius Wissinger 1. ZUR EINFÜHRUNG Thomas Mann war ein konservativer Kulturkritiker. Dieser zu erläuternde Befund ist von entscheidender Bedeutung, um Thomas Manns Denken und Handeln in den ersten Jahren der Weimarer Republik verstehen und einordnen zu können. In dieser Zeit ringt er mit der neuen republikanischen Staatsform und seiner Haltung zur veränderten Realität. Dabei ist er seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs politisch interessiert und publizistisch aktiv. Um das Verhältnis von Thomas Mann zur ersten deutschen Demokratie zu ergründen, ist die nachstehend kurz skizzierte, im weiteren Verlauf ausführlichere Beantwortung der folgenden zwei Fragen von zentraler Bedeutung. War Thomas Mann ein Anhänger der Weimarer Republik? Ja, zumindest ab dem Moment, ab dem er bereit war, sich als ihr Repräsentant zu sehen und dementsprechend öffentlich zu inszenieren. Dies geschieht erst mit seinem öffentlichen Eintreten für die Republik seit den Jahren 1922/1923. Die Beschäftigung mit dem großen Themengebiet der Demokratie beginnt allerdings schon 1914 (!) und nicht erst 1918/1919. Der Zeitraum 1914–1923 muss deshalb bei Thomas Mann zusammengedacht und zusammengebracht werden. Den bis heute zuweilen in der Forschung so betrachteten und auch von vielen seiner Zeitgenossen so eingeordneten apolitischen Dekadenzautor Thomas Mann gibt es seit 1914 nicht mehr. War Thomas Mann ein überzeugter Demokrat? Nein. Und gerade deswegen ist sein Beispiel so interessant und besonders in Bezug auf konservative Entwicklungsmöglichkeiten aussagekräftig. Denn in der hier ausgemachten Gruppe von konservativen Kulturkritikern, zu der neben Thomas Mann auch Oswald Spengler und Arthur Moeller van den Bruck zählen, ist das Bekenntnis zur Demokratie Thomas Manns Alleinstellungsmerkmal.
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Das diesem Beitrag zu Grunde liegende Verständnis von Kulturkritik versteht diese im engeren Sinn als einen Reflexionsmodus der Moderne, der gegen ihre Zumutungen protestierend sich erhebt.1 Kulturkritiker beziehen und verlassen sich massiv auf ihre Erfahrungen und sprechen einzelnen Phänomenen eine Art symbolische Bedeutung für Verlustgeschichten zu. Sie agieren häufig als akademisch randständige „Dichterphilosophen“2 oder Intellektuelle. So eine Denkhaltung argumentiert stets normativ, will explizit die Wertung und umgeht eine analytische Vertiefung. Weiterhin befördert diese Denkhaltung nicht nur keine systematische Ordnung und terminologische Genauigkeit, sondern lehnt diese sogar ab. Besonders folgenreich und stilprägend für die konservative Kulturkritik ist das Phänomen Friedrich Nietzsche. Er ist der einflussreichste konservative Kulturkritiker, dessen romantisch-antikapitalistische Analysen nachhaltig wirken. Zu seiner Kulturkritik zählt auch seine wirkungsvolle Feststellung, dass ein Zurück in eine wie auch immer idealisierte Vergangenheit nicht mehr möglich ist. Diese Überzeugung gehört zur mentalen Basis eines Bildungsbürgertums, das um seine soziale Stellung und den Anspruch auf kulturelle Hegemonie besorgt ist und nichts mehr fürchtet als die machtvollste politische Maxime der Moderne: die Masse als Subjekt zu entfalten.3 Die Forderung nach demokratischen Gesellschaften ist demnach für konservative Kulturkritiker der um 1880 geborenen Generation eine grundsätzliche Herausforderung. Sowohl Thomas Mann als auch die ihm an die Seite gestellten Spengler und Moeller v. d. Bruck lesen Nietzsche ausgiebig und beziehen sich in ihrem Denken auf ihn. Dieses verbindende Leseerlebnis ist der erste wichtige Punkt, die um 1880 geborenen konservativen Kulturkritiker als einen kulturellen Typus zu verstehen. Alle drei Intellektuellen sind in diesem Sinne mit ihrem Denken maßgeblich im 19. Jahrhundert verwurzelt und haben einen tiefen Glauben an die Kraft des Geistes. Sie arbeiten nie mit etwas anderem als diesem und lehnen praktische Arbeit, zumindest für sich selbst, ab. Sie sind elitär und ihr Menschenbild ist zutiefst pessimistisch. Die Referenz für ihr Denken ist die eigene Nation. Auch der in der wilhelminischen Gesellschaft als Ideal geltende Wert der Härte prägt ihr Denken. Zusätzlich eint die drei Männer die Sehnsucht nach Ordnung, Klarheit und Hierarchie und ihr problematisches Verhältnis zum Liberalismus. Der Umstand, dass sie in eine Zeit geboren sind, in der der Liberalismus nicht nur wirtschaftlich, sondern zunehmend gesamtgesellschaftlich die Realität verkörpert, bedingt eine grundlegende Anti-Haltung. Der ablehnungswürdigen modernen Welt meinen Konservative heroisch, entschlossen und realistisch – in Abgrenzung zum „romantischen“ Schwelgen im Vergangenen – entgegentreten zu müssen.4 Die Verwendung des Typus des konservativen Kulturkritikers ist idealtypisch gedacht. Das heißt, dass Thomas Mann, Spengler und Moeller v. d. Bruck trotz 1 2 3 4
Vgl. Bollenbeck (2007): Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 10. Ebd., S. 19. Vgl. Sloterdijk (2000): Die Verachtung der Massen, S. 9. Vgl. dazu Gilbert Merlios treffende Bezeichnung des „heroischen Realismus“. Merlio (1994): Der sogenannte „heroische Realismus“, S. 271.
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ihrer Gemeinsamkeiten höchst eigensinnige Individuen sind. Die idealtypische Verengung hat allerdings den Vorteil, dass der Blick für die verschiedenen Möglichkeiten der Entwicklung geschärft wird, nachdem man die Überschneidungen im Denken und den ähnlichen Blick in die Welt aufgezeigt hat. Denn die konservative Entwicklung Thomas Manns ist eine andere als die Spenglers und Moeller v. d. Brucks. Anders als die beiden anderen konservativen Kulturkritiker bewegt sich Thomas Mann politisch auf die Weimarer Republik zu. Dabei bleibt er mit seinen Idealen und Vorstellungen fest im 19. Jahrhundert verwurzelt. In diesem Zusammenhang muss noch einmal auf das die drei konservativen Kulturkritiker verbindende Leseerlebnis Friedrich Nietzsche eingegangen werden. So sehr sich alle drei leitbildhaft an ihm orientieren, so grundsätzlich unterschiedlich und selektiv lesen sie ihn. Während Spengler und Moeller v. d. Bruck die späteren Werke Nietzsches, allen voran „Also sprach Zarathustra“, faszinieren, will Thomas Mann vom späteren Nietzsche, dem Philosophen des Übermenschen und des Willens zur Macht nichts wissen bzw. lässt diese Aspekte höchstens als innere Kämpfe Nietzsches mit sich selbst gelten. Der Kulturkritiker Thomas Mann bewundert bei Nietzsche dessen klare Sicht auf seine Umwelt und die Schärfe der Sprache, die auch vor sich selbst nicht halt macht. Nach Thomas Mann ist es im Sinne Nietzsches die Aufgabe, die auch für Thomas Mann selbst zutreffende Sympathie mit dem Tode zu überwinden. Es ist der herausragende Zeit- und Kulturkritiker Nietzsche, der Thomas Mann reizt und nicht der Repräsentant eines nur vermeintlich zukunftsweisenden philosophischen Systems, als den ihn Spengler und Moeller v. d. Bruck betrachten. 5 Sein elitäres Denken, seine Ichbezogenheit bewahren ihn in der frühen Weimarer Republik in gewisser Weise davor, sich mit der Realität einer massenpolitisierten Industrie- und Technikgesellschaft auseinandersetzen zu müssen. Es ist die mannsche Variante eines republiktreuen Konservatismus. Innerhalb der Gruppe der konservativen Kulturkritiker ist er mit dieser Entscheidung für die Demokratie ein herausragender Einzelfall. Für diese Hinwendung benötigt Thomas Mann das seit 1914 in seinen Texten stets präsente Ideal der Kulturnation, das er stetig modifiziert und weiterentwickelt, dabei an bestimmten Grundlagen jedoch festhält. Um sich diesem bei der Beschäftigung mit Thomas Mann besonders wichtigen Konzept anzunähern, ist die Auseinandersetzung mit den Betrachtungen eines Unpolitischen unerlässlich. Dieses national-konservative Selbstgespräch eines bürgerlichen Künstlers ist das Ergebnis einer mehrjährigen Suche nach Antworten auf die Herausforderungen einer Welt im Wandel während des Krieges, ihre Veröffentlichung im Herbst 1918 markiert den Übergang zu der sich konstituierenden Weimarer Republik. 5
Im Sinne Thomas Manns argumentiert auch Rolf Zimmermann, der Nietzsches durchaus progressive Züge als Kulturkritiker in seiner Zeit betont. Als ein Beispiel kann Nietzsches ablehnende Haltung gegenüber dem gängigen Nationalismus seiner Zeitgenossen genannt werden. Sein Befürworten eines verbindenden Europäertums unter elitär-autoritärer Führung belegt nach Zimmermann jedoch ebenfalls, dass Nietzsches Überlegungen zur Zeit des Ersten Weltkriegs mit den Gegebenheiten der Realität nicht mehr übereinstimmten. Vgl. Zimmermann (2018): Mit Nietzsche in die Republik, S. 279.
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2. DER KULTURKRIEGER THOMAS MANN Die scharfe Zurückweisung der seit dem Herbst 1914 veröffentlichten Kriegspublizistik Thomas Manns durch den älteren Bruder Heinrich Mann ist ein wichtiger Auslöser für den Entschluss, intensiv sich selbst und die politisch-gesellschaftliche Lage zu hinterfragen. Für diesen Teil der Betrachtungen stehen die durchaus polemischen Auslassungen über den Zivilisationsliteraten, der nach Thomas Mann als nur vermeintlicher Pazifist in Wirklichkeit auf Seiten der westlichen Zivilisation kämpft. Die große, das gesamte Werk durchziehende Frage ist jedoch, ob es die Möglichkeit gibt, dem westlichen, auf Fortschritt bauenden und mit Universalanspruch sich präsentierenden Modell eine Idee der deutschen Kulturnation gegenüberzustellen, die sich als zukunftsfähig erweist. Erst in Bezug auf die Problematik des Sich-Ausschließens von universaler Fortschrittsgläubigkeit und kulturnationalem Eigensinn wird der Bruder, aber besonders der Begriff der Zivilisation für Thomas Mann untragbar. Deshalb bedeutet für ihn Zivilisation tote Kälte und Kultur lebendige Wärme.6 Doch was kennzeichnet diesen Kulturbegriff bzw. das Ideal der Kulturnation? Die schon in Thomas Manns Kriegsessay Gedanken im Kriege auftauchende alleinige Zuordnung des Politischen zum Begriff der Zivilisation ist ein erster Hinweis. Kultur ist für ihn der positiv konnotierte Wertbegriff des Geistig-Künstlerischen, der gegenüber den Veränderungen der materiellen, voranschreitenden Zivilisation verteidigt werden muss. Kultur wird in so einer Veränderung zum Kampfbegriff. Damit dies möglich ist, muss der Begriff der Kultur an den Begriff der Zeit, nämlich die Nation gebunden werden. Um die Begriffe der Kultur und der Nation zu verknüpfen, macht sich Thomas Mann in seiner Selbsterkundung Gedanken über den Menschen in seiner Beziehung zum Staat, den er in einer anti-aristotelischen Variante nicht als primär politisch-soziales, sondern als „metaphysisches Wesen“7 auffasst. Es ist seine grundlegende anthropologische Prämisse. Was auch immer diesen metaphysischen Menschen konkret ausmacht, es ist ein grundlegend individuelles, geistiges, religiöses Erlebnis der inneren, oftmals leidenden Einkehr, das ein jeder mit sich selbst ausmacht.8 Die Geringschätzung des Menschen als soziales Wesen hat selbst von einem „Unpolitischen“ formuliert eine sehr wohl politische Stoßrichtung. Indem sie den Menschen als ein allein mit sich ringendes Individuum auffasst, ist sie gegenüber gesamtgesellschaftliche Veränderungen fordernden politischen Bestrebungen blind, bzw. kann diese aufgrund eines falschen Menschenbildes ablehnen. Damit ist Thomas Manns Menschenbild zutiefst konservativ.9 Dieses metaphysische Menschenbild gilt im besonderen Maße für den Deutschen und wird
6 7 8 9
Vgl. Wyss (1997): Trauer der Vollendung, S. 266. Mann (2009): Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 271 . Gut (2008): Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, S. 91. Ein ähnliches Menschenbild findet man bei allen konservativen Kulturkritikern, oftmals ergänzt durch den Punkt der Herrschaftsbedürftigkeit.
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dann wortwörtlich auf die Nation übertragen.10 So schreibt Thomas Mann in den Betrachtungen: Auch die Nation ist nicht nur ein soziales, sondern auch ein metaphysisches Wesen; Trägerin des Allgemeinen [...] ist [...] die Nation; und der Wert jenes durch wissenschaftliche Methoden nicht zu begreifenden, aus der organischen Tiefe des nationalen Lebens sich entwickelnden geistig-künstlerisch-religiösen Produkts, das man Nationalkultur nennt, [...] zum Unterschiede von dem, was allen Nationen gemeinsam und nur Zivilisation ist.11
Zunächst fallen hier Thomas Manns Vorbehalte gegen die moderne Wissenschaft auf. Ihr wird eine nicht rational greifbare, sondern fühlbare organische Tiefe des Empfindens gegenübergestellt. Hier präsentiert sich Thomas Mann als Kulturkritiker in Reinform. Der Clou dieser verdichteten Textstelle ist jedoch, die Nation als geistig-künstlerisch-religiöse Angelegenheit der Kultur zu titulieren. Denn da der Mensch nach Thomas Mann ein metaphysischer Einzelkämpfer ist, kann nach solch einem Verständnis niemand eine Nation besser repräsentieren als der im besonders großen Umfang geistig-künstlerisch-religiöse Tiefe besitzende Nationaldichter. Es ist die Verbindung von persönlicher Kultur als Grundlage nationaler Kultur, die Thomas Mann sich selbst die Rolle des Repräsentanten zusprechen lässt.12 Die nicht erläuterte Frage, wozu ein metaphysisches Einzelwesen die Nation überhaupt braucht, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass es für Thomas Mann keine Alternative zum im Staat organisiert lebenden Menschen gibt.13 In diesem Zusammenhang greift Thomas Mann bezeichnenderweise auf den Begriff der für den Staat wichtigen Politik zurück. So lehnt er den Berufspolitiker zwar weiterhin ab, führt aber den auf ihn selbst zugeschnittenen Typus des geistigen Politikers, „belles-lettresPolitiker, den Politiker als Literaten und den Literaten als Politiker [...]“14 ein. Der Literat als französisch parlierender Politiker kann als Thomas Manns persönliches Einstimmen auf die kommende Zeit der Zivilisation verstanden werden. Zuletzt gilt es in Bezug auf die zitierte Passage der Betrachtungen festzuhalten, dass Thomas Mann bei allem Pathos der national-kulturellen Besonderheit auch hier noch an einer gemeinsamen zivilisatorischen Grundlage festhält. Der elitär-nationale Dichter ist demnach auch in dieser Selbsterkundungsphase der Betrachtungen nicht gewillt, die verbindenden Brücken zur europäischen Zivilisation einzureißen. Vor diesem Hintergrund ist zu erwähnen, dass Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen voller Beispiele sind, die sich mit der Zukunftsfähigkeit eines zwar nationalen, aber in Bezug auf 1914 demobilisierten Kulturideals beschäftigen. Den Aspekt der Demobilisierung erkennt man im Abrücken von dem in Gedanken im Kriege erfolgten ideellen Anschluss des Künstlers an den Soldaten. Dieser Ansatz taucht in den Betrachtungen nicht mehr auf. Weiterhin gilt zu betonen, dass 10 11 12 13
Vgl. Gut (2008): Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, S. 92. Mann (2009): Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 271 . Vgl. Gut (2008): Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, S. 49. Zumindest als theoretisch zu durchdringende Idee interessierte der Staat Thomas Mann nie. Vgl. ebd., S. 94. 14 Mann (2009): Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 253.
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das nationale Kulturideal stets den Bezug zu seinen mannigfaltigen europäischen Ursprüngen wahrt. In den Betrachtungen heißt es hierzu: [...] Die Gegensätze, welche die innere Einheitlichkeit und Geschlossenheit der großen europäischen Gemeinschaften lockern und in Frage stellen, sind im Großen und Ganzen überall die gleichen: sie sind im Grunde europäisch: doch [...] in Deutschlands Seele werden die geistigen Gegensätze Europas ausgetragen [...].15
So präsentiert er sich nur kurz nach seinen sich am Krieg berauschenden Essays als entwicklungsbereiter Konservativer, der in den Betrachtungen einem Konservatismus der „unsterblichen Prinzipien“ seinen „seelischen Konservatismus“ entgegenstellt. Wegen ihrer Prägnanz und Wichtigkeit soll diese die Begriffe enthaltende Textstelle zitiert werden: Wie immer es heute um die geistige Widerstandskraft Deutschlands stehe: im Jahre 1914 hatte es den Glauben, daß die westlichen Ideen noch die führenden, revolutionären seien, als Aberglauben erkannt; es war durchdrungen davon, daß Fortschritt, Modernität, Jugend, Genie, Neuheit auf deutscher Seite seien; es glaubte mit Händen zu greifen, daß, im Vergleich mit dem Konservatismus der ‚unsterblichen Prinzipien‘, sein eigener seelischer Konservatismus etwas wahrhaft Revolutionäres bedeute.16
Die von Thomas Mann angewandte Spaltung des Konservatismus ist deshalb von so einschneidender Bedeutung, da sie, von einem Konservativen selbst vollzogen, die Möglichkeit aufzeigt, einem Konservatismus die Treue zu halten, der den „Ideen von 1914“ verpflichtet bleibt und der sich, auch wenn der Erste Weltkrieg verloren geht, entwicklungsfähig und in die Zukunft gerichtet präsentiert.17 Ein weiteres Beispiel dieser in die Zukunft gerichteten Grundhaltung ist die Definition von Bürgerlichkeit als „human, urban, kosmopolitisch und bürgerlich gebildet“.18 Der nach dreijährigem Ringen mit sich selbst sich am Ende in den Betrachtungen präsentierende „seelische Konservatismus“ mannscher Prägung kann in seiner Viererkombination deutsch, bürgerlich, Künstler, Ironie wie eine politische Programmatik gedeutet werden. Die Ironie, verstanden als antiradikale Fähigkeit mit Widersprüchen zu leben, wird im Folgenden als zentraler Kampfbegriff in der innerkonservativen Auseinandersetzung um eine Positionierung zur Weimarer Republik eine wichtige Rolle spielen.19 Die Akzeptanz einer nach dem Grundsatz der gleichen, allgemeinen und freien Wahl gewählten parlamentarischen Volksvertretung 15 Ebd., S. 59,60. 16 Ebd., S. 383. 17 Die konservativen Zeitgenossen Max Weber und Friedrich Meinecke lösen sich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs vom „Augusterlebnis“ und den „Ideen von 1914“ und bestreiten politisch gesehen einen Weg nach Westen. Sie bekennen sich zur Demobilisierung der Nation und zur Demokratie. 18 Vgl. Nordalm (2006): „Die Demokratie“, S. 264. 19 Völlig ironiefrei sind hingegen die während der Kriegsjahre entstandenen Werke Spenglers der Untergang des Abendlandes und Moeller v. d. Brucks Der preußische Stil (Spengler (1923): Untergang; Moeller (1916): Stil). Eine Gemeinsamkeit, die die drei konservativen Kulturkritiker während des Kriegs allerdings teilen, ist das zurückgezogen-ernste, sich selbst isolierende Brüten am jeweiligen Schreibtisch.
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wird seine Hinwendung zu einem zeitgemäßen, die Ordnung aufrechterhaltenden politischen System bedeuten. Ein Umstand, der Thomas Mann diesen Schritt sicherlich erleichtert, ist die Tatsache, dass der Platz des Repräsentanten der Kulturnation in der zu gründenden Weimarer Republik noch zu vergeben war. Weiterhin wichtig an dem hier ausgemachten „seelischen Konservatismus“ ist, dass dieser Thomas Mann von einem politischen Standpunkt aus schon zur Kriegszeit und vor den Umbrüchen des Oktober/November 1918 auf die Demokratie als politisches System vorbereitet. Dieser „opportunistische Wille zur deutschen Demokratie“20 geht auch auf die Einsicht zurück, dass „ohne Demokratie in der Welt keine Geschäfte mehr zu machen sind, daß man sich anglisieren muss [...]“.21 Thomas Mann ist in den Betrachtungen demnach immer mehr als ein die moderne Welt verneinender Kulturpessimist. Er präsentiert sich vielmehr als politisch interessierter, sich positionierender Bürgerlicher, als ein zivilisationskritischer Streiter für die Kultur, der von einem tief moralisch durchdrungenen Politik- bzw. Geschichtsstandpunkt aus in der Lage sein wird, die Weimarer Republik zu prägen. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass dieser „opportunistische Wille zur deutschen Demokratie“ aus Thomas Mann jedoch bei weitem keinen überzeugten Demokraten macht. So schreibt er an einer Stelle über die mit Demokratie gleichgesetzte Politik: „Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand.“22 In diesen Abwehrworten zeigt sich allerdings mehr als eine reaktionäre Abwehrhaltung gegenüber einer kommenden Zeit. Thomas Mann präsentiert hier eine konservative Trias aus unbedingten, zu erfüllenden Grundsätzen, auf denen ein zukünftig demokratischer deutscher Staat aufbauen muss. Trotz allem sind viele Äußerungen der Kriegsjahre überspitzte Übertreibungen und unsägliche Fehlurteile. Alle Dialektik in Ehren, aber das Ausmachen einer „nicht humanitären Humanität“23 ist letztlich Ausdruck von kriegsverherrlichenden Worthülsen, die den Autor als jemanden entlarven, der aufgrund von nur vermeintlich nationalistischen Zwängen die Materie nicht beherrscht.24 Der Kern, die Idee einer national gedachten Kulturnation gegen eine Unterschiede nivellierende, mit der Entente assoziierte Universalzivilisation zu verteidigen, ist jedoch im Krieg und auch danach weiterhin ein Ideal, für das Thomas Mann eintritt. Die Weimarer Republik als Fortsetzung der nationalstaatlichen Idee bietet ihm die Möglichkeit, diese Version des in der europäischen Geschichte eine lange Tradition habenden Kampfes zwischen einer imperialen Universalidee und der Forderung nach Eigenständigkeit fortzuführen. Mit gewisser Berechtigung sind die Betrachtungen dann auch als 20 21 22 23 24
Mann (2009): Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 394. Ebd., S. 394. Koester (1996): Kultur versus Zivilisation, S. 257. Mann (2009): Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 497. Eine „nicht humanitäre Humanität“ ist letztendlich sinnfrei. Zu einer eindeutig nationalistischen Konsequenz ist Thomas Mann nicht bereit und schlingert in den Betrachtungen zwischen nationalem Bekenntnis und der Wahrung bzw. dem Integrieren von Idealen, die die gesamte Menschheit einschließen. Der sich als Nationaldichter sehende Thomas Mann ist am Ende ohne Bezüge zur Weltliteratur nicht vorstellbar.
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Betonung der stetigen Notwendigkeit von Vielfalt in der Suche nach europäischer Einheit anzusehen; bei Thomas Mann ist es eine vor allem geistig-literarische Einheit, die mit der politischen Realität Europas sowohl bei Kriegsbeginn als auch nach dem Ersten Weltkrieg wenig zu tun hat. 25 Insgesamt betrachtet ist die Erkenntnis, dass humanitäres Pathos wunderbar mit imperialem Streben einhergehen kann, jedoch einer der hellsichtigen Punkte in den Betrachtungen. 3. THOMAS MANNS BEKENNTNIS ZUR WEIMARER REPUBLIK Nach der Veröffentlichung der Betrachtungen erlebt Thomas Mann die Umbruchzeit 1918/1919 in München. Die Ausrufung einer sozialistischen Räterepublik begleitet er in den erhaltenen Tagebucheintragungen im April 1919 in einer Mischung aus niedergeschriebenen politischen Fehleinschätzungen und einer bemerkenswerten Gelassenheit. So sinniert er über die ihm realistisch erscheinende Möglichkeit eines Separatfriedens mit den USA.26 Zusätzlich meint er an den Münchner Ereignissen ausmachen zu können, dass der Kapitalismus insgesamt (!) „gerichtet ist“.27 In solch einem Beispiel erkennt man den gegen die Einheitszivilisation hier als Synonym für den Westen gebraucht– und nichts repräsentiert diese besser als der Kapitalismus – protestierenden Bürger, den für den Moment nicht einmal die zeitweilig geschlossenen Banken beunruhigen.28 Statt sich zu sorgen, kauft er ein „Veilchenparfüm [...], das sehr angenehm ist“.29 Doch womit hängt diese Unbedarftheit bei einem bürgerlichen Autor, der regelmäßig seine Einnahmen auflistet, zusammen? Der ganz einfache Grund ist, dass er nicht an das Bestehen der Räterepublik glaubt; eine Meinung, die auch in den täglich von ihm gelesenen Zeitungsberichten bestätigt wird. „Daß die letzte Revolution noch aussteht“,30 ist in diesem Zusammenhang der zentrale Satz und auch Thomas Mann ist davon überzeugt.
25 So standen sich im Ersten Weltkrieg Europas Intellektuelle in einem von Polemik geprägten Gespräch feindlich gegenüber. Dabei war nationale Loyalität bzw. der Antrieb, diese öffentlich zu bekunden, zuvorderst die stärkste Antriebskraft für die intellektuelle Konfrontation. Zum geistigen Klima bei Kriegsausbruch vgl. u.a. Zimmermann (2017): Ankommen in der Republik, S.22. Am Beispiel der sich im Ersten Weltkrieg als antagonistische Kontrahenten präsentierenden Brüder Heinrich und Thomas Mann wird allerdings deutlich, dass sich 1914 nicht nur verfeindete Staaten, sondern ebenfalls konkurrierende bzw. gegensätzliche Gesellschaftsentwürfe im Widerstreit befanden. In einer Kurzvariante lässt sich festhalten, dass während des Ersten Weltkriegs Heinrich Mann als Repräsentant des individualistischen Gesellschaftsideals, Thomas Mann hingegen als Repräsentant des durch feststehende Verbundenheit charakterisierten Gemeinschaftsideals verstanden werden muss. 26 Mann (2013): Eintrag vom 10.04.1919, S. 193. 27 Ebd.: Eintrag vom 07.04.1919, S. 188. 28 Ebd.: Eintrag vom 08.04.1918, S. 189–190. 29 Ebd., S. 190. 30 Ebd., S. 191.
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Dass allerdings der Kapp-Putsch diese Revolution für Thomas Mann nicht sein kann – „Kapp mißfällt mir sehr“31 – wird in seinem Tagebuch deutlich. Dieser mit militärischer Gewalt verbundene politische Putschversuch ist weder „sachlich“ noch „anständig“. Thomas Mann sieht vielmehr die Gefahr für sein Ideal eines geistigen Einwirkens auf die Gesellschaft und hofft, dass „die konservative Idee nicht kompromittiert ist“.32 Doch nimmt diese aufgrund der massiven Verstrickung von Teilen der konservativen Generalität durchaus Schaden. Auch Thomas Mann hat einen Beitrag an der krisenhaften Situation der politischen Ordnung nach der Reichstagswahl im Juni 1920. Denn an dieser Wahl, bei der die Regierungsparteien massive Stimmenverluste hinnehmen, beteiligt er sich nicht. Das Nicht-Wahrnehmen der Stimmabgabe bedeutet, die antirepublikanischen Parteien indirekt zu unterstützen. Hier zeigt sich das tiefergehende Dilemma eines Mannes, der sich berufen fühlt, zu repräsentieren, dem es aber schwerfällt, sein elitär-geistiges Ideal der Kulturnation mit der Demokratie zu verbinden. Es geht für den konservativen Kulturkritiker Thomas Mann in den Jahren 1920–1922 erneut darum, über sein Ideal einer geistigen Kulturnation nachzudenken und sein eigenes Profil als Repräsentant zu schärfen. Das Ergebnis dieser Reflexionen sind Essays, die sich mit der Bedeutung russischer Denker für Thomas Mann beschäftigen. Exemplarisch soll es um das Essay Goethe und Tolstoi gehen. Es ist eine politische Bekenntnisschrift zur deutschen Kulturnation in Abgrenzung zum nachrevolutionären Russland. In der für Thomas Mann typischen Vorgehensweise widmet er sich mit Johann Wolfgang von Goethe und Lew Tolstoi zwei „großen Männern“, um diese Dichter und Denker als Erzieher der jeweiligen Nation zu präsentieren.33 Aufschlussreich ist, wie er am Beispiel Goethes sich selbst als zeitgemäße Version ins Spiel bringt. Denn nach Thomas Mann ist es die autobiographische, das eigene Ich ins Zentrum rückende Kunst, die sozial und damit politisch wirkt. Diese Aussage ist durchaus radikal, da ihr zufolge das beispielhafte Leben eines Einzelnen, im Gegensatz zu einer allgemeinen politischen Lehre, tatsächlich gesellschaftsverändernde Relevanz erlangt. In der Emphase des Besonderen bzw. Individuellen zeigt sich Thomas Mann als Konservativer par excellence. Denn seit der Französischen Revolution ist die Betonung des Einzigartigen in Abgrenzung zu rationalistischer Regelhaftigkeit und Verallgemeinerung ein konservativer Grundtopos.34 Das Mittel, das dem Dichter zur Verfügung steht, ist das „eroserfüllte und menschenverbindende Kulturmittel der Sprache“.35 Hier bringt sich der Sprachkünstler Thomas Mann als Repräsentant in eine Position, in der er aufgrund seines Könnens politisch wirken kann. Die angestrebte deutsche Kulturnation – der Staat wird in diesem Essay nicht thematisiert – ist „europäisch, das heißt begabt mit dem Sinn für Gliederung, Ordnung, 31 32 33 34 35
Ebd.: Eintrag vom 13.03.1920, S. 397. Ebd.: Eintrag vom 15.03.1920, S. 399. Vgl. Mann (2002): Goethe und Tolstoi, S. 394–395. Vgl. Dupeux (1994): Kulturpessimismus, S. 289. Mann (2002): Goethe und Tolstoi, S. 395.
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Maß und bürgerlich [...]“,36 dabei aber ohne „radikal-rationalistische Entnatürlichung“.37 Dass der Schriftsteller Thomas Mann sich selbst in dieser idealtypischen Version die Kulturnation als Sache der Ordnung imaginiert, ist bemerkenswert. Trotz europäischer Anbindung ist die national abgrenzende Position weiter vorhanden. Es ist jetzt das Russland seit der Oktoberrevolution – dafür gebraucht er bei aller Hochachtung für den Schriftsteller Tolstoi die extrem selektive Interpretation der pädagogischen Ideen Tolstois als „anti-westlich, antifortschrittlich“,38 als „Asiatismus“39 – von dem Thomas Mann sich vehement abgrenzt. Das ist definitiv eine veränderte politische Haltung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass er die Betrachtungen, deren letzte Seiten er parallel zu den Verhandlungen über den Frieden von Brest-Litowsk geschrieben hatte, mit Aussagen wie der folgenden beendet: „Friede mit Rußland! Friede zuerst mit ihm!“40 Der Auslöser für Thomas Mann, sich endgültig und eindeutig zur Weimarer Republik zu bekennen, ist die Ermordung Walther Rathenaus. Die Rede Von deutscher Republik aus dem Jahr 1922 steht für seine endgültige Festlegung, sich als konservativ-intellektueller Repräsentant zu ihr zu bekennen. Nach Thomas Mann muss die Republik als „Schicksal“ angenommen werden. In der mit einem Vorwort veröffentlichten schriftlichen Version Von deutscher Republik heißt es hierzu: Ich habe die ‚Republik‘ nicht von 1918, von 1914 habe ich sie datiert. Damals, in der Stunde todbereiten Aufbruchs, habe sie in den Herzen der Jugend sich hergestellt! [...] – [...] wie ich ja denn überhaupt die Republik nicht habe hochleben lassen, bevor ich sie definiert hatte – nicht als etwas, was sei, sondern als etwas, was zu schaffen sei. Der Versuch aber, [...] zu dieser notwendigen Schöpfung geistig beizutragen und einem unseligen Staatswesen, das keine Bürger hat, etwas wie Idee, Seele, Lebensgeist einzuflößen – verdient, wie mir auch nach hundert Nackenschlägen noch scheinen will, keinen Schimpf.41
Es ist Thomas Manns Wille zur Repräsentanz einer deutschen Republik, deren Bezugsjahr er konsequenterweise weiterhin auf das Jahr 1914 terminiert, die ihm den Weg zum öffentlichen Bekenntnis ebnet. Angesichts der Ermordung Rathenaus ist es die Gewalt, die ihn abschreckt.42 Die für ihn immanent wichtige Ordnung sieht er in Gefahr. Daher gilt es im Sinne der Erhaltung der Ordnung, diese mit bürgerlichem Geist zu versehen. Aber die Rede enthält noch einen weiteren wichtigen Punkt. Sie setzt die entscheidende Zäsur mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs und betont die seitdem gewahrte Kontinuität. Solch eine Haltung, die die Meinungshoheit über das „Augusterlebnis“ und die „Ideen von 1914“ für sich in Anspruch nimmt, ist eine Kampfansage an die politische Rechte, da sie sich auf die gleichen sinnstiftenden Bilder stützt. Das Entscheidende ist, dass Thomas Mann zurecht und mit Überzeugung diese Kontinuität betonende Position vertreten kann. Er ist es, der 36 37 38 39 40 41 42
Ebd., S. 420. Ebd., S. 420. Ebd., S. 404. Ebd., S. 406. Mann (2009): Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 638. Mann (2002): Vorwort zu Von deutscher Republik, S. 585. Vgl. Gut (2008): Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, S. 154.
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als der nationale, den Krieg bejahende, mit der Demokratie als politisches System hadernde Konservative einer starken konservativen Rechten entschieden entgegentritt. Seine Rede beendet er mit folgender knapper, aber eindeutiger Aussage: „Es lebe die Republik!“43 Das ist in dieser öffentlichen Variante, bei aller Kontinuitätsbetonung, nach den Jahren 1920–1921 eine entscheidende Entwicklung. Damit steht diese Rede für den öffentlichkeitswirksamen Bruch mit all den Konservativen, die die Zeit gekommen sehen, um Revolution zu machen. Thomas Manns essayistisches Glanzstück folgt allerdings noch im Jahr 1923 mit der Gedenkrede auf Rathenau. Diese ist in vielfacher Hinsicht eindringlicher und in ihrer Kürze prägnanter und klarer als die Rede Von deutscher Republik. Sie ist es in Bezug auf Thomas Manns politische Positionierung, in Bezug auf sein Ideal einer deutschen Kulturnation und auf seine persönliche Entwicklung seit 1914. Nach der anfänglichen Würdigung Rathenaus leitet Thomas Mann seine Ansprache mit einem Verweis auf das eigene Ringen mit dem republikanischen Prinzip ein.44 Weiterhin gibt er zu, dass er seinen Bildungsbegriff, den er bisher als individualistischen antipolitischen Begriff vehement verteidigt hatte, korrigieren muss.45 Doch wie sieht diese Modifizierung aus? Dafür erweitert Thomas Mann sein Verständnis der Kulturnation. So lautet der zentrale Satz: „Die Republik, das ist, [...] die Einheit von Staat und Kultur.“46 Als ob er sich der Brisanz seiner Worte bewusst gewesen wäre, schreibt er die neue Einheit in kursiven Lettern. Das Anerkennen der Notwendigkeit, die Kultur, die nach Thomas Mann bisher ausschließlich eine Sache der Intellektuellen gewesen war, an ein politisches Gemeinwesen zu binden, steht für eine entscheidende politische Entwicklung. Denn so einen Gedanken hatte er nicht einmal während der kriegsbejahenden Weltkriegszeit zugelassen. Es ist ein Humanitätsbegriff, der die Möglichkeit menschlichen und nicht allein nationalen Fortschritts beinhaltet, der Thomas Mann die Hinwendung zur politischen Wirklichkeit ermöglicht, ohne auf das geistige Ideal der Kultur zu verzichten. Die Republik ist demnach für Thomas Mann als politische Humanität eine Synthese der Kulturnation und des Staates. Und er ist im Rückgriff auf den Essay Goethe und Tolstoi der vorgesehene Erzieher. In diesem Zusammenhang rückt die Jugend ins Blickfeld seiner Betrachtung. Denn sie ist es, die zunehmend das Ende des bürgerlichen Zeitalters fordert.47 Die Gefahr für das nach Thomas Mann zu verhindernde Ende der bürgerlichen Epoche bezeichnet er als „industriell-militaristischen Imperialismus“48 – genau diese Zukunft ist es, für die Spengler und auch Moeller v. d. Bruck eintreten.49 Diesem 43 44 45 46 47 48 49
Mann (2002): Vorwort zu Von deutscher Republik, S. 559. Vgl. Mann (2002): Gedenkrede auf Rathenau, S. 678. Vgl. ebd., S. 679. Ebd., S. 678. Vgl. ebd., S. 684. Ebd., S. 684. Beide veröffentlichen schon 1919 Schriften, die ein nach ihren Überzeugungen zeitgemäßes Preußenbild zeichnen. Sowohl in Spenglers Preußentum und Sozialismus als auch in Moeller
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Denken begegnet er, indem er „das Dritte Reich einer religiösen Humanität“50 verkündet. Zunächst zeigt die Verwendung des Begriffs des Dritten Reichs Thomas Manns Bekenntnis zur Weimarer Republik vor seinem ideell konservativen Hintergrund, da der Begriff seit Jahren zum Wortschatz konservativer Kreise gehört. Der im Sinne der Ordnung zu schützenden, mit Geist und Literatur zu stützenden Demokratie begegnet er immer noch mit Argwohn, aber – und das ist entscheidend – er unterstützt sie. Vor dem Hintergrund des innerkonservativen Kampfes um die Deutungshoheit der Begriffe ist seine Verwendung bemerkenswert. Denn es ist das Jahr 1923, in dem Moeller v. d. Bruck ein Werk mit dem Titel Das Dritte Reich veröffentlicht.51 Thomas Mann ist nicht bereit, seinen Gegnern das Wort zu überlassen. 4. FAZIT Abschließend lässt sich festhalten, dass für einen stets nach Ordnung strebenden Konservativen die Hinwendung zur Weimarer Republik eine beachtliche persönliche und politische Entwicklung ist. Denn man kann die Moderne insgesamt, wie Moeller v. d. Bruck und Spengler, als fehlgeleitet betrachtend ablehnen und in einer Eindeutigkeit Lösungen präsentieren, die, indem sie die gegebene Komplexität negieren, radikal einfache, absolute Antworten geben. Beide formulieren und publizieren in den frühen 1920er Jahren autoritäre Systemalternativen. Thomas Mann ist hingegen bereit, sein geistig-elitäres Denken auf eine Zeit, die Pluralismus fordert, einzustellen. Er lässt sich auf die Demokratie ein, ohne Demokrat zu werden. Der entscheidende Unterschied ist demnach nicht primär die politische Ausrichtung, mit der man der Zeit begegnet, sondern die Fähigkeit, ihre Vielseitigkeit auszuhalten. Thomas Manns Bekenntnis zur Demokratie ist auch ein Tribut an ein neues Zeitalter. Die Demokratie, das jetzt von ihm favorisierte politische System, ist eine Antwort auf die Herausforderungen einer differenzierten und massenpolitisierten Gesellschaft. Wie aktiv er den Kampf um Deutungshoheit in solch einer massenpolitisierten Gesellschaft auch nach dem Ende der Weimarer Republik mit Worten führen wird und wie kreativ und eigenwillig er sich dabei weiterhin Begriffe aneignet, dafür soll ein abschließendes Zitat angeführt werden.52 Im Schweizer Exil spricht Thomas Mann 1935 anlässlich seines 60. Geburtstags folgende Sätze: Wirklich hat das Wort ‚konservativ‘ seine Bedeutung gegen früher verändert. Mehr als ehemals ist es mit der Idee der Kultur verbunden, und wer sich heute konservativ nennt, meint damit
v. d. Brucks Das Recht der jungen Völker soll ein nationaler Sozialismus die Probleme der modernen Gesellschaft lösen (Moeller (1919): Recht; Spengler (1923): Preußentum). 50 Mann (2002): Gedenkrede auf Rathenau, S. 685. 51 Sowohl Moeller v. d. Brucks Das Dritte Reich als auch Spenglers 1924 veröffentlichte Schrift Neubau des deutschen Reichs propagieren Varianten des nationalen Führerstaats (Moeller (1923): Reich; Spengler (1924): Neubau). 52 Ein weiterer Beleg für diese Eigensinnigkeit Manns ist der Versuch sich im Jahr 1933 den Sozialismus-Begriff anzueignen. Vgl. hierzu Elsbach (2019): Reichsbanner, S.543.
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nicht, daß er alte, wohl gar feudale Einrichtungen und Ordnungen erhalten oder wieder zurückrufen will: im Gegenteil, man kann sehr demokratisch, sozial, ja revolutionär gesonnen sein und dabei konservativ in dem Sinn, daß man den Geist selbst, die Kultur, das männlich freie und selbständige Denken, das innere Leben der Nation zu erhalten wünscht und es zu verteidigen gesonnen ist gegen die Verödung und Verblödung durch den neuen Massengeist mit allen seinen bedrohlichen Folgen von Verdummung, Verrohung und Verknechtung.53
Als konservativer Kulturkritiker, als zivilisationskritischer Streiter für die immer noch national zu verstehende Kultur präsentiert sich Thomas Mann auch hier. Und zwar als einer, der sehr eindeutig die Begriffe konservativ und Demokratie zusammendenkt. Will man den späteren politischen Emigranten der 1930er und 1940er Jahre, den wortgewaltigen Gegner des Nationalsozialismus ergründen, muss man den seit 1914 Position beziehenden bürgerlichen Künstler miteinbeziehen. Denn in dieser Zeit lassen sich zentrale Prägungen eines Intellektuellen ausmachen, der nach einigem Anlauf in der Weimarer Republik die Kulturnation an den Staat bindet, um, und das ist besonders wichtig, dieses Kulturnationsideal dem nationalsozialistischen Staat wortmächtig wieder zu entziehen. Thomas Manns Idee der Kulturnation wird in den 1930er Jahren wieder zur literarisch-sprachgewaltigen Utopie im Exil. Die Anbindung der Idee der Kulturnation an den Staat ist bei Thomas Mann exklusiv auf die Zeit der Weimarer Republik beschränkt. Dies ist auch in Bezug auf die Akzeptanz sowie sein Bekenntnis zur Demokratie als zeitgemäße Staats- und Gesellschaftsform Teil einer außergewöhnlichen Entwicklung eines Konservativen der um das Jahr 1880 geborenen Generation. Diese Entwicklung macht Thomas Mann zu einem Anhänger der Weimarer Republik, zu einem Befürworter der Demokratie, ohne deshalb jemals ein überzeugter Demokrat zu werden. QUELLEN Mann, Klaus: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Reinbek 2006. Mann, Thomas: Gedanken im Kriege, in: Kurzke, Hermann (Hrsg.): Essays II. 1914–1926, Frankfurt am Main 2002. Mann, Thomas: Gedenkrede auf Rathenau, in: Kurzke, Hermann (Hrsg.): Essays II. 1914–1926, Frankfurt am Main 2002. Mann, Thomas: Goethe und Tolstoi, in: Kurzke, Hermann (Hrsg.): Essays II. 1914–1926, Frankfurt am Main 2002. Mann, Thomas: Von deutscher Republik, in: Kurzke, Hermann (Hrsg.): Essays II. 1914–1926, Frankfurt am Main 2002. Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Kurzke, Hermann (Hrsg.): Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Frankfurt am Main 2009, (Bd. 13.1). Mann, Thomas: Danksagung bei der Feier des sechszigsten Geburtstages, in: Über mich selbst. Autobiographische Schriften, Frankfurt am Main 2010. Mann, Thomas: Tagebücher 1918–1921, in: de Mendelssohn, Peter (Hrsg.): Frankfurt am Main 2013. Moeller van den Bruck, Arthur: Der preußische Stil, München 1916.
53 Mann (2010): Über mich selbst, S. 439.
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Moeller van den Bruck, Arthur: Das Recht der jungen Völker, München 1919. Moeller van den Bruck, Arthur: Das dritte Reich, Berlin 1923. Spengler, Oswald: Preußentum und Sozialismus, München 1919. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1923, (Bd. 1). Spengler, Oswald: Neubau des deutschen Reiches, München 1924.
LITERATUR Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders, München 2007. Dupeux, Louis: Kulturpessimismus, Konservative Revolution und Modernität, in: Gangl, Manfred und Raulet, Gérard (Hrsg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Darmstadt 1994, S. 287–299. Elsbach, Sebastian: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik, Stuttgart 2019. Gut, Philipp: Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, Frankfurt am Main 2008. Koester, Eckart: Kultur versus Zivilisation. Thomas Manns Kriegspublizistik als weltanschaulichästhetische Standortsuche, in: Mommsen, Wolfgang J. (Hrsg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 250–258. Merlio, Gilbert: Der sogenannte „heroische Realismus“ als Grundhaltung des Weimarer Neokonservatismus, in: Gangl, Manfred und Raulet, Gérard (Hrsg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Darmstadt 1994, S. 271–285. Nordalm, Jens: „Die Demokratie. Wir haben sie ja schon.“ Thomas Manns Bewegung zur Republik in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“, in: Kapp, Volker u.a. (Hrsg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Berlin 2006, S. 253–276 (Bd. 47). Wyss, Beat: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik, Köln 1997. Zimmermann, Rolf: Ankommen in der Republik. Thomas Mann, Nietzsche und die Demokratie, Freiburg 2017. Zimmermann, Rolf: Mit Nietzsche in die Republik: Thomas Mann als Wortgeber und Kritiker der „konservativen Revolution“, in Kaufmann, Sebastian und Sommer, Andreas Urs (Hrsg.): Nietzsche und die Konservative Revolution, Berlin 2018, S.245–282.
DER MILITANTE JOURNALIST UND ARCHIVAR WALTER GYSSLING Simon Sax / Sebastian Elsbach Die Last des Kampfes gegen Hitler und dessen Partei wurde vor 1933 nicht nur von eher prominenten Zeitgenossen wie Carl von Ossietzky getragen, sondern vor allem auch von zahlreichen (durchaus außergewöhnlichen) „Routinearbeitern“, von den Frauen und Männer in der „zweiten Reihe“ der republikanischen Organisationen und Parteien. Dieser Umstand ist bislang weder in der Wissenschaft noch der öffentlichen Erinnerungskultur angemessen gewürdigt worden. Walter Gyssling (ab 1929/30 SPD) war einer dieser unbekannten „Routinearbeiter“. Als Journalist und Archivar des Büros Wilhelmstraße (BW) trug er zum Kampf gegen die NSDAP bei und musste dabei sogar gegen die Leitung seiner Partei anarbeiten. Über das Leben Walter Gysslings und insbesondere seine Tätigkeit für das BW, das 1929 vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.)1 als Reaktion auf den Aufstieg der NSDAP gegründet wurde, sind in deutschen Archiven praktisch keine aussagekräftigen Quellen enthalten, was insbesondere daran liegt, dass die Mitarbeiter die Unterlagen des BW im Zuge der Machtübergabe zerstörten – kompromittierendes Material sollte nicht in die Hände der neuen Herren im Land gelangen.2 Dass daher hierzulande keine Untersuchungen zu Gyssling vorliegen und nicht einmal ein Wikipedia-Artikel über ihn verfasst wurde, erscheint da fast schon folgerichtig.3 Erst wenn man den Blick auf außerdeutsche Archive weitet, wird das Bild von Gysslings Leben klarer. So war es den Historikern Arnold Paucker und Leonidas E. Hill möglich auf Basis von autobiographischen Quellen des Leo-Baeck-Institutes (LBI) London und der Harvard Library, Gysslings Wirken im Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus näher zu beleuchten. Während 1
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Der C.V. war die größte jüdische Organisation in der Weimarer Republik. Während des Ersten Weltkrieges hatte der C.V. zwischen 35.000 und 38.000 Mitglieder, bis 1924 stieg diese Zahl auf 72.500 an. Rechnet man den korporativen Eintritt (kleiner) Gemeinden, die insgesamt 200.000 Angehörige umfassten, hinzu, so stand beinahe die Hälfte der jüdischen Bevölkerung dem C.V. nahe, dazu Barkai (2002): Wehr dich, S. 120; Weigel (2012): Centralverein. Laut Volkszählung vom Juni 1925 lebten 564.379 Juden im Reichsgebiet, dazu Liepach (1996): Das Wahlverhalten, S. 71. Ein Nachlass Gysslings ist nicht vorhanden. Es existiert lediglich ein kleinerer Bestand zum Verband deutscher Journalisten in der Emigration, in dem sich Gyssling engagierte, aber (wenig überraschend) keine relevanten Informationen zu Gysslings Wirken in der Weimarer Republik enthält. Eine erfreuliche Ausnahme bildet ein jüngst im Werk von Wolfgang Benz zum deutschen Widerstand erschienener kurzer Abschnitt, siehe Benz (2018): Im Widerstand, S. 34–35.
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Paucker bereits in den 1960er Jahren die Arbeit des BW untersuchte und Gysslings zentrale Rolle unterstrich,4 konnte Hill 2003 eine Synthese der autobiographischen Notizen Gysslings publizieren, die aus erster Hand einen Einblick in dessen Abwehrarbeit bietet und eine wichtige Grundlage für den folgenden Aufsatz bildet.5 1. EIN VERNACHLÄSSIGTER FORSCHUNGSGEGENSTAND: JOURNALISTEN ALS FRÜHE GEGNER UND WARNER Neben der spärlichen Quellensituation mögen insbesondere zwei Faktoren dazu beigetragen haben, dass Walter Gyssling von der historischen Forschung kaum beachtet wurde. Gyssling war ein früher und sehr entschiedener Gegner des Nationalsozialismus, was nicht recht zur unmittelbaren deutschen Nachkriegsgeschichtsschreibung passte.6 Neben der frühen Gegnerschaft ist es die Zugehörigkeit Gysslings zur journalistischen Berufsgruppe, die wenig zur wissenschaftlichen Aufarbeitung seiner Biographie beigetragen haben dürfte. Denn erstens ist festzuhalten, „daß alle möglichen Berufsgruppen ihre Geschichtsschreibung haben, nicht aber die Journalisten“.7 Mag diese Lücke in der Geschichtswissenschaft inzwischen erkannt worden sein, so ist in „der Kommunikationswissenschaft der ‚Trend zur Biografie‘ noch nicht wirklich (wieder) angekommen.“8 Zweitens: Unterzieht man die vorliegenden Journalistenbiographien einem kritischen Blick, so ist festzustellen, dass sich viele Arbeiten „der Fürstengeschichte der großen Publizisten“ zuordnen lassen, hingegen die Geschichte „der journalistischen Routinearbeiter“ nur in kleinen Ausschnitten thematisiert wird.9 Die Forschung orientiert „sich vor allem am Redakteur als dem professionellen Leittypus“.10 Diesem Elitejournalismus ist Walter Gyssling nicht zuzuordnen: 1903 in eine protestantisch-bürgerliche Familie in München hineingeboren, musste er 1923 das Studium der Rechtswissenschaft und Nationalökonomie aufgeben – die Inflation hatte das Familienvermögen aufgezehrt. Nach dem Abbruch des Studiums und 4 5
Paucker (1969): Abwehrkampf. Gyßling (2003): Mein Leben. Leonidas E. Hill verwendet zum einen ein Manuskript aus der Harvard Library, es wurde 1940 von Gyssling im Rahmen eines Wettbewerbs eingereicht bei dem er den dritten Platz errang, siehe zu diesem Wettbewerb und dem Manuskript Liebersohn / Schneider (2001): My life in Germany. Zum anderen verwendet Hill einen zweiten Bericht, der in London lagert und 1962 von Gyssling auf Anfrage des LBI verfasst wurde. Heute wird er aufbewahrt in: Wiener Library, Walter Gyssling, Propaganda gegen die NSDAP in den Jahren 1929–1933. 6 Hill (2003): Walter Gyßling, S. 44. 7 Gebhardt (2007): Hans Tröbst, S. 11; siehe dazu auch Langenbucher (2008): Biographische Blindheit. 8 Behmer / Kinnebrock (2009): Biografismus, S. 220–221; hierzu zuletzt auch Koenen / Sax (2019): Biographien, S. 16–17. 9 Hömberg (1987): Kärrner und Könige, S. 627. 10 Gebhardt (2007): Hans Tröbst, S. 12; hierzu zuletzt auch Koenen (2019): Erich Everth, S. 76; Koenen / Sax (2019): Biographien, S. 18–19.
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einer kurzen Aushilfstätigkeit als Bankangestellter volontierte er bei der Allgemeinen Zeitung in München. Es folgte der Wechsel als Redakteur zum Süddeutschen Zeitungsdienst, einem Korrespondenzbüro, für das er u.a. die von verschiedenen Zeitungen abgedruckte Romanbibliothek Das Sonntagsbuch redaktionell betreute. Später bekleidete Gyssling dort den Posten des Chefs vom Dienst. Im Januar 1928 verpflichtete er sich als Chefredakteur bei den Regensburger Neuesten Nachrichten. Diese Anstellung fand ein abruptes Ende, als die DDP nach der Reichstagswahl im Mai 1928 die Zeitung nicht mehr subventionieren konnte – den neuen Geldgebern aus dem rechten Lager war der seit seiner Jugendzeit linksliberale Gyssling ein Dorn im Auge.11 Indes sollte der Posten des Chefredakteurs nicht als Indiz für einen Elitejournalismus gewertet werden: Zwei Redakteure und zwei Volontäre waren Gyssling in Regensburg unterstellt – und das in einer Regionalzeitung.12 Diese stellten den Großteil der im Stichjahr 1921 beinahe dreieinhalbtausend Tageszeitungen umfassenden Presselandschaft der Weimarer Republik.13 Im vorliegenden Beitrag nicht den Ansatz eines Elitejournalismus zu verfolgen, sondern den einer „konstitutiv kontextsensiblen Sozialbiographik“,14 bedeutet auch, transparent zu machen, dass Gyssling in eine Reihe früher journalistischer Gegner des NS und Warner vor der wachsenden Gefahr gestellt werden muss – die wiederum oft das Schicksal des Vergessens teilen. Sind Namen wie Theodor Wolff, Georg Bernhard, Ernst Feder, Leopold Schwarzschild, Hellmut von Gerlach, Kurt Tucholsky und der einleitend bereits genannte Carl von Ossietzky bekannt und erforscht, so fristete etwa Fritz Gerlich bis zum Erscheinen seiner Biographie 2016 ein Nischendasein im historischen Gedächtnis.15 Als konservativer Katholik verließ der ehemalige Chefredakteur der Münchner Neuesten Nachrichten mit seiner seit 1930 erschienen Zeitschrift Der gerade Weg selbigen nicht. Er charakterisierte den Nationalsozialismus als „Lüge, Hass, Brudermord und grenzenlose Not“, wurde 1933 in „Schutzhaft“ genommen und im Zuge der Röhm-Putsch-Inszenierung ins KZ Dachau deportiert und ermordet.16 Ähnlich unbekannt ist der Journalist und Zeitungswissenschaftler Erich Everth. Als Sonderberichterstatter für die Vossische Zeitung erkannte er schon 1923 als Beobachter des ersten sogenannten Reichsparteitags „die Lieblingsvorstellungen der Nationalsozialisten: gegen Juden und Sozialdemokraten, für Terror und Diktatur.“17 Als Zeitungswissenschaftler wandte er sich dann im Februar 1933 auf dem Kongress „Das Freie Wort“ „dagegen, daß die Presse durch Ausnahmegesetze vogelfrei gemacht werde.“18 Entsprechend seiner oppositionellen Haltung wurde Everth – Lehrstuhlinhaber an der Universität Leip 11 Diese vorangegangene biographische Skizze stützt sich auf Gyßling (2003): Mein Leben; Hill (2003): Walter Gyßling; Röder / Strauss (1980): Biographisches Handbuch, S. 257–258. 12 Gyßling (2003): Mein Leben, S. 87–89. 13 Koenen (2019): Erich Everth, S. 217. 14 Koenen / Sax (2019): Biographien, S. 20. 15 Morsey (2016): Fritz Gerlich. 16 Benz (2018): Im Widerstand, S. 46–47. 17 Everth, zit. nach Koenen (2019): Erich Everth, S. 264. 18 Der Deutsche, 21.02.1933, zit. nach Koenen (2019): Erich Everth, S. 564.
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zig – im September 1933 in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, im Juni 1934 erlag er einer Krankheit.19 Zwar nicht so unbekannt, aber trotzdem kaum erforscht, ist Konrad Heiden. Immerhin: 2016 legte der Welt-Herausgeber Stefan Aust die erste Biographie über diesen „Feind der Nazis“ vor, der von 1923 bis 1929 im Münchner Korrespondenzbüro der Frankfurter Zeitung wirkte und schon 1932 seine Pionierarbeit „Geschichte des Nationalsozialismus“ veröffentlichte.20 In dieser Reihe der vernachlässigten Journalisten der Weimarer Republik darf auch Artur Schweriner nicht fehlen, der wie Walter Gyssling Erfahrungen in Zeitungsredaktionen gesammelt hatte, als C.V.-Funktionär wirkte und gegen die NSDAP publizistisch tätig war.21 Walter Gyssling sticht in diesem Kontext der frühen Warner gleichwohl hervor. So schrieb der C.V.-Syndikus Hans Reichmann in der Retrospektive, Gyssling dürfe „neben Konrad Heiden als der beste Kenner der nationalsozialistischen Bewegung vor 1933 gelten.“22 Doch was zeichnete Gysslings „Abwehr“-Arbeit aus? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir auf Gysslings Engagement im C.V. zurückblicken. 2. WALTER GYSSLINGS ANFÄNGE BEIM C.V. 1893 gegründet, trat der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens dem modernen Antisemitismus der Kaiserzeit mit dem Diktum: „Wir sind Deutsche! Auf deutschen Boden sind wir geboren, auf deutschen Boden werden wir dereinst, so Gott will, begraben werden […]“ entgegen.23 Die Aktivisten des C.V. charakterisierten die sogenannte Judenfrage vornehmlich als „eine Rechtsfrage“;24 dementsprechend nahm die juristische Bekämpfung des Antisemitismus eine zentrale Stellung im Konzept der „Abwehr“ (so das paradigmatische Schlagwort der Zeit) ein.25 Zwar firmierte bereits im Kaiserreich das kommunikative, auf die Vernunft zielende Einwirken auf Nichtjuden (z.B. durch Vorträge und Flugschriften) im C.V. als „Apologetik“,26 eine bedeutsame Stellung ein. Im Konzept des C.V. erlangte Abwehr-Kommunikation jedoch erst in der Zwischenkriegszeit eine zentrale Rolle.27 Arnold Paucker urteilt: Der maßgeblich vom C.V. – auch medial – geführte „Abwehrkampf“ in der Weimarer Republik zeichne „das Bild eines 19 Koenen (2019): Erich Everth, S. 571–579. 20 Aust (2016): Hitlers erster Feind. Von inhaltlichen Mängeln des Buchs soll an dieser Stelle abgesehen werden, siehe z.B. Roth (2017): Wer erzählt hier u. Uptrup (2017): S. Aust; Markus Roth: „Wer erzählt hier eigentlich?“, taz, 27.06.0217, online unter: taz.de/Stefan-Austs-Biografie-zu-Konrad-Heiden/!5420961/ [12.03.2020]. 21 Hartmann / Simon (2019): Jüdischer Kämpfer. 22 Reichmann (1962): Sturm, S. 566. 23 Eugen Fuchs: Rückblick auf die zehnjährige Tätigkeit, Im deutschen Reich, März 1903. 24 L. Victor: Unsre Stellung, Im deutschen Reich, Juli 1895, hier S. 6. 25 Barkai (2002): Wehr dich, S. 29–35. 26 Barkai (2002): Wehr dich, S. 35–48. 27 Siehe z.B. Barkai (2002): Wehr dich, S. 101; 185–204 u. Alfred Wiener, Die „C.V.-Zeitung“, C.V.-Zeitung, 5.3.1926, hier S. 114.
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Rückzugsgefechts, das die deutsche Judenheit ehrenvoll gekämpft hat“.28 Gleichwohl herrschte bis zum Ende der 1920er Jahre in der C.V.-Zeitung ein auf publizistische Deeskalation abzielender Ton vor. So hieß es etwa in einem programmatischen Aufsatz von Alfred Wiener über den idealtypischen Beiträger zur C.V.-Zeitung: Dazu muß er würdig und taktvoll die Feder führen. Wir dulden keine Schimpfereien. Wir halten den persönlichen Kampf aus unserer Zeitung unbedingt fern. Wir wollen kein völkisches Radaublatt nachahmen. Wir kreuzen unsere Klingen am liebsten mit dem ehrlich überzeugten hochstehenden Gegner und nicht mit dem armseligen Schächer und üblen Schreier der Gasse, des Revolverblattes, der Hetzversammlung. Wir wissen, daß auch in der völkischen Bewegung mancher guter Wille, manches ehrliche Streben, manche echte, aber irregeleitete vaterländische Begeisterung steckt und nicht immer alles so überheblich, so ungezügelt, so brutal ist, wie es so oft, von außen gesehen, den Anschein hat. Mit den Trägern einer ehrlich und würdig vertretenen gegnerischen Weltanschauung rechten wir gern.29
Walter Gyssling sollte sich in seinen Schriften deutlich von diesem gewissermaßen ‚klassischen‘ Anspruch Wieners entfernen. Als Gyssling im Jahr 1928 vom C.V. in Berlin angestellt wurde, arbeitete er dort zunächst in der Funktion eines Berichterstatters. Er reiste durch die Weimarer Republik und sollte die „soziale Basis der Hitlerbewegung“ ergründen; dabei habe auch die Überlegung eine Rolle gespielt, das gesammelte Material möge „Analogieschlüsse auf sozial ähnlich zusammengesetzte Nachbargebiete“ zulassen; es wurde „zum Teil in Artikeln der C.V.-Zeitung zum Teil in vertraulichen Memoranden verarbeitet.“30 Beispielhaft sei eine Station seiner Reisen herausgegriffen, die Gyssling sowohl in seinen autobiographischen Aufzeichnungen als auch in einem Artikel der Zeitung beschreibt, geschehen in Coburg: Die fränkische Stadt gilt für die Zeit der Weimarer Republik als „Braune Keimzelle“,31 als „Experimentier-Kammer für das Dritte Reich“.32 Anlässlich des deutschvölkischen „Deutschen Tags“ im Oktober 1922 marschierte Hitler mit 650 SA-Männern in die Stadt ein. Nach der Veranstaltung gründete sich eine Ortsgruppe der NSDAP in Coburg und es kam zu wiederholten Gewalttaten durch die SA. Nach den Kommunalwahlen am 8. Dezember 1928 besetzte die Coburger NSDAP zum ersten Mal die absolute Mehrheit der Sitze in einem Stadtrat. Im Oktober 1931 stellte sie schließlich zum ersten Mal den Bürgermeister, der auf Korruption basierend „quasi diktatorisch herrschte“.33 Im Januar 1929 machte die C.V.Zeitung mit einer Titelgeschichte über Coburg auf.34 Der anonym veröffentlichte 28 Siehe allgemein zum jüdischen Abwehrkampf Paucker (1969): Abwehrkampf, S. 110–128, hier S. 144. 29 Wiener, Alfred: Die „C.V.-Zeitung“, C.V.-Zeitung, 5.3.1926, hier S. 114. 30 Gyßling (2003): Mein Leben, S. 90; 95. 31 Hellmuth Vensky: Braune Keimzelle, Zeit-Online, 25.06.2009, online unter www.zeit.de/online/2009/26/nazis-coburg/komplettansicht [13.03.2020]. 32 Brigitte Baetz: Coburg und der Nationalsozialismus, Deutschlandfunk, 08.02.2019, online: www.deutschlandfunkkultur.de/coburg-und-der-nationalsozialismus-eine-stadtals.3720.de.html?dram:article_id=436947 [13.03.2020]. 33 Albrecht (2006): Deutscher Tag; Hoser (2007): Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. 34 [Walter Gyssling]: Koburg, C.V.-Zeitung, 25.01.1929.
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Artikel ist zweifellos Walter Gyssling zuzuordnen, decken sich die dort ausgebreiteten Schilderungen doch mit seinen niedergeschriebenen Erinnerungen.35 In der C.V.-Zeitung konnte also die Leserschaft Anfang 1929 erfahren, dass die „geschäftliche Boykottpropaganda der Völkischen“ in Coburg „langsam aber sicher“ Wirkung zeige; dass „Juden aus den verschiedensten Vereinen, Kriegervereinen und eine Zeitlang namentlich aus Sportvereinen hinausgeekelt“ wurden; dass „die jüdischen Schüler der Mittelschulen Koburgs […] unter völkischen Hänseleien und zuweilen auch Rüpeleien […] ihrer nicht-jüdischen Kameraden zu leiden“ hatten. „Ebenso unerfreulich“ habe „es in der Umgebung Koburgs“ ausgesehen.36 Welche Ursachen für das „erschreckende Anschwellen der völkischen Bewegung im Koburger Gebiet“ macht Gyssling aus? Für das rurale Umland identifiziert er in der C.V.-Zeitung die „Heimarbeiterschaft […], die gewerkschaftlich wenig oder gar nicht diszipliniert“ gewesen sei, als „den Nährboden für manche radikaloppositionelle ja utopistische Bewegungen“.37 In seinen Erinnerungen führt Walter Gyssling dazu genauer aus: In diesen Heimarbeiterfamilien herrschte zumeist fast unvorstellbares Elend. Oft in einem einzigen Raum lebend, wohnend, essend, arbeitend und schlafend, waren diese acht- bis zehnköpfigen Familien vom frühen Morgen bis tief in die Nacht mit dem Schnitzen, Polieren, Glätten und Lackieren von Holzspielwaren beschäftigt. Vater, Mutter, alle Kinder bis zu den vierjährigen hinunter und womöglich noch die Großeltern, verfallene Greisengestalten, auf deren Antlitz Hunger, Alkohol und die ewige Not tiefe Spuren hinterlassen hatten. […] Diese Heimarbeiter fühlten sich bezeichnenderweise nicht als Arbeiter, sondern als Mittelständler, der jeweilige Familienvater wachte eifersüchtig darüber, daß er mit „Herr Fabrikant“ angeredet wurde, wenn auch seine Fabrik nie etwas anderes war als das einzige Zimmer seiner Familie […].38
Der Berichterstatter des C.V. besuchte auch Versammlungen der NSDAP, die auf die Beeinflussung der Heimarbeiterschaft zielten: Ich war auf eine gediegene Portion sozialer Demagogie gefaßt und daher sehr erstaunt, als sich die Redner mit sozialen Fragen so gut wie überhaupt nicht befaßten, sondern ihre Werbereden hauptsächlich mit betont antisemitischen Redensarten und leidenschaftlichen nationalistischen Ausbrüchen bestritten. „An Eurem Elend sind schuld der Friede von Versailles, die Juden, die Revolution, die Demokratie, die Linksparteien. Die nationale Erhebung Deutschlands wird auch Euch von Eurer Not befreien!“ – das war auf eine kurze Formel gebracht der Inhalt ihrer in derb volkstümlichen Ton gehaltenen Reden.39
Mit Blick auf das Stadtgebiet Coburgs beschreibt Gyssling in der C.V.-Zeitung andere Gründe für den Erfolg der Nationalsozialisten. Die judenfeindliche Gesinnung der gesellschaftlichen Eliten – in diesem Fall des ehemals regierenden Herzogs Carl Eduard aus dem Fürstenhaus Sachsen-Coburg und Gotha – habe entschieden das 35 36 37 38 39
Gyßling (2003): Mein Leben, S. 90–94. [Walter Gyssling]: Koburg, C.V.-Zeitung, 25.01.1929, hier S. 45. [Walter Gyssling]: Koburg, C.V.-Zeitung, 25.01.1929, hier S. 45. Gyßling (2003): Mein Leben, S. 90–91. Gyßling (2003): Mein Leben, S. 91.
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„Emporblühen der Hakenkreuzlerbewegung […] gefördert“.40 Dazu schreibt Gyssling in seinen autobiographischen Aufzeichnungen ausführlicher: Wer den Hof hatte, hatte die Stadt, deren gesellschaftliche Oberschicht dem Hof entweder interessenmäßig oder dank ihres sozialen Geltungsbedürfnisses verbunden war. Nicht mehr bei Hof empfangen werden, das kam in Coburg dem gesellschaftlichen Tod gleich. Und da sowohl Karl Eduard wie seine Gemahlin den Nazis zugetan waren, ihr Sohn, der Erbprinz Leopold sogar SA-Führer und als solcher ein übler Rowdy war, der aktiv an der Plünderung jüdischer Villen im Jahre 1923 teilgenommen hatte, war Coburg eben nationalsozialistisch.41
Neben der pauperistischen Heimarbeiterschaft und dem Eliten-orientierten Bürgertum nennt Gyssling im Organ des C.V. generell die propagandistischen Aktivitäten der Nationalsozialisten und des deutschnational orientierten Stahlhelms als einflussreichen Faktor für den wachsenden Antisemitismus und den Erfolg der völkischen Bewegung. Einerseits seien es Versammlungsöffentlichkeiten gewesen, die die Sturmtrupps „Sonntag für Sonntag“ mobilisierten: Mit „Musikkapellen [zogen sie] auf die Dörfer und in die kleinen Marktflecken und kämpften mit aufpeitschenden Reden und mit Musik um die Seelen der Bevölkerung.“ Andererseits habe „ein in Neustadt b. Koburg erscheinendes übles völkisches Wochenblatt“ – der Weckruf – dem Erfolg der Antisemiten Vorschub geleistet. „Woche für Woche“ habe das Blatt „die schwersten Verleumdungen gegen die Juden im allgemeinen und oft […] persönliche Angriffe auf die jüdische Bevölkerungsteile“ im Besonderen verbreitet.42 Solche Bemühungen von Seiten Gysslings bereicherten die Arbeit des C.V. um eine seltener eingenommene Perspektive. In seinen Berichten herrschte kein belehrend appellativer Ton vor, mit dem auch der politische Gegner oder Indifferente adressiert werden, etwa indem die inneren Widersprüche der NS-Ideologie offengelegt werden.43 Vielmehr geht es Gyssling im Coburger Fall um die soziologisch unterfütterte Analyse des Erfolges der NSDAP, die wiederum als Basis für die weitere „Abwehr“-Arbeit dienen kann. 3. DER „ARCHIVAR“ IM BÜRO WILHELMSTRAßE Den Beobachtungen Walter Gysslings zufolge, hatten die Antisemiten auf dem Gebiet der politischen Kommunikation aufgerüstet. Doch auch im C.V. nahmen unter den Vorzeichen der durch Massenmedien und Versammlungsöffentlichkeit-en geprägten Demokratie von Weimar Diskussionen um Kommunikationsstrategien an Fahrt auf; idealtypisch standen sich, wie oben bereits am Beispiel Wieners 40 41 42 43
[Walter Gyssling]: Koburg, C.V.-Zeitung, 25.01.1929, hier S. 45. Gyßling (2003): Mein Leben, S. 92. [Walter Gyssling]: Koburg, C.V.-Zeitung, 25.01.1929, hier S. 45. Siehe etwa die Beiträge zum Schwerpunktteil „Die völkische Bewegung“. In: C.V.-Zeitung, 05.03.1926, S. 121–132, wo von meist akademisch Gebildeten oder Parlamentariern verschiedene Aspekte der NS-„Weltanschauung“, also bestimmte Ideologeme oder politische Konzepte, behandelt werden und lediglich im Beitrag von Otto Nuschke das konkrete taktische Vorgehen der NSDAP dargelegt wird.
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veranschaulicht, ein aufklärerischer, auf Sachlichkeit bauender und ein auf die Emotionen des Publikums zielender Ansatz gegenüber.44 Zugleich ging mit der Zunahme von unselbstständigen Arbeitsverhältnissen unter den C.V.-Mitgliedern und dem Einzug einer jungen Generation von C.V.-Funktionären – gegenüber älteren, liberalen Entscheidungsträgern – eine Stärkung sozialdemokratischer Stimmen im C.V. einher.45 Es waren u.a. diese beiden Entwicklungen, die die Weichen für die Gründung des Büros Wilhelmstraße Ende 1929 stellten. Konkret war es dann die antisemitische Propaganda gegen jüdische Warenhausbesitzer, die, so erklärt es Arnold Paucker in seinem Buch zum „jüdischen Abwehrkampf“, zur Etablierung des Büros führte.46 Einige der als „Warehäusler“ diffamierten Geschäftsleute hatten erhebliche Geldspenden zum Zweck der vom C.V. betriebenen Abwehr aufgebracht – jedoch geknüpft an die Bedingung, der C.V. solle mit den dadurch finanzierten Aktivitäten nicht in Verbindung gebracht werden können. Diesem Wunsch folgend bezogen die Mitarbeiter der neu eingerichteten Stelle unter der Leitung des damals stellvertretenden C.V.-Syndikus Hans Reichmann Ende 1929 ihre vom Sitz des C.V. getrennten Büroräume im Berliner Regierungsviertel.47 Dort betrieben sie ein halbwegs getarnt arbeitendes Dokumentations- und Propagandabüro, dessen Unternehmungen sich gegen die Hakenkreuzler richteten.48 Als Mitarbeiter des BW seien genannt: Hans Reichmann als eigentlicher Leiter, Adolf Rubinstein – oder Stone, wie er sich nach seiner Flucht aus Deutschland nannte – als Hilfsarchivar und Max Brunzlow als Titular-Chef. Bisweilen beschäftigte das Büro auch den Journalisten Heinz Eisgruber und den Zeichner Fritz Wolff.49 Adolf Rubinstein erinnerte sich außerdem, dass ein Lehrer namens Fedder zuweilen als Beobachter nationalsozialistischer Veranstaltungen eingesetzt worden sei und als weitere Hilfskraft nennt er einen Herrn Gumpert.50 Indes war Walter Gyssling der Herr über die Akten.51 Ihm oblag die umfangreiche Sammlung von Dokumenten zu den – auch antisemitisch motivierten – Umtrieben der NSDAP, die er und seine Mitarbeiter in fünf Abteilungen archivierten: 44 Siehe z.B. Barkai (2002): Wehr dich, S. 101; 185–204; siehe für zwei paradigmatische Debattenbeiträge: (1) den aufklärerischen, auf Sachlichkeit zielende Standpunkt Ludwig Holländers: Aufklärung und immer wieder Aufklärung, C.V.-Zeitung, 05.03.1926; (2) den auf Emotionen zielenden Ansatz Artur Schweriners: Massenwirkung im politischen Kampfe, C.V.-Zeitung, 17.01.1924. Die Gegenüberstellung dieser beiden Artikel spitzt Idealtypen zu, tatsächlich führte der C.V. seit Anbeginn seines Bestehens mit Blick auf mediale Abwehrmaßnahmen einen vielschichtigen Diskurs, siehe Enzenbach (2015): Kennwort Gummi, S. 211. 45 Barkai (2002): Wehr dich, S. 195; Paucker (1969): Abwehrkampf, S. 49–53; 112. 46 Diese und die folgenden Ausführungen zur Entstehung des Büros Wilhelmstraße wurden in Teilen entnommen aus: Sax (2019): Flugschriften. 47 Gyßling (2003): Mein Leben, S. 103–105; Paucker, Abwehrkampf, 1968, S. 110–114. 48 Paucker, Abwehrkampf, 1968, S. 113–114. 49 Gyßling (2003): Mein Leben, S. 110; Paucker, Abwehrkampf, 1968, S. 114. Siehe zu Reichmann auch: Reichmann (1998): Deutscher Bürger. 50 LBI New York, AR 5225, Adolf Rubinstein, In Defense of Jewish Resistors, Bl. 1–2. 51 Reichmann (1962): Sturm, S. 566.
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Abteilung 1: „Stellung der NSDAP zu sämtlichen Fragen des öffentlichen Lebens im nationalen und internationalen Ausmaß“; Abteilung 2: „Verhältnis der Nationalsozialisten zu den anderen deutschen Parteien und Massenorganisationen“; Abteilung 3: „Antisemitische Agitation der Nationalsozialisten“; Abteilung 4: „Exzesse, Rohheitsakte und kriminelle Anschläge“ durch Nazis; Abteilung 5: „Material über den gegen die Nationalsozialisten geführten Kampf“; außerdem: ein „Personalarchiv über sämtliche Führer und Unterführer“ der NS-Bewegung.52 Die im letztgenannten Posten enthaltenen Dossiers umfassten praktisch alle wichtigeren Funktionäre der NSDAP, deren nicht selten strafrechtlich relevante oder unmoralische Handlungen benannt wurden. Die Palette der erwiesenen Vergehen reichte von Mord, Körperverletzung, Veruntreuung, Diebstahl, Vergewaltigung, sexuellem Missbrauch von Kindern, erzwungener Abtreibung bis hin zu Fällen von Ordensschwindel.53 Über den Umfang des eingestampften Archivs existieren variierende Angaben. Walter Gyssling gibt an, 1933 habe „das Archiv rund 500.000 einzelne Archivstücke, Zeitungsausschnitte, Broschüren, Berichte usw.“ umfasst.54 Laut Hans Reichmann „zählte [es] 200.000 Nummern“.55 Ungeachtet dieser Differenz zeugt noch heute der Anti-Nazi, ein Handbuch im Kampf gegen die NSDAP, wie es im Untertitel heißt, von dem umfangreichen einschlägigen Wissen, dass sein Herausgeber Gyssling und das Büro Wilhelmstraße kumulierten. Bis zur vierten Auflage 1932 wuchs diese Handreichung für antinazistische Diskussionsredner auf 180 Seiten an.56 Zählt man die Quellenangaben im Anti-Nazi aus, erfährt man, dass ihr Herausgeber auf ca. 110 Periodika zurückgriff. Das deckt sich auch mit der Aussage Adolf Rubinsteins. Seine Aufgabe sei es gewesen, täglich 100 Zeitungen zu lesen und alle Abschnitte über Aktivitäten und Mitglieder der NSDAP zu markieren.57 Die gesammelten Dokumente teilte das Büro Wilhelmstraße mit anderen prorepublikanischen Organisationen und Parteien. So versicherte Gyssling Lothar Erdmann, dem Schriftleiter des gewerkschaftlichen Theorieorgans Die Arbeit, in einem Brief, „dass […] das Spezialarchiv […] jederzeit auch bereit und in der Lage“ sei, „Auskunft über alle den Nationalsozialismus betreffende Fragen unentgeltlich zu erteilen.“58 In den Erinnerungen Adolf Rubinsteins heißt es, vereinzelt hätten hochrangige republikanische Persönlichkeiten das Büro Wilhelmstraße besucht, so etwa 52 53 54 55 56 57 58
Gyßling (2003): Mein Leben, S. 105–106. Auf Basis dieser Informationen entstand u.a. Klotz (1931): Ehrenrangliste. Gyßling (2003): Mein Leben, S. 106. Reichmann (1962): Sturm, S. 567. Hill (2003): Walter Gyßling, S. 43. LBI New York, AR 5225, Adolf Rubinstein, In Defense of Jewish Resistors, Bl. 1. BArch, NS 26/936, Walter Gyssling an Lothar Erdmann, 11.07.1932. Vgl. zur Korrespondenz von Erdmann und Gyssling: Fischer (2004): Lothar Erdmann, S. 170.
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Otto Hörsing (SPD), der Vorsitzende des sozialdemokratisch dominierten aber prinzipiell überparteilichen Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold.59 Es wundert demnach nicht, dass das Material des Archivs für eine Reihe von Anti-NS-Publikationen Verwendung fand, die vom Reichsbanner und anderen Organisationen zu Hunderttausenden verbreitet wurden.60 Anders als seine Archivtätigkeit vielleicht suggeriert, war Walter Gyssling offenbar kein ruhiger und friedliebender Zeitgenosse. Als aktives Mitglied des Reichsbanners gehörte er zu den militanten Verteidigern der Weimarer Republik,61 aber im Gegensatz zu seinen Vereinskameraden, die sich mit Wehrsport, Geländeübungen und Schießtraining auf ihren Widerstand gegen die Nationalsozialisten vorbereiteten, konzentrierte er sich auf die publizistische Seite des Kampfes. Denn wie die Erwähnung des Anti-Nazis bereits andeutet, begnügte sich das BW nicht damit, Material über antisemitische Äußerungen von Nationalsozialisten zu sammeln und anderen Organisationen zur Verfügung zu stellen. Es wurde selbst auf dem Felder der politisch-kommunikativen Auseinandersetzung tätig. Zu einer der ersten neuartigen Publikationen des BW zählte die Flugschrift Das wahre Gesicht des Nationalsozialismus, die 1929 vom stellvertretenden Syndikus des C.V. Alfred Hirschberg verfasst und unter der Schirmherrschaft des Reichsbanners publiziert wurde. Inhaltlich nahm die Schrift spätere umfassendere Publikationen, wie das von Gyssling mit verfasste Handbuch Der Anti-Nazi, vorweg. Hirschbergs Broschüre beschränkte sich nicht auf eine theoretische Widerlegung des Nationalsozialismus, die wohl nur eine kleine Minderheit hätte in ihrer Haltung zur NSDAP beeinflussen können, sondern er lieferte auch zahlreiche Beispiele von Fehlverhalten seitens lokaler oder prominenter NS-Führer. Zum Kerninhalt der Broschüre gehörte ebenfalls eine Auseinandersetzung mit dem NS-Antisemitismus, der als Bedrohung nicht nur für die deutschen Juden, sondern für den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt dargestellt wurde. Die Nationalsozialisten würden versuchen, die Definitionshoheit darüber zu erlangen, wer zur Nation und dem Staatsvolk gehöre, um den Juden, ihren politischen Gegnern und potentiell allen Bürgern ihre Rechte zu rauben.62 Auch in allen übrigen Aspekten wurde die NSDAP nicht allein als Bedrohung für eine bestimmte soziale oder religiöse Gruppe, sondern vielmehr für die Republik und Nation als Ganzes beschrieben. Dies entsprach der überparteilichen Haltung des C.V. und des Reichsbanners.63 Es fällt auf, wie in ein und derselben Broschüre unterschiedliche Propagandaansätze kombiniert werden. Den eher 59 LBI New York, AR 5225, Adolf Rubinstein, In Defense of Jewish Resistors, Bl. 2. 60 So basierten Anti-NS-Publikationen des Reichsbannermannes Helmut Klotz teilweise auf Material des BW, siehe Lindner (1998): Klotz, S. 289f. Auf das vom C.V.-Funktionär und Reichsbanner-Mitglied Artur Schweriner redaktionell betreute Blatt Alarm wird an anderer Stelle näher eingegangen, siehe Hartmann / Simon (2019): Jüdischer Kämpfer. 61 Elsbach (2019): Reichsbanner, S. 421. 62 Vgl. Hirschberg (1929): Gesicht, S. 12ff. Ähnliche Ausführungen in: Gyßling (2003): Mein Leben, S. 321–325. Als Fortsetzung der Broschüre wurde vom Reichsbanner „Die Partei der Phrase“ herausgegeben, siehe Reichsbanner (1930): Phrase. 63 Zur überparteilichen Haltung des C.V. siehe etwa Alfred Wiener: Die „C.V.-Zeitung“, C.V.Zeitung, 05.03.1926, hier S. 114.
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sachlich gehaltenen Darlegungen zur NS-Theorie folgen empörende Beschreibungen über die verbrecherische Praxis der Nationalsozialisten. Ein aggressives Vorwort von Otto Hörsing rahmt die Ausführungen ein. Darin charakterisiert er die NSDAP als „undeutsche Volksseuche“, deren Bekämpfung eine Pflicht für jeden echten Patrioten sei.64 4. KAMPF IN DER GASSE Das Abgleiten in einen teils aggressiven Sprachstil gehörte also zu einer neuen Strategie im Umgang mit dem NS, die auch Gyssling verfolgte, und neben dem AntiNazi noch stärker in anderen Publikationen des BW Verwendung fand.65 Das bisher übliche „intellektuelle Paradieren mit Zitaten und Gegenzitaten“66 begnüge sich damit, dem Gegner Widersprüche nachzuweisen. Das lehnte Gyssling ab. Solches Material werde nur von Gesinnungsfreunden gelesen, während NS-Sympathisanten es ungelesen wegwerfen würden. Somit folgte das BW seit Ende 1929 – insbesondere, aber nicht ausschließlich – dem auf die Emotionen des Publikums zielenden Ansatz der Abwehr. Demgemäß nennt Gyssling den ab 1932 gemeinsam mit dem Reichstagsabgeordneten Carlo Mierendorff (SPD) in Erscheinung tretenden Mikrobiologen sowie Propagandatheoretiker und -praktiker der Eisernen Front Sergej Tschachotin als Stichwortgeber für die Arbeit des BW.67 In ihrer 1932 vom Reichsbanner verlegten Broschüre Grundlagen und Formen politischer Propaganda benannten Tschachotin und Mierendorff die grundlegende Prämisse ihrer Arbeit: Die Haupterkenntnis lautet: Heute spielt bei der Mehrzahl der Menschen im politischen Kampf das Gefühlsmäßige eine größere Rolle als das Denkmäßige, das kühl Abwägende, das rein logische. Das ist bei der heutigen Wirtschaftslage auch psychologisch bedingt. Aus dieser Grunderkenntnis ist zu folgern, daß bei einer richtig aufgezogenen Propaganda alle Triebe der menschlichen Seele ins Spiel gezogen werden müssen.68
Eine Unterhaltung Hans Reichsmanns mit Sergej Tschachotin, so beschreibt es Walter Gyssling, habe zu „eingehenden Aussprachen unter den Mitarbeitern des“ BW geführt, die sodann den Ansatz des Mikrobiologen unterstützten.69 Gyssling selbst nahm an einer Versammlungen teil, die sich „auf […] die von Professor Tschakotin empfohlenen Methoden“ stützte und teilte die Überzeugung, das Eindringen „in die Gefühlssphäre der Masse“ zeitige propagandistische Erfolge.70 64 Vgl. Hirschberg (1929): Gesicht, S. S. 5f. Ähnliche Argumentation in: Gyßling (2003): Mein Leben, S. 325f. Ausführlicher hierzu Elsbach (2019): Reichsbanner, S. S. 383–386. 65 Gyßling (2003): Mein Leben, S. 108–119. 66 Gyßling (2003): Mein Leben, S. 109. 67 Siehe zu Tschachotin und Mierendorff z.B. Albrecht (1986): Symbolkrieg; Averbeck-Lietz (2017): Persuasive Kommunikation. 68 Tschachotin / Mierendorff (1932): Propaganda, S. 4. 69 Gyßling (2003): Mein Leben, S. 130. 70 Gyßling (2003): Mein Leben, S. 116–119; siehe zum Zusammenhang zwischen Gyssling, BW, Reichsbanner, Tschachotin und Mierendorff auch Hill (2003): Walter Gyßling, S. 24–25.
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Ein Beispiel für die Varianten dieses Ansatzes ist die Idee, man könne das eigene Propagandamaterial „tarnen“, es also wie eine NS-Publikation aussehen lassen und dem Leser erst nach und nach enthüllen, dass er eine Anti-NS-Publikation in den Händen hält.71 Anwendung fand diese Methode etwa bei der Flugschrift Deutschland erwacht!72 Sie wurde im preußischen Landtagswahlkampf im April 1932 verbreitet.73 Die von Walter Gyssling herausgegebene Wahlzeitung,74 deren Titel eindeutig an das Sturmlied der SA erinnert, ist durchzogen mit einprägsamen Aufrufen, so: „Nicht der Nazi laut Geschrei, Die Vernunft nur macht uns frei!“ Eine Karikatur zu den Boxheimer Dokumenten75 findet sich dort ebenso wie eine Bilanz konstruktiver parlamentarischer Arbeit der demokratischen Parteien in Preußen. Ihr gegenüber steht die Bilanz der nationalsozialistischen Parlamentsarbeit. Dort ist zu lesen: „Zunächst haben sie einmal gefaulenzt!“. Über den nationalsozialistischen Kandidaten Richard Kunze erfahren die Leser: Während Tausende von deutschen Frontkämpfern in den Schützengräben verbluteten, habe Kunze in der Heimat Sektorgien gefeiert. Zur geplanten Rolle der Frau im nationalsozialistischen Volkskörper wird aus einem einschlägigen NS-Organ zitiert, sie habe „Magd und Dienerin“ zu sein. Aus einer Rubrik wiederum, die äußerlich einem Faktencheck ähnelt, erfuhren die zeitgenössischen Leser, erlogen sei: „Daß die Nationalsozialisten Deutschland sittlich erneuern wollen.“ Wahr sei: „Daß ihr SA-Führer Röhm Knaben schändet, daß ihr ehemaliger Reichstagskandidat Holtz wegen Sittlichkeitsverbrechen verurteilt wurde […].“76 Walter Gyssling war sich der derben Sprache bewusst, derer er sich bediente. In einem Brief an Lothar Erdmann entschuldigte er
71 Gyßling (2003): Mein Leben, S. 110. 72 Im Folgenden zitiert aus: DHM, Do2 2005/3622, Deutschland erwacht. 73 Der Absatz zu Deutschland erwacht! wurde in großen Teilen entnommen aus: Sax (2019): Flugschriften, S. 3–4. Siehe in diesem Beitrag genauere Ausführungen zu den Flugschriften des BW, die unter dem Tarnnamen „Bund Deutscher Aufbau“ erschienen. Weitere vom BW verwendete Tarnnamen waren: „Deutscher Volksgemeinschaftsdienst“ und „Ausschuß für Volksaufklärung“. 74 Wahlzeitungen erwecken äußerlich und / oder inhaltlich den Anschein der Periodizität, erscheinen aber faktisch nur zu Wahlzeiten und können somit den Flugschriften zugerechnet werden. 75 Die Boxheimer Dokumente wurden im Sommer 1931 vom NSDAP-Mitglied und Amtsrichter Werner Best verfasst und beinhalten eine „Sammlung von Richtlinien und Maßnahmen, die im Falle eines kommunistischen Putschversuchs und der nachfolgenden nat.soz. Machtübernahme von führenden hessischen Nationalsozialisten diskutiert […] worden waren. Zu den vorgesehenen Maßnahmen gehörten u.a. […] die Beseitigung politischer Gegner.“ Aus: Matthäus (2001): Boxheimer Dokumente. 76 In diesem Fall werden Fakten und tendenziöse Darstellung vermischt; Kurt Tucholsky hatte sich bekanntermaßen an anderer Stelle dagegen ausgesprochen, die sexuelle Orientierung Röhms als Argument gegen die Nazis ins Feld zu führen: „Gegen Hitler und seine Leute ist jedes Mittel gut genug. Wer so schonungslos mit andern umgeht, hat keinen Anspruch auf Schonung […]. Aber das da geht zu weit […]. Seine Veranlagung widerlegt den Mann [Röhm] gar nicht.“ Aus: Ignaz Wrobel: Röhm, Die Weltbühne, 26.04.1932. Hierzu auch Elsbach (2019): Reichsbanner, S. 387.
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sich dafür, dass er der Arbeit einen Artikel nicht liefern konnte: Er habe sich in einen „ganz niederträchtigen Wahlflugblattstil hineingeschrieben“.77 Der „Archivar“ betätigte sich jedoch nicht nur auf dem Gebiet der geschriebenen Kommunikation. Er scheute auch die persönliche Konfrontation in Rednerversammlungen nicht. So berichtet er anekdotisch von seinen Erlebnissen in zahlreichen republikanischen Versammlungen, in denen er in der Regel von Reichsbannerleuten vor den Übergriffen der SA geschützt wurde.78 Dem rechten Nationalismus der NS-Redner setzte Gyssling einen linken Nationalrepublikanismus entgegen, der die nationalen Verdienste der Republik hervorhob. Sodann prangerte er den „Landesverrat“ der NSDAP an, sie sei etwa bereit, die deutschsprachigen Südtiroler an das faschistische Italien auszuliefern.79 Wenn Gyssling seine Auftritte mit gezielten Einschüchterungsaktionen des Reichsbanners kombinieren konnte, sei seine Strategie meist von Erfolg gekrönt gewesen. Schwierig, wenn nicht lebensgefährlich, wurde solch ein Einsatz aber in Orten, in denen Gyssling nicht auf den republikanischen Saalschutz zurückgreifen konnte. Beispielsweise im brandenburgischen Wriezen, wo ihm lediglich sieben jugendliche Reichsbannermitglieder zur Verfügung gestanden hätten. Er habe jedoch sein Vorgehen den Gegebenheiten angepasst und entschieden, allein in einer von etwa 800 Nationalsozialisten besuchten Versammlung als Gegenredner aufzutreten. Eindrücklich schildert Gyssling in seinen Erinnerungen den weiteren Verlauf: Schon meine ersten Sätze weckten laute Gegenrufe, und schließlich wurde das gegen mich anbrandende Getöse derart, daß ich mich kaum mehr verständlich machen konnte. Ich mußte zu einem Trick greifen. Ich erklärte mich mit der NSDAP einverstanden in der Verdammung der sogenannten Kriegsschuldlüge, d.h. der Stipulierung der Verantwortung Deutschlands am Ausbruch des Weltkriegs, fragte, wie man die Gegner eines solchen Standpunkts behandeln solle (Zurufe: Als Landesverräter aufhängen!) und las dann aus einem mitgebrachten Buch als Probe solcher landesverräterischer Bekenntnisse den Satz vor: „Das deutsche Volk hat den Krieg selbst gewollt.“ Marktschreierisch verkündete ich dann Titel und Autor dieses Buches: „Mein Kampf“ von Hitler. Betroffenes Schweigen im ganzen Saal [...].80
Auch auf einen späteren handgreiflichen Versuch, ihn das Wort zu entziehen, habe Gyssling auf ungewöhnliche Weise reagiert: Als der SA-Führer etwa zwei Meter an mich herangekommen war, klemmte ich ein Monokel ins Auge und brüllte ihn im schönsten Schnarrton eines preußischen Gardeleutnants an, was er sich denn unterstehe, daß ich mir jede Störung verbäte und daß es überhaupt nicht seine Aufgabe wäre, sich in politische Diskussionen einzumengen, sondern daß er sein Maul zu halten habe, es wäre ja noch schöner, wenn hier jeder hergelaufene Lümmel mitzureden hätte, was hier zu reden sei, würde schon von den dazu Berufenen erledigt, und er solle sich gefälligst an seinen Platz scheren usw. Der Erfolg dieser Abkanzelung war 100%ig! Es war zwar nicht das Wort, aber es war so etwas von der Stimme seines Herren, von der Tonart, die dieser
77 BArch, NS 26/936, Walter Gyssling an Lothar Erdmann, 11.07.1932. 78 Allgemein zum Reichsbannersaalschutz, der bereits vor der eigentlichen Vereinsgründung praktiziert wurde: Elsbach (2019): Reichsbanner, S. 92–95. 79 Diese Argumentation auch bei: Hirschberg (1929): Gesicht, S. 37–39 u. Gyßling (2003): Mein Leben, S. 238–241. 80 Gyßling (2003): Mein Leben, S. 115.
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Simon Sax / Sebastian Elsbach Gutsknecht seit Kindheit von seinen junkerlichen Herren her kannte, auf die er mit blindem Gehorsam zu reagieren gewohnt war und die auch jetzt wieder ihre Wirkung tat.81
Dass Gyssling mit solchen Aktionen auch Widerspruch in den eigenen Reihen erntete, dürfte nicht verwundern. Er, der wie andere Reichsbannermitglieder auf eine härtere Gangart gegenüber der NSDAP drängte und nicht zusehen wollte, wie die Republikaner in der Defensive verharrten, stieß beim SPD-Parteivorstand mitunter auf Granit. Weder die von Gyssling und Anderen vorbereiteten neuen Propagandamethoden wurden konsequent umgesetzt, auch wenn sich die SPD mit der DreiPfeil-Kampagne 1932 zumindest ansatzweise um Neuerungen bemühte,82 noch wurde ein konsequentes Arbeitsbeschaffungsprogramm gefordert, zu dessen Unterstützern Gyssling wie auch Otto Hörsing gehörten.83 Insbesondere Otto Wels war ein Gegner der neuen Propagandaansätze, die er als vulgär und kontraproduktiv empfand. Die durchaus vorhandenen Ideen für ein Arbeitsbeschaffungsprogramm (sog. WTB-Plan) wurden im SPD-Parteivorstand mit bereits damals überholten ökonomischen Theorien und aus reparationspolitischen Gründen abgelehnt.84 Hörsing verließ die SPD und das Reichsbanner noch 1932 im Streit. Gyssling ging 1933 ins Exil, wo er mit Helmut Klotz und anderen ehemaligen Mitstreitern seinen Kampf fortsetzte. Anders als Klotz, der 1943 nach einem NS-Scheinprozess ermordet wurde, überlebte Gyssling in der Schweiz. In der Eidgenossenschaft wirkte er als Journalist, zeitweilig arbeitete er als Paris-Korrespondent für schweizerische Zeitungen. Walter Gyssling starb am 14. Oktober 1980 in Zollikon nach einem Sturz in seiner Wohnung.85 5. SCHLUSS: WALTER GYSSLING – EINE DEMOKRATISCHE PERSÖNLICHKEIT? Entsprechend der Themensetzung des vorliegenden Bandes soll an dieser Stelle kurz der Frage nachgegangen werden, ob Walter Gyssling vor dem Hintergrund der von ihm mitverantworteten Propaganda, die sich teilweise eines stark aggressiven Stils bediente, als demokratische Persönlichkeit bezeichnet werden kann. Nimmt man die Implikationen einer verständigungsorientierten Diskursethik ernst, so können die Inhalte seiner propagandistischen Erzeugnisse augenscheinlich nur als prodemokratisch bezeichnet werden – sie dienten der Verteidigung einer dem Bürgerkrieg nahen Republik, zielten nicht auf Verständigung, sondern auf Beeinflussung. Diese Kommunikate bezeugen aber zugleich – und das ist der springende Punkt – eine Zukunftserwartung, in der die Rückkehr zu rationalen Formen der politischen 81 Gyßling (2003): Mein Leben, S. 115. 82 Siehe zur Drei-Pfeil-Kampagne im Kontext der Reichspräsidentschaftswahl 1932 z.B. Albrecht (1986): Symbolkrieg u. Elsbach (2019): Reichsbanner, S. S. 418–426. 83 Gyßling (2003): Mein Leben, S. 40. 84 Ausführlicher zu diesen Konflikten zwischen Hörsing und der SPD-Führung: Elsbach (2019): Reichsbanner, S. 405–413 u. 504–508. 85 Vgl. zu diesen biographischen Details Fußnote 11.
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Kommunikation mitschwingt. Ihr Verfasser ist somit als demokratische Persönlichkeit zu bezeichnen – zumal seine frühen Warnungen und hellsichtigen Analysen als Journalist im Dienste des C.V. sowie seine emsige archivarische Tätigkeit sein Eintreten für die erste deutsche Demokratie unterstreichen. Schließlich erinnert die Geschichte Walter Gysslings an all jene öffentlich agierenden demokratischen Persönlichkeiten der Weimarer Republik, die dem Vergessen anheimgefallen sind. LITERATUR UND QUELLEN Albrecht, Joachim: Deutscher Tag, Coburg, 14./15. Oktober 1922. In: Historisches Lexikon Bayerns 2006, online unter: www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Deutscher_Tag,_Coburg,_14./15._Oktober_1922 [13.03.2020]. Albrecht, Richard: Symbolkrieg in Deutschland 1932: Sergej Tschachotin und der ‚Symbolkrieg‘ der drei Pfeile gegen den Nationalsozialismus als Episode im Abwehrkampf der Arbeiterbewegung gegen den Faschismus in Deutschland. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 22 (1986), S. 498–533. Aust, Stefan: Hitlers erster Feind. Der Kampf des Konrad Heiden, Reinbek 2016. Averbeck-Lietz, Stefanie: Persuasive Kommunikation und Behaviorismus. Serge Tchakhotines vergessenes Buch über NS-Propaganda von 1939. In: Michael Meyen / Thomas Wiedemann (Hrsg.), Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft, Köln 2017, online unter: blexkom.halemverlag.de/tchakhotine/ [03.03.2020]. Barkai, Avraham: „Wehr dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1893–1938, München 2002. Behmer, Markus / Kinnebrock, Susanne: Vom ehrenden Gedenken zu exemplarischem Erklären. Biografismus in der Kommunikationsgeschichtsforschung. In: Duchkowitsch, Wolfgang / Hausjell, Fritz / Pöttker, Horst / Semrad, Bernd (Hrsg.), Journalistische Persönlichkeit. Aufstieg und Fall eines Phänomens, Köln 2009, S. 205–229. Benz, Wolfgang: Im Widerstand. Größe und Scheitern der Opposition gegen Hitler, München 2018. Elsbach, Sebastian: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik, Stuttgart 2019. Enzenbach, Isabel: „Kennwort: Gummi“ – Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im Kampf um den öffentlichen Raum von 1893 bis zum Ende der Weimarer Republik. In: Braun, Christina von (Hrsg.), Was war deutsches Judentum? 1870–1933, Berlin u.a. 2015, S. 203–220. Fischer, Ilse: Versöhnung von Nation und Sozialismus. Lothar Erdmann (1888–1939): Ein „leidenschaftlicher Individualist“ in der Gewerkschaftsspitze. Biographie und Auszüge aus den Tagebüchern, Bonn 2004. Gebhardt, Hartwig: Mir fehlt eben ein anständiger Beruf. Leben und Arbeit des Auslandskorrespondenten Hans Tröbst (1891–1939). Materialien zur Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Journalismus im 20. Jahrhundert, Bremen 2007. Gyßling, Walter: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 und Der Anti-Nazi. Handbuch im Kampf gegen die NSDAP. Herausgegeben und eingeleitet von Leonidas E. Hill. Mit einem Vorwort von Arnold Paucker, Bremen 2003. Hartmann, Jürgen / Simon, Dietmar: Ein unentwegter jüdischer Kämpfer. Artur Schweriner und sein „verpfuschtes Leben“. In: Medaon 13 (2019), S. 1–5. Hill, Leonidas E.: Walter Gyssling (1903–1980). Ein deutscher Demokrat und Gegner des Nationalsozialismus. In: Gyßling, Walter, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 und Der AntiNazi. Handbuch im Kampf gegen die NSDAP. Herausgegeben und eingeleitet von Leonidas E. Hill. Mit einem Vorwort von Arnold Paucker, Bremen 2003, S. 11–59.
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AUTORINNEN UND AUTOREN Cornelia Baddack studierte an der Universität zu Köln Mittlere/Neuere Geschichte, Osteuropäische Geschichte und Historisch-Kulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung. 2016 wurde sie mit einer Dissertation über die Politikerin Katharina von Kardorff-Oheimb in der Weimarer Republik promoviert. Derzeit ist sie im Bundesarchiv als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Edition „Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung“ beschäftigt. Marcel Böhles studierte an der Universität Heidelberg Mittlere/Neuere Geschichte, Deutsche Philologie sowie Politische Wissenschaft und promovierte 2015 mit der Dissertation „Im Gleichschritt für die Republik. Das Reichsbanner Schwarz-RotGold im Südwesten (1924–1933)“. Die Arbeit wurde 2016 mit einem FriedrichEbert-Preis der Forschungsstelle Weimarer Republik und des Weimarer Republik e.V. ausgezeichnet. Marcel Böhles arbeitet gegenwärtig als Referent im Bereich Bildung und Vermittlung des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Andreas Braune studierte Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Romanistik in Jena und Rennes. Nach seiner politiktheoretischen Dissertation über den Begriff des Zwangs in der politischen Philosophie und Theorie wurde er 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Weimarer Republik an der FriedrichSchiller-Universität Jena, die er seitdem zusammen mit Michael Dreyer leitet. Sebastian Elsbach studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie in Frankfurt Oder, Chemnitz, Lodz und Jena. Seine Dissertation zum Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold wurde mit dem Friedrich-Ebert-Preis der Forschungsstelle Weimarer Republik und dem Promotionspreis des Instituts für Politikwissenschaft an der FSU Jena ausgezeichnet. Derzeit arbeitet er als Post-Doc-Stipendiat der GerdaHenkel-Stiftung im Forschungsprojekt „Das demokratische Gewaltmonopol in der Weimarer Republik, 1918–1924“ an der Forschungsstelle Weimarer Republik. Janosch Förster, geb. Pastewka, studierte Politikwissenschaften, Neuere und Neuste Geschichte und Anglistik an der TU Dresden und der University of Warwick. Seine mit dem Friedrich-Ebert-Preis der Forschungsstelle Weimarer Republik ausgezeichnete Dissertation zum Sächsischen Landtag in der Weimarer Republik erschien 2018. Er ist in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Claudius Kiene studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Hamburg, Wien und an der Freien Universität Berlin. Seine Masterarbeit über den Zentrumspolitiker Karl Spiecker wurde 2020 mit dem Hugo-Preuß-Preis der Forschungsstelle Weimarer Republik und des Weimarer Republik e.V. ausgezeichnet. Derzeit
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Autorinnen und Autoren
beschäftigt er sich im Rahmen seines Promotionsvorhabens mit der politischen Biographie des CDU-Politikers und Historikers Gerhard Stoltenberg. Lars F. Köppen studierte Geschichte, Islamwissenschaften und Agrarwissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg. Von 2017 bis 2019 war er wissenschaftlicher Volontär am Museum für Hamburgische Geschichte. Seitdem ist er dort Mitarbeiter im Projekt „Neuplanung der Dauerausstellung“ mit den Schwerpunkten Kolonialgeschichte und Barrierefreiheit. Christian Lüdtke studierte Geschichtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seine Dissertation von 2016 im Fach Mittelalterliche und Neuere Geschichte in Bonn zum Thema „Hans Delbrück und Weimar“ wurde mit dem VSA-Preis der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ausgezeichnet. Seit 2018 arbeitet er als Referent im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. Andreas Marquet studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte/ Neuere Geschichte und Politische Wissenschaft in Mannheim, wo er auch mit einer biografischen Arbeit über Friedrich Wilhelm Wagner promoviert wurde. Berufsbegleitend studierte er in Köln Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Er leitet als Chief Digital Officer die Arbeitsstelle Digitale Transformation des Archivs der sozialen Demokratie. Desiderius Meier studierte Neuere und Neueste Geschichte, Alte Geschichte und Politikwissenschaft in München und Cambridge. 2018 wurde er an der LMU München mit einer Arbeit über den DDP-Politiker Hermann Dietrich promoviert. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Passau. Ronny Noak studierte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Politikwissenschaft und Geschichte. Sein Promotionsprojekt, angesiedelt an der Forschungsstelle Weimarer Republik der FSU Jena, befasst sich mit der Schulungs- und Bildungsarbeit der Parteien zwischen 1918 und 1933. Derzeit arbeitet er in einem Projekt des Weimarer Republik e.V. zu den Orten der deutschen Demokratiegeschichte. Sebastian Rojek studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Klassische Literaturwissenschaft und Deutsche Philologie in Köln (M.A.) und wurde 2017 im Rahmen der Leibniz Graduate School „Enttäuschung im 20. Jahrhundert. Utopieverlust – Verweigerung – Neuverhandlung“, getragen vom Institut für Zeitgeschichte und der LMU München, mit der Arbeit „Versunkene Hoffnung. Die Deutsche Marine im Umgang mit Erwartungen und Enttäuschungen 1871-1930“ promoviert. Seit April 2016 ist er akademischer Mitarbeiter an der Abteilung für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität Stuttgart und beschäftigt sich vor allem mit
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der Militär- und Marinegeschichte, der historischen Semantik sowie der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Catharina Rüß studierte Germanistik, Kulturanthropologie und Museumsmanagement an der Universität Hamburg. Sie promovierte im Jahr 2016 mit dem Thema „Mode und Coolness in Romanen und Essays der Weimarer Republik“. Seit 2019 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut der Kulturanthropologie des Textilen an der TU Dortmund, wo sie während des Wintersemesters 2019/20 eine Vertretungsprofessur übernahm. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn. Zudem war sie an Kunsthochschulen wie der Esmod in Berlin, der HFK in Bremen und der AMD in Hamburg sowie am Altonaer Museum tätig. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Materielle Kultur, Narrative und Konzepte der (Anti)moden, Cultural- und Pop Studies. Simon Sax studierte Politik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Bremen. Dort arbeitet er momentan als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) und befasst sich mit einem Dissertationsprojekt über den Journalisten Walter Gyssling sowie den kommunikativen Abwehrkampf des Centalvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Er ist Träger des Matthias-Erzberger-Preises 2017, mit dem seine Bachelorarbeit über die deutsch-jüdische Presse in den letzten Jahren der Weimarer Republik ausgezeichnet wurde. Tobias Julius Wissinger studierte Kulturwissenschaften und Europäische Kulturgeschichte in Frankfurt Oder und Córdoba. Seine Masterarbeit „Also sprach Thomas Mann. Von der politisierten Kulturkritik zur Repräsentanz. Eine konservative Entwicklung in den Jahren 1914-23“ wurde 2018 mit dem Hugo-Preuß-Preis der Forschungsstelle Weimarer Republik und des Weimarer Republik e.V. ausgezeichnet. Nach seiner Tätigkeit als Referent im Bereich Bildung und Vermittlung des Deutschen Historischen Museums in Berlin arbeitet er an der Universität Heidelberg bei Prof. Dr. Barbara Beßlich an seiner Dissertation „Der Ritter und Träumer Thomas Mann. Ein konservativer Kulturkritiker auf der Suche nach der Ordnung.“
weimarer schriften zur republik
Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune
Franz Steiner Verlag
1.
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ISSN 2510-3822
Michael Dreyer / Andreas Braune (Hg.) Weimar als Herausforderung Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert 2016. XIV, 310 S., 10 Abb., 11 Fotos, 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11591-9 Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.) Republikanischer Alltag Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität 2017. XVIII, 353 S., 4 Abb., 4 Fotos, 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11952-8 Andreas Braune / Mario Hesselbarth / Stefan Müller (Hg.) Die USPD zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus 1917–1922 Neue Wege zu Frieden, Demokratie und Sozialismus? 2018. XXXII, 262S., 3 Abb., 7 Fotos, kt. ISBN 978-3-515-12142-2 Michael Dreyer Hugo Preuß Biografie eines Demokraten 2018. XXV, 513 S., 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12168-2 Albert Dikovich / Alexander Wierzock (Hg.) Von der Revolution zum Neuen Menschen Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19: Philosophie, Humanwissenschaften und Literatur 2018. 347 S. ISBN 978-3-515-12129-3 Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.) Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort 2019. XXVI, 326 S., 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12219-1
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Patrick Rössler / Klaus Kamps / Gerhard Vowe Weimar 1924: Wie Bauhauskünstler die Massenmedien sahen / How Bauhaus artists looked at mass media Die Meistermappe zum Geburtstag von Walter Gropius / The Bauhaus masters’ gift portfolio for Walter Gropius 2019. 208 S., mit zahl. Abb., geb. ISBN 978-3-515-12281-8 8. Sebastian Schäfer Rudolf Olden – Journalist und Pazifist Vom Unpolitischen zum Pan-Europäer. Moralische Erneuerung im Zeichen moderner Kulturkritik 2019. 438 S., kt. ISBN 978-3-515-12393-8 9. Sebastian Elsbach / Ronny Noak / Andreas Braune Konsens und Konflikt Demokratische Transformation in der Weimarer und Bonner Republik 2019. XXIII, 354 S., 9 Abb., 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12448-5 10. Sebastian Elsbach Das Reichsbanner Schwarz-RotGold Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik 2019. 731 S., 3 Abb., 15 Tab., geb. ISBN 978-3-515-12467-6 11. Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.) Weimar und die Neuordnung der Welt Politik, Wirtschaft, Völkerrecht nach 1918 2020. XIII, 326 S., 8 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12676-2 12. Daniel Führer Alltagssorgen und Gemeinschaftssehnsüchte Tagebücher der Weimarer Republik (1913–1934) 2020. 378 S., 12 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12583-3
Längst hat die historische Forschung das hartnäckige Diktum zur Weimarer Republik von einer „Demokratie ohne Demokraten“ widerlegt. Doch welche Persönlichkeiten trugen tatsächlich den Geist der Republik und versuchten, die demokratische Transformation mitzugestalten? Die Autorinnen und Autoren zeigen, mit welch unterschiedlicher Ausprägung und innerer Überzeugung sich die Zeitgenossen hinter der Republik versammeln konnten. Sie legen dabei den Fokus auf Akteure der zweiten und dritten Reihe – nicht nur in der Politik, sondern auch in Kultur, Bildung und Medien. Dadurch gelingt es, ausgetretene Pfade der historischen Forschung zu verlassen und neue, unerwartete Erkenntnisse durch Tiefenbohrungen in die Weimarer Gesellschaft ans Tageslicht zu fördern. Neben der Betrachtung individueller Lebensläufe beleuchten die Beiträge so auch personale Netzwerke, Milieugebundenheit und Fragen nach demokratischen Traditionslinien.
ISBN 978-3-515-12799-8
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
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