Demokratiekultur in Europa: Politische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert 9783412214326, 9783412207137

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Demokratiekultur in Europa: Politische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert
 9783412214326, 9783412207137

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Historische Demokratieforschung Schriften der Hugo-Preuß-Stiftung und der Paul-Löbe-Stiftung Band 1 Herausgegeben von Detlef Lehnert Wissenschaftlicher Beirat: Peter Brandt, Wolfram Pyta, Dian Schefold

Detlef Lehnert (Hg.)

Demokratiekultur in Europa Politische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: London, Houses of Parliament / Photochro © akg-images

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20713-7

Inhalt Detlef Lehnert Demokratiekultur und Politische Repräsentation. Zur Einführung in europäisch vergleichende Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Theoriegeleitete Perspektiven zur Demokratieund Repräsentationskultur

Wolfram Pyta Demokratiekultur: Zur Kulturgeschichte demokratischer Institutionen . . . 23 André Brodocz Kampf um Deutungsmacht: Zur Symbolisierung politischer Ordnungsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Hans Vorländer Können Demokratien eine vernünftige Repräsentationskultur ausbilden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Demokratiekultur der Zwischenkriegszeit

Georg Kreis Konfliktreiche Wege zur Konkordanzkultur. Ursprünge des schweizerischen Parteienpluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Friso Wielenga Stabilität und Unbehagen: Die niederländische Demokratie der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Detlef Lehnert Die unterschätzte Erste Republik. Zur politischen Kultur der österreichischen Konkurrenzdemokratie in den 1920er Jahren . . . . . . 135

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Inhalt

Carsten Kretschmann Von der Frontgemeinschaft zur Volksgemeinschaft? Kriegserfahrungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich während der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3. Repräsentationskultur im historischen Umbruch

Monika Wienfort Politische Repräsentationen in Großbritannien. Volk, Parlament und Monarchie im Viktorianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Andreas Wirsching Tradition und Repräsentation. Nationale Einheit und republikanische Kultur in der französischen Dritten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Peter Brandt Nationalrepräsentation und Demokratisierung: Norwegen als europäischer „Musterfall“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Arthur Schlegelmilch Belastungen und Chancen der konstitutionellen Repräsentationsformen im späten Habsburgerreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Martin Zückert Die Repräsentation von Staat und Demokratie in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Chancen und Grenzen ihrer Integrationskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Nadine Rossol Repräsentationskultur und Verfassungsfeiern der Weimarer Republik . . . . 261 Detlef Lehnert Das Repräsentationsquartett der Weimarer Republik. Friedrich Ebert und Paul v. Hindenburg, Otto Braun und Paul Löbe in politisch-kultureller Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Detlef Lehnert

Demokratiekultur und Politische Repräsentation Zur Einführung in europäisch vergleichende Studien

Entgegen der heute verbreiteten Auffassung ist die Wertschätzung von Demokratie nur ungefähr ein Jahrhundert bereits geschichtsmächtig: „Überwiegend positiv gewürdigt wurde die demokratische Praxis erst seit dem 20. Jahrhundert, und selbst dann nur in einem überschaubaren Kreis von Ländern.“1 Das macht auch schon die Frage nach Demokratiekultur in Europa wesentlich aus: Unter welchen historischen Bedingungen konnte diese Neubewertung im öffentlichen Bewusstsein verankert werden? Gleichfalls konträr zu einer damals kursierenden Skepsis war in den 1930er Jahren an den historischen Erfahrungshorizont zu erinnern, „daß von den demokratischen Gemeinwesen, die schon vor 1914 existierten, in der gegenwärtigen Krise kein einziges untergegangen ist“.2 An einer der folgenden ökonomischen bzw. politischen Krisenentwicklungen gescheitert waren also offenbar nur einige neue Demokratien, die sich aus dem Sturz vordemokratischer Ordnungen am Ende des Ersten Weltkriegs konstituierten. Dennoch hatte das Stichwort einer „Krisis der europäischen Demokratie“ bereits zur Mitte der 1920er Jahre seine Konjunktur.3 Unter dem Titel „Demokratie in der Krise“ wurde auch jüngst noch ein umfangreicher Tagungsband zu „Europa in der Zwischenkriegszeit“ veröffentlicht.4 Solches epochales Krisenbewusstsein ist aber schon zeitgenössisch in hohen Anteilen deutschsprachig formuliert worden. Bei den frühzeitigen Krisenopfern in der europäischen Staatenwelt hatte sich das Thema Demokratie häufig bereits vor Mitte der 1920er Jahre erledigt. Hingegen wankte diese Regierungsform nicht gar so dramatisch, wo sie geschichtlich tiefer verwurzelt 1 Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2010, S. 21. 2 Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre, Frankfurt a.M. 1962, S. 308 (so in New York 1937 formuliert; die Schweiz, Großbritannien und USA sah er durch „hochentwickelte lokale Selbstverwaltung“ und dass kein „großes stehendes Heer“ existierte, vor autoritärer Tendenz geschützt/S.210). 3 Moritz Julius Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, München 1925; ebenso Alfred Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925. 4 Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008.

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war. Im Gegenteil komplettierte sich dort zumeist erst in der Zwischenkriegszeit, was uns heute als ein Vollbild moderner Demokratie erscheint. Nicht allein wegen der sozioökonomischen und systempolitischen Erschütterungsdynamik, sondern auch kulturgeschichtlich ist die Weimarer Periode als „Krisenjahre der Klassischen Moderne“ thematisiert worden.5 Nun liegt allerdings die historiografische Tücke eines solchen Topos schon darin, dass eine klassische Moderne erst in den 1920er Jahren voll wirksam geworden ist.6 Offenbar konnte sie die „Sehnsucht nach Synthese“7 bzw. den „Hunger nach Ganzheit“8 nicht befriedigen. Politisch-kulturelle Modernität bringt stets auch Pluralität, Verunsicherungen und Konflikte mit sich. Umso mehr ist es plausibel, die vielzitierte „’Krise’ der Weimarer Republik“ nunmehr auch gegenströmig in der „Kritik eines Deutungsmusters“9 zu thematisieren. Es ist die Europäisierung solcher Interpretationskonzepte auf ihre Angemessenheit für Historische Demokratieforschung zu befragen, die mit dieser Publikationsreihe vorangebracht werden soll. Warum ein heutiges Theoriekonzept das „liberale Modell von Demokratie favorisiert“ (S. 26), arbeitet der für diesen Band stichwortgebende Beitrag von Wolfram Pyta heraus. Mit politikwissenschaftlich geleitetem Erfahrungswissen lässt sich argumentieren, dass sich dieser Typus in seinen Ergebnissen gegenüber Alternativen bewährt hat. Zu ergänzen wäre in normativer Sicht des hierzulande geltenden Verfassungsrechts: Im Rahmen der Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes (Art. 79 Abs.3) für Artikel 1 und 20 wird das leitmotivische Demokratiepostulat von vornherein gewaltenteilig (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG) und als Grundrechtsdemokratie (Art. 1 Abs. 3) angelegt, was beides liberale Elemente sind. In historischer Perspektive kann aber hinzugefügt werden, dass erst die Erfahrungen mit zugleich antidemokratischen und antiliberalen Diktaturregimen des 20. Jahrhunderts dieser Sichtweise zum Durchbruch verhalfen. Es war nicht allein der immer wieder zitierte Carl Schmitt, der einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen (überholten) liberalen und im eigenen Verständnis umgedeuteten demokratischen Komponenten behauptete. 5

Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987. 6 Vgl. den (im engeren Sinne des Begriffs) kulturgeschichtlichen Überblick bei Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Stuttgart 2008, S. 296–334. 7 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1971, S. 151. 8 Peter Gay, Hunger nach Ganzheit, in: Michael Stürmer (Hg.), Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstein/Ts. 1980, S. 224–236. 9 Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 2005.

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Er bezeichnete das „aus liberalen Gedankengängen entstandene Parlament als eine künstliche Maschinerie“, die nicht mehr lebensfähig sei: „Bolschewismus und Fascismus dagegen sind wie jede Diktatur zwar antiliberal, aber nicht notwendig antidemokratisch“.10 Der russische Bolschewismus und italienische Faschismus erschienen im Blick auf die 1920er Jahre zahlreichen Rechts- wie Links-Intellektuellen als historische Sieger über die liberale Demokratie, die außerhalb weniger älterer Demokratien als „schwache Einzelform“ mit ihren unzeitgemäßen Illusionen der parlamentarischen Konflikteinhegung „endgültig zusammengebrochen“ sei.11 Der nach 1945 als liberale Alternative zum nationalkonservativen Carl Schmitt stilisierte Rudolf Smend urteilte zu Weimarer Zeiten auch noch apodiktisch negativ: „liberale Staatsform, d.h. Parlamentarismus, ist keine Staatsform, weil auf funktionelle Integration allein kein Staat gegründet werden kann, ebenso wenig, wie auf sachliche allein nach korrekter sozialistischer Verfassungstheorie“. Diese Kritik orientierte sich noch am monarchischen Erbe und dem Bismarckreich als „vollkommenes Beispiel einer integrierenden Verfassung“. Mit dieser insofern restaurativen Verfassungslehre wollte Smend auch den seit 1925 amtierenden Reichspräsidenten Hindenburg als personal-symbolorientierte Integrationskraft gegen die parlamentarische Fraktionierung stärken, indem er affirmativ dessen „Antrittskundgebung“ zitierte, dass er nun „’den Einheitswillen der Nation verkörpert’“.12

1. Gesellschaftliche Herkunft von Demokratiekultur Ein gleichermaßen interessanter wie umstrittener Versuch, „Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie“ zu erklären, stellt auf die „Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt“ ab; er sieht die entscheidende Weichenstellung in deren Reaktion auf die „Herausforderung der kommerziellen Landwirtschaft“.13 Wo es nicht wie in Russland und China zu Bauernrevolutionen kam, flankierte entweder wie in den USA und Großbritannien eine frühzeitig kapitalistische Landwirtschaft den liberalen Staatstypus oder förderten restaurativ-antikapitalistische Ressentiments von Grundbesitzern und Bauern die Entstehung von Rechtsdiktaturen. Eine solche Verknüp10 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München 1926, S. 22 f. 11 So Rosenberg 1962, S. 308, trotz seiner Wertschätzung der klassischen Demokratien. 12 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München 1928, S. 112, 24, 139. 13 Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, Frankfurt a.M. 1974, S. 15 (sowie Untertitel).

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fung einer durch Marx inspirierten Klassenanalyse mit von Max Weber ausgehender Modernisierungstheorie kann stets nur Fragestellungen liefern und nicht schon die Ergebnisse historisch differenzierender Länderstudien vorwegnehmen. Plausibel bleibt aber die Erweiterung des Interpretationshorizonts auf den Agrarsektor. Den liberalen Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts als bürgerliche Institution zu betrachten und dessen weitere Demokratisierung im 20. Jahrhundert für eine Errungenschaft der Arbeiterbewegung zu halten, wäre jedenfalls nur ein Teil des universalgeschichtlichen Gesamtbildes. Da es in diesem Band um historische Ursprünge und Entwicklungslinien moderner Demokratien in Europa geht, könnte eine geeignete Typologie an der zugleich mentalen Prägekraft von Wirtschaftssektoren ansetzen: Die Struktur des primären, agrarischen Sektors definiert stets Ausgangsbedingungen; vom sekundären, gewerblich-industriellen sowie tertiären, Handel und Dienstleistungen umfassenden Sektor geht jeweils neue Dynamik des gesellschaftlichen Wandels aus. Dem agrardemokratischen Typus können neben den – von den kulturellen Ursprüngen her zumindest halbeuropäischen – USA sowie verwandten überseeischen Siedlerkolonien (Kanada, Australien, Neuseeland) in Europa selbst vor allem skandinavische Länder und die Schweiz zugerechnet werden. Die vorrangig nur für die angelsächsische Hemisphäre erklärungskräftige Kommerzialisierungsthese von Barrington Moore ist für Kontinentaleuropa um soziokulturelle Dispositionen des bäuerlich geprägten Gemeinlebens zu ergänzen. Nicht allein für die Schweiz haben gerade die Studien von Peter Blickle die bereits aus frühneuzeitlichen Konfigurationen emporwachsenden Ursprünge von Selbstregierungs-Ideen aufgezeigt.14 Auch wenn, dem Beitrag von Georg Kreis folgend, das traditionell eidgenössische ländliche Milieu auf die Umbruchsperiode nach dem Ersten Weltkrieg eher konservativ reagierte, unterschied es sich in demokratischer Loyalität doch wesentlich von den parallelen Heimwehr- bzw. NS-Tendenzen im benachbarten Österreich und Deutschland. Für Norwegen arbeitet Peter Brandt pointiert eine bauerndemokratische Prägung des Freiheits- und Grundrechtsverständnisses heraus.15 14 Um hier nur eine Synthese aufzuführen: Peter Blickle, Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, 2 Bde., München 2000. Mit ähnlichem Tenor bereits Adolf Gasser, Gemeindefreiheit als Rettung Europas, Basel 1943. 15 Für Dänemark hat Peter Brandt auf der Tagung im November 2009 am ehesten vergleichbare Thesen beleuchtet, deren Publikation einem weiteren Band über Gemeinschaftsdenken der Zwischenkriegszeit vorbehalten bleibt. Der Einwand, dass Norwegen eher mit dem Fischfang und heute mit Ölreichtum assoziiert wird, trägt schon deshalb nicht, weil Fischfang zum Primärsektor gehört und häufig von Landwirten im

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Auch die sozialdemokratische Hegemonie seit den 1930er Jahren wurde im Zuge der strukturellen Modernisierung erst möglich, nachdem die Konzeption einer Volkspartei das Arbeitsvolk in Stadt und Land zu verbinden trachtete. Das aus heutiger liberaldemokratischer Sicht allzu pauschal in Verruf geratene – nicht schon von der antipluralistischen Instrumentalisierung durch Carl Schmitt eng geführte – originäre Rousseausche Postulat der Homogenität als Grundlage von Demokratie gewinnt in agrargesellschaftlichem Kontext seine Plausibilität: In Skandinavien konnte sich frühzeitig egalitäres statt ursprünglich elitäres Self-government wie in Großbritannien, also tatsächlich der Typus einer Gleichheitsdemokratie herausbilden. Diese stellte in der Schweiz auch die grundsätzliche Vereinbarkeit mit einer multikulturellen Pluralität unter Beweis. Dem gewissermaßen handelsdemokratischen Typus, der frühzeitig liberal geprägt war und sich eher spät, dann aber durchgreifend und nachhaltig zu demokratisieren vermochte, sind neben England auch die Niederlande einzuordnen. Für die britischen Ursprünge ist symbolkräftig, dass schon von der radikalen Chartisten-Bewegung gleichermaßen Freihandel zur Lebensmittelverbilligung und Wahlrechtserweiterung gefordert und in liberalen Reformphasen dann beides umgesetzt wurde. Mit der Schweiz (und den USA) haben diese Länder gemeinsam, vom nicht-lutheranischen Protestantismus beeinflusst worden zu sein. Der konzeptionell anregenden, historisch aber nur partiell treffsicheren Protestantismus/Kapitalismus-These von Max Weber könnte die weithin unbekannte Calvinismus/Kommerzialismus/DemokratieThese des gegenüber der Weimarer Demokratie zunächst sehr reservierten, später aber Stresemanns Vernunftrepublikanismus sich annähernden Staatsrechtlers Erich Kaufmann zur Seite gestellt werden: Wo diese materiellen und geistigen Kräfte „die Individuen rationalisiert und geschliffen“ hatten, konnte dann problemloser „eine formale Demokratie der abstrakten Zahlen Verfassungstypus werden“. Das wurde am reinsten im angelsächsischen Zweiparteiensystem abgespiegelt, ließe sich aber teilweise auf wahlwirksame ZweiLager-Konstellationen übertragen. Am wenigsten geeignet erschien solches für den „österreichischen Nationalitätenstaat“, der mit „einem durch soziale und wirtschaftliche, durch konfessionelle und weltanschauliche Gegensätze zerklüfteten Volk“ zu rechnen hatte.16 Allzu viel innere Heterogenität bloNebenerwerb ausgeübt wurde. Trotz industrieller Verarbeitung passt Öl als Naturprodukt eher zu „bodenständigen“ Milieus: Bevor „Fordismus“ und „Taylorismus“ das Bild der hochmodernen USA prägten, standen zuvor „Ölbarone“ der Plantagenwirtschaft des Agrarsektors nicht ferner als z.B. dem Eisenbahnbau des Sekundärsektors. 16 Erich Kaufmann, Gesammelte Werke, Bd. 1, Göttingen 1960, S. 386.

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ckierte jedenfalls die Anwendbarkeit des konkurrenzdemokratischen Majoritäts/Minoritäts-Prinzips, das erst in der weitaus homogeneren kleinösterreichischen Republik dann auch zur Geltung kam.17 Wie der Beitrag von Friso Wielenga darlegt, wurde die ursprüngliche liberale Elitenhegemonie durch eigene „Säulen“-Bildung der konfessionellen Gruppen und der Sozialdemokratie zu einem segmentierten demokratischen Pluralismus der Niederlande komplettiert. Die ohnehin gemäßigten niederländischen Kulturkampflinien verliefen weniger zwischen Reformierten und Katholiken als vielmehr zwischen dem konfessionellen Großlager und dem Laizismus. Das für die „Versäulung“ charakteristische Aushandlungssystem reichte bis zur gesinnungspolitischen Aufteilung von Radio-Sendemöglichkeiten. Zum inneren Frieden trug in den nicht am Ersten Weltkrieg beteiligten Niederlanden wie bei der neutralen Schweiz auch der äußere wesentlich bei. Eine zeitgenössische Wortmeldung von Alfred Weber ruft den historischen Ort ins Gedächtnis, an dem sich Chancen und Risiken demokratischer Ordnung in der Zwischenkriegszeit unterschiedlich verteilten: „Das Unwirksamwerden der antidemokratischen Kritik, vor allem in Frankreich, wo sie vor dem Krieg sehr lebendig war, hängt unzweifelhaft mit dem Flattern der Siegesfahnen auf den Zinnen der französischen Demokratie zusammen.“18 Eine verstärkte Hinwendung zu kulturgeschichtlichen Interessen vernachlässigt inzwischen zuweilen existentielle Grunderfahrungen wie Kriegsfolgen und Wirtschaftskrisen, die auch für politische Mentalitäten und Deutungsmuster bestimmend waren. Dies gilt in anderer Weise sogar für Großbritannien: Dessen Fortentwicklung vom Parlamentarismus zur Demokratie, die zuvor bei Liberalen und Konservativen als französische und amerikanische Revolutionsidee abgestempelt war, ist wesentlich erst das Ergebnis des gewonnenen Krieges und dessen Umlagerungen im Sozialgefüge.19 Die Betrachtungen von Carsten Kretschmann in diesem 17 Beim demokratischen Weimarer Staatsrechtler Hermann Heller wird neben der reformsozialistischen Überzeugung, dass eine zu tiefe Klassenspaltung demokratiegefährdend wirkt (das ahnte schon der britische Reformkonservative Disraeli in der Warnung vor „two nations“), seine österreichische Herkunft selten mit bedacht. Vgl. nun Marcus Llanque (Hg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, Baden-Baden 2010. 18 Weber 1925, S. 144. 19 Darauf machte während der Tagung „Politische Repräsentationskultur in Europa“ im Mai 2010 in Berlin eindringlich Rudolf Muhs (London) aufmerksam. Zu fortlebenden antidemokratischen Ressentiments bei Konservativen: Karina Urbach, „Moscow is making war on England“, in: Gusy (Hg.) 2008, S. 144–154. Michael Dreyer wies jedoch auf der Tagung „Demokratiekultur in Europa“ im November 2009 darauf hin, dass sich in der zweiten Amtszeit des Premiers Baldwin (1924–29)

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Band machen allerdings deutlich, in welchem Maße über den Unterschied zwischen Siegern und Besiegten hinaus auch politisch-kulturelle Differenzen im französischen gegenüber deutsch-nationalem Einheitsverständnis bestanden. Mochte es auch in süddeutschen Grenzregionen bauerndemokratische und in norddeutschen Hansestädten die handelsrepublikanische Tradition geben – als Haupttendenz war im nicht-schweizerischen deutschsprachigen Raum eine gewerblich-industrielle Demokratisierungstendenz geschichtsmächtig. Das musste nicht unbedingt die Großindustrie sein, wie die handwerkliche Prägung des ursprünglichen gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Herkunftsmilieus bezeugt. Doch war ein produktivistisches Fortschrittsdenken solchem gewerblich-industriellen Typus eigen. Damit stand tendenziell Demokratiekultur des sekundären Sektors zwischen der Bodenverhaftung des agrarischen und der globaleren Perspektive des handelsorientierten Typus. Die späteren Erfolge in anderen europäischen Ländern lassen häufig verkennen, wie stark die österreichische und deutsche Arbeiterbewegung mit Wahlergebnissen über 40  % und mehr als 50  % gewerkschaftlicher Organisationsgrad nach dem Ersten Weltkrieg sich präsentierte. Das lag nicht allein im hohen Anteil des Sekundärsektors, vielmehr auch in der Schwäche bürgerlich- und bäuerlich-demokratischen Erbes begründet, das Gegner des Obrigkeitsstaates zur Sozialdemokratie oder an deren Seite drängte. Somit verlief die republikanische Grundhaltung überwiegend auch entlang klassenpolitischer Trennungslinien, was den Unterschied zu Frankreich markierte, das insoweit einen vierten Typus darstellte: Dort zeigte die Bauernschaft zunächst eher gegenrevolutionäre oder bonapartistische Tendenz; die gewerbliche Entwicklung blieb gegen England wie Deutschland zurück und brachte wenig gewerkschaftliche Organisation hervor; ebenso war keine primäre Handelsorientierung zu verzeichnen. So konnte sich eine Bildungs- und Verwaltungselite als eigene politische Repräsentationsklasse der französischen Republik etablieren.

2.  Politische Repräsentation von Einheit aus der Vielfalt Ähnlich wie im Bereich früherer Demokratiekritik liegt bei Krisendiagnosen wie jenen von Carl Schmitt und Gerhard Leibholz20 die Anfrage nahe: der britische Konservatismus auch demokratisierte, indem er nunmehr den sozialen Ausgleich suchte. – Dieser Band enthält nun die ausgearbeitet vorliegenden Referate beider Tagungen. 20 Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation – unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentativsystems, Berlin 1929, sah den Parteienstaat als Element unmit-

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Inwieweit war Unklarheit im Repräsentationsbegriff in manchem auch „ein deutsches Problem“?21 Für deutsche Besonderheiten im Umgang mit eigenständiger demokratischer Repräsentationskultur liefert der Beitrag von Hans Vorländer durchaus Argumente. Immerhin enthält aber heute der unantastbare Art. 20 Abs. 2 GG im Kern bereits eine konstitutive Repräsentationstheorie: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Schon dieser Wortlaut macht absorptive, das Volk geradewegs aus der Demokratie hinwegdefinierende elitentheoretische Repräsentationslehren verfassungsgeschichtlich wie staatsrechtlich nur mühsam nachvollziehbar, weil dann von „Ausübung“ nicht mehr ernstlich die Rede sein könnte. Es steht dort wohlbemerkt nicht: Die Staatsgewalt geht zwar vom Volke aus, wird aber exklusiv von relativ wenigen Repräsentanten tatsächlich ausgeübt. Allerdings lautet der Text auch nicht: Das Volk übt alle Staatsgewalt, sei es die legislative, exekutive oder judikative, unmittelbar selbst aus. Eine Verfassungsdemokratie ist ohne Repräsentation bereits im Ursprung kaum denkbar: Das Abstimmungs- und Wahlvolk tritt gewissermaßen als die Gesamtbevölkerung repräsentierend in Erscheinung. Britische Wahlreformen hießen demgemäß „The Representation of the People Act“. Die gewaltenteilige Organisationsform ist ein Teil des Repräsentationsprinzips, welches demokratische Betätigung nicht monolithisch, sondern pluralistisch konzipiert. Es gilt überdies eine Normenhierarchie von der Verfassung über die Gesetzgebung und die Rechtsprechung zum Vollzug (Art. 20 Abs. 3 GG). Damit stehen jedenfalls die unabänderlichen GG-Artikel auch über der Gesetzgebungskompetenz, die höchste demokratische Legitimation trägt. Diese geht von jenen „Wahlen und Abstimmungen“ aus, mit denen „vom Volke“ die „Staatsgewalt“ eben auch im aktiven Ursprungsort der Legitimationskette tatsächlich „ausgeübt“ wird. Die weitere Ausübung durch „besondere Organe“ und somit das Repräsentationselement ändert nichts daran, auch die so verstandene repräsentative Grundordnung als genuin demokratische ernst zu nehmen. Folglich wird in diesem Band auf die Wahlen und Abstimmungen sowie eine auch zwischen ihnen stattfindende Beeinflussung des parlamenta-

telbarer Demokratie (und wurde später zum namhaften Verfassungsrichter). Vgl. zu seiner Konzeption und der von Schmitt kritisch Wolfgang Mantl, Repräsentation und Identität. Demokratie im Konflikt, Wien 1975. 21 Dies einleitend (Überschrift zu § 1) bei Hasso Hofmann, Repräsentation: Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 2003.

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rischen Raums durch organisierte Gruppen und die öffentliche Meinung ein besonderes Augenmerk gelenkt. Wie schon zum Demokratie- ist auch zum Repräsentationsbegriff die Literatur insgesamt geradewegs uferlos.22 Deshalb soll mit dieser Publikation statt weiterer Vermehrung der Definitionsversuche eine historisch vergleichende Annäherung über Länderstudien gesucht werden. Gleich der Vielfalt auch des modernen Demokratieverständnisses gilt: „Der Terminus ‚Repräsentation’ schillert in vielen Bedeutungsvarianten. Staatsrechtlich bezeichnet er das Problem, größere menschliche Verbände als Einheiten zu erleben, zu organisieren und zu begreifen.“23 Folglich ist angesichts dieses übergreifenden systematischen Fragehorizonts die Analyse politischer „Repräsentation kein genuin demokratietheoretisches Phänomen“.24 Als solche dann symbolvermittelt erfahrbare, operativ strukturierte und kommunikativ gedeutete Einheitsbildungen sind auch konstitutionelle oder absolute Monarchien hinreichend ergebnisträchtig zu untersuchen.25 Der Beitrag von Monika Wienfort verdeutlicht, wie über die britische Stimmrechtserweiterung von 1867 und die zukunftsgerichteten Wahlrechtsdebatten hinaus die Repräsentationstopografie im Viktorianismus diverse Übergangsformen der traditionellen zu modernen Auffassungen zeigte. Als Besonderheit tritt die Bedeutung der Wahlkreise für die Repräsentationskultur hervor. Die Vorstellung einer Gebietsrepräsentation schirmte zwar auch gegen den in anderen Ländern epochentypischen Zugriff von Partikularinteressen ab, die unter dem Stichwort einer „Verwirtschaftlichung“ der Politik erörtert wurden und in der Konfessionalisierung ebenso hervortraten. Doch erschienen dann auch die geringe Parteienkonkurrenz in frühen, der vergleichsweise niedrige Anteil der Wahlberechtigten in mittleren 22 Vgl. als wesentlich die englischsprachige (primär US-)Literatur einbeziehenden Überblick: Nadia Urbinati/Mark E. Warren, The Concept of Representation in Contemporary Democratic Theory, in: Annual Review of Political Science 11 (2008), S. 387– 412. 23 Hasso Hofmann/Horst Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip, Minderheitenschutz, in: Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1989, S. 165 (so auch in: Hasso Hofmann, Verfassungsrechtliche Perspektiven, Tübingen 1995, S. 161). 24 Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen 2010, S. 280. 25 Mit weitläufigem historischen Spektrum zur Verfassung als politisch-kultureller Repräsentationsform: Werner Daum u.a. (Hg.), Kommunikation und Konfliktaustragung. Verfassungskultur als Faktor politischer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Berlin 2010.

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und die Verwerfungen des Mehrheitswahlrechts bis in die späteren Entwicklungsphasen weniger problematisch. In Frankreich wurde, statt einer Vielfalt der Wahlkreise unter dem Integrationsdach der Monarchie, im Parlament mehr die Einheit der republikanischen Nation repräsentiert. Dies konnte, wie Andreas Wirsching darlegt, nur gelingen, wenn regionale und soziale Trennungslinien eher dementiert und weltanschauliche Gegensätze wesentlich auf zwei große Deutungskulturen vereinfacht wurden. Der Zusammenhalt eines republikanischen Lagers wurde nur so lange gefördert, wie sich glaubwürdig eine Gefährdung durch antirepublikanische, restaurative Kräfte präsentieren ließ. Mit dem verstärkten Hervortreten sozialer Gegensätze in der Zwischenkriegszeit entstand allmählich ein Polarisierungsmuster der Links/Rechts-Blöcke, was aber den konkurrenzdemokratischen Rahmen nicht sprengte. Die Französische Revolution mit ihren unterschiedlichen Phasen und Interpretationsmöglichkeiten bot den rivalisierenden politischen Lagern die Chance, sich einerseits auf ein gemeinsames nationales Erbe zu beziehen und diesem andererseits die Argumente für den eigenen Standpunkt abzugewinnen. Diese Art von Deutungsoffenheit ist der theoretischen Konzeption von André Brodocz entsprechend die Voraussetzung dafür, eine gesellschaftliche Vielfalt zu einer politischen Einheit zusammenfügen zu können. Auch Norwegen repräsentierte Peter Brandts historischer Analyse folgend solchen national-demokratischen Typus, in dem Rekurs auf die Einheit den progressiven wie den bewahrenden Kräften dennoch Spielraum für die Artikulation eigener Identitätsmuster beließ. Hingegen brachte die österreichischungarische Doppelmonarchie schon in dieser Bezeichnung zum Ausdruck, dass nicht bereits vorderhand geklärt sein konnte, was repräsentiert wurde. So ist der Reichsrat von 1911 mit fast 30 Fraktionen, vermehrt durch Bildung von Nationalgruppen der verschiedensten Richtungsprofile, als Beispiel für größte Zersplitterung in die vergleichende Parlamentsforschung eingegangen.26 Der Beitrag von Arthur Schlegelmilch plädiert dafür, solche Vielfalt darin ernst zu nehmen, dass insofern keine Übernahme des parlamentarischen Regierungssystems realistisch war und ein reformierter Konstitutionalismus die einzige Chance des Überlebens eines Vielvölkerstaats geboten hätte. Allerdings zeigt jenes Fraktionstableau von 1911, dass am ehesten noch Sozialdemokraten und Christlich-Soziale eine beachtenswerte Fraktionsstärke repräsentierten. Insofern war es dann auch folgerichtig, dass eine wesentlich auf diese mili-

26 Vgl. die Tabelle bei Klaus v. Beyme, Parteien in westlichen Demokratien, München 1982, S. 163.

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euverankerten Integrationsparteien begründete kleinösterreichische Republik nunmehr parlamentarische Regierungsformen zeigte. So wie eine Fragilität des Nationsprofils der österreichischen Republik den Organisationspatriotismus der beiden großen Parteilager als ersatzweise stabilisierende Kraft begünstigte, ist die tschechoslowakische Republik (CSR) als „multinationaler Parteienstaat“ thematisiert worden.27 Dort wurde die altösterreichische Parlamentsvielfalt in nur mäßig reduzierter, aber demokratisierter Form teilweise fortgeschrieben. Von Martin Zückert wird verdeutlicht, warum diese Pluralität bis zu übermächtigen Außeneinflüssen nach 1933 nicht grundsätzlich die neue Staatsrepräsentation blockieren musste. Gerade im Vergleich mit der Weimarer Republik ist daraus ersichtlich, wie hilfreich dem immerhin längeren Überdauern der CSR als parlamentarischer Demokratie insbesondere zwei Faktoren waren: Von Nadine Rossol wird erläutert, dass für „Weimar“ auch schon die symbolträchtige Herstellung einer massenwirksamen Verbindung der neuen Verfassungsdemokratie mit der unmittelbar vorausgegangenen Geschichte fehlte. Der Bezug auf die Frankfurter Paulskirche von 1848/49 griff doch recht weit zurück. Hingegen wurde die Novemberrevolution 1918 eher nur als „Zusammenbruch“ des alten Systems geradewegs dethematisiert und damit Raum für antirepublikanische Deutung des Kriegsgeschehens belassen. Der offenkundigere Kontinuitätsbruch zur Habsburger Doppelmonarchie erleichterte der österreichischen Republik wie der CSR auch einen demokratischen Neubeginn. Bei der CSR trat die nationalpolitische Aufladung hinzu, die jedenfalls den majoritären Volksgruppen die Identifikation erleichterte. Nicht zu unterschätzen ist überdies die Bedeutung des CSR-Gründungspräsidenten Masaryk, der sogar eine lager- und volksgruppenübergreifende Identifikationsfigur zu werden vermochte. Als zugleich national wie universalistisch argumentierender Intellektueller verkörperte er geradewegs einen Idealtypus analog der französischen politischen Repräsentationsklasse. Schon der Vergleich mit Hindenburg, der konträr zu seinen Einheitsappellen nur mit knappem Stimmenvorsprung ins Amt gelangte, verweist auf das in historischer Repräsentationsanalyse zu beachtende Eigengewicht personaler Symbolisierung des Staatsganzen (vgl. den Beitrag Lehnert): Des Generalfeldmarschalls a.D. politische Vorstellung einer weltkriegsgeprägten „Volksgemeinschaft“ mündete letztlich in der Machtübergabe an den „Frontkämpfer“ Hitler, der keinen Zweifel gelassen hatte, wie er mit inneren Gegnern umzuspringen beabsichtigte. Die Analysen zu den mehr oder minder instabilen parlamenta27 Die Erste Tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat, Hg. Karl Bosl, München 1979.

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rischen Demokratien in unmittelbarer deutscher Nachbarschaft stimmen darin überein: Ohne den sich ab 1933 in Stufen verschärfenden Außendruck wäre ein kompletter Systemwechsel nach Muster des italienischen Faschismus oder gar des NS-Regimes in Österreich und der CSR sowie Frankreich unwahrscheinlich gewesen. Damit sind halbautoritäre Verhältnisse als historische Möglichkeit aber nicht auszuschließen. An der Schweiz und Großbritannien sowie den Niederlanden und Skandinavien prallte die braune Sturzflut angesichts gefestigter Demokratiekultur ab.28

3.  Ausblick: Interdisziplinäre Perspektiven Historische Demokratieforschung ist nicht allein eine geschichts- und damit wesentlich kulturwissenschaftliche Aufgabe. Schon die Liste der Beitragenden zeigt, dass stets ebenso politik- und damit nicht minder auch sozialwissenschaftliche Fragestellungen mit einfließen. In den angedeuteten Bemühungen, die Bedeutungsvielfalt von Demokratie- und Repräsentationsbegriffen zugleich im Bezug auf die Verankerung solcher Konzepte in Verfassungsnormen zu bändigen, wird der rechtswissenschaftliche Ergänzungsbedarf deutlich. Nicht erst das Bielefelder Projekt „Historische Sozialwissenschaft“29, inzwischen um Kultur- und „Neue Politikgeschichte“ ergänzt30, versuchte den Brückenschlag über die Grenzen der Fachdisziplinen. Um eine Verbindung aus historischen und politologischen Aspekten bemühten sich auch bereits z.B. die „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte“.31 Im weiteren Sinne als Zeitgeschichte kann gelten, was als unmittelbare Vorgeschichte der Gegenwart zu deren vertiefter Sicht beiträgt. Solange wir uns in einem demokratischen und

28 Zum Überblick und historischen Vergleich außer Gusy (Hg.) 2008 auch: Horst Möller, Europa zwischen den Weltkriegen, München 1998; Gunther Mai, Europa 1918–1939, Stuttgart 2001; Marie-Luise Recker (Hg.), Parlamentarismus in Europa, München 2004; Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007. 29 Vgl. Bettina Hitzer/Thomas Welskopp (Hg.), Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen, Bielefeld 2010. 30 Vgl. Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a.M. 2005. 31 Vgl. Hans Mommsen, Zum Verhältnis von Politischer Wissenschaft und Geschichtswissenschaft in Deutschland, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 19 (1962), S. 341–372.

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nicht etwa postdemokratischen Zeitalter befinden, wird dieser Erkenntnisgewinn anzunehmen sein. Eine geradewegs im Doppelsinne repräsentative Demokratielehre im pluralismustheoretischen Verständnis wurde dann, im Übergangsbereich seiner juristischen Herkunft zu politikwissenschaftlichen Ansätzen, von Ernst Fraenkel vorgelegt.32 Ohne den Blick auf „Verfassungskulturen“ werden europäisch vergleichende Studien zur Demokratiekultur und Repräsentationsanalyse nicht auskommen.33 Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat jüngst daran erinnert, dass Fraenkels Pluralismustheorie in Grundzügen auch schon beim Weimarer „Verfassungsvater“ Hugo Preuß angebahnt wurde.34 Die Erarbeitung solcher Konzepte war und ist ohne das Einfließen zumindest geschichts-, rechts- und politikwissenschaftlicher Gesichtspunkte nicht vorstellbar. Das akademische Gegenstück zum kulturellen, sozialen und verfassungspolitischen Pluralismus heißt auch in Zukunft: Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung.35

32 Vgl. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1974. 33 Vgl. Peter Brandt u.a. (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005. 34 Vgl. Andreas Voßkuhle, Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus, in: Jürgen Kocka/Günter Stock (Hg.), Hugo Preuß: Vordenker der Pluralismustheorie, Berlin 2011, S. 23–42. 35 Angesichts der Länder- und teilweise auch Sprachenvielfalt der Namen wurde auf ein Personen- oder gar Sach-Verzeichnis und die letzte Vereinheitlichung der Einzelbeiträge in diesem Band verzichtet.

WOLFRAM PYTA

Demokratiekultur: Zur Kulturgeschichte demokratischer Institutionen

Der vorliegende Beitrag verfolgt die Absicht, den Begriff „Demokratiekultur“ so zu operationalisieren, dass er zur Erfassung der historischen Entwicklung im Europa der Zwischenkriegszeit taugt. Es kommt mithin darauf an, einen Begriff von „Demokratiekultur“ zu konturieren, welcher die zum Teil jungen Demokratien im Europa der 1920er Jahren nicht normativ überfordert. Damit ist eine Vorstellung von Demokratie zugrunde zu legen, die dem Umstand Rechnung trägt, dass zumindest in Deutschland und Österreich die Idee der Volkssouveränität sich erst nach 1918 Bahn brechen und damit die Weichen für eine demokratische Staatsordnung stellen konnte. Ein solches Unterfangen kann sich nicht auf eine Überfülle von Vorarbeiten stützen. In historisch-systematischer Perspektive scheint mit dem Terminus „Demokratiekultur“ nur selten gearbeitet worden zu sein. Anders steht es mit dem Begriff „Verfassungskultur“, der jedoch einen anderen Schwerpunkt setzt. Verfassungskultur fragt danach, welche politisch-kulturellen Deutungsmuster in Verfassungen eingelagert sind.1 Dabei schwingt die Auffassung mit, dass Verfassungen eine besondere expressive Kraft innewohnen kann, insofern sie diese Ordnungsvorstellungen symbolisch verdichten. Eine derartige symbolische Aufladbarkeit von Verfassungen stellt einen erheblichen Vorzug in Hinsicht auf diejenigen Integrationsleistungen dar, welche alle Verfassungsstaaten zu erbringen haben.2 In eine ähnliche Richtung argumentieren auch die historisch-systematisch ausgerichteten Beiträge eines einschlägigen Sammel1

Zum Begriff der Verfassungskultur vgl. die instruktiven Beiträge in: Peter Brandt (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005, sowie in: Werner Daum u.a. (Hg.), Kommunikation und Konfliktaustragung. Verfassungskultur als Faktor politischer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Berlin 2010. 2 Hierzu hat insbesondere der Dresdner Sonderforschungsbereich „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ wegweisende Studien vorgelegt, vgl. vor allem Hans Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, sowie als herausragende Monographie André Brodocz, Die symbolische Dimension der Verfassung. Ein Beitrag zur Institutionentheorie, Wiesbaden 2003. Wichtige Erkenntnisse enthält die Studie von Daniel Schulz, Verfassung und Nation. Formen politischer Institutionalisierung in

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bandes, welcher in interdisziplinärer Perspektive nach den verfassungs- und institutionsgeschichtlichen Voraussetzungen für die Stabilität bzw. Instabilität parlamentarischer Demokratien im Europa der Zwischenkriegszeit fragt – eine Fragestellung, die sich bislang noch im Anfangsstadium vertiefter Exploration befindet.3 „Demokratiekultur“ setzt andere Akzente als der Begriff „Verfassungskultur“; er ist restriktiver, weil er nicht auf beliebige konstitutionelle politische Systeme abzielt, sondern auf demokratisch legitimierte Verfassungsstaaten. Daraus folgt die Leitfrage nach denjenigen Sinnkonfigurationen, welche gewissermaßen die kulturelle Innenseite demokratischer Herrschaft bilden. Demokratie ist in diesem Verständnis nicht reduzierbar auf eine durch das spezifische Arrangement ihrer Institutionen ausgewiesene Staatsform; sie speist sich daraus, dass demokratieaffine Vorstellungen über das Politische lebensweltlich verankert sind und von demokratischen Institutionen symbolisch zum Ausdruck gebracht werden. Damit wird zugleich eine Form von Demokratie als operationalisierbarer Begriff favorisiert, der Institutionen und demokratieaffine politische Kultur nicht in einem Spannungsverhältnis, sondern in einem sich wechselseitig ergänzenden Interaktionsverhältnis sieht.

1.  Demokratieverständnis Ein solcher praktikabler Demokratiebegriff darf, um auf die historischen Konstellationen der Zwischenkriegszeit übertragbar zu sein, den jungen Demokratien der 1920er Jahre keine normativen Hypotheken aufbürden, die durch ein zu stark Input-orientiertes Demokratieverständnis erzeugt werden. Daher ist aus grundsätzlichen wie aus historisch-pragmatischen Gründen ein Begriff von Demokratie zu favorisieren, der die Output- und Inputorientierung eines demokratischen Systems im Gleichgewicht hält. Auch Demokratie ist eine Herrschaftsordnung, bei der sich Herrschaft durch ein mittels geregelter Verfahren herbeigeführtes Votum des Volkes legitimiert, das politische Ämter immer nur auf Zeit vergibt. Demokratie meint mithin nicht Selbstregierung des Volkes, sondern die durch einen verfahrensmäßig geregelten Volkswillen sichergestellte Legitimation von zeitlich gebundener Herrschaft.

Deutschland und Frankreich, Wiesbaden 2004; siehe weiterhin Jürgen Gebhardt (Hg.), Verfassung und politische Kultur, Baden-Baden 1999. 3 Christoph Gusy, Verfassungsumbruch bei Kriegsende, in: Ders. (Hg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008, S. 15-51.

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Aber auch bei Anlegen dieser Minimaldefinition sind verschiedene Spielarten von Demokratie möglich. Diese unterscheiden sich danach, ob sie die Akzente stärker auf die Input-Orientierung oder die Output-Orientierung eines demokratischen Staatswesens legen. Wird größerer Wert auf ein Höchstmaß an Partizipation gelegt, dann soll der Prozess demokratischer Willensbildung möglichst ausgefeilt sein, damit auf diese Weise ein hohes Maß an Teilhabe von unten an den Entscheidungen verbürgt wird. In besonderer Weise setzt das Modell deliberativer Demokratie darauf, die Legitimität demokratischer Entscheidungen dadurch zu erhöhen, dass sich Staatsbürger nicht nur mittels des Wahlakts am politischen Prozess beteiligen, sondern durch Partizipation an öffentlichen Debatten ihre politischen Präferenzen verfeinern und in einem rationalen Aushandlungsprozess strukturieren.4 Das deliberative Modell von Demokratie vertraut darauf, dass eine Verdichtung der politischen Kommunikation durch einen vernunftmäßig gesteuerten Austausch von Argumenten erzielt und damit letztlich die Qualität des politischen Prozesses verbessert wird. Mit seiner Konzentration auf die Optimierung demokratischer Verfahren wohnt dem Modell deliberativer Demokratie eine gewisse Indifferenz gegenüber der Bedeutung von Institutionen inne. Die Orientierung an einer Idealvorstellung rationaler politischer Kommunikation macht dieses Modell zudem für historische Untersuchungen wenig brauchbar, da ein Blick zumindest auf die Zwischenkriegszeit verrät, wie wenig die politischen Akteure diesem Idealbild entsprachen. Man wird sogar konstatieren können, dass eine besonders starke politische Durchrüttelung der Gesellschaften und damit ein gesteigertes Maß an politischer Partizipation der Stabilität der demokratischen Institutionen oft wenig zuträglich war, wie allein das Schicksal der Weimarer Republik zeigt. Die unserem Untersuchungsgegenstand angemessenere Demokratiekonzeption wird daher ein „ausgewogenes Verhältnis von Effektivität und Legitimation durch Diskussion und Verfahren“5 avisieren. Gerade junge Demokratien legitimieren sich – und dies hat die Zwischenkriegszeit zur Genüge gezeigt – durch ihre Handlungsfähigkeit und werden mithin an ihrer Leistungsbilanz in Hinsicht auf ihren Output gemessen.6 Dieser Umstand rückt 4

Zum Modell deliberativer Demokratie u.a.: Kurt Imhof, Der normative Horizont der Freiheit. „Deliberation“ und „Öffentlichkeit“: zwei zentrale Begriffe der Kommunikationswissenschaft, in: Wolfgang R. Langenbucher (Hg.), Die Kommunikationsfreiheit der Gesellschaft, Wiesbaden 2003, S. 25–57; Gary S. Schaal/Felix Heidenreich, Einführung in die Politischen Theorien der Moderne, Opladen 2006, S. 189–219. 5 Gusy, Verfassungsumbruch, 2008, S. 42. 6 Vgl. Martin Morlok, Demokratische Verfassungen: Leistungsmöglichkeiten und Grenzen, in: Gusy, Demokratie in der Krise, 2008, S. 390–416, vor allem S. 394 und S. 410.

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diejenigen Organe des demokratischen Staates ins Zentrum, welche die strukturellen Voraussetzungen für eine derartige Entscheidungsfähigkeit schaffen sollen. Damit wird zumindest implizit das liberale Modell von Demokratie favorisiert, welches politische Willensbildung so kanalisieren möchte, dass die Aktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen durch ein Übermaß an Partizipation nicht Schaden nimmt und damit ihre Handlungsfähigkeit eingeschränkt wird.

2.  Demokratiekultur Nachdem somit ein operationalisierbarer Begriff von Demokratie zur Verfügung steht, kommt es nun darauf an, den Terminus „Demokratiekultur“ zu einem heuristisch ergiebigen Konzept zu formen. Aus der vorherigen Option für ein liberales Modell von Demokratie lässt sich ein Ansatz ableiten, der den Vorzug besitzt, die der Demokratie angemessene institutionelle Ausstattung mit den kulturellen Fundamenten zu verbinden, auf denen eine demokratische Herrschaftsordnung fußt. Dieser Brückenschlag kann am ergiebigsten geleistet werden, wenn man auf das vom Historiker und Politikwissenschaftler Karl Rohe entwickelte Konzept der politischen Kultur rekurriert. Dieser Ansatz hat für eine historisch-systematische Fragestellung den kaum zu überschätzenden Vorteil, dass er die Dynamik der Beziehungen zwischen soziokulturell verankerten Grundvorstellungen über das Politische – von Karl Rohe „Soziokultur“ genannt – und der diskursiven Thematisierung solcher Ordnungsvorstellungen im aktuellen politischen Meinungsstreit – von Rohe als „Deutungskultur“ bezeichnet – mit einem verfeinerten Begriffsinstrumentarium einfängt.7 Übertragen auf die Frage nach „Demokratiekultur“ lassen sich aus diesem Ansatz zwei wichtige Erkenntnisse ableiten:8 Einmal bewahrt er vor einer zu engen institutionengeschichtlichen Perspektive, weil er das Funktionieren demokratischer Ordnungen daraus herleitet, dass demokratische Institutionen genährt werden von bestimmten inhaltlichen Vorstellungen über das Politische, die in die Tiefenschichten der politischen Kultur eingelassen sind. Zum anderen weist sie deutungskulturellen Eliten die zentrale Aufgabe zu, die politische Kultur durch diskursive Anstrengungen in einem demokratieaffinen Sinne zu prägen. Dieser Befund enthält für die neu entstandenen Demokratien im Europa der Zwischenkriegszeit die zentrale Aussage, dass deren Führungsschich7 Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 321–346. 8 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Schulz 2004, S. 24 f.

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ten auch mit der „Erblast“ einer wenig demokratiegeneigten politischen Soziokultur gestalterisch umgehen und sie in einem demokratietauglichen Sinne in einem mittelfristigen Prozess verändern konnten. Rohe rehabilitiert in gewisser Weise die politischen Eliten, indem er sie für befähigt hält, einen Wandel der politischen Kultur in ihrem Sinne zu bewerkstelligen. Damit bürdet er ihnen aber zugleich eine enorme Verantwortung auf. Politische Kultur ist insofern auch das Resultat einer gelungenen Konstruktionsleistung deutungskultureller Eliten. „Bei politischer Kultur als Prozess geht es um keine bloßen kulturellen Vermittlungsleistungen, so unabdingbar selbstverständlich Vermittlungsleistungen und Medienzugang sind, wenn eine politisch-kulturelle Botschaft mit Erfolg an den Mann gebracht werden soll, sondern um kulturschöpferische Leistungen ..., die neue politische Denk- und Handlungsmöglichkeiten eröffnen, in der Tradition aufbewahrte Sinnbezüge neu erschließen oder für eine wie immer genauer zu qualifizierende Gruppe neue politische Formen und Symbole entwickeln“.9 Damit haben wir einen archimedischen Punkt erreicht, der uns gestattet, das Verhältnis zwischen den politischen Eliten und der Bevölkerung unter dem Aspekt der Demokratiekultur präzise zu bestimmen und uns damit Leitfragen für die künftige Gedankenführung an die Hand zu geben. Das Grundproblem, mit dem die Träger neuer demokratischer Ordnungen nach 1918 europaweit konfrontiert waren, bestand darin, wie sie mit einer politischen Kultur umgingen, in der die Wertschätzung für demokratische Zentraleinrichtungen wie das Parlament noch nicht so fest verankert war, dass sie Bestandskrisen überdauert hätte. Rohe formuliert diese Herausforderung so: „Neu installierte politische Regime, wenn sie sich auf Dauer als legitime politische Regime etablieren wollen, müssen entweder fähig sein, einen politischen Kulturwandel der Bevölkerung zu bewirken, oder aber in der Lage sein, vor den überkommenen politischen Beurteilungsmaßstäben zu bestehen“.10

3.  Primat der parlamentarischen Institutionen Die hier zugrunde gelegte Demokratiekonzeption räumt den demokratischen Institutionen eine herausragende Stellung bei der Austarierung von Partizipation und Handlungsfähigkeit ein. Damit stellt sich die Frage, welcher dieser Institutionen im Sinne der Leitfrage nach den Funktionsbedingungen von Demokratiekultur die Schlüsselrolle zufällt. Eine Reihe von Argumenten spricht 9 Rohe 1990, S. 339. 10 Ebd., S. 334.

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dafür, das Parlament als zentrale Einrichtung zu sehen, die in besonderer Weise zum Indikator der kulturellen Verfasstheit von Demokratien taugt. Dies liegt zum einen daran, dass das Parlament der verfassungsmäßig vorgesehene Ort ist, an dem Gesellschaft in die Politik hineinragt und mit Hilfe von Parteien oder sonstigen Beauftragten ihre Interessen in den politischen Prozess einspeist. Das Parlament ist aber vor allem das Organ, das in einem komplexen Verfahren den demokratischen Willen konstituiert. Der Volkswille ergibt sich in einer Demokratie immer erst als Resultat eines Willensbildungsprozesses, an dem neben dem Parlament auch andere demokratisch legitimierte Organe wie ein Präsident beteiligt sein können, der aber niemals ohne das aktive Zutun des Parlaments vorstellbar ist.11 Es ist also ein unabhängiger Organwille des Parlaments zu konstatieren, der nur dann als defizitär erscheinen kann, wenn von der Existenz eines einheitlichen, ontologisch feststehenden Volkswillens ausgegangen wird. Dann nämlich würde das Parlament auf die Funktion reduziert, einen präexistenten homogenen Volkswillen nur abzubilden statt aktiv den Willen des Volkes zu organisieren und damit zu gestalten.12 In einem liberalen Demokratiemodell fallen Volk und Parlament auseinander; es sind unterschiedliche Organe, wobei dem Parlament die Aufgabe der Kreation des Volkswillens zufällt. Daraus ergibt sich zugleich die Notwendigkeit einer ästhetischen Differenz: Das Parlament ist nicht die gewissermaßen mimetische Repräsentation des Volkes.13 In der deutschen Rechtswissenschaft hat vor allem Hans Kelsen dem Parlament die zentrale Funktion der Formung des demokratischen Willens zugewiesen, weil nur auf diese Weise das Individuum vor den freiheitseinschränkenden Konsequenzen der Stipulation eines prädeterminierten Volkswillens wirksam geschützt werden kann.14 Wir haben demnach zu fragen, inwieweit eine liberal imprägnierte Vorstellung von der Rolle des Parlaments in der politischen Kultur angelegt war bzw. von den politischen Eliten und nicht zuletzt von den Parlamentariern selbst propagiert wurde. Zumindest in Deutschland gab es eine entgegengesetzte 11 Vgl. Christoph Gusy, Auf dem Weg zu einer vergleichenden europäischen Verfassungsgeschichte der Zwischenkriegszeit – Ein Tagungsbericht, in: Ders. (Hg.), Demokratie in der Krise, 2008, S. 417–439, hier S. 423 f.; siehe auch Oliver Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 366–414. 12 Vgl. die luziden Ausführungen von Lepsius, ebd., S. 390–414. 13 Vgl. Kari Palonen, Parliamentarism: A Politics of Temporal and Rhetorical Distances, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 15 (2004), S. 111–125. 14 Lepsius 2000, S. 403–411; zu Kelsen siehe auch Detlef Lehnert, Der Beitrag von Hans Kelsen und Hugo Preuß zum modernen Demokratieverständnis, in: Gusy (Hg.) 2000, S. 221–255.

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Auffassung von Demokratie, die – wie das Beispiel Carl Schmitt zeigt – von einem homogenen und präexistenten Volkswillen ausging und daher das Parlament auf die Funktion reduzierte, diesen angenommenen Volkswillen bloß abzubilden.15 Insofern ist die Anfrage nach der Funktion des Parlaments bei der Gestaltung des demokratischen Willens der maßgebliche Indikator für die Zuweisung einer Demokratiekultur. Demgegenüber ist die Rolle der Staatsform nebensächlich. Monarchien sind nicht weniger kompatibel mit den Anforderungen einer Demokratiekultur als Republiken, falls es sich um parlamentarische Monarchien handelt. In der Umbruchphase nach 1918 warfen Monarchien sogar noch einen funktionalen Nutzen ab, weil sie einen Stabilitätsanker bilden und damit eine wichtige Integrationsfunktion erfüllen konnten, um traditionalistische Kräfte mit der Demokratie zu versöhnen.16 Parlamente bilden aber auch eine Nabelschnur, welche die zu politischer Willensbildung befähigten Abgeordneten mit dem Demos verbindet. Dies bezieht sich nicht nur auf den intensiven kommunikativen Austausch zwischen den Parlamentariern und ihren Wählern; es gilt nicht zuletzt für die soziale Durchlässigkeit des Parlaments. Parlamente sind diejenigen Organe des demokratisch verfassten Staates, in denen am leichtesten eine Elitenrekrutierung von unten erfolgen kann. Damit hat als ein weiteres Kriterium für Demokratiekultur zu gelten, ob Parlamente soziale Mobilität indizieren, indem sozialen Aufsteigern die Mitwirkung an der Kreation des Volkswillens ermöglicht wird. Dieses funktionale Kriterium ist anscheinend gerade von den Zeitgenossen als ein starkes Argument für die Bejahung der Demokratie angesehen worden17; daher sollte es eine wichtige Rolle spielen. Denn die Geschichte des Parlamentarismus kennt nicht wenige Fälle von sozial abgeschotteten Körperschaften, in denen oligarchisch verfasste Parteien über die Zuteilung sicherer Mandate entschieden und damit die Zusammensetzung des Parlaments in ihrem Sinne steuerten.

15 Vgl. Lepsius 2000, S. 376–382. 16 Marcus Llanque, Die Diktatur im Horizont der Demokratieidee. Zur verfassungspolitischen Debatte der Zwischenkriegszeit, in: Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise, 2008, S. 52–85, hier S. 72 f.; sowie Gusy, Auf dem Weg, 2008, S. 420 f. 17 Vgl. Gusy, Verfassungsumbruch, 2008, S. 47; siehe auch Thomas Hertfelder, „Meteor aus einer anderen Welt“. Die Weimarer Republik in der Diskussion des Hilfe-Kreises, in: Andreas Wirsching/Jürgen Eder (Hg.), Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008, S. 29–55, vor allem S. 39– 42.

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Gemäß der bisherigen Argumentation erscheint mithin eine Konzentration auf das Parlament als Zentralort demokratischer Willensbildung einsichtig. Dabei sollen in einem kursorisch angelegten Streifzug im Folgenden vier Aspekte angeschnitten werden, die für die Herausbildung einer Demokratiekultur als wesentlich erachtet werden können. Diese vier Indikatoren ergeben sich gleichermaßen aus systematischen wie historischen Beobachtungen, welche sich auf die Kontexte der Entstehung parlamentarischer Demokratien in Europa nach 1918 beziehen: Erstens ist der Inhaltsseite der politischen Kultur gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, wobei eine spezifische Auffassung von „Volkswille“ darüber befindet, inwieweit das Parlament als bevorzugter Ort demokratischer Willensbildung anerkannt wird oder nicht. Zweitens gilt es dem Aspekt der Zeitkultur des Parlamentarismus hinreichende Beachtung zu schenken, weil sich auf diese Weise die enge Verbindung zwischen kultureller Fundierung und politischen Handlungsspielräumen demokratischer Institutionen ablesen lässt. Drittens gilt es, die Frage nach der Fähigkeit des Parlaments zur symbolischen Aufladbarkeit aufzuwerfen, was es mit sich bringt, Überlegungen zur „visual culture“ mit produktionsästhetischen Fragen nach der architektonischen Expression des Parlamentarismus zu verknüpfen. Viertens ist der Wahlvorgang selbst, die Wahlkultur mithin, als konstitutiver Bestandteil von Demokratiekultur in den Blick zu nehmen. Es versteht sich von selbst, dass im Rahmen dieses Beitrags die in diesen Indikatoren erwähnten Bezüge oft nur flüchtig angerissen werden können. Die Vertiefung bleibt künftigen Forschungsanstrengungen vorbehalten, welche von einer historisch-systematisch angelegten Parlamentarismusforschung, die produktiv auf begriffliche und methodische Offerten aller mit der Verbindung von Kultur und Politik befassten Disziplinen zurückgreift, noch zu leisten wäre.

4. Volks- und Nationsbegriff Die kulturelle Fundierung einer parlamentarismuszentrierten Demokratiekonzeption wird in erster Linie das historisch kontingente Verhältnis von „Volk“ und „Nation“ in Betracht ziehen müssen. Der Geltungsanspruch demokratisch verfasster Legitimation von Herrschaft bezieht sich wegen des Legitimationssubjekts – des Volkes – zunächst auf das eigene Staatsvolk und das eigene Staatsgebiet. Mit dem Begriff „Nation“ wird dem Staatsvolk die zusätzliche Qualität einer politischen Willensgemeinschaft verliehen; daraus entspringt

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seit der amerikanischen und französischen Revolution der Auftrag, staatliche Autorität durch Rekurs auf die in der Nationsvorstellung steckenden integrativen Potenzen zu stärken. Die Geschichte des Nationalismus lehrt uns allerdings, dass die Vermählung zwischen Staat und Nation tendenziell erkauft wurde mit einer bellizistischen Neigung und der Exklusion bestimmter Gruppen aus der nationalen Gemeinschaft.18 Im Ersten Weltkrieg zeigte sich die Janusköpfigkeit dieses Nexus zwischen Nation und Demokratie in besonderer Weise: Zum einen wurde mit Hilfe der Nation eine qualitativ neue Vorstellung von Partizipation in bislang demokratisch unterentwickelte Staaten eingeschleust, wovon insbesondere die innere Entwicklung des Deutschen Kaiserreichs zeugt. In der Vorkriegszeit konnten sich die Eliten des Kaiserreichs auf verbale Verbeugungen vor der Nation beschränken und sich in einen Hurra-Patriotismus flüchten, der nicht die für sie beunruhigende Vorstellung einer Verschiebung der Legitimationsgrundlage weg von monarchischer Herrschaft hin zur Volkssouveränität enthielt. Doch die nationale Solidarität, welche der Weltkrieg nicht zuletzt der deutschen Arbeiterbewegung abverlangte, ließ es nicht länger zu, die Nation auf den Status einer politisch folgenlosen Bekenntnisgemeinschaft zu reduzieren. Unter dem Dach der „Ideen von 1914“ wuchs sich der Rekurs auf das – als nationales Einheitserlebnis empfundene – Zusammenstehen der Nation im August 1914 aus zu einem immer lauteren Pochen auf verstärkte politische Teilhabe, dem sich letztlich nur die preußischen Konservativen entzogen.19 Doch das deutsche Beispiel lehrt eindrücklich, dass ein solches Partizipationsverlangen an sich nicht zu einer Option für ein liberales Demokratiemodell führen musste – im Gegenteil. Die Gründe dafür liegen in der politischen Kultur, die lager- und parteiübergreifend eine Konzeption von „Volk“ favorisierte, die antipluralistisch ausgerichtet war und daher die Austragung gesellschaftlicher und politischer Interessengegensätze auf parlamentarischem Wege als Störung einer präexistenten Volkseinheit auffasste. Damit wurden andere Verfahren – nämlich eine Mischung aus plebiszitären und korporativen Elementen – bevorzugt, um den Willen des Volkes zu repräsentieren und ihn

18 Grundlegend hierzu ist die (preisgekrönte) Studie von Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914, München 2008, vor allem S. 825–836. 19 Maßgeblich hierfür ist Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; vgl. auch Wolfram Pyta, Antiliberale Ideenwelt in Europa bei Kriegsende, in: Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise, 2008, S. 86–104, vor allem S. 92 f.

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zum Maßstab des exekutiven Handelns zu machen.20 Die Revitalisierung der Nation im Gefolge des Weltkriegs lief in Deutschland mithin auf ein Demokratiekonzept hinaus, das sich dem Ziel der „Volksgemeinschaft“ verpflichtet fühlte und damit von Anfang an das Parlament nicht als Organ der Herstellung des Volkswillens betrachtete, sondern tendenziell mit der Aufgabe versah, eine an sich bereits vorhandene „Volksgemeinschaft“ nur abzubilden. Doch musste eine solche Verengung der Demokratiekonzeption nicht das zwangsläufige Ergebnis des Weltkriegs sein. Ein Blick auf Großbritannien und Frankreich zeigt, dass in diesen beiden gewachsenen und traditionsreichen Nationalstaaten die innere Integrationskraft der Nationsvorstellung zwar ebenfalls durch den Krieg nachhaltig gestärkt wurde, dies aber nicht mit dem Siegeszug einer antipluralistischen Variante des Volksbegriffs verbunden war. Hinzu kommt der für die hier dargelegte Argumentation entscheidende Umstand, dass beide Staaten nie für national exklusive Ideen wie die deutschen „Ideen von 1914“ eintraten, sondern ihre Nationsvorstellungen untrennbar mit dem Eintreten für universalisierbare politische Ordnungsvorstellungen verbunden waren.21 Auf diese Weise konnte der Erste Weltkrieg auch als eine Art Kulturkampf geführt werden, in dem sich die beiden Demokratien des Westens einer zivilisatorischen Sendung verpflichtet fühlten, während das Deutsche Reich bei seiner Begründung des Krieges die nationalstaatliche Enge nicht verließ und sich stattdessen hinter einem eigenen deutschen Weg der Kultur in Kontrast zur westlich-dekadenten Zivilisation verschanzte – eine trotzige Selbstbehauptung, der jede internationale Ausstrahlung mangelte.

5.  Zeitkulturen der politischen Institutionen Eine Kulturgeschichte demokratischer Institutionen wird dem Aspekt der Zeitkultur gebührende Aufmerksamkeit schenken müssen. Denn die Legitimität demokratischer Institutionen beruht nicht zuletzt darauf, dass diese mit Erfolg eine institutionelle Eigengeschichte konstruieren. Institutionen, die eine subjektiv geformte Eigenzeit erzeugen und mithin aus dem Zeitfluss der chronolo20 Ebd., siehe auch Steffen Bruendel, Solidaritätsformel oder politisches Ordnungskonzept? Vom Burgfrieden zur „Volksgemeinschafts“-Idee in Deutschland 1914–1918, in: Wolfram Pyta/Carsten Kretschmann (Hg.), Burgfrieden und Union Sacrée. Literarische Kriegsdeutungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich, München 2011, S. 33–50. 21 Andreas Wirsching, Verfassung und Verfassungskultur der Zwischenkriegszeit, in: Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise, 2008, S. 371–389, hier S. 389.

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gischen Zeit eine institutionelle Eigengeschichte gestalten, wirken traditionsbildend und können sich auf diese Weise als auf Dauer angelegte Einrichtungen verstehen. Gewendet auf die demokratische Kerninstitution des Parlaments bedeutet dieser Befund, dass ein Parlament durch die stetige Vergegenwärtigung einer kreativ konstruierten Vergangenheit die eigene Dauerhaftigkeit begründet und damit den eigenen Geltungsanspruch zeitkulturell flankiert. Die heuristische Ergiebigkeit dieses Zugriffs ist von politikwissenschaftlicher Seite bereits im Rahmen des anregenden Dresdner Sonderforschungsbereichs „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ getestet worden.22 Woran es bislang weitgehend mangelt, sind geschichtswissenschaftliche Studien, welche Zeitverarbeitung als politikmächtige Ressource ins Zentrum rücken und diesen Ansatz auf die europäische Zwischenkriegszeit übertragen. Daher können an dieser Stelle nur einige wichtige Faktoren thematisiert werden, die der Herausbildung institutioneller Eigenzeiten von Parlamenten gerade in der Zwischenkriegszeit förderlich bzw. hinderlich waren. Eine zentrale Bedingung ist erforderlich, damit demokratische Institutionen temporale Sinnhaftigkeit in Gestalt von Eigenzeit entwickeln können. Um durch die Konstruktion einer eigenen Geschichte institutionelle Selbstvergewisserung zu erreichen, bedarf es einer Selbstthematisierung der Institution, die über implizite oder explizite Reflexion des eigenen Handelns geschieht. Damit über die Selbstthematisierung des Handelns institutionelle Eigenzeit erzeugt werden kann, bedarf es jedoch der Emanzipation der Handelnden von allen Spielarten eines teleologischen Verlaufs von Geschichte. Denn jede Behauptung eines feststehenden, eines vermeintlich gesetzmäßig fixierten Ablaufs der Geschichte reduziert die historischen Akteure und damit auch Institutionen als Kollektiv solcher Akteure auf eine unselbständige Funktion, aus der heraus sich kein institutionelles Selbstbewusstsein entwickeln lässt und damit auch keine Stiftung von institutioneller Eigenzeit.23 Auch demokratische Institutionen müssen sich mithin von der Einschränkung ihrer Selbstinterpretation durch eine solche Teleologie schützen. Nur wenn die chronologisch ablaufende Zeit als eine kontingente Größe aufgefasst wird, fällt einer Institution wie dem Parlament die Möglichkeit zu, aus dem Bezug auf die kontingente, chronologisch verfließende Fremdzeit eine institutionelle Eigenzeit zu formen und sich mithin durch die Konstruktion 22 Siehe vor allem André Brodocz, Die Eigenzeit des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 24 (2003), S. 183–217, sowie Stephan Dreischer, Parlamente und ihre Zeit, in: Werner J. Patzelt/Ders. (Hg.), Parlamente und ihre Zeit. Zeitstrukturen als Machtpotentiale, Baden-Baden 2009, S. 9–54. 23 Brodocz, Eigenzeit, 2003, S. 188–190.

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von eigenzeitlicher Tradition im geschichtlichen Ablauf eine unverwechselbare institutionelle Identität zu verschaffen. Die Herstellung von Eigenzeit ist somit immer abhängig von dem gelungenen Projekt der Traditionalisierung der Institution. Im optimalen Falle legitimiert sich ein Parlament dadurch, dass der Verweis auf seine in der Vergangenheit bewährte funktionale Unentbehrlichkeit für die Aufrechterhaltung einer Demokratie bereits einen politisch unanfechtbaren Geltungsanspruch enthält.24 Geglückte und politisch durchschlagende Selbstreferentialität wäre mithin ein geeignetes Kriterium für eine Demokratiekultur des Parlamentarismus. Damit stellt sich die Anschlussfrage, welche Zeitkonzepte der Ausbildung von Demokratie förderlich sind und welche nicht. Diese Anfrage richtet sich vor allem auf die kulturell in Umlauf befindlichen Vorstellungen von Zukunft. Nur das Konzept einer prinzipiellen Offenheit von Zukunft stattet eine demokratische Institution wie das Parlament mit der erforderlichen Deutungshoheit aus, um traditionsbildend werden zu können. Dies bedeutet zugleich, dass die kulturell dominierende Vorstellung von Zukunft stets einen Erfahrungsbezug aufweisen muss. Auf diese Weise können Institutionen durch den Rekurs auf von ihnen selbst gemachte Erfahrungen, die aus der sinnhaften Verarbeitung ihres geschichtlich gewordenen Handelns herrühren, ihre Eigengeschichte überhaupt erst sinnbezogen strukturieren. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass utopisches Denken der Ausbildung einer institutionellen Demokratiekultur abträglich ist. Die für Utopien konstitutive Erfahrungsarmut entwertet die traditionsbildende Arbeit demokratischer Institutionen und degradiert sie im Kern als zu überwindende Stationen auf dem Weg in eine völlig andersartige, bessere Zukunft, deren institutionelle Anordnung häufig unklar bleibt. Der ganz eigene zeitliche Modus von Utopien ist somit dysfunktional für die Ausbildung einer demokratischen Zeitkultur von Institutionen.25 Der Zusammenhang von utopisch aufgeladenen Zukunftskonzepten und einer korrespondierenden Entwertung der demokratischen Institutionen ist bereits am Fall der Weimarer Republik aufgezeigt worden. Rüdiger Graf konnte in seiner ausführlichen Analyse der in diesem Zeitraum in Umlauf befindlichen Konzepte zeigen, wie utopiegeladen der Zukunftsdiskurs in der Weimarer Republik war26 und wie sehr die Ausrichtung auf optimistisch konnotierte Zukunftskonzepte bei ihren Verfechtern – ungeachtet ihrer Verortung im politischen Spektrum – zu einer Geringschätzung des Parlaments führte. Der Wille 24 Ebd., S. 199. 25 Vgl. ähnlich Jörn Rüsen, Historische Orientierung, Köln 1994, vor allem S. 48–52. 26 Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008, vor allem S. 329–380.

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zur radikalen Umgestaltung der Gesellschaft und damit der Anspruch auf die Verwirklichung einer neuen, einer besseren Zukunft war nicht zu vereinbaren mit den komplexen Strukturen demokratischer Prozeduren in einem repräsentativen Organ der politischen Willensbildung. Es bietet sich überdies an, solche eher diskursgeschichtlich angelegten Studien über Zeitdeutungen stärker zu verbinden mit Untersuchungen, welche den Akzent auf die dominierenden Handlungsstile historischer Akteure legen. Denn eine praxeologische Orientierung, wie sie jüngst vor allem von Sven Reichardt mit großem Gewinn postuliert wird27, besitzt den zentralen Vorzug, dass sie Handlungen als kulturelle Praxis auffasst und damit imstande ist, im Handlungsvollzug sozial gefasste Deutungsmuster zu identifizieren – mithin auch die in Handlungen eingelassene Reflexion und Aneignung der Zeit. Dieser Ansatz trägt speziell für die Zeitkultur der Weimarer Republik insofern zur Vertiefung bei, als er es erlaubt, den in jüngster Zeit verstärkt von der Forschung herausgestellten überbordenden Aktionismus der politischen Akteure28 auf einen spezifischen Umgang mit Zeit zurückzuführen. Aktionismus meint dabei die Dominanz einer Kultur der Tat, die im Vollzug der Tat die Sinnhaftigkeit des Tuns verbürgt. Eine solche aktionistisch aufgeladene Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie das Wie des Tuns für wichtiger erachtet als das Was und Warum. Weniger die Frage nach den Inhalten des Handelns steht im Vordergrund als die Frage nach dem Stil und der Form, in der die Nachdrücklichkeit des eigenen Wollens zum Ausdruck gebracht wird. Dieser als kulturelle Erblast des Ersten Weltkriegs zu erfassende Aktionismus29 bedrohte die demokratischen Institutionen nicht nur deswegen, weil er zur Gewalt neigte; in ihm kam zugleich eine zeitkulturell bedeutsame Entkoppelung zwischen Erwartung und Erfahrung zum Ausdruck. Dies führt uns zum nächsten Punkt der Argumentationskette – nämlich einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses zwischen diesen beiden zeitkulturell bedeutsamen Polen Erfahrung und Erwartung.

27 Vgl. vor allem Sven Reichardt, Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial. Geschichte, Vol. 22 (2007), S. 43–65. 28 Vgl. vor allem Thomas Mergel, Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918–1936, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 91–127; Sven Reichardt, Gewalt, Körper, Politik. Paradoxien in der deutschen Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit, ebd., S. 205–239. 29 Dazu jetzt Wolfram Pyta, Der Erste Weltkrieg und seine Folgen in Deutschland und Frankreich. Kulturelle Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen 1914–1933, in: Ders./Kretschmann (Hg.) 2011, S. 1–32.

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Demokratische Institutionen – und hier vor allem das Parlament – können in temporaler Hinsicht überfordert werden dadurch, dass ein Übermaß an Erwartungen an sie herangetragen wird. Neuere Ergebnisse zur Kulturgeschichte des Politischen der Weimarer Republik haben als einen wichtigen Belastungsfaktor den „Modus der Verheißung“30 identifiziert, d.h. den aus einem Erwartungsdruck resultierenden Anspruch der Politik auf umfassende Problemlösungskompetenz. Eine solche Allzuständigkeit der Politik konnte nur gedeihen auf dem Boden einer Erwartungshaltung, die sich speiste aus einer tief verwurzelten Überzeugung von der Fähigkeit zur umfassenden Gestaltung der Zukunft. Im Grunde bedeutet die Konstatierung eines solchen Befundes, dass sich Erwartungen ablösten von bisherigen Erfahrungen und damit der politische Zukunftsraum als unbegrenzt gestaltbar und formbar galt. Das Streben nach einer ganz anderen, einer besseren Zukunft war damit letztlich eine Frage der Intensität des Willens – und diese Überzeugung in die Kraft des Wollens resultierte im deutschen Falle aus jenem Kult der Aktion, jenem Glauben an „zukunftsgestaltende Tat“31, die als kulturelle Erblast des Weltkriegs zu begreifen ist. Daraus resultierte eine Einstellung gegenüber der Komplexität von politischen Entscheidungsprozessen, die dem Parlament als Organ der politischen Willensbildung des Volkes wenig Respekt entgegenbrachte. Parlamentarisches Verhandeln erschien als unnötige Zeitverschwendung, wo doch die mannhafte, die eindeutige Tat gefragt zu sein schien.32 Es ist daher kein Zufall, dass Sicherheit in der Zwischenkriegszeit in Deutschland nicht zu den kulturellen Leitwährungen gehörte – ganz im Unterschied zur Bundesrepublik, deren Geschichte auf kreative Weise von Eckart Conze unter dem Leitaspekt der Sicherheit erzählt wurde.33 Die Konstituierung von Zeitkultur lässt sich begrifflich am besten einfangen, wenn man auf die von Reinhart Koselleck bereitgestellten Termini Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zurückgreift.34 Beide Begriffe eignen sich dazu, einen spezifischen Umgang mit Zeit zum kulturellen Anforderungsprofil 30 Thomas Mergel, Das parlamentarische System von Weimar und die Folgelasten des Ersten Weltkrieges, in: Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie, München 2007, S. 37–59, hier S. 53; vgl. auch Wirsching 2008, S. 382 f., sowie Gusy, Auf dem Weg, 2008, S. 433. 31 Graf 2008, S. 379. 32 Wirsching 2008, S. 386. 33 Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009. 34 Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 349–375.

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für eine parlamentarische Demokratie zu erheben. Denn aus der dynamischen Beziehung zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont lässt sich eine temporale Matrix entwickeln, mit deren Hilfe sich zeitkulturelle Kriterien für parlamentarisch verfasste Demokratien ableiten lassen. Man könnte dies in knapper Form so formulieren: Erwartungen müssen durch Erfahrungen gebändigt werden, damit demokratische Institutionen überhaupt eine Eigenzeit ausprägen und damit traditionsbildend werden können. Nur wenn die Erwartungen an ein politisches System standhalten mit den aus den Erfahrungen sowohl der politischen Akteure wie der Wähler geborenen Einsichten in die Begrenztheit des politischen Aktionsraums, können demokratische Institutionen jene zeitkulturelle Identität und Stabilität entwickeln, die eine unverzichtbare Funktionsbedingung für eine Demokratie sind. Auch die für eine liberale Demokratie unerlässliche kulturelle Ressource des Vertrauens lässt sich mittels der Dynamik von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont einfangen: Die temporale Struktur von Vertrauen besteht darin, dass Vertrauen als „Medium der Kommunikation von Kooperationserwartungen“35 zu fassen ist. Dies bedeutet, dass in einem institutionenzentrierten liberalen Modell von Demokratie ein Grundvertrauen in die Güte des institutionellen Arrangements vorausgesetzt wird. Die Demokratie wird also nicht mit inhaltlichen Erwartungen überfrachtet und als Heilsbringer angesehen, weil man sie in gebotener Nüchternheit auf die immer noch anspruchsvolle Aufgabe reduziert, die politische Teilhabe des Volkes durch kluge institutionelle Anordnungen sicherzustellen. Die demokratische Leitinstitution Parlament besitzt insofern die Aufgabe, die Erwartungen an die Leistungsfähigkeit des politischen Prozesses zu stabilisieren und auf diese Weise Vertrauen als institutionenbezogenes kulturelles Kapital zu generieren. Dieser Befund hat mehrere Konsequenzen: Er verweist erstens darauf, dass Demokratiekultur eingebunden ist in ein spezifisches Geschichtsbewusstsein, in eine bestimmte temporale Strukturierung, die Volker Depkat in einer der theoretisch anregendsten geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen des letzten Jahrzehnts als „Epochenbewusstsein“ bezeichnet hat.36 Die sinnhafte Verarbeitung von Zeit entlang der Pole Erfahrungsraum und Erwartungshorizont führt dazu, dass politische Akteure und damit auch Institutionen eine historische Standortbestimmung vornehmen, die ihr Handeln prägt. Selbstgewählte Handlungseinschränkungen, aber auch ungebändigte und überschäumende Tatkraft können als Ausfluss dieser historischen Selbstverortung gelten. 35 Gary S. Schaal, Vertrauen, Verfassung und Demokratie, Wiesbaden 2004, S. 169. 36 Volker Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007, S. 29 f.

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Zweitens kann der Umgang mit Revolutionen als Lackmustest für ein balanciertes Verhältnis von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont gelten. Christoph Gusy hat in seinem Bericht über die Ergebnisse einer von ihm am ZIF in Bielefeld veranstalteten Tagung darauf verwiesen, dass revolutionär gezeugte Demokratien in der Zwischenkriegszeit mit besonders schweren Problemen zu kämpfen hatten, an deren Bewältigung sie fast alle scheiterten.37 Es würde sich lohnen, diesen Befund unter zeitkulturellen Aspekten genauer zu mustern. Bedeutet Revolution in dieser Hinsicht nicht ein eruptives antiinstitutionelles Aufbegehren, das sich unter den Bedingungen eines entwickelten Konstitutionalismus zwangsläufig gegen das Parlament als Ort des Aushandelns des Volkswillens richten musste? Kamen in allen Revolutionen seit 1917 nicht utopische Erwartungsüberschüsse zu einer aktionistischen Entladung? Feierte in Revolutionen nicht der Kult des Aktionismus, das Berauschen an den Möglichkeiten der eigenen Tatkraft Triumphe? Und lebten Revolutionen nicht vom Kairos des rechten Moments, einem Begriff, der den Vorgriff auf die kommende Zeit mit der Aufforderung zur befreienden Tat aufs engste verknüpft?38 Eine noch zu schreibende Kulturgeschichte der europäischen Revolutionen ab 1917 müsste jedenfalls diesen Fragen Aufmerksamkeit schenken, wenn sie Revolutionen das in ihnen steckende zeitkulturelle Potential abgewinnen wollte.39 Die Fundamentalkritik am Parlamentarismus – von links wie von rechts – berief sich nicht zufällig auf die Revolution als vorbildlichen Modus, wie politische Ziele ohne Abstriche und Kompromisse durchzusetzen seien. Auch von daher wird man die zutiefst skeptische Haltung von Friedrich Ebert gegenüber der Novemberrevolution als Ausdruck einer tief sitzenden Demokratiekultur würdigen können: Ebert war – so wie ihn jüngst Walter Mühlhausen in einer großen Biographie porträtiert hat – hier ganz „demokratischer Doktrinär“40, der keine Abstriche daran machen wollte, dass nur der im Parlament zum Ausdruck kommende Wille des gesamten Volkes für ihn legitimationsspendende Quelle im demokratischen Sinne war. Drittens gehört zur Zeitkultur von Demokratien auch die Frage nach der kommunikativen Verfasstheit von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. 37 Vgl. Gusy, Auf dem Weg, 2008, S. 427 f. 38 Vgl. Palonen 2004, S. 114, sowie Alf Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008. 39 Als Überblick zu dem in dieser Hinsicht defizitären Forschungsstand vgl. Alexander Gallus (Hg.), Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010. 40 Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006, S. 156 (Friedrich Stampfer zitierend).

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Dies impliziert die Frage, welche Typen von Medien zur Verfügung standen, um das Wirken demokratischer Institutionen im Spannungsfeld von Erfahrung und Erwartung zu vermitteln. Welchen Umgang mit Zeit favorisierten traditionelle Schriftmedien im Unterschied zu dem viel stärker der Tagesaktualität verpflichteten neuen Medium Radio? Gab es schon damals eine Beschleunigung der Zeitvorstellungen durch die voranschreitende Technisierung des Lebensalltags? Trug auch der Film dazu bei, die Erwartungen an Politik zu erhöhen, weil der Zuschauer visuell in neue Welten entführt werden konnte?

6.  Symbolgehalte des Parlamentarismus Die Symbolizität des Parlaments verweist auf die zwei Dimensionen der politischen Kultur, die Karl Rohe als Inhaltsseite und als Ausdrucksseite bezeichnet hat.41 Welche Voraussetzungen müssen vorliegen, damit das Parlament als Ort der Herstellung des Volkswillens symbolisch veredelt werden kann zu der Inkarnation des Volkswillens überhaupt? Das zentrale Problem besteht darin, auf welche Weise das Parlament die Dynamik von Einheit und Vielfalt im Demos zu repräsentieren vermag. Denn verabschiedet man sich von der pluralismusfeindlichen Version eines einheitlichen Volkswillens, dann besteht die ästhetische Aufgabe des Parlamentarismus auch wesentlich darin, nicht das Volk als einheitliches Kollektivsubjekt, sondern das Verfahren zur Herstellung eines demokratischen Volkswillens zum Ausdruck zu bringen.42 Dabei lassen wir uns von der theoretisch gut begründeten Vorstellung43 leiten, dass die Demokratie keine bilderlose Herrschaftsform ist, sie vielmehr konstitutiv darauf angewiesen ist, ihren Geltungsgeschichten auch zu visueller Expression zu verhelfen, wenngleich es in Demokratien kein von oben verordnetes und dem Meinungsstreit entzogenes Bildprogramm geben kann. Aber demokratische Institutionen sind als symbolpolitische Akteure besonderer Qualität darauf angewiesen, ihre Geltungsansprüche zu kommunizieren und in die Öffentlichkeit zu tragen.44 Eine geglückte Symbolisierungsstrategie vermag dem Parla41 Rohe 1990, S. 337. 42 Dazu grundsätzlich Hans Vorländer, Demokratie und Ästhetik. Zur Rehabilitierung eines problematischen Zusammenhangs, in: Ders. (Hg.), Zur Ästhetik der Demokratie. Formen der politischen Selbstdarstellung, Stuttgart 2003, S. 11–26. 43 Überzeugende Argumente bei Philip Manow, Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Frankfurt a.M. 2008, vor allem S. 10–20. 44 Vgl. André Brodocz, Behaupten und Bestreiten, in: Ders. u.a. (Hg.), Institutionelle Macht, Köln 2005, S. 13–36, vor allem S. 16.

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ment zudem eine symbolisch akzentuierte institutionelle Eigenzeit zu verschaffen.45 Denn ein zur Expression einer Leitidee aufgestiegenes Parlament ist per se traditionsbildend. Welche Bedingungen müssen vorliegen, damit ein Parlament symbolisch aufladbare Geltungsgeschichten erzeugen kann? Einmal muss sich das Parlament im politischen Prozess lautstark zu Wort melden und vor allem sichtbar machen. Die Visibilisierung seiner Macht46 ist unter den Bedingungen einer zunehmend bildhaften politischen Kultur eine unabdingbare Voraussetzung für die Symbolfähigkeit eines Parlaments. Daraus ergeben sich zwei Forschungsperspektiven. Die eine fragt im Sinne der „visual culture“-Studien nach den kulturellen Praktiken der Aneignung von visuell codierter Bedeutung; die andere konzentriert sich auf die vor allem architektonisch erzeugte Formensprache, mittels derer der Parlamentarismus visuelle Botschaften vermitteln möchte. In beiden Fällen herrscht noch erheblicher Forschungsbedarf, weil der „pictorial turn“ in der deutschen Geschichtswissenschaft wie Politikwissenschaft erst allmählich rezipiert wird.47 Der erste Zugriff eröffnet für Historiker wie Politikwissenschaftler die Möglichkeit, auch ohne profunde kunstwissenschaftliche Kenntnisse valide Aussagen zur Bildhaftigkeit des Parlamentarismus zu treffen. Denn der Zugriff der „visual studies“ verzichtet auf die in der Kunstgeschichte etablierte Ikonographie der Bildanalyse und fragt stattdessen nach der kulturellen Verankerung visueller Wahrnehmungspraktiken.48 Daher lässt sich dieser Ansatz bestens vereinbaren mit der Untersuchung der Ausdrucksseite der politischen Kultur. Im Hinblick auf unseren Untersuchungsgegenstand resultiert daraus die Frage, wie sich im Gefolge des Ersten Weltkriegs Sehgewohnheiten veränderten und welche neuartigen visuellen Anforderungen an politische Kommunikation und damit nicht zuletzt an die visuelle Aneignung der nach 1918 entstehenden parlamentarischen Demokratien sich daraus ergaben.

45 Karl-Siegbert Rehberg, Institutionenwandel und die Funktionsveränderung des Symbolischen, in: Gerhard Göhler (Hg.), Institutionenwandel, Opladen 1996, S. 94–118, hier S. 102. 46 Vgl. Brodocz 2005, S. 28. 47 Zum Stand vgl. Gerhard Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: Ders. (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 7–36; Wilhelm Hoffmann, Die politische Kultur des Auges. Der pictorial turn als Aspekt des cultural turn in der Politikwissenschaft, in: Birgit Schwelling (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft, Wiesbaden 2004, S. 309–334. 48 Schrittmacher dieser Forschungsrichtung ist der Literaturwissenschaftler William J. T. Mitchell, Bildtheorie, Frankfurt a.M. 2008.

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Mangels monographischer Vorarbeiten zu den visuellen Herausforderungen des Parlamentarismus in Europa nach 1918 soll zumindest das Hauptproblem mit knappen Strichen skizziert werden.49 Nach 1918 stellte sich das Problem der visuellen Distinktion mit größerer Dringlichkeit als jemals zuvor. Nach 1918 musste das Sehen lernen, aus der Vielfalt der einströmenden visuellen Reize das Wichtige herauszufiltern. Selektives Sehen ergab sich aber nicht allein als Erfordernis aus der optischen Reizüberflutung in dem beginnenden Jahrzehnt der bewegten Bilder mit dem Siegeszug des Kinos und dem Aufstieg der illustrierten Massenpresse. Sie war auch als Technik der sozialen Distinktion unerlässlich, weil der Weltkrieg in ganz Europa zu einer Nivellierung bisher geltender sozialer Unterscheidungsmerkmale wie der Kleiderordnung geführt hatte. Die neue visuelle Unübersichtlichkeit erlaubte es nur noch bedingt, einen Beobachterstandpunkt gleichsam außerhalb der sozial nivellierten Massengesellschaft einzunehmen. Darauf reagierte man europaweit mit einer verstärkten Hinwendung zur visuellen Typenbildung, um die visuellen Reize klassifizieren zu können und auf diese Weise auch politisch anschlussfähige visuelle Ordnungen zu erzeugen. Speziell die Physiognomik als Lehre vom Körpereindruck erlebte insbesondere in der Weimarer Republik einen ungeahnten Höhenflug. Vor allem die Konzentration auf das Gesicht schien die ersehnte Eindeutigkeit der Wiedererkennung und Zuordnung zu einer visuell bestimmten Gruppe zu verbürgen. Dieser physiognomische Diskurs war partei- und gesinnungsübergreifend und wurde von Wissenschaft, Kunst und Unterhaltungskultur gleichermaßen propagiert.50 Für unseren Gegenstand ergibt sich daraus eine einfache Nachfrage, die aber mangels Vorarbeiten nicht hinreichend beantwortet werden kann: Wurde auch der Parlamentarismus mit physiognomischen Mitteln gedeutet und in den visuellen Ordnungsdiskurs der 1920er und 1930er Jahre einbezogen? Die symbolische Aufladung des Parlamentarismus über die Zuweisung visuell codierter Bedeutungen besitzt aber auch eine produktionsästhetische Seite, nämlich die Herstellung von Bedeutung durch die Wahl architektonischer Formen. Zwar hat das Interesse an der Parlamentsarchitektur fraglos 49 Wichtige Studien: Per Leo, Der „fremde Andere“. Zur Sichtbarkeit des Einzelnen in den Inszenierungen der modernen Großstadt, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 261–291; Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a.M. 2002, sowie ders., Techniken des Betrachters, Dresden 1996. 50 Grundlegend hierzu Claudia Schmölders, Das Gesicht als Bürgschaft. Zur Physiognomik des Vertrauens, in: Ute Frevert (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 213–244.

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zugenommen; doch historisch vertiefte Untersuchungen, die sich neben dem nach Außen wirkenden Gebäude auch dem Plenarsaal als dem eigentlichen Ort parlamentarisch-demokratischer Interaktion zuwenden, sind immer noch selten anzutreffen.51 Für das Reichstagsgebäude des Deutschen Kaiserreichs liegt die Pionierstudie von Andreas Biefang vor, die aufzeigt, welcher heuristische Gewinn durch eine geschickte Integration solcher Fragestellung in eine politische Kulturgeschichte zu erzielen ist.52 Der Einsatz von Architektur zu symbolpolitischen Zwecken führt mitten hinein in das bei weitem noch nicht ausgeforschte Feld der dynamischen Beziehung zwischen Ästhetik und Politik.53 Dabei entsteht der Eindruck, dass die in der Architekturgeschichte angesiedelten, empirisch überaus ergiebigen Forschungen zu Architekten und deren Auftraggebern bislang zu wenig verbunden werden mit der grundlegenden Fragestellung, mit welchen ästhetischen Mitteln Baukunst überhaupt die Leitvorstellung einer politischen Ordnung gleichsam in Stein meißeln kann.54 Auch hier liegt es nahe, die verfeinerten methodischen Instrumentarien der „visual studies“ auf diesen Gegenstand zu übertragen. Parlamentarisch zentrierte Demokratiekultur muss mithin der architektonischen Gestaltung des Parlamentsgebäudes wie des Plenarsaals gebührende Aufmerksamkeit schenken. Das in der Leitidee des Parlamentarismus steckende Transparenzpostulat, wonach idealiter der Willensbildungsprozess der Volksvertretung innerhalb des Plenarsaals vor aller Augen abzulaufen habe, verlangt nach einer spezifischen architektonischen Formsprache. Dass dabei auch eine parlamentarische Demokratie eine selektive Herrschaftsintransparenz aus der jeder Herrschaftsordnung inhärenten Funktionslogik praktizieren muss, steht zu diesem Anforderungsprofil an die architektonische Außendarstellung des Parlamentarismus nicht in Widerspruch.55 Darüber hinaus muss das Parlament durch eine Debattenkultur imstande sein, als Zentralorgan der Aushandlung des Volkswillens die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit immer wieder zu fesseln. Es muss mithin Sternstunden des 51 Vgl. Manow 2008, S. 16 f. 52 Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“ 1871–1890, Düsseldorf 2009, vor allem S. 14 f. und S. 128–141. 53 Vgl. hierzu Karlheinz Barck/Richard Faber (Hg.), Ästhetik des Politischen – Politik des Ästhetischen, Würzburg 1999. 54 Vgl. Tilman Harlander/Wolfram Pyta, NS-Architektur: Macht und Symbolpolitik. Eine Einführung, in: Dies. (Hg.), NS-Architektur: Macht und Symbolpolitik, Berlin 2010, S. 7–19. 55 Hierzu die luziden Thesen von Stephan Dreischer u.a., Zwischen Transparenz und Intransparenz. Zur Macht parlamentarischer Institutionen, in: André Brodocz u. a. (Hg.), Institutionelle Macht. Genese–Verstetigung–Verlust, Köln 2005, S. 267–290.

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Parlamentarismus geben, in denen die Öffentlichkeit im Parlament den Ort erblickt, in dem ernsthaft über Zukunftsfragen gerungen wird und bei denen der Wille des Volkes stellvertretend in Person der Parlamentarier Gestalt annimmt. Wenn sich das Parlament allerdings in Routinearbeit erschöpft und sich in Alltagsfragen aufreibt, wird ihm diese Aufmerksamkeitserzeugung nicht gelingen. Dazu bedarf es auch einer Geschäftsordnung, welche dem Parlament diese Möglichkeit zu Grundsatzdebatten einräumt.

7.  Politische Kultur des Wahlakts Abschließend sollen Überlegungen zum Stellenwert des Wahlvorgangs innerhalb einer Demokratiekultur präsentiert werden. Denn der Wahlakt besitzt ein ausgeprägtes demokratiekulturelles Potential: In ihm konstituiert sich die Summe der Einzelbürger erst als Demos. Im Wahlakt verwandelt sich der Einzelne in einen citoyen und bekräftigt damit das Prinzip der Volkssouveränität.56 Prinzipiell kann sich dieser Transformationsakt auch in Gestalt der plebiszitären Variante demokratischer Legitimation vollziehen. Doch Wahlen zu parlamentarischen Körperschaften besitzen entscheidende demokratiekulturelle Vorzüge: Sie finden in stabilen zeitlichen Rhythmen statt und vermögen daher feste zeremonielle Formen zu etablieren, in denen sich das demokratische Selbstbild eine feste und würdige Ausdrucksform verschafft.57 Unter der Voraussetzung der Ausdehnung des Wahlrechts auf möglichst breite Volksschichten – im Idealfall auf alle volljährigen Männer und Frauen – trägt der Wahlakt zur demokratischen Reifung und Erziehung nicht unmaßgeblich bei. Dies soll unter Verweis auf die Entwicklung in Frankreich seit der Dritten Republik 1875 mit einigen knappen Strichen erläutert werden.58 In Frankreich gelang es der Dritten Republik, durch Standardisierung des Wahlakts und seine gleichsam kultische Ausgestaltung die Bürger in der Vor56 Vgl. Biefang 2009, S. 106, sowie Philippe Braud, Artikel „Symbolique“, in: Pascal Perrineau/Dominique Reynié (Hg.), Dictionnaire du vote, Paris 2001, S. 886–888. 57 Ähnlich argumentiert Andreas Dörner, Wahlkämpfe – eine rituelle Inszenierung des „demokratischen Mythos“, in: Ders./Ludgera Vogt (Hg.), Wahl-Kämpfe. Betrachtungen über ein demokratisches Ritual, Frankfurt a.M. 2002, S. 16–68. 58 Vgl. dazu vor allem Michel Offerlé, La nationalisation de la citoyenneté civique en France à la fin du XIXè siècle, in: Raffaele Romanelli (Hg.), How Did They Become Voters? The History of Franchise in Modern European Representation, Den Haag 1998, S. 37–51, sowie Yves Déloye, Rituel et symbolisme électoraux. Réflexions sur l´expérience française, ebd., S. 53–76.

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stellung zu bestärken, dass sie im Wahlakt zu einem an diesem Tag besonders visiblen Kollektivkörper verschmelzen: nämlich zur Nation als Trägerin der Volkssouveränität, die mehr ist als die Summe ihrer nach Millionen zählenden Einzelteile. Der Prozess einer Regelhaftigkeit des Wahlvorgangs implizierte zunächst, dass der Wahlakt zum nationalen Parlament nur an einem Tag stattfand – einem Sonntag – und der Wahlvorgang einen eindeutigen Anfang (8 Uhr) und ein definitives Ende (18 Uhr) besaß. In Großbritannien mit seinem relativen Mehrheitssystem, in dem nur der Kandidat mit den meisten Stimmen im Wahlkreis gewählt wurde, stellt – damals wie heute – die öffentliche Verkündung des Wahlergebnisses im Wahlkreis das Ende dieses demokratischen Zeremoniells dar: Sieger und Besiegte werden damit offiziell ausgerufen. Insbesondere in Frankreich wurde der Wahlakt durch ein festes Ritual so zelebriert, dass ihm eine weihevolle Aura zukam. Dazu trug nicht zuletzt die Einführung neuer Techniken wie die Wahlkabine im Jahre 1913 bei. Denn dies führte dazu, dass der Wahlakt an einem gewissermaßen der Demokratie geweihten Ort stattfand: Der Wähler betrat das Wahllokal und begab sich damit in eine neue Sphäre, in der sich seine Verwandlung in den citoyen vollziehen sollte. Im Wahllokal erhielt er einen Umschlag für seine abzugebende Stimme und zog sich danach in die Wahlkabine zurück, die bezeichnenderweise „l’isoloir“ genannt wurde. Denn dieser Rückzugsort diente nicht nur dazu, eine geheime Wahl zu ermöglichen; er schuf vor allem das Bewusstsein vollkommener Autonomie des Wahlbürgers: Im Schutze der Wahlkabine, allein mit dem Stimmschein oder Wahlzettel, konnte er die Souveränität eines citoyen auskosten. Der Wahltag als eine Art „Hochamt der Demokratie“ machte sich in Frankreich auch dadurch symbolisch bemerkbar, dass dieser Festtag nicht mehr durch Wahlagitation gestört werden durfte. Alle politischen Kräfte verbeugten sich gewissermaßen an diesem Tage vor dem Souverän, der nun das entscheidende Wort hatte, eine politische Auswahl aus den Offerten des Wahlkampfs zu treffen. Insofern konnten sich trotz politischer Meinungsunterschiede alle Kandidaten in der Überzeugung wiederfinden, dass dem Votum des Wählers – egal wie es ausging – Respekt entgegenzubringen sei.59 Eine Untersuchung der Wahlkultur der Zwischenkriegszeit, die noch in den Kinderschuhen steckt, wird den französischen Fall mit seinem Musterbeispiel demokratischer Wahlkultur nicht verallgemeinern, daraus aber wichtige systematische Fragestellungen ableiten können. Zusätzlich dürften sich noch folgende Fragen als erkenntnisträchtig erweisen: Wie berichteten die Medien über den Wahlkampf? Fassten sie ihn als erbitterte Auseinandersetzung ver59 Braud 2001, S. 887.

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feindeter politischer Lager auf? Wie kommentierten Kandidaten und Spitzenpolitiker den Wahlausgang? Zollten sie der sieghaften Partei Respekt, wenn diese vom Wähler in diese Position hineingebracht wurde, oder bezweifelten sie direkt oder indirekt die Legitimität der Wahlentscheidung?60

60 Vgl. die Anregungen bei Biefang 2009, S. 106.

ANDRÉ BRODOCZ

Kampf um Deutungsmacht: Zur Symbolisierung politischer Ordnungsvorstellungen

Die „Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung“ bietet Bürgern beim sozialen Handeln und in sozialen Beziehungen eine ganz wesentliche Orientierung. „Geltung“ hat eine solche Ordnung aber nur, wenn sich die Bürger „tatsächlich“ an ihr orientieren.1 Ob sich die Bürger tatsächlich an einer Ordnung orientieren und ihr so Geltung verleihen, hängt von der Legitimität ab, die die Bürger dieser Ordnung zuschreiben. Diese kann sich nach Max Weber bekanntermaßen aus verschiedenen Quellen speisen: „Legitime Geltung kann einer Ordnung von den Handelnden zugeschrieben werden: a) kraft Tradition: Geltung des immer Gewesenen; b) kraft affektuellen (insbesondere emotionalen) Glaubens: Geltung des neu Offenbarten oder des Vorbildlichen; c) kraft wertrationalen Glaubens: Geltung des absolut gültig Erschlossenen; d) kraft positiver Satzung, an deren Legalität geglaubt wird.“2 Es liegt zweifellos nahe, damit im nächsten Schritt verschiedene Ordnungen nach den Quellen ihrer Geltung zu unterscheiden, wie es Weber dann auch in seiner Differenzierung zwischen legaler, traditionaler und charismatischer Herrschaft getan hat. Man darf darüber jedoch nicht vernachlässigen, dass es sich hierbei stets nur um „Idealtypen“ handelt. Weber unterscheidet „reine“ Typen legitimer Herrschaft, die in ihrer reinen Form historisch gar nicht auftreten.3 Dass sich in der Geschichte kaum reine Typen legitimer Herrschaft finden lassen, begründet Weber jedoch nicht nur methodologisch. In seinen Erläuterungen zur Legitimität sozialer Ordnungen führt er zudem aus, dass „tatsächlich ... die Orientierung des Handelns an einer Ordnung naturgemäß bei den Beteiligten aus verschiedenen Motiven statt[findet].“4 Für eine historisch sensible Theorie und Analyse politischer Ordnungen hat diese Erläuterung ihrer Legitimität weitreichende Konsequenzen. Nimmt man sie ernst, so muss man davon ausgehen, dass die Ordnungsvorstellungen von den Bürgern einer Ge1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. revidierte Auflage Tübingen 1980, S. 16 (Herv. i. O.). 2 Ebd., S. 19. 3 Ebd., S. 124. 4 Ebd., S. 16.

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sellschaft, also ihre Vorstellungen einer legitimen Ordnung, verschieden sind. Dies hat eine weitere sozialtheoretisch nicht zu vernachlässigende Implikation: Die Bürger erkennen – gleichzeitig (!) – dieselbe Ordnung aus verschiedenen Gründen als legitim an; weshalb diese Ordnung durch eine Einheitsvorstellung repräsentiert sein muss, die mit den verschiedenen Vorstellungen der Bürger vereinbar ist. Um dieser sozialtheoretischen Herausforderung gerecht zu werden, gehen die folgenden Überlegungen von zwei Annahmen aus: (I) Die Bürger müssen sich der Existenz ihrer legitimen Ordnung gewiss sein und zwar trotz divergierender Gründe. Geteilte Gewissheit über die Existenz einer politischen Ordnung bedeutet darum nicht notwendigerweise Konsens über deren Identität, Bedeutung und Rechtfertigung. Dass der Gehalt der politischen Ordnung umstritten ist, schließt Einigkeit über deren Bestehen also nicht aus. Die Gewissheit über die Existenz der politischen Ordnung impliziert wiederum nicht, dass diese Ordnung an sich dauerhaft gegeben ist. Im Gegenteil: Gerade weil die politische Ordnung wegen ihres sozialen Charakters unvermeidlich ereignishaft ist,5 muss ihre Existenz immer wieder neu hergestellt werden. (II) Eine Ordnung gilt als legitim, wenn die Bürger eine Einheitsvorstellung als Symbol dieser politischen Ordnung anerkennen. Aber auch hier muss es keinen stabilen Konsens über die Bedeutung dieser – die Ordnung symbolisierenden – Einheitsvorstellung geben. Ansonsten wäre sie nicht mit den verschiedenen Vorstellungen der Bürger vereinbar. Dies impliziert zwei Aspekte: Herrscht zum einen über die Bedeutung einer Einheitsvorstellung kein Konsens, dann kann sie eine Ordnung nur symbolisieren, solange die Bedeutung dieser Einheitsvorstellung nicht fixiert wird. Muss zum anderen eine politische Ordnung immer wieder neu hergestellt werden, dann kann eine Einheitsvorstellung diese Ordnung nur symbolisieren, wenn die Symbolisierung selbst konstitutiver Bestandteil der Ordnungsherstellung ist. Im folgenden werden zunächst diese Annahmen hinsichtlich der Symbolisierung politischer Ordnungen weiter ausgeführt, indem sie die Konstitution politischer Ordnungen durch die diskursive Deutungsöffnung ihrer Einheitsvorstellung konkretisiert (1). Anschließend wird gezeigt, welche Rolle Deutungskonflikten in diesem Prozess zukommt (2) und inwiefern sich diskursive Deutungsmacht unter diesen Bedingungen ausbilden kann (3). Zum Schluss wird ein kurzer Ausblick auf die Perspektiven gegeben, die diese Theorie diskursiver Deutungsmacht für die historische Demokratieforschung eröffnet (4).

5 Vgl. grundlegend für die Ereignishaftigkeit des Sozialen: Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, vor allem S. 78 ff.

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1.  Politische Ordnungen und ihre Symbolisierung Um sozialtheoretisch der tatsächlichen und nicht bloß idealtypischen Legitimitätsstiftung einer politischen Ordnung gerecht zu werden, muss also zum einen Gewissheit unter den Bürgern über die Existenz ihrer Ordnung trotz unterschiedlicher Gründe vorherrschen; zum anderen muss diese Ordnung trotz unterschiedlicher Gründe durch eine Einheitsvorstellung symbolisiert werden.6 Diese beiden Anforderungen erscheinen auf den ersten Blick bereits jeweils für sich paradox. Diese Paradoxien lösen sich aber auf, wenn eine politische Ordnung als ein diskursives Produkt verstanden wird. Die Bürger unterstellen die Existenz ihrer politischen Ordnung, indem sie diese mit einer Einheitsvorstellung identifizieren. Dennoch haben die Bürger verschiedene Vorstellungen von der Bedeutung dieser Einheitsvorstellung. Entscheidend ist hier nicht die Existenz an sich, sondern deren Unterstellung. Eine legitime Ordnung setzt also genau genommen voraus, dass ihre Existenz auf der Mikro-Ebene von den Bürgern unterstellt wird – und zwar am besten unhinterfragt. Denn wer Zweifel an der Existenz einer politischen Ordnung hegt, wird sie kaum mit etwas identifizieren. Entscheidend ist, dass diese Einheitsvorstellung kommuniziert wird. Hier treten die unterschiedlichen Motive der Bürger zutage. Die Einheitsvorstellung wird in dieser Kommunikation mit verschiedenen Bedeutungen gleichgesetzt. Denn es herrscht über die Bedeutung der Einheitsvorstellung zwischen den beteiligten Bürgern kein Konsens. Die Einheitsvorstellung wird in diesem Kommunikationsprozess so zu einem Äquivalent mit Vorstellungen, die sich im einzelnen weiterhin voneinander unterscheiden lassen. Der unterschiedliche Bezug auf dieselbe Einheitsvorstellung integriert die verschiedenen Kommunikationen zum Diskurs. Aus der Makro-Perspektive des Beobachters erscheint die Bedeutung dieser Einheitsvorstellung dann als deutungsoffen. Ordnung beruht danach auf einer im Diskurs deutungsgeöffneten Einheitsvorstellung.7 Für den Diskurs bedeutet dies, dass er sich symbolisch integriert, weil sein Zusammenhalt auf der Symbolisierung einer Ordnung durch eine Einheitsvorstellung beruht.

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Siehe zu diesem Abschnitt bereits ausführlich André Brodocz, Die symbolische Dimension der Verfassung. Ein Beitrag zur Institutionentheorie, Wiesbaden 2003, Kap. 5.; ders., Die Macht der Judikative, Wiesbaden 2009, S. 116 ff. Ich schließe hier an Arbeiten von Ernesto Laclaus Theorie leerer Signifikanten an. Vgl. u.a. Ernesto Laclau, Emancipation(s), London 1996; sowie dazu Martin Nonhoff (Hg.), Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld 2007.

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In der Theorie haben wir jetzt eine Spannung zwischen den Anforderungen auf der Mikro-Ebene und den Effekten auf der Makro-Ebene. Auf der MikroEbene muss von den Teilnehmern erfolgreich unterstellt werden, dass die politische Ordnung durch eine eindeutige Einheitsvorstellung symbolisiert wird. Erschiene den teilnehmenden Bürgern die Bedeutung dieser Einheitsvorstellung beliebig, dann bestünde keine Motivation, diese Ordnung in einem Diskurs mit einer Einheitsvorstellung zu identifizieren.8 Gegen diese unterstellte Eindeutigkeit richtet sich jedoch der diskursive Effekt auf der Makro-Ebene, wonach diese Einheitsvorstellung durch viele verschieden kommunizierte Identifikationen in ihrer Bedeutung geöffnet wird. Denn ansonsten käme es nicht zur diskursiven Konstitution der Ordnung. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Dauerhaftigkeit von Ordnungen prekär ist: Sobald der Makro-Effekt der Deutungsöffnung auf der Mikro-Ebene der Bürger reflektiert wird, droht die Bereitschaft zu schwinden, in diesen Diskurs weitere Kommunikationen der Einheitsvorstellung einzuspeisen.9 Dass Ordnungen trotz dieser Unsicherheit immer auch wieder von Dauer sind, lässt sich auf einen anderen Effekt zurückführen. Denn dieser reflektierten Deutungsoffenheit geht in der Regel eine andere Erfahrung voran: nämlich die der Deutungskonflikte. Die Bürger nehmen immer wieder wahr, dass ihre unterschiedlichen Vorstellungen über die Bedeutung der Einheitsvorstellung nicht zwingend miteinander kompatibel sind. Sie erleben so den Prozess der diskursiven Deutungsöffnung. Aber sie reflektieren ihn noch nicht als solchen. Vielmehr erfahren sie diesen Prozess zunächst als Konflikt um die Bedeutung der Einheitsvorstellung. Dieser Konflikt setzt selbst wiederum den Diskurs fort, der die Deutungsöffnung der Einheitsvorstellung weiter vorantreibt und so die Ordnung in der Zeit hält.

2.  Deutungskonflikte Obwohl Deutungskonflikte zunächst die Fortsetzung des Diskurses sichern, der die Ordnung konstituiert, ist die Dauerhaftigkeit solcher Ordnungen wei8

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Dieses Problem zeigt sich besonders drastisch im Krieg; vgl. André Brodocz, Töten und Sterben für die Gemeinschaft, in: Frankfurter Arbeitskreis für Politische Theorie & Philosophie (Hg.), Autonomie und Heteronomie der Politik. Politisches Denken zwischen Poststrukturalismus und Post-Marxismus, Bielefeld 2004, S. 57–77. Zur demokratietheoretischen Dimension dieser mangelnden Leidenschaft auf Seiten der Bürger vgl. Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt a.M. 2007, S. 91 ff.

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terhin durch die Spannungen zwischen den Eindeutigkeits-Anforderungen auf der Mikro-Ebene und den Deutungsöffnungs-Effekten auf der Makro-Ebene gefährdet. Wie können Bürger von der Eindeutigkeit ihrer Einheitsvorstellung dauerhaft überzeugt sein, obwohl sie uns, als Beobachter, deutungsoffen erscheint? Wie kann die Reflexion einer deutungsoffenen Einheitsvorstellung soweit blockiert werden, dass sich die Deutungsöffnung schließlich sogar selbst auf Dauer stellt? Um zu verstehen, wie solche Blockaden funktionieren und sogar institutionalisiert werden können, muss der Prozess der diskursiven Deutungsöffnung selbst noch einmal präzisiert werden. Entscheidend dabei ist, dass der Sinn einer diskursiven Äußerung nicht in dem Sinne eindimensional gedacht werden darf, als eine Einheitsvorstellung entweder eindeutig oder deutungsoffen ist. Insbesondere Niklas Luhmann hat immer wieder darauf hingewiesen, dass der Sinn einer Äußerung dreidimensional angelegt ist: sachlich, sozial und zeitlich.10 „Sachlich“ ist der Sinn, weil mit einer Äußerung festgestellt wird, was gemeint ist und indem er sich von anderem unterscheidet. „Sozial“ ist der Sinn, weil mit dieser Feststellung ein bestimmtes Erleben verbunden wird. „Zeitlich“ ist der Sinn, weil sich Vergangenheit und Zukunft mit jeder Äußerung verändern und dementsprechend neu erscheinen. Wird diese Dreidimensionalität sozialen Sinns berücksichtigt, dann lässt sich auch der Deutungsöffnungsprozess entsprechend differenzierter erfassen. Zuerst kommt es auf eine Einheitsvorstellung an, die die Bürger als Symbolisierung ihrer politischen Ordnung kommunizieren. Diese Einheitsvorstellung ist dabei für jeden Bürger in dem von ihm präferierten Sinn erlebbar. So wurde zum Beispiel das Grundgesetz während des Konflikts um den KruzifixBeschluss des Bundesverfassungsgerichts als Vergegenwärtigung eines religiösen Auftrags, als Hüterin eines kulturellen Erbes, als Garant größtmöglicher Gerechtigkeit, als Verpflichtung gegenüber der Geschichte, als Bewahrer ökonomischer Wohlfahrt oder als Verteidigung der Demokratie erlebt. Die Angehörigen müssen ihre politische Ordnung sogar auf eine solche, möglichst vielfältige Weise erleben können. Nur dann kommt der diskursive Deutungsöffnungsprozess überhaupt in Gang. Zentral für die Deutungsöffnung einer Einheitsvorstellung ist also vor allem die soziale Sinndimension. Dieses unterschiedliche, vielfältige Erleben hat aber immer auch die bereits angesprochenen Konflikte darüber zur Folge, was die Einheitsvorstellung ausmacht. Hier kommt die sachliche Sinndimension einer Einheitsvorstellung 10 Vgl. Niklas Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas/ Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a.M. 1971, S. 25–100.

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ins Spiel. Auch dieser Streit ist zunächst produktiv. Er hält den Deutungsöffnungsprozess am Laufen. Aber dieser Streit ist auch gefährlich, weil er den beteiligten Parteien vor Augen führen kann, dass die Sache – ihre Sache – etwas ist, unter der jeder offensichtlich etwas anderes versteht. Jetzt droht die reflektierte Deutungsoffenheit. Der Gehalt ihrer Ordnung erscheint beliebig und austauschbar. Die Bürger können nicht mehr erkennen, was daran ihre Sache ist. In der Konsequenz kommt es in solchen Situationen häufig zum Abbruch des gemeinsamen Diskurses. Dies geschieht entweder durch gewalttätigen Kampf oder indem man stillschweigend auseinandergeht. Solche Deutungskonflikte müssen deshalb in erster Linie in der sachlichen Sinndimension gehegt werden. Der diskursive Streit kann dafür in eine institutionelle Form gegossen werden – wie z.B. in der parlamentarischen Demokratie. Dort wird im Parlament der Streit symbolisch zur Darstellung gebracht.11 Aber auch das kann den Deutungsöffnungsprozess allein nicht auf Dauer stellen. Es ist zwar notwendig, dass Konflikte gehegt werden und nicht mit willkürlicher Gewalt, sondern diszipliniert und zivilisiert ausgetragen werden. Doch das ist allein nicht hinreichend. Denn das garantiert nicht, dass diese Konflikte auch diskursiv weiter geführt werden. Es besteht im Gegenteil die Gefahr, dass die Konflikthaftigkeit der Einheitsvorstellung in der symbolischen Repräsentation im Parlament erst sichtbar wird. In der Folge erscheint den Bürgern das Gemeinsame der Einheitsvorstellung beliebig und austauschbar. Alle verbinden nicht mehr etwas Verschiedenes mit ihrer Einheitsvorstellung, sondern dasselbe: Bedeutungslosigkeit. Häufig erschallt in solchen Situationen der reflektierten Deutungsoffenheit der Ruf nach dem „starken Mann“, einer Person, die allen den Weg weist. Gesucht wird eine Autorität, die Deutungskonflikte qua Entscheidung beendet. Die Attraktivität solcher Autorität beruht jedoch nur auf einer Unterstellung: dass ‚sie weiß, was Sache ist‘. Die Funktionalität dieser Autorität liegt jedoch darin, dass sie überhaupt erst fixiert, was Sache ist. Es geht darum, den sachlichen Sinn der Einheitsvorstellung festzulegen. Das schafft Eindeutigkeit. Und zwar jenes Maß an Eindeutigkeit, das für die individuelle Überzeugung von der Existenz ihrer repräsentierten politischen Ordnung benötigt wird. Es ist deshalb kein Zufall, dass in konstitutionellen Demokratien das Vertrauen der Bürger in das Verfassungsgericht meistens signifikant höher ist als

11 Dazu zuletzt vor allem Claude Lefort/Marcel Gauchet, Über die Demokratie. Das Politische und die Instituierung des Politischen, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 89–122; und daran anschließend Ulrich Rödel u.a., Die demokratische Frage, Frankfurt a.M. 1989.

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das Vertrauen in politische Institutionen.12 Während die politischen Institutionen Deutungskonflikte auf Dauer stellen und so den Bürgern die Ungewissheit und Kontingenz des politischen Prozesses vor Augen führen, verkörpern judikative Institutionen im allgemeinen und Verfassungsgerichte im besonderen Gewissheit und Notwendigkeit. Ihre Entscheidungen versprechen den Bürgern zum einen Gewissheit darüber, was mit ihren in der Verfassung verankerten Werten vereinbar ist und was nicht. Zum anderen versichern Gerichtsentscheidungen, dass sie allein auf dem Verfassungsgesetz und nicht auf dem zufälligen Willen der Richter beruhen. Autoritative Deutungsinstanzen wie Verfassungsgerichte schaffen also Eindeutigkeit in sachlicher Hinsicht, indem sie zwischen den konfligierenden Deutungen entscheiden. Dennoch fehlen ihnen Sanktionsmöglichkeiten, um dies auch in sozialer Hinsicht durchzusetzen. Das heißt: Es bleibt offen, wie die teilnehmenden Bürger diese Interpretationen ihrer Einheitsvorstellung erleben. Die Institutionalisierung autoritativer Deutungsinstanzen zur Entscheidung von Deutungskonflikten hält auf diese Weise die Existenz der so repräsentierten Ordnung sachlich präzise und präsent, aber ihr Erleben wird hinsichtlich der sozialen Sinndimension deshalb nicht vorgeschrieben. Die Funktionsweise solch autoritativer Interpreten zeigt, wie man dauerhaft von der Eindeutigkeit von etwas Deutungsoffenem überzeugt sein kann. Nötig ist die Institutionalisierung einer autoritativen Deutungsinstanz, die zwei Funktionen erfüllen muss: Erstens muss sie im Konfliktfall verbindlich festlegen, was die Einheitsvorstellung in sachlicher Hinsicht ist; zweitens muss sie es in sozialer Hinsicht den Bürgern überlassen, wie sie diese Fixierung des sachlichen Sinns erleben. Deutungskonflikte über die Bedeutung der repräsentierenden Einheitsvorstellung können so einer Entscheidung zugeführt werden. Dadurch wird eine institutionelle Barriere errichtet, mit der die Reflexion der Deutungsöffnung als Ausdruck ungewiss gewordener Gemeinsamkeit blockiert werden kann. Diese auf der sachlichen Sinndimension angelegte Barriere darf aber nicht auf die soziale Sinndimension überspringen, indem sie der Pluralität individueller Projektionen entgegenwirkt. Das heißt: Autoritative Deutungsinstanzen müssen gleichzeitig einen größtmöglichen Spielraum an individueller Erlebbarkeit eröffnen, damit die Einheitsvorstellung weiterhin aus vielen verschiedenen Gründen anerkannt werden kann. Wie Gesellschaften die Spannung zwischen den Anforderungen der MikroEbene und den Effekten der Makro-Ebene in der Praxis aushalten, entscheidet 12 Hans Vorländer/ Gary S. Schaal, Integration durch Institutionenvertrauen? Das Bundesverfassungsgericht und die Akzeptanz seiner Rechtsprechung, in: Hans Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 343–374.

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sich somit überwiegend auf der Meso-Ebene. Autoritative Deutungsinstanzen sind dabei nur eine Möglichkeit, wie Gesellschaften mit diesen Deutungskonflikten umgehen können. Generell lassen sich diffuse und konzentrierte Formen des Deutungskonfliktmanagements unterscheiden. Existiert eine autoritative Deutungsinstanz, dann ist das Deutungskonfliktmanagement dementsprechend dort konzentriert. Deutungskonflikte verwandeln sich in Deutungskonkurrenzen um die Gunst dieser Instanz. An die Stelle der direkten Konfrontation rückt das indirekte Ringen um die Entscheidung eines Dritten.13 Diffus ist das Deutungskonfliktmanagement im Vergleich dazu, wenn es keine Institution gibt, die autoritativ über die Bedeutung dieser Einheitsvorstellung im Konfliktfall entscheidet. Hier werden die Deutungskonflikte weiterhin direkt ausgetragen; unter Umständen kämpfen gleichzeitig verschiedene Institutionen und Akteure um die vakante Position der autoritativen Deutungsinstanz. Beide Formen des Deutungskonfliktmanagements bergen Chancen und Risiken (vgl. Tab. 1). Die Chancen und Risiken des diffusen Typus beruhen darauf, dass es zu keiner endgültigen Entscheidung über die Bedeutung der gemeinsamen Einheitsvorstellung kommt. Jede Seite kann so an ihrer Deutung festhalten, und die Einheitsvorstellung wird durch diese Konfliktkommunikationen deutungsoffen gehalten. Die Risiken des diffusen Deutungskonfliktmanagements liegen in der unblockierten Reflektierbarkeit dieser Deutungsoffenheit. Die Einheitsvorstellung kann in diesem Fall zu ihrer Deutung nicht weiter motivieren, und die damit verbundene Ordnung wird fragil. Die Chancen und Risiken des konzentrierten Deutungskonfliktmanagements beruhen demgegenüber auf der endgültigen Entscheidung über die Bedeutung der Einheitsvorstellung. Solche Entscheidungen unterstreichen die Eindeutigkeit und blockieren so die reflektierte Deutungsoffenheit als Beliebigkeit der gemeinsamen Einheitsvorstellung. Die Einheitsvorstellung kann so zu ihrer weiteren Deutung motivieren, den Diskurs fortsetzen und die Ordnung präsent halten. Die Risiken des konzentrierten Deutungskonfliktmanagements bestehen darin, dass entweder der Diskurs über die Einheitsvorstellung durch solche Entscheidung abgebrochen wird oder die unterlegene Seite die Überzeugung verliert, dass ihre Vorstellungen von einer legitimen politischen Ordnung durch genau diese Einheitsvorstellung symbolisiert werden.

13 Vgl. generell dazu Tobias Werron, Direkte Konflikte, indirekte Konkurrenzen. Unterscheidung und Vergleich zweier Formen des Kampfes, in: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), S. 302–318.

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Tabelle 1:  Deutungskonfliktmanagement Diffuses D. Chancen

kontinuierliche Deutungsöffnung der Einheitsvorstellung durch Konfliktkommunikationen

Risiken

De-Motivation durch reflektierte Deutungsoffenheit

Konzentriertes D. Motivation zur kontinuierlichen Deutung der Einheitsvorstellung durch Entscheidung des Deutungskonflikts Abbruch des Ordnungsdiskurses

3.  Deutungsmacht Unabhängig davon, ob Gesellschaften ein diffuses oder konzentriertes institutionelles Setting zum Deutungskonfliktmanagement ausgebildet haben, muss noch eine weitere Facette der diskursiven Konstitution politischer Ordnungen durch die Symbolisierung von Einheitsvorstellungen beachtet werden: Macht. Deutungskonflikte drängen danach entschieden zu werden; selten verharren Gesellschaften in der Unentschiedenheit ihrer Geltungsgrundlagen. Deutungskonflikte sind deshalb immer auch Konflikte um Deutungsmacht,14 indem um die Macht über die Bedeutung der Einheitsvorstellung gerungen wird.15 Denn wer über die Bedeutung der legitimen Ordnung entscheidet, besitzt darin eine Chance, seinen Willen auch gegen Widerstreben anderer durchzusetzen. Dort, wo sie institutionalisiert sind, entscheiden autoritative Instanzen also nicht nur Deutungskonflikte, sondern sie üben auch Deutungsmacht aus. Dort, wo diese Instanzen fehlen, weil es ihnen zum Beispiel an der nötigen Anerkennung durch die Bürger mangelt, kämpfen Akteure und Institutionen um diese Deutungsmacht. Über diese Form der Deutungsmacht verfügt keine Institution an sich, es ist nicht allein eine Frage ihrer Funktionen und Mittel. Entscheidend sind in erster Linie die nötigen symbolischen Voraussetzungen. So braucht es eine als gemeinsam anerkannte Einheitsvorstellung. Fehlt es an dieser Voraussetzung, dann sind die symbolischen Voraussetzungen der Deutungsmacht generell unsicher. Ist eine Einheitsvorstellung dagegen etabliert, dann verfügt nur die Institution über Deutungsmacht, die als autoritative Instanz Anerkennung findet. Für die Deutungsmacht dieser Institution liegen dann starke symbolische Voraussetzungen vor, während diese für alle anderen 14 Vgl. generell zum Konzept von Deutungsmacht Hans Vorländer (Hg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, Wiesbaden 2006. 15 Siehe zu diesem, im folgenden nur kurz skizzierten Verständnis von Deutungsmacht ausführlich Brodocz 2009, Kap. IV und VI.

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um die Deutungsmacht konkurrierenden Institutionen in diesem Fall schwach sind. Eine Deutungsmachtanalyse muss also zunächst auf die Etablierung einer Einheitsvorstellung achten. Das ist aber immer ein kontingenter Prozess. Es ist also immer eine empirische Frage, ob und ggf. welche Vorstellung diese Funktion der Einheitsvorstellung erfüllt. Genau deshalb muss man idealtypisch drei Konstellationen für die Analyse institutioneller Deutungsmacht unterscheiden: starke, schwache und unsichere symbolische Voraussetzungen. Starke symbolische Voraussetzungen findet eine Institution in historischen Situationen, in denen sich eine politische Gemeinschaft durch eine Einheitsvorstellung symbolisch integriert und diese Institution als autoritative Deutungsinstanz anerkannt ist. Schwache symbolische Voraussetzungen bieten sich dagegen einer Institution in historischen Situationen, in denen sich eine politische Gemeinschaft durch eine Einheitsvorstellung symbolisch integriert, über deren autoritative Deutung jedoch eine andere Institution verfügt. Unsichere symbolische Voraussetzungen für die Deutungsmacht einer Institution liegen demgegenüber in historischen Situationen vor, in denen Unsicherheit oder Uneinigkeit über die symbolische Integration der politischen Gemeinschaft vorherrscht, so dass es noch gar keinen autoritativen Interpreten geben kann. Weil jeder Diskurs aufgrund der Ereignishaftigkeit von Kommunikationen permanent reproduziert werden muss und weil sowohl die Einheitsvorstellung als auch die Anerkennung als autoritativer Interpret kontingente Effekte dieses Diskurses sind, sind die symbolischen Voraussetzungen institutioneller Deutungsmacht im Diskurs selbst durch institutionelle Praxis veränderbar. Im Kampf um Deutungsmacht liegt deshalb die zentrale Aufgabe für autoritative Deutungsinstanzen in der Verstetigung ihrer starken symbolischen Voraussetzungen, während Institutionen unter schwachen und unsicheren symbolischen Voraussetzungen darauf zielen, die symbolischen Voraussetzungen zu ihren Gunsten zu transformieren.16 Das hängt zwar ganz wesentlich davon ab, wie sie im historischen Einzelfall in der institutionellen Praxis agieren. Doch die Chancen für die institutionelle Praxis werden von der instrumentellen Gelegenheitsstruktur der entsprechenden Institution mitbestimmt, d.h. von jenen Gelegenheiten, die sich ihnen durch die Strukturen bieten, die ihnen zur instrumentellen Funktionserfüllung zur Verfügung stehen (vgl. Tab. 2). Dies gilt insbesondere für Institutionen, die unter schwachen oder unsicheren symbolischen Voraussetzungen agieren. Institutionen, deren Struktur und Funktion die Genese von Autorität begünstigen, sind hier sicher im Vorteil, 16 Im ersten Fall braucht es eine „defensiv-hegemoniale“, im zweiten Fall eine „offensivhegemoniale Strategie“; vgl. Nonhoff (Hg.) 2007, S. 173–193 (hier: S. 184 ff.).

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Tabelle 2:  Idealtypische Konstellationen zur Analyse institutioneller Deutungsmacht Symbolische Voraussetzungen:

Bedeutung der instrumentellen Gelegenheits­ struktur (IGS)

Bedeutung der institutionellen Praxis (IP)

stark

schwach

unsicher

Unabhängiger von IGS

Abhängiger von IGS

Abhängiger von IGS

ggf. erfolgreiche Aneignung instrumenteller Kompetenzen wahrscheinlich

ggf. erfolgreiche Aneignung instrumenteller Kompetenzen unwahrscheinlich

ggf. erfolgreiche Aneignung instrumenteller Kompetenzen wahrscheinlich

Unabhängiger von den Auswirkungen der eigenen IP

Herrschende Autoritäten durch eigene IP schwächen

Aber: Bedarf an Autorität darf nicht durch institutionelle Praxis verloren gehen

Aber: Gefahr der Sanktionierung durch die herrschenden Autoritäten

Ungewissheit über die Einheits­ vorstellung und ihren moralischen Gehalt durch eigene IP aufheben Aber: Gefahr, selbst als Produzent von Unsicherheit zu erscheinen

wenn es um die Transformation ihrer symbolischen Voraussetzungen geht. Unter starken symbolischen Voraussetzungen kann sich eine Institution zur Verteidigung ihrer Deutungsmacht sogar von ihrer instrumentellen Gelegenheitsstruktur ein Stück weit emanzipieren, um ggf. so ihre Autorität zu festigen. Die instrumentelle Gelegenheitsstruktur kann aber auch selbst zu eigenen Gunsten transformiert werden, wenn eine Institution sich bestimmte, Autorität generierende Kompetenzen selbst aneignet. Diese Chance ist zweifellos unter starken symbolischen Voraussetzungen am größten und unter schwachen am geringsten. Unter unsicheren symbolischen Voraussetzungen ist ihr Erfolg insofern wahrscheinlich, als es keine anerkannte autoritative Instanz gibt, gegen die diese institutionelle Praxis durchgesetzt werden müsste. Unabhängig von der jeweiligen instrumentellen Gelegenheitsstruktur kommt der institutionellen Praxis noch einmal eine eigene Bedeutung zu. Unter starken symbolischen Voraussetzungen ist eine deutungsmächtige Institution unabhängiger von den Auswirkungen ihrer eigenen institutionellen Praxis; einzelne Konflikte und Widerstände stellen ihre Autorität nicht gleich ganz in Frage. Allerdings muss unter diesen symbolischen Voraussetzungen darauf geachtet werden, dass der grundsätzliche Bedarf an Autorität nicht durch in-

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stitutionelle Praxis verloren gehen darf. Deutungskonflikte müssen zwar beendet werden, aber sie dürfen nicht grundsätzlich stillgelegt werden. Unter schwachen symbolischen Voraussetzungen muss in der institutionellen Praxis eine schwierige Balance gefunden werden: zwischen der Schwächung der hegemonialen Autoritäten – etwa durch eine anti-hegemoniale „Affektpolitik“17 – und der damit verbundenen Gefahr, durch dieselben sanktioniert zu werden. Unter unsicheren symbolischen Voraussetzungen muss eine andere Balance gefunden werden. Einerseits muss eine Institution in ihrer Praxis darauf abzielen, Ungewissheit über vorherrschende Einheitsvorstellung aufzuheben; andererseits darf diese Praxis nicht selbst als Verunsicherung wahrgenommen werden. Diese Kämpfe um Deutungsmacht entspringen verschiedenen Dimensionen des Politischen. Versteht man das Politische als kontinuierlichen Kampf um Kontinuierung, dann wird dieser Kampf in der symbolischen Dimension um die Kontinuierung sozialer Ordnungen geführt, während er in der instrumentellen Dimension ein Kampf um deren Strukturierung darstellt.18 In der symbolischen Dimension des Politischen müssen danach jene Kämpfe um Deutungsmacht verortet werden, mit denen eine Einheitsvorstellung unter starken symbolischen Voraussetzungen verteidigt und unter schwachen symbolischen Voraussetzungen verdrängt werden soll. Demgegenüber spielen alle jene Kämpfe um Deutungsmacht in der instrumentellen Dimension des Politischen, die den Vorrang des autoritativen Interpreten unter starken symbolischen Voraussetzungen festigen und unter schwachen symbolischen Voraussetzungen in Frage stellen sollen. Im Unterschied dazu greifen beide Dimensionen des Politischen unter unsicheren symbolischen Voraussetzungen viel stärker ineinander, da sich aus einer erfolgreich durchgesetzten Einheitsvorstellung leicht ein „natürlicher“ Anspruch auf deren autoritative Interpretation ableiten lässt.

4.  Perspektiven für die historische Demokratieforschung Die Repräsentation politischer Einheitsvorstellungen ist für die Konstitution und vor allem für die Verstetigung demokratischer Ordnungen grundlegend. Wo sie fehlt, beruht Ordnung ganz wesentlich auf Zwang und Angst vor Sank17 Vgl. Urs Stäheli, Von der Herde zur Horde? Zum Verhältnis von Hegemonie- und Affektpolitk, in: Nonhoff (Hg.) 2007, S. 123–138. 18 Siehe André Brodocz, Politische Theorie und Gesellschaftstheorie. Prolegomena zu einem dynamischen Begriff des Politischen, in: Hubertus Buchstein/Gerhard Göhler (Hg.), Politische Theorie und Politikwissenschaft, Wiesbaden 2007, S. 156–174.

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tionierung. Diese Ordnungen sind dementsprechend labil und der Gefahr des Verfalls ausgesetzt. Ebenso sind unter diesen Bedingungen die symbolischen Voraussetzungen für die Deutungsmacht einzelner Institutionen unvermeidlich unsicher. Die Geschichte der Weimarer Republik kann in diesem Sinne interpretiert werden. Seinerzeit ist es nicht gelungen, eine gemeinsame Einheitsvorstellung zu generieren, in der die politische Ordnung symbolisch zur Darstellung gebracht werden konnte. Anders gesagt: Es ist nicht gelungen, das zu Symbolisierende durch die Symbolisierung zu konstituieren. Vor allem die Debatten und Konflikte in der Weimarer Nationalversammlung um die politische Identität der Weimarer Republik haben öffentlich sichtbar gemacht, dass es an der Existenz einer gemeinsamen Einheitsvorstellung große Zweifel gab. Aus der Mikroperspektive der handelnden Akteure konnte so sukzessive die für die diskursive Deutungsöffnung nötige Unterstellung einer existenten politischen Einheit verloren gehen und mit ihr die Motivation, diese Einheit überhaupt mit Etwas symbolisch zu repräsentieren. Und aus der Makroperspektive auf den Diskurs fehlte unter diesen Umständen der zu repräsentierende Bezugspunkt, an dem sich ein gemeinsamer Diskurs überhaupt erst kristallisieren konnte. In solchen historischen Konstellationen kommt der konkreten Staatsorganisation als formaler Struktur des politischen Gemeinwesens eine zentrale Rolle zu. Denn sie verteilt – auf ganz unterschiedliche Weise – die Gelegenheiten für politische Institutionen und Akteure, Einheitsvorstellungen durchzusetzen, über deren Deutung sie dann selbst autoritativ entscheiden können. Das heißt, die Staatsorganisation bietet Institutionen und Akteuren eine instrumentelle Gelegenheitsstruktur, um diese unsicheren symbolischen Voraussetzungen in der institutionellen Praxis zu ihren Gunsten zu transformieren. Vor allem das Amt des Reichspräsidenten, aber auch das des Reichstagspräsidenten boten hier Gelegenheiten, eine politische Einheitsvorstellung zu stabilisieren, über deren Bedeutung sie anschließend hätten entscheiden und so Deutungsmacht generieren können.19 Dies ist aus verschiedenen Gründen nicht gelungen. So blieb diesbezüglich eine Lücke, die vor allem die NSDAP mit ihrer Vorstellung einer politischen Einheit auch unter Hinzuziehung von Gewalt gefüllt hat. So wurde nicht nur eine Einheitsvorstellung durchgesetzt. Zugleich wurde der NSDAP wegen der damit verbundenen Beseitigung von Ungewissheit und Unsicherheit noch jene Autorität zugeschrieben,20 mit der sie fortan die Deutungskonflikte über diese Einheitsvorstellung „legitim“ entscheiden konnte. 19 Vgl. den Beitrag von Detlef Lehnert in diesem Band. 20 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, München 2003, S. 675 ff.

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Ob die Geschichte der Weimarer Republik so interpretiert werden kann, ist jedoch keine theoretische, sondern eine empirische Frage. Unter denselben theoretischen Voraussetzungen ließe sich auch die Gegenthese vertreten, dass es in der Weimarer Republik durchaus eine Einheitsvorstellung gab: die „Volksgemeinschaft“.21 Das nötige Deutungskonfliktmanagement war in dieser Lesart dann beim Reichspräsidenten konzentriert. Die bereits angesprochenen Debatten und Konflikte in der Weimarer Nationalversammlung um die politische Identität der Weimarer Republik haben in dem Fall nicht den Zweifel an der Existenz einer gemeinsamen Einheitsvorstellung sichtbar gemacht. Vielmehr weisen sie auf die Gefahren hin, die ein konzentriertes Deutungskonfliktmanagement birgt. Die autoritative Entscheidung über die Bedeutung der „Volksgemeinschaft“ in einzelnen Konflikten kann dazu führen, dass wiederholt unterlegene Konfliktparteien die Überzeugung verlieren, dass ihre Vorstellungen von einer legitimen politischen Ordnung durch diese Deutungen der Einheitsvorstellung noch repräsentiert werden. Die Einheitsvorstellung der „Volksgemeinschaft“ geht dadurch zwar nicht verloren, aber der gemeinsame Diskurs. An seine Stelle treten verschiedene Diskurse, in denen die Bedeutung der „Volksgemeinschaft“ auf verschiedene Art und Weise kommuniziert wird – und zwar nebeneinander. Im Effekt wäre die „Volksgemeinschaft“ eine Einheitsvorstellung, die auf der Makro-Ebene nicht durch diskursive Deutungsoffenheit, sondern durch Ambiguität gekennzeichnet wäre. Dieser diskursive Effekt konnte sich einstellen, weil es am Ende auf der Mikro-Ebene der Akteure keine Bereitschaft mehr gab, mit anderen um die Zustimmung des autoritativ deutenden Reichspräsidenten zu konkurrieren. Vielmehr wurden Konflikte um die Besetzung dieses Amts und die damit verbundene Deutungsmacht ausgetragen. Statt indirekter, gewalthegender Konkurrenz um die richtige Deutung der gemeinsamen Einheitsvorstellung dominierte der direkte Konflikt um die Position der autoritativen Deutungsinstanz. Mit der Theorie diskursiver Deutungsmacht lässt sich aber nicht nur die Labilität demokratischer Ordnungen wie jener der Weimarer Republik erklären. Ebenso lassen sich einige Vorzüge identifizieren, die demokratische Ordnungen gegenüber anderen Ordnungsarrangements auszeichnen.22 Die III. französische Republik bietet ein Beispiel, wie demokratische Ordnungen eine sie selbst stabilisierende Praxis befördern können. So wurde die Einheitsvorstellung der „Republik“ mit der Behauptung gestützt, dass sie keine Klassen 21 So der Hinweis von Wolfram Pyta auf der Tagung „Repräsentationskultur in Europa“ (TU Berlin, 6.–7.5.2010), sowie der Beitrag von Carsten Kretschmann in diesem Band. 22 Vgl. auch André Brodocz, Erfahrung mit Verfahren. Zur Legitimation politischer Entscheidungen, in: Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 44/2010, S. 91–109.

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mehr kenne.23 Diese – kontrafaktische – Leugnung der sozialen Heterogenität dokumentiert den Anspruch demokratischer Ordnungen auf Vollinklusion. Die daraus resultierende Einbeziehung aller in den politischen Prozess verschafft allen Gelegenheiten, die demokratische Ordnung unmittelbar zu erleben und dann als richtig und gut anzuerkennen. Demokratien regeln diese Einbeziehung vor allem mit Hilfe des Wahlrechts. Das Wahlrecht ist deshalb ein ganz zentrales Element ihrer instrumentellen Gelegenheitsstruktur. Nicht zufällig ist das Wahlrecht deshalb selbst immer wieder umkämpft gewesen, wie etwa in Großbritannien während des Viktorianismus.24 Diese im Parlament ausgetragenen Debatten über die richtige Repräsentation des „Volkes“ haben seinerzeit performativ dazu beigetragen, dass das „Volk“ als Einheitsvorstellung durch kontinuierlichen Diskurs hegemonial gehalten wurde. Parlamente deliberieren jedoch nicht ununterbrochen; und Kommunikation zerfällt, nachdem sie gerade entstanden ist. Die Fortsetzung des Diskurses ist aber zentral, um die Hegemonie einer Einheitsvorstellung zu sichern. Ansonsten droht sich auf der Mikro-Ebene der Akteure Ungewissheit darüber auszubreiten, ob die mit der Einheitsvorstellung identifizierte Ordnung selbst noch existiert. Einheitsvorstellungen sind darum vor allem dann von Dauer, wenn sie sich gegen die Ereignishaftigkeit der diskursiven Akte versichern. Dies kann mit Hilfe des Raumes geschehen. So wird Dauer im Raum sichtbar, wenn etwas unverändert an einem Ort über längere Zeit existiert. Parlamentsgebäude sind etwa solch materialisierte Absicherungen des parlamentarischen Diskurses gegen die Ungewissheit einer Fortsetzung des Diskurses. Sie signalisieren in visueller Hinsicht, dass nach dem Ende einer Debatte die nächste Debatte folgen wird. Wegen ihrer sichtbaren Dauerhaftigkeit signalisieren Parlamentsgebäude aber nicht nur, dass es weitergeht, sondern auch wie es weitergeht. Die Ästhetik der Gebäude bestimmt so mit, welchen Autoritätsanspruch das jeweilige Parlament erhebt und ggf. einlösen muss.25 Aber nicht nur der Raum dient als Absicherung gegen die Ereignishaftigkeit des Diskurses. Eine andere Möglichkeit ist die rituelle Absicherung durch wiederholte formelle und informelle Prozeduren der Einsetzung in Ämter oder des Eröffnens, Führens und Beendens von Debatten. Diese Wiederholung des Vergangenen verspricht, dass auch die Gegenwart in der Zukunft wiederholt werden wird und deshalb fortexistieren wird. Solche Verfahren signalisieren 23 Siehe den Beitrag von Andreas Wirsching in diesem Band. 24 Siehe den Beitrag von Monika Wienfort in diesem Band; sowie Andreas Wirsching, Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19. Jahrhunderts, Göttingen 1990, S. 33 ff. 25 Siehe auch dazu den Beitrag von Monika Wienfort in diesem Band.

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deshalb in ritueller Hinsicht: Nach der Debatte ist vor der Debatte. Dies macht noch einmal sehr deutlich, wie die Dauerhaftigkeit politischer Ordnungen am Ende aufgrund ihrer diskursiven Konstitution von einem Glauben lebt, der ihrer Gegenwart vorauseilt.

HANS VORLÄNDER

Können Demokratien eine vernünftige Repräsentationskultur ausbilden?*

Gemeinhin findet ein politisches Gemeinwesen, ein Staat, seinen symbolischen Ausdruck in Wappen, Flaggen oder Hymnen, auch in Zeremonien, Feiern oder in der Architektur.1 Doch ist es immer wieder als ein „merkwürdiges Manko“ der Demokratie bezeichnet worden, dass diese, anders als andere, vor allem monarchisch-höfische und diktatorisch-tyrannische Regierungsformen, „auf eine bündige ästhetische Repräsentation“2 zu verzichten scheint. Die Demokratie, so ist der Eindruck, bringt keine geschlossene, auch keine wirklich überzeugende Form der Repräsentation hervor. Allerdings werden lebhafte, zum Teil leidenschaftliche Debatten ausgetragen, die immer wieder in Demokratien über den Zusammenhang von Politik und angemessener politisch-ästhetischer Repräsentation geführt werden – wie in den letzten zwei Jahrzehnten in und um Berlin als dem symbolischen Mittelpunkt des wiedervereinigten Deutschland.

1. Gibt es genuin demokratische Formen politischer Repräsentation? Der Kampf um eine der Kapitale adäquate politisch-demokratische Repräsentationsform wurde auf nahezu allen Feldern, von der Memorialkultur über die Stadtplanung bis zur Architektur geführt. Und selbstverständlich wurden die Entwürfe für den Reichstag, das Kanzleramt, das „Band des Bundes“ zwischen Friedrichstraße und Spreebogen und die Rekonstruktionen von Reichs* Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine veränderte, ergänzte und aktualisierte Version meines einleitenden Beitrags „Demokratie und Ästhetik. Zur Rehabilitierung eines problematischen Zusammenhangs“ in: Hans Vorländer (Hg.), Zur Ästhetik der Demokratie. Formen der politischen Selbstdarstellung, Stuttgart 2003, S. 11–26. 1 Vgl. hierzu Jörg-Dieter Gauger/Justin Stagl (Hg.), Staatsrepräsentation, Berlin 1992. 2 Walter Grasskamp, Die unästhetische Demokratie. Kunst in der Marktgesellschaft, München 1992, S. 8.

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bank, Reichsluftfahrtministerium und Stadtschloss auf die Kompatibilität von ästhetischer Formensprache und demokratischer Repräsentativität befragt.3 Die „Kuppel des Volkes“4, Norman Fosters gläserne Konstruktion auf dem Reichstagsgebäude, konnte noch unisono als gelungene Form demokratischer Transparenzarchitektur gefeiert werden, während das neue Kanzleramt der Architekten Schultes und Frank von den einen als „monumentales Missverständnis“ und „wagnerianische“ Kathedrale exekutiver Macht kritisiert5, von den anderen als „Monument der Berliner Republik“6 und als weltoffener und „heiterer Amtssitz unseres Staatswesens“7 belobigt wurde. Auf jeden Fall aber schien das Kanzleramt jenes repräsentative Projekt darzustellen, das der Bonner Republik fehlte und nun den „neuen Willen zur Staatsästhetik“8 verkörperte. Wenn die Demokratie auch kein bündiges Konzept ihrer Eigendarstellung zu haben scheint, so hat die Demokratie keineswegs immer auf ihre Selbstrepräsentation verzichtet. Was für die Bonner Nachkriegsrepublik gelten mochte, dass sie sich nämlich einer Formaskese unterzog, die gerade jene monumentalästhetischen Repräsentationen des Nationalsozialismus zu konterkarieren und gleichzeitig ihren transitorischen Charakter als nationalstaatliches Provisorium abzubilden suchte, gilt keineswegs für alle modernen Demokratien. Die bewusst an klassische Repräsentationsformen der griechischen und römischen Antike anknüpfende Selbstdarstellung der amerikanischen Republik, der ältesten modernen Demokratie, belegt dies eindrücklich. Vom Capitol Hill, dem Sitz des amerikanischen Kongresses, dessen Kuppelbau Modell für andere Parlamentsgebäude stand, über das zwischen Tempelbau und aristokratischem 3

Zu den nationalen Projekten und Konzeptionen vgl. jetzt im Überblick: Demokratie als Bauherr. Die Bauten des Bundes in Berlin 1991 bis 2000, Hg. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Hamburg 2000; Heinrich Wefing, Abschied vom Glashaus. Die architektonische Selbstdarstellung der Bundesrepublik im Wandel, in: Ders. (Hg.), „Dem Deutschen Volke“. Der Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude, Bonn 1999, S. 136–161; Michael Z. Wise, Capital Dilemma. Germany’s Search for a New Architecture of Democracy, New York 1998. 4 Tilmann Buddensieg, Kuppel des Volkes. Zur Legitimität eines demokratischen Symbols, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Oktober 1992. 5 So vor allem Heinrich Wefing, Das Ende der Bescheidenheit. Monumentales Missverständnis. Das Bundeskanzleramt von Axel Schultes und Charlotte Frank, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. April 2001, Nr. 97, S. 52/53. 6 Hanno Rauterberg: Pathos für die Republik, in: Die Zeit, 26. April 2001, Nr. 18, S. 41/42. 7 Tilmann Buddensieg, Staatsgestalt und Baugestalt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Mai 2001, Nr. 117, S. 54. 8 Rauterberg: Pathos (wie Anm. 6), S. 41.

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Landsitz changierende White House bis zur Mall mit Lincoln Memorial und Vietnamkrieg-Gedenktafel zieht sich ein Band demokratischer Repräsentationsarchitektur. Dass auch Rhetoriken, Gedenktage, Feiern und Zeremonien, auch die Zurschaustellung von Unabhängigkeitserklärung und Verfassung in einem Schrein in der Rotunda for the Charters of Freedom in den National Archives, eine spezifisch amerikanische Formensprache politischer Selbstdarstellung abbilden, muss nicht besonders betont werden.

Capitol Hill, National Mall und Washington Monument (im Hintergrund), Washington D.C.

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Was für die moderne Demokratie gilt, gilt auch für die antike Demokratie, die athenische Demokratie des fünften und vierten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung. Diese bediente sich zwar teilweise einer aristokratischen Formensprache der Selbstdarstellung. Zugleich aber errichtete die Demokratie eine neue Topographie des öffentlichen Raumes – von den Ehrendenkmälern für die Begründer und Retter der Demokratie über die Neueinrichtung der Pnyx, dem Hügel, auf dem die Volksversammlung tagte, bis hin zu Stelen, die unter anderem Demokratia als Göttin zeigen, die einen bärtigen Mann, den Demos darstellend, bekränzt. Demos und Demokratia wurden personifiziert und in religiösen Kulten verehrt. Die Demokratie wurde zum Motiv der allegorischen Bildersprache, eine genuin demokratische Formensprache war teilweise gefunden – sie zeigte sich etwa in der dialogisch-kommunikativen Gestaltung des Ortes der Volksversammlung – und der öffentliche Raum von Bildern und Erzählungen der athenischen Demokratie imprägniert worden.9

2.  Totalitarismus und Ästhetik Jede Diskussion um die Formensprache demokratischer Repräsentationskultur steht im Schatten von Nationalsozialismus und Faschismus, von Kommunismus und „Realsozialismus“. Es war Walter Benjamin, der gerade in der „Ästhetisierung der Politik“10 ein wesentliches Herrschaftsmittel des Faschismus gesehen hatte, das genau darin bestand, die Legitimationsfrage durch politische Inszenierungsformen des schönen Scheins zu überspielen. Walter Grasskamp hat, daran anknüpfend, zu Recht festgestellt, dass die Verknüpfung von Politik und Ästhetik nur deshalb zu „den speziellen Themen des 20. Jahrhunderts“ werden konnte, weil „die beiden großen Tyranneien, Nationalsozialismus und Kommunismus, den Künsten eine so herausragende Bedeutung bei der Durchsetzung und Festigung ihrer Machtansprüche beigemessen haben ... Es lässt sich nicht leugnen, dass beim Einsatz der Künste für die Tyrannei Pracht entwickelt wurde, auch solche, die ästhetisch stimmig war, und dass diese Pracht verfing, gerade dann, wenn sie Kitsch war.“11 9 Vgl. Tonio Hölscher, Symbolische Manifestationen in labilen Zeiten. Demokratie und Bildkunst im antiken Athen, in: Vorländer (Hg.) 2003, S. 29–53. 10 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M. 1981, S. 7–44. 11 Grasskamp, Demokratie (wie Anm. 2), S. 8 f.; vgl. zum Verhältnis von Staat und Künsten im Sozialismus auch Paul Kaiser/Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Enge und Vielfalt.

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Aber die Ästhetisierung der Politik beschränkte sich nicht alleine auf die Indienstnahme der Kunst. Faschismus und Nationalsozialismus machten die Inszenierung von Parteitagen, Aufmärschen, Fackelzügen, Nationalgeschichten, Symbolen und Mythen zu einem konstitutiven Element ihrer Politik der Massenbewegung. Gerade das sinnlich-berauschende Erlebnis von – direkter oder medial-mediatisierter – Teilhabe an der Inszenierung, der Moment des „Dionysischen“, um mit Nietzsche zu sprechen, formte die Masse erst zu einer Gemeinschaft Gleichgesinnter und dadurch zu einer politischen Bewegung. Der Marsch auf Rom durch Mussolini gehört genauso zu diesen Stilmitteln totalitärer Repräsentationskultur des Politischen wie die Lichtdome auf dem Nürnberger Reichsparteitag 1936 und die zahlreichen Auftritte des „Führers“ in der Pose des Messias vor der ihm ergebenen Menschenmenge. Dass sich diese totalitären Formen politischer Inszenierung religiöser Zeichen- und Bildersprachen bedienten, ist früh schon von Theodor Heuss in seiner Schrift über „Hitlers Weg“ bemerkt und als „profane Liturgik“, die das „Pseudo-Kultische“ inszeniert, auf den Begriff gebracht worden.12 In der Tat kann mit Eric Voegelin und George Mosse von Formen einer „politischen Religion“ oder einer „säkularisierten Theologie und ihrer Liturgie“ gesprochen werden.13 Totalitäre Herrschaft und Führerkult wurden als Ordnungen des Numinosen, des Heiligen, inszeniert, um Massen affektiv zu binden und Gefolgschaft zu erzeugen. Unter dem Eindruck der totalitären Diktaturen hat jeder Befund des Ästhetischen im Politischen eine negative Konnotation erfahren. Jede Rehabilitierung dieses Zusammenhangs wird sich des strategischen und instrumentellen Gebrauchs ästhetischer Stilmittel zu Herrschaftslegitimierung und Regimestabilisierung bewusst bleiben müssen. Gleichwohl lassen sich die ZusamAuftragskunst und Kunstförderung in der DDR. Analysen und Meinungen, Hamburg 1999. Vgl. zur politisch-ästhetischen Inszenierung der totalitären Herrschaftssysteme von Nationalsozialismus und Sowjetunion Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Ästhetik und Gewalt im Nationalsozialismus, München 1991, und Christel Lane, The Rites of Rulers. Ritual in Industrial Society – The Soviet Case, Cambridge 1983. 12 Theodor Heuss, Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus, Stuttgart 1932. Heuss hat sich 1952 anlässlich eines Vortrags vor der „Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik“ darauf wieder bezogen, als er über die „Formkräfte einer politischen Stilbildung“ (so der Titel) sprach. Vgl. Theodor Heuss, Die großen Reden. Der Staatsmann, Tübingen 1965, S. 184–223 (hier: S. 219). 13 Eric Voegelin, Die politischen Religionen (1938), hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Peter J. Opitz, München 1993; George L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von den napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1976.

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menhänge von Politik und demokratischer Repräsentationskultur nicht auf ihre strategischen und „verschleiernden“ Gebrauchsweisen reduzieren. Zum einen besitzt Politik, also auch demokratische Politik, stets eine ästhetische Dimension. Zum anderen kann es als eine „peinliche Schwäche“ der Demokratie angesehen werden, dass sie der „Pracht der Tyrannis so gut wie nichts entgegenzustellen weiß“14. Der erste Gesichtspunkt betrifft die Frage nach der konstitutiven Funktion des Ästhetischen für politische Repräsentationskulturen, der zweite Aspekt stellt erneut die Frage nach den genuin demokratischen Formen politischer Selbstdarstellung.

3.  Politische Ästhetik und demokratische Repräsentationskultur Die Rehabilitierung des Zusammenhangs von Ästhetik und Politik hat zunächst einmal die konstitutive von der expressiven Seite zu unterscheiden. Gesellschaftliche und politische Wirklichkeit wird über symbolische und ästhetische Mechanismen nicht nur vermittelt, sondern auch erzeugt. Eine jede Gesellschaft lebt in Sinnbezügen, die als solche nur über Sprache, Handeln und Erleben erfahrbar werden. Symbol- und Zeichensprachen erzeugen einen sozialen Raum, ein „Bezugsgewebe“15, der individuellem wie politischem Handeln Sinn, Bedeutung und Orientierung verleiht. Das sinnliche Erleben von Farben, Hymnen, Liedern, Rhetoriken, Umzügen, Inszenierungen, Diskussionen, Wahlen usw. konstituiert den Raum des Politischen ebenso, wie der Kampf um die Macht die Politik prägt. Sprache ist dabei ein, vielleicht der bedeutendste „Hermeneut aller Sinne“16, doch auch sprachlose Formen der Bedeutungserzeugung und der Sichtbarmachung von Sinnstrukturen wie Symbole (Flaggen, Münzen), Rituale (Wahlen) und Mythen, aber eben auch die Architektur, können in ihrer sinnlich-ikonischen Verdichtung jene Orientierung und Identität stiftenden Leistungen erbringen, die für die Einheitsbegründung politischer Gemeinwesen wesentlich sind. Wie die gesellschaftliche, so wird auch die politische Wirklichkeit über eine symbolische Dimension vermittelt.17 14 Grasskamp, Demokratie (wie Anm. 2), S. 9. 15 Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1987, S. 171 ff. 16 Reinhart Koselleck, Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste, in: Sabine R. Arnold u.a. (Hg.), Politische Inszenierungen im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien 1998, S. 25–34 (hier: S. 31). 17 Das Verhältnis von Symbol und Politik ist in den letzten Jahren verstärkt behandelt worden. Dazu beigetragen hat die kulturwissenschaftliche Wendung in den Geistesund Sozialwissenschaften. Für die Geschichtswissenschaften: Barbara Stollberg-

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Hinzu tritt die expressive Seite. Politische Ordnungen sind für die Aufrechterhaltung und die Durchsetzung ihrer Geltungsansprüche auf symbolische Formen der Eigendarstellung angewiesen. Auch die Politik in der Demokratie ist auf sinnliche Ausdrucksformen angewiesen. Nicht nur der Diskurs, nicht nur die rationale Satzung, nicht nur das rechtliche und institutionelle Gerüst der Politik, nicht nur der politische Kampf um Macht konstituiert das Politische – es sind immer auch die symbolischen und ästhetischen Formen, in denen Politik dargestellt und inszeniert wird und die einer politischen Ordnung Sinn und Bedeutung geben. Politik vollzieht sich in Bildern, in Ritualen, in Verkörperungen, in Räumen, in Rhetoriken. Die Demokratie unterscheidet sich hier prinzipiell nicht von anderen Formen und Arenen, in denen Politik gemacht wird. Demokratische Ordnungen rechtfertigen sich auch durch ihre repräsentationskulturellen Formen. Wenn aber eine jede politische Ordnung, unabhängig von ihrer jeweiligen Regierungsform, auf Formen der politischen Inszenierung zurückgreift und auch nicht von vornherein auf einen strategiRilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005; dies., Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe, Thesen, Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489–527. Für die Politikwissenschaft: Birgit Schwelling (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004. Ebenfalls hat die Politische Kultur-Forschung den Blick für die kulturelle Dimension geschärft, hier v.a. Karl Rohe, Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit, in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hg.), Politische Kultur in Deutschland, Opladen 1987, S. 39–48. Vgl. auch Jürgen Gebhardt (Hg.), Verfassung und politische Kultur, Baden-Baden 1999; Peter Brandt (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005. Vgl. zum gesamten Komplex die Arbeiten des Dresdner Sonderforschungsbereiches 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“, u.a. Karl-Siegbert Rehberg, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – Eine Einführung in systematischer Absicht, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 2001, S. 3–49; Gert Melville/Hans Vorländer (Hg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnung, Köln 2002; Hans Vorländer, Integration durch Verfassung? Die symbolische Bedeutung der Verfassung im politischen Integrationsprozess, in: Ders. (Hg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 9–40; ders., Die Verfassung als symbolische Ordnung, in: Politik und Recht. PVS-Sonderheft 36, Wiesbaden 2006, S. 229–249. Zum Verhältnis von Politik, Formen symbolischer Repräsentation und Performanz auch den Band von Arnold u.a. (Hg.) 1998 (wie Anm. 16) sowie Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in der modernen Politik, Opladen 2002 (darin auch den instruktiven Aufsatz von Ronald Hitzler, Inszenierung und Repräsentation. Bemerkungen zur Politikdarstellung der Gegenwart, S. 35–49).

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schen oder manipulatorischen Gebrauch solcher Inszenierungen geschlossen werden kann, dann stellt sich die Frage nach den Spezifika demokratischer Repräsentationskultur. Was kennzeichnet den Unterschied zwischen demokratischer und nicht-demokratischer Repräsentationskultur? Den Unterschied machen zunächst einmal die Kontexte, in denen diese repräsentationskulturellen Formen des Politischen ihre praktische Institutionalisierung finden und aus denen sie ihre Bedeutungsaufladung erfahren. Ein Aufmarsch in der Diktatur bedeutet eben etwas anderes als ein Protestzug in der Demokratie. Ein und dasselbe Gebäude bedeutet nicht das Gleiche. Die Differentsetzung im Identischen ergibt sich durch den Kontext, die Gebrauchsweise und die Zuschreibung von Bedeutung. Ein und dasselbe Gebäude kann in der Diktatur dem Reichsluftfahrtministerium und in der Demokratie dem Finanzministerium dienen und vom Nutzer und Betrachter eine gänzlich andere Bedeutungszuschreibung erhalten, ohne dass sich die äußere Hülle verändert hätte. Alkibiades konnte sich als Olympiasieger inszenieren, Bill Clinton als Saxophonspieler, Putin als muskelgestählter Angler und zu Guttenberg als Glamour Boy auf New Yorks Times Square. Die Absicht war die gleiche: Steigerung des politischen Charismas durch Schaffung einer Aura in politikfremder Arena. Die ästhetische Inszenierungsform war unterschiedlich, aber dennoch war eine jede für sich Ausdruck der Wert- und Sinnstrukturen ihrer jeweiligen Gesellschaft: Athens Demokratie schätzte den Triumphator, Amerikas Gesellschaft das Sexsymbol, Russland den Naturburschen und Deutschland die Lichtgestalt. Alle Gesten versprachen politischen Profit – wenn auch nur für kurze Zeit.18 Bei solchen Inszenierungen des Politischen kann es sich um die Darstellung des Besonderen und des Außeralltäglichen handeln, das für den Bestand politischer Ordnungen wesentlich ist. Feiern und Zeremonien, Jahrestage und Staatsakte gehören zu diesen symbolischen Momenten der Eigenstabilisierung, in denen die politische Ordnung dem alltäglichen Geschäft enthoben wird und in der Sakralisierung von Gründung und Geschichte ihre Geltung zu behaupten sucht.19 Dabei spielt die ästhetische Gestaltung einer solchen Symbolisierung mitunter eine entscheidende Rolle. Symbolisierungshandlungen können gelingen, weil sie würdig und angemessen inszeniert werden. Sie können aber auch scheitern, weil sie kitschig und überzogen sind. 18 Über Alkibiades berichtet Thukydides im Kapitel „Vermessenheit“ in: Der große Krieg (übers. u. eingel. von Heinrich Weinstock), Stuttgart 1938, S. 101 f. Auch Plutarch berichtet – durch Euripides – von Alkibiades und seinem Auftritt als Olympiasieger. 19 Vgl. zu diesen Zusammenhängen jetzt Hans Vorländer (Hg.), Transzendenz und Gemeinsinn. Perspektiven des Dresdner Sonderforschungsbereichs 804, Dresden 2010.

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Repräsentationskulturelle Inszenierungen des Politischen stehen im politischen Raum natürlich auch in einem engen Zusammenhang mit dem Erwerb und der Erhaltung von Macht. Sie können Macht sichtbar machen, in Szene setzen, sie können aber auch Macht verdecken, unsichtbar machen.20 Der große Auftritt, sei es des Königs am Hofe oder der Kanzlerin im Fernsehen, sind sichtbare Inszenierungen von Macht. Sie sind machtvolle Verkörperungen von Herrschaft, ganz so wie Königspaläste oder Kanzlerämter Symbolisierungen des politischen Zentrums in architektonischer Form darstellen. Die Inszenierung von Politik als „Krönungsmesse“ ist nicht nur monarchischen Regierungsformen eigen.21 In der Mediendemokratie lassen sich so auch demokratische Politiker auf das Podest der Kanzlerkandidatur heben.22 Und Palastarchitektur ist ein unübersehbares Zeichen für Machtansprüche, wie ein (post)modernes Kanzleramt als „Kathedrale der Kanzlerdemokratie“ die Kulisse für die mediale Inszenierung von demokratisch legitimierter Macht ist.23 Demokratische Repräsentationskultur bedient sich indes nicht nur pathetischer Formen, sie kommt auch in alltäglichen Erscheinungsweisen daher und beeinflusst unmerklich, aber nachhaltig die Wahrnehmungen des Politischen. Das fängt an bei der architektonischen Gestaltung öffentlicher Räume, umfasst die mediale Präsentation von Politik und Politikern und findet schließlich ihren Ausdruck in vielen scheinbar unpolitischen Sphären wie der populären Unterhaltungsindustrie, in Spielfilmen, Quizsendungen oder Talkshows. So wie politische Kommunikation immer auch auf ästhetische Vermittlungsformen angewiesen ist, so sind Ästhetiken des Alltags nicht ohne Bedeutung für 20 Herfried Münkler, Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung, in: Gerhard Göhler (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden 1995, S. 213–230. 21 Vgl. in historischer Perspektive Bernd Sösemann, Zeremoniell und Inszenierung. Öffentlichkeit und dynastisch-höfische Selbstdarstellung in der preußischen Krönung und den Jubiläumsfeiern 1701–1851, in: Ders. (Hg.), Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 2002. 22 So geschehen auf dem SPD-Parteitag in Leipzig am 17. April 1998, als Gerhard Schröder zum Kanzlerkandidaten der SPD erklärt wurde. Vgl. auch Andreas Dörner, Wahlkämpfe – eine rituelle Inszenierung des demokratischen Mythos, in: Ders./Ludgera Voigt (Hg.), Wahl-Kämpfe. Betrachtungen über ein demokratisches Ritual, Frankfurt a.M. 2002, S. 16–42. 23 Vgl. hierzu den Beitrag von Heinrich Wefing, Das Ende der Bescheidenheit. Rollenspieler vor Staatskulisse: Anmerkungen zur Architektur des Berliner Kanzleramtes von Axel Schultes und Charlotte Frank, in: Vorländer, Ästhetik der Demokratie (wie Anm. 9), S. 161–183. Zuvor schon ders.: Kulisse der Macht. Das Berliner Kanzleramt, München 2001.

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die Wahrnehmung und Sinngebung des Politischen. Die Frage indes ist, ob es hier einen spezifisch demokratischen Aspekt des Zusammenhangs von Politik und Ästhetik gibt.

4.  Formen demokratischer Selbstdarstellung Was soll, und vor allem: Wie soll es in der Demokratie repräsentiert werden? Haben demokratische Staatsformen eine genuin demokratische Bilder- und Formensprache entwickelt, die die demokratische Ordnung und die damit verbundenen Vorstellungen guter Politik sinnfällig machen können? Oder ist die Selbstdarstellung von Demokratie und demokratischer Politik auf vordemokratische, feudale und imperiale Darstellungsmittel verwiesen? Gilt für die Demokratie etwa, was Ernst-Wolfgang Böckenförde als die Paradoxie des säkularen Staates identifiziert hat24: Lebt die Demokratie symbolisch von Voraussetzungen, die sie selbst weder zu garantieren noch zu generieren vermag? Ist die Demokratie zur Selbstdarstellung auf jene traditionellen und charismatischen Restbestände vordemokratischer Symboliken und Zeichensprachen verwiesen – oder hat sie eine eigene Formensprache entwickelt? Und wie könnte eine vernünftige Repräsentationskultur aussehen – eine solche demokratische Selbstdarstellung, die über ihren „naturwüchsigen, d. h. alternativlos-bewusstseinsfernen“ Charakter hinaus auch einen Moment diskursgebundener Reflexivität aufweist, die es erlaubt, auf die „guten Gründe“ für die je spezifische Form der demokratischen Repräsentationskultur und der in ihr eingeschlossenen und zum symbolischen Ausdruck gebrachten politischen Ordnungsvorstellungen zu rekurrieren?25 Die Demokratie kennt keinen verbindlichen Formenkanon. Sie übernimmt Formen- und Bildersprachen, die sie vorfindet, die sie aus der historisch-politischen Tradition der jeweiligen Kultur übernimmt, umformt und anpasst. Das war in Athen nicht anders als in den USA nach der Unabhängigkeit oder in 24 „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ – So das berühmte, immer wieder bemühte Zitat aus Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1976, S. 42–64 (hier: S. 60). 25 Jürgen Habermas, Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten. Ein Rückblick auf Gehlen und Cassirer, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 2001, S. 54, 63.

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Frankreich nach der Revolution. Die Demokratie schreibt sich in die Bestände vordemokratischer Symboliken und Zeichensprachen ein. Genauso wenig, wie es reine Formen der Demokratie gibt, gibt es reine Formen demokratischer Repräsentationskulturen. Demokratische Repräsentationskulturen sind immer Mischformen. Dass Demokratien auch nie autoritativ über ihre Formensprachen befinden können, liegt letztlich in der Natur der Demokratie selbst. Allein die Grenzziehungen zwischen öffentlichen und privaten Bereichen, zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen, zwischen Politik, Wirtschaft und Kunst, lassen einen etatistischen Durchgriff auf verbindliche Formen- und Bildersprachen, auch die Indienstnahme der autonomen Künste, nicht zu. Die Demokratie lebt von der Pluralität ihrer Eigeninszenierung. Sie kann nicht über ihr ästhetisches Repertoire autoritativ verfügen. Darin unterscheidet sich die Demokratie in ihrer symbolischen Selbstdarstellung von anderen, vor allem von den totalitär-diktatorischen Regierungsformen. Die deutsche Geschichte stellt einen besonders interessanten Fall dar, hat sie doch im 20. Jahrhundert den Wechsel von der monarchischen über die demokratische, die diktatorische bis zu einer wiedererrichteten demokratischen Ordnung durchlaufen. Die Weimarer Republik suchte die bewusste Ablösung von einer monarchischen Ikonographie und die Begründung einer demokratischen Zeichen- und Formensprache. Sie richtete das Amt eines „Reichskunstwarts“ ein, das Edwin Redslob bekleidete. Mit ihm war die Hoffnung verbunden, dass die junge Republik durch eine bildliche und bauliche Formgebung auch „die Volksfantasie ergreifen“ könne, ganz so „wie die Kirchen im Mittelalter und die Bauten der Fürsten im 18. Jahrhundert“26. Redslob suchte der deutschen Demokratie „im Geistigen einen neuen Ausdruck zu schaffen“. Er dachte unter anderem an die Neugestaltung von Marken, Scheinen, Dokumenten, Formularen und Druckschriften. Reichsinnenminister Erich Koch-Weser wies unter Mitwirkung des Reichskunstwarts an, „alle Bilder zu entfernen, deren Verbleib als Widerspruch gegen die verfassungsmäßige Staatsform“ anzusehen sei. Standbilder, Hoheitszeichen, Embleme und Inschriften der Monarchie waren zu entfernen. Die Zeitschrift „Das Plakat“ formulierte 1920 die Hoffnungen, die sich mit dem Amt des Reichskunstwarts verbunden hatten: „Er soll mit eisernen Besen die leer gewordenen Sinnbilder einer abgelaufenen Zeitspanne wegkehren. Er soll uns befreien von der ausdruckslosen Germania auf der Briefmarke, derer Brustpanzer einem Schützengrabenvolk nicht mehr gefällt; er soll das klassische Gesindel der Merkure und Herkulesse, der 26 Alle Zitate in diesem Abschnitt verdanken sich dem Artikel von Tilmann Buddensieg über Edwin Redslob, der unter dem Titel „Kunst sei Hefe, nicht Zimt“ erschienen ist in: Der Tagesspiegel, 24. Mai 1998, S. W2 (Weltspiegel-Beilage).

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Adler und Eulen, an dem wir uns übersatt gesehen haben, heimschicken und dazu helfen, dass unsere Banknoten, Münzen, Sigel und Stempel schlichter, bescheidener und deutscher werden; möge er auch Ziffern und Buchstaben, Schilder und Buden, Wände und Räume der Reichseisenbahnen und Reichsposten sachlich und schön formen lassen.“ Es war schon eine eigentümliche, wenngleich ehrenwerte Intention, die so ganz der deutschen Tradition entsprach, eine neue, demokratische Formgebung von oben, auf dem Wege ihrer administrativen Implementierung oktroyieren zu wollen. Die Revolution der Bilder und Formen, die Erfindung einer neuen demokratischen Ikonographie scheiterte – wenngleich es vielversprechende Ansätze gab.27 Aber die Weimarer Republik blieb letztlich eine umkämpfte Republik. Und das galt auch für ihre Symbole. Das Schwarz-RotGold der Flagge wurde vielerorts ignoriert; der Verfassungstag wurde, von bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, nicht zum Festtag republikanischer Selbstvergewisserung, erst recht nicht zum Fluchtpunkt bürgerschaftlicher Selbstbestätigung. Und der Reichstag galt vielen als Ort des Parteienzwists, aber nicht als das demokratische Zentrum der Republik. Ähnlich, wenngleich sehr viel weniger ambitioniert, versuchte Theodor Heuss etwa dreißig Jahre später als Bundespräsident zumindest eine bescheidene Remedur der Staatssymbolik zu bewirken. Heuss, der im Übrigen mit Redslob über die gemeinsame Arbeit im Werkbund verbunden war, war der festen Auffassung, dass der „tiefe Einschnitt in unsere Volks- und Staatengeschichte einer neuen Staatssymbolik bedürftig“ sei.28 Heuss hatte schon die Einführung staatlicher Orden, wie beispielsweise des Bundesverdienstkreuzes, betrieben. Vor allem in der Hymnenfrage drängte er auf eine neue Symbolik. Die Weiterverwendung der Hymne von Hoffmann von Fallersleben, ursprünglich aus der deutschen Freiheitsbewegung stammend und vom ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert, 1922 zur offiziellen Nationalhymne erklärt, hatte Heuss abgelehnt, weil sie bei den Deutschen mit dem Pathos des Nationalsozialismus verbunden wurde, auch regelmäßig im Zusammenhang mit dem Horst-Wessel-Lied gespielt worden war und deshalb fatale Assoziationen wecken musste. So hatte Heuss bei dem Dichter Rudolf Alexander Schröder eigens eine neue Hymne in Auftrag ge27 Vgl. hierzu Tilmann Buddensieg, Die Gewerkschaften als Bauherren. Vom Aufstieg des Proletariats zur künstlerischen Avantgarde in der Weimarer Republik, in: Vorländer, Ästhetik der Demokratie (wie Anm. 9), S. 111–138. 28 So Theodor Heuss in einem Brief an Konrad Adenauer, abgedruckt in Theodor Heuss/ Konrad Adenauer, Unserem Vaterlande zugute. Der Briefwechsel 1948–1963, Hg. Hans Peter Mensing, Berlin 1998, S. 112.

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geben, selber Textvorschläge gemacht und den Entwurf von dem Komponisten Hermann Reutter mit einer getragenen Melodie, einem „Pathos der Nüchternheit“, vertonen lassen.29 Heuss‘ Versuch endete jedoch als Groteske. Das Bundeskabinett testete die Singbarkeit der Hymne, das Lied wurde über Rundfunk und Schallplatten verbreitet, konnte sich aber nicht durchsetzen. Als Kurt Schumacher Schröders „Hymne an Deutschland“ öffentlich als „pietistischen Nationalchoral“ verspottete und Gottfried Benn höhnte: „Der nächste Schritt wäre dann ein Kaninchenfell als Reichskriegsflagge“, da kam die Episode zu einem Ende.30 Heuss akzeptierte die dritte Strophe des „Deutschlandliedes“ als Hymne, verzichtete aber auf eine offizielle Proklamation. Die neue Symbolgebung war gescheitert. Heuss erklärte resigniert: „Ich weiß heute, dass ich mich täuschte. Ich habe den Traditionalismus und sein Beharrungsvermögen unterschätzt.“31 Die Bonner Demokratie besaß ein „Untermaß an Staatsrepräsentation“32, wie nicht ohne sarkastischen Unterton mit Blick auf das symbolische Understatement der rheinischen Republik bemerkt worden ist. Aber die „defiziente Ästhetik des Staates“33 war gewollt, auf machtvolle Gesten wurde bewusst verzichtet. Das war, genau betrachtet, weniger eine Flucht vor der ästhetischen Selbstdarstellung, sondern vielmehr gerade die adäquate Repräsentation eines Provisoriums und Transitoriums. Westdeutschland wollte eben in der Rumpfform eines amputierten Nationalstaates nicht auf jene machtvollen Pathosformeln der Staatsrepräsentation zurückgreifen, die gemeinhin dem Nationalstaat seine symbolische Größe gegeben hatten, die aber auch durch die Monumentalästhetik des Totalitarismus entwertet worden waren. Die Not wurde zu einer Tugend. Denn als sich einmal mehr die französische Spruchweisheit zu bewahrheiten schien, c’est le provisoire qui dure, die pure zeitliche Dauer die Bundesrepublik Deutschland zu einem Definitivum zu machen schien, da wurde die formasketische Symbolisierung der zweiten deutschen Demokratie 29 Theodor Heuss in einem Brief an Konrad Adenauer vom 19.6.1951: „Es gibt eben nur die eine Melodie, die notwendigerweise die traditionalen Wortassoziationen weckt, von denen ich bei allem Respekt vor der Geschichte die Deutschen wegbringen möchte, um sie an das Pathos der Nüchternheit, das auch seine innere Größe und Würde haben kann und wird, heranzuführen.“ Heuss/Adenauer, Unserem Vaterlande zugute (wie Anm. 28), S. 73. 30 Vgl. auch die Darstellung bei Hans Maier, Politische Selbstdarstellung – ein deutsches Problem, in: Vorländer, Ästhetik (wie Anm. 9), S. 95-110, hier S. 99–101. 31 Theodor Heuss an Konrad Adenauer (wie Anm. 28). 32 Josef Isensee, Staatsrepräsentation und Verfassungspatriotismus, in: Gauger/Stagl (Hg.), Staatsrepräsentation (wie Anm. 1), S. 226. 33 Karl-Heinz Bohrer, Nach der Natur. Über Politik und Ästhetik, München 1988, S. 27.

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auch zu einem ästhetischen Programm erhoben. An die Stelle des funktionalen Schwippert-Baus, der ehemaligen Pädagogischen Akademie, die lange Zeit den Bundestag beheimatet hatte, trat nun ein Bundestagsgebäude, das in seiner konsequenten Formensprache keinen Zweifel an seiner genuin demokratischen Ästhetik zuließ. Das wiederum war sowohl von der „Demokratie als Bauherrn“34 wie von Günter Behnisch, dem Architekten, so gewollt, es wurde aber auch vom Publikum so verstanden. Allein die Ironie der Geschichte ließ die Bonner Demokratie erst in dem Moment auch symbolisch zu sich kommen, als sie selbst Geschichte geworden war. Der Umzug der Bundeshauptstadt nach Berlin schien das Ende der politischen Symbolarmut einzuleiten. Der „Wiederholungswunsch“ nach Bonner Verhältnissen war nur schwach ausgeprägt. Dagegen wurden jetzt in Berlin die architektonisch und städtebaulich eingefrorenen Brüche der deutschen Geschichte, auch die doppelte Nachkriegsgeschichte der beiden deutschen Staaten zu einem vorrangigen Problem ästhetischer Gestaltung. Die politische Ikonographie der Berliner Republik war in einem gewissen Sinne neu zu erfinden. Dabei zeigte es sich, dass weder ein Anschluss an die preußisch-wilhelminische noch an die nationalsozialistische Formensprache in der politischen Architektur möglich war – sie war aber eben, aufgrund der noch vorhandenen Bauten, auch nicht gänzlich zu umgehen. Erst die Rekonstruktion und partielle – innere – Neugestaltung machte den Altbestand nicht nur neuen Funktionen gefügig, sondern ließ sie auch erst für die Demokratie adaptionsfähig werden. Nicht immer gelang der Übergang in die Berliner Republik so beeindruckend wie die Passage des Reichstags zum Bundestag. Christos Verhüllung und die anschließende Entkernung wirkten wie eine „rituelle Reinigung“35, bevor sich die neue Demokratie des alten Wallot-Baus bemächtigte. So einfach war mit

34 Die „Demokratie als Bauherr“ – das war die einprägsame Formel, die Adolf Arndt in einem gleichlautenden Vortrag (Berlin 1984) prägte. Darin hieß es: „Sollte es nicht einen Zusammenhang geben zwischen dem Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie und einer äußeren wie inneren Durchsichtigkeit und Durchgängigkeit der öffentlichen Bauwerke?“. Ähnlich Günter Behnisch, Bauen für die Demokratie, in: Ingeborg Flagge/ Wolfgang Jean Stock (Hg.), Architektur und Demokratie, Stuttgart 1992. Vgl. auch Wolfgang Kil, Das sympathische Experiment. Der Bonner Plenarsaal nach 40 Jahren Streit über das Bauen für die Demokratie, und Heinrich Wefing, Abschied vom Glashaus. Die architektonische Selbstdarstellung der Bundesrepublik im Wandel, beide in: Heinrich Wefing (Hg.), „Dem Deutschen Volke“ (wie Anm. 3), S. 100 ff., 136 ff. 35 Andreas Dörner, Der Bundestag im Reichstag. Zur Inszenierung einer politischen Institution in der „Berliner Republik“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 2, 2000, S. 245.

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dem Palast der Republik, einem Symbol der DDR, nicht umzugehen.36 Auch die Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses hätte eine Anknüpfung an eine vordemokratische Formensprache signalisiert und war deshalb in rein historistischer Rekonstruktion nicht durchsetzbar. Die Umbettung der Gebeine Friedrichs des Großen schien hier schon das falsche symbolische Zeichen zu setzen. Das Stelenfeld von Peter Eisenman als Mahnmal an die deutsche Vernichtung des europäischen Judentums war als Bekenntnis zur deutschen historischen Verantwortung im Grundsatz letztlich weniger strittig als seine ästhetische Umsetzung. Und Hans Haackes Kunstprojekt, den Innenhof des Reichstagsgebäudes „Der Bevölkerung“ zu widmen und ihn mit „Muttererde“ aus den Regionen der Republik zu füllen, blieb bis zuletzt, wegen der multikulturellen Umdeutung der Reichstags-Inschrift „Dem deutschen Volke“ und dem ironischen Spiel mit der Blut-und-Boden-Metaphorik, heftig umstritten.37 Jene Auseinandersetzungen um die politische Ikonographie der Berliner Demokratie, die sich in Kommissionen, um Entwürfe und an Bauten entzündeten, sind als ein grundlegender Diskurs um das Selbstverständnis des vereinigten Deutschland zu verstehen. Es war und ist eine Selbstthematisierung, die in der Diskussion um die repräsentationskulturellen Formen der Eigendarstellung die grundlegenden Prinzipien und Leitideen der deutschen Demokratie vor dem Hintergrund ihrer verhängnisvollen Geschichte verhandelte.38 Dass dieser Diskurs leidenschaftlich und über lange Zeit geführt wurde, liegt in der Natur der demokratischen Sache. Das war übrigens in der Demokratie Athens schon nicht anders gewesen. Überhaupt scheint es so zu sein, dass es vor allem die Debatten, die öffentlichen Diskussionen sind, die das Eigentümliche angemessener symbolischer Repräsentationskultur in der Demokratie ausmachen. Die Intensität und Leidenschaftlichkeit des Streites um ein öffentliches Bau- oder Denkmalprojekt weist repräsentationskulturelle und repräsentationsästhetische Fragen als – auch – demokratische aus. Das „Säurebad eines erbarmungslosen öffentlichen

36 Vgl. etwa Christoph Dieckmann, Der sterbende Schwan. Berlins Palast der Republik, Symbol des deutschen Umgangs mit Geschichte, wird 25 Jahre alt, in: Die Zeit Nr. 17, 19. April 2001, S. 72. 37 Vgl. etwa Petra Kipphoff, Das Volk und die Krümel, in: Die Zeit Nr. 13, 23. März 2000, S. 45. 38 Dass das – in einem wechselseitig abgrenzenden Sinne – auch schon für die beiden deutschen Nachkriegsstaaten galt, zeigt Karl-Siegbert Rehberg, Der doppelte Ausstieg aus der Geschichte. Thesen zu den „Eigengeschichten“ der beiden deutschen Nachkriegsstaaten, in: Melville/Vorländer (Hg.), Geltungsgeschichten (wie Anm. 17), S. 319–347.

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Diskurses“39 entscheidet über die Akzeptanz der spezifischen Formensprache politischer Selbstdarstellung: Ästhetische Fragen sind keine Arkanfragen mehr der Experten aus Kunst und Wissenschaft. Über das Schöne, Erhabene und Geschmackvolle, die Angemessenheit und Ästhetik der demokratischen Repräsentation, das Verhältnis von Form und Funktion, befindet letztlich das demokratische Publikum. Das aber macht Entscheidungsprozesse selbstverständlich auch mühsam und langwierig. Bürger und Repräsentanten wollen einbezogen sein und an den Prozessen von Deliberation und Dezision – in Gremien und öffentlichen Foren – teilhaben. In der Demokratie kann die Frage der kulturellen Repräsentation des Politischen nur als ein Prozess der öffentlichen Debatte, der Interpretation und Reinterpretation, der ständigen Affirmierung und Verwerfung und der politisch-diskursiven Aushandlungsprozesse verstanden werden. Sichtweisen, Interpretationen und Deutungsmuster lagern sich den Objektivationen politischer Ästhetik, den öffentlichen Bauten, Denkmälern und Kunstwerken, an und bestimmen ihren ästhetischen Gebrauchswert. Der Reichstag mit seiner wechselvollen Geschichte ist ein beredtes Symbol: Errichtet als Repräsentation bürgerlich-demokratischen Selbstbewusstseins inmitten einer monarchischaristokratischen Umwelt, von Wilhelm II. als „Gipfel der Geschmacklosigkeit“, von anderen wegen seiner Kuppel als „Bonbonniere“ verunglimpft, von vielen als „Schwatzbude“ denunziert, wird der Reichstag 1918 die Geburtsstätte der deutschen Republik, in nationalsozialistischer Zeit in Brand gesetzt, zerstört, von sowjetischen Truppen, die sich in das Mauerwerk eingeschrieben haben, in Besitz genommen, sodann ein Mahnmal der deutschen Trennung, schließlich verhüllt, entkernt und wieder aufgebaut.40 Dass Norman Foster die Brüche der deutschen Geschichte in den verschiedenen (Ge)Schichten des Gebäudes freigelegt und auch sichtbar gelassen hat, macht den Reichstag zum Palimpsest der Leidenswege demokratischer Emanzipation in Deutschland. Eine angemessenere, gelungenere Symbolisierung hätte kaum gefunden werden können.

5.  Einheit und Vielheit – die Repräsentation des Demos Die Demokratie lebt nicht mehr von Repräsentationen der Einheit, wie es der Monarch, die Nation, der Staat gewesen sind oder zumindest zu fingieren vermochten. Das Volk als Souverän in der Demokratie lässt sich kaum angemes39 Habermas, Symbolischer Ausdruck (wie Anm. 25), hier S. 67. 40 Vgl. v. a. Michael S. Cullen, Der Reichstag. Parlament, Denkmal, Symbol, Berlin 1995, und die Beiträge in H. Wefing (Hg.), „Dem Deutschen Volke“ (wie Anm. 3).

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sen repräsentieren. Nur selten tritt es als Kollektivsubjekt oder direkt als einheitlicher politischer Körper in Erscheinung. Das war zu Zeiten der athenischen Versammlungsdemokratie auf den Agorai oder auf der Pnyx noch anders. In der modernen Demokratie ist die Vollversammlung des Demos, nur in einigen Schweizer (Halb)Kantonen noch praktiziert, die Ausnahme. Das Volk lässt sich durch Repräsentanten, in parlamentarischen Repräsentativkörperschaften, vertreten. Die politisch-ästhetische Symbolisierung dieses Repräsentationsverhältnisses findet in Parlamentsgebäuden sowie in parlamentarischen Ritualen und Debatten ihren Ausdruck.41 Transparenz und Kontrolle als die Grundpfeiler dieses Repräsentationsverhältnisses übersetzen sich dann in eine als genuin demokratisch angesehene Form und Sprache der Parlamentsarchitektur. Gläserne und transparente Konstruktionen werden als ästhetische Symbolisierungen der Offenheit und der Sichtbarkeit repräsentativer Vorgänge für die Repräsentierten verstanden. Ganz ähnlich auch ist die runde beziehungsweise halbrunde Anordnung der Sitzreihen im Plenarsaal Ausdruck von Gleichrangigkeit der Repräsentanten und der Diskursivität des Beratungsprozesses. Allerdings trifft diese Raumgestaltung nur auf moderne Parlamentsbauten zu, und dort auch nicht immer. Es lassen sich auch, dem athenischen Vorbild entsprechend, Anordnungen wie in einem Theater, mit Rednerbühne und Zuschauerraum finden. Das Parlament ist der zentrale Ort politischer Symbolisierung des Volkes in der Demokratie. Wo indes der Demos weniger als Kollektivsubjekt und einheitlicher Akteur, sondern als Vielheit von Bürgern vorgestellt wird, da stellt sich auch die Frage der repräsentationskulturellen Symbolisierung anders.42 Die Arenen, in denen Politik gemacht wird, werden zu Foren bürgerschaftlicher Selbstinszenierung. Wahlen sind Rituale, in ihnen wird die Bürgerschaft als Bürgerschaft inszeniert und der Kampf um die politische Macht als ein geregelter ausgewiesen. Protestzüge, Bürgerinitiativen und Versammlungen symbolisieren sowohl den gesellschaftlichen Diskurs wie den politischen Konflikt und sind in vielfältigen ästhetischen Formen inszenierbar. Eine besondere Bedeutung kommt der Gestaltung offener Räume in der Öffentlich41 Vgl. Heinrich Wefing, Parlamentsarchitektur. Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken, Berlin 1995. Zum Verhältnis von Repräsentation und Ästhetik vgl. den äußerst anregenden Beitrag von Hans-Georg Soeffner, Erzwungene Ästhetik. Repräsentation, Zeremoniell und Ritual in der Politik, in: Herbert Willens/Martin Jurga (Hg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998, S. 215–234. 42 Vgl. auch Philip Manow, Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Frankfurt a.M. 2008.

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keit, den Foren bürgerschaftlicher Selbstdarstellung, zu; nicht von ungefähr planten die Architekten des Berliner Kanzleramtes, das „Band des Bundes“ mit einem zentralen „Bürgerforum“ auszustatten, das als Agora, als offener, wenngleich umbauter Raum symbolisch prägnant zwischen das Kanzleramt und Einrichtungen des Bundestages platziert werden sollte.43 Dass hierfür kein Geld zur Verfügung stand und deshalb das neue Kanzleramt eine Dimension des Erhabenen gewinnt, die ihm ursprünglich nicht zukommen sollte, verdeutlicht den geringen Rang zivilgesellschaftlicher Selbstsymbolisierung in der bundesdeutschen Demokratie. Das Problem demokratischer Repräsentationskultur ist ganz wesentlich ein Darstellungsproblem der bürgerschaftlich-demokratischen Öffentlichkeit.44 Öffentlichkeit ist konstitutives Element der Demokratie und kann als ein Raum gedacht werden, „in dem ein Kollektiv sich selbst gegenwärtig wird durch ein gemeinsames Interpretationsrepertoire“45. Tatsächlich sind diese Räume, sieht man einmal von den Praktiken der Versammlungsdemokratie ab, kaum spezifiziert. Vor allem ist „Öffentlichkeit“ in modernen massendemokratischen Kontexten sehr stark repräsentativ, also stellvertretend, strukturiert. Zudem zeigt sich das Interpretationsrepertoire in verschiedenen Formen, an vielfältigen Orten und in zahlreichen Praktiken, so dass sich „öffentliche Repräsentationskultur“ eher als ein offenes Zeichensystem denn als eine einheitliche Identitätskonstruktion beschreiben lässt. „Öffentlichkeit“ kann an Attribute der Person geknüpft sein, an Insignien (Abzeichen, Orden), an Habitus (Kleidung, Haartracht), Gestus (Auftreten) und Rhetorik.46 Personale Verkörperung, auch die Inszenierung von Personen, eine bestimmte Art, öffentlich zu reden, sich zu verhalten, vermag demokratische Öffentlichkeit zu repräsentieren.47 Ausprägungen repräsentativer Öffentlichkeit zeigen sich auch in „hochherrschaftlichen“ Zurschaustellungen, wie sie die zeremonielle Erscheinung der Königin im englischen Unterhaus, die Rituale des Einzugs des amerikanischen Präsidenten in den Kongress zur Abgabe seiner jährlichen 43 Axel Schultes/Charlotte Frank, Kanzleramt Berlin/Chancellery Berlin, Stuttgart 2002. 44 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Sabine R. Arnold u.a., Hüllen und Masken der Politik. Ein Aufriss, in: Dies. (Hg.), Politische Inszenierung (wie in Anm. 17), S. 12 ff. 45 Seyla Benhabib, Die gefährdete Öffentlichkeit, in: Transit, Heft 1, 1997, S. 26–41 (hier: S. 30). 46 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1990, S. 60. 47 Dass das in der Bundesrepublik Deutschland in besonderem Maße für den „redenden“, öffentlich „reflektierenden“ und insofern auch politische Kultur repräsentierenden Bundespräsidenten gilt, zeigen die Beiträge in: Eberhard Jäckel u.a. (Hg.), Von Heuss bis Herzog. Die Bundespräsidenten im politischen System der Bundesrepublik, Stuttgart 1999.

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Botschaft an die Nation oder die Inszenierung des französischen Präsidenten in prunkvoller Umgebung darstellen. Die Demokratie lebt hier vom Zeichenrepertoire vordemokratischer, monarchisch-höfischer Regierungsformen. In diesen Formen wird zugleich die Einheit des politischen Gemeinwesens zu inszenieren versucht. Wo kein Monarch diese Einheit repräsentiert, treten die Inhaber der exekutiven Macht – seien es (Minister)Präsidenten oder Kanzler – an ihre Stelle und suchen in Formen quasi höfischer Inszenierungen die symbolische Leerstelle der Einheitsrepräsentation zu besetzen. Dabei ermöglichen die audiovisuellen Medien der Politik auch, sich bei politischer Inszenierung und Selbstdarstellung der Ästhetik der Bildmedien zu bedienen. Auf mediale Präsenz kommt es nun an. Aus der repräsentativen Demokratie wird eine medial-präsentative Demokratie.48 Politik wird, wo sie sich der Darstellungsformen des populären Unterhaltungsgenres bedient, zur (Talk)Show, Politik und Entertainment werden im Extremfall ununterscheidbar, sie verschmelzen zu „Politainment“. Die Mediendemokratie scheint dann das ihr gemäße Korrelat in der Zuschauerdemokratie gefunden zu haben, und als Mittel der Aufmerksamkeitssteigerung bietet sich die Inszenierung von Politik als Theater an. Die Effekte sind ambivalent. Zunächst einmal schaffen Medien eine kommunikative Arena, in der Politik dargestellt, dramatisiert und reflektiert, damit aber auch transparent und zugänglich gemacht wird. In Talkshows wird Politik personalisiert, aber nicht immer auch in banalen Formen inszeniert. Die Agonalität der Inszenierung, der Wettbewerb von Personen und Positionen, ermöglicht auch die Ausbildung konkurrierender Teil- und kritischer Gegenöffentlichkeiten, die dem Meinungs- und Willensbildungsprozess der Bürger genau jene Transparenz und argumentative Gesichtspunkte bieten, die für Mitwirkung und Mitsprache unverzichtbar sind. Insofern kann durchaus argumentiert werden, dass die modernen Massenmedien genau die politische Funktion einnehmen, die schon das Theater im antiken Athen besaß: ein öffentlicher Raum, in dem mit künstlerisch-ästhetischen Formen das Politische reflexiv wird. Übertreibung, Vereinfachung, Verkörperung werden als bewusste ästhetische Stilmittel eingesetzt, um komplexe Sachverhalte einsichtig zu machen und das moralische Urteilsvermögen zu befördern. Anders jedoch als 48 Vgl. hierzu Ulrich Sarcinelli, Von der repräsentativen zur präsentativen Demokratie. Politische Stilbildung im Medienzeitalter, in: Vorländer (Hg.), Ästhetik (wie Anm. 9), S.  187–199, und Andreas Dörner, Demokratie-Macht-Ästhetik, in: Vorländer (Hg.), Ästhetik (wie Anm. 9), S. 200–223, sowie Andreas Dörner, Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt a.M. 2001, und Thomas Meyer, Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch das Mediensystem, Frankfurt a. M. 2001.

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das Theater im demokratischen Athen machen die modernen audiovisuellen Leitmedien eine Bilder- und Formensprache verbindlich, die auf sehr kurzzeitige Aufmerksamkeitsgewinne programmiert ist. Politik wird auf eine Logik des Darstellbaren und Inszenatorischen festgelegt, hinter der die politischen Beratungs-, Kompromissbildungs- und Entscheidungsverfahren notwendig zurückbleiben müssen: Was sich nicht visualisieren und inszenieren lässt, entgeht dem Wahrnehmungshorizont des Zuschauers, ist deshalb nicht existent. Die Dramatologie des Visuellen unterläuft damit die Komplexität des Politischen. Die visuellen Leitmedien erzeugen eine neue ästhetische Konformität, die dem Faktum pluraler Öffentlichkeit zuwiderläuft. Gegen ihre eigene Raison erfährt die Demokratie damit genau jene bündige ästhetische Darstellung, die sie in ihrer tatsächlichen politischen Struktur eben nicht repräsentiert. Hier scheitert der vernünftige demokratische Repräsentationsakt ganz offensichtlich.

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Konfliktreiche Wege zur Konkordanzkultur Ursprünge des schweizerischen Parteienpluralismus

Die Aufgabe dieses Beitrags besteht darin darzulegen, in welcher Phase ihrer Entwicklung sich die schweizerische Demokratie der 1920er Jahre befand; dies mit dem Ziel, das Länderspezifische wahrnehmbar und diskutierbar zu machen. Der Titel des Beitrags suggeriert ein Vorverständnis, das von einem im Laufe der Zeit immer besser werdenden, sich perfektionierenden System ausgeht. Als Historiker sollte man allerdings eher darauf achten, was in ebenfalls sich verändernden Kontexten jeweils die Verhältnisse waren – in unserem Fall in den 1920er Jahren. Eine derartige Besichtigung der 1920er Jahre ist einigermaßen möglich, obwohl die Forschungslage bescheiden ist. Das Jahrzehnt zwischen den stärker beleuchteten Kriegsjahren 1914/18 und den 1930er Jahren ist für die Schweiz einmal zu Recht als ein in historiographischer Hinsicht „dunkles Mittelalter“ bezeichnet worden.1

1. Begriffliches Es ist wahrscheinlich hilfreich, ein paar grundsätzliche Überlegungen den Begriffen Konkordanz, Parteienpluralismus und Wirtschaftsverbänden zu widmen. Die schweizerischen Verhältnisse müssen aber stets auf den drei staatli1 Markus Mattmüller, Leonhard Ragaz und die Schweiz in den Jahren nach dem Landesstreik. Teil I und Teil II, in: Der Aufbau (Religiös-soziales Publikationsorgan) Nr. 4/5 vom 12. und 26. Februar 1977, S. 26–33, 38–45, Zit. S. 27. – Die beiden wichtigsten Arbeiten zu diesem Thema wurden von M. M. betreut: Ruedi Brassel-Moser, Dissonanzen der Moderne. Aspekte der Entwicklung der politischen Kulturen in der Schweiz der 1920er Jahre, Zürich 1994; Hanspeter Schmid, Wirtschaft, Staat und Macht. Die Politik der schweizerischen Exportindustrie im Zeichen von Staats- und Wirtschaftskrise (1918–1929), Zürich 1983. Vgl. ferner: Christian Werner, Für Wirtschaft und Vaterland. Erneuerungsbewegungen und bürgerliche Interessengruppen in der Deutschschweiz 1918–1947, Zürich 2000; Pietro Morandi, Krise und Verständigung. Die Richtlinienbewegung und die Entstehung der Konkordanzdemokratie 1933– 1939, Zürich 1995; Martin Schaffner, Konflikt und Konsens, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 27. Februar 1983.

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chen Ebenen (Gemeinde, Kanton, Bund) verfolgt werden. Auf der kantonalen Ebene finden zuweilen Reformen statt, die, wie man auch an der etappenweise Einführung des Frauenstimmrechts erkennen kann2, sich nachher auch auf eidgenössischer Ebene durchsetzen. Faktisch, aber nicht auf den Begriff gebracht, gab es Konkordanz in einzelnen Kantonen, lange bevor es sie im Bund gab.

1.1. Konkordanz Eine stark ausgebildete Konkordanzkultur kann man heute, einigermaßen zutreffend, als schweizerisches Spezifikum verstehen: der Verzicht auf die klassische Mehrheitsdominanz nach dem Muster the winner takes all zu Gunsten einer freiwilligen Machtteilung, verstanden als beinahe selbstverständliche Bereitschaft zur Selbstbeschränkung und zur Kooperation mit anderen, die auch Widersacher sein können. Man kann die Geschichte der Schweiz als Konsens- oder als Konfliktgeschichte lesen. Die erste Variante neigt dazu, die Konsenshaftigkeit als Nationaltugend zu verstehen, die mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurückgeht (vgl. die Parabel von der „Kappeler Milchsuppe“).3 2

Die vergleichsweise frühe und von 1874 an auch direktdemokratische Männerdemokratie war mit ein Grund, warum eine unabhängig vom Geschlecht geltende Demokratie nach einer ersten gesamtschweizerischen Volksabstimmung von 1959 mit negativem Ausgang erst 1971 eingeführt wurde. Vgl. Yvonne Voegeli, Zwischen Hausrat und Rathaus. Auseinandersetzungen um die politische Gleichberechtigung der Frauen in der Schweiz 1945–1971, Zürich 1997. Auf der kantonalen Ebene dagegen gab es auch in der Schweiz der 1920er Jahre, auf die unser Blick vor allem gerichtet ist, Vorstöße zur Einführung des Frauenstimmrechts. Ähnliches sollte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen. Die Kriegsjahre waren jeweils Motoren der demokratischen und sozialen Innovation. Im Juni 1919 wurde im Kanton Neuenburg über die Einführung des Frauenstimmrechts abgestimmt und diese im Verhältnis 2:1 massiv abgelehnt. Im Februar 1920 gab es auch im Kanton Basel-Stadt eine erste Abstimmung, ebenfalls mit einem ablehnenden Resultat im Verhältnis 2:1. Eine 2. Abstimmung folgte 1927 mit noch schlechterem Ausgang. Die 3. Abstimmung fand wiederum nach dem Krieg 1946 statt. In Genf gab es im Oktober 1921 etwa das gleiche Ergebnis wie in den beiden anderen Kantonen. Vgl. Roland Ruffieux, La Suisse de l’entre-deux-guerres, Lausanne 1974, S. 84 ff.; Sibylle Hardmeier, Frühe Fraustimmrechtsbewegung in der Schweiz (1890–1930). Argumente, Strategien, Netzwerke und Gegenbewegung, Zürich 1997. 3 Georg Kreis, Die Kappeler Milchsuppe. Kernstück der schweizerischen Versöhnungsikonographie, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 44 (1994), S. 288– 310. Nochmals in Bd. 1 der Ausgewählten Aufsätze: Ders., Vorgeschichten zur Gegenwart, Basel 2003, S. 149–166.

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Mindestens so zutreffend ist die andere Variante, welche die Konflikthaltigkeit der Entwicklung betont. In den 1920er Jahren ist man – insbesondere, was die Verhältnisse auf nationaler Ebene betrifft – jedenfalls noch weit entfernt von der Konkordanzkultur. Ansätze zur Konkordanzkultur hatte es schon vorher gegeben, 1918 erfuhr sie aber durch die Einführung des zwingenden Proporzes bei der Bestellung der parlamentarischen Volksvertretung zunächst überhaupt keine Kräftigung. Die von der Opposition mit dem Mittel der Volksinitiative in Gang gesetzte Reform musste gegen die etablierten Kräfte erkämpft werden und kam erst nach zwei Jahrzehnten an ihr Ziel. Ihre Absicht war aber nicht die Einrichtung einer schönen Konkordanzdemokratie, sondern schlicht eine gerechtere Repräsentation im Parlament und damit der Ausbau der Möglichkeit auch zur anti-konkordanten, dissonanten Austragung der Konflikte. Konkordanzähnliche Kooperation kam in Anlehnung an korporative Modelle und unter Bedrohung von außen erst in den 1930er Jahren zustande4 und wurde während des Burgfriedens in den Kriegsjahren weiter gefestigt; sie wurde nach 1945 unter günstigen ökonomischen Bedingungen (Wirtschaftswunder) sowie unter politisch günstigen Bedingungen (Kalter Krieg) weitergeführt und Ende der 1950er Jahre unter dem Stichwort der „Zauberformel“ für längere Zeit fest etabliert.5 Der Begriff der Konkordanz wird weder im zeitgenössischen Diskurs der 1920er Jahre noch später in der wissenschaftlichen Literatur zu jener Zeit verwendet.6 Der Begriff ist im Kern weniger auf das Parteiwesen als auf das Regierungsverständnis ausgerichtet. Unter äußeren und quantitativen Gesichtspunkten meint der Begriff den mehr oder weniger freiwilligen, die Minderheit berücksichtigenden Proporz in der Zusammensetzung von Regierungen. Unter inneren und qualitativen Gesichtspunkten meint er die Kollegialität, das heißt eine gemeinsame Regierungsverantwortung von unterschiedlichen, aber dennoch gewisse Gemeinsamkeiten aufweisenden Kräften, was auch oft eine Distanz der entsandten Magistraten von den entsendenden Fraktionen beziehungsweise Parteien zur Folge hatte. 4 Morandi 1995 verweist bereits im Titel darauf. 5 Ruedi Brassel-Moser (Hg.), Zauberformel: Fauler Zauber? SP-Bundesratsbeteiligung in der Schweiz, Basel 1984. 6 Vgl. etwa das Programm des Schweizerischen Bundes für Reformen der Übergangszeit von 1919 mit einer längeren Aufzählung von Leitwerten (Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Solidarität, Volksgesundheit, Freiheit, Vertrauen, Ablehnung des Materialismus etc.). Zit. nach Brassel-Moser 1994, S. 126, der seinerseits die damaligen Verhältnisse nicht unter dem Aspekt der Konkordanz thematisiert.

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Keine zwingenden Konsequenzen hatte diese Art der konsensualen Kooperation auf der Regierungsseite für das Verhalten der Parteien beziehungsweise der Fraktionen auf der legislativen Seite. Geht man davon aus, dass die parlamentarischen Kräfte durch die Regierungsbeteiligung eingebunden seien, kann man sagen, dass die Schweiz spätestens seit 1959 stets eine parlamentarische Regierungsmehrheit von über 80 Prozent aufgewiesen habe. In Wirklichkeit verhielten sich die Parteien aber nicht nur als Regierungsparteien, sondern – in einzelnen Sachgeschäften – auch als Oppositionsparteien, dies aber je nach Situation in unterschiedlichem Maß.

1.2.  Parteienpluralismus Was den Parteienpluralismus betrifft, der ja eine Voraussetzung für Konkordanz ist, dürfte er wohl keine speziell schweizerische Erscheinung sein. Die schweizerische Parteienentwicklung ist im Vergleich mit anderen Gesellschaften wohl eher schwach und zurückgeblieben. Hinderlich waren die Dreiebenen-Verhältnisse mit den zahlreichen Brechungen föderalistischer Art sowie der starke Hang zu pragmatischen Sachentscheiden ohne gesamtkonzeptionelle („weltanschauliche“) Fundierung und Kohärenz. Die auf Bundesebene seit 1874 bestehende Möglichkeit, per sog. Referendum einen Parlamentsentscheid zum Gegenstand einer Volksabstimmung zu machen, dürfte den Hang zu wechselnden Sachlagen auf Kosten starker Parteibindungen verstärkt haben.7 Neben den sog. Sachfragen standen die Personenfragen im Vordergrund, und beides ging auf Kosten der Parteifragen.

1.3. Wirtschaftsverbände Die Betrachtung einzig der Parteien und des Parlaments ist, wenn man das politische Regelwerk erfassen will, viel zu eng. Man muss die in der Regel viel zu wenig beachteten Verbände nicht nur berücksichtigen, sondern ihnen mindestens die gleiche Bedeutung einräumen wie den Parteien. Schon früh und tendenziell sogar noch vor den Parteien machten Wirtschaftsverbände ihren Einfluss geltend.8 7 Leonhard Neidhart, Plebiszit und pluralitäre Demokratie. Eine Analyse der Funktion des schweizerischen Gesetzesreferendums, Bern 1970, insbes. S. 225. 8 Erich Gruner, Die Wirtschaftsverbände in der Demokratie, Zürich 1956, S. 100. Ferner Schmid 1983, S. 83 ff.

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Die idealtypische Unterscheidung von Parteien und Verbänden besteht darin, was für das Handeln im Einzelfall bestimmend ist: bei den einen ein breites und dauerhaft gegebenes, gesamtgesellschaftliches (und weltanschauliches) Verständnis, während bei den anderen ein eng definiertes wirtschaftlich-materielles Interesse für temporärere Interventionen. Während Parteien eher allgemeine Orientierung geben, bilden Verbände die Orte der direkten Interessensvermittlung im Sinne der Abstimmung zwischen verschiedenen Interessen, von Interessenausgleich, dem Festlegen von Prioritäten und Posterioritäten, dem Abweisen von Interessenforderungen anderer etc.9 Der mit der nötigen Sachkompetenz ausgestattete Einfluss der Verbände kam auch außerhalb der Parteien und des Parlaments in vielfältiger Weise zum Zug: 1. in vorparlamentarischen Verhandlungen, 2. in nachparlamentarischen Referendumsabstimmungen und 3. in nichtparlamentarischen, direkt mit der Exekutive getroffenen Regelungen (Verordnungen). Man kann sagen, dass die Verbände die eigentlichen Leistungsträger der Gestaltungsprozesse und dass die Parteien eigentlich nur die symbolischen Legitimationsträger sind.10 Bereits das Vollmachtenregime der Kriegsjahre brachte eine Aufwertung der außerparlamentarischen und vorparlamentarischen Aushandlungen. Später muss unter dem Kapitel der „Verwirtschaftlichung“ der Politik nochmals von dieser Problematik die Rede sein. In den 1920er Jahren sind zwei Vorgänge von größerer Bedeutung: 1. der Wechsel von 1918/1919 im Wahlsystem der Volkskammer vom Majorz- auf das Proporzprinzip. 2. die weitere Bedeutungszunahme des Wirtschaftlichen.

2.  Der Wechsel vom Majorz zum Proporz Die Bereitschaft, bei der Bestellung der Parlamente das Majorz- durch das Proporzsystem zu ersetzen, weil es den verschiedenen Strömungen der Bevölkerung besser Rechnung trägt, gewinnt in der Schweiz gegen Ende des 19. Jahrhunderts stark an Boden und führt nach ersten Durchbrüchen in 8 der 22 Kantone11 und – nach mehreren Anläufen – auch auf Bundesebene 1918 schließlich zum Durchbruch. Proporzwahlen waren freilich kein spezifisch schweizerisches Ding und wurden anfänglich auch nicht als das gesehen. Die 9 Zit. nach Werner 2000, S. 31 mit Hinweis auf den Aufsatz von Leonhard Neidhart, Interessenvermittlung im schweizerischen Regierungssystem (1993), S. 114. 10 Brassel-Moser 1994, S. 77. 11 Den Anfang machte 1890 das Tessin, gefolgt von Genf 1892. Hinzu kamen auch einzelne Gemeinden, 1909 etwa Biel.

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schweizerische Debatte referierte in der Zeit selbst den Proporz als ausländisches Wahlsystem und tat dieses zum Teil als gekünstelt, unverständlich, undemokratisch und darum als unschweizerisch ab.12 Der Wechsel brachte ohne Zweifel eine Verstärkung des Parteienpluralismus und damit indirekt auch den Zwang zur Konkordanz durch den Einbezug anderer Parteien in die konkordante Regierungsverantwortung. Die dritte und schließlich erfolgreiche Proporz-Initiative fand im Oktober 1918 (also noch in der Zeit des Kriegs) bei einer Stimmbeteiligung von knapp 50 % mit 66,8 % Ja-Stimmen eine gute Mehrheit. Diese Mehrheit kam gegen die Empfehlung der Regierung und den Willen der vom Majorz profitierenden Freisinnigen Partei zustande. Bei solchen Initiativen zählte das doppelte Mehr: Auch die Kantone stimmten mit überwältigendem Mehr von 17 ganzen und 5 halben von 22 Stimmen zu. Dass die Initiative erst vier Jahre nach der Einreichung von 1913 zur Abstimmung unterbreitet wurde, kann man mit den Kriegsverhältnissen erklären. Die Sache war aber 1915 aus parteipolitischem Kalkül und auf verfassungsrechtlich fragwürdige Weise auf die lange Bank geschoben worden.13 1917 konnte der Nationalrat zwar noch nach dem alten Modus gewählt werden. Das Kalkül erwies sich jedoch als falsch: In den Burgfriedensverhältnissen mitten im Krieg hätten die Traditionalisten mehr Chancen gehabt als gegen Ende des Kriegs in den aufgewühlten Zeiten des Herbstes 1918. Die beiden ersten Versuche wurden 1900 und 1910 unternommen und brachten nur 40,9 % und 47,5 % Ja-Stimmen in die Urnen.14 Der dritte Anlauf wurde 1913 mit 122.000 Unterschriften lanciert, erforderlich wären bloß 50.000 gewesen. Der Bundesrat und die Mehrheit der Bundesversammlung lehnten auch die dritte Initiative ab. Dass die vom Majorzsystem profitierenden Kräfte der Exekutive wie der Legislative gegen das Proporzsystem waren

12 Die Idee der gerechten Repräsentation wurde schon früh, d.h. 1846, vom französischen Sozialisten Victor Considérant propagiert. Vgl. Victor Considérant, De la sincérité du gouvernement représentatif ou Exposition de l’Election véridique, Genf 1946. Später etwa (außer den Schriften von François Wille 1862 ff.) Carl Hilty, Gutachten, in: Eidg. Departement des Innern (Hg.), Über die Anwendbarkeit der sogenannten Minoritätenvertretung bei den eidgenössischen Wahlen, Bern 1883. 13 Rudolf Natsch, Die Einführung des Proporzwahlrechts für die Wahl des schweizerischen Nationalrats (1900-1919), in: Roland Ruffieux, La démocratie référendraire en Suisse au XXe siècle, Freiburg 1972, S. 180. 14 Zum ersten Anlauf von 1900: Martin Stohler, Die Doppelinitiative (Volkswahl des Bundesrates und Proporzwahl des Nationalrates) von 1898 und ihre Vorgeschichte, Liz. Arbeit der Universität Basel 1999, S. 29 ff.

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und darum den Bürgern die Initiative zur Ablehnung empfahlen, kann nicht überraschen. Der Wechsel zum Proporz ist von einem Kenner als Wechsel „mit beinahe revolutionären Folgen“ eingestuft worden.15 Das gerne unterschätzte Faktum des Bedeutungszuwachses der Wirtschaftsverbände, der nachher diskutiert werden soll, und gegenläufig dazu, des entsprechenden Bedeutungsverlusts der politischen Parteien, relativiert diesen Befund etwas. Die Wahlen nach dem neuen Modus führten tatsächlich zu einer starken Verschiebung der Mandate. Diese stellte die bisher selbstverständliche Hegemonie der Freisinnigen Partei, welche 1848 den Bundesstaat geschaffen hatte und zugleich die Wirtschaftspartei war, in Frage. Was der Übergang zu einem gerechteren Wahlsystem bewirkte, zeigen die Resultate der Wahlen von 1917 nach dem alten Modus und der Wahlen von 1919 nach dem neuen Modus: 1917 hatte die SP-Opposition mit einem Wähleranteil von 30,8 % nur 10,5  % der Sitze, während die beiden bürgerlichen Großparteien mit einem Wähleranteil von 57,2 % stolze 76,6 % der Sitze sichern konnten. 1919 waren die Ergebnisse ausgeglichener, gerechter: Die SP erhielt 21,6 % der Sitze mit einem Wähleranteil von 23,5 %; die beiden anderen mit 50,4 % der Wähler 51,4 % der Sitze. Die Realverschiebung war drastisch: Im Nationalrat verdoppelten sich die SP-Sitze von 20 auf 41 und schrumpften die FDP-Sitze von 103 auf 60.16 Die ältere Juniorpartei der Freisinnigen, die Katholisch-Konservativen, ging in der Proporzfrage eine Zweckallianz mit der SP ein, profitierte aber real nicht, die Zahl der Sitze nahm – im Vergleich 1917 zu 1919 – von 42 auf 41 ab, hingegen profitierte die neue Bürger-, Gewerbe und Bauernpartei (BGB, heute SVP) gewaltig von 0 auf 29 Sitze. Mit der 1919 sich verstärkenden Pluralisierung der Parteienverhältnisse ging zunächst aber keineswegs eine Verstärkung des Konkordanzdenkens einher, wenn man darunter meint, dass man eine umfassende Konkordanz praktizieren wollte. Die Pluralisierung verstärkte eher die bestehende Struktur der Konkurrenzdemokratie. Zunächst trat also das Gegenteil ein, nämlich ein verstärktes Blockdenken, das vom Bestehen zweier Lager ausging. Die für das Lager der Bürgerlichen verwendete Bezeichnung „Block“ war auf dieser Seite als Verteidigungseinheit positiv konnotiert, auf der linken reformerischen Ge15 Erich Gruner, Die Parteien in der Schweiz, Bern 1977, S. 55. Brassel-Moser (1994, S. 92) folgt wegen des großen Bedeutungsverlusts der Parteien dieser Einschätzung nicht. 16 Tabelle bei Gruner 1977, S. 186.

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genseite dagegen als Verhinderungseinheit („kompakte Majorität“17) negativ besetzt. 1919 trat ein, was ein freisinniger Politiker unmittelbar vor der Abstimmung als Befürchtung ausgesprochen hatte, nämlich die als „unberechenbaren Schaden für unser Gesamtvaterland“ empfundene „Zertrümmerung“ der freisinnig-demokratischen Partei.18 Die Einführung des Wahlproporzes war aus naheliegenden Gründen von den Nutznießern der alten Ordnung vehement bekämpft worden. Der Widerstand gegen die Reform wurde aber – wiederum aus naheliegenden Gründen – nicht als Verteidigung von Eigeninteressen, sondern als im nationalen Interesse liegend verstanden und präsentiert. Die Freisinnigen empfanden sich selbst als Träger des Nationalstaats und nicht als Partei, nicht als Vertreter partikularer Interessen und Klassenvorteile. Sie sahen sich als Agenten der Einheit und des Volksganzen und neigten dazu, die anderen als die Kräfte des Fremden, Falschen, Unschweizerischen abzuqualifizieren.19 Wie weit der Bundesrat im Bedarfsfall vom Proporzdenken entfernt war, zeigte seine Haltung noch während des Abstimmungsvorgangs: Die beiden Kammern hatten im Juni 1918 dem Souverän die Ablehnung empfohlen: der Nationalrat knapp mit 78:71 Stimmen (bei 7 Enthaltungen und 32 Abwesenden), der Ständerat mit 20:18 Stimmen.20 Die Regierung weigerte sich aber, den Stimmbürgern die knappen Zahlenverhältnisse offiziell mitzuteilen, sie ließ ganz im Gegenteil und gegen die bisherige Praxis auf die Stimmzettel die Information drucken, dass die Bundesversammlung die Verwerfung beantrage. Dazu die bemerkenswerte Rechtfertigung des Bundesrats: In der Demokratie sei der Wille der Mehrheit entscheidend, und da sei es unerheblich, ob diese größer oder kleiner sei – was so überhaupt nicht stimmt.21 Auf kantonaler Ebene entwickelte sich die Konkordanzkultur hinsichtlich der Zusammensetzung der Regierungen durch freiwillige Abtretung von einzelnen Sitzen an eine respektable Minderheit. Die Respektierung der Minderheiten bei der Zusammensetzung der Parlamente konnte nicht freiwillig, sondern musste über den organisierten Wechsel vom Majorz- zum Proporzsystem geschehen. Bei diesem Wechsel waren nicht nur theoretische Gerech17 Kritisch verwendeter Begriff beim Schriftsteller Kurt Guggenheim, zit. nach Mattmüller 1977, S. 28. 18 Nationalrat Robert Forrer am 17. Sept. 1918 im Zentralvorstand, zit. nach BrasselMoser 1994, S. 189. 19 Belege ebd., S. 127, S. 181–192. 20 Wenige Monate später, im Februar 1919, wurde zum Verfassungsartikel das entsprechende Gesetz verabschiedet, die Referendumsfrist verstrich ungenutzt. 21 Natsch 1972, S. 176.

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tigkeitsvorstellungen, sondern mindestens so sehr praktische Nützlichkeitsüberlegungen maßgebend. Die Einsicht spielte eine gewisse Rolle, dass man in 50:50-Kräfteverhältnissen mal zu den Verlierern, mal zu den Gewinnern gehöre und es besser ist, als Verlierer auch etwas zu bekommen, statt nach dem Majorzprinzip dem Sieger alles lassen zu müssen. Der freiwillige oder jedenfalls informelle Parteiproporz in der Zusammensetzung der Bundesexekutive war eine stark verzögerte Folge des Proporzes der Legislative. Dieser Proporz entwickelte sich schrittweise seit 1891 mit der Abtretung eines 1. Sitzes (von 7) an den Bürgerkriegsgegner von 1847, die katholisch-konservative Partei. Bis dahin bildete die Schweiz auf oberster Ebene eine Art Einparteienstaat, auch wenn es in der liberalen Großfamilie durchaus verschiedene Strömungen gab. Zu einer zweiten Abtretung an die gleiche Partei kam es 1919 u.a. als Belohnung für die bürgerliche Solidarität in den heftigen Sozialkämpfen von 1918 (Landesstreik). Eine dritte Abtretung ging 1929 nicht etwa an die Sozialdemokraten, die mit 27,4 % Wähleranteil einen auf Größe abstellenden Anspruch gehabt hätten, sondern an die nur 15,8  % Wählerstimmen versammelnde Bauernpartei. Bei dieser Formel 4:2:1 blieb es bis 1943, als die Sozialdemokraten zur stärksten Fraktion avancierten und mit dem größten Wähleranteil von 28,6 % wenigstens einen Sitz erhielten. Die FDP mit nur 22,5 % Wähleranteil hatte dann noch 3 Sitze. Mit anderen Worten: Die freisinnige Gründerpartei verlor die bis 1943, also während beinahe 100 Jahren, innegehabte Regierungsmehrheit. Die sog. Konkordanz beschränkte sich auf den Bürgerblock, die Sozialdemokraten mit ihrem Parteiprogramm, das sich bis 1936 für die Diktatur des Proletariats aussprach, blieb draußen vor. Die Inhaber der alten Mehrheit und der Macht konnten ihre Position nur einigermaßen halten, indem sie eine kleine Konkordanz mit anderen bürgerlichen Kräften eingingen. Eine einzelne Partei konnte schwerlich einen Block und ein Lager bilden, es war die bürgerliche Zusammenarbeit (viel später mit dem technischen Kürzel „Büza“ beschworen), die dem Terminus „Block“ Sinn, Berechtigung, Notwendigkeit verlieh. Ein zeitgenössischer Kommentator bezeichnete den bürgerlichen „Block“ zutreffend als Koalition „ohne scharf umrissenes Programm, ohne gegenseitige Bindungen und ohne Fusion der Ideen und Tendenzen“.22 Die kleine Kooperation innerhalb des Blocks mag eine Vorstufe für die größere Kooperation über den Block hinaus gewesen sein. Es bestanden allerdings noch andere ältere Konkordanzpraktiken, welche günstige Ausgangsverhältnisse für eine Weiterentwicklung der politischen Konkordanz bildeten, 22 Der katholische Publizist Franz von Ernst 1926, zit. nach Brassel-Moser 1994, S. 76.

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nämlich die Rücksicht auf regionale, konfessionelle und sprachliche Minderheiten und entsprechende freiwillige Einräumung von Partizipationsmöglichkeiten.23 Diese Block-Konkordanz war kein Ausgangspunkt, der zu einer umfassenden Konkordanz führte, sondern eher ausgrenzte und polarisierte. Das linke Gegenlager strebte freilich auch nur bedingt eine breite Konkordanz an und bekämpfte mit abgestufter Radikalität im Bürgertum den Klassenfeind. Wie weit auf der Linken das Konkordanzdenken gediehen war, müsste man da untersuchen, wo sie die Mehrheit hatte, im Roten Basel (1935–1950, Kanton)24 und Roten Zürich (1928–1938, Gemeinderat, bis 1949 Stadtrat)25, und allenfalls Rücksicht auf bürgerliche Minderheitsansprüche genommen werden musste. Auf nationaler Ebene konnte die SPS bis 1928 ihren Wähleranteil auf 27,4 Prozent steigern und damit zur FDP, der mit ebenfalls nur 27,4 Prozent damals stärksten bürgerlichen Partei, aufschließen. Mit 50 Nationalrats-Sitzen war die SP nun zweitstärkste politische Kraft im Nationalrat (die FDP hatte 58 Sitze). Man wäre seit 1929 bereit gewesen, auch auf Bundesebene an der Regierungsverantwortung eines noch immer grundsätzlich bekämpften Systems teilzuhaben. Insbesondere die Gewerkschafter waren dafür, andere waren dagegen, etwa der Basler Altregierungsrat Eugen Wullschleger, der immerhin die Konkordanz auf kantonaler Ebene bereits mitgemacht hatte.26 Der Zürcher 23 Kurz noch zu den „Ursprüngen“ der Konkordanzkultur: Sie könnten in der konfessionellen, regionalen und sprachlichen Vielfalt wurzeln. 1848 wurde die erste siebenköpfige Bundesregierung mit einer gewissen Selbstverständlichkeit aus fünf deutschsprachigen und je einem französisch- und italienischsprachigen Mitglied zusammengesetzt, und es galt neben dem freiwilligen und informellen Landesteilproporz die formelle Bestimmung, dass keine Mitglieder aus dem gleichen Kanton stammen dürfen. Die Konfession spielte im Vergleich zur Sprachenfrage eine geringe Rolle: Da wirkten neben fünf Protestanten zwei Katholiken allerdings liberaler Ausrichtung. Die konfessionelle Verteilung entsprach jedoch nicht dem realen, damals 40 % ausmachenden Anteil der Katholiken. Bei den kantonalen Regierungszusammensetzungen insbesondere der mehrsprachigen und bi-konfessionellen und regional klar strukturierten Kantone dürfte es schon früh ähnliche informelle Proporzrücksichten gegeben haben. In der zweisprachigen Stadt Biel praktizierte man nach 1900 einen Sprachenproporz, indem die deutschsprachige Mehrheit dem Cercle Démocratique Romand ein paar Sitze abtrat. 24 Charles Stirnimann, Das „Rote Basel“ 1935–1938, Basel 1988. 25 Steffen Lindig, „Der Entscheid fällt an den Urnen“. Sozialdemokratie und Arbeiter im Roten Zürich 1918 bis 1938, Zürich 1979. 26 Bereits in den 1850er und 1860er Jahren gab es vereinzelte Fälle des freiwilligen Regierungsproporzes zwischen den Parteien und wohl auch innerhalb der freisinnigen Großpartei. Nicht ohne interne Vorbehalte gegen solche minoritäre Regierungsbetei-

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Stadtpräsident Emil Klöti, der sich seit über 30 Jahren mit den Proporzfragen beschäftigt hatte27, wurde von der SPS für einen frei werdenden Bundesratssitz portiert. Die Kandidatur scheiterte jedoch klar an der bürgerlichen Mehrheit der Bundesversammlung, wie auch die folgenden 19 Versuche bis 1943 scheitern sollten, obwohl die SPS bereits 1935 im Nationalrat die größte Gruppe bildete.28

3.  Die Bedeutungszunahme des Wirtschaftlichen Das Wort von der „Verwirtschaftlichung der Politik“ wurde erst im Laufe der 1920er Jahre zu einem Schlagwort. Der freisinnige Spitzenpolitiker Karl Scheurer, der bald darauf (Dez. 1919) in den Bundesrat gewählt werden sollte, hatte bereits im März 1918 in sein Tagebuch notiert: „Die wirtschaftlichen Dinge dominieren“.29 Der liberal-konservative Emil Dürr, Basler Geschichtsprofessor und im Landesstreik von 1918 in der Bürgerwehr engagiert, beklagt sich Mitte der 1920er Jahre in Vorträgen darüber, dass sich das „Volksganze“ auflöse in „wirtschaftlich begriffene Klassen“ und diese vollständig auf rein wirtschaftlichen Sonderorganisationen beruhten „von der Arbeiterschaft und vom Bauerntum bis hinüber zu den Industriellen und Finanzleuten“.30 Die wissenschaftliche Literatur bestätigte später das Phänomen der „Verwirtschaftlichung“. Der Altmeister Erich Gruner sprach von einer „allgemeinen Abwertung der Parteien zu Gunsten der Wirtschaftsverbände“ und nannte ligungen nahmen erste Arbeitervertreter 1897 in Genf und Zürich und 1902 in Basel Einsitz in die Kantonsregierungen. 27 Emil Klöti, Die Proportionalwahl in der Schweiz, Bern 1901; ders., Verhältniswahl, Bern 1909. 28 Die Liste der vergeblichen Kandidaturen und an deren Stelle gewählten Bundesräte findet sich bei Degen 1993, S. 132. Vgl. auch Arthur Fritz Reber, Der Weg zur Zauberformel. Schweizerische Bundesratswahlen 1919–1959, Bern 1979. 29 Karl Scheurer, Tagebücher 1914–1929, Bern 1971, S. 169. 30 Emil Dürr, Neuzeitliche Wandlungen in der schweizerischen Politik. Eine historischpolitische Betrachtung über die Verwirtschaftlichung der politischen Motive und Parteien, Basel 1928, S. 102. Für die Einschätzung dieser und der weiteren Äußerung ist nützlich zu wissen, dass Dürr, der 1918 an der Universität Basel Extraordinarius geworden war, in Basel im gleichen Jahr die Bürgerwehr gegen die kämpferische Arbeiterschaft aufgebaut hat, 1920 Kantonsrat der liberal-konservativen Partei wurde. Der Text beruht auf Vorträgen, die Dürr bereits 1924/25 in mehreren Städten im Rahmen der Neuen Helvetischen Gesellschaft gehalten hat. Diese war 1914 noch vor dem Krieg von konservativen Bürgern gegründet worden, nach eigenen Worten als Institution gegen den aufkommenden Materialismus.

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als Beleg eine Äußerung des großen Bauernführers Ernst Laur aus dem Jahr 1934, dass die Erhaltung des Bauernstandes der Erhaltung der Demokratie vorzuziehen sei.31 Jakob Tanner sprach später von einer „Kolonisierung der Politik durch die organisierten Interessen und einer Herausbildung parastaatlicher Strukturen“, Krieg und Krisen hätten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als regelrechte Katalysatoren korporativistischer Organisationstendenzen und des staatlichen Interventionismus in die Volkswirtschaft erwiesen.32 Der Hang zur Verwirtschaftlichung als primär auf die materiellen Interessen ausgerichtete Haltung wird, das zeigt auch der Text von Emil Dürr, als einigermaßen symmetrisches Phänomen verstanden, das den Anspruch des Sozialismus/Kommunismus auf der einen Seite und die Dekomposition des liberalen Lagers auf der anderen Seite hervorgebracht hat. Das Heilmittel gegen diese auf bürgerlicher Seite als „unheilvoll“ empfundene Entwicklung sah Dürr bezeichnenderweise in der Wiederherstellung der „ursprünglichen und sozialen Einheiten“ von Familie, Bürger und Volk. Statt Klassensolidarität fordert er Volkssolidarität über Ausgleich und Wiederherstellung des Gleichgewichts.33 Obwohl diesem Rezept eine gewisse Harmonievorstellung zugrunde lag, ging es auch hier nicht um Konkordanz. Und es ging auch nicht um proportionale Vertretung in Parlament und Regierung. Den Proporz konnte Dürr zwar nicht einfach abtun, aber er wandte doch gegen ihn ein, dass er „eine Seligsprechung der Zahl“ sei, persönlichkeitshemmend wirke und die Parteien zu großer Starrheit und Geschlossenheit zwinge.34 Bereits 1899, vor dem ersten Anlauf für das Proporzwahlrecht, wurde gesagt, dass man, wenn man den Proporz ernst nehme, den Berufsverbänden einen festen Anteil an der Leitung der volkswirtschaftlichen Geschäfte des Bundes geben sollte.35 Dieser Gedanke gewann in den 1920er Jahren in bürgerlichen Kreisen stark an Boden, manche sahen die Lösung im Korporationsstaat und in der Schaffung eines Wirtschaftsrats, in einer verbandsautonomen Gesetzgebungskompetenz der Interessengruppen. In Anlehnung an

31 Gruner 1977, S. 42 u. 56. Laur in Schweiz. Bauernzeitung Mai 1934. 32 Jakob Tanner, Staat und Wirtschaft in der Schweiz. Interventionistische Maßnahmen und Politik als Ritual, in: Brigitte Studer (Hg.), Etappen des Bundesstaates. Staats- und Nationsbildung der Schweiz 1848-1998, Zürich 1998, S. 237–259, Zit. S. 246. 33 Dürr 1928, S. 119 ff. 34 Ebd., S. 110. 35 Der Genfer Sozialpolitiker Georges Favon, zit. nach Natsch 1972, S. 137.

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Charles S. Maier36 hat dies die schweizerische Literatur als „semi-offiziellen, ad hoc organisierten Wirtschaftskorporativismus“ bezeichnet.37 Es ist jedoch zwischen zwei Modellen des Korporativismus zu unterscheiden: das berufsständische Modell, das eine entsprechende Anpassung der Verfassungsgrundlagen erstrebte, und das liberale Modell, das eine autonome Selbstorganisation der Unternehmerseite anstrebte.38 Eine Tendenz zum Letzteren scheint in der Schweiz dominiert zu haben, das berühmte Friedensabkommen in der Metallindustrie von 1937 ging aber in die andere Richtung.39 Die Aufwertung des Wirtschaftlichen fand ihren Niederschlag auch in der während der ganzen Zwischenkriegszeit geführten Debatte zur Frage, ob man einen speziellen Wirtschaftsrat schaffen sollte. Während Linksfreisinnige dies eher befürworteten, lehnten Rechtsfreisinnige es eher ab; die Verbände werteten einen solchen Rat bemerkenswerterweise als „Umweg“ und zogen den „unmittelbaren und möglichst engen Kontakt“ mit den entscheidenden Instanzen vor.40 Die 1947 eingeführten Wirtschaftsartikel gaben über die Einführung des Vernehmlassungsrechts den Verbänden, wie dies für die Parteien nicht bestand, schließlich eine betonte Vorzugsstellung.41

36 Charles S. Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1975. 37 Schmid 1983, S. 88 f. 38 Leicht modifiziert übernommen von Brassel-Moser 1994, S. 88. 39 Der Paradefall der außerhalb des Parlaments (aber auch außerhalb unserer Zeit) gewonnenen Gestaltungsmöglichkeit ist das berühmte zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaften abgeschlossene Friedensabkommen in der Maschinen- und Uhrenindustrie vom 19. Juli 1937, das so etwas wie eine Konkordanz zwischen den Sozialpartnern (was ein jüngerer Begriff ist) etablierte. Dieser Kollektivvertrag legte eine absolute Friedenspflicht und ein mehrstufiges Schiedsverfahren fest. Beide Seiten verpflichteten sich, Probleme auf dem Verhandlungsweg zu lösen und auf Kampfmassnahmen zu verzichten. Eine Weiterführung bildeten die teils auch von Kantonen und Bund für allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge, die formal recht nahe beim Modell des faschistischen Korporationsstaats sind, materiell sich aber insofern stark unterschieden, als die Gewerkschaften eine starke Gegenmacht zu den Arbeitgebern und der diesen zuneigenden Regierungen sind. – Bemerkenswerterweise wurde das Abkommen von 1937 nie unter der Fragestellung betrachtet, wie weit die im Parlament herrschenden parteipolitischen Gegebenheiten das Zustandekommen begünstigt haben. Die Initiative ging von Konrad Ilg, einem SP-Nationalrat und Präsident des SMUV aus, der Partner, Ernst Dübi, war Präsident des ASM, aber nicht Politiker, Bindeglied war der freisinnige Bundesrat Obrecht. 40 Brassel-Moser 1994, S. 230. 41 Gruner 1977, S. 57.

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4.  Die Funktion des Stimmvolks Bernard Degen, ein guter Kenner der Geschichte der Arbeiterbewegung, ging der Frage nach, wer in der Zwischenkriegszeit die hauptsächlich bestimmenden Kräfte waren, und stellte dabei zwei Hypothesen einander gegenüber: die parlamentarische Hypothese, welche den Primat und eine starke Gestaltungskraft auf die Gesellschaft den politischen Strukturen zuschreibt, und die Klassenhypothese, welche den sozioökonomischen Strukturen und indirekt der Macht der Verbände den Primat zuschreibt.42 Degen kommt (als guter Historiker) zur Einsicht, dass die Dinge je nach Phase anders liegen. Er warnt aber vor einer Überschätzung der parlamentarischen Partizipation und einer Unterschätzung der Möglichkeiten, eine außerparlamentarische Gegenmacht zu bilden (bzw. die Möglichkeit, das eigene Konfliktpotenzial zu mobilisieren). Die stärksten Wähleranteile auf eidgenössischer Ebene hatte die SPS mit 23,3 %–28,7 % (absolutes Maximum im Jahr 1931) in der Phase, da die SPS eine parlamentarische Gegenmacht ohne Regierungsbeteiligung bildete, obwohl sie sich bereits 1929 grundsätzlich für eine Einsitznahme entschieden hatte. Neben den partei- und verbandspolitischen Akteuren muss man auch auf die Rolle der Verwaltung und der Stimmbürger im Spannungsfeld der Blöcke achten. Markus Mattmüller, Degens akademischer Lehrer, hatte in einer zu wenig beachtet gebliebenen Studie das Stimmverhalten der Mehrheit der Bürger ins Zentrum seiner Analyse gestellt und dabei festgestellt, dass die Direkte Demokratie die maßvolle und mäßigende Haltung einer mittleren Position begünstigte und der Polarisierung gewisse Grenzen setzte. Implizit vertrat Mattmüller neben der Parlamentshypothese und der Klassenhypothese eine dritte Erklärungsvariante, die man Bürgerhypothese bezeichnen kann. Mattmüller stellte fest, dass nach 1918 zunächst eine gewisse Verständigungsbereitschaft vorherrschte, dann auf beiden Seiten aber eine Verschärfung eintrat und dass mit 1924/25 wiederum vermehrt Verständigung aufkam. In der ersten Phase wurde 1919 die Tagesarbeitszeit im Fabrikwesen von 11 oder 10 auf 8 Stunden reduziert (Einführung der 48-Stunden-Woche), und 1920 sollte ein schweizerisches Arbeitsamt geschaffen werden; eine Bundeskompetenz zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung wurde aber in der Volksabstimmung vom 21. März 1920 abgelehnt. 42 Bernard Degen, Sozialdemokratie: Gegenmacht? Opposition? Bundesratspartei? Die Geschichte der Regierungsbeteiligung der schweizerischen Sozialdemokraten, Zürich 1993, S. 10 ff., S. 124 ff.; ders., Wer darf mitregieren? Die Integration der Opposition als Gnadenakt, in: Studer (Hg.) 1998, S. 144–158.

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Mattmüller betont, dass die Teilnehmer der Direkten Demokratie den polarisierenden Parteien und Verbänden nicht gefolgt seien und mit Referenden und Referendumsabstimmungen diese zurückgebunden hätten. Zudem seien die polarisierenden Kräfte über die Möglichkeit der direktdemokratischen Partizipation eingebunden worden. Anfangs- und Endpunkt dieser Erklärung bildet dagegen der Befund bzw. das Axiom der eingeübten Bürgertugend.43 Für ein Referendum genügten 30.000 Unterschriften. Gegen eine extreme Staatschutzvorlage (Lex Häberlin) kamen 1922 rund 150.000 Unterschriften zusammen, im Falle des Versuchs, die Arbeitszeit wiederum heraufzusetzen (Lex Schulthess) kamen sogar 250.000 Unterschriften zusammen, und beide Vorlagen wurden 1922/24 in Volksabstimmungen abgewiesen. Dies veranlasst Mattmüller, das Jahr 1922 als „Schicksalsjahr“ der Schweizer Geschichte zu verstehen: „Ich bin überzeugt, dass das System der direkten Demokratie dazu beigetragen hat, dass weder der Bolschewismus noch der frühe Rechtsextremismus in der Schweiz am Anfang der zwanziger Jahre eine Chance hatte.“44 Eine später vorgelegte Studie über die so genannte Richtlinienbewegung, welche ein Mittelinkslager aufbaute und damit eine versöhnliche Gegenkraft zu den Hardlinern beider Blöcke bildete, bestätigt alles in allem diese Deutung.45 Man ist versucht, hier und in anderen Konfliktmomenten der Schweiz einen gewissen Hang zum Ausgleich und zur Mitte und damit auch zur Konkordanz zuzuschreiben. Möglicherweise besteht diese Tendenz. Ist sie das Ergebnis einer Kombination von Erfahrungen und verstetigter Einsicht? Das ist eine Frage nach Pfadabhängigkeiten, und diese ist Forschungsgegenstand vor allem von Wirtschafts- und Politikwissenschaftlern, weniger von Historikern, so paradox dies erscheinen mag.46 Eine weniger generelle, aber solidere Einschätzung kann man aber bezüglich des Proporzes und seiner Einführung zu Beginn der 1920er Jahre vornehmen. Rudolf Natsch, ein Experte in Fragen des Wahlproporzes, benannte schon vor über 30 Jahren beides treffend, den kurzfristigen wie den längerfristigen Effekt der Einführung des Wahlpropor43 „In einer solchen Polarisation hat sich das stimmende und wählende Volk in bewundernswürdiger Weise bewährt.“ (S. 32) Am gleichen Ort bezeichnete es Mattmüller als „grosses Glück der Schweiz“, das neben dem alten Mittel des Referendums das Proporzwahlrecht kam, das Kleinparteien stärkte und diese fallweise auch die Linke unterstützten. Beides, Referendum und Proporz, habe eine „segensreiche Wirkung“ (S. 33) entfaltet. 44 Ebd., S. 31 u. 33. 45 Vgl. Morandi 1995. 46 Vgl. etwa Arthur Brian, Increasing returns and path dependence in the economy, Ann Arbor 1994.

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zes auf gesamtschweizerischer Ebene: Kurzfristig kam es sehr wohl zu einer „Absplitterung wirtschaftlicher Interessengruppen“; Teile des freisinnigen Fußvolks, Handwerker, Gewerbetreibende, Landwirte, Beamte hätten sich entgegen der Losung der eigenen Freisinnigen Partei für den Proporz ausgesprochen.47 Längerfristig dagegen habe in einer Phase, da die politische Gemeinsamkeit auf ein Minimum geschrumpft war, der Proporz zum Dialog und zu einer gewissen Verständigung gezwungen, und dies sei einer „der vielen Glücksfälle in der Geschichte der Eidgenossenschaft“ gewesen. Und: Die Verhältniswahl sei zwar keine schweizerische Erfindung gewesen, aber eine der Schweiz gemäße Lösung.48

5. Anhang: Wie 1914 gegen den Proporz argumentiert wurde Die freisinnig dominierte Bundesregierung sprach sich 1914 entschieden gegen die Einführung des Wahlproporzes und damit indirekt auch gegen Konkordanz aus. Wie wurde die durch den weiteren Gang der Geschichte widerlegte Ablehnung damals begründet? Die 35 Seiten umfassende Botschaft des Bundesrates vom 16. März 1914 an die Bundesversammlung gibt darüber Auskunft. Eingangs wird zwar eingeräumt, die Idee, dass die im Volk vorhandenen Strömungen in der Volksvertretung ihrer Stärke entsprechend (proportional) ihren Platz bekommen sollten, habe „zweifellos etwas Bestechendes“ und „grosse Werbekraft“ (S. 124). Dann aber werden alle Nachteile breit aufgeführt.49 Man kann diese in den folgenden vier Punkten zusammenfassen: 1. Es gibt keine Strömungen mit klaren Konturen. 2. Die Parteien würden zu wichtig und zugleich geschwächt. 3. Es gäbe keine stabile Mehrheit mehr. 4. Bisherige Verhältnisse seien gut und riefen nicht nach Reform.

5.1.  Es gibt keine Strömungen mit klaren Konturen. Strömungen seien vor allem nicht mit Parteien und Parteiprogrammen gleichzusetzen. Parteien werden als „nach kulturellen Gesichtspunkten“ sich unter47 Natsch 1972, S. 177 u. 179. 48 Ebd., S. 119–182, Zit. S. 131. Bereits zuvor ders., Die Auseinandersetzung um das gerechte Wahlverfahren im 19. Jahrhundert, in: Festgabe Hans von Greyerz zum 60. Geburtstag, Bern 1967, S. 535–576. 49 Weitere Vorbehalte betrafen die Wahlkreisproblematik und den Stimmenzwang.

Ursprünge des schweizerischen Parteienpluralismus

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scheidende Dauergruppierungen verstanden. Ihnen werden die Strömungen entgegengehalten, die sich aus schnell sich wandelnden Wirtschaftsinteressen ergeben: „Die Strömungen im Volke sind absolut keine einheitlichen, genau abgrenzbaren; sie sind so mannigfach, sich widersprechend und durchkreuzend, so viele Abstufungen und Schattierungen aufweisend, dass es völlig ausgeschlossen ist, sie auch nur einigermassen vollständig und zuverlässig in der Volksvertretung wiederzugeben. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, auch nur die wichtigeren vertretungswürdigen Strömungen und Interessen finden ihren Ausdruck in den uns geläufigen Parteiprogrammen und können in dem Mosaik einer auf diesen Parteiprogrammen sich aufbauenden Volksvertretung zum Ausdruck gelangen. Es bestehen in heutiger Zeit nicht mehr (sic!) lediglich einige nach grossen kulturellen Gesichtspunkten geschiedene Parteien; die wirtschaftlichen Fragen führen stets zu neuen Gruppierungen, fast in vorderste Linie treten die beruflichen, lokalen und Standesinteressen; alle diese verschiedenen Richtungen laufen bunt neben- und übereinander, verbinden sich und lösen sich und sind einem fortwährenden Wechsel unterworfen. Man muss daher zum vorneherein darauf verzichten, sie alle oder auch nur die wichtigeren Strömungen vertreten zu sehen. Will oder muss man sie dagegen nur auf die Vertretung einiger grosser politischer, kultureller oder wirtschaftlicher Strömungen beschränken, so leidet doch wohl der Grundgedanke der Verhältniswahl Schiffbruch.“50

5.2.  Die Parteien würden zu wichtig und zugleich geschwächt. Es bestünde kein Zweifel an der Notwendigkeit von Parteien im Staate, man müsse aber ein „Überwuchern des Parteilebens“ und die Einschränkung der Freiheit des einzelnen Wählers vermeiden. Bemerkenswert ist, dass die Botschaft die Parteien in der Schweiz als schwach entwickelt und für viele Bürger als nicht maßgebend einstuft. Gegenläufig zu dieser Relativierung der Bedeutung der Parteien warnt die Botschaft vor der „Zerbröckelung und Zersplitterung“ der Parteien, weil sich Subgruppen im Proporzverfahren mit eigenen Listen leicht abspalten können. Dies wird als Folge der Verwirtschaftlichung der Politik (Emil Dürr) verstanden und geht davon aus, dass es eigentlich nur zwei Großparteien geben sollte, die Freisinnigen und die Katholisch-Konservativen, und dass die wirtschaftlichen Konflikte innerhalb dieser Parteien verarbeitet werden sollten.

50 Botschaft 1914, S. 125 ff.

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„Es ist nicht richtig, wenn behauptet wird, in der Schweiz bestehe tatsächlich eine so umfassende Aussonderung nach Parteien und Gruppen schon, und man baue nur diese Zustände aus. Ein ganz grosser Bruchteil der schweizerischen Stimmberechtigten ist politisch farblos, stimmt und wählt von Fall zu Fall nach eigenen Meinungen, Grundsätzen, Gefühlen, Instinkten, oder wie man es nennen mag.“

Es sei ein Irrtum anzunehmen: „Die Parteien und Gruppen (hätten) sich ohne Zutun eines Wahlverfahrens gespalten und neu gebildet; die stärkere Gruppierung der Parteien nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten sei eine Erscheinung des neuzeitlichen öffentlichen Lebens, insbesondere eine Folge der industriellen Entwicklung, mit der Klassenscheidung zwischen Unternehmer und Arbeiter, mit dem Interessengegensatz zwischen Gross- und Kleinbetrieb, mit der Herausschälung einer Mittelstandspolitik, mit den Organisationen nach beruflichen Interessengesichtspunkten. ... Ohne die Vorteile, die in dem Nebeneinanderbestehen nur g r o s s e r Parteien liegen, irgendwie überschätzen zu wollen, wird man doch gestehen müssen, dass sie am ehesten für eine nach grössern Gesichtspunkten gerichtete Politik Gewähr leisten. Dazu kommt, dass es kaum im Interesse des Landes liegen dürfte, den nach ideellen Gesichtspunkten gruppierten Parteigebilden behufs Geltendmachung materieller Interessen den Boden abzugraben. Ein Blick auf das innere Leben unserer Parteien beweist, dass es ihnen zum Teile gelungen ist, die sich aufdrängenden Gesichtspunkte und Bestrebungen wirtschaftlicher Natur in sich aufzunehmen und im Innern der Partei zum Ausgleich zu bringen. Hierin liegt eine für die ganze Entwicklung der Landespolitik überaus bedeutungsvolle und erfreuliche Erscheinung. Wir halten dafür, dass wir diesen internen Ausgleich ideeller und materieller Interessen im Schosse der Parteien fördern sollten, denn er erleichtert uns den notwendigen grössern Ausgleich widerstrebender Interessen auf dem Boden des gesamten Landes.“51

5.3.  Es gäbe keine stabile Mehrheit mehr. In der Botschaft von 1914 steht nicht der Gedanke im Vordergrund, dass Regierungsmehrheit über Koalitionen und Mehrparteienregime gebildet werde, sondern in erster Linie durch eine Partei (den Freisinn) gestellt würde und diese ihre Basis in einer starken Parlamentsmehrheit habe. Eine solche einheitstiftende Mehrheit wird als Gegengewicht zur im Lande gegebenen Vielfalt verstanden. Die Botschaft spricht vom Föderativstaat,

51 Ebd., S. 138 ff.

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„wo es des Trennenden übergenug gibt, wo es eines Gegengewichtes gegen die mächtigen und zuweilen verhängnisvollen auseinanderstrebenden Kräfte bedarf. Sie ist am notwendigsten in einem Föderativstaate, der, vermöge der Verschiedenheiten seiner Glieder nach Rasse, Sprache, Religion und Lebensgewohnheiten für diese zentrifugalen Kräfte einen ganz besonders günstigen Boden darbietet. Diese Mehrheit ist erforderlich als Rückhalt für die Regierung, die eines solchen um so eher bedarf, als ihre Stellung im Innern und nach aussen der Natur der Sache nach nicht so stark ist als diejenige eines Einheitsstaates.“52

Schon in der früheren Runde im Hinblick auf die Abstimmung von 1910 wurde von freisinniger Seite gesagt, die Bürger würden „zwangsweise auseinander gerissen“, der Proporz sei eine „Organisation der Zersplitterung“.53

5.4. Bisherige Verhältnisse seien gut und riefen nicht nach Reform. Im Dienste dieser Generalaussage stehen verschiedene Einzelaussagen, welche die Interessen damaliger Mehrheit zum Ausdruck bringen. Etwa: „Die tatsächliche Bedeutung und der Einfluss einer Gruppe in der Volksvertretung hängt doch nicht rein von ihrer zahlenmäßigen Stärke ab.“ Und ebenso wenig wird die Macht der durch sie vertretenen Ideen darunter leiden, wenn ihre Vertretung „nicht im mathematisch richtigen Verhältnis der Zahl ihrer Anhänger zugegen sind.“54 Man trete (immerhin) „nicht nur“ aus Parteiinteressen, sondern auch aus dem Gesichtspunkt der Wahrung berechtigter Landesinteressen dem Proporzverfahren entgegen.55 Anderseits sei es doch beinahe überholt, Parteiinteressen geltend zu machen, da der „starre Parteigeist“ der früheren Jahrzehnte wesentlich an Boden verloren und einer versöhnlichen Haltung und wechselseitiger Achtung Platz gemacht habe.56 Nachzutragen sind noch ein paar Überlegungen zur Problematik des Referendums. Die Botschaft deutete an, dass die Schweiz neben dem obligatorischen Referendum für Verfassungsänderungen über zwei weitere Instrumente der direkten Mitwirkung verfügte, seit 1874 über das fakultative Referendum, das mit 30.000 Unterschriften ein Gesetz der Bundesversammlung einer Volks52 Ebd., S. 141. 53 Aargauer Ständerat Schulthess im April 1909, in: NZZ Nr. 117 vom 28. April 1909, zit. bei Natsch 1972, S. 147. 54 Botschaft 1914, S. 145. 55 Ebd., S. 141. 56 Ebd., S. 144.

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abstimmung unterwerfen konnte, und seit 1891 über die Volksinitiative, die mit 50.000 Unterschriften (wie bei den drei Proporzvorlagen) einen Vorschlag für einen Verfassungszusatz ebenfalls der Volksabstimmung unterbreiten konnte. Wenn in diesen Fällen das ganze (männliche) Volk abstimmen durfte, erschien die Repräsentationsfrage als entschärft. Die Botschaft anerkannte immerhin, dass es verständlich sei, wenn politische Minderheiten bezüglich der Gesetze nicht nur auf die „negative Tätigkeit des Verwerfens“ angewiesen, sondern auch bei der „positiven Mitwirkung im Zeitpunkt der Ausarbeitung“ mit dem nötigen Gewicht beteiligt sein wollten.57

Darstellung des „Neuen Postillion“ vom Mai 1896 zum negativen Ausgang der Volksabstimmung vom 1. März 1896 über die proportionale Wahl des Grossen Rates (18.111 : 29.092 Stimmen). In der linksseitigen Hälfte der Karikatur verfügt nur der „Freisinn“-Bär über den Futternapf, und die übrigen Artgenossen in einem kargen Gehege haben keinen Zugang, während die rechtsseitige Hälfte zufriedene Bären mit der Aufschrift „Freisinn“, „Ultramontan“, „Conservativ“, „Volkspartei“ und „Sozialdemokrat“ zeigt.

57

Ebd., S. 148.

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Stabilität und Unbehagen: Die niederländische Demokratie der Zwischenkriegszeit*

In der politischen Geschichte der Niederlande des 20. Jahrhunderts gibt es, im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern, keine tiefen Zäsuren, plötzlichen Brüche oder politischen Massenradikalismus. Während sich ein großer Teil Europas im Ersten Weltkrieg mit den Schrecken der modernen Kriegführung und ab 1917/1918 mit Revolution und politischer Instabilität konfrontiert sah, hatten die Niederlande ihre Neutralität wahren und sich aus dem großen Krieg heraushalten können. In dem Augenblick, in dem sich die internationalen Auseinandersetzungen zuspitzten, war in den Niederlanden 1917 auf friedliche Weise eine Grundgesetzänderung zustande gekommen, die die größten politischen Probleme des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts löste und die Spielregeln für den weiteren, stetigen Verlauf der politischen und gesellschaftlichen Veränderung lieferte.1 Zwar sollte ein Jahr später der sozialdemokratische Parteiführer, Pieter Jelles Troelstra, unter dem Eindruck der revolutionären Unruhen in Deutschland, einen halbherzigen Revolutionsversuch unternehmen, indem er in den Niederlanden für die Arbeiterbewegung die „Staatsmacht“ forderte, aber er fand selbst in der eigenen Partei wenig Rückhalt. Diese revolutionäre Kräuselung ist als der „Irrtum“ Troelstras in die Geschichte eingegangen und stellte zu keiner Zeit eine Bedrohung der politischen Stabilität dar. Wirklich erschrocken war die bürgerliche Klasse nicht: Troelstra blieb ein freier Mann und behielt seinen Sitz im Parlament. Auch in den 1930er Jahren blieb das politische System unangetastet. Ebenso wie in den übrigen europäischen Staaten erschienen in den Niederlanden faschistische und national-sozialistische Gruppierungen auf der Bildfläche, aber ihre politische Bedeutung blieb marginal. Lediglich die NSB (Nationaal-Socialistische Beweging) erlangte 1935 bei den Provinzialwahlen rund 8 % der Stimmen, ein Prozentsatz, der sich zwei Jahre später, nachdem sich die Partei zunehmend in Richtung auf die deutschen Nationalsozialisten orientiert und stark radikalisiert hatte, wieder um die Hälfte verringerte. *

Dieser Beitrag basiert auf dem 2. und 3. Kapitel meiner Monografie: Die Niederlande. Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert, Münster 2008. 1 Vgl. Piet de Rooy, Republiek van rivaliteiten. Nederland sinds 1813, Amsterdam 2002.

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Bei der Betrachtung der niederländischen politischen Landschaft der 1920er und 1930er Jahre sind vor allem die Kontinuität und Stabilität auffällig. Die protestantischen, katholischen und sozialdemokratischen Parteien verfügten über eine stabile und treue Anhängerschaft, und nur die Liberalen sahen sich mit einer abbröckelnden Zahl der Wählerstimmen konfrontiert. Die niederländische Gesellschaft und Politik waren in religiöse und weltanschauliche „Säulen“ aufgeteilt, die untereinander wenig Kontakt hatten, und die Eliten dieser Säulen verstanden es, die zur jeweiligen Säule gehörenden Bevölkerungsgruppen an sich zu binden. Wie sehr dies der Fall war, zeigen die Parlamentswahlen: Abbildung 1:  Ergebnisse der Parlamentswahlen (Zweite Kammer) der Jahre 1918–1937 nach politischen Strömungen (in %) 35 Katholiken

30

Protestanten 25

Sozialdemokraten

20 Liberale

15

10 Übrige 5

0 1918

Kommunisten 1920

1922

1924

1926

1928

1930

1932

1934

1936

Umgerechnet nach Parlamentssitzen verfügten die christlichen Parteien sowohl 1922 als auch 1937 gemeinsam über 60 Sitze (von 100), und es hatte in den dazwischen liegenden Jahren nur minimale Verschiebungen gegeben. Nicht anders sah es auf der linken Seite des politischen Spektrums aus: Sozialdemokraten und kleine linke Parteien hatten 1918 gemeinsam 26 Sitze und erreichten 1937 die gleiche Anzahl. So gesehen scheint man für die Zeit zwi-

Die niederländische Demokratie der Zwischenkriegszeit

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schen den beiden Weltkriegen sogar von einer gewissen Versteinerung der politischen Landschaft sprechen zu können.2 Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist auch, dass es in der gesamten Zwischenkriegszeit in den Niederlanden nur drei Ministerpräsidenten gab, die darüber hinaus jeweils aus einer christlichen Partei stammten: Der Katholik C.J.M. Ruys de Beerenbrouck (1918–1925; 1929–1933) und die Protestanten Hendrikus Colijn (1925–1926; 1933–1939) und Dirk Jan de Geer (1926–1929; 1939–1940). Dieses Bild der Stabilität und Kontinuität mit einer unangefochtenen Mehrheit für die Konfessionellen wird jedoch etwas relativiert, wenn man genauer hinschaut. In Abbildung 1 werden die Ergebnisse der politischen Strömungen wiedergegeben, nicht die der einzelnen Parteien. Im niederländischen Wahlsystem, das mit der Grundgesetzänderung von 1917 eingeführt wurde, gab es eine sehr niedrige Wahlhürde (weniger als 1%), und es wurde nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Dies hatte zur Folge, dass es für kleine Parteien sehr einfach war, in die Tweede Kamer gewählt zu werden, und dass in der Zwischenkriegszeit immer viele Parteien (zwischen 10 und 14) im Parlament vertreten waren.3 Vor dem Hintergrund, dass für die Regierungsbildung bis 1933 nur die katholische RKSP (Rooms-Katholieke Staatspartij) und die protestantischen Parteien ARP (Anti-Revolutionaire Partij) und CHU (Christelijk-Historische Unie) relevant waren und ab 1933 auch Liberale bzw. Sozialdemokraten hinzukamen, hatte diese Vielzahl von Parteien keine direkte Folge für die Regierungsbildung und die Stabilität der Regierungen. Dennoch hielt sich keine einzige Regierung in der Zwischenkriegszeit über die gesamte Laufzeit von vier Jahren, und die drei Ministerpräsidenten „verschlissen“ insgesamt zehn Regierungen mit einer durchschnittlichen Lebensdauer von gut zwei Jahren. Die Bindung zwischen den drei konfessionellen Parteien wurde in hohem Maße durch ihre gemeinsame Ablehnung der nicht-christlichen Parteien bestimmt, die sie durch ihre gemeinsame Mehrheitsposition von der Macht fernhalten konnten. Auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet war ihre Übereinstimmung untereinander jedoch begrenzt, ebenso wie ihre Bereitschaft, Gegensätze zu überbrücken. Dies hatte, so der Historiker Jac Bosmans,

2 Vgl. Jac Bosmans, Het maatschappelijk-politieke leven in Nederland 1918–1940, in: Johan C. Boogman u.a., Geschiedenis van het moderne Nederland. Politieke, economische en sociale ontwikkelingen, Houten 1988, S. 398–443; Rolf Schuursma, Jaren van Opgang. Nederland 1900-1930, Amsterdam 2000. 3 Siehe für die kleinen Parteien in der Zwischenkriegszeit: Koen Vossen, Vrij Vissen in het Vondelpark. Kleine politieke partijen in Nederland 1918-1940, Amsterdam 2003.

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„eine recht flache Kompromisspolitik“ zur Folge, bei der die Kabinette oftmals von einer Krise in die nächste gerieten.4 Abbildung 2:  Zusammensetzung niederländischer Kabinette (1918–1940) Kabinette

Konfessionelle

Rechts- SozialLinksliberale demokraten liberale

1918–1922 Ruys De Beerenbrouck (ARP, CHU, RKSP) 1922–1925 Ruys De Beerenbrouck (ARP, CHU, RKSP) 1925–1926 Colijn  (ARP, CHU, RKSP) 1926–1929 De Geer I(ARP, CHU, RKSP) 1929–1933 Ruys De Beerenbrouck (ARP, CHU, RKSP) 1933–1935 Colijn  (ARP, CHU, RKSP, VDB, LSP) 1935–1937 Colijn (ARP, CHU, RKSP, VDB, LSP) 1937–1939 Colijn (ARP, CHU, RKSP) 1939 Colijn (ARP, CHU, LSP) 1939–1940 De Geer  (ARP, RKSP, CHU, VDB, SDAP)

Insgesamt kann zwar für die Zwischenkriegszeit in den Niederlanden von einer klaren politischen Stabilität gesprochen werden. Doch wiesen die große Anzahl von Parteien sowie die meist kurze Lebensdauer der Regierungen und die Reibungen zwischen den Konfessionellen auch auf politisches Unbehagen und politische Spannungen hin. Ziel dieses Beitrages ist es, diese Charakterisierung der niederländischen politischen Landschaft näher zu analysieren und der Frage nachzugehen, warum die Stabilität einerseits so groß war, sich jedoch andererseits hinter dieser Stabilität große Spannungen verbargen und nur wenige mit der parlamentarischen Demokratie zufrieden waren. Auch wenn sich dieses Unbehagen in der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre stärker zeigte als vorher und die parlamentarische Demokratie unter Druck geriet, war von einer Zäsur nach den 1920er Jahren in den Niederlanden nicht die Rede, und 4 Bosmans in: Boogman u.a. 1988, S. 411; eine detaillierte Übersicht der politischen Ereignisse findet sich in: Pieter J. Oud/Jac Bosmans, Staatkundige vormgeving in Nederland, Deel I: 1840–1940, Assen 1990, S. 224 ff.

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vieles spricht dann auch dafür, die Zwischenkriegszeit in ihrer Gesamtheit zu betrachten.

1.  Stabilität in einer „versäulten“ Gesellschaft Nach jahrzehntelangen Debatten und politischem Streit war 1917 eine Grundgesetzänderung zustande gekommen, die Grundzüge für die politische Gestaltung der Niederlande festlegte und bis heute, trotz mehrerer Veränderungen, ihre Gültigkeit in Hauptlinien behalten hat. Parteiübergreifend fand man sich in breit angelegten Kompromissen: Das allgemeine und geheime Wahlrecht wurde eingeführt (zunächst nur für Männer, 1919 auch für Frauen), und die Protestanten und Katholiken erreichten ihr Ziel der finanziellen Gleichberechtigung ihrer eigenen Grundschulen mit den neutralen staatlichen Einrichtungen. Dieser „Schulkampf“, der die politische Agenda der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in hohem Maße bestimmt hatte, verdient an dieser Stelle einige Erläuterung, denn er steht in direktem Zusammenhang mit dem gerade in dieser Zeit aufkommenden Parteiensystem und der „Versäulung“, ohne die die politische Landschaft der Zwischenkriegszeit nicht zu verstehen ist. Bereits in den 1850er Jahren war der Streit um die finanzielle Gleichstellung im Schulwesen aufgekommen, aber erst in den 1870er Jahren spitzte er sich zu, nachdem die Liberalen 1878 ein Grundschulgesetz geschaffen hatten, das für Protestanten und Katholiken eine herbe Niederlage bedeutete.5 Das Gesetz stellte sowohl an das Ausbildungsniveau der Lehrkräfte als auch an die Qualität der Schulgebäude neue und hohe Anforderungen. Auch wurden die Lehrergehälter angehoben. Das führte nicht nur zu enormer Qualitätssteigerung des Unterrichts, sondern gleichzeitig zu einer erheblichen Erhöhung der Kosten. Für die öffentlichen Schulen wurden diese Kosten von der zentralen Regierung mitgetragen, die die Finanzierung des Unterrichts teilweise übernahm. Da die liberale Regierung die Subvention privater protestantischer und katholischer Schulen entschieden ablehnte, diese Schulen aber zugleich verpflichtete, den neuen Qualitätsanforderungen zu genügen, drohte mit dem Schulgesetz von 1878 ein ernster Rückschlag für den privaten Unterricht. Das liberale Schulgesetz von 1878 verursachte dann auf konfessioneller Seite einen politischen Sturm. Abraham Kuyper, der bereits seit den frühen 1870er Jahren als orthodoxer Protestant für die finanzielle Gleichberechtigung im Schulwesen gekämpft hatte und in diesen Jahren einer der Begründer des 5 Vgl. Ido de Haan, Het beginsel van leven en wasdom. De constitutie van de Nederlandse politiek in de negentiende eeuw, Amsterdam 2003, S. 175 ff.

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niederländischen Parteiensystems wurde, empfand das liberale Schulgesetz geradezu als Kriegserklärung.6 Er tat daraufhin nicht nur den entscheidenden Schritt zur Gründung einer eigenen Partei (1879, Anti-Revolutionaire Partij), sondern organisierte auch einen breiten außerparlamentarischen Protest. Innerhalb kurzer Zeit stellte er eine groß angelegte Petitionsbewegung auf die Beine, die König Willem III. davon abhalten sollte, das Gesetz zu unterzeichnen: „Setzen Sie, Sire, Ihre königliche Unterschrift niemals unter solch einen Vorschlag!“, lautete der Text des Gesuchs, das gut 305.000 Protestanten und 164.000 Katholiken unterschrieben hatten. Dies war eine enorme Mobilisierung der konfessionellen Basis, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Gesamtzahl der wahlberechtigten Männer in den Niederlanden zu dieser Zeit ungefähr 100.000 betrug.7 Die Bittschrift blieb allerdings erfolglos, und der König unterzeichnete das Gesetz – nach der verfassungsmäßigen Regel der Ministerverantwortlichkeit blieb ihm im Übrigen kaum eine andere Wahl. Aber das Jahr 1878 hatte dennoch weit reichende Folgen für die niederländische politische Kultur, die bis weit ins 20. Jahrhundert sichtbar bleiben sollten. In der Konfrontation zwischen Liberalen und Konfessionellen über das Schulgesetz trat eine politische Trennungslinie zwischen den christlichen und den nicht-christlichen Niederlanden zutage, die Kuyper später in seiner so genannten Antithese noch zuspitzen sollte. Liberale, Sozialisten und der neutrale Staat, so die Kuypersche These, waren Repräsentanten der modernen Welt, die eine Bedrohung des katholischen und des protestantischen Glaubenslebens darstellte. Zur Verteidigung der christlichen Nation müssten sich Protestanten und Katholiken daher vereinen, um ihre gemeinsamen Interessen zu sichern. Das bedeutete nicht das Ende der interkonfessionellen Spannungen – über die Frage, wie diese christliche Nation auszusehen habe, gingen die Meinungen der Protestanten und der Katholiken weit auseinander –, aber es überdeckte sie durchaus. Kuyper war sich darüber im Klaren, dass seine orthodoxen Protestanten eine Minderheit in der Bevölkerung ausmachten und seine Vorstellungen von der christlichen Nation sich deshalb nicht allgemein durchsetzen ließen. Daher war es sein oberstes Ziel, die eigenen Anhänger zu organisieren, und von dieser soliden Basis aus wichtige Positionen in Gesellschaft und Politik zu erlangen.8

6 Vgl. Jeroen Koch, Abraham Kuyper. Een biografie, Amsterdam 2006, S. 178 ff. 7 Vgl. de Rooy 2002, S. 94. 8 Vgl. Henk te Velde, Van grondwet tot grondwet. Oefenen met parlement, partij en schaalvergroting, 1848–1917, in: Remieg Aerts u.a., Land van kleine gebaren. Een politieke geschiedenis van Nederlands 1780–1990, Nijmegen 2007, S. 125.

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Es ist nicht überraschend, dass gerade dem eigenen Unterricht in dieser Strategie eine so wichtige Funktion zufiel. Dabei dachte Kuyper übrigens nicht nur an den Grundschulunterricht: 1880 gründete er „seine“ Freie Universität in Amsterdam, die lange Zeit als Ausbildungsstätte für den eigenen antirevolutionären Nachwuchs fungieren sollte und auch heute noch – trotz Säkularisierung und „Entsäulung“ – protestantische Merkmale aufweist. „Souveränität im eigenen Kreis“ war die zentrale Idee, die Kuyper einführte, um seine eigene Anhängerschaft vor staatlichem Einfluss zu schützen. Der Staat sollte sich in die Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die selbständig funktionieren konnten, nicht einmischen und sie den weltanschaulichen Gruppierungen überlassen, die sich selbst organisierten. So konnte der Bürger gegen die negativen Einflüsse des Staates abgeschirmt und von einem breiten Umfeld eigener weltanschaulicher Organisationen umgeben werden. Selbstverständlich sollte die „Souveränität im eigenen Kreis“ auch für andere Gemeinschaften gelten, die sich damit ebenfalls gegen staatlichen Einfluss wappnen konnten. Die Katholiken entschieden sich 1891 (Enzyklika Rerum Novarum) mit dem so genannten Subsidiaritätsprinzip für ein Konzept mit einer vergleichbaren Stoßrichtung: Was auf lokaler oder regionaler Ebene organisiert werden konnte, sollte sich der Regelung durch die nationale Regierung entziehen. So unterschiedlich Katholiken und Protestanten auch waren und so sehr sie in der Zukunft noch auf diversen Gebieten gegensätzliche Positionen einnehmen sollten, hier wurden sie sich – unter Respektierung der Unüberbrückbarkeit der jeweiligen religiösen Grundhaltungen – doch einig. Mit den Begriffen „Antithese“ und „Souveränität im eigenen Kreis“ führte Kuyper eine neue politische und gesellschaftliche Trennungslinie ein. Es waren die Vorboten der Versäulung, die die niederländische politische Kultur in den darauf folgenden Jahrzehnten prägen sollte, und mit der das Land in ein protestantisches, ein katholisches, ein sozialistisches und ein „neutrales“/ liberales Segment eingeteilt wurde. Noch bevor Industrialisierung und sozial-ökonomische Modernisierung neue horizontale Trennungslinien entstehen ließen, wurden vertikale „Säulen“ fixiert, mit der Folge, dass die politische Struktur später durch beide – sowohl die horizontalen als auch die vertikalen Trennlinien – gekennzeichnet sein sollte.9 Insbesondere die vertikalen Abgrenzungen sollten sich in Politik und Gesellschaft tief verankern und zu der für die Niederlande so charakteristischen Versäulung führen. Im Rahmen dieses Beitrags kann nicht näher auf dieses Phänomen eingegangen werden; hier genügt die Feststellung, dass die sich allmählich bildenden „Säulen“ verschiedene Funktionen erfüllten: Sie boten Geborgenheit und Identität, waren ein Vehikel für 9 Vgl. de Rooy 2002, S. 98.

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Parteibildung, Emanzipation und soziale Mobilität und gaben den Eliten ein Instrument zur Kontrolle der eigenen Anhänger wie auch zur Abgrenzung gegen staatlichen Einfluss an die Hand. Darüber hinaus boten die Säulen einen Schutzraum gegen die Schockwellen der sozialökonomischen Modernisierung ab 1870. Industrialisierung, Urbanisierung und andere Formen der Modernisierung vollzogen sich auf diese Weise für Viele im vertrauten Rahmen der eigenen Milieus, die unerwünschte Auswüchse dämpfen und die positiven Errungenschaften (Wissenschaft, Technik etc.) gerade zum Vorteil der eigenen Gruppe nutzbar machen konnten. Die Grundlage der Säulenbildung schufen Protestanten und Katholiken; später folgten die Sozialdemokraten und – eher notgedrungen – die Liberalen. Die Grundgesetzänderung von 1917, nach langwierigen Auseinandersetzungen um Schulwesen und Wahlrecht auch die „Befriedung“ (Pacificatie) genannt, war nicht nur der Schlusspunkt eines politisch-gesellschaftlichen Konflikts um die Strukturierung der Niederlande, sondern sie bildete auch den neuen Rahmen, in dem der politische Kampf unter veränderten Kräfteverhältnissen fortgesetzt wurde. Da Katholiken und Protestanten ihr gemeinsames Ziel – die finanzielle Gleichstellung des christlichen Schulwesens – erreicht hatten und zusammen über eine komfortable Machtstellung verfügten, lag es nahe, dass die Gegensätze zwischen beiden stärker in den Vordergrund traten. Die selbstbewusster auftretenden Katholiken steuerten nun offener auf ihr Ziel zu, die Niederlande zu einer katholischen Nation zu machen, und die Protestanten propagierten ihr historisch verwurzeltes Nationsverständnis.10 Diese Gegensätze forcierten den Prozess der Versäulung und verstärkten damit die vertikalen Trennlinien der niederländischen Politik und Gesellschaft. Da es nun darum ging, wie sich die niederländische Nation weiter entwickeln sollte und wer dabei seine Ziele würde verwirklichen können, lag es auf der Hand, dass Protestanten und Katholiken versuchten, ihre eigene Säule zu stärken, um so ihren eigenen Einfluss optimal einsetzen zu können. Auch die sozialdemokratische Säulenbildung schritt in diesen Jahren weiter voran: In der Landespolitik isoliert, intern hin und her gerissen zwischen marxistischem Programm und wachsender Erkenntnis reformistischer Notwendigkeit und dabei gleichzeitig durch Abspaltungen am linken Flügel bedroht, war auch hier die Stärkung der eigenen „roten Familie“ das oberste Gebot. Dies führte dazu, dass sich der Versäulungsprozess nach 1917 verstärkt fortsetzte, womit ein Wesensmerkmal der Zwischenkriegszeit genannt ist. Bereits vor 1918 hatte jede Säule über ihre eigenen Wählervereinigungen, Parteien, Gewerkschaften und Zeitungen verfügt, aber in der Zwischenkriegs10 Vgl. Bosmans in: Boogman u.a. 1988, S. 398 ff.

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zeit breiteten sich die Säulen immer mehr über das gesamte gesellschaftliche Leben aus. Auch ein neues und modernes Phänomen wie das Rundfunksystem (Radio) wurde wie selbstverständlich den versäulten Linien entsprechend organisiert, und so entstanden in den 1920er Jahren säulengebundene Rundfunkorganisationen, die die beiden nationalen Radiosender und nahezu die gesamte Sendezeit untereinander aufteilten. Katholiken waren selbstverständlich Mitglied des Katholieke Radio Omroep (KRO), wie Protestanten der Nederlands Christelijke Radio Vereniging (NCRV) und Sozialdemokraten der Vereniging Arbeiders Radio Amateurs (VARA) angehörten. Für die liberale/neutrale Säule gab es die Algemene Vereniging Radio Omroep (AVRO), und eine kleine Gruppe progressiver Protestanten war Mitglied des Vrijzinnig Protestantse Radio Omroep (VPRO). Die letztgenannten drei Rundfunkgesellschaften bekamen einen gemeinsamen Sender zur Verfügung gestellt, und auch NCRV und KRO teilten sich einen Sender. Handelte es sich bei den Rundfunkorganisationen um Vereinigungen mit einem deutlichen eigenen weltanschaulichen Charakter, die unmittelbar an das bereits bestehende Muster der säulengebundenen politischen Parteien, Gewerkschaften und der Presse anknüpften, so war es charakteristisch für die Intensivierung der Versäulung in der Zwischenkriegszeit, dass sich diese über ein viel breiteres gesellschaftliches Feld ausweitete. Auch die Bereiche, die nicht unmittelbar mit spezifisch weltanschaulichen Zielen verbunden sind (Sport, Freizeitbeschäftigung, allgemeine kulturelle Aktivitäten usw.) erhielten einen versäulten Rahmen, wodurch sich eine weitere subkulturelle Segmentierung der Niederlande vollzog. Unter Führung der Geistlichkeit bauten vor allem die Katholiken an einer starken, monolithischen Säule, die allmählich beinahe alle Lebensbereiche umfasste. Dazu gehörte ebenfalls die Gründung der eigenen Katholieke Universiteit Nijmegen (1923), Wiege der katholischen politischgesellschaftlichen Elite darauf folgender Jahrzehnte. Sowohl absolut als auch prozentual hatte die Zahl der katholischen Organisationen in den 1930er Jahren die Zahl der protestantischen Organisationen übertroffen. Die katholische Säulenbildung wies außerdem eine große Homogenität aus, die von einer starken Führung aus der Kirche heraus gelenkt wurde. Auch Protestanten bekamen in der Kirche Ermahnungen zu hören, aber diese kamen nicht aus einer so dominanten hierarchischen Organisation wie bei den Katholiken, und darüber hinaus gab es in der protestantischen Kirche eine Vielzahl unterschiedlicher Strömungen und Ausrichtungen.11 Auf diese Weise waren die Niederlande in den 1920er und 1930er Jahren nicht nur in politischer Hinsicht in vier Strömungen aufgeteilt, auch das ge11 Vgl. ebd., S. 399 ff.

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sellschaftliche Leben wurde dauerhaft in „moralische Gemeinschaften“ parzelliert, die beispielsweise eine eigene Identität, eigene Codes und Traditionen besaßen.12 Dies wirkte sich sogar so sehr auf Stil, Sprach­gebrauch und Verhalten einzelner Personen aus, dass man, wie der Historiker Ivo Schöffer sagt, „nur eine Minute mit jemandem zu sprechen brauchte und man wusste, dass der andere Protestant, Katholik, Liberaler oder Sozialdemokrat war“.13 Dies sollte sich auch nach 1945 nicht ändern und erst ab den 1960er Jahren dieses von Schöffer beschriebene und für viele Niederländer typische intuitive Verstehen allmählich verschwinden. Der Umfang der Säulen ist grob anhand der Größe der verschiedenen Religionsgemeinschaften, zum Teil auch anhand der Zahl der Anhänger der einzelnen politischen Parteien zu bestimmen. Aus Abbildung 3 geht hervor, dass in der Zwischenkriegszeit die Zahl der Katholiken leicht zunahm, die Zahl der Nederlands-Hervormden, die bereits seit der Jahrhundertwende zurückging, hingegen in den 1920er Jahren rasch sank. Um 1930 war die katholische Kirche in den Niederlanden größer als die Nederlands Hervormde Kerk. Zwar blieb die Gesamtzahl der Protestanten vor dem Zweiten Weltkrieg größer als die Zahl der Katholiken, aber die selbstverständliche protestantische Mehrheitsposition bröckelte, und die Protestanten sollten zahlenmäßig in den 1950er Jahren von den Katholiken überflügelt werden. Abbildung 3:  Religionszugehörigkeit in den Niederlanden 1879–1930 (in %) Jahr

Römisch-  katholisch

Nederl.   Hervomd

Reformierte

Sonstige

Konfessionslose

1879

35,9

54,7

ca. 4

ca. 6

0,3

1889

35,4

48,9

ca. 8

ca. 6

1,5

1899

35,1

48,6

8,3

5,7

2,3

1909

35,0

44,3

9,8

5,9

5,0

1920

35,6

41,3

9,5

5,8

7,8

1930

36,4

34,4

9,3

5,6

14,3

Quelle: Hans Knippenberg, De religieuze kaart van Nederland, Assen 1992.

12 Vgl. Piet de Rooy, Een zoekende tijd. De ongemakkelijke democratie 1913–1949, in: Aerts u.a. 2007, S. 199. 13 Zitiert bei J. C. Hans Blom, Nederland in de jaren dertig: een ,burgerlijk-verzuilde‘ maatschappij in een crisis-periode, in: Ders.,  Crisis, bezetting en herstel. Tien studies over Nederland 1930–1950, Den Haag 1989, S. 10.

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Lässt man die Schwächung der liberalen Wählerschaft außer Betracht, dann blieb das politische Kräfteverhältnis zwischen den Säulen in den 1920er und 1930er Jahren in seinen Hauptzügen konstant. Die katholische Partei (RKSP) erzielte zwischen 1918 und 1937 immer um die 30% der Wählerstimmen, ein Prozentsatz, der ungefähr der Zahl der Katholiken in der niederländischen Bevölkerung entsprach. Zudem fällt auf, dass die protestantisch-christliche Strömung ab 1922 – in diesem Jahr durften Frauen zum ersten Mal an den Parlamentswahlen teilnehmen – ebenfalls kaum Schwankungen aufwies. Bemerkenswert ist des weiteren, dass der Prozentsatz protestantisch-christlicher Wähler (ca. 27%) unter dem Anteil der Protestanten in der Bevölkerung (ca. 50% im Jahr 1920; ca. 45% im Jahr 1930) lag und dass diejenigen, die für eine Partei aus der eigenen Säule stimmten, sich auf zwei relativ große und mehrere kleine christliche Parteien verteilten. Wiederum fällt auf, dass die protestantische Säule sich weniger einheitlich zeigte als die der Katholiken. Vor allem die Sozialdemokraten profitierten von dieser protestantischen „Untreue“, und ohne die Unterstützung aus der konfessionellen Ecke hätte die Sociaal Democratische Arbeiderspartij (SDAP) zwischen 1918 und 1937 niemals Ergebnisse um die 22% erzielt. Die einzige Ausnahme von dieser Stabilität im Wahlverhalten waren die Liberalen, die die Zahl ihrer Anhänger halbiert sahen. Dieser Verlust galt im Übrigen ausschließlich für die doch bereits gespaltenen konservativen und gemäßigten Liberalen und nicht für den linksliberalen Vrijzinnig Democratische Bond (VDB), der ebenfalls bemerkenswert stabil blieb. Setzt man nun die Zahlen der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft zu den Wählern der politischen Parteien in Bezug und stellt sich die Frage nach dem Umfang und der inneren Einheit der verschiedenen Säulen, dann war die katholische Säule eindeutig die größte und am dichtesten zusammenhängende (ca. 36% der Bevölkerung waren Katholiken und rund 30% stimmten für die RKSP). Zwar war in den 1920er und 1930er Jahren die Zahl der Protestanten größer (ca. 50%), aber ihre Auffächerung auf verschiedene Religionsgemeinschaften und politische Parteien (die protestantischen Parteien erzielten zusammen ja rund 27% der Stimmen) führte dazu, dass der innere Zusammenhalt dieser Gruppierung erheblich geringer war. Die Sozialdemokraten stellten schließlich mit gut 20% ein festes Segment der Bevölkerung dar. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die sich in der Zwischenkriegszeit vertiefende Versäulung die politische Stabilität und Kontinuität jener Jahre entscheidend mitgeprägt hat; denn die Zugehörigkeit zum eigenen Milieu und die disziplinierenden Botschaften der Eliten der Säulen führten für die meisten Niederländer dazu, dass das politische und gesellschaftliche Leben sich fast nur innerhalb der eigenen Gruppe abspielte. Vor diesem Hintergrund war es selbstverständlich, dass Wähler ihrer eigenen Partei treu blieben. Der nieder-

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ländische Historiker Piet de Rooy charakterisiert die Wahlen jener Zeit dann auch als eine Art „Volkszählungen“ ohne erkennbare Folgen für die politischen Kräfteverhältnisse.14 Die Stabilität der politischen Landschaft der Zwischenkriegszeit muss auch vor dem Hintergrund der niederländischen Neutralität im Ersten Weltkrieg betrachtet werden. Nach Auffassung des Historikers Maarten C. Brands hat diese Neutralität dazu geführt, dass die Niederlande „eine entscheidende Weiche“ der modernen europäischen Geschichte verpassten. Zugespitzt lautete die These Brands’, dass in den Niederlanden das 19. Jahrhundert erst im Mai 1940 zu Ende gegangen sei, als Nazi-Deutschland in das Land einfiel.15 Auch wenn diese Aussage sicherlich übertrieben ist und die Niederlande in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen viel moderner waren, als Brands suggeriert, so hatte die niederländische Neutralität der Jahre 1914–1918 unverkennbar große Folgen für die 1920er und 1930er Jahre. Die Kriegserfahrungen und die vielen Opfer, die kriegführende Länder zu beklagen hatten, blieben den Niederlanden erspart, und damit auch die zerrüttenden politischen Situationen, die sich in vielen Ländern aus dem Krieg entwickelten. Obwohl am Ende des Ersten Weltkriegs auch in den Niederlanden die sozialen und wirtschaftlichen Probleme groß waren, boomte die Wirtschaft bereits bald nach Kriegsende wieder. Es fand eine wirtschaftliche Modernisierung statt, die die Niederlande zu einem der modernsten Länder der 1920er Jahre machte. Auch diese wirtschaftliche Entwicklung trug selbstverständlich zur politischen Stabilität bei.

2. Unbehagen und politischer Stillstand Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass der niederländische Verfassungskonsens von 1917 keineswegs bedeutete, dass es Übereinstimmung über den Inhalt der Politik oder eine gemeinsame Antwort auf die Frage gab, wie die Niederlande strukturiert werden sollten. Einen politischen Basiskonsens gab es also nicht. Dazu prallten nicht nur die Meinungen zwischen Liberalen und Konfessionellen einerseits und Sozialdemokraten andererseits zu sehr 14 Piet de Rooy, Openbaring en openbaarheid, Amsterdam 2009, S. 42. 15 Maarten C. Brands, The Great War die aan ons voorbijging. De blinde vlek in het historische bewustzijn van Nederland, in: Mireille Berman/J. C. Hans Blom, Het belang van de Tweede Wereldoorlog, Den Haag 1997, S. 9 ff. Vgl. auch Maarten C. Brands, De grijze verf van historici. WO I blijft aan Nederland voorbijgaan, in: Hollands Maandblad 2006 Nr. 8/9, S. 23 ff., und die Reaktionen von Madelon de Keizer und Gerhard Hirschfeld in: Hollands Maandblad 2006, Nr. 11, S. 46 ff.

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aufeinander, auch zwischen Liberalen und Konfessionellen und nicht zuletzt zwischen Konfessionellen untereinander sollten die Spannungen in den 1920er Jahren sehr heftig werden. Der Mangel an Übereinstimmung in konfessionellen Kreisen entsprang unter anderem den grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des erwünschten Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft. Die Protestanten hielten an Kuypers „Souveränität im eigenen Kreis“ fest und errichteten damit einen Schutzwall gegen einen allgegenwärtigen und alles regulierenden Staat. Dabei stützten sich die Antirevolutionären auf die „organische Gesellschaft“ aus der Zeit vor der Französischen Revolution, in der unterschiedliche soziale Gruppen in organischen Verbänden miteinander kooperiert hätten und noch nicht durch den industriellen Kapitalismus und die Ideen der Aufklärung auseinander getrieben worden seien. Um sich diesem alten Zustand weitestmöglich anzunähern, musste die Selbständigkeit von Gruppen und Verbänden in der Gesellschaft – der Familie, der Berufsorganisation, der kulturellen Vereinigungen usw. – so groß wie möglich und vor staatlichem Einfluss geschützt sein. Während also die Protestanten eine scharfe Trennlinie zwischen Staat und Gesellschaft zogen und den Staat eher als ein notwendiges Übel betrachteten, schätzten die Katholiken den Staat viel positiver ein. Gewiss, auch sie wandten sich mit dem Subsidiaritätsprinzip gegen den allmächtigen, zentralen Staat, aber das Streben nach Dezentralisierung von Funktionen, soweit diese auch auf einer niedrigeren Ebene ausgeübt werden können, richtet sich nicht gegen das Prinzip der staatlichen Einflussnahme. So hatte der Staat beispielsweise auf sozioökonomischem Gebiet ordnend aufzutreten, wobei Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter seiner Aufsicht branchenbezogen Vereinbarungen über Löhne, Produktion, Innovation, Aus- und Weiterbildung usw. treffen sollten. Dem Staat wurde also in diesem katholischen Ordnungsdenken eine wichtige Verantwortung übertragen, die die Kluft zwischen Sozialdemokraten und Katholiken weniger tief machte als die zwischen Antirevolutionären und Sozialdemokraten. Die Antirevolutionären standen ihrerseits wiederum im Hinblick auf die Enthaltung des Staates der liberalen Haltung näher. Vor allem in der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre sollten diese Gegensätze die Zusammenarbeit zwischen Katholiken und Protestanten erschweren. Eine nicht weniger wichtige Quelle für Gegensätze zwischen Protestanten und Katholiken war der Antipapismus, der vor allem in der protestantischen CHU ausgeprägt war. Diese Partei blockierte die Abschaffung des Prozessionsverbotes, sie verhinderte die finanzielle Unterstützung der katholischen Handelshochschule in Tilburg und weigerte sich auch, einer Vereinfachung des Zulassens von Missionaren für Niederländisch-Ostindien zuzustimmen. Zu einer echten Krise zwischen CHU und RKSP kam es 1925 über die nie-

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derländische Gesandtschaft beim Vatikan. Im Zuge der italienischen Vereinigung war diese Gesandtschaft 1871 aufgelöst, dann aber während des Ersten Weltkrieges vorübergehend wiedereröffnet worden, um die Niederlande in mögliche Friedensinitiativen einzubeziehen. Auf Vorstoß des Außenministers Herman Adriaan van Karnebeek war diese vorübergehende Wiedereröffnung mit Unterstützung der Zweiten Kammer im Jahr 1920 für dauerhaft erklärt worden. Die CHU hatte jedoch nichts für eine derartige diplomatische Anerkennung des Papstes übrig und machte ihren diesbezüglichen Unmut in den frühen 1920er Jahren bei den jährlich stattfindenden Haushaltsdebatten wiederholt deutlich. Bei den Verhandlungen über eine neue Regierung im Jahr 1925 sagte die Partei zu, diese Interventionen einzustellen, ohne im übrigen ihren Standpunkt zur Unerwünschtheit der Gesandtschaft zu revidieren. Als später im gleichen Jahr die orthodox-protestantische Staatkundig Gereformeerde Partij (SGP) einen Antrag auf Aufhebung der Gesandtschaft einreichte und die RKSP ankündigte, aus der soeben gebildeten und aus RKSP, ARP und CHU bestehenden neuen Regierung auszutreten, wenn der Antrag angenommen werde, suchte die CHU die Konfrontation und stimmte für den Antrag. Da die Liberalen und die Sozialdemokraten aus politischopportunistischen Gründen ebenfalls dafür stimmten, beschloss die Zweite Kammer mehrheitlich die Schließung der niederländischen Gesandtschaft beim Vatikan. Daraufhin traten die RKSP-Minister zurück und die Regierung stürzte. Die linksliberale VDB hoffte anschließend vergeblich auf eine Regierung, an der außer ihr selbst auch Sozialdemokraten und Katholiken beteiligt wären. Zwar war die SDAP hierzu bereit, die Katholiken aber (noch) nicht. Ebenso wenig wollte die RKSP zu einer formalen Regierungskooperation mit der CHU zurückkehren. Die Folge war, dass sich keine parlamentarische Mehrheit für eine Regierung fand und ein so genanntes extraparlementair Kabinett gebildet wurde, das nicht auf Vereinbarungen zwischen den konfessionellen Parteien beruhte, sondern sich für alle Entscheidungen parlamentarische Mehrheiten suchen musste. Nach monatelangen Besprechungen präsentierte der neue Ministerpräsident Dirk Jan de Geer (CHU) im März 1926 sein „Intermezzo-Kabinett“, das – so seine Ankündigung – zurücktreten werde, sobald wieder eine normale parlamentarische Regierung gebildet werden könne. Charakteristisch für die politisch blockierte Lage war, dass de Geers Kabinett bis zu den regulären Wahlen des Jahres 1929 im Amt bleiben sollte. Auch in diesem Jahr waren normale politische Verhältnisse nur schwer zu erreichen. Die CHU hatte vor den Wahlen erklärt, sie sei zu einer Wiederherstellung der formalen Regierungszusammenarbeit bereit, wenn die RKSP keinen Einspruch mehr gegen die Äußerung erhebe, die Niederlande seien

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eine protestantische Nation.16 Dies war eine bemerkenswerte Forderung, die noch einmal verdeutlicht, wie tief in den 1920er Jahren die Kluft zwischen manchen Protestanten und den Katholiken war. Nach den Wahlen wollte sich die CHU aus politisch-prinzipiellen Überlegungen nicht an ein vorab festgelegtes Regierungsprogramm binden, was dazu führte, dass erneut ein extraparlementair Kabinett zustande kam. Im Gegensatz zum Intermezzo-Kabinett der Jahre 1926–1929 stützte sich dieses Kabinett aber doch auf eine normale parlamentarische Mehrheit, und die Verteilung der Ministerposten entsprach dem Kräfteverhältnis der Parteien RKSP, ARP und CHU. Die Regierung blieb nahezu die vollen vier Jahre im Amt (1929–1933), aber sie vermittelte in der aufkommenden Wirtschaftskrise keinesfalls den Eindruck von Schlagkraft. Einige Monate vor Ablauf der regulären Regierungszeit erlitt sie im Parlament eine ihrer regelmäßigen Niederlagen, so dass vorgezogene Wahlen ausgeschrieben wurden. Viele hatten das Gefühl, dass diese Regierung eigentlich schon viel länger am Ende gewesen war. Auch in der ersten Hälfte der 1920er Jahre war die Zusammenarbeit zwischen den drei konfessionellen Parteien zuweilen mühsam gewesen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Ablehnung des so genannten Flottengesetzes durch die Zweite Kammer im Jahr 1923. Schon seit Jahren war über die Verstärkung der niederländischen Seestreitkräfte zur Verteidigung Niederländisch-Ostindiens debattiert worden, wobei Sozialdemokraten und Liberale aus unterschiedlichen Gründen (pazifistischen und finanziellen) dagegen waren und die konfessionellen Parteien mehrheitlich dafür. Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, ausführlich auf die jahrelangen politischen Diskussionen über die Verteidigungspolitik einzugehen. Wichtig an dieser Stelle ist die Tatsache, dass das Flottengesetz von der Zweiten Kammer abgelehnt wurde, weil – neben der Opposition – auch eine Reihe von RKSP-Parlamentariern dagegen stimmten, die damit die eigene RKSP/ARP/CHU-Regierung in eine tiefe Krise stürzten. Das Resultat dieser Regierungskrise war charakteristisch für die politischen Verhältnisse in den 1920er Jahren: Es war von Anfang an klar, dass es keine Alternative zur Zusammenarbeit zwischen den drei konfessionellen Parteien gab und dass es – gemäß dem Ausspruch des ARP-Spitzenmannes und späteren Ministerpräsidenten Colijn (1925–1926, 1933–1939) – darum ging, „die drei Ferkel wieder zusammen in einen Stall zu bekommen“.17 Nach vielen politischen Beratungen und gut zwei Monate später wurde die Krise durch die Weigerung Königin Wilhelminas, die Entlassung 16 Jan J. Woltjer, Recent verleden. De geschiedenis van Nederland in de twintigste eeuw, Amsterdam 1992, S. 83. 17 Oud/Bosmans 1990, S. 243.

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des Kabinetts zu akzeptieren, beendet. So regierte das gleiche Kabinett weiter, und das Flottengesetz wurde ad acta gelegt.18 Dieser politische Immobilismus ist auch an Hand der politischen Debatte über die Organisation der Wirtschaft zu verdeutlichen. Vergeblich versuchte die sozialdemokratische Parteiführung Anfang der 1920er Jahre auf diesem Gebiet Profil zu zeigen. Die Sozialdemokraten hatten an das allgemeine Wahlrecht hohe Erwartungen geknüpft, aber die Wahlergebnisse seit 1918 waren enttäuschend gewesen (ca. 22%), und es stellte sich die Frage, ob und wie sich der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus im parlamentarischen System realisieren ließe. 1919 erschien der Bericht Het socialisatievraagstuk (Die Verstaatlichungsfrage), in dem auf sachliche Art und Weise für die Verstaatlichung der Produktionsmittel plädiert wurde. Das Profitstreben des Kapitalismus sei nicht nur ungerecht, sondern auch verschwenderisch, ineffizient und für das Gemeinwesen schädlich. Um damit kurzen Prozess zu machen, solle jede Branche (Bergbau, verschiedene industrielle Sektoren, Gütertransport, Landwirtschaft, Gartenbau usw.) von einem Betriebsrat geführt werden, dem Vertreter der betreffenden Berufe, von Verbrauchern sowie Vertreter des Gemeinwesens (des Staates) angehören sollten. An der Spitze aller Betriebsräte solle als überwölbendes Organ ein aus einer Dreiparteien-Koalition zusammengesetzter Algemene Economische Raad (Allgemeiner Wirtschaftsrat) unter dem Vorsitz des Industrieministers eingesetzt werden. Charakteristisch für den Bericht war die zentrale Rolle, die Technikern, Ingenieuren und gut ausgebildeten Berufstätigen zuerkannt wurde: Sie seien es, die in den Betriebsräten den Ton angeben und die „machbare Gesellschaft“ verkörpern sollten. Dabei stehe nicht der Gedanke im Vordergrund, dass die Arbeiter ihre „eigene“ Fabrik verwalten und organisieren sollten, vielmehr gehöre die Fabrik dem Gemeinwesen. Nicht Demokratie und Mitbestimmung der Arbeiter stünden im Mittelpunkt, sondern die Zweckmäßigkeit und die Rationalisierung der Produktion.19 So sachlich der Text im Ton war, so utopisch war er in seiner Skizzierung der zukünftigen egalitären Gesellschaft. Er warf Fragen nach ihrer Verwirklichung und nach der Positionierung der SDAP in der parlamentarischen Demokratie auf. Nicht, dass in der Partei die Revolution gepredigt wurde – der 18 Vgl. hierzu ausführlich Henri J. G. Beunders, „Weg met de Vlootwet!“ De maritieme bewa­peningspolitiek van het kabinet-Ruys de Beerenbrouck en het succesvolle verzet daartegen in 1923, Bergen 1984; zu den politischen Verwicklungen siehe Cees Fasseur, Wilhelmina. Krijgshaftig in een vormeloze jas, Amsterdam 2001, S. 168 ff. 19 Vgl. Ernst H. Kossmann, De lage landen 1780/1980. Twee eeuwen Nederland en België. Deel II: 1914–1980, Amsterdam 1986, S. 70.

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„Irrtum“ Troelstras hatte gezeigt, wie wenig Unterstützung es hierfür gab –, aber wie verhielt sich die angestrebte Wirtschaftsordnung zum existierenden parlamentarisch-politischen System? Es war deutlich, dass das Betriebsratssystem korporative Züge aufwies, und das führte zur Frage der Position des Parlaments. Schon bald entstand Uneinigkeit in der Partei: Manche wollten an den Grundsätzen der repräsentativen Demokratie nicht rütteln, andere steuerten auf eine Art sozialistischen Korporatismus zu, der für das Parlament nur eine begrenzte Funktion vorsah. Eine Parteikommission, die sich ab 1920 mit diesem Problem beschäftigte, trennte sich nach drei Jahren wieder, ohne einen Konsens gefunden zu haben.20 So ergebnislos, wie diese Diskussion verlief, so gering waren auch die Auswirkungen des Verstaatlichungsberichts selbst. „Er ist niemals ernsthaft diskutiert worden und hat keinerlei Auswirkung gehabt“, urteilt der Historiker Ernst Kossmann.21 Das lag nicht nur an dem Umstand, dass die SDAP auf nationaler Ebene isoliert war, und dass die übrigen Parteien die Verstaatlichung ablehnten, vielmehr riefen solche Pläne – 1923 ergänzt durch den Bericht Bedrijfsorganisatie en medezeggenschap (Betriebsorganisation und Mitbestimmung) – auch in der Partei selbst kaum Begeisterung hervor. Erst in der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre sollte die SDAP mit ihrem Plan van de Arbeid (Plan für die Arbeit) auf sozioökonomischem Gebiet mit Vorschlägen aufwarten, die Partei und Gewerkschaften mobilisierten. Bis zu diesem Zeitpunkt indes ließ sich die Parteibasis eher durch Antimilitarismus inspirieren, und das Anpeilen einer nationalen und internationalen Entwaffnung wurde zu einem der wichtigsten Programmpunkte der SDAP. Während die Sozialdemokraten die Überwindung von Klassengegensätzen und eine zentrale Rolle für den Staat im ökonomischen Leben anstrebten, spielte sich in katholischen Kreisen das Nachdenken über die richtige sozioökonomische Ordnung im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips ab. Ziel war nicht das Ende der Klassengesellschaft, sondern die Kooperation von Kapital und Arbeit in einem korporativen System, in dem der Staat lediglich die Aufgaben erledigen müsste, die untergeordnete Einheiten nicht würden ausführen können. In der von Katholiken angestrebten Unternehmensorganisation ging es daher auch in erster Linie um das Zusammenbringen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und um die Dezentralisierung von Befugnissen auf sozioökonomischem Gebiet. Über die Frage, wie diese Kooperation Form annehmen 20 Vgl. Peter Jan Knegtmans, De jaren 1919–1946, in: Maarten Brinkman u.a. (Hg.), Honderd jaar sociaal-democratie in Nederland 1894–1994, Amsterdam 1994, S. 72; siehe auch: Piet de Rooy, De rode droom. Een eeuw sociaal-democratie in Nederland, Nijmegen 1995, S. 36. ff. 21 Kossmann 1986, S. 70.

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und welche Verantwortung die Arbeitnehmer tragen sollten, gingen jedoch die Meinungen erheblich auseinander. Katholische Arbeitgeber hatten wenig für die Vorstellung übrig, Entscheidungsbefugnisse an Betriebsräte abzutreten, in denen Arbeitnehmer eine Machtposition aufbauen konnten. Also blieben die angestrebte Verbindung von Kapital und Arbeit sowie die Verwirklichung einer korporativ ausgerichteten Betriebsorganisation in einer Unmenge von Plänen auf dem Papier stecken. Hierzu trug auch bei, dass sich die Protestanten nicht wirklich für dieses katholische Gedankengut erwärmen konnten, wodurch auch die Konfessionellen untereinander gespalten blieben. Folglich kann es dann auch nicht verwundern, dass die von der Regierung 1920 eingesetzte Staatskommission, die Pläne für die Wirtschaftsordnung in öffentlich-rechtlichen Betriebsorganisationen vorbereiten sollte, keine konsistenten Empfehlungen lieferte. Der Abschlussbericht erschien erst 1927 und enthielt kaum mehr als eine Darstellung der divergierenden Standpunkte.22 Die ergebnislose Diskussion über Verstaatlichung und Betriebsorganisation ist charakteristisch für die politische Unbeweglichkeit und den Mangel an Durchsetzungsfähigkeit dieser Jahre. Sie lässt sich aus der versäulten politischen Kultur erklären. Die verschiedenen Säulen grenzten sich mit Hilfe hochtrabender Texte voneinander ab und betrachteten diese als für die eigene Identität grundlegend, aber niemand verfügte über genügend politische Kraft, das eigene Ideengut umzusetzen. Dennoch machten diese Übungen auch ohne praktisches Ergebnis die Trennungslinien sichtbar, die zwar noch nicht den Gegensatz zwischen Christen und Nicht-Christen aufhoben, diese jedoch durchaus über kurz oder lang schwächten. So weit Sozialdemokraten und Katholiken auch auseinander lagen, im Denken über Betriebsorganisation und staatliches Eingreifen in die sozioökonomischen Beziehungen gab es immerhin Übereinstimmungen, die in den 1930er Jahren eine Annäherung möglich machten. Dies galt auch für Protestanten und Liberale, die eine Vorliebe für das freie Spiel der Wirtschaftskräfte miteinander teilten. In Zeiten wirtschaftlicher Prosperität, wie es die 1920er Jahre waren, stellte der Mangel an politischer Schlagkraft kein allzu großes Problem dar, aber während der großen Depression der 1930er Jahre änderte sich dies. Die Wirtschaftskrise traf die Niederlande hart. Der Tiefpunkt wurde mit insgesamt rund 600.000 Arbeitslosen (ca. 20% der Erwerbstätigen) erst im Winter 1935/36 erreicht. Auch viele, die noch über einen Arbeitsplatz verfügten, waren vom Sinken der Kaufkraft betroffen, und vor allem in der Landwirtschaft war die Lage bereits in den frühen 1930er Jahren äußerst dramatisch. So kann es nicht erstaunen, dass gerade in jenen Jahren die latent vorhandenen 22 Vgl. Bosmans in: Boogman u.a. 1988, S. 426 ff.

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Krisensymptome des demokratischen Systems sichtbar wurden und sich in der Bevölkerung Unzufriedenheit breit machte. Mangel an Entschlusskraft in Parlament und Regierung sowie das Fehlen einer durchgreifenden Krisenpolitik ließen auch in den Niederlanden den Wunsch nach einer starken Hand zunehmen, nach jemandem, der nicht mutlos abwartete, sondern eine tatkräftige Politik versprach. Zwar bedeutete dies nicht, dass die Demokratie in den Niederlanden tatsächlich in die Gefahrenzone rutschte, aber sie geriet doch unter Druck.

3.  „Kleine“ und „Große“ Krise der Demokratie Der Historiker de Jonge hat für die Entwicklung der europäischen Zwischenkriegszeit die ebenso simple wie brauchbare Unterscheidung zwischen einer „kleinen Krise“ und einer „großen Krise“ der Demokratie getroffen. Unter einer „kleinen Krise“ hat man das Unbehagen über die langsame Entschlussfassung, über die mühsame Koalitionsbildung und in den Krisenjahren vor allem über das Nichtvorhandensein einer schlagkräftigen Wirtschaftspolitik zu verstehen. Diese „kleine Krise“ betrifft also in erster Linie das Funktionieren der staatlichen Einrichtungen, berührt aber nicht die ideellen Grundlagen des Systems. In einer „kleinen Krise“ der Demokratie gerät das demokratische System also in die Defensive, ohne jedoch in eine linke oder rechte Diktatur abzugleiten. Allerdings kann in einer „kleinen Krise“ das Verlangen nach einem „starken Mann“ wach oder der Ruf nach Systemveränderungen laut werden – beides Angriffe auf die Demokratie. Daher ist der Übergang zur „großen Krise“ fließend. Diese Krise hat ihre antiliberalen und antidemokratischen Wurzeln im 19. Jahrhundert und manifestiert sich in Massenbewegungen, die sich nach der Einheit des Volkes unter einem charismatischen Führer sehnen. In einer „großen Krise“ gehen Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger zugrunde, mit der ideellen Grundlage der Demokratie wird gewalttätig abgerechnet, und es findet ein Übergang zu einem faschistischen oder nationalsozialistischen System statt.23 Den Niederlanden blieb eine „große Krise“ der Demokratie erspart, aber sie wiesen viele Merkmale der „kleinen Krise“ auf. Bereits seit den frühen 1920er Jahren hatte sich ein Teil der Bevölkerung, wie der Historiker Koen Vossen 23 Vgl. Anthonius A. de Jonge, Crisis en critiek der democratie. Anti-democratische stromingen en de daarin levende denkbeelden over de staat in Nederland tussen de wereldoorlogen, Utrecht 1982, S. 6 ff. Auch in jüngerer Literatur wird auf diese Unterscheidung zurückgegriffen: siehe u.a. Vossen 2003, S. 169.

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in seiner Untersuchung über kleine Parteien in den 1920er und 1930er Jahren überzeugend dargestellt hat, enttäuscht vom kurz zuvor vollendeten demokratischen System abgewandt. Dabei handelte es sich nicht um eine Massenbewegung, sondern um eine bunte Gesellschaft linker und rechter politischer Abenteurer, die sich vom demokratischen System distanzierten und politische Parteien gründeten, die oft ebenso rasch wieder verschwanden wie sie aufkamen. Sie besaßen keine ernsthafte politische Bedeutung, vielmehr waren sie ein Seismograf für die Unzufriedenheit der Bevölkerung: Diese war enttäuscht vom Verhalten der politischen Elite, die wenig zustande zu bringen und sich darüber hinaus wenig um das Schicksal derjenigen zu kümmern schien, die gesellschaftlich und wirtschaftlich benachteiligt waren. Andere sehnten sich zurück nach den vornehmen Wahlvereinigungen des 19. Jahrhunderts, als die Politiker noch nicht „Spielball der Massenparteien“ waren, sondern durch eigene Autorität dem Allgemeininteresse dienten. Manche plädierten für eine Wiedereinführung des eingeschränkten Wahlrechts, eine kleine Gruppe orthodoxer Protestanten strebte einen theokratischen Staat an, linke Splittergruppen setzten ihre Hoffnung auf die Diktatur des Proletariats, und auf der extrem rechten Seite machten sich einige faschistische Gruppierungen bemerkbar.24 Das Unbehagen über die Funktionsweise des demokratischen Systems äußerte sich nicht nur in einem Wirrwarr kleiner antidemokratischer Klubs und Parteien, es trat auch in den großen Parteien auf. Für die Katholiken, die vor allem um die Stärkung ihrer eigenen Säule bemüht waren, war das Neutralisieren innerer Gegensätze von vitaler Bedeutung, was auch eine gewisse Farblosigkeit mit sich brachte. Hinzu kam, dass sich die Katholiken in den 1920er Jahren noch mitten in der eigentlichen Gründungsphase einer landesweiten politischen Partei befanden: Erst 1926 wurde der föderale Algemene Bond van Roomsch-Katholieke Kiesverenigingen in den Niederlanden aufgehoben und die Rooms-Katholieke Staatspartij (RKSP) gegründet, wobei unterschiedliche Strömungen und Interessen auf einen Nenner gebracht werden mussten.25 Eine kleine Gruppe rechter Katholiken distanzierte sich nicht nur von der RKSP, sondern auch von der Demokratie und dem parlamentarischen System. Hierzu gehörten einige junge Schriftsteller, die ihre Hoffnung auf das Führerprinzip, die Monarchie und den Korporatismus setzten. Auf den Kurs der Partei hatten sie keinen Einfluss, und so blieb die RKSP der 24 Vgl. ausführlich Vossen 2003, passim. 25 Vgl. ausführlich Johannes A. Bornewasser, Katholieke Volkspartij 1945-1980, Bd. 1: Herkomst en groei, Nijmegen 1995, S. 35 ff. Einen guten Eindruck der katholischen Niederlande jener Jahre vermittelt Rolf Schuursma, Jaren van opgang. Nederland 1900–1930, Amsterdam 2000, S. 121–140.

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parlamentarischen Demokratie treu. Dennoch kann der Partei eine gewisse Sympathie für rechtsautoritäre Vorstellungen nicht abgesprochen werden, und sie hegte große Wertschätzung für korporatives Gedankengut. Im offiziellen Parteiorgan wurde 1934 das korporatistische Grundgesetz Österreichs positiv kommentiert, und Anfang 1940 wurde über das autoritär regierte Portugal berichtet, das Staatssystem dieses Landes entspreche am reinsten den Idealen der niederländischen Katholiken. Typisch ist hier die Position von C.P.M. Romme, einem noch jungen politischen Talent, der nach dem Krieg über einen langen Zeitraum hinweg Parteiführer werden sollte. Katholische Politik, so Romme, habe auf eine organisch geordnete, korporative Gesellschaft abzuzielen, in der die politischen Parteien und das Parlament keine herausragende Rolle mehr spielten sollten. Der Weg dorthin sollte jedoch in demokratischen Bahnen verlaufen, und dazu sei die politische Partei RKSP ein unverzichtbares Machtinstrument.26 Romme plädierte in den 1930er Jahren auch wiederholt für ein System mit einer gestärkten Monarchie, in der der König eine tatsächliche Führungsrolle spielen und sich auch gegen die Mehrheit im Parlament durchsetzen können sollte.27 Orthodox-protestantischen Kreisen waren autoritäre Ideen ebenfalls nicht fremd, und es war vor allem Hendrikus Colijn (1869–1944), der dieses Denken verkörperte. Colijn führte die ARP seit den frühen 1920er Jahren, nachdem er als junger Mann im niederländisch-ostindischen Heer gedient hatte, Kriegsminister gewesen war (1911–1913) und Karriere bei der Bataafse Petroleum Maatschappij und der Koninklijke Shell gemacht hatte.28 Als Finanzminister (1923–1925) hatte er eine harte Sparpolitik betrieben. Die erste Regierung unter seiner Führung (1925–1926) war über die Frage der niederländischen Gesandtschaft beim Vatikan gestürzt (siehe oben). Aus diesen Jahren stammt das Wahlplakat „’s Lands stuurman“ (Der Steuermann des Landes), auf dem Colijn mit Südwester und in wetterfester Seemannskluft am Steuer des Staatsschiffes Kurs hält. Autorität, Macht, Tatkraft und Geschicklichkeit, das waren die Eigenschaften, die Colijn ausstrahlte und die er in den 1930er Jahren als „starker Mann“ ganz bewusst kultivierte. Seine Anhänger verehrten ihn als „Schiffer nebst Gott“, womit das Steuermannsmotiv aus den 1920er Jahren und

26 Vgl. zu Romme ausführlich: Jac Bosmans, Romme. Biografie 1896–1946, Utrecht 1991; über den Korporatismus: S. 243 ff. 27 Vgl. Kossmann 1986, S. 74. 28 Herman Langeveld, Colijn. Dit leven van krachtig handelen. Hendrikus Colijn 18691944, Deel I: 1869–1933, Amsterdam 1998, S. 143 ff.

126

Friso Wielenga Abbildung 4: Wahlplakat (1925), Hendrikus Colijn (1869–1944)

Quelle: Historisch Documentatiecentrum voor het Nederlands Protestantisme (1800-heden), Amsterdam.

das dazugehörige Image ihre Vollendung gefunden hatten.29 Zwar bewegte sich Colijn in den Grenzen des demokratischen Systems, aber er hegte anfänglich Sympathien für bestimmte Aspekte des Faschismus, wie beispielsweise die starke Führerschaft und die Stärkung der Exekutive. Vorsichtig und zurückhaltend, aber gleichzeitig mit einem deutlich positiven Unterton, schrieb er über den organischen Gedanken in der italienischen korporativen Staatsidee; dieser enthalte Elemente, die für die Antirevolutionären „attraktiv“ seien. Dass er dabei bereit war, weiter in antidemokratische Richtung zu denken, zeigt sich in seiner These, die Antirevolutionären hätten nie zu den Befürwortern des individualistischen Wahlrechts gehört und das damit verbundene liberale System habe „seine beste Zeit“ hinter sich.30 Darüber hinaus beschrieb Colijn Mussolini 1932 als einen „vernünftigen Mann“. Wie sehr ihn der italienische Diktator faszinierte, zeigte sich auch 1933, als er einem Freund anvertraute: „Weißt du, dass eine kompetente Person mir gesagt 29 Charakteristisch ist, dass Herman Langeveld dem zweiten Teil seiner Colijn-Biografie gerade diesen Titel gab: Schipper naast God. Hendrikus Colijn 1869–1944, Deel II: 1933–1944, Amsterdam 2004. 30 Zit. bei Langeveld 2004, S. 27.

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hat, dass ich, wenn ich mich dafür zur Verfügung stellte, eine Mussolini-Rolle spielen könnte.“31 Ein Faschist war Colijn damit sicherlich nicht, und er unternahm auch keine Versuche, die Niederlande tatsächlich in ein undemokratisches Fahrwasser zu lenken. Allerdings war er, wie es sein Biograf Herman Langeveld ausdrückt, empfänglich für antidemokratische Versuchungen. Er war zutiefst davon überzeugt, dass das parlamentarische System korrigiert und dass der Einfluss des Volkes reduziert werden müsse, aber dies sollte doch von den bestehenden politischen Parteien mit Hilfe des vorhandenen Systems realisiert werden. Vom deutschen Nationalsozialismus grenzte er sich deutlicher ab als vom italienischen Faschismus. Zwar fand die politische Ausschaltung von Kommunisten und Sozialisten in Deutschland seine Zustimmung, aber Antisemitismus lehnte er klar und grundsätzlich ab. So gehörte Colijns Denken zu dem, was bereits als „kleine Krise“ der Demokratie beschrieben worden ist. Seine Wahlerfolge in den 1930er Jahren und seine Popularität als „starker Mann“ vor allem bei den Protestanten und den Liberalen zeigen, dass das Unbehagen wegen der Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie in den 1930er Jahren weite Kreise erfasst hatte.32 Auch tonangebende liberale und neutrale Zeitungen, wie Algemeen Handelsblad, Nieuwe Rotterdamse Courant und De Telegraaf, transportierten das Bild von Colijn als dem starken Steuermann, der das niederländische Staatsschiff mit fester Hand in sicherere Fahrwasser lotste.33 In diesen unsicheren Jahren der Wirtschaftsdepression, der wachsenden internationalen Bedrohung und des aufkommenden Extremismus bot der selbstsichere Colijn Halt, auch außerhalb seiner ARP-Anhängerschaft. Dieses autoritäre Denken in konfessionellen Kreisen blieb zwar innerhalb der Grenzen der parlamentarischen Demokratie, aber es verdeutlichte gleichzeitig, dass das liberal-demokratische Gedankengut bei vielen nicht sehr weit reichte. In der Zwischenkriegszeit überwog in weiten Kreisen eine konservative Mentalität, in der Begriffe wie Ordnung, Machterhalt und Autorität ganz selbstverständlich einen wichtigen Platz einnahmen. Zu Beginn der 1930er Jahre trat diese Mentalität stärker in den Vordergrund als in den 1920er Jahren, was sich aus der Wirtschaftskrise, aus der Angst vor linkem Radikalismus und aus der Erkenntnis erklären lässt,

31 Ebd., S. 46. 32 Die Stammwählerschaft der ARP umfasste etwa 11% der Stimmen. Bei den Wahlen des Jahres 1937 erzielte Colijns Partei 16,5%. Angesichts des hohen Maßes an Wählertreue im versäulten System war dies ein bemerkenswertes Ergebnis, das darauf hindeutet, dass Colijn es verstand, auch außerhalb seiner eigenen Kreise Wähler anzuwerben. 33 Vgl. Langeveld 2004, S. 600.

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dass andernorts in Europa politische und wirtschaftliche Krisen zu Unruhen und Umwälzungen geführt hatten. Unter den Gruppierungen und kleinen Parteien, die sich gegen das demokratische System wandten, war die 1931 gegründete Nationaal Socialistische Beweging zweifellos die stärkste. Für den Mitgründer und Parteiführer Anton Mussert war Mussolini das große Vorbild, und es war das Ziel der NSB, eine niederländische nationale Einheit zu schaffen, wie Mussolini dies in Italien getan hatte. Musserts Bewegung war in den Niederlanden nicht die erste und auch nicht die einzige faschistische Partei. Bereits in den 1920er Jahren hatte es kleine Gruppierungen ähnlichen Zuschnitts gegeben, und auch in den 1930er Jahren kamen einige faschistische Splitterparteien auf, die – zum Teil unter dem gleichen Namen – neben der Demokratie vor allem sich gegenseitig bekämpften. Die NSB versuchte, sich aus diesem rechtsextremistischen Kampfgetümmel herauszuhalten und sich als anständige Partei besorgter und respektabler Bürger zu präsentieren. Mussert war als Ingenieur beim Provinciale Waterstaat (Provinz-Wasserwirtschaftsamt) in Utrecht tätig, und auch andere Führungsleute der Partei konnten auf ordentliche Karrieren in Gesellschaft und Politik zurückblicken. Der Historiker Loe de Jong beschrieb Mussert als einen „typischen niederländischen Kleinbürger“: Gediegen, mit Sinn für Ordnung, Vorschriften und Autorität. Kein Abenteurer, sondern jemand, der einen tüchtigen Eindruck machen wollte, der kein großer Redner war und oft eine „forcierte Entschlossenheit“ an den Tag legte.34 Das politische Profil der NSB war in den ersten Jahren noch nicht sehr ausgeprägt, und gerade das erklärt den relativ großen Erfolg der Mussertschen Gruppierung in den Jahren 1931–1935. Hinsichtlich des Programms seiner Bewegung orientierte sich Mussert zwar an der Deutschen NSDAP, aber antisemitisch war die NSB in jenen Jahren noch nicht. Auch war die Partei in der Anfangszeit noch nicht nach dem Führerprinzip organisiert. Als „Grundsatz“ formulierte Mussert die Notwendigkeit „einer starken Staatsführung, Selbstachtung der Nation, Zucht, Ordnung, Solidarität aller Bevölkerungsklassen und des Vorrangs des allgemeinen (nationalen)

34 Loe de Jong, Koninkrijk der Nederlanden in de Tweede Wereldoorlog, Deel I: Voorspel, Den Haag 1969, S. 263–265. Vgl. zu Mussert auch: Jan Meyers, Mussert. Een politiek leven, Soesterberg 2005; Christoph Strupp, Der verachtete Führer: Anton Adriaan Mussert und die unliebsame Rechte in der niederländischen Historiographie, in: Georg C. Berger Waldenegg/Francisca Loetz (Hg.), Führer der extremen Rechten. Das schwierige Verhältnis der Nachkriegsgeschichtsschreibung zu „großen Männern“ der eigenen Vergangenheit, Zürich 2006, S. 161 ff.

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Interesses vor dem Gruppeninteresse und des Gruppeninteresses vor dem persönlichen Interesse.“35 Musserts NSB war in erster Linie eine Bewegung, die aus Frustration über die politische und gesellschaftliche Spaltung nach einer erneuerten, starken nationalen Identität strebte, in der das Königshaus, die Nationalfahne und das Nationalwappen als „unantastbare Symbole für die Einheit der Nation“ standen. Er machte sich zum Wortführer der Kritik am politischen „Geschrei“ der Parteien und dem Perspektivenmangel des bestehenden parlamentarischen Systems. Damit gab er dem Unbehagen an der „kleinen Krise“ der Demokratie eine Richtung, ohne dabei eine vulgäre, gewalttätige oder revolutionäre Sprache zu verwenden. So appellierte Mussert an die Erkenntnis, dass die Niederlande sich nicht nur in einer politischen und wirtschaftlichen, sondern auch in einer mentalen Krise befänden. Nicht, dass er einen eigenen Weg aus der Krise zu bieten hatte, aber der Stil und die Organisation der NSB – Uniformen, Fahnenparaden, Umzüge, straff organisierte Landestagungen mit Tausenden von Besuchern und vielen Äußerlichkeiten – beeindruckten und demonstrierten Kraft, während das bestehende System nur Schwäche und Entschlussunfähigkeit zu signalisieren schien. Gerade Musserts kleinbürgerliche, anständige Ausstrahlung in Kombination mit einem vagen politischen Profil einerseits und einem beachtlichen Organisationstalent andererseits machten es möglich, dass die NSB anfangs erhebliche Zuwächse zu verzeichnen hatte und eine vielschichtige Öffentlichkeit anzog. Unter enttäuschten Liberalen, Mittelständlern, bürgerlichen Jugendlichen, verarmten Bauern, aber auch in wohlhabenden Gemeinden wie Wassenaar und Bloemendaal verstand es Mussert, Popularität zu gewinnen. Sogar die disziplinierende Wirkung der Säulen schien zu Anfang ins Schwanken zu geraten, denn auch unter Katholiken, Protestanten und Sozialdemokraten fand die NSB Unterstützung. Für die einen bot sie die Perspektive der Wiederherstellung von Ordnung, Autorität und nationaler Einheit, den anderen gaben das Marschieren und die Äußerlichkeiten eine neue Identität, für wiederum andere war die Entscheidung für die NSB schlichtweg ein Ausdruck des Protests in einer Zeit, in der die Wirtschaftskrise hart zuschlug. Der Vormarsch der NSB begann 1933. Im Januar dieses Jahres zählte die Partei rund 1000 Mitglieder, Ende 1933 war die Mitgliederzahl auf ca. 20.000 gestiegen, und im April 1935 betrug sie gut 36.000. Kurz darauf erzielte die Partei ihren größten Erfolg mit 7,9% der Stimmen bei den Wahlen zu den Provinzialstaaten. Zwei Jahre später, bei den Wahlen zur Zweiten Kammer des niederländischen Parlaments, war dieser Prozentsatz fast um 35 de Jong 1969, Deel I, S. 259; vgl. zur NSB auch Vossen 2003, S. 163 ff.

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die Hälfte gesunken (4,2%), und die NSB hatte ihren Zenit bereits überschritten. Bei den Provinzialstaatswahlen des Jahres 1939 war das Ergebnis ähnlich (3,9%), und auch die Mitgliederzahl sank in den späten 1930er Jahren. Nach dem Höchststand von rund 55.000 Personen, die der Bewegung im Jahr 1936 angehörten, setzte ein Rückgang ein, und Anfang 1940 zählte die NSB nur noch rund 31.000 Mitglieder. Charakteristisch für diese Entwicklung war darüber hinaus die erhebliche Fluktuation unter den Mitgliedern. Ca. 60.000 Personen hatten der Bewegung in den 1930er Jahren für kürzere oder längere Zeit angehört, aber sie hatten sich wieder von der Bewegung abgewandt. Zeitgleich mit dieser Fluktuation und dem Rückgang der Mitgliederzahl veränderte sich auch der Charakter der NSB. Das bürgerlichanständige Element wurde abgeschwächt, die Partei wurde militanter und radikaler. Seit 1935 waren Parteimitglieder zunehmend in Krawalle und Straßenschlägereien verwickelt, und auch der Ton der Parteizeitung Volk en Vaderland wurde aggressiver. Mussolinis Überfall auf Abessinien im Oktober 1935 unterstützte man, und ab 1936 wurde auch die nationalsozialistische Rassenlehre offen gutgeheißen. Die Zurückhaltung der frühen 1930er Jahre in Bezug auf Hitlers NSDAP verschwand völlig und wich einer großen Bewunderung. Die Folge war, dass sich die Partei zunehmend selbst isolierte. Zur Schwächung der NSB trug auch die zunehmende Bekämpfung der Partei durch demokratische Kräfte bei. Der Anstoß zu dieser Wachsamkeit kam in den frühen 1930er Jahren von Seiten der Sozialdemokraten und des Gewerkschaftsbundes NVV, die bereits 1933 ein Büro zur Bekämpfung von Kommunismus und Faschismus gegründet hatten, das ein eigenes Massenblatt – Vrijheid, Arbeid, Brood – herausgab, in dem auch die NSB hart angegriffen wurde. Eine zweite Etappe folgte Ende 1933, als die Regierung die NSB auf die Liste der für Beamte verbotenen Organisationen setzte. Der Kampf gegen die NSB nahm nach dem Wahlerfolg der Partei im Jahr 1935 noch zu: Im Juni war die politisch ungebundene Nederlandsche Beweging voor Eenheid door Democratie (kurz: Eenheid door Democratie, EDD) gegründet worden, in der vor allem Liberale unterschiedlicher Couleur und Sozialdemokraten aktiv waren. Diese Bewegung brachte es auf rund 30.000 Mitglieder und führte offensive Kampagnen (Massendemonstrationen, Wahlaufrufe wie „Wählt demokratisch!“) sowohl gegen den Faschismus und Nationalsozialismus als auch gegen den Kommunismus. Intellektuelle wie der Schriftsteller Menno ter Braak und der Historiker Jan Romein wehrten sich gegen diesen auch antikommunistischen Charakter der EDD und gründeten 1936 das Comité van Waakzaamheid (Wachsamkeitskomitee), das es allerdings nur auf 1.200 Mitglieder bringen sollte.

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Die katholischen Bischöfe, zutiefst erschrocken über das hohe NSB-Wahlergebnis bei den Wahlen zu den Provinzialstaaten im katholischen Limburg (11,7%), verfassten im Mai 1936 einen Hirtenbrief, aus dem eine deutliche Botschaft zu hören war: In allen katholischen Kirchen wurde ein Pastoralschreiben verlesen, in dem der Nationalsozialismus in klaren Worten abgelehnt und der Ausschluss von den heiligen Sakramenten für alle diejenigen angekündigt wurde, die die NSB unterstützten. Einige Monate später gaben verschiedene protestantische Kirchen ähnliche Erklärungen ab. Diese und andere disziplinierende Botschaften von der Spitze der katholischen und der protestantischen Säule trugen zweifellos zur weiteren Schwächung der NSB bei. Bei den Wahlen zur Zweiten Kammer im Jahre 1937 purzelte die NSB in Limburg von den oben genannten 11,7 auf 5,3% der Stimmen. Es muss also zur Erklärung des letztlich geringen Erfolges der NSB in den Niederlanden auch das versäulte politisch-gesellschaftliche System genannt werden. Die Einbettung der Bevölkerung in die unterschiedlichen Säulen immunisierte in hohem Maße gegen faschistisches und nationalsozialistisches Gedankengut. Schließlich kann die geringe Anziehungskraft der NSB auch durch die oben erwähnte Ausstrahlung von Ministerpräsident Colijn (1933–1939) erklärt werden, der – selbst ja autoritären politischen Auffassungen nicht abgeneigt – so manches Mitglied aus protestantischen und liberalen Kreisen davon abhielt, für die NSB zu stimmen.

4.  Schlussfolgerung In den 1920er und 1930er Jahren besaßen die Niederlande ein stabiles demokratisches System, in dem eine treue Wählerschaft in ihrem Wahlverhalten ein hohes Maß an Kontinuität an den Tag legte. Ein Vergleich der politischen Entwicklungen in den Niederlanden in der Zwischenkriegszeit mit denen in vielen anderen europäischen Ländern zeigt, dass die Niederlande eine Oase der Ruhe, Stabilität und Allmählichkeit waren. Bei näherer Betrachtung, so haben die obigen Ausführungen gezeigt, verbargen sich hinter dieser scheinbar vorbildlichen Demokratie allerdings eine große Zahl weltanschaulicher und ideologischer Gegensätze, die eine Zusammenarbeit sehr erschwerten. Anders gesagt: Nach dem Zustandekommen der „Befriedung“ von 1917 schien das Maximum an Gemeinsamkeit erreicht worden zu sein, und die Parteien verlegten sich in der Hauptsache auf die Gestaltung der Niederlande nach ihrem eigenen Modell, was vor allem Schutz und Stärkung der eigenen Säule bedeutete. Die

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politische Gestaltungskraft war folglich auf Regierungsebene eher gering. „Dies war keine Zeit der Erschaffung“, fasst der Historiker Ernst Kossmann zusammen, „sondern der Stabilisierung und Organisation.“36 Piet de Rooy weist darauf hin, dass die parlamentarische Demokratie „kaum Begeisterung hervorrief“ und oft als „eine Übergangsphase, als ein vorübergehender Aufenthalt“ betrachtet wurde, „den man zu nutzen hatte, um die Blaudrucke und Muster für eine zukünftige Gesellschaft zu entwerfen“.37 Das politische System war immun gegenüber politischen Bedrohungen von der extrem rechten und extrem linken Seite. Diese Immunität bedeutete jedoch keinesfalls Zufriedenheit mit der parlamentarischen Demokratie, die sich fast permanent in der Defensive befand. Die Folgen der „Befriedung“ überzeugten offensichtlich viele nicht. „Politik“, so drückt der Historiker Koen Vossen diese Enttäuschung aus, „schien … reduziert zu sein von dem heroischen, gemeinsamen Marsch in Richtung auf eine neue Zukunft auf die ‚Kunst des Erreichbaren’“. Als sich in den dreißiger Jahren darüber hinaus zeigte, dass die politischen Parteien kaum zu einer effektiven Krisenbekämpfung fähig waren, wuchs besonders unter den jungen Menschen die Sehnsucht nach Idealismus, Leidenschaft und einer inspirierenden Führerschaft.38 Der berühmte niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga schrieb 1934 in seinem bekannten Essay Nederland’s Geestesmerk: „Wir leben unter der schweren Decke eines vollkommen veralteten Parteiensystems, das durch den Fehlgriff des Verhältniswahlrechts versteinert ist. Faktisch funktioniert dieses Parteiensystem schon lange nicht mehr“.39 Solche Unzufriedenheit war, wie erläutert, weit verbreitet, und es gab sowohl in der RKSP als auch in der ARP Sympathie für autoritäre und korporative Staatsstrukturen. Dennoch blieben alle führenden Politiker innerhalb der Grenzen der parlamentarischen Demokratie und wollten deren Veränderung lediglich mit demokratisch legitimierten Mitteln erreichen. Betrachtet man das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie, dann war diese Unzufriedenheit auch nicht völlig unverständlich. Die schwierige Zusammenarbeit zwischen den konfessionellen Regierungsparteien in den zwanziger Jahren, die vielen Regierungskrisen, das Ausschließen der Sozialdemokraten von der Regierungsverantwortung durch die Konfessionellen bis zum Jahr 1939, die wenig effektive ökonomische Krisenpolitik der dreißiger Jahre – alles dies 36 Kossmann 1986, S. 67. 37 de Rooy 2002, S. 178 f. 38 Vossen 2003, S. 200. 39 Zitiert bei de Rooy 2007, S. 227. Vgl. ausführlich Christoph Strupp, Johan Huizinga. Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte, Göttingen 2000, S. 255 ff.

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sind jeder für sich Faktoren, die auf eine politische Unbeweglichkeit hindeuteten, mit der sich die existierende Demokratie als schwaches und wenig überzeugendes System präsentierte. Im vorliegenden Beitrag ist nicht grundsätzlich zwischen den zwanziger und den dreißiger Jahren unterschieden worden, und die Aussagen der oben zitierten Historiker gelten ohne Weiteres für beide Jahrzehnte. Obwohl von einer klaren Zäsur zwischen beiden Jahrzehnten nicht gesprochen werden kann, artikulierte sich doch unter dem Einfluss der Wirtschaftskrise die Demokratiekritik stärker. Handelte es sich in den zwanziger Jahren um ein Gefühl der Stagnation und des latenten Unbehagens, wurde die Unzufriedenheit in den dreißiger Jahren manifester, und bei vielen nahm die Kritik am versäulten „Kästchendenken“ und die damit zusammenhängende Erkenntnis der politischen Unbeweglichkeit zu. Solches Unbehagen blieb jedoch weithin in den Grenzen dessen, was oben als die „kleine Krise“ der Demokratie beschrieben worden ist. Je mehr während der 1930er Jahre die Abneigung gegen den Faschismus und den Nationalsozialismus in den Niederlanden zunahm und diese in wachsendem Maße als Bedrohung der niederländischen Selbständigkeit und Identität betrachtet wurden, desto stärker verringerte sich die direkte Kritik am parlamentarischen System. Auch wenn die Demokratie von vielen als unvollkommen empfunden wurde, zog man sie doch bei weitem den diktatorischen Systemen vor, die als „un-niederländisch“ zurückgewiesen wurden. Damit verlagerte sich das Unbehagen über die parlamentarische Demokratie auf eine Unzufriedenheit mit der Versäulung. Eine Gruppe von Erneuerern unterschiedlicher politischer Couleur kündigte sich an, die zum Teil aus der oben genannten Organisation Eenheid door Democratie stammten. Diese Erneuerer hofften, in der Überbrückung der versäulten Gegensätze und in gemeinsamen vaterländischen Traditionen eine Lösung für die Krisengefühle zu finden. Charakteristisch waren die so genannten „Volkseinheitskonferenzen“, die in den 1930er Jahren von verschiedenen Jugend- und Studentenorganisationen gemeinsam organisiert wurden. Der Wunsch, dem Nationalgedanken und der nationalen Zusammenarbeit eine konkrete Form zu verleihen, war im Jahr 1938 auch der Auslöser für die Gründung der Beweging versterking der Nederlandse Gemeenschap (Bewegung zur Stärkung der niederländischen Gemeinschaft) mit ihrer Zeitschrift Het Gemenebest. Volk, Einigkeit, Zusammengehörigkeit, Ordnung und Autorität waren dabei die Schlüsselwörter, die die geistige Erneuerung bringen und das Gefühl der Malaise beenden sollten.40 40 Zu den sog. Erneuerern der 1930er Jahre vgl. Wichert ten Have, De Nederlandse Unie. Aanpassing, vernieuwing en confrontatie in bezettingstijd 1940–1941, Amsterdam 1999, S. 60 ff.

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So vage diese Vorstellungen auch waren, sie sollten doch in den folgenden Jahren weiterhin das Denken über Erneuerung prägen. In der Nederlandse Unie (NU), die kurz nach dem deutschen Einmarsch 1940 gegründet wurde und in kurzer Zeit zu einer Massenbewegung werden sollte, sowie in der Nederlandse Volksbeweging (NVB), die im Befreiungsjahr 1945 antreten sollte, um den politisch-gesellschaftlichen Wiederaufbau in der Nachkriegszeit zu gestalten, herrschte ein vergleichbares Gedankengut vor. Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass in dem Unbehagen über die Funktionsweise der Demokratie in den 1930er Jahren nicht nur eine antidemokratische Verlockung lauerte, sondern auch ein auf breiter Ebene getragener Wunsch nach nationaler Einheit und dem Durchbrechen des versäulten Systems steckte. Das Streben in der Nachkriegszeit nach parteipolitischer Erneuerung sollte sowohl in der Demokratiekritik der 1930er Jahre als auch in der Erfahrung mit Unterdrückung und Diktatur der Jahre 1940–1945 seine Wurzeln finden.

DETLEF LEHNERT

Die unterschätzte Erste Republik Zur politischen Kultur der österreichischen Konkurrenzdemokratie in den 1920er Jahren

Eine weniger abgenutzte Version des Spottworts vom „Historiker als rückwärts gekehrter Prophet“ ist beim finnischen Wissenschaftstheoretiker Georg Henrik von Wright zu finden: „Die Verständlichkeit der Geschichte ist ein Determinismus ex post facto“.1 Der historisch belesene Jurist Jellinek hatte so die bekanntere These von der „normativen Kraft des Faktischen“ geprägt.2 Dies könnte für die Fach-Historie zum explikativen Schein der vollendeten Tatsachen umformuliert werden. Denn erst sie erwecken den Eindruck der inneren Folgerichtigkeit eines Geschehens. Dies bedeutet auf obigen Titel bezogen: Die österreichische Erste Republik wurde mit ihrem Beitrag zur europäischen Demokratiekultur der 1920er Jahre chronisch unterschätzt, weil ihr eine ständestaatliche und dann nationalsozialistische Diktatur nachfolgte. Ein anderes ironisches Stichwort nennt Definitionsarbeit am Begriff der politischen Kultur den Versuch, „einen Pudding an die Wand zu nageln“.3 Deshalb soll eingangs der Hinweis genügen, dass historische politische Kulturforschung hier im Sinne der Studien von Karl Rohe gemeint ist. Für seine These eines „Dreilagersystems“ vom Kaiserreich bis zur NS-Herrschaft, bestehend aus der „nationalen“ Sammlung sowie den katholischen und sozialistischen Gegenkräften, bemüht Rohe zwei Kronzeugen: datentechnisch orientierte Wahlforschung und punktuelle Anleihen beim österreichischen Lagerkonzept von Adam Wandruszka.4 Dieser hatte 1954 die Gliederung in „drei große Lager“ des „christlichsozial-konservativen, des sozialistischen und des nationa1 Georg Henrik von Wright, Erklären und Verstehen, Frankfurt a.M. 1974, S. 145. 2 Im Hinblick auf politische Normativität in der faktischen Etablierung des englischen Parlamentarismus: Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1914, S. 342. 3 Max Kaase, Sinn oder Unsinn des Konzepts „Politische Kultur“ für die Vergleichende Politikforschung. Oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln, in: Ders./Hans-Dieter Klingemann (Hg.), Wahlen und politisches System – Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1980, Opladen 1983, S. 144–171.  4 Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, Frankfurt a.M. 1992, S. 57 sowie 92 u. 140 (zum Lagersystem), 21 (zu Wandruszka).

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len“ Bekenntnisses mit dem Zusatz firmiert, „dass man mit Recht von einer ‚natur- oder gottgewollten Dreiteilung Österreichs‘ sprechen konnte“.5 Mit dieser Konstruktion wollte der Autor seinem eigenen nationalen Standpunkt, der aus der NS-Zeit diskreditiert war, eine historische Legitimation neben dem „roten“ und „schwarzen“ Lager verschaffen. Auch wenn es aus heutiger Sicht diverse Alternativen zum ursprünglichen Lagerkonzept gibt, hatte er damit weithin Erfolg.6 Denn zum einen waren in akademischen Kreisen deutschnationale Vorstellungen gegenüber katholischen und sozialistischen in vielen Generationen überrepräsentiert. Zum anderen wurde von außen her betrachtet mit Österreich eher Antithetisches zur modernen Demokratiekultur verbunden: von der Gegenreformation über Metternich und Habsburg, dem politischen Antisemitismus von Lueger und Schönerer zu Hitler, bis hin zum Stände- und schließlich dem großkoalitionären Verbände-Staat. Noch der Rechtspopulismus Haiders nährte sich zunächst aus polemischer Frontstellung gegen innere Aufteilung in eine jeweils fest gefügte „rote und schwarze Reichshälfte“.

1.  Der Mythos des österreichischen Dreilager-Systems Allerdings lässt bei näherer Betrachtung gerade die österreichische Konfiguration der Wahldaten und der Lagerformierung in den 20er Jahren nur wenig von einem dritten „großen Lager“ nach Terminologie Wandruszkas erkennen. Daraus folgt geradewegs ein Rohe-Paradoxon: Sein „Dreilager-System“, über das sich für Deutschland immerhin noch historisch-empirisch gehaltvoll streiten lässt7, war ausgerechnet für das stichwortprägende Herkunftsland wesentlich nur eine Ex-Post-Facto-Konstruktion zu politischen Zwecken. Im Nationalrat von 1920 ließ sich mit gut 10 % Großdeutschen vielleicht noch ein Zweieinhalb-Parteien-System ausmachen. Doch schon 1923 war diese sog. 5 Adam Wandruszka, Österreichs politische Struktur, in: Heinrich Benedikt (Hg.), Geschichte der Republik Österreich, Wien 1977, S. 291 f. 6 Vgl. Detlef Lehnert, Politisch-kulturelle Integrationsmilieus in einer polarisierten Massengesellschaft, in: Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933, Wien 1995, S. 431–443. 7 Die Alternative kann z.B. in einer Deutung des Sammlungserfolgs der NSDAP gerade aus einer – mit dem ans Bismarcksche „Reichsfreunde“-Konzept erinnernden Oberbegriff „national“ nur mühsam zu beschreibenden – Fragmentierung des nicht zentrumskatholischen und nicht-sozialistischen Bereichs bestehen; vgl. Detlef Lehnert/Klaus Megerle, Identitäts- und Konsensprobleme in einer fragmentierten Gesellschaft, in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hg.), Politische Kultur in Deutschland, Opladen 1987, S. 80–95.

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dritte Kraft mit nur 10 von 165 Sitzen dermaßen marginalisiert, dass sie 1927 in der christlichsozial geführten „Einheitsliste“ aufging. Selbst wenn für Österreich die Bilanz der 20er Jahre erst mit der Nationalratswahl im November 1930 gezogen werden soll, ist der Befund wiederum ein anderer: Zwar gab es neben 72 sozialdemokratischen und nur mehr 66 christlichsozialen immerhin 27 sonstige Mandate. Aber diese waren durchaus heterogen besetzt, mit 10 Großdeutschen sowie 9 Landbündlern im sog. Schober-Block und 8 des austrofaschistischen „Heimatblocks“, der sich mehr am italienischen Vorbild orientierte.8 Der zeitweilige Kanzler Schober war ein großdeutscher Beamtenpolitiker. Doch hatte ihn gerade auch die liberale Presse als Alternative zum christlichsozialen Heimwehrkurs unterstützt.9 Zur eigentlichen Sensation wurde jedoch, dass die NSDAP im Geburtsland Hitlers trotz umfangreicher Berichterstattung über vorausliegende Septemberwahlen in Deutschland kein Grundmandat erzielte. Mit der geringen Organisationskraft allein ist das ebenso wenig erklärbar wie aus der katholischen Prägung des nicht-sozialistischen Lagers. Wenn sich z.B. in Bremen die NSDAP innerhalb von zwei Wochen nach der Septemberwahl 1930 im Stimmenanteil auf über 25 % verdoppelte10, lag das nicht an zusätzlicher Organisationsmacht. Vielmehr folgte es dem Verstärkereffekt der Presseberichte über die Septemberwahl, die jedoch auch in Österreich zu lesen waren. Überdies hatte im benachbarten katholischen Bayern, gleichziehend mit der SPD, Hitlers „Völkischer Block“ schon 1924 mit 17 % der Stimmen den ersten großen Durchbruch erzielt. Eines der heute vergessenen liberalen Blätter Wiens sagte am Wahltag das Ergebnis zutreffend voraus und nannte auch den entscheidenden Grund dafür: „In Österreich sind allerdings weit größere Wählerschichten ‚versteinert’, als beispielsweise in Deutschland, und darum erscheinen Überraschungen, wie der gewaltige Erfolg der Nationalsozialisten am 14. September, bei uns so gut wie ausgeschlossen.“11 Das wäre derart eindeutig nicht der Fall gewesen, hätte es neben „Rot“ und „Schwarz“ wirklich ein „nationales“ Lager gegeben, das mit einem Auge nach Deutschland schielte und Anschluss an dortige „natio8 Als Überblick zu den parlamentarischen Kräfteverhältnissen vgl. Anton Pelinka, Parlament, in: Handbuch 1995, S. 59–71. 9 Vgl. Detlef Lehnert, Die „Erfolgsspirale der Ungleichzeitigkeit“. Bewertungsmuster der NSDAP-Wahlergebnisse in der Berliner und Wiener Tagespresse, Opladen 1998, S. 108 f. 10 Vgl. Jürgen Falter u.a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986, S. 93. 11 Die Stunde, 9.11.1930.

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nale“ Bewegungen suchte. Nur in einzelnen Gebieten, wie z.B. Kärnten aus der Grenzland-Mentalität des antislowenischen Abstimmungskampfes, hat sich seit 1932 schon vor der NS-Diktatur ein nationalsozialistisches Milieu entwickelt, das mehr als nur die Sammlung der mit „Rot“ und „Schwarz“ Unzufriedenen war. Solche regionalen Besonderheiten, die es auch bei gemäßigten Großdeutschen gab, schufen aber noch kein republikweites drittes Lager. Das Anschlussjahr 1938 war insofern aus der Konstellation von Ende 1930 kaum determiniert – noch weniger, als ein Jahr zuvor das mit knapp 14 % eher magere Ergebnis der Anti-Young-Plan-Kampagne Hugenberg/Hitlers bereits ein deutsches „1933“ am Horizont zeigte. Das Saarland stimmte Anfang 1935 zu 90 % für „Heim ins Reich“, obwohl auch dort neben „Rot“ und „Schwarz“ die NSDAP immer nur schwach geblieben war. Die fatale Kombination aus der 1931 auch Österreich heimsuchenden Weltwirtschaftskrise und der Macht vollendeter Tatsachen des NS-Regimes seit 1933 kann in der Wirkung also gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Bei Massenverelendung und dem Sog der Anpassung an den Herrschaftsanspruch eines autoritären Regimes haben wir es daraufhin mit existentiellen Fragen und weniger den subtileren Phänomenen von Demokratiekultur zu tun. Allerdings kann die klare Absage an die NSDAP zu einem Zeitpunkt, als sie in Deutschland bereits auf dem Weg zur stärksten Partei war, auch nicht mit aktiver politischer Immunität gleichgesetzt werden. Die linksliberale „Berliner Morgenpost“ fasste die relative Stabilität in der Alpenrepublik unter der Schlagzeile zusammen: „Österreich will seine Ruhe haben.“12 Als Radaupartei von 1930 kollidierte die NSDAP offenbar noch mit solcher Mentalität. Erst als Führer einer Regimepartei nach mehrjähriger Konsolidierungsphase wurde Hitler von einer Bevölkerungsmehrheit in Österreich jubelnd empfangen, die zuvor den Bürgerkrieg 1934 und die ständestaatliche Diktatur erlebt hatte. Zum Vergleich des österreichischen und deutschen Parteiengefüges sind Ex-Post-Konstrukte nicht erforderlich. Die breite gefächerte Tagespresse besorgte solches damals zur Information, wo nicht ohnehin Sozialdemokratie und Politischer Katholizismus verwandt waren: Die Großdeutschen mit dem ihnen nahestehenden Landbund wurden zwischen DVP und DNVP verortet, der „Heimatblock“ mit dem „Stahlhelm“ analogisiert.13 Es fehlten dann 12 Berliner Morgenpost, 11.11.1930 (am gleichen Tag sogar als Hauptschlagzeile in: Berliner Allgemeine Zeitung). 13 Die Wahlkämpfe der Großdeutschen wurden von DVP und DNVP sogar materiell unterstützt; vgl. Isabella Ackerl, Die Großdeutsche Volkspartei, Diss. Wien 1967, S. 121 f.; zu den Pressevergleichen: Lehnert 1998 (das Beispiel Stahlhelm/Heimwehren: S. 116).

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in Österreich linksaußen die Kommunisten und rechtsaußen Hugenberg und Hitler – also genau jene Kräfte, die nach Studien Mergels zur Parlamentskultur im Deutschen Reichstag unter seinem Langzeitpräsidenten Paul Löbe sich als desintegrativer Störfaktor gebärdeten.14 Nur aus der Rückblende von der idyllischen Zweiten Republik nach 1945 mochten sich die 20er Jahre erschreckend polarisiert darbieten. Gemessen an den Verhältnissen im Reichstag seit Herbst 1930 erschien aber der Nationalrat als Reminiszenz an bessere Weimarer Jahre. Erst seit dem Papen- und forciert unter dem Hitler-Regime erfolgte auch in Österreich die schrittweise Ausschaltung des Parlamentarismus. Wohl nicht zufällig ist dies letztlich das Werk einer jüngeren Generation, die nicht mehr vom Minimalkonsens der Gründungsjahre geprägt wurde: Zu Republikbeginn 1918 war der erste christlichsoziale Diktaturkanzler Dollfuß gerade 26, sein Nachfolger Schussnigg gar noch 20. Für beide vollzog sich erst in einer Deutungskultur der inneren Lager-Polarisierung die politische Karriere.15 In neomarxistischer Deutung bei Negt/Kluge ist die „Lagermentalität“ der 20er Jahre als Zwischenstufe zur großkoalitionären Konkordanzdemokratie der Zweiten Republik eingeordnet worden: „Die österreichische Theorie und Praxis des Klassengleichgewichts war eine Vorform des modernen Proporzsystems“.16 Das trifft nicht wirklich die Intentionen von Otto Bauer, auf den jenes Theorem zurückgeht und der solches Gleichgewicht als Übergangsphase zur späteren Hegemoniestellung ansah. Dieses Fernziel leitete aber nicht zugleich Kelsen, der neben Renner als österreichischer „Verfassungsvater“ der Ersten Republik gelten darf. Sonst eher sozialliberal als marxistisch geprägt, war doch auch für Kelsen „die parlamenta­risch-demokratische Staatsform mit ihrem eine wesentliche Zweigliederung konstituierenden Majoritäts-Minoritätsprinzip der ,wahre‘ Ausdruck der heutigen wesent­lich in zwei Klassen gespaltenen Gesellschaft“.17 Damit wurde Politik- und Gesellschaftstheorie für eine polarisierte Konkurrenzdemokratie des österreichischen Zwei-LagerSystems formuliert. 14 Vgl. Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik, Düsseldorf 2005. 15 Zu einem „allgemein verständlichen ,Handbuch‘“ (S. 16), das einen materialreichen, gerade für das katholische Milieu kenntnisreichen Überblick der historischen Epochen auch vor und nach der Ersten Republik bietet, vgl. Robert Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien 2001. 16 Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, Frankfurt a.M. 1972, S. 343, 376. 17 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 361.

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2.  Die Realität der modernen Konkurrenzdemokratie Dies alles passt in eine zur Konkordanz teilweise konträre Traditionslinie, die es in Österreich eben auch gegeben hat: von der josephinischen Aufklärung über die 1848er Revolution bis hin zur dreifachen absoluten Mehrheit Kreiskys, mit demokratischen Impulsen der Ersten Republik als Zwischenglied. Durch Konstituierung der österreichischen Republik aus dem Zerfall des Habsburgerreichs war zunächst sogar mehr als nur ein Aufholen gegenüber dem Deutschen Reich gelungen. Der Kontinuitätsbruch in der Staatsorganisation begünstigte offensichtlich einen umfassenden politisch-kulturellen Modernisierungsschub. Die noch im Parteienkonsens beschlossene Verfassung von 1920 hat geradewegs als Vorbild für zukunftsweisende Konzepte wie später im Bonner Grundgesetz zu gelten: Ursprünglich nur geringe Präsidialmacht und in der Verfassungsgerichtsbarkeit abgestützter Grundrechts- und Minderheitenschutz flankierten einen deutlichen Primat der parlamentarischen Demokratie.18 Ein wesentlicher Unterschied zum späteren Grundgesetz lag allein in schwächeren Länderkompetenzen. Die „Einkammerrepublik“ wirkte sich zum Vorteil der Handlungsfähigkeit des Bundes aus, ohne jedoch damit kommunale und regionale Selbstverwaltung zu blockieren.19 Dass wie in Weimar auch in Wien eine konstituierende Nationalversammlung zusammentrat, begrenzt überzogene Vorstellungen des inneren Provisoriums-Charakters dieser Republik. Die Kontinuität des Deutsches Reiches beließ Ambitionen von Länderstaatlichkeit in und außerhalb eines ungeteilten Preußen noch Raum. Aber statt zum Reichsrat wie vor dem Krieg wurde in Österreich im Herbst 1920 erstmals zum Nationalrat gewählt. Der staatliche Kontinuitätsbruch ließ auch weniger die Suche nach ersatzmonarchischer Identifikation zu. So bildeten weder Adel und Großgrundbesitz noch die Weltkriegsoffiziere eine auch nur annähernd mit Preußen vergleichbare Belastung. Das in Deutschland noch 1926 vergeblich 14 ½ Millionen VolksentscheidsStimmen mobilisierende Thema Fürstenenteignung wurde in Österreich schon 1919 im Sinne der Belassung allein noch des vergleichsweise geringen Privatbesitzes erledigt. Nach der Revolution war das vergangenheitsorientierte Thema Habsburg politisch weithin obsolet und nach den Pariser Vorort-Ver18 Vgl. historisch Reinhard Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage. Die Entstehung des Verfassungsprovisoriums der Ersten Republik 1918–1920, München 1987. 19 Leo Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1922, erwähnt als Wiener Autor, dass bis sogar zum Verfassungsdefinitivum des Herbstes 1920 die Regierungsmitglieder „als Volksbeauftragte bezeichnet wurden und sich als solche fühlten“ (S. 69).

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trägen jede großdeutsche Perspektive in unbestimmte Zukunft entrückt. Die Niederschlagung aussichtsloser kommunistischer Aufstandsversuche wurde in Wien nicht von republikfeindlichen Freikorps, sondern von sozialdemokratischen Wehrformationen getragen.20 Anfänglich verbreitete Zweifel an der wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit fanden mit einer 1922 erfolgenden Währungssanierung allmählich ihr Ende. Das am Abgrund von Hyperinflation und Rheinlandbesetzung taumelnde Deutsche Reich von 1923 büßte vieles seiner vormaligen Identifikationskraft als Fluchtburg aus Krisenstimmungen rechts der Mitte ein. Zusätzlich verlor dann für die ursprünglich anschlussfreundliche österreichische Sozialdemokratie eine „Hindenburg-Republik“ mit Bürgerblock-Kabinetten ihre politische Attraktivität. Diese Entwicklungen förderten ein nüchternes Gegenwartsverständnis des eigenen Staates. Bei einer Bestandsaufnahme des Jahres 1928 blickte in Übereinstimmung mit dem Tenor der wichtigsten politischen Kräfte auch das auflagenstärkste Boulevardblatt auf „zehnjährige Wiederaufbauarbeit“ zurück. Es sollten „wir Österreicher“ nunmehr „als freie Bürger eines freien Staates“ auch „mit ehrlicher Freude den Jubeltag der Republik begehen“.21 Ein Vollbild eigener österreichischer Nationalidentität hat sich zwar erst allmählich seit dem klärenden Staatsvertrag von 1955 entwickelt. Doch sollte dessen Fehlen in der Ersten Republik nicht nur als Destabilisierungsfaktor gesehen werden. Dies trat erst im Sog Hitlerdeutschlands und paralleler Weltwirtschaftskrise eindeutiger zutage. Das Konzept der Sprachnation mit seinen altösterreichischen Hintergründen bewahrt seine Teilplausibilität auch vor dem Hintergrund kommunikationstheoretisch und kulturwissenschaftlich informierter Demokratielehren.22 Eine Willensnation bildete die Erste Republik noch kaum, aber das gilt auch für ähnliche Zeitspannen der Bundesrepublik. Dort hat dies nicht der inneren Legitimität geschadet, vielmehr auch ein nüchternes Verständnis der Staatlichkeit gefördert – mit ungewisser Zukunftsverweisung auf die erhoffte Wiedervereinigung gleich den österreichischen Anschlussvisionen der 1920er 20 Vgl. Francis L. Carsten, Revolution in Mitteleuropa 1918–1919, Köln 1973. 21 Illustrierte Kronen-Zeitung, 11.11.1928 (Text in: Josef Seethaler/Gabriele Melischek, Demokratie und Identität. Zehn Jahre Republik in der Wiener Presse 1928, Wien 1993, S. 75). 22 Noch heute sind österreichische und schweizerische Juristen, die wesentliche Definitionsmacht über das geltende Verständnis der parlamentarischen Demokratie haben, in die „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“ integriert, die satzungsgemäß Mitglieder „an einer deutschen oder deutschsprachigen Universität“ gleichstellt (und es werden, um die kulturelle Dimension nicht zu vergessen, auch Schriftsteller dieser Länder sich nicht mehr als durch regionale Akzente unterschieden sehen).

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Jahre, beides letztlich in den Händen von Siegermächten. Die Reichweite des österreichischen Kontinuitätsbruchs von 1918 grenzte in manchem fast an den späteren gesamtdeutschen von 1945, der erst den Weg in unsere Gegenwart öffnete. Weder ein schon lagerübergreifend fest gefügter Österreich-Patriotismus noch gar ein Deutschnationalismus konnte so die politische Kultur der 20er Jahre entscheidend prägen. Dies verschaffte dem lebensweltlich verankerten Organisationspatriotismus des „roten“ und „schwarzen“ Parteilagers ein historisch singuläres Eigengewicht.23 Offenkundig förderte der evidentere Kontinuitätsbruch in Österreich nach Sicherstellung des progressiven Verfassungskompromisses den Übergang zur polarisierten Konkurrenzdemokratie. Zuvor erschien der Vielvölkerstaat allenfalls zur Proporz- bzw. Konkordanzdemokratie vordisponiert. Tatsächlich regierte auf Bundesebene seit dem Koalitionsbruch 1920 nach Abschluss der konsensorientierten Verfassungsgebungsphase stets das christlichsozial geführte Lager. Neben einer Teil-Zugeständnisse erwirkenden Oppositionspolitik im Nationalrat konnte sich die Sozialdemokratie auf ihre unangefochtene Stellung im Bundesland Wien konzentrieren. Dies war eine Analogie zum „Bollwerk Preußen“ unter Otto Braun, der freilich über die linksliberale DDP hinaus auf die katholische Zentrumspartei und zuweilen gar die rechtsliberale DVP angewiesen blieb.24 Die weit größere Stärke der österreichischen Sozialdemokratie beruhte darauf, dass sie die Spaltung im Krieg vermeiden konnte. Das Entstehen von kommunistischen Parteien war mit dem Mythos der Oktoberrevolution vorgezeichnet. Dass sich zusätzlich eine zur Hälfte dann nach Moskau hinwendende USPD bildete und zur Massenpartei fast gleicher Größe wie die SPD werden konnte, war jedoch geschichtlich nicht zwangsläufig. Mit den führenden Exponenten Karl Renner, Otto Bauer und Max Adler hatte die österreichische Sozialdemokratie ganz ähnliche reformistische, zentristische und linke Strömungen, wie sie in Deutschland mit der MSPD, der gemäßigten USPD und der radikaleren Luxemburg-Liebknecht-Tradition anzutreffen waren. Gewiss erschien die Hohenzollern-Monarchie bis weit ins Jahr 1918 hinein nicht so altersmorsch wie der Habsburgerstaat. Aber dieser auch im Massenbewusstsein verankerte Unterschied war doch wohl in der Differenz abgegolten, dass der Sohn des deutschen Parteigründers Wilhelm Liebknecht nur die Hand zum Nein gegen Kriegskredite erhob, während der 23 Vgl. Detlef Lehnert, Die Metropole des Organisationspatriotismus, in: Zeitgeschichte 19 (1992), S. 319–355. Zur lebensweltlich-kulturellen Segmentierung u.a.: Pia Janke, Politische Massenfestspiele in Österreich zwischen 1918 und 1938, Wien 2010. 24 Vgl. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a.M. 1977.

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Sohn des österreichischen Parteigründers Victor Adler zum Protest seine Hand zu tödlichen Schüssen auf den Ministerpräsidenten erhoben hatte.25 Der in seiner Isolation nur verbal radikalisierte Neinsager Karl Liebknecht endete bekanntlich durch Freikorpsmörder; der Todesschütze Friedrich Adler hingegen starb in hohem Alter ganz friedlich, ohne je aus der Parteifamilie ausgestoßen worden zu sein. Auch in anderer Hinsicht war die strategisch günstigere Position der österreichischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen das Ergebnis aktiven politischen Handelns: Das Land Niederösterreich wäre in der Ersten Republik fast so dominierend gewesen wie Preußen.26 In den Größenordnungen erinnert die Lage Wiens inmitten Niederösterreichs an heutige Verhältnisse mit Berlin und Brandenburg. Die Heraustrennung Wiens erschien sogar noch künstlicher. Denn ohne eigenes Zentrum, wie es Potsdam für Brandenburg darstellen kann, blieb auch die niederösterreichische Landesregierung noch für Generationen in Wien ansässig. Dennoch fürchteten vor allem die bäuerlich geprägten Christlichsozialen die anfängliche Vorherrschaft des roten Wiens. So kam es rasch zu einer Verselbständigung der Hauptstadt als Bundesland, zumal dann auch die Sozialdemokraten die Vorteile dortiger Alleinregierung zu schätzen wussten. Die polarisierte Konkurrenzdemokratie der Ersten Republik entsprach wesentlich dieser Trennungslinie des „roten Wiens“ zum „schwarzen“ Niederösterreich. Der ehemalige Staatskanzler Karl Renner sprach anlässlich der Verselbständigung zu Jahresbeginn 1922 von der „Republik Wien“, die nunmehr „eine freie Hansestadt an der Donau“ geworden sei; er wollte also mit dem Stadtstaat Hamburg vergleichen, weil Berlin damals noch in Preußen aufging und der Aufsicht des Oberpräsidenten in Potsdam unterstellt war.27 Der nach späterer christlichsozialer Propaganda „neunzigprozentige Bolschewik“ Otto Bauer berief sich tatsächlich eher auf Vorbilder des englischen 25 Diese spektakuläre Tat wird man nicht ohne psychohistorischen Ansatz verstehen können; vgl. Rudolf Ardelt, Friedrich Adler. Probleme einer Persönlichkeitsentwicklung um die Jahrhundertwende, Wien 1984. 26 Dieses Schwergewicht des polarisierten Ostens auch noch in der Ersten Republik hat zu bedenken, wer mit Recht den Einwand geltend macht, dass auf westlicher und südlicher Landesebene teilweise andere Konstellationen möglich waren. Dies ist ein starkes Argument für grenzüberschreitend vergleichende Regionalstudien; es ändert jedoch nichts an einer auch politisch-kulturell wirksamen Dominanz, die ganz ähnlich für das übermächtig große Preußen im Deutschen Reich galt. Dort hatte der Umbruch sogar zunächst südwestdeutsche Kräfte an den Gründungsjahren der Weimarer Republik stärker als vor dem Ersten Weltkrieg beteiligt. 27 Vgl. Detlef Lehnert, Kommunale Politik, Parteiensystem und Interessenkonflikte in Berlin und Wien 1919–1932, Berlin 1991 (Zitat: S. 44).

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„self government“; er bezichtigte deutsche Rechts- und Linkssozialisten, im Geiste „alten Borussentums“ bzw. „neuen Russentums“ befangen zu sein und so jeweils Nachholbedarf im „Freiheitsdrang“ zu haben.28 Wenn hier sozusagen Austria gegen Borussia antrat, bleibt auffällig, dass der Zentrist Bauer und sogar der Linksaußen Max Adler wie der Berliner Revisionist Bernstein von der Kantschen Philosophie ausgingen. Ein erkenntniskritischer und auch ethisch geprägter Austromarxismus hatte es dann offenbar auch zum rechten wie zum linken Flügel hin mit der Freiheit von Andersdenkenden leichter. Nur der Staatssozialismus, altpreußischen wie neurussischen Gepräges, schreckte freisinnige Bürger. Doch Gemeindesozialismus hatte in Ansätzen schon das christlichsoziale Kommunalregime Luegers praktiziert. Auch Linksliberale wie Hugo Preuß in seiner Tätigkeit als Berliner Stadtverordneter und Stadtrat ließen englische munizipalsozialistische Vorbilder erkennen.29 Was für die Weimarer Sozialdemokratie häufig als innerer Gegensatz noch unzureichenden Hineinwachsens in moderne Demokratiekultur diskutiert worden ist, gelang der österreichischen Partei offenbar gleichzeitig: In Wien verantwortungsvoll – z.B. schuldenfrei bis in die Weltwirtschaftskrise – zu regieren und im Nationalrat das Wächteramt der verfassungstreuen Opposition wahrzunehmen. Dies alles verstärkt kritische Anfragen gegenüber einem historiografischen Determinismus ex post facto, der Traditionsüberhänge in Preußen-Deutschland allzu leicht hinnimmt, wo gleichzeitig in Österreich doch vieles neu geregelt werden konnte. Die Handlungsfähigkeit in Österreich wurde gerade dadurch gefördert, dass nur zwei parlamentarische Hauptkräfte verhandelten.

3.  Das Profil von politischen Soziokulturen anhand der Wahldaten Auch wenn die Analyse von politischen Lagern nach Wahlergebnissen zur Reduzierung auf jene Fragen tendiert, auf die Statistiken überhaupt nur eine Antwort geben können, ist hier dennoch auch dieses Material in angemessener Form mit zu berücksichtigen. Viel weniger bekannt als das auf breit angelegter Datenerfassung beruhende wahlstatistische Arbeitsbuch von Jürgen Falter u.a.30 ist eine aus jener Arbeitsgruppe hervorgegangene Publikation zu Öster28 Otto Bauer, Bolschewismus oder Sozialdemokratie?, in: Ders., Werkausgabe, Bd. 2, Wien 1976, S. 356 f. 29 Vgl. Detlef Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft. Politisches Denken, Öffentliches Recht und Geschichtsdeutungen bei Hugo Preuß, Baden-Baden 1998, S. 242–254. 30 Vgl. Falter u.a. 1986.

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reich.31 Diese Text und Tabellen gut nachvollziehbar kombinierende Studie liefert über die im Titel als Leitfrage thematisierte Stimmenwanderung zur NSDAP hinaus nützliche Informationen zur strukturellen Verankerung der konkurrierenden politischen Kräfte. Entgegen dem primär ideengeschichtlichen Zugang des ursprünglichen Lagerkonzepts wird aus diesen Strukturdaten plausibler, wo die Reichweite des „roten“ und „schwarzen“ Integrationsmilieus trotz jeweils ungewöhnlicher Starke zuletzt doch Grenzen fand. Die letzte Nationalratswahl des November 1930 kann zum einen die Kontrastprofile beider Großparteien prägnant illustrieren (S. 359): Unter Selbständigen und Mithelfenden hatten die Christlichsozialen (CSP) angesichts der zersplitterten Anteile der Konkurrenz nahezu eine Monopolstellung, an zweiter Stelle folgten dort bezeichnenderweise Nichtwählende. Ähnlich dominierend war die Sozialdemokratie (SDAP) bei den Arbeitern, mit einigem Abstand ebenso bei Berufslosen; allerdings konzentrierte sich die Minderheit dabei jeweils etwas mehr bei der CSP. Wirklich umkämpft war nur der Zwischensektor von Angestellten und Beamten. Hier lag zwar die SDAP knapp vor dem nationalliberalen Schober-Block und der CSP. Doch auch der Heimatblock und die NSDAP rechtsaußen hatten dort ihre relativ höchsten Anteile. Nach Angestellten und Beamten differenzierende Erhebungen lieferte die österreichische Statistik nur für Orte ab 5000 Einwohner, die freilich auch deren höchste Anteile konzentrierten. Diesbezüglich ist geradewegs drastisch auffallend, dass 1930 die NSDAP nur bei den Beamten weitaus (sogar mindestens dreifach) überrepräsentiert abschneiden konnte. Bei den Angestellten zeigte hingegen der Schober-Block klar überproportionale Stimmenerfolge (S. 376 f.). Die Gemeindegröße bestimmte das Wahlverhalten ähnlich weitgehend und in untrennbarer Verbindung mit dort anzutreffenden Wirtschaftssektoren (S. 273, 297): In kleinen Gemeinden und bei vorherrschender Landwirtschaft dominierte ganz entschieden die CSP, in Orten ab 5000 Einwohner und bei überrepräsentiertem industriell-gewerblichen Sektor fast ebenso klar die SDAP. Dazwischen lag das Wahlprofil des Schober-Blocks, der in mittleren 31 Vgl. Dirk Hänisch, Die österreichischen NSDAP-Wähler, Wien 1998 (alle Seitenzahlen im Text dieses Abschnitts 3. beziehen sich auf das Buch von Hänisch). Diese methodisch reflektierte Studie zeigt auch ein geradewegs klassisches Beispiel für die Untauglichkeit schlichter Korrelationsziffern auf (S. 257): In Wien sank mit steigendem Katholikenanteil der Wahlerfolg der Christlichsozialen (CSP) zugunsten der SDAP. Dies korrespondierte mit einem bei Arbeitern höheren Anteil der (formellen) Katholiken. Höchstwahrscheinlich war stärkere Repräsentanz jüdischer und protestantischer Konfession ein Sozialindikator, der keineswegs bedeutete, dass jene Minderheiten überproportional CSP wählten – aber die Katholiken dieser gehobenen Quartiere wählten überkompensierend häufig „ihre“ Partei.

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Gemeinden und Mischgebieten am schwächsten vertreten war, also entweder mit seiner Landbund-Verbindung in Bauerndörfer oder in die städtische Angestelltenschaft am ehesten vordringen konnte. Eine offensichtlich über die tatsächlichen Hintergründe eher täuschende Korrelation zeigte außerhalb Wiens das mit höherem Angestellten- und Beamtenanteil ganz besonders stark anwachsende Stimmenpotential der SDAP (S. 340). In Wirklichkeit bildete der tertiäre Berufssektor den wesentlichen Indikator für Urbanisierung, die wiederum für den wachsenden SDAP-Anteil maßgebend war. Dennoch ist entgegen der zuletzt auffälligen Rechtstendenz bei den Beamten davon auszugehen, dass in Städten die SDAP in der Angestelltenschaft die relativ stärkste politische Kraft war. Hingegen bestätigen deutsche Quellen dort eher den führenden Einfluss deutschnationaler und nationalliberaler Tendenzen.32 Die wesentlichen Unterschiede lagen im Profil der Konkurrenzparteien begründet: Der CSP haftete allzu sehr die Verbindung zum alten Mittelstand, insbesondere den Bauern an. Die Großdeutschen standen hingegen ursprünglich im Ruf einer Beamtenpartei, die aber ihre Klientel mit dem Sanierungskurs nach dem Genfer Vertrag von 1922 verärgert hatte (S. 57). Ohnehin waren Beamte, Privatangestellte und Landbund-Bauern zu heterogen für eine soziale Lagerbildung. Mit der Verwendung nur der im statistischen Material verfügbaren Sammelkategorien gehen notwendig soziokulturell wichtige Merkmale der Differenzierung verloren. So ist die soziostrukturelle Kategorie der Zugehörigkeit zur gewerblichen Arbeiterschaft zunächst blind für die Tatsache, dass z.B. die „sogenannten uniformierten Arbeiter (insbesondere Eisenbahner)“ durchaus nennenswerte NS-Anteile zeigten (S. 69 f.). Schon dem Wiener Bürgermeister Lueger war es gelungen, die Straßenbahner als Kommunalbedienstete wesentlich christlichsozial zu organisieren.33 Umgekehrt funktionierte der in Wien sonst hochgradig konsistente Zusammenhang von hohen Anteilen des Schober-Blocks 1930 und relativ bestem Abschneiden der NSDAP bei der Gemeinderatswahl 1932 einzig im 1. Bezirk (Innere Stadt) nicht annähernd so eindeutig (S. 173). Dies kann damit erklärt werden, dass ein dort überproportional vertretenes jüdisches Bürgertum teilweise mit dem Schober-Block noch positive, mit der NSDAP aber lediglich negative Erwartungen verband. Nicht zufällig schnellten dann 1932 in jenem statushöchsten Bezirk Wiens 32 Vgl. Iris Hämel, Völkischer Verband und nationale Gewerkschaft. Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband 1893-1933, Frankfurt a.M. 1967; Heinz-Jürgen Priamus, Angestellte und Demokratie. Die nationalliberale Angestelltenbewegung in der Weimarer Republik, Stuttgart 1979. 33 Vgl. Lehnert 1991, S. 371 ff.

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die SDAP-Anteile beachtlich in die Höhe.34 Nicht wenige, die 1927 noch zähneknirschend auf Empfehlung von wirtschaftsliberalen Tageszeitungen die wesentlich „schwarze“ Einheitsliste gewählt hatten, sahen nach der Massenabwanderung von Schober-Stimmen zur NSDAP in der „roten“ SDAP einen letzten Schutzwall – gegen jene schmutzigbraune Flut, die 1932 bereits das Deutsche Reich zu überschwemmen drohte.

4. Chancen und Probleme der polarisierten Milieuverdichtung Die Christlichsozialen hatten sich in der Ersten Republik zunächst weiter als die Integrationspartei des katholisch-mittelständischen Lagers auf Bundesebene etabliert. Gewisse Kulturkampf-Erfahrungen machte auch der österreichische Katholizismus trotz seiner breiten Mehrheitsposition. Der Josephinismus mit seinen französischen Aufklärungs-Akzenten lag nun zwar lange zurück. Doch ein Hofratsliberalismus analog dem süddeutschen Geheimratsliberalismus hatte sich daraufhin breit gemacht. So konnten Luegers Christlichsoziale als konservative Rebellen auftreten, indem sie einerseits auf traditionskatholische Volksgläubigkeit und antisemitische Kampagnen setzten, andererseits für Wahlrechtserweiterung, Sozialpolitik und mehr kommunale Autonomie eintraten.35 Mit ihrem Schwerpunkt im alten Mittelstand erschienen die Christlichsozialen in den 20er Jahren zunehmend nur mehr als konservative Partei und verloren ihren rebellischen Nimbus. Unter LangzeitFührung des Prälaten Seipel ähnelten sie der Zentrumspartei der Ära Kaas und Brüning. Von einer aktiven Bejahung der parlamentarischen Demokratie sowie einer pluralistischen Gesellschaft und Geisteswelt konnte mehrheitlich nicht die Rede sein. Allerdings war Seipel außenwirtschaftspolitisch erfolgreicher als deutsche Zentrumskanzler von Fehrenbach bis Brüning. Denn es gelang ihm 1922, das Abgleiten der galoppierenden Inflation zur völligen Währungskatastrophe zu verhindern. Der solches bewerkstelligende Genfer Vertrag war Erfüllungspolitik gegenüber den Siegermächten und mit sozialen Härten verbunden. Dafür musste Seipel den Preis der Unpopularität zahlen und sich für einige Jahre 34 Vgl. Maren Seliger/Karl Ucakar, Wahlrecht und Wählerverhalten in Wien 1848–1932, Wien 1984, S. 236 (43,8 % im Vergleich zu nur 35,5 % zur vorausgegangenen Gemeinderatswahl 1927 und 38,5 % zur Nationalratswahl 1930: S. 233, 256). 35 Vgl. John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna: The Origins of the Christian Social Movement 1848–1897, Chicago 1981; ders., Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power 1897–1918, Chicago 1995.

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von der Regierungsführung zurückziehen. Andererseits profitierte die Sozialdemokratie gleich doppelt von der Sanierungspolitik: Deren Härten gingen der Bundesregierung zur Last. Gleichzeitig konnte die Hauptstadt schon 1923 mit geordneten Finanzverhältnissen ein kommunales Wohnbauprogramm beginnen. Bis in die Weltwirtschaftskrise hinein trug es dazu bei, dass in Wien die Arbeitslosigkeit unterproportional anstieg.36 Weder die Hyperinflation, deren mentale Verwüstungen für mögliche Demokratiekultur zumeist unterschätzt werden, noch jedenfalls das Ausmaß der Massenarbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise war also unabänderliches Schicksal. Dies gilt auch für kurzfristige Auslandsverschuldung, zu den infolge der Kapitalknappheit einer Nachkriegszeit ganz besonders hohen Zinsen. Gleich den Christlichsozialen mit dem Genfer Vertrag nahmen die Sozialdemokraten den verlorenen Krieg wirklich zur Kenntnis und stellten keine ungedeckten Wechsel auf die Zukunft aus. So blieb der Wiener Landeshaushalt stets ausgeglichen und gab es nur für eine rentable Investition in städtische Werke die Ausnahme von der Regel, zu derart hohen Zinsen keine Schulden zu machen. Sogar das Wohnbauprogramm wurde unmittelbar aus einem breit gefächerten Steuersystem finanziert. Als Kompensation für die sozialen Härten des Genfer Vertrags konnte im Nationalrat die Fortgeltung der Mieterschutzgesetze erreicht werden, die Hausbesitzer mit anderen Inflationsgeschädigten gleichstellten. Auf sprichwörtliches Berliner Tempo, das sich gegen Ende der 20er Jahre an Metropolen der Siegermächte orientierte, verzichtete man in Wien. Der Umstieg von der Straßenbahn zur U-Bahn wurde auf bessere Zeiten vertagt und die Wohnfläche im Neubau auf Kleine-Leute-Standard begrenzt, dafür mehr in massenkulturell integrierende Gemeinschaftsanlagen investiert. Da trotzdem vieles neu aufgebaut worden ist und die Verteilung der Lasten einigermaßen gerecht erschien, wurde diese Politik ausweislich von Wahlbeteiligungsraten bis über 90 % als politisch motivierend verstanden.37 Die kommunistische Agitation wie überwiegend auch die NS-Propaganda prallten daran ab.38 36 Vgl. Maren Seliger/Karl Ucakar, Wien. Politische Geschichte 1740–1934, Bd. 2, Wien 1985, S. 1013, 1103 (während sich 1921/22 noch mehr als zwei Drittel der österreichischen Arbeitslosen in Wien konzentrierten, waren es mit Beginn der Wohnungsprogramme zunehmend deutlich unter der Hälfte, mit einem relativen Tiefstand 1929– 1931, als dann anderenorts die Erwerbslosenzahlen rascher gestiegen sind). 37 Ebd., S. 1134 f. 38 Während die KPÖ bis zuletzt eine Splittergruppe blieb, kamen 1932 in Wien nur etwa 2 % der NS-Stimmen aus dem SDAP-Potential von 1930; vgl. Hänisch 1998, S. 178. In anderen Bundesländern waren die Verluste nach rechtsaußen spürbarer.

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Allerdings gehörten Teile der christlichsozialen Klientel wie vor allem Mietshausbesitzer und bessergestellte Gewerbetreibende zur Minderheit der Geschädigten solcher Alleinherrschaft der Sozialdemokratie in Wien und von Zugeständnissen auf Bundesebene. Das erklärt teilweise die Verschärfung der Gegensätze zwischen beiden Lagern im Laufe der 20er Jahre. Wie häufig in der Parteipolitik darf aber Parolensprache nicht zu wörtlich genommen werden.39 Hinter den Kulissen hielten die Christlichsozialen durchaus Kontakt mit der Wiener Landesregierung, um eigene Interessen z.B. bei der Wohnungsvergabe und in Details der Steuerbemessung zu verfolgen. Die Verschärfung des innenpolitischen Klimas angesichts der gewaltsamen Niederschlagung des Protests vor dem Justizpalast 1927 wird häufig überinterpretiert.40 In Deutschland hatte es schon bis 1923 erheblich mehr Gewalt nicht allein links- und rechtsaußen, sondern auch seitens der Staatsorgane gegeben. Die Verfassungsrevision des Herbstes 1929 wurde der Sozialdemokratie angesichts benötigter Zweidrittel-Mehrheit zwar von den Christlichsozialen nicht ohne Drohungen mit Heimwehraufmärschen abgetrotzt; solcher Angriff auf die Verfassungskultur ließ Kelsen bald sogar das Land verlassen. Doch er ging nach Deutschland, dessen Verfassung der österreichischen Novelle gerade als Vorbild diente, indem ebenfalls das Präsidentenamt durch Volkswahl gestärkt, der Ländereinfluss etwas vermehrt und die Eigenständigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit beschnitten wurde. Die Symbolkraft dieser Revision der Kelsen-Renner-Verfassung war größer als die reale Wirkung.41 Denn es kam nicht einmal mehr zu einer Neuwahl des Bundespräsidenten. Die polarisierte Konkurrenzdemokratie wurde erst nach Machtübernahme Hitlers vom autoritär-christlichsozialen Dollfuß-Regime abgelöst. Dieses führte einen inneren Zweifrontenkrieg einerseits gegen die Sozialdemokratie bis zu deren 39 Insofern kann eine sinnvolle Interpretation der Befunde bei Mergel 2005 über den „Verfall des parlamentarischen Stils“ (S. 428 ff.) im Deutschen Reichstag aus dem Vergleich mit Österreich entnehmen, dass erst kontinuierliche Obstruktionshaltung den Parlamentarismus akut bedroht, während gelegentliche verbalradikale und habituelle Grenzüberschreitungen auch ein Ventil in der Lagerpolarisierung bedeuten. 40 Vgl. Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918–1938, München 1983. 41 Eine staatsrechtliche Beurteilung lässt die revolutionäre „extrem-parlamentarische Phase von 1918 bis 1920“ über die „noch betont-parlamentarische Zeit von 1920 bis 1929“ zuletzt in den „abgeschwächten Parlamentarismus bis 1933“ münden; vgl. Wilhelm Brauneder, Österreich 1918 bis 1938: „Erste“ oder wie viel „Republiken“?, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008, S. 304–322 (hier: S. 321). Nach ähnlichen Kriterien begann der „abgeschwächte“ Parlamentarismus in der Weimarer Republik aber schon 1923.

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Februaraufstand 1934, andererseits gegen die nun vom Deutschen Reich her erstarkende NSDAP. Solche nach Zerstörung der Ersten Republik einsetzende innen- und außenpolitische Eskalation führte dann im Pendelschlag seit 1945 zu besonderen Konfliktvermeidungs-Strategien: einer großkoalitionär-verbändestaatlichen Konkordanzdemokratie im Inneren und der Neutralitätspolitik nach außen im Windschatten der Ost-West-Konfrontation. Entsprechend dem „Cleavage“-Konzept von Lipset/Rokkan42 zeigten in den 1920er Jahren die beiden österreichischen Lager fast perfektes Kontrastgruppen-Profil: Die Christlichsozialen waren ländlich-bäuerlich geprägt, auch sonst auf den alten Mittelstand bezogen, standen in den meisten Bundesländern gegen die Metropole Wien, und waren kirchennah bis hin zu einem Prälaten Seipel an der Parteispitze. Als in Deutschland zumindest eine relative Mehrheit der Bauernschaft schon NSDAP wählte, verzeichneten die „schwarzen“ Agrarlisten in Niederösterreich immer noch 85 % Unterstützung gegenüber „roten“ und großdeutschen Minderheiten.43 Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zeigte eine konträre Milieuverdichtung: Sie war urban geprägt und Wien-zentriert, nahm keine religiösen Rücksichten bis hin zu Kampagnen des Austritts aus der „Seipel-Kirche“. Etwa 45 % der Männer zwischen 20 und 70 und auch halb so viele Frauen waren Ende der 20er Jahre in Wien sogar Mitglied der sozialdemokratischen Partei.44 Diese musste insofern dort für eine absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen zunächst nur innerhalb der eigenen Organisations-Familien mobilisieren. Eine spezifisch österreichische Trennungslinie in der Demokratiekultur zeigte nur der Antisemitismus gleichermaßen der Christlichsozialen wie der Großdeutschen. Dieser hatte die nicht geringe und insofern durchaus mutige Präsentation von Akademikern jüdischer Herkunft in der sozialdemokratischen Führung im Visier. Allerdings konnte der in Wien mit 9 % beachtliche jüdische Bevölkerungsanteil nur für die Sozialdemokraten zählrelevant gegen antisemitische Konkurrenz abstimmen. Dabei unterschätzt eine auf Religionszugehörigkeit abzielende Statistik noch manchen inneren Abstoßungseffekt des Antisemitismus: Ein prominentes Beispiel war Kelsen als ursprünglich linkssozialliberaler Verfassungsbeauftragter jüdischer Herkunft, der für seine 42 Vgl. Seymour M. Lipset/Stein Rokkan, Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments, in: Dies. (Hg.), Party Systems and Voter Alignments, New York 1967, S. 1–64. 43 Vgl. Karl Gutkas, Niederösterreich, in: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.), Österreich 1918–1938, Bd. 2, Graz 1983, S. 852. 44 Vgl. Jahrbuch 1930 der österreichischen Arbeiterbewegung, Wien 1931, S. 111–114 (dort auch die wesentlich geringen Anteile in den anderen Bundesländern).

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Berufschancen sich katholisch taufen ließ und durch Heirat zu einem protestantischen Bekenntnis übergetreten war. Tatsächlich blieb er stets Agnostiker und rief, auch mangels einer Partei wie der DDP, 1927 erstmals zusammen mit anderen Intellektuellen wie z.B. Freud öffentlich zur Wahl der Sozialdemokratie auf. Deren Antipoden in einer sog. „antimarxistischen“ Einheitsliste waren zugleich eine antisemitische Sammlung45 und absorbierten so teilweise diesen Propaganda-Effekt der NSDAP. Was in den 20er Jahren in Wahlergebnissen noch abschirmte, erwies sich aber im Laufe der 30er Jahre dann als politischkulturelles Einfallstor. Als international wohl bekanntester Politikwissenschaftler seines Landes hat Anton Pelinka die sonst nur mit Schweden vergleichbaren Rekordergebnisse der österreichischen Sozialdemokratie auf die besondere Kombination aus „Stabilität der Infrastruktur“ und „Flexibilität der Suprastruktur“ zurückgeführt.46 Das gilt in etwas anderer Verteilung auch schon für die Erste Republik. Eine relativ zur Bevölkerungszahl weltweit einzigartige Mitgliederstärke und Vernetzung mit Umfeldvereinigungen fast aller Lebensbereiche schuf die eigene soziale Infrastruktur eines Milieu- und Organisationspatriotismus. Mit Ausnahme der Frontstellung zu den Christlichsozialen war andererseits das Bemühen um gewisse Flexibilität zu erkennen: gegenüber radikaleren Strömungen zur Linken, liberalen der bürgerlichen Mitte sowie in einigen Bundesländern auch nationalen rechts der Mitte. Derlei Strategien der Einbindung mussten nicht gar zu widersprüchlich erscheinen, weil sie regional unterschiedlich gewichtet waren. Es sind die von Lepsius so genannten „sozial-mo45 Das macht politisch-kulturell einen wesentlichen Unterschied zum Deutschen Reich aus, wo der politische Antisemitismus weder die zentrumskatholischen mit den „nationalen“ Kreisen noch auch nur letztgenannte fest verband. Wenn ein ansonsten viel differenzierter argumentierender Fachvertreter wie Rohe (1992, Anhang/Abb. 1) ersichtlich unter Aspekten der Wahldatenanalyse ein „Nationales Lager“ konstruiert, in dem ein „Linksliberaler Wählerblock“ mit den „Antisemiten“ zur „NSDAP“ hin finalisiert wird, so ist das nicht allein für nicht wenige prominente jüdische Linksliberale eine historiografische Zumutung, sondern auch für die Stimmenwanderung allzu sehr vereinfacht: Wer einmal z.B. aus Tageszeitungen die Ergebnisse der Wahllokale großstädtischer linksliberaler Hochburgen in der Weimarer Endphase verglichen hat, wird feststellen, dass sich dort SPD- und Zentrumsergebnisse gegen den Trend erheblich verbesserten. Der genuine Linksliberalismus blieb zwar in seinem Potential deutlich schwächer und viel unzulänglicher auf Massenpolitik eingestellt als SPD und Zentrum, war jedoch in Großstädten kaum anfälliger für Stimmenverluste an die NSDAP als die beiden anderen Parteien der Weimarer Koalition. 46 Anton Pelinka, Die Entwicklung der österreichischen Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: François-Georges Dreyfus (Hg.), Réformisme et révisionnisme dans les socialismes allemand, autrichien et français, Paris 1984, S. 125–130.

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ralischen Milieus“47 eben nicht allein dem Strukturwandel passiv unterworfen. Sie wirken in der Eigenschaft als Deutungskulturen zugleich aktiv daran mit, wie eine zunehmend komplexe Realität durchaus verschieden wahrgenommen wird.

5.  Prägekraft und Analyse der politischen Deutungskulturen Für die europäische Zwischenkriegszeit kann ohnehin nicht bestritten werden, dass intensiv vernetzte politische Teilkulturen eigene Definitionsmacht ausübten. Anders wäre es kaum zu erklären, dass sich der SPD-Massenanhang in Deutschland bei Reichspräsidentenwahlen 1925 fast geschlossen zur Wahl eines Zentrumskatholiken und 1932 gar jenes altkonservativen Generalfeldmarschalls Hindenburg abkommandieren ließ, gegen den sieben Jahre zuvor noch mobilisiert wurde. Die österreichische Partei entsprach ziemlich genau dem Spektrum der SPD nach Wiedervereinigung mit der gemäßigten USPD im Herbst 1922. Weit mehr als das Minderheits-Zentrum in Deutschland entschied letztlich der politische Mehrheits-Katholizismus in Österreich, ob sich dort sozusagen „Tief-Schwarz“ mit „Leuchtend-Rot“ zur Abwehr von „SchmutzigBraun“ verbünden wollte oder eben nicht. Jedenfalls zum gemäßigten Deutschnationalismus fehlte aber längst die klare Abgrenzung: Schon die zugleich antiliberalen und antisozialdemokratischen Formationen zu Luegers Zeiten nannten sich gern „christlich-deutsch“48, und Brünings Gewerkschaftsachse jenseits der liberalen Hirsch-Dunckerschen und sozialdemokratischen Verbände hieß bekanntlich „christlich-national“. Zwar waren Politischer Katholizismus und Nationalliberalismus kurz nach Bismarcks Reichsgründung noch die wesentlichen Antipoden; das lag aber nun volle zwei Generationen zurück. Im Hinblick auf das Entschwinden des freudianisch auf die Couch gelegten Familientypus ist vom „Veralten der Psychoanalyse“ gesprochen worden.49 Eine für das Kaiserreich aus dem Stichwahlverhalten bis 1907 noch recht gut abgestützte Drei47 Vgl. M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Die deutschen Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80. 48 Bezeichnenderweise noch zum Staatsfeiertag der Republik am 12.11.1933 erklärte die christlichsoziale „Reichspost“ apodiktisch: „Österreich ist ein christlich-deutscher Staat und danach richtet sich, wer mitarbeiten darf und wer nicht.“ Das verwies nun die Sozialdemokraten zusammen mit Kommunisten und Nationalsozialisten in ein Staatsfeinde-Lager. 49 Herbert Marcuse, Das Veralten der Psychoanalyse, in: Ders., Kultur und Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1963, S. 85-106.

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Lager-These Rohes konnte wohl auch schon in den 1920er Jahren die Parteifamilien nicht mehr wirklich zeitgerecht durchleuchten. Was lässt sich abschließend für die Analyse von Demokratiekultur aus dem Beispiel der österreichischen Ersten Republik lernen? Zum einen verbessert offenbar dort, wo kein evolutionärer nordwesteuropäischer Weg bereit stand, eine möglichst klare Zäsur gegenüber der gestürzten Ordnung die Startchancen des Neuanfangs. Das galt ähnlich für die Tschechoslowakische Republik als zweitem Haupterben der altösterreichischen Reichshälfte. Nicht zufällig wurde auch dort Kelsens Verfassungstheorie rezipiert, die Staatlichkeit auf Recht, nicht bloß auf Machtkontinuität gründet.50 Beim Antipluralisten Carl Schmitt, den katholische wie nationale Motive leiteten, wurden Kelsen und Preuß zusammen mit dem Niederländer Krabbe und dem Briten Laski der intellektuellen Demontage von aus absolutistischer Zeit überlieferter Staatssouveränität bezichtigt.51 So polarisiert das Parlament in Wien und so fragmentiert es gar in Prag erschien: Ihr Ende fanden beide demokratischen Republiken erst unter dem Außendruck Hitlerdeutschlands. Dessen Überwindung von außen und damit verbundener Ausbruch aus der Kontinuitätslinie preußischdeutscher Staatssouveränität ebnete dann auch dort einen Weg zur westlichen Demokratiekultur. Des weiteren entspricht Österreich am meisten dem parteien- und verbändestaatlichen Typus der parlamentarischen Demokratie. Das erleichterte dann zwar die regressive Variante einer ständestaatlichen Diktatur der Christlichsozialen. Aber dies beinhaltete zugleich ein Potential der Fortentwicklung zum modernen Pluralismus. Diesen als „neokorporativ“ abzustempeln entspricht nicht dem Standard der von Fraenkel und in Ansätzen zuvor auch schon von Kelsen und Preuß geprägten Theoriebildung.52 Schließlich dementiert eine österreichische Fallstudie die Treffsicherheit vieler in der Politikwissenschaft kursierender Ansätze zur Strukturanalyse von Parteiensystemen im Kontext der politischen Kultur: Auf der bekannten Sartori-Skala53, vom Zweiparteiensystem minderer Gegensätze über gemäßigten und dann segmentierten bis hin zum polarisierten Pluralismus, findet die Erste 50 Vgl. Freia Anders, Verfassungswirklichkeit und Verfassungskritik in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Gusy (Hg.) 2008, S. 229–262 (hier: S. 245 ff.). 51 Zu seinem Antipluralismus vgl. Detlef Lehnert, „Der Staat als Form der politischen Einheit, durch den Pluralismus in Frage gestellt“, in: Reinhard Mehring (Hg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen, Berlin 2003, S. 71–92. 52 Vgl. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1974; Robert Chr. van Ooyen, Der Staat der Moderne. Hans Kelsens Pluralismustheorie, Berlin 2003; Detlef Lehnert, Das pluralistische Staatsdenken bei Hugo Preuß, Baden-Baden 2011 (in Vorbereitung). 53 Vgl. Giovanni Sartori, Parties and Party Systems, Cambridge 1976.

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Republik nicht ihren Platz: Ein Zweiparteiensystem war sie in den 1920er Jahren auch ohne Mehrheitswahlrecht stärker als sogar Großbritannien, das vorübergehend Erfahrungen mit einem Dreiparteiensystem machte. Die Segmentierung der beiden österreichischen Großlager zeigte gleichzeitig republikweit Ähnlichkeiten mit der niederländischen „Versäulung“.54 In manchen Bundesländern, aber nicht in Wien mit klarer Rollenverteilung von Regierung und Opposition, fanden sich auch schon damals Parallelen zur entstehenden Schweizer Proporzkultur. Es ist demnach ein viel zu enger Horizont, wesentlich nur den angelsächsischen evolutionären und französischen revolutionären Weg zur modernen Demokratiekultur vor Augen zu haben, daneben zur Kontrastierung noch Deutschland und Italien als verspätete Nationen mit Abgleiten in ein Diktaturregime. Solche auch demokratietheoretische Fokussierung auf das Konzert der großen Mächte entsprach mehr dem Zeitalter des Imperialismus, das sich mit den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs im Kern bereits überlebt hatte. Auch deshalb befassen sich Beiträge, die in diesem Band dokumentiert werden, mehr als sonst üblich mit anderen länderspezifischen Modellen, die ihren Beitrag zur Entwicklung von europäischer Demokratiekultur im 20. Jahrhundert leisteten.

54 Vgl. Rolf Steininger, Polarisierung und Integration. Eine vergleichende Untersuchung der strukturellen Versäulung der Gesellschaft in den Niederlanden und in Österreich, Meisenheim 1975.

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Von der Frontgemeinschaft zur Volksgemeinschaft? Kriegserfahrungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich während der Zwischenkriegszeit

„Kein Mensch“, so hat Kurt Tucholsky 1927 mit Blick auf den Ersten Weltkrieg bemerkt, „vermag eine ganze Epoche seines Daseins als sinnlos zu empfinden. Er muß sich einen Vers darauf machen. Er kann seine Leiden verfluchen oder loben, zu verdrängen suchen oder sie lebendig halten – aber daß sie sinnlos gewesen seien, das kann er nicht annehmen. Der Pazifismus hat seinen großen Augenblick versäumt, welcher das Ende des Jahres 1918 war. Wir haben den Millionen, die zurückgekehrt sind, kein seelisches Äquivalent für ihre Leiden gegeben ... .“1 In der Tat: Die Sinndeutung des vorderhand Sinnlosen, des grauenvollen Dahinschlachtens während des Weltkriegs, erwies sich in den 1920er Jahren als existentielle Aufgabe, zugleich aber auch als große politische Herausforderung – und dies keineswegs nur für die Frontkämpfer. Dabei war diese Sinnstiftung von vornherein mehr als nur ein „seelisches Äquivalent“, und sie blieb keineswegs so erfolglos, wie es Tucholskys Äußerung nahe legt. Allerdings bewegte sie sich möglicherweise in eine ganz andere Richtung, als es ihm, dem pazifistischen Publizisten, lieb war. Franz Schauwecker etwa, ein Schriftsteller des sogenannten soldatischen Nationalismus, der als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte und mit seinem Kriegsroman „Aufbruch der Nation“ 1930 ein großes Echo in der deutschen Öffentlichkeit fand, hat diesen Zusammenhang bereits in seinem 1919 erschienenen Frontbuch „Im Todesrachen“ verdeutlicht: „Das Schlachtfeld“, so heißt es dort, „wirkt auf die Seele zurück, und der Krieg geht in den Köpfen weiter, in dem Bewußtsein einer neuen, verpflichtenden Erkenntnis“.2 Damit ist bereits das Thema umrissen, von dem im folgenden die Rede sein soll. In der Terminologie Schauweckers geht es dabei um das Verhältnis zwischen dem Bild, der Imagination des Krieges in der „Seele“ der Betroffenen, 1 2

Ignaz Wrobel [Kurt Tucholsky], Über wirkungsvollen Pazifismus, in: Die Weltbühne, Jg. 1927, Nr. 41 (11.10.1927), S. 555 f Franz Schauwecker, Im Todesrachen. Die deutsche Seele im Weltkriege, Halle 1919, S. 249.

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und einer hieraus gewonnenen „Erkenntnis“, die zugleich eine „Verpflichtung“ darstellt – zum Handeln. Abstrakter formuliert: Es geht um den Zusammenhang zwischen einer bestimmten Deutung des Ersten Weltkriegs und jenen politischen Ordnungsvorstellungen, die in den 1920er Jahren um den Begriff der „Gemeinschaft“ kreisten, das omnipräsente Konzept der Volksgemeinschaft in legitimatorischer Absicht auf die Frontgemeinschaft des großen Krieges bezogen und es dadurch exklusiv ausrichteten.3

1.  Perspektiven eines deutsch-französischen Vergleichs Der thematisierte Zusammenhang markiert keinen deutschen Sonderweg. Was für die Deutschen im August 1914 die Idee des Burgfriedens war, also die Vorstellung einer neuartigen nationalen Gemeinschaft jenseits der unterschiedlichen Milieus, Klassen und Parteien, das war für die Franzosen die Vision der Union sacrée, und hier wie dort wurde mit diesen Ideen Politik gemacht, während des Krieges – und erst recht danach.4 Dabei waren die Bedingungen, unter denen das Kriegserlebnis jeweils verarbeitet werden musste, in Deutschland und Frankreich durchaus vergleichbar.5 Erstens war die Dritte Republik wie das Kaiserreich politisch und kulturell tief gespalten. Scheinbar unversöhnlich standen sich das liberal-republikanische und das konservativkatholische Lager gegenüber, und das Wort von den „deux France“ hatte mit Blick auf die politische Kultur Frankreichs seine vollständige Berechtigung.6 Zweitens war Frankreich, dem deutschen Fall durchaus ähnlich, nach 1918 durch eine erhebliche politische und wirtschaftliche Instabilität gekennzeichnet: Der Verfall des französischen Francs traf besonders die kleinen Sparer und Anleger, die Folgen der landwirtschaftlichen Strukturkrisen waren für nie-

3 Vgl. Gerd Krumeich, Einleitung: Die Präsenz des Krieges im Frieden, in: Jost Dülffer/ Ders. (Hg.), Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002, S. 7–17. 4 Vgl. die Beiträge in Carsten Kretschmann/Wolfram Pyta (Hg.), Burgfrieden und Union sacrée. Literarische Kriegsdeutungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich 1918–1933, München 2011. 5 Dazu grundsätzlich Horst Möller, Lassen sich die deutsche und die französische Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg vergleichen?, in: Ders./Manfred Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und Franreich 1918–1933/40, München 2002, S. 1–19. 6 Vgl. Manfred Kittel, Die „deux France“ und der deutsche Bikonfessionalismus im Vergleich, in: ebd., S. 33–56.

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manden zu übersehen, und die Regierungen wechselten in dichter Folge.7 Drittens stand auch Frankreich vor der immensen Aufgabe, ein Millionenheer von Frontkämpfern in die Gesellschaft zu integrieren, auch wenn diese Aufgabe durch den Umstand erleichtert wurde, dass die Dritte Republik, anders als das Kaiserreich, nach 1918 zu den Siegermächten gehörte.8 Viertens schließlich gewann in Frankreich, wie auch in Deutschland, die Idee einer durch das Kriegserlebnis beglaubigten Gemeinschaft in allen politischen Lagern eine große Bedeutung bei der Formulierung und Durchsetzung konkreter Ordnungsvorstellungen. Besonders virulent wurden die entsprechenden Konzepte, wie auch im deutschen Fall, letztlich auf der extremen Rechten, in der Action française, den Ligues, den Faisceaux, der Solidarité française und der Croix de Feu, den Feuerkreuzlern unter General François de la Roque, einem Veteranen des Ersten Weltkriegs, aus denen später der Parti social français hervorging.9 Aber auch bei der Bildung einer demokratischen Sammlungsbewegung, in deren Zentrum die liberale Alliance Républicaine Démocratique stand, spielte der Bezug auf die Union sacrée eine nicht unerhebliche Rolle.10 Welche Vorstellung von Gemeinschaft wurde nun aber in Deutschland und in Frankreich nach 1918 letzthin hegemonial – und warum? Welche Bedeutung kam der verdächtig oft beschworenen Frontgemeinschaft hierbei zu? Wen und was vermochte der Verweis auf ein kollektiv gedeutetes Fronterlebnis zu beglaubigen? Welche politische Praxis, welche Handlungsoptionen, welcher politische Stil resultierte aus alledem? Und welche Folgen hatte dies für die Repräsentationskultur in Deutschland und Frankreich?

7 Vgl. Thomas Raithel, Krise und Stabilisierung des Parlamentarismus in Frankreich 1918 bis 1926, in: Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007, S. 87–110, bes. S. 94–103. 8 Grundlegend Antoine Prost, Les anciens cambattants (1914–1939). Bd.  1–3, Paris 1977. Vgl. auch Stéphane Audoin-Rouzeau/Annette Becker, Retrouver la Grande Guerre, Paris 2001, bes. S. 199–258; Annette Becker, La guerre et la foi. De la mort à la mémoire, 1914–1918, Paris 2001. 9 Zur Einordnung Richard Millman, Les ligues et la République dans les années trente, in: Möller/Kittel (Hg.) 2002, S. 79–90; Klaus-Jürgen Müller, „Faschismus“ in Frankreichs Dritter Republik?, in: ebd., S. 91–130. 10 Georges-Henri Soutou, Burgfrieden und Union sacrée, in: Kretschmann/Pyta (Hg.) 2011, S. 51–71; Stefan Grüner, Zwischen Einheitssehnsucht und pluralistischer Massendemokratie. Zum Parteien- und Demokratieverständnis im deutschen und französischen Liberalismus der Zwischenkriegszeit, in: Möller/Kittel (Hg.) 2002, S. 219–249, bes. S. 239 f.

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Traditionell versteht man unter „Repräsentation“ verschiedene Mechanismen politischer Partizipation, mit deren Hilfe innerhalb einer überkommenen politischen und sozialen Verfassung Macht und Güter neu verteilt werden. Im folgenden soll der Begriff – im Einklang mit Ansätzen der jüngeren Kulturgeschichte – allerdings in einem weiteren Sinne verstanden werden: als ein kulturelles Konzept, das alle Strategien und Praktiken umfasst, mit deren Hilfe im politischen Raum Bedeutung und Sinn gestiftet werden.11 In unserem Fall bezieht sich dies vor allem auf die Wahrnehmung und Interpretation des Kriegserlebnisses, das sich erst im Modus der Deutung zur intersubjektiv mitteilbaren Erfahrung entwickelte, sowie auf die Art und Weise, wie die Politik selbst in der Zwischenkriegszeit kulturell neu codiert wurde. Denn die Politik der Repräsentation ist von der Repräsentation des Politischen nicht zu trennen; beides ist wechselseitig aufeinander bezogen. Charles S. Maier hat diesen Zusammenhang bereits vor über dreißig Jahren am Beispiel des Korporatismus der Nachkriegszeit, der die zwischen 1914 und 1918 durch Burgfrieden und Union sacrée vorübergehend domestizierten Verteilungskonflikte auf Dauer entschärfen sollte, eindrucksvoll herausgestellt.12 Eine Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs hat daher nicht nur die totale Medialisierung des Geschehens zwischen 1914 und 1918 selbst in den Blick zu nehmen; vor allem hat sie sich mit seiner Deutung nach 1918 zu befassen, deren politische Schlagkraft gerade aus dem Spannungsverhältnis von erlebtem und imaginiertem Krieg resultierte.13 Die Deutung des Kriegserlebnisses avancierte so zu einem eigenen Schlachtfeld, auf dem – in Deutschland mehr als in Frankreich – ein erbitterter Kampf um die Repräsentation des Krieges ausgetragen wurde. Dieser hatte erhebliche Konsequenzen für die politische Kultur der ehemals kriegführenden Staaten und veränderte in unterschiedlicher Weise die Repräsentation des Politischen insgesamt, in Deutschland speziell durch die Übermacht dezisionistischer Politikmodelle, durch einen Kult der Tat und der Entscheidung, durch eine Rhetorik des Alles oder Nichts sowie durch die Sehnsucht nach einem politischen Führer, der antreten sollte, die 11 Vgl. Bernd Weisbrod, Die Politik der Repräsentation. Das Erbe des Ersten Weltkrieges und der Formwandel der Politik in Europa, in: Hans Mommsen (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung, Köln 2000, S. 13–41. 12 Charles S. Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1975. 13 Vgl. Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich (Hg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…“. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993; Gerhard Hirschfeld u.a. (Hg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1996.

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politische Maximalvorstellung einer soldatisch imprägnierten Volksgemeinschaft zu verwirklichen, und zwar auf Leben und Tod.14 In solchem Kontext werden im folgenden zwei Aspekte einer genaueren Betrachtung unterzogen, die für den Zusammenhang von Frontgemeinschaft und Volksgemeinschaft von besonderer Bedeutung sind: die Kategorie der Generation, die sich nach dem Ersten Weltkrieg als eine Verarbeitungsgemeinschaft eigenen Rechts etablierte, sowie der Kriegsroman, der in den 1920er Jahren zu einem zentralen Medium wurde – für die Politik der Präsentation ebenso wie für die Präsentation des Politischen. Dabei ist zunächst ausführlicher vom deutschen Fall die Rede.

2.  Das Problem der Generationen Anders als bei Kategorien wie Klasse oder Milieu beruht das Konzept der Generation nicht allein auf gesellschaftlichen oder politischen Zuschreibungen, sondern schließt von vornherein eine – in der Reichweite freilich umstrittene – biologische Perspektive ein: Generation ist ein zeitlich determinierter Ordnungsbegriff, der von vergleichbaren Sozialisations- und Erfahrungszusammenhängen verwandter Geburtsjahrgänge ausgeht und sich auf spezifische Formen der Vergemeinschaftung richtet, die sich in einem kollektiven Denken, Fühlen und Handeln ausdrücken.15 Der spezielle Reiz und wohl auch die größte methodologische Herausforderung des Konzepts liegt darin, dass es sich bei der Generation um eine interessegeleitete Form der Selbstthematisierung handelt, die zugleich beansprucht, eine analytische Kategorie zu sein und als solche Phänomene gesellschaftlichen Wandels strukturieren und deuten zu können. Als zeitlicher Ordnungsbegriff steht Generation darüber hinaus im Spannungsverhältnis von Biologie und Soziologie oder – in der Terminologie der 1920er Jahre – von Natur und Kultur, was zu teilweise heftigen polemischen Auseinandersetzungen, mehr aber noch zu fruchtbaren interdisziplinären Forschungsansätzen geführt hat.16 Schließlich lässt sich auch für kulturwis14 Dazu Thomas Mergel, Das parlamentarische System von Weimar und die Folgelasten des Ersten Weltkriegs, in: Wirsching (Hg.) 2007, S. 37–59, bes. S. 51–56. 15 Vgl. Andreas Schulz/Gundula Grebner, Generation und Geschichte, in: Dies. (Hg.), Generationswechsel und historischer Wandel, München  2003, S.  1–23; Andreas Schulz, Individuum und Generation – Identitätsbildung im 19. und 20. Jahrhundert, in: GWU 52 (2001), S. 406–414. 16 Dazu u.a. Günter Burkart/Jürgen Wolf (Hg.), Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen, Opladen 2002.

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senschaftliche Grundbegriffe, die von Soziologen, Pädagogen, Psychoanalytikern, Historikern und Politikwissenschaftlern in der Generationenforschung benutzt werden, ein gewisses Spannungsverhältnis beobachten: so etwa zwischen Identität und Kollektivität, Erlebnis und Erfahrung, Deuten und Handeln.17 Es nimmt daher nicht wunder, dass Karl Mannheim (1893–1947), in gewisser Weise der Stammvater der modernen Generationenforschung, das Verhältnis einzelner Generationen zueinander, dem er im Kontext seiner wissenssoziologischen Studien seit Mitte der 1920er Jahre sich widmete, bewusst als „Problem“ bezeichnet hat.18 Tatsächlich sollte das Konzept der Generation in Mannheims Worten zunächst dazu dienen, die „beschleunigten Umwälzungserscheinungen der unmittelbaren Gegenwart“ soziologisch zu erklären und so auch jene „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“19, die Wilhelm Pinder 1927 als kreatives Moment in der europäischen Kunstgeschichte identifiziert hatte, analytisch zu durchdringen. Eine Generation bezeichnet für Mannheim keine soziale Gruppe im engeren Sinne (wie etwa die Familie), sondern zunächst einen bloßen Zusammenhang, in dem die Individuen nicht automatisch eine konkrete Gemeinschaft ausbilden, auch wenn sie durch gemeinsame Erlebnisse und Haltungen miteinander verbunden sind. Eine solche „gemeinsame Lagerung im sozialen Raum“20 ist aus Mannheims Sicht eine unabdingbare Voraussetzung allen Zusammenlebens, der man sich nicht entziehen kann – einerlei, ob man „davon weiß oder nicht, ob man sich ihr zurechnet oder diese Zurechenbarkeit vor sich verhüllt“ (S. 526). Diese „gemeinsame Lagerung“ wird im übrigen nicht allein durch das „Faktum der in derselben chronologischen Zeit erfolgten Geburt, des zur selben Zeit Jung-, Erwachsen-, Altgewor17 Dazu kursorisch Ulrike Jureit, Generationenforschung, Göttingen  2006, S.  11–15; Dies. (Hg.), Politische Kollektive. Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften, Münster 2001. 18 Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 7 (1928), S.  157–185, 309–330; im folgenden zit. n.: Ders., Wissenssoziologie, Hg. Kurt H. Wolff, Berlin 1964, S. 509–565. Dazu u.a. Jürgen Zinnecke, „Das Problem der Generationen“. Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischem Text, in: Jürgen Reulecke (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20.  Jahrhundert, München 2003, S. 33–58. 19 Wilhelm Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, Leipzig 1927. Vgl. Martin H. Geyer, „Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Zeitsemantik und die Suche nach Gegenwart in der Weimarer Republik, in: Wolfgang Reinhardt (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 165–187. 20 Mannheim 1964, S. 536 (daraus auch die nachfolgend aufgeführten Seitenangaben).

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denseins“ konstituiert, sondern erst durch „die daraus entstehende Möglichkeit, an denselben Ereignissen, Lebensgehalten usw. zu partizipieren“ (S. 536). Da diese Partizipation aber unterschiedlich vollzogen wird und die potentiell generationsstiftenden Ereignisse in verschiedener Weise verarbeitet und gedeutet werden, finden sich in ein und demselben Generationszusammenhang nicht selten „mehrere, polar sich bekämpfende Generationseinheiten“ (S. 544). Erst diese Einheiten, die sich durch ein homogenes Deuten und Handeln auszeichnen, durch eine „verwandte Art des Mitschwingens und Gestaltens“ (S.  547), lassen sich als soziale Gruppen interpretieren. Dass es zur Ausformung unterschiedlicher Deutungs- und Handlungsmuster innerhalb eines Generationszusammenhangs kommt, ändert freilich nichts daran, dass jenem insgesamt ein „einigendes Deutungsbedürfnis“21 zugrunde liegt. Die politische Kultur der Weimarer Republik, die durch radikale, sich gegenseitig ausschließende und einander bekämpfende Strategien zur Bewältigung einer durch Krieg und Niederlage ausgelösten und bald manifest gewordenen Sinnund Orientierungskrise gekennzeichnet ist, bietet hierfür zahlreiche Beispiele.22 Generationseinheiten – der Einfachheit halber kurz Generationen genannt – konstituieren sich, in Mannheims Argumentation, aufgrund von identitätstiftenden Erlebnissen und Erfahrungen. Sie etablieren sich als Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften, die auf dem politischen Massenmarkt kollektiver Sinnstiftungen miteinander konkurrieren und nach gesellschaftlicher Deutungshegemonie streben. Insofern ist es nur konsequent, wenn sich die Konstruktion einer Generation im öffentlichen Raum vollzieht und die generationellen Deutungs- und Handlungsmuster kommunikativ begründet und medial verbreitet werden.23 Als „imaginierte Gemeinschaften“ bewegen sich Generationen in kulturellen Systemen mit spezifischen Traditionen und überlieferten Zeichen und Symbolen, die generationsstiftende Elemente verdichten und sie so erst kommunizierbar machen.24 Was nun diese generationsstiftenden Elemente be21 So Jureit 2006, S. 22. 22 Vgl. Hans Mommsen, Generationenkonflikt und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, in: Reulecke (Hg.) 2003, S. 115–126; Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008. 23 Dazu Christina von Hodenberg, Politische Generationen und massenmediale Öffentlichkeit. Die „45er“ in der Bundesrepublik, in: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 220–242. 24 Der theoretische Hintergrund bei Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin und Spread of Nationalism, London 1983; Eric J. Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983.

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trifft, so sind es in den Worten Mannheims nicht allein die Kindheits- und Jugenderlebnisse, die kollektiven Wahrnehmungen und Handlungsoptionen, die vergemeinschaftend wirken, sondern ebenso die „formenden Kräfte, durch die gestaltet diese Inhalte erst wirklich ein Gepräge und eine Richtungsbestimmtheit erhalten. Vom geprägten Schlagwort bis zum Gedankensystem, von der scheinbar isolierten Geste bis zum gestalteten Kunstwerk, wirkt sich oft dieselbe Formierungstendenz aus, deren soziale Bedeutung eben darin besteht, dass durch sie und in ihr sich Individuen sozial zu verbinden mögen.“25 Die „formenden Kräfte“, die Mannheim nach Erkenntnissen der zeitgenössischen Gestaltpsychologie für die gelingende Konstruktion einer Generation als unverzichtbar betrachtet, geben den generationellen Suchbewegungen erst Ordnung und Sinn. Sie bündeln die vielschichtigen Erfahrungsinhalte innerhalb einer Generation in einem gemeinsamen Bezugspunkt, einem sogenannten Generationsobjekt.26 Als solches kommen Personen, Ereignisse und Dinge in Frage, die den generationellen Vergemeinschaftungsprozess strukturieren und ihn symbolhaft verdichten. In den 1920er Jahren wird diese Funktion vor allem durch den Ersten Weltkrieg, näherhin: durch die Idee der Frontgemeinschaft, erfüllt. Sie ist das dominierende Generationsobjekt der Weimarer Republik. „Frontgeneration“, „Kriegsjugendgeneration“, „Generation der Sachlichkeit“, „Generation des Unbedingten“, „Generationen der ,Heroischen Moderne‘“ – an Vorschlägen, den Generationszusammenhang der 1920er Jahre konzeptuell zu durchdringen und ihn begrifflich auf den Punkt zu bringen, herrscht kein Mangel.27 Ein besonders differenzierter Vorschlag stammt bekanntlich von Detlev Peukert.28 In seiner nach wie vor höchst instruktiven Gesamtdarstellung der Weimarer Republik, die er als „Krisenjahre der Klassischen Moderne“ deutet, analysiert er den Weg von vier politischen Generationen durch eine Nachkriegszeit, die bereits wieder eine Vorkriegszeit war. 25 Mannheim 1964, S. 545. 26 Dieser Begriff wird eingeführt bei Christopher Bollas, Genese der Persönlichkeit. Psychoanalyse und Selbsterfahrung, Stuttgart 2000, bes. S. 238. 27 Vgl. Richard Bessel, The Front Generation and the Politics of Weimar Germany, in: Mark Roseman (Hg.), Generations in Conflict. Youth Revolt and Generation Formation in Germany 1770–1968, Cambridge 1995, S. 121–136; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg  2002; Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, Bonn 1996; Heinz D. Kittsteiner, Die Generationen der „Heroischen Moderne“, in: Jureit/Wildt (Hg.) 2005, S. 200–219. 28 Vgl. Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1990, S. 16–31, 91–100.

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Hierbei unterscheidet Peukert erstens die „Wilhelminische Generation“, deren Vertreter – wie etwa Kaiser Wilhelm  II. (1859–1941), Carl Duisberg (1861–1935) oder Walther Rathenau (1867–1922) in den 1850er und 1860er Jahren geboren – die Reichsgründungszeit noch als Kinder erlebten und im Bismarckreich politisch sozialisiert worden waren; zweitens die „Gründerzeitgeneration“, deren Vertreter – wie etwa Friedrich Ebert (1871–1925), Gustav Stresemann (1878–1929), Otto Braun (1872–1955) oder Konrad Adenauer (1876–1967) im Jahrzehnt der Reichsgründung geboren – maßgeblich durch das Kaiserreich geprägt waren, ihre politische Wirksamkeit jedoch erst in der Weimarer Republik entfalteten; drittens die „Frontgeneration“, deren Vertreter – wie etwa Heinrich Brüning (1885–1970), Ernst Thälmann (1886–1944) oder Adolf Hitler (1889–1945) in den 1880er und 1890er Jahren geboren – entscheidend von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs beeinflusst waren; und viertens schließlich die „überflüssige Generation“, deren Vertreter – wie etwa Heinrich Himmler (1900–1945) oder Heinz Neumann (1902–1937) zwischen 1900 und 1910 geboren – durch den Ausgang des Ersten Weltkriegs in ihren Gestaltungsmöglichkeiten eingeschränkt waren, ohne diesen Mangel durch den Mythos der Fronterfahrung kompensieren zu können. Nun ist es offensichtlich, dass keine Generation im strengen Sinne „überflüssig“ sein kann. Wo sie sich selbst ein solches Attribut zuspricht, unterstreicht sie zumeist nur verdeckt formulierte Gestaltungsansprüche. Tatsächlich waren es ausschließlich die Frontgeneration und die sogenannte „überflüssige Generation“, also die Kriegsjugendgeneration, die sich in den 1920er Jahren unablässig selbst als Generationen thematisierten. Offenkundig verfügten beide mit dem Ersten Weltkrieg und – mit schwächerer Wirkung – der Revolution von 1918/19 sowie dem Inflations- und Krisenjahr 1923 über besonders wirksame Generationsobjekte. Dies galt zunächst und unmittelbar für die Frontgeneration, und ihre Arbeit an der kollektiven Identität begann bereits 1914. Nachdem in der Geschichtswissenschaft eine Zeitlang der Eindruck vorherrschte, das vielbeschworene Augusterlebnis sei durchweg flüchtiger Natur gewesen und habe sich zudem auf bestimmte soziokulturelle Milieus beschränkt29, hat die jüngere Forschung – nicht zuletzt unter Verweis auf das Fronterlebnis – die Akzente nachdrücklich verschoben.30 Tatsächlich dyna29 Vgl. Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000; Christian Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914, Essen 1998. 30 Vgl. Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997. Ders., Das „Fronterlebnis“ des Ersten Weltkrieges – eine sozialhistorische Zäsur?, in: Mommsen (Hg.) 2000, S. 43–82.

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misierte der Erste Weltkrieg die Idee der Nation und lud sie partizipatorisch auf.31 Auch wenn die konkreten politischen Ordnungsvorstellungen, allen voran der „Volksstaat“ und die „Volksgemeinschaft“, durchaus unterschiedliche Akzente tragen, so drücken sie doch allesamt die Absicht aus, die im August 1914 errungene innere Einheit des deutschen Volkes zu sichern und sie nach dem Ende des Krieges dauerhaft zu verwirklichen.32 In diesem Zusammenhang kommt nun dem Konzept der Generation insofern eine herausgehobene Bedeutung zu, als die Generation – im Unterschied etwa zu Klasse und Milieu – geeignet schien, die vielfach zerklüftete politische Kultur des Kaiserreichs zu integrieren und, von der Jugend ausgehend, einen neuartigen Prozess nationaler Vergemeinschaftung in Gang zu setzen.33 Angetrieben wurde dieser Prozess durch die Idee der Frontgemeinschaft, die in den 1920er Jahren zu einer wichtigen Legitimationsfigur für die Vorstellung einer die Klassen- und Milieugrenzen überwindenden Volksgemeinschaft wurde, wie sie – freilich mit divergierenden Konzepten und unterschiedlichem Nachdruck – alle politischen Parteien propagierten.34 Als Generationsobjekt war die Frontgemeinschaft in der politischen Kultur der 1920er Jahre vor allem aus zwei Gründen erfolgreich. Zum einen wurde sie in einem weitgefächerten Medienspektrum, zu dem publizistische Texte, 31 Vgl. Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; Sven Oliver Müller, Die umkämpfte Nation. Legitimationsprobleme im kriegführenden Kaiserreich, in: Jörg Echternkamp/Sven Oliver Müller (Hg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960, München 2002, S. 149–172. 32 Vgl. Moritz Föllmer/Andrea Meissner, Ideen als Weichensteller? Polyvalenz, Aneignung und Homogenitätsstreben im deutschen Nationalismus 1890–1933, in: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit, München 2006, S. 313–335, bes. S. 329–323. 33 Zur Einordnung Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.), Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1990. 34 Zur klassen- und milieuüberschreitenden Deutung des Kriegserlebnisses u.a. Ziemann 2000, S. 65; Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20.  Jahrhundert, Göttingen  2006, S.  19, 65–67. Zur integrierenden Kraft der Volksgemeinschaftsidee vgl. Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 166–171; Peter Fritzsche, Wie aus Deutschen Nazis wurden, Zürich 1999, S. 46–48, 72–77, 90–92; Thomas Mergel, Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918– 1936, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 91–127.

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politische Reden und Parteiprogramme ebenso gehörten wie Erinnerungen, Briefe und Tagebücher, aber auch audiovisuelle Medien, unablässig thematisiert und popularisiert. Von besonderer Bedeutung waren dabei die unzähligen Kriegsromane, die mit Hilfe literarischer Mittel das individuelle Fronterlebnis zu einer kollektiven Kriegserfahrung formten, und so eine Meistererzählung des großen Krieges schufen, die für viele Leser attraktiv war und zudem die Idee der Volksgemeinschaft als einer konkreten politischen Ordnungsvorstellung legitimieren konnte.35 Zum anderen verband gerade dieses Objekt auf unheilvolle Weise zwei Generationen: die Frontgeneration und die Kriegsjugendgeneration. Die Gefallenen wollten nicht sterben, und das Totengedenken erhielt eine appellative Struktur. Ermöglicht wurde dies durch den Umstand, dass das Generationsobjekt Frontgemeinschaft nicht nur ein weitverbreitetes Erlebnis zum Bezugspunkt kollektiver Identität machte, sondern es gleichzeitig in die Erfahrungswelt der Kriegsjugendgeneration einfügte.36 Eine wesentliche Voraussetzung für diese Integrationsleistung war der hohe Grad an Authentizität und Sensitivität, der dem Fronterlebnis zu eigen ist; die Erfahrung der Todesnähe als einer existentiellen Grenzsituation brannte sich gleichsam in den Leib des Soldaten ein.37 Damit lässt sich freilich nur erklären, warum viele Frontkämpfer ihre Identität auch nach dem Ende des Krieges vorrangig aus der Verarbeitung des Kriegserlebnisses bezogen. Für die nachwachsende Alterskohorte sowie für die Heimatfront, die die Frontgemeinschaft in einem sehr ähnlichen Sinne deuteten und sie ebenfalls zu einem Fixpunkt generationeller Vergemeinschaftung machten, obwohl sie nicht auf den Feldern Flanderns gekämpft hatten, bedarf es einer zusätzlichen Erklärung.38 Die Erfahrung der Leiblichkeit, die die Authentizität des Generationsobjekts gewährleistet, erfüllt sich nicht allein in der unmittelbaren Anwesenheit auf dem Schlachtfeld und bestimmten rituellen Praktiken wie etwa dem Exerzieren, Marschieren und Singen, die eine starke performative Komponente besitzen, sondern auch in einer imaginierten Präsenz. „Die Studenten, mit denen ich mich in jener Kompanie zusammenfand“, so hat etwa Ernst von Salomon 35 Vgl. Wolfram Pyta, Die expressive Kraft von Literatur. Der Beitrag der Weltkriegsliteratur zur Imagination politisch-kultureller Leitvorstellungen in der Weimarer Republik, in: Angermion. Jahrbuch für britisch-deutsche Kulturbeziehungen 2 (2009), S. 57–76. 36 Zu den hier wirksamen Mechanismen Bernhard Giesen, Generation und Trauma, in: Reulecke (Hg.) 2003, S. 59–71. 37 Ebd., S. 61–63. 38 Aus gender-Perspektive Regina Schulte, Die Heimkehr des Kriegers. Das Phantasma vom Stillstand der Frauen, in: Dies., Die verkehrte Welt des Krieges. Studien zu Geschlecht, Religion und Tod, Frankfurt a. M. 1998, S. 15–34.

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(Jg.  1902) diesen Zusammenhang mit Blick auf seinen Freikorpseinsatz im Baltikum einmal erhellt, „waren alle bei Langemarck dabei gewesen, wenn nicht tatsächlich, so doch sicherlich sozusagen symbolisch“.39 Nicht die reale, sondern die als authentisch wahrgenommene Leiblichkeitserfahrung ist für die Konstruktion einer Generation entscheidend. Nicht die Narbe, sondern das Bewusstsein, verwundet zu sein, ist maßgeblich. Dass Leiblichkeit für die Frontgeneration wie für die Kriegsjugendgeneration überhaupt zu einer leitenden und identitätsstützenden Kategorie werden konnte, mag nicht zuletzt mit einer neuen Kultur des Körperlichen zusammenhängen, die die Jugend in der Weimarer Republik prägte und auf diese Weise eine Brücke zwischen der Leiblichkeitserfahrung des Ersten Weltkriegs und der Erfahrungswelt der Nichtkombattanten schlug.40 „Wir sind eine Generation“, so hieß es etwa bei Klaus Mann, „sei es, daß nur Ratlosigkeit uns vereine. ... Wir haben uns, als Körper, so tief erlebt, so ganz und gar, mit so viel Lust, so viel Trauer – daß wir auch wieder anfangen dürfen zu denken.“41 Die politischen Konsequenzen dieser generationellen Disposition scheinen hinlänglich bekannt zu sein. Bereits vor geraumer Zeit hat George L. Mosse etwa den Einfluss der radikalen Ideologie des sogenannten soldatischen Nationalismus auf die politische Kultur der Weimarer Republik untersucht und ihre zunehmende Verrohung auf den Umstand zurückgeführt, das Ideal der Kameradschaft sei nach 1918 einem rücksichtslosen Verschwörertum gewichen, für dessen Anhänger ein politischer Mord nichts anderes gewesen sei als die konsequente Fortsetzung des Krieges im Inneren.42 Die neuere Forschung hat diese in vielem holzschnittartige These weiter verfeinert und sachlich differenziert, so dass mittlerweile ein nuancenreiches Bild entstanden ist, das die 39 Ernst von Salomon, Der Fragebogen, Hamburg 1951, S. 187. 40 Zum Hintergrund Andreas Wirsching, Politische Generationen, Konsumgesellschaft, Sozialpolitik. Zur Erfahrung von Demokratie und Diktatur in Zwischenkriegszeit und Nachkriegszeit, in: Anselm Doering-Manteuffel (Hg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 43–64. Zum Jugenddiskurs u.a. Eberhard Demm, Deutschlands Kinder im Ersten Weltkrieg. Zwischen Propaganda und Sozialfürsorge, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 60 (2001), S.  51–98; Hans Mommsen, Generationenkonflikt und Jugendrevolte in der Weimarer Republik, in: Thomas Koebner u.a. (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1987, S. 50–67. 41 Klaus Mann, Heute und morgen. Zur Situation des jungen geistigen Europas, Hamburg 1927, S. 6, 8. 42 Vgl. George L. Mosse, Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars, New York 1990, bes. Kap. VIII; ähnlich auch Richard Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993.

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brutalisierenden Tendenzen der Zwischenkriegszeit ebenso zu berücksichtigen versucht wie ihre pazifistischen Facetten.43 Eher selten jedoch ist bislang die Frage gestellt worden, wie sich das Verhältnis zwischen der Frontgeneration und der Kriegsjugendgeneration, die durch ein gemeinsames Identifikationsobjekt verbunden waren, innerhalb des Generationszusammenhangs der Weimarer Republik im einzelnen gestaltete.44 Wenn etwa Kuno Graf Westarp in seinem Neujahrsgruß an die Bismarckjugend, die Jugendorganisation der DNVP, 1928 den Ersten Weltkrieg in Erinnerung rief, indem er an den „vierjährigen Kampf um Deutschlands Dasein“ gemahnte, den die Älteren geführt hätten, und zugleich darauf verwies, dass dem „jetzt heranwachsenden Geschlecht ... solche unmittelbaren Erinnerungen“45 fehlten, hielt er den Jüngeren dies als einen Mangel vor Augen, der nach Abhilfe verlangte – und sie auch erfuhr. Die politische Radikalisierung der bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteijugend nach 1928 und die politische Affinität der Kriegsjugendgeneration zur KPD und NSDAP, wie sie die historische Wahlforschung herausgearbeitet hat, war Ausdruck eines politischen Aktionismus, der das Kriegserlebnis gewissermaßen im keineswegs ehernen Gehäuse des Parteienstaates nachzuholen trachtete und das parlamentarische System dabei zerstörte.46 Zwar fehle der Jugend, so hat es etwa Günther Gründel (Jg. 1903), ein Mitglied des „Tat“Kreises47, 1932 in seiner Streitschrift über die „Sendung der jungen Genera43 Reinhart Koselleck, Der Einfluss der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes, München 1995, S. 326–332; Bernd Weisbrod, Gewalt in der Politik. Zur politischen Kultur in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen, in: GWU  43  (1992), S.  391–404; Dirk Schumann, Einheitssehnsucht und Gewaltakzeptanz. Politische Grundpositionen des deutschen Bürgertums nach 1918, in: Mommsen (Hg.) 2000, S. 83–105. 44 Dazu Carsten Kretschmann, Generation und politische Kultur in der Weimarer Republik, in: Hans-Peter Becht u.a. (Hg.), Politik, Kommunikation und Kultur in der Weimarer Republik, Heidelberg 2009, S. 11–30. 45 Zit. n. Irmtraud Götz v. Olenhusen, Jugendreich, Gottes Reich, Deutsches Reich. Junge Generation, Religion und Politik 1928–1932, Köln 1987, S.  45 f.; zu Westarp vgl. Larry E. Jones/Wolfram Pyta (Hg.), „Ich bin der letzte Preuße“. Der politische Lebensweg des konservativen Politikers Kuno Graf Westarp (1864–1945), Köln 2006. 46 Vgl. die Hinweise bei Schulz/Grebner 2003, S. 10. Zu den Jugendorganisationen u.a. Wolfgang Krabbe, Die gescheiterte Zukunft der Ersten Republik. Jugendorganisationen bürgerlicher Parteien im Weimarer Staat (1918–1933), Opladen 1995. 47 Vgl. immer noch Kurt Sontheimer, Der Tatkreis, in: VfZG 7 (1959), S. 230–261; Klaus Fritzsche, Politische Romantik und Gegenrevolution. Fluchtwege in der Krise der bürgerlichen Gesellschaft. Das Beispiel des „Tat“-Kreises, Frankfurt a. M. 1976; Michael H. Kater, Studentenschaft und Rechtsradikalismus 1918–1933, Hamburg 1975.

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tion“ formuliert, das „Fronterlebnis, durch das viele der älteren Brüder tiefer, härter und radikaler“ geworden seien; dennoch sei ihr der Krieg „zu einem ganz ungewöhnlichen starken und einzigartigen Jugenderlebnis geworden“48. Weil ihre Väter und Brüder nie Sieger gewesen waren, wollten die Angehörigen der Kriegsjugendgeneration auf keinen Fall zu Opfern werden. Teils bewusst, teils unbewusst übernahmen sie eine politische Aufgabe, die ihnen durch die Frontgeneration übertragen worden war und mit Hilfe eines medial konstruierten und verbreiteten Generationsobjektes permanent aktualisiert wurde. Eine starke transgenerationelle Beziehung formte aus Front- und Kriegsjugendgeneration daher gewissermaßen eine Doppelgeneration, die in ihrer Fixierung auf Krieg und Volksgemeinschaft die politische Kultur der Weimarer Republik prägte. Die Verarbeitung des Kriegserlebnisses führte zu einer Unwucht innerhalb des Generationszusammenhangs der Weimarer Republik, und diese Unwucht hatte erhebliche Auswirkungen auf die Repräsentation des Politischen.

3. Kriegsromane als Medien der politischen Deutung Generationsobjekte sind immer Konstruktionen. Sie werden nicht nur medial vermittelt, sondern auch medial produziert. Davon war bereits die Rede. Der Kriegsroman spielt hier vor allem deshalb eine wichtige Rolle49, weil er wie kaum ein anderes Medium in den 1920er Jahren in erstaunlich hohen Auflagen und noch dazu – anders als etwa Tageszeitungen und Zeitschriften – häufig klassenübergreifend rezipiert wurde.50 Er popularisierte die Vorstellung einer Frontgemeinschaft, die zwischen 1914 und 1918 alle politischen und sozialen Gegensätze vermeintlich überwunden hatte, in dichter Folge – allein für

48 E. Günther Gründel, Die Sendung der jungen Generation, München 1932, S. 23. 49 Zur Kriegsliteratur der 1920er Jahre u.a. Ann P. Linder, Princes of the Trenches. Narrating the German Experience of the First World War, Columbia 1996; Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986; Thomas F. Schneider/Hans Wagener (Hg.), Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum 1. Weltkrieg, Amsterdam 2003; Astrid Erll, Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren, Trier 2003; Matthias Schöning, Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914– 1933, Göttingen 2009. 50 Vgl. etwa die Hinweise bei Gideon Reuveni, Reading Germany. Literature and Consumer Culture in Germany before 1933, New York 2006, S. 236 f.

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Deutschland sind für den Zeitraum bis 1933 mehr als 600 Titel bekannt.51 Das gilt – um die wichtigsten Autoren zu nennen – für Franz Schauwecker („Der feurige Weg“, 1926) ebenso wie für Josef Magnus Wehner („Sieben vor Verdun“, 1930), Werner Beumelburg („Die Gruppe Bosemüller“, 1929), Hans Zöberlein („Der Glaube an Deutschland“, 1930) – und erst recht natürlich für Erich Maria Remarque („Im Westen nichts Neues“, 1929). Sie alle entwarfen ein Bild der Frontgemeinschaft, das – gewiss mit unterschiedlichen Akzenten – die Gemeinschaft des Schützengrabens als eine demokratische Elite zeigte, die dazu berufen schien, den neuen Staat maßgeblich zu gestalten. Es ist kein Zufall, dass in vielen Kriegsromanen gerade der Verwundung des Soldaten große Aufmerksamkeit zuteil wird. Die Wunde, das Blut, die Narbe – sie bezeugen das eigene Erleben des Krieges und legitimieren insofern auch die politischen Gestaltungsansprüche. Das Blut, das für das Vaterland vergossen wird, beglaubigt indes nicht nur das Fronterlebnis, es rückt die Soldaten noch dazu auf eine neue Stufe der Männlichkeit. Greifbar wird dies beispielsweise in Franz Schauweckers Roman „Der feurige Weg“. Junge Rekruten, noch vor ihrem ersten Einsatz an der Front, begegnen in der Kaserne einem Verwundeten: „Das Erlebnis der Front ... hebt ihn gänzlich aus uns heraus und schafft um ihn einen Bannkreis von Männlichkeit und Heldentum, vermischt mit einem aufreizenden Dunst von Abenteuer und Glauben, in dem wir uns mit Achtung und Bewunderung bewegen. Er hat gekämpft, er hat geblutet, er hat dem Tod gegenüber seinen Mann gestanden. Er ist eine neue Art Mensch.“52 Wozu ist dieser neue Mensch nun bestimmt? Worin besteht sein Schicksal? Was macht ihn für diejenigen, die an seiner durch das eigene Blut besiegelten Erfahrung noch nicht teilhaben, so attraktiv? Eine Antwort auf diese Fragen, deren Klärung für die mediale Repräsentation des Frontsoldaten von großer Bedeutung ist, findet sich unter anderem in Hans Zöberleins Roman „Der Glaube an Deutschland“. Nach seiner Verwundung empfindet der Held des Romans, ein Frontkämpfer: „… keine Angst, … nur das Erschrecken vor einem anderen Zustand des Lebens. … Ein unbändiger Stolz faßt mich, so wie in alten Zeiten [einen], der zum Ritter geschlagen wurde. Und bin nicht auch ich geadelt worden heute, wie mein Blut in Frankreichs Erde rann für Deutschland? Ich fühle, daß ich damit einen Anspruch erworben habe.“53 Einen Anspruch, so wird man hinzufügen dürfen, der auf Tat und Führung gerichtet 51 Vgl. Jörg Vollmer, Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Eine literatursoziologische Untersuchung. Diss. phil. Berlin 2003, S. 6. 52 Franz Schauwecker, Der feurige Weg, Leipzig 1926, S. 14 f. 53 Hans Zöberlein, Der Glaube an Deutschland, München 1930, S. 115.

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war, und zwar – in der Wahrnehmung des Lesers im Jahre 1931 – sicher mehr auf politischem denn auf militärischem Terrain. Der heroische Gemeinschaftsdiskurs bedarf des Schmerzes und des Blutes zur Selbstversicherung sowie zur Überhöhung des eigenen Handelns im Krieg. Zugleich legitimiert er auf diese Weise konkrete Gestaltungsansprüche für die Zukunft. Die Bildung der Regierung Brüning, die als „Kabinett der Frontsoldaten“ in die Geschichte eingegangen ist, mag hier ebenso als Beispiel dienen wie die Bierkellerrhetorik Adolf Hitlers, der seinen eigenen Führungsanspruch in den 1920er Jahren ein ums andere Mal mit seiner Frontverwendung im Ersten Weltkrieg untermauerte.54 Der Befund für Frankreich lautet auf den ersten Blick nicht wesentlich anders. Zwar fällt hier die Zahl der bislang bekannten Kriegsromane niedriger aus als in Deutschland.55 Die literarischen Formen und Motive der Verarbeitung des Krieges sind allerdings sehr ähnlich.56 Das Konzept der Union sacrée etwa wird in verschiedenen Romanen kulturell ausgemünzt: René Benjamins „Gaspard“ (1915) handelt von der Aussöhnung der deux Frances, Marcelle Tinayres „La veillée des armes“ (1915) thematisiert die Überwindung sozialer Hierarchien, und bei Maurice Barrès finden sich allenthalben Hinweise auf einen „nationalisme de synthèse“57. Als Inbegriff dieser nationalen Synthese gilt – wie im deutschen Fall – die Frontgemeinschaft. Sie ist die höchste Ausprägung der Union sacrée und wird wechselweise als christologisch deutbarer Opfergang (Henri Barbusse) oder als Prototyp einer neuen Elite (Jean des Vignes Rouges, Henry Malherbe) interpretiert, als ein heroischer Männerbund, der den Mythos der französischen Republik, die Ideen von 1789, in vorbildlicher Weise hat wirkmächtig werden lassen.58 An diesen Deutungen arbeiteten sich die französischen Kriegsromane nach 1918 weiter ab. Im Unterschied zu Deutschland postulierten sie jedoch, abgesehen von wenigen Ausnahmen im Umfeld der Croix de Feu, keinen po54 Vgl. Gerd Krumeich (Hg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010. 55 Systematische Recherchen in der Bibliothèque Nationale in Paris förderten bislang rund 320 relevante Titel zutage. Das Korpus ist bislang weder von geschichtswissenschaftlicher noch von literaturwissenschaftlicher Seite untersucht worden. 56 Für die frühe Phase maßgeblich Almut Lindner-Wirsching, Französische Schriftsteller und ihre Nation im Ersten Weltkrieg, Tübingen 2004; Nicolas Beaupré, Écrire en guerre, écrire la guerre. France, Allemagne 1914–1920, Paris 2006. 57 Dazu Landry Charrier, Der späte Barrès und seine Rezeption in Deutschland (1918– 1923), in: Kretschmann/Pyta (Hg.) 2011, S. 203–220; Millman 2002, S. 81 f. 58 Vgl. Almut Lindner-Wirsching: Krieg als „nationale Erfahrung“ in der deutschen und französischen Erzählliteratur des Ersten Weltkriegs, in: Kretschmann/Pyta (Hg.) 2011, S. 159–178.

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litischen Führungsanspruch des einzelnen Frontsoldaten. Der Schriftsteller, der dem Krieg nähere Bedeutung zusprach und dabei durchaus auf das eigene Fronterlebnis rekurrierte, blieb in allererster Linie Schriftsteller.59 Er war zunächst Intellektueller und erst dann Frontkämpfer – das Beispiel Roger Martin du Gards oder Jules Romains spricht hier für sich. Seine Selbstermächtigung bezog der Künstler im wesentlichen aus den Gesetzen eines bedingungslosen l’art pour l’art. Zwar wurde die Idee der Frontgemeinschaft – wie in Deutschland – von den Romanciers durchaus als positive Folie eingesetzt, vor der sich die krisenhaft-gespaltene Gesellschaft nach 1918 hochgradig defizitär ausnahm. Aber diese gleichsam vergangene Utopie blieb doch republikanisch eingehegt.60 Dem parlamentarischen System mit seinen spezifischen Repräsentationsleistungen wurde sie daher nicht annähernd so gefährlich wie der deutsche Frontsoldat, der sich unter der Parole von Tat und Sieg zum politischen Führer der Nation stilisierte.

4.  Zur Repräsentationskultur in Deutschland und Frankreich Die Folgelasten des Ersten Weltkriegs waren bekanntlich in ganz Europa immens. Und die übergroßen Finanzprobleme, die grassierende Inflation, die krisenhafte Wirtschaftsentwicklung, die hohe Arbeitslosigkeit sowie der schleichende Legitimationsverlust des parlamentarischen Systems waren in den 1920er Jahren keineswegs auf Deutschland beschränkt. Der Vergleich mit Frankreich zeigt das nur zu deutlich. Er zeigt aber auch etwas anderes: Das parlamentarische System musste nicht zwangsläufig zusammenbrechen. Viele Ereignisse und Prozesse, die sich voreilig als Analogie interpretieren lassen, tragen in der Weimarer Republik einen gänzlichen anderen Akzent als in Frankreich: So hatten die Notverordnungen von vornherein einen anderen Charakter als die Décrets lois, und die Verschiebung legislativer Kompetenzen hin zur Exekutive hatte in Frankreich keinesfalls eine stillschweigende Gewöhnung an eine präsidiale Reserveverfassung zur Folge. Auch deshalb ist das 59 Dazu Wolfram Pyta, Der Erste Weltkrieg und seine Folgen in Deutschland und Frankreich. Kulturelle Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen 1918–1933, in: Kretschmann/Ders. (Hg.) 2011, S. 1–32. 60 Dazu Prost 1977, Bd. 3, S. 78–123, S. 174–185. Vgl. auch Stanley Hoffmann, Paradoxes of the French Political Community, in: Ders. (Hg.), In Search of France, Cambridge Mass. 1963, S. 1–117; Andreas Wirsching, Politische Gewalt in der Krise der Demokratie im Deutschland und Frankreich der Zwischenkriegszeit, in: Möller/Kittel (Hg.) 2002, S. 131–150, hier S. 147 f.

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deutsche 1933 mit dem französischen 1940 nur sehr eingeschränkt vergleichbar. Bereits für die Jahre davor gilt: Der Aufstieg des Nationalsozialismus hatte mit der Gründung der Volksfront wenig gemein, blieb sie doch – allen radikalisierten Lagerbildungen und lärmigen Massendemonstrationen zum Trotz – letzthin ein systemimmanentes Konstrukt.61 Diese unterschiedliche Entwicklung in Deutschland und Frankreich hatte vielfältige Ursachen: verschiedene politische Traditionen, eine unterschiedlich stark ausgeprägte politische Problemlösungskompetenz, eine ungleiche Krisenanfälligkeit, gewiss auch verschiedene Erfahrungen im Umgang mit einem parlamentarischen Regierungssystem.62 Im deutschen Fall erwies es sich als schwere Hypothek, dass dieses System vorderhand zu funktionieren schien – was angesichts der Tatsache, dass sich der Wechsel des Systems 1918/19 abrupt, ohne eine unbelastete Phase der Bewährung vollzogen hatte, keineswegs als selbstverständlich gelten durfte. Unterschwellig hatte die mangelnde parlamentarische Erfahrung jedoch gravierende Folgen für die Politik der Repräsentation. Die Niederlage im Weltkrieg und der Zusammenbruch der Monarchie hatten in Deutschland eine handfeste Sinnkrise ausgelöst. Ein professionelles Management durch die Repräsentationsorgane hätte die parlamentarische Herrschaftspraxis stabilisieren, mehr noch: sie zuallererst begründen müssen. Institutionen und Verfahren aber erwiesen sich hierzu nur in einem eingeschränkten Sinne als geeignet. Stattdessen etablierte sich ein konkurrierendes Herrschaftsmodell, das gerade nicht auf Institutionen und Verfahren, sondern auf die Repräsentationsleistung der einzelnen Persönlichkeit setzte, ohne sich deswegen selbst als anti-demokratisch zu verstehen.63 Die Faszination, die dieses andere Modell auf weite Teile der deutschen Bevölkerung ausübte, stürzte das parlamentarische System in eine nicht mehr nur akzidentielle, sondern in eine strukturelle Krise. Zu verstehen ist sie nur vor dem Hintergrund einer spezifischen Deutung des Ersten Weltkriegs, die die tatsächliche wie die imaginierte Frontgemeinschaft zu einem politischen Leitbild formte, das in der Figur des krisengestählten Frontsoldaten repräsentiert werden konnte. Der in der Reichsverfassung nicht vorgesehene Frontkämpfer brachte die von Hugo Preuß fein ersonnenen institutionellen Normen und Strukturen in eine nicht unbeträchtliche Unordnung. Er erschwerte darüber hinaus das, was Horst Möller einmal – im europäischen Kontext – als „Anpassungskrise

61 Vgl. Möller 2002, passim. 62 Dazu in diesem Sammelband der Beitrag von Andreas Wirsching. 63 Vgl. Mergel 2007, S. 55 f.

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der parlamentarischen Regierungssysteme“64 umschrieben hat. Und tatsächlich war die Fähigkeit des Parlaments, sich angesichts des sozialökonomischen Strukturwandels nach dem Ersten Weltkrieg zu einem demokratisch legitimierten Integrationsinstrument inmitten einer von wirtschaftlichen und sozialen Gegensätzen gespaltenen Gesellschaft zu entwickeln, nur schwach ausgebildet. Trotz aller Hindernisse war diese Kompetenz in Frankreich, wo es 1918 nicht zu einem doppelten Systemwechsel gekommen war, ohne Zweifel in stärkerem Maße vorhanden als in Deutschland. Die Dritte Republik profitierte davon, dass es ihr in den gut fünfzig Jahren ihres Bestehens gelungen war, eine eigene Elite und einen besonderen Mythos auszuprägen, der in den Ideen von 1789 kulminierte. Auch deshalb entwickelte die Figur des Frontsoldaten, die in der politischen Kultur Frankreichs zweifellos eine wichtige Rolle spielte, und zwar sowohl in medialer als auch institutioneller Hinsicht (zu denken ist hier an die Veteranenverbände, den Kult des Unbekannten Soldaten, den Gedenktag des Waffenstillstands, das Staatsbegräbnis für Maréchal Foche und zahlreiche Kriegerdenkmäler) nicht die Kraft, das parlamentarische Herrschaftsmodell dauerhaft zu erschüttern.65 Der Führungsanspruch, der sich gelegentlich mit einem Rekurs auf das Fronterlebnis verband, blieb im wesentlichen systemimmanent, und die parlamentarischen Institutionen erwiesen sich als lebensfähig.66 Georges Clemenceau etwa war als Parlamentarier zum Führer im Krieg geworden und nach 1918 deshalb in der Lage, den Sieg der französischen Waffen als Parlamentarier zu repräsentieren.67 Und François de la Roque, der bereits erwähnte Anführer der Croix de feu, folgte nicht nur seiner strikten Legalitätstaktik, wenn er am französischen Nationalfeiertag 1937 – die Volksfront dominierte die politische Szene – den „institutions républicaines“ seinen Respekt nicht versagte.68 Auch hier hatte die Tatsache, dass es sich bei Frankreich gewissermaßen um eine frühe Republik, bei Deutschland aber um eine späte Nation handelte, 64 Möller 2002, S. 6. 65 Vgl. Jean-Jacques Becker, Die Präsenz des Krieges in den zwanziger Jahren in Frankreich, in: Dülffer/Krumeich (Hg.) 2002, S. 39–50. 66 Vgl. Nicolas Roussellier, Le parlement de l’éloquence. La souveraineté de la délibération au lendemain de la Grande Guerre, Paris 1997. Ders., Gouvernement et parlement en France dans l’entre-deux-guerres, in: Möller/Kittel  (Hg.) 2002, S.  283–313; Fabienne Bock, Un parlementarisme de guerre 1914–1919, Paris 2002; Thomas Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen der 1920er Jahre, München 2005. 67 Vgl. Raithel 2007, S. 104 f. 68 Vgl. Wirsching 2002, S. 141 f.

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Carsten Kretschmann

weitreichende Folgen für die jeweilige politische Kultur und ihr Verhältnis zur Repräsentationsleistung des parlamentarischen Systems.69 Während in Frankreich, um ein Bild von Karl Rohe aufzugreifen, der das Verhältnis von politischer Soziokultur und politischer Deutungskultur als Unterscheidung von politischem Alltag und politischem Sonntag interpretiert70, die Folge der Wochentage nach 1918 intakt blieb und auf den Sonntag der Montag folgte, zeigte der Kalender der Weimarer Republik im Grunde genommen unablässig den politischen Sonntag an. Nicht ein Defizit, sondern ein Überschuss an Deutungen strapazierte das parlamentarische System der jungen Republik. Er fand seinen Ausdruck in einer seit 1928 verschärft einsetzenden Virtualisierung und Aktualisierung des Fronterlebnisses, das in den Debatten um eine noch zu errichtende Volksgemeinschaft zur rückwärtsgewandten Prophetie wurde.71 Die Zahl der Frontkämpfer wuchs nach 1918 von Tag zu Tag. Für das Repräsentationspotential des parlamentarischen Systems in Deutschland hatte dies unabsehbare Folgen.

69 Vgl. Manfred Kittel, Republikanischer oder völkischer Nationalismus? Die Folgen siegreicher Union sacrée und unvollendeter Volksgemeinschaft für die politische Kultur Frankreichs und Deutschlands (1918–1933/36), in: Kretschmann/Pyta (Hg.) 2011, S. 109–140. 70 Vgl. Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung, in: HZ 250 (1990), S. 321–346, S. 341 f. 71 Zu den Mechanismen von „Virtualisierung“, „Dramatisierung“ und „Aktualisierung“ des Kriegserlebnisses grundsätzlich Weisbrod 2000, S. 26–35.

MONIKA WIENFORT

Politische Repräsentationen in Großbritannien Volk, Parlament und Monarchie im Viktorianismus

Der Begriff der Repräsentation ist in der neueren Forschung mehrdeutig geworden. Seit langem bezeichnet er in einem rechts- und verfassungsgeschichtlichen Sinn „Stellvertretung“, also eine Kernfrage des Verhältnisses zwischen ständischer bzw. parlamentarischer Vertretung und dem „Volk“, den Repräsentanten und den Repräsentierten, und wiederum der Beziehung zwischen der Monarchie und der Volksvertretung. Die „kulturgeschichtliche Erweiterung“ hat jedoch für eine Ausdehnung der Bedeutung des Begriffs und seines Untersuchungsgegenstandes gesorgt. Heute bedeutet die Frage nach der Repräsentation für die Analyse historischer Politik meist: die Beschäftigung mit den Darstellungsweisen, auch mit den Wahrnehmungen von politischen Institutionen, der Monarchie, der Ständeversammlung oder des Parlamentes, der Stadtverordnetenversammlung oder des Landrates, durchaus auch in visueller Hinsicht. Repräsentation in diesem Sinn hat mit Selbst- und Fremd-Deutungen und Darstellungen, vornehmlich in Zeremonien und Ritualen, zu tun. Dabei wird der in einer allgemeineren kulturwissenschaftlichen Debatte vorherrschende Begriff von „Repräsentation“ für die Analyse vergangener Politik konkretisiert. Dieser kulturwissenschaftliche Repräsentationsbegriff liefert gleichsam die theoretische Fundierung für die aktuelle geschichtswissenschaftliche Praxis: Repräsentation als das Hervorbringen von Bedeutung durch eine Ordnung von Zeichen, die als „Codes“ soziale Praktiken darstellen, also die kulturwissenschaftlich erkannte Verbindung zwischen den Objekten und Bedingungen der realen Welt einerseits und der durch Bewusstsein und Sprache begründeten Vorstellungswelt andererseits. In der Sprache Foucaults heißt das: Repräsentation ist gleichzeitig Indikator und Phänomen, ist Beziehung zur außersprachlichen Welt und Manifestation ihrer selbst.1 1 Adalbert Podlech, Repräsentation, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1994, S. 509-547; Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489–527; dies. (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005. Für die breite internationale Debatte vgl. z.B. die von der University of California Press herausgegebene Zeitschrift Representations.

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Dieser Beitrag versucht, die britische Verfassungsgeschichte des mittleren Drittels des 19. Jahrhunderts mit den Kategorien des aktuellen Repräsentationsdiskurses zu fassen, dabei aber die vollständige Ablösung von der klassischen Repräsentationsgeschichte zu vermeiden. Es gilt, beide Dimensionen der Repräsentation für die Frage nach dem politischen Wandel, der Demokratisierung bei bereits vollzogener Parlamentarisierung im Blick zu behalten. Begriffsverwendungen, Gewohnheiten, Zeremonien und Gebäude werden als Ausprägung von Identitätspolitik gesehen, und damit nicht bloß als Indikatoren einer Verfassungskultur verstanden, sondern als ihr substantieller Teilbereich. Die Frage nach den Kontaktzonen zwischen der Vorstellung einer „representation of the people“ im Sinn einer klassischen Politikgeschichte und den sinnlich vermittelten Kodes von Zeremonien und Ritualen, die Kontinuität durch Wiederholung mit der Einführung von Innovationen verbunden haben, passt auf den britischen Fall besonders gut. Während die Revolutionen auf dem Kontinent und in Nordamerika Brüche darstellten, die nach neuen Formulierungen und Zeremonien verlangten, verfügte Großbritannien über eine Rhetorik und ein Zeichensystem der Kontinuität, die häufig additiv vorgingen. Traditionelle Gegenstände verschwanden nicht, Gebräuche wurden nicht abgeschafft. Bis heute sitzt der Lord Speaker, der frühere Lord Chancellor, auf einem Wollsack, der die mittelalterlichen Ursprünge des Wohlstands der „commercial nation“ „repräsentiert“, und bis heute wird dem Black Rod als Zeremonialbeamten bei der Parlamentseröffnung auf seinem Weg in die Commons die Tür vor der Nase zugeschlagen. Dabei geht es wohl darum, die Erinnerung an die Abwehr des fürstlichen Absolutismus im 17. Jahrhundert als Element des Selbstverständnisses des Unterhauses auszudrücken. Einerseits überleben traditionelle Rituale, die Funktion aber ist gleichzeitig auch aktuell, da eine Bekundung des eigenen Selbstbewusstseins auch unter vollständig anderen politischen Bedingungen angebracht erscheint. Auf der anderen Seite finden sich auch Zeugnisse für Übernahmen und Inventionen aus anderen politisch-kulturellen Kontexten: Auf den Chartistendemonstrationen der 1840er Jahre wurde die Trikolore gehisst. Die Bereitschaft, sich die politischen Symbole des Kontinents zu eigen zu machen, blieb allerdings Mitte des 19. Jahrhunderts im Großen und Ganzen auf die außerparlamentarische Opposition beschränkt.2 Die politische Geschichte Großbritanniens im 19. Jahrhundert ist seit den 1980er Jahren vor allem durch die Anregungen von E. P. Thompson und Eric Hobsbawm auf der einen, Quentin Skinner und John Pocock auf der anderen 2

Zur Aktualität der Parlamentszeremonien http://www.parliament.uk/site-information/ glossary. Das Hissen der Trikolore in The Leeds Mercury, 15.4.1848, S. 10.

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Seite, reinterpretiert worden. Mit den Überresten einer „Whig Interpretation of History“ räumten die Arbeiten von Patrick Joyce, Frank O’Gorman oder James Vernon gründlich auf. Man thematisierte politische Sprachen als ein Set von Begriffen, Symbolen und Verhaltensweisen. Ein „populärer Konstitutionalismus“ wurde der Schwäche des Republikanismus gegenübergestellt. Die Meistererzählung einer ungebrochen zur Freiheit und Demokratie schreitenden englischen Geschichte erscheint heute gebrochen und vieldeutig. Dennoch bezeugen Zäsuren wie die von 1834, als König William IV. Robert Peel als Regierungschef gegen die Unterhausmehrheit nicht mehr durchsetzen konnte und 1841, als Peel eine Resolution einbrachte, die das „confidence of the House“ für eine Regierungsbildung verlangte, die säkulare Machtverschiebung zwischen Monarchie und Unterhaus im 19. Jahrhundert.3 Der vorliegende Beitrag nähert sich dem Begriff der Repräsentation und der Verbindung von traditionellen verfassungsgeschichtlichen Themen mit der neuen „politischen Kulturgeschichte“ anhand von drei Bereichen. Erstens geht es um die Begriffsverwendung von „Repräsentation“ im Kontext der Debatten um eine Ausdehnung des Wahlrechts zum Parlament von den 1850er bis in die 1870er Jahre. Dabei wird die Diskussion um die Einführung des Frauenwahlrechts einbezogen. Im zweiten Teil steht die „gebaute Repräsentation“, der Neubau des Parlamentsgebäudes nach dem Brand von 1834, im Mittelpunkt. Im letzten Teil folgt eine knappe Darstellung und Analyse der Repräsentation der Monarchie in den mittleren Jahren der Regierungszeit Königin Victorias.

1.  Repräsentation als Partizipation: Parlament, Wahlen, Wahlrecht In den Wahlrechtsreformdebatten des 19. Jahrhunderts ging es politisch vor allem um die Grenzziehung zwischen Wahlberechtigten und Nichtwahlberechtigten. Maurice Cowling hat in seiner Analyse betont, die Reform von 1867 sei als Verhinderung einer voll ausgebauten Demokratie zu interpretie3 Vgl. zur klassischen Verfassungsgeschichte Vernon Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, Oxford 1995. Die neuen Perspektiven bei Frank O’Gorman, Voters, Patrons and Parties. The unreformed electorate of Hanoverian England, 1734–1832, Oxford 1989; Patrick Joyce, Visions of the People: Industrial England and the Question of Class, 1840–1914, Cambridge 1991; James Vernon, Politics and the People: A Study in English Political Culture, c. 1815–1867, Cambridge 1993; Andreas Wirsching, Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19. Jahrhunderts, Göttingen 1990; Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume in England 1780–1867, Göttingen 1993.

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ren, da Liberale wie Konservative die Stimmberechtigung von „abhängigen“ Arbeitern vermeiden wollten. Der Widerstand gegen eine moderate Ausweitung des Wahlrechts fiel auch deshalb vergleichsweise schwach aus, weil viele Parlamentarier von einem „natürlichen“ Konservativismus der Arbeiterschaft ausgingen. Im Vorfeld der Reform von 1867 kalkulierten Whigs und Tories in den Parlamentsdebatten die Auswirkungen eines 10 Pfund-Wahlrechtes auf die eigenen Wahlchancen. Beide Parteien versuchten, diese Wahlchancen durch Einbeziehung oder Ausschluss bestimmter Gruppen zu verbessern. Man diskutierte die Einbeziehung der Handwerker als arrivierte Mitglieder der working classes, um die Hinzunahme der Arbeiter allgemein zu vermeiden, oder über den Ausschluss einer Unterschicht von Arbeitern, die nicht ständig beschäftigt waren und wegen dieser zeitweisen Arbeitslosigkeit als Randgruppe, als Residuum galten.4 Die Inklusion von einzelnen Arbeitergruppen wurde auch durch die sektorale Wahrnehmung erleichtert, die eine Zusammenfassung von Arbeitgebern und Arbeitern in den einzelnen Industrien nahelegte. Neben der Klassifizierung nach Berufsgruppen blieb immer auch die Kategorisierung „landlord“ versus „tenant“ präsent, vor allem in dem Bewusstsein, dass Eigentum weit eher als jede Berufsbezeichnung als zuverlässiger Indikator für sozialen Status gelten konnte. In den Debatten der Lords forderte man explizit, die Ausdehnung von Rechten der Mieter in Einklang zu bringen mit den „just rights of property on the parts of the landlords which cannot be interfered with without destroying the whole social condition of this country“. Zu berücksichtigen blieb dabei stets, dass die Ausweitung des Wahlrechts ihre Auswirkungen jeweils wieder veränderte, wenn die Sitze neu aufgeteilt wurden. Insofern blieb die Aussagefähigkeit allein des Zensus stets begrenzt. Gerade diese Unsicherheiten machten die Reform letztlich für Whigs und Tories akzeptabel.5 Die Mitglieder des Parlaments fühlten sich grundsätzlich als „representatives of the people“. Das Volk wurde dabei selbstverständlich von sämtlichen politischen Gruppen als Legitimationsinstanz verwendet, allerdings mit unterschiedlicher Bedeutung. Die Königin folgte wohl eher den zeitgenössischen Tory-Vorstellungen, indem sie 1868, als Disraeli Premierminister wurde, an ihre Tochter, die preußische Kronprinzessin, schrieb: „A proud thing for a man ,risen from the people‘“. Der Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie und begabte Schriftsteller entstammte aus Victorias Perspektive nicht den Tradi4 Vgl. Maurice Cowling, 1867. Disraeli, Gladstone and Revolution, Cambridge 1967, S. 47; Robert Blake, Disraeli, London 1966, S. 440. 5 Vgl. Earl Derby (bürgerl. Stanley) in der Debatte des House of Lords, 1867, in: http:// hansard.millbanksystems.com/lords/1867/feb/05/address.

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tionen englischer Gentlemenpolitiker.6 Viele Parlamentarier sahen „people“ als „propertied men“, die aus sämtlichen Gruppen der Gesellschaft kommen konnten, wobei die Tories tendenziell die jeweils aktuelle Wählerschaft meinten, gleichsam die politische Nation des Moments verteidigten. Bei den Whigs bildete sich im Einklang mit den Reformbestrebungen eine mittlere Vorstellung heraus: Es ging primär um die Ausdehnung des Wahlvolks an sich als Zeichen einer progressiven Entwicklung. Zwar wollte man kein Wahlrecht für sämtliche erwachsenen männlichen Einwohner, kein household suffrage, aber mehr Einwohner als bisher sollten das wahlberechtigte „Volk“ bilden. Der Zusammenhang zwischen Steuerzahlung und Wahlrecht erschien vielen Parlamentsmitgliedern besonders überzeugend. Die Konservativen und auch die konservativen Whigs dachten dabei „Repräsentation“ räumlich (in den counties und boroughs) und gemäß verschiedener „interests“ (agricultural, commercial, manufacturing), also qualitativ und jedenfalls nicht menschenrechtlich, quantitativ und demokratisch („one man, one vote“). Hinzu trat ein integrativ gemeinter Klassenbegriff, von dem aus es generell nicht leicht war, noch Ausschlusskriterien zu finden. In der Adressdebatte der Lords 1867 fand Lord Delamere dieses Ausschlusskriterium nicht mehr in ökonomischen oder sozialen Eigenschaften des Einzelnen, sondern in der politischen Einstellung: „When I mention all classes, I must except those who under the name of reform, would produce revolution, and who, instead of the adequate representation of all classes, would prefer to see established the dominant superiority of one class.“ Lord Delameres Kriterien schlossen den politischen Radikalismus aus, der dezidiert an einem Umbau der Gesellschaftsordnung festhielt. Vorbildlich schien aus dieser Perspektive eine „true representation of the varied feelings and interests of this country“. Grundsätzlich waren Veränderungen des Wahlrechts möglich, Flexibilität wurde zum gestaltenden Prinzip, die Proportionalität konnte verändert, aber bis 1867 sollte ein Paradigmenwechsel, etwa zum household suffrage, möglichst vermieden werden.7 Das Konzept der Radikalen stellte das Volk unter Einbeziehung aller aus der politischen Nation Ausgeschlossenen vor, und erhob so „Volk“ zum Gegenbegriff: „The Bill of Rights declares that the laws of England are the birthright of the people. It does not say: of the rich, of the nobles, of the priesthood, the yeomanry cavalry, the members of the corporations, the Borough-Voters, but of THE PEOPLE.“8 In der Version der Radikalen kamen englische Freiheit 6 Blake, Disraeli, S. 487. 7 Lord Delamere (bürgerl. Cholmondeley) in der Debatte des House of Lords 1867, in: http://hansard.millbanksystems.com/lords/1867/feb/05/address. 8 William Cobbett, in: Vernon, Politics, S. 303.

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und politische Bürgerrechte für Männer zur Deckung. Wer kein Wahlrecht besaß, war „bondsman“ und Sklave, und als solcher „Volk“, dem wiederum die Privilegierten entgegenstanden. „Real representatives“ sollten in dieser Sichtweise selber aus dem Volk kommen, benötigten also eine neue Identität als Intellektuelle. Diese „Intellektuellen-Abgeordneten“ konnten dann dem Konzept der Gentlemen entgegengesetzt werden. Die Diskussion reichte bis in die 1850er Jahre zurück, als festgestellt wurde, dass die Arbeiter mit „virtueller Repräsentation“, also der Repräsentation der Interessen von Nichtwählern durch Wähler, nicht mehr zufrieden zu stellen waren.9 Durch den Secret Ballot Act von 1872, der geheime Wahl einführte, die Stimmabgabe in geschlossene Räume verlegte und damit der Öffentlichkeit der Nichtwähler entzog, wurde nicht bloß die Unabhängigkeit der Wähler vom Landlord oder Arbeitgeber gestärkt – eine Auswirkung, die in den Diskussionen über das allgemeine Männerwahlrecht des Reichstags im Deutschen Kaiserreich häufig betont worden ist. Das Wahlritual veränderte sich selbst dann, wenn die Wahlentscheidungen gleich blieben. Bis zum Secret Ballot Act übten die Großgrundbesitzer vielfach Einfluss auf die Wahlentscheidungen ihrer Pächter aus. Zwischen 1832 und 1867 wurde insgesamt ein Drittel der Parlamentssitze in kleinen Wahlkreisen mit einem landbesitzenden Patron vergeben. In dem Roman „Felix Holt, the Radical“ hat George Eliot zahlreiche Elemente der Wahlen anschaulich beschrieben. Das „Wahlgeschäft“ wurde durch Agenten gefördert, die sich mit legalen wie illegalen Mitteln um die Stimmen des Wahlvolks bemühten: „I’m not going to speak against treating voters“, said Felix; „I suppose buttered ale, and grease of that sort to make the wheels go, belong to the necessary humbug of Representation. But I wish to ask you, Mr Transome, whether it is with your knowledge that agents of yours are bribing rough fellows who are no voters – the colliers and navvies at Sproxton – with the chance of extra drunkenness, that they make a posse on your side at the nomination and polling?” Auf dem Land und in kleinen boroughs reichte die Einflussnahme von direkter Bestechung mit Bargeld bis zur Verabreichung von Alkohol in größeren Mengen. Pächter der großen Landbesitzer wurden vom Verwalter geschlossen zur Urne geführt, um die Stimmabgabe direkt zu kontrollieren. Verweigerung auf Seiten der Pächter konnte den Verlust des Pachtvertrags nach sich ziehen.10 9 Blackwood’s Edinburgh Magazine, Vol. 88, 1860, S. 123–134, hier S. 129. 10 John Lawrence, Electing Your Masters. The Hustings in British Politics from Hogarth to Blair, Oxford 2009, S. 29; George Eliot, Felix Holt, The Radical, New York 1866, S.  75 u.  374–376. Charles Dickens hat in den „Pickwick Papers“ ebenfalls solche Wahlrituale beschrieben.

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Der Wahlakt wurde von einer Menschenmenge aus Nichtwählern begleitet und beeinflusst. In dem Roman „Felix Holt“ wird einer der Pächter von den anderen getrennt und von einer Menschenmenge unter Druck gesetzt, bis er schließlich den Gegner seines landlords wählt. Ein anderer Wähler wird von der Menge angeschrien und erschreckt, so dass er auf seinem Pferd davon galoppiert. Als ein Pub angegriffen wird, entscheiden sich die Amtsträger für einen Abbruch der Wahlen. Die Magistrate lesen der Menge den „Riot Act“ vor, schwören einige Bürger als „special Constables“, also als Hilfspolizei ein und schicken nach dem Militär.11 Geschäftsleute mussten sich überlegen, wem sie ihre Stimme gaben, denn die Kundschaft konnte empfindlich reagieren und mit einem Boykott drohen. Straßengewalt, eine Art „Sicherungsverwahrung“ für bestochene Wähler sowie Bestechung und Begünstigung durch Nutzung der charities (wohltätige Vereinigungen) kamen vor. Im Kontext eines Repräsentationsverständnisses, das von einem beschränkten Wahlrecht einer privilegierten Minderheit ausging, entfielen mit der geheimen Wahl auch die Einwirkungsmöglichkeiten der häufigen Versammlungen vor den Wahllokalen, die eher aus Nichtwählern bestanden. In diesem Sinn lässt sich die geheime Wahl, die ohne allgemeines Wahlrecht daher kommt, als Gewinn an Freiheit für das wählende Individuum, aber auch als Ausschluss des nichtwahlberechtigten Volkes interpretieren: Das Privileg des Wahlrechts kann geheim, d.h. ungestört von den Nichtwahlberechtigten, ausgeübt werden.12 Eine genauere Betrachtung verdient schließlich auch das „chairing“, das Herumtragen des erfolgreichen Kandidaten auf einem reich mit Bannern und Blumen geschmückten Stuhl durch die Stadt. Dazu formierte sich ein Umzug aus Kutschen und Fußgängern, der den Abschluss der Wahlen bildete. Der Umzug verkündete der lokalen Öffentlichkeit den Ausgang der Wahl, und der Sieger stilisierte sich als neuer Vertreter der lokalen Interessen. Das Ritual stand also in gewisser Weise fest, aber die Bedeutung konnte sehr unterschiedlich ausfallen. Feierten die einen diesen Umzug als eine Art kommunale Versöhnungszeremonie, bei der auch die Anhänger unterlegener Kandidaten beteiligt waren, nutzte man das Ritual anderswo zur Bekundung von Opposition. Steine und Lehm wurden auf den neuen Abgeordneten in seiner instabi-

11 Eliot, ebd., S. 123–126. Vgl. Frank O’Gorman, Campaign Rituals and Ceremonies: The social meaning of Elections in England, 1780–1860, in: Past and Present 135 (1992), S. 79–115. 12 Vgl. Norman Gash, Politics in the Age of Peel, London 1953, S. 21; Vernon, Politics, S.88.

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len Sitzposition geworfen, und unter die farbenfrohen Banner mischten sich schwarze Tücher als Zeichen der Ablehnung.13 Zwischen 1832 und 1870 verlor die Mehrzahl dieser Wahlrituale an Bedeutung oder wurde nicht mehr praktiziert. Die ca. zwei Millionen männlichen Wähler, die in den 1870er Jahren in geheimer Abstimmung die Parlamentsabgeordneten bestimmten, mussten auf Volksfeste und Freibier verzichten. Gleichzeitig verringerte sich der Einfluss der Nichtwähler, die am Wahltag keinen Anlass mehr hatten, die Wahlurnen zu belagern. Der Ausschluss vom Wahlrecht aber wurde damit deutlicher spürbar als vor den Reformen. England ist bis heute für die Suffragetten bekannt, die radikalen Vertreterinnen der Forderung nach dem Frauenwahlrecht zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Aber die Heldinnen der Bewegung, Emmeline Pankhurst und Emily Davies, haben erstens mit den Suffragisten eine weniger radikale aber quantitativ größere Bewegung aus Männern und Frauen neben sich und zweitens Vorläuferinnen, die in die Genealogie der Emanzipation auf den ersten Blick kaum passen. Einen ersten Schub für die Einbeziehung von Frauen in die Verfassung kann man in der Petitionsbewegung gegen die Katholikenemanzipation in England 1829 sehen. Linda Colley betonte, dass viele Frauen die antikatholischen Petitionen an das Parlament unterzeichneten und damit einen wichtigen Teil der Massenbasis des Widerstands gegen eine fundamentale Veränderung des politischen Systems bildeten. Im Kontext der Stärke der Emanzipationsbewegung, die Frauenwahlrechtskämpfer mit der Antisklavereibewegung und Sozialreformern zusammenführte, ist das ein auf den ersten Blick erstaunlicher Befund. Neben das frühe und sehr entschiedene Engagement von adligen und bürgerlichen Frauen in den progressiven sozialen Bewegungen trat ein „konservativer“ Emanzipationsstrang, der die Beteiligung von Frauen an der Politik ebenso nachdrücklich einforderte. Neuere Forschungen zu „Imperialistinnen“, also Britinnen, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Programm kolonialstaatlicher Expansion in der Metropolis London wie in den Missionsstationen und Kolonialfamilien vertraten, haben auf diesen Zusammenhang eindringlich hingewiesen. Missionarinnen, Lehrerinnen und Unternehmerfrauen fanden sich mit Gouverneursgattinnen wie Lady Margaret Jersey zusammen. An der zentralen Rolle, die Frauen in den konservativen Parlamentskampagnen, im Gefolge des „progressive conservatism“ Disraelis, namentlich dann in der Primrose League spielten, lässt sich das gut erkennen. In der Primrose League, die 1890 ungefähr eine Million Mitglieder hatte und damit die größte politische Organisation des 19. Jahrhunderts in Europa dar-

13 Vernon, Politics, S. 98; Lawrence, Electing, S. 43–70.

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stellte, engagierten sich 50.000 „Damen“ neben 60.000 „Knights“ an herausragender Stelle für die konservative Partei und die Förderung des Empires.14 Im Liberalismus dagegen funktionierte das Engagement von Frauen nicht, vor allem deshalb, weil die Liberalen den Frauen kaum Beteiligung an der Politik zugestehen wollten. In den Debatten der 1870er Jahre blieben viele Liberale bei ihrer Ansicht, dass die „natürliche“ Ungleichheit zwischen den Geschlechtern Folgen für die Repräsentation haben sollte: „I hold it to be the duty of men to protect women, and to represent their interests in Parliament.“ Gegen das von den Frauenrechtlern vorgebrachte Argument, Männer hätten aber bislang in der Praxis nicht die Interessen der Frauen vertreten, wurde die fehlende Repräsentation auch von Männern der arbeitenden Klassen vorgebracht. Schließlich fehlte auch nicht die in vielen europäischen Ländern von den Liberalen geäußerte Befürchtung, Frauen würden die Kirche und „arbitrary government“ unterstützen, also dem Liberalismus nicht von Nutzen sein und für eine Generationen währende Tory-Herrschaft sorgen.15 Der Ausschluss von Frauen aus dem politischen System, der die deutschen Staaten und Frankreich kennzeichnete, bestand in England nur in einem kurzen Zeitraum von den 1830er bis in die 1870er Jahre. Bis 1835 war die Beteiligung von Frauen, die Haushaltungsvorstände waren, also vor allem lediger Frauen und Witwen, an lokalen Wahlen möglich gewesen. Die Beschränkung des Wahlrechts auf Männer im Municipal Reform Act, die in diesem Jahr erfolgte, stellte eine charakteristische Folgerung aus den bürgerlichen Empfindungen einer Welt getrennter Geschlechtersphären dar. Möglicherweise aber war selbst dieser Ausschluss nicht vollständig. In einer Debatte in den Commons 1850 nannte der Abgeordnete Joseph Hume jedenfalls Greenwich als einen Ort mit lokalem Frauenwahlrecht. Im Jahr 1869 wurde dieses lokale Wahlrecht für Frauen wieder eingeführt und im letzten Drittel des Jahrhunderts auf Grafschaften, Kommunen, Armenkommissionen und lokale Schulbehörden ausgedehnt. 1870 nahmen drei Frauen in England ein öffentliches

14 Vgl. Linda Walker, Party Political Women: a comparative study of Liberal women and the Primrose League, 1890–1914, in: Jane Rendall (Hg.), Equal or Different: Women’s Politics, 1800–1914, Oxford 1987; Linda Colley, Captives. Britain, Empire, and the world, 1600–1850, Oxford 2004; Philippa Levine (Hg.), Gender and Empire, Oxford 2004. Zum Vergleich: Gisela Bock, Frauenwahlrecht: Deutschland um 1900 in vergleichender Perspektive, in: Michael Grüttner (Hg.), Geschichte und Emanzipation, Frankfurt a.M. 1999, S. 95–136. 15 Captain Maxse, Objections to Women Suffrage (1874), in: Patricia Hollis, Women in Public 1850–1900, London 1979, S. 307 f.

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Amt wahr, bis 1914 gab es mehr als 3000 Frauen in solchen Funktionen. Im Jahr 1900 stand schließlich eine Million Frauen in den lokalen Wahlregistern.16 Die Ausweitung des Wahlrechts für Männer in den Reformen des 19. Jahrhunderts und der kaum vollständig durchgesetzte Ausschluss von Frauen auf der lokalen Ebene zeugte für die besondere Bedeutung der Demokratisierung der Repräsentation als ein permanenter Prozess. Im internationalen Vergleich besonders eindrucksvoll erscheint weniger die bis 1870 erreichte Ausdehnung des Wahlrechts an sich, sondern die ständige politische Diskussion, die im Parlament und in den Printmedien Großbritanniens geführt wurde. Die Diskursivität der Repräsentation bildete mithin das entscheidende Charakteristikum der britischen Verfassungsgeschichte.

2. Gebaute Repräsentation: Der neue Palast von Westminster In zahlreichen deutschen Einzelstaaten fand die Landtagseröffnung im 19. Jahrhundert gewöhnlich im Residenzschloss des Monarchen statt. Im Jahr 1888 eröffnete Kaiser Wilhelm II. den Reichstag im Weißen Saal des Berliner Stadtschlosses, dem Zentrum der preußischen Königsrepräsentation und regelmäßigem Zeremonialort des Reiches. Das britische Parlament amtierte selber in einem Palast, dem Palast von Westminster, der nach dem Brand 1834 im neugotischen Stil unter Einbeziehung der mittelalterlichen Gebäudeteile neu erbaut wurde. Als das erste öffentliche Gebäude des Viktorianismus ist das Parlament bezeichnet worden, und einige der eindrucksvollen Eigenschaften entfalten ihre Wirkung bis heute, etwa wenn Big Ben als Turmuhr triumphal verkündet, dass nicht mehr die Kirche, sondern eben die säkulare Parlamentsgewalt als „Herr der Zeit“ amtiert.17 Der Neubau wurde durch einen Architektenwettbewerb auf den Weg gebracht – auch unsere Gegenwart hat noch keinen auf Dauer vorteilhafteren Modus für Gebäude und Denkmäler mit staatssymbolischem Auftrag hervorgebracht. Ein Parlamentsausschuss, der von Charles Hanbury Tracy geleitet wurde und nur aus Laien, nicht aus Architekten bestand, übernahm die Jurorenrolle. Die Öffentlichkeit war durch zahlreiche Zeitungsberichte einbezogen. Die prämierten Entwürfe wurden öffentlich ausgestellt. Dabei galt der

16 Debate in the Commons on National Representation, 28 February 1850, in: hansard. millbanksystems.com/commons/1850/feb/28; Catherine Hall u.a., Defining the Victorian Nation: Class, Race, Gender and the Reform Act of 1867, Cambridge 2000. 17 Michael H. Port, The Houses of Parliament, New Haven 1976.

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öffentliche Wettbewerb als Schutz vor einer Auftragsvergabe im Stil der traditionellen Günstlingswirtschaft. Man wollte ein Gebäude, „worthy of being the Palace of the reformed constitution which its authors boast of having effected so great an improvement of the old English government.“ Gleichzeitig sollte das Gebäude aber auch international konkurrenzfähig sein, besonders im Vergleich mit St. Petersburg und Paris. Die Lords wie die Times wünschten ein Bauwerk „worthy of the country“, ein „nobles“ Parlamentsgebäude für Öffentlichkeit und Parlamentsmitglieder. Der radikale Spectator forderte vor allem eine Entscheidung unter Berücksichtigung der zentralen Reformprinzipien: keine Schiebung, keine Übereilung, keine Entscheidung im Verborgenen. Selbst die konservativen Zeitungen hoben hervor, dass „the British people intend to have the choosing of the architects”. Zunächst standen die Kosten nicht im Vordergrund, allerdings sollten Prinzipien einer „fair and just economy“ gelten. Für die Bauzeit fällt der Kontrast zwischen der stets bekundeten Sparsamkeit und der Unlust zu den jährlichen Finanzbewilligungen trotz der Proteste der Presse und der prächtigen, künstlerisch anspruchsvollen und auch teuren Ausstattung auf. Gerade in den Details zeigt sich auch nach den 1840er Jahren der ungebrochene Wille, mit den „repräsentativen“ Gebäuden in anderen Hauptstädten Schritt zu halten.18 Die Planungen hatten zahlreiche Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Zentral für das äußerliche Erscheinungsbild war die Stilfrage. Das Komitee entschied sich, „gotische“ und „elisabethanische“ Pläne zu verlangen und konzentrierte sich damit auf vermeintlich „nationale“ Traditionen, die der „Klassik“ der amerikanischen Hauptstadt Washington entgegengesetzt schienen. Der Bau wurde als nationales Kunstwerk verstanden, das Ziel lautete, die herrschenden ästhetischen Maßstäbe vornehmlich der italienischen Baukunst mit den nationalen Visionen der „British School“ und britischen Künstlern und Architekten in Einklang zu bringen.19 Der Anforderungskatalog wurde aber auch von vielen pragmatisch-technischen Bedingungen bestimmt. Sowohl das Ober- wie das Unterhaus forderten einen größeren Raum für das „necessary business“, stets wurde darauf hingewiesen, dass die Abstimmungen über die Parlamentsreform 1832 zu unzumutbarer Enge geführt hatten. Beleuchtung und Akustik sollten Debatten ermöglichen – unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts waren das anspruchsvolle 18 Blackwood’s Edinburgh Magazine, Bd. 40, 1836, S. 238; Debate in the House of Lords on the Reports of the Select Committee, 15 June 1835, in: http://hansard.millbanksystems.com/lords/1835/jun/15; Port, Houses of Parliament, S. 23. 19 Decoration of the new Houses of Parliament with Painting and Sculpture, in: The Morning Chronicle, 31.12.1841, S. 3.

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Zielvorgaben. Die Heizung und eine Restaurantversorgung kamen vor allem den ökonomisch und sozial schlechter gestellten Parlamentsmitgliedern zugute, die in den Sitzungspausen nicht selbstverständlich ihre Clubs aufsuchen konnten. Der Parlamentarier und Historiker T. B. Macaulay hatte bereits 1828 erklärt, dass für das Parlament eine Reportergalerie unverzichtbar sei, und damit auf die Bedeutung der Öffentlichkeit verwiesen, die sich als „vierter Stand“ gerierte: „The gallery in which the reporters sit has become the fourth estate of the realm.”20 Der Siegerentwurf von Charles Barry fand die Zustimmung der Times und des Gentleman’s Magazine. Über die Errichtung aber kam es dann doch zu zahlreichen öffentlichen Auseinandersetzungen. Ermüdende Debatten über die Kosten bestimmten die nächsten Jahre. Aus den zu Beginn veranschlagten 700.000 brit. Pfund waren bis zu Beginn der 1850er Jahre bereits 1,9 Mill. brit. Pfund geworden. Fertig gestellt wurde das Bauwerk erst in den 1860er Jahren, pünktlich zur zweiten Reformbill. Das Parlament baute sich selbst ein Gehäuse für die eigene Tätigkeit, das legitimiert wurde durch den öffentlichen Wettbewerb um den besten Entwurf. Der Architektenwettbewerb garantierte Partizipation, aber in qualifizierter Form. Zwar konnte nicht jeder Bürger einen eigenen Wettbewerbsbeitrag einreichen, aber zumindest theoretisch konnte sich jeder Brite über die Medien an der Debatte beteiligen.21 Die Bedeutung der Errichtung von Parlamentsgebäuden wurde auch im Deutschen Kaiserreich durchaus gesehen. Hugo Preuß verglich 1888 britische und französische Verfassungsbedingungen, durchaus zugunsten Großbritanniens, und fuhr dann fort: „Seit einem Menschenalter tagt das preußische Abgeordnetenhaus in einem Gebäude, dessen Unzulänglichkeit zum Himmel schreit“, und auch der Plan der Errichtung des neuen Reichstagsgebäudes konnte ihn nicht beschwichtigen. Preuß interpretierte die zögerliche Errichtung von Parlamentsgebäuden in Berlin als Zeichen für die fehlende Parlamentarisierung, als Ablehnung der Parlamente durch die Regierung und auf konservativer Seite. Das Gebäude wurde als Indikator für den Verfassungszustand wahrgenommen, und die Bilanz fiel kritisch aus.22 Das neue House of Lords wurde mit Gemälden mit historischen Szenen, Statuen der Barone, die die Magna Charta unterzeichnet hatten, dem Thron und den eindrucksvollen geschmiedeten Metallgittern verschwenderisch aus20 Port, Houses, S. 13; Forderungen nach größeren Räumen z.B. in Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, 3.4.1847, S. 2. 21 Port, Houses, S. 149. 22 Hugo Preuß, Was uns fehlt. Politische Anregungen (1888), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Tübingen 2007, S. 129–145, hier S. 132.

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gestattet. Die Galerien für Reporter und Besucher stellten großzügig Raum für die Öffentlichkeit zur Verfügung. Der Weg der Königin zur Parlamentseröffnung, die als „national ceremony“ höchste Priorität genoss, erfuhr besondere Aufmerksamkeit. Die Ausstattung des Gebäudes stellte eine Demonstration des viktorianischen Kunsthandwerkes dar.23 Die Ausgaben für das Parlamentsgebäude betrugen 1856 noch 99.800 brit. Pfund, 1857 stiegen sie auf 162.861 brit. Pfund an.24 Diese bedeutenden Kosten stießen zwar auf Kritik, aber insgesamt überwogen in den Zeitungen Äußerungen, die das Parlamentsgebäude als zentrale Repräsentation Großbritanniens verstanden und die Ausgaben daher rechtfertigten. Das Interesse der Öffentlichkeit für die Regierungsgebäude und deren Ausstattung war groß. Das Parlament sollte auch als Bauwerk als nationaler Integrationsfaktor wirken. In den Zeitungen bestanden auch „working men“ darauf, die Gebäude persönlich zu besichtigen. Und auch hier kam es darauf an, die Bauten insgesamt als für die nationale und imperiale Repräsentation nützlich und notwendig zu verteidigen.25

3.  Personifizierte Repräsentation: die Monarchie Die Krönung der britischen Königin Victoria im Jahr 1838 war ein eindrucksvolles Ereignis. Die wesentlichen Merkmale der prunkhaften, lustvoll mit den Überlieferungen der englischen Geschichte spielenden Feier in Westminster Abbey sind häufig beschrieben worden. Die Peers saßen mit ihren Adelskronen im Mittelschiff, die Mitglieder des Unterhauses mussten mit Plätzen auf einer Galerie vorlieb nehmen. Über das Hin und Her der Reichsinsignien (darunter das angebliche Schwert Edward des Bekenners, dessen Original im 17. Jahrhundert zerstört worden war) und über die zeremoniellen Fehler der desorientierten Bischöfe und überforderten Inhaber der höchsten Hofämter wurde mit spürbarem Sarkasmus berichtet. Die Times verzichtete ostentativ auf einen ausführlichen Bericht, schrieb aber umso genüsslicher über die Unordnung, die die Verteilung der Erinnerungsmedaillen in der Abtei verursachte. Fast noch wichtiger als die verfassungsrechtlich zweitrangige Zeremonie aber war der Weg der Königin dorthin, also der Umzug der Monarchin und ihres Gefolges mit viel militärischem Gepränge durch die Stadt. An die Seite der Legitimation in der kirchlichen Zeremonie vor Parlament und Adel trat die 23 Freeman’s Journal and Daily Commercial Advertiser, Dublin, 27.3.1847; Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, 3.4.1847, S. 2. 24 Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, 6.6.1857, S. 7. 25 Lloyd’s Weekly Newspaper, 24.5.1857, S. 8.

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Legitimation auf und durch die Straße, durch das jubelnde Volk: „Multitudes of all classes lined the streets“, notierte der Derby Mercury. Gegen den Dreiklang von Königin, Kirche und Volk trat der „eigentliche“ Inhaber der politischen Macht, das Parlament, an diesem Tag zeremoniell zurück. Aber das Bild wäre unvollständig, würde man allein die Krönung betrachten. Die Krönung erlebt jeder Monarch nur einmal, das Wiederholungszeremoniell schlechthin stellt dagegen die Parlamentseröffnung dar.26 Die wesentlichen Programmpunkte der Parlamentseröffnung zeigen bis heute eine beeindruckende Kontinuität: Der Monarch zieht ins Parlament ein, nimmt auf dem Thronsessel im Oberhaus Platz und verliest die Thronrede, das Regierungsprogramm. Zwar entwickelte Victoria vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten ihrer Witwenschaft große Geschicklichkeit darin, sich dieser ungeliebten Pflicht zu entziehen. Aber der Popularität der Monarchie tat das nicht gut. Im House of Lords meinte Earl Beauchamp 1867: „The Queen did not need that overwhelming burst of loyalty and attachment to convince her how dearly prized by her loving subjects is that personal discharge of duties which, though not essential to state affairs, materially conduce to the chivalrous affection entertained for the person of the Queen.“ Victoria setzte sich übrigens mit ihrem Rückzug aus der Öffentlichkeit – ganz gegen ihre sonstigen Intentionen – über die Vorgaben ihres Ehemannes Albert hinweg. Der Prinzgemahl hatte Ende der 1840er Jahre den Balkon des Buckingham Palace anbauen lassen, damit die Königin im Kreis ihrer Familie von der Bevölkerung gefeiert werden konnte. Albert war jedenfalls entschlossen, die repräsentativen Funktionen der Monarchie, das Zeremoniell und die als Tradition vorgestellte Pracht, zugunsten der politischen Bedeutung der Königin einzusetzen.27 Walter Bagehot hat in seiner berühmten Schrift über die „englische Verfassung“ von 1867, die als politischer Traktat und nicht als verfassungsgeschichtliche Abhandlung zu verstehen ist, so knapp wie polemisch formuliert: 26 Vgl. generell John Cannon/Ron Griffiths, The Oxford Illustrated History of the British Monarchy, Oxford 1998; zur klassischen Verfassungsgeschichte Vernon Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, Oxford 1995; Andrzej Olechnowicz (Hg.), The Monarchy and the British Nation 1780 to the Present, Cambridge 2007. Berichte über die Krönung in The Morning Chronicle, 2.7.1838, auch über Feiern in der Provinz; The Derby Mercury, 4.7.1838, S. 2; The Times, 2.7.1838, S. 5. 27 Earl Beauchamp (bürgerl. Lygon) in der Adressdebatte des House of Lords, in: http:// hansard.millbanksystems.com/lords/1867/feb/05/. Jonathan Parry, Whig Monarchy, Whig Nation: Crown, politics, and representativeness 1800–2000, in: Olechnowicz (Hg.), Monarchy, S.  47–75, hier S. 50. Zu den Repräsentationen Victorias, z.B. in ihren Photographien vgl. Margaret Homans, Royal Representations. Queen Victoria and British Culture, 1837–1876, Chicago 1998.

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„Die Monarchie ist eine Staatsform, in der die Aufmerksamkeit der Nation sich auf eine Person konzentriert, die interessante Dinge tut. Eine Republik ist eine Staatsform, in der sich die Aufmerksamkeit auf viele richtet, die alle uninteressante Dinge tun.“ Eine Königin, die keine interessanten Dinge tut, das Parlament nicht eröffnet und keine Auftritte in der Öffentlichkeit absolviert, nicht sichtbar ist, missachtet die zentrale Funktion der Monarchie. Gleichsam nebenbei verteidigte Bagehot auch die Funktion einer königlichen Familie, und nicht nur die Monarchin. Gegen die Kritik vor allem von radikaler Seite, die die Kosten der Ausstattung der königlichen Kinder bei deren Heirat ins Visier nahm, stellte er die fürstliche Hochzeit als „brillante Fassung eines universalen Faktums“, besser ist es auch für die Gegenwart noch nicht formuliert worden. Demgegenüber kann man darüber streiten, ob Bagehots berühmte Formel der Aufgaben des britischen Monarchen – Konsultation, Ermutigung, Warnung – jemals der verfassungsrechtlichen und politischen Realität entsprochen hat. Es scheint sich hier eher um eine Bagehotsche Formulierung zu handeln, die eine präzise Festlegung der Kompetenzen des Monarchen gerade zu vermeiden sucht, dadurch aber dem Selbstverständnis der Monarchen des 20. Jahrhunderts weit entgegen kommt.28 Im engeren Sinn republikanische Vorstellungen gewannen in der Mitte des 19.  Jahrhunderts in England nur wenige Anhänger, möglicherweise mit der Ausnahme der späten 1860er und frühen 1870er Jahre, als die Königin auf der einen Seite öffentliche Auftritte meist verweigerte, auf der anderen Seite vom Parlament aber Mitgiften bzw. jährliche Apanagen für ihre heiratenden Kinder forderte. Dieser Republikanismus argumentierte in der Hauptsache mit einer utilitaristischen Form der Kosten-Nutzen-Kalkulation, in der hohen Kosten ein geringer Nutzen gegenübergestellt wurde. Vermutlich liegt die Schwäche dieses Republikanismus bis heute gerade aber in dieser utilitaristischen Argumentation, die keine Emphase zulässt und der überragenden medialen Ausstrahlung der Fürstenwelt rein gar nichts entgegenzusetzen hat.29 Eine klassische Repräsentations- als Vertretungsgeschichte einerseits und eine kulturwissenschaftliche Perspektive andererseits stellen keine einander ausschließenden Herangehensweisen dar, sondern können einander ergänzen. Die „Sprache der Repräsentation“ drückte sich in den Parlamentsdebatten der ersten viktorianischen Jahrzehnte als Diskurs über die Grenzziehungen zwischen Wählern und Nichtwählern, zwischen dem Volk und den Gentlemen, 28 Walter Bagehot, The Constitution, London 1867, S. 72 f. 29 Vgl. zur Kritik an der Monarchie Richard Williams, The Contentious Crown, Aldershot 1997; Anthony Taylor, „Down with the Crown“. British Anti-monarchism and Debates about Royalty since 1790, London 1999, bes. S. 80–109.

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zwischen sozialen Klassen und zwischen Männern und Frauen aus. Aber auch der Palast von Westminster stellte eine machtvolle architektonische „Sprache der Repräsentation“ dar. Der Wettbewerb, der für den neugotischen Entwurf entschied, beteiligte das Volk als „öffentliche Meinung“ und ermöglichte ihren Triumph. Die Baugeschichte selber dokumentierte eher das Selbstwertgefühl der Parlamentarier, die ihrem Bedürfnis nach einem bedeutenden Bauwerk auch in vielen Details der Ausstattung nachgaben. Die nüchterne Analyse kommt ohne Idealisierung der britischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts aus. Parlament und Monarchie praktizierten und zelebrierten die politische Ordnung Großbritanniens auf elastische Art und Weise gemeinsam, im Diskurs, und dieses Zusammenwirken war für die Überzeugungskraft des britischen Verfassungssystems selbst unter den sozialen Belastungen des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts verantwortlich.

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Tradition und Repräsentation Nationale Einheit und republikanische Kultur in der französischen Dritten Republik

Das hier diskutierte Thema betrifft nicht nur in Frankreich ein Schlüsselproblem der neuesten Geschichte, nämlich die Frage, wie die Staaten und Gesellschaften Europas im 19. und 20. Jahrhundert danach strebten, ihre Einheit zu konstruieren. In der symbolischen Kommunikation des Politischen und in der Repräsentation des Staatlichen spielt der Bezug auf die Einheit stets eine entscheidende Rolle. Fast scheint es, als ob die Suche nach nationaler Einheit und sozialer Geschlossenheit einem in der Moderne wohl vergeblichen Traum von der Möglichkeit gleicht, in der unübersichtlichen Welt Harmonie zu finden. Die politische Repräsentation von Einheit wird so zum ständigen Begleiter der sozialen Differenzierung und der Entstehung neuer kultureller Gegensätze, der modernen Komplexitätssteigerung und Kontingenzerfahrung. Die Formen, in denen diese Suche nach Einheit in politische Repräsentation umgemünzt wird, haben sich in nationalspezifisch sehr unterschiedlicher Weise ausgeprägt. In Deutschland und Italien etwa war die Entwicklung geprägt von staatlichem Partikularismus und „verspäteter“ Nationalstaatsgründung;1 Frankreich dagegen konnte schon am Ende des Ancien Régime auf eine lange nationalstaatliche Tradition zurückblicken. Die Frage der staatlichen Einheit der Nation stand im 19. Jahrhundert hier nicht mehr im Vordergrund. Das Besondere des französischen Falles liegt vielmehr in der Großen Revolution von 1789 und ihrer Langzeitwirkung.2 „La France unie“ – unter dieser Parole führte François Mitterrand 1988 seinen erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampf – konstituierte über das ganze 19. und 20. Jahrhundert hinweg das ersehnte Gegenbild einer durch die Revolution ebenso ekstatisierten wie traumatisierten Gesellschaft und einer nicht enden wollenden Serie von ihr folgenden „guerres franco-françaises“. In der Sehnsucht nach Einheit wa1 Vgl. insgesamt Lothar Gall/Dirk Blasius, Art. „Einheit“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1979, S. 117–151. 2 Vgl. zum Mythos der Einheit im Frankreich des 19. Jahrhunderts Raoul Girardet, Mythes et mythologies politiques, Paris 1986, v.a. S. 139 ff.

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ren sich auch die politisch-weltanschaulichen Antipoden einig; sie existierte unabhängig von politischen und geschichtsphilosophischen Richtungen. So stellte der ultramontane Vertreter der gegenrevolutionären Tradition, Joseph de Maistre, fest: „Je mehr man das Universum erforscht, desto mehr ist man geneigt zu glauben, dass das Übel von einer gewissen Spaltung herrührt, die man nicht erklären kann, und dass die Rückkehr des Heils von einer gegenläufigen Kraft abhängt, die uns konsequent zu einer gewissen, jedoch ebenso unbegreiflichen Einheit drängt.“ Und der Anwalt des Volkes, Jules Michelet, bestätigte: „Ohne die Einheit müssen wir zugrunde gehen, wie könnten wir dies nicht spüren.“3 Bekanntlich strebten die Franzosen schon während der Revolution selbst danach, die Einheit der Nation zu konstruieren, symbolisch zu kommunizieren und zu zelebrieren. Höhepunkte waren die großen revolutionären Feste wie die Fête de la Fédération am 14. Juli 1790 und die Fête de l‘Unité am 10. August 1793. Die ebenso gigantischen wie prunkvollen Veranstaltungen mit ihrer z.T. ausgefeilten Choreographie sollten angesichts des Bruchs mit der Vergangenheit und der prekären Unsicherheit der Gegenwart Einheit für die Zukunft stiften. In einer temporär abgeschlossenen „Sinnwelt“ (Berger/Luckmann) konstituierten die „fêtes révolutionnaires“ das in sich geschlossene Volk – „le peuple“ – als Nation und suchten die Brücke zwischen Paris und der Provinz, zwischen Stadt und Land zu schlagen.4 Für die Konstruktion von Einheit haben die Französische Revolution und der sich aus ihr legitimierende Republikanismus denn auch in hohem Maße traditionsstiftend gewirkt.5 Die Nachwelt besaß gute Gründe dafür, die einheitsverbürgenden Elemente der Revolutionsgeschichte hervorzuheben und zu kommemorieren. Ein charakteristisches Beispiel war der in der Tradition von 1848 stehende Republikaner Henry Martin. Als Freund und Schüler Michelets stilisierte er das Föderationsfest von 1790 zu einem entscheidenden Höhepunkt der nationalen Geschichte. Auf ihm hatte das französische Volk seine Freiheit und Einheit besiegelt. In Martins Darstellung bildete das Föderationsfest daher das Ziel eines „mouvement d’union et de fraternité entre les individus, entre les communes, entre les provinces, entre tout le peuple français.“6 In noch nachhaltigerer Weise wurde der 14. Juli 1789, der Fall der 3 Beides zit. in ebd., S. 140 u. 142 (Übersetzungen hier und künftig vom Verfasser). 4 Mona Ozouf, La fête révolutionnaire, 1789–1799, Paris 1976. 5 Vgl. Claude Nicolet, L’idée républicaine en France (1789–1924). Essai d’histoire critique, Paris 1982, v.a. S. 83 ff. 6 Henri Martin, Histoire de France Populaire, Bd. 3, hier zit. nach der Anthologie von Raoul Girardet, Le nationalisme français 1871–1914, Paris 1966, S. 67.

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Bastille, zum Symbol für die Vereinigung von Nation und Republik. Schon in der napoleonischen Zeit veränderte der 14. Juli seinen Sinngehalt. Von der Erinnerung des gegen den monarchischen Absolutismus gerichteten Ereignisses wendete sich der Gedenktag hin zum Symbol der nationalen Einheit. Als solcher hat er seine Bedeutung behalten, bis ihn die Dritte Republik 1880 zum Nationalfeiertag erhob.7

1.  Der Republikanismus als einheitsbildende Potenz Die langfristig stärkste Kraft, die sich ebenso aus der Sehnsucht nach nationaler Einheit wie aus dem Mythos der Revolution speiste, war der französische Republikanismus. Allein war er allerdings über das ganze 19. Jahrhundert hinweg zu schwach, um eine hegemoniale Position zu erreichen. Im folgenden seien daher zunächst einige Bemerkungen zu seiner Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gemacht, bevor ein zweiter Gedankengang auf jene Kräfte eingeht, die mit dem Republikanismus teils koalierten, teils in ihm aufgingen. Erst die hieraus resultierende Synthese bildete jene Form der republikanischen Kultur, die dann in der Dritten Republik für die staatlich-politische Repräsentation Quelle und Bezugspunkt zugleich wurde. Bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hat der Republikanismus in Frankreich vor allem die egalitären Momente der Französischen Revolution betont, das heißt, es handelte sich zunächst um eine dezidiert „linke“ Tradition mit zum Teil fließenden Übergängen zum französischen Frühsozialismus. Die Versöhnung von Nation und Republik, die schon 1791/92 auf der Tagesordnung stand, scheiterte allerdings 1848. Seinen Grund hatte das für die Republikaner im Verrat der großen Bourgeoisie, die die Revolution von 1848 nicht als soziales, sondern allein als politisches Ereignis zur Befestigung der eigenen Macht betrachtet hätte.8 Ihrer eigentlichen Bestimmung waren Revolution und Republik demzufolge untreu geworden: nämlich die soziale Einheit zu 7 Hans-Jürgen Lüsebrink/Rolf Reichardt, Die „Bastille“. Zur Symbolgeschichte von Herrschaft und Freiheit, Frankfurt a.M. 1990, S. 177 f. Zur Geschichte des Nationalfeiertages in der Dritten Republik Christian Amalvi, Le 14 Juillet. Du Dies irae à Jour de fête, in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 1, NA Paris 1997, S. 383–423. 8 Zur sozialen Dimension der französischen Revolution von 1848 mit weiterer Literatur: Andreas Wirsching, Arbeiter und Arbeiterbewegung in Paris in vergleichender Perspektive, in: Ilja Mieck u.a. (Hg.), Paris und Berlin in der Revolution 1848, Sigmaringen 1995, S. 161–185.

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stiften und, wie es der Linksrepublikaner Edgar Monteil rückblickend formulierte, „die Vereinigung der gesellschaftlichen Schichten zu bewerkstelligen, ... eines der schönsten Privilegien der republikanischen Regierungsform.“9 Um so mehr stand 1870/71 für die „gläubigen“ Republikaner wie Louis Blanc oder Leon Gambetta fest, dass die Republik keineswegs, wie die Legitimisten argwöhnten, zum anarchischen Zusammenstoß der sozialen Kräfte und Klassen führe, sondern zu ihrem harmonischen Zusammenspiel. Gambetta deklamierte: „Die Republik ist die große Sache, die uns alle einen kann.“10 Aus dieser Sicht verbürgte die Republik mehr als jede andere politische Form die soziale Einheit zum Nutzen aller.11 Niemand verkörperte die „foi républicaine“ inbrünstiger als Georges Clemenceau. Ihr bewegendes Prinzip, die Französische Revolution, betrachteten Clemenceau und mit ihm die republikanische Linke als nicht mehr weiter auszudifferenzierenden „Block“.12 Nicht die empirische Geschichte der Revolution, mit ihren unterschiedlichen und widersprüchlichen Etappen und Kräften, zählte demzufolge für die Legitimation der Republik. Auch bedeuteten ihre „bêtises“, ihr Terror und ihre „sozialen Kosten“ nichts für die republikanische Identität. Und keinesfalls war die Revolution auf einen Sieg der Bourgeoisie zu reduzieren und damit politisch zu immobilisieren. Soziale und politische Einheit verbürgte vielmehr die ideologische Entscheidung für die Revolution als ein von der Vergangenheit in die Zukunft gewendetes, ganzheitlichemanzipatives, humanitäres und – last but not least – patriotisches Ereignis.13 Französische Revolution, Republikanismus und Patriotismus verbanden sich bei Clemenceau und dem von ihm maßgeblich geprägten Parti radical zu einer geradezu mystischen Spiritualität, die freilich zugleich auch den Keim der Sterilität in sich trug.14 9 Edgar Monteuil, Les couches sociales, Paris 1880, S. 93. 10 Léon Gambetta, Discours, Hg. Georges Bourgin, Paris 1949, S. 142 (Rede in Annecy am 1.10.1872). 11 Vgl. René Cristini/Jean-Marie Rainaud, La notion de République dans les débats sur les lois constitutionnelles de 1875, in: Paul Isoart/Christian Bidegaray (Hg.), Des Républiques françaises, Paris 1988, S. 413–439, hier S. 418. 12 Clemenceau traf seine viel und meist verkürzt zitierte Aussage in einer Parlamentsdebatte am 29. Januar 1891: „Messieurs, que nous le voulions ou non, que cela nous plaise ou que cela nous choque, la Révolution française est un bloc.“ Die gesamte Intervention Clemenceaus, die zu erheblichem Tumult führte, dokumentiert: http://www. assemblee-nationale.fr/histoire/Clemenceau_1891.asp (4.1.2011). 13 Vgl. Georges Wormser, La république de Clemenceau, Paris 1961, S. 10 f. 14 Ein in diesem Sinne kritisches Porträt Clemenceaus bei Theodor Zeldin, France 1848– 1945. Politics and Anger, Oxford 1987, S. 334 ff.

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Dass die Dritte Republik in der Konstruktion und Repräsentation von Einheit tatsächlich erheblich erfolgreicher gewesen ist als alle Regime vor ihr, hatte sie in erster Linie einem historischen Kompromiss zu verdanken. In den frühen 1870er Jahren hatten Monarchie und Empire ihre Rolle definitiv ausgespielt; mit dem Kommuneaufstand war aber auch der Anspruch der egalitären Demokratie nach 1794 und 1848 ein weiteres Mal niedergeschlagen worden. Aus der konstitutionellen Sackgasse führte allein der historische Kompromiss zwischen Republikanismus und liberalem Konservativismus. Die letztgenannte Gruppierung bezeichnet denn auch den zweiten wesentlichen Entwicklungsstrang des nachrevolutionären Frankreich. Er ging maßgeblich auf François Guizot und die sogenannten doctrinaires, schließlich auf den Orléanismus zurück. Guizot hatte die 1789 geborene, neue Gesellschaft als Resultat der ganzen französischen Geschichte akzeptiert; auf ihrer Basis galt es eine vernünftige Regierungsform zu etablieren, die sich von den revolutionären Prinzipien der Vergangenheit – die die alte Gesellschaft zerstört hatten – ebenso unterschied wie von denen der Gegenrevolution, die die alte Gesellschaft wiederherstellen wollte.15 Mitte der 1870er Jahre erblickten die Erben des Orléanismus wie Casimir Perier (d.J.), Adolphe Thiers oder E.R. Laboulaye in der republikanischen Staatsform ein akzeptables Äquivalent für die nicht mehr erreichbare konstitutionelle Monarchie.16 Sofern sie ein konservatives Profil erhielt, erhofften diese „resignierten“ Republikaner – nach dem Ende der Restaurationsbestrebungen – von der neuen Staatsform das höchstmögliche Maß an sozialer und politischer Einheit. Ihr wichtigster Repräsentant war Adolphe Thiers, der das geflügelte Wort von der Republik als der Staatsform, „die uns am wenigsten trennt“, prägte und der von der republikanischen Presse gleichwohl eher spöttisch als „neo-converti à la Republique“ bezeichnet wurde.17 Tatsächlich ging aus dem Kompromiss von 1875 jene „republikanische Kultur“ hervor, die der Dritten Republik ihre außergewöhnlich langanhaltende Stabilität verlieh. Ihr Gesellschaftsbild erlangte zwar niemals Allgemeingültigkeit, aber doch ein hohes Maß an Zustimmung. Wie insbesondere Claude Nicolet und Serge Berstein gezeigt haben, beruhte es auf einigen wenigen Prinzipien: Neben dem 1905 festgeschriebenen Grundsatz der Laizität gehörte hierzu vor allem der Primat des Individuums und seiner natürlichen 15 Vgl. Jacques Portes, L’épreuve de l’étranger, in: Jean-François Sirinelli (Hg.), Histoire des droites en France, Bd. III: Sensibilités, Paris 1992, S. 165–201, hier S. 166. 16 Cristini/Rainaud, La notion de République, S. 419 ff. 17 Le Réveil du peuple, 25.4.1871, zit.n. Jean Dubois, Le vocabulaire politique et social en France de 1869 à 1872, Paris 1962, S. 351.

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Rechte über die Gesellschaft sowie das Versprechen eines allmählichen sozialen Fortschritts.18 In der Republik, die Gleichheit vor dem Gesetz garantierte und deren entkirchlichtes Bildungssystem Aufklärung, Humanität und gleiche Chancen versprach19, sollten die sozialen und Klassengegensätze letztlich zugunsten einer höheren Einheit aufgeklärter Staatsbürger aufgehoben werden. Anders als das Second Empire gewann die Dritte Republik dadurch für ihre politische Kultur eine universalisierbare Idee, die sich je länger desto mehr in ihrer staatlichen Repräsentation abbildete. Ein solcher intellektuell geprägter Republikanismus bildete die entscheidende politische Kraft der Dritten Republik. Seine Basis war eine kritisch-rationale, zivilgesellschaftlich basierte Vernunftethik, die weniger auf die Verwirklichung eines konkreten politischgesellschaftlichen Modells zielte als auf die Bildung freier, vernunftbegabter und damit kritischer und diskursfähiger Menschen.20 Seine durchschlagende Kraft gewann das republikanische Einheitskonzept vor allem auch dadurch, dass es über eine starke soziale Sprache verfügte. Die Repräsentation der nationalen Einheit durch die Republik beruhte auf der Fiktion einer egalitären Sozialutopie und wirkte damit integrativ. „Bei uns gibt es keine Klassen mehr“, deklamierte etwa Louis-Antoine Garnier-Pagès im Jahre 1847, „in Frankreich gibt es nur noch Staatsbürger (citoyens)“21. Und so häufig die Kandidaten der republikanischen Linken bei den Wahlkämpfen der 1880er Jahre den Begriff der „Republik“ in den Mund nahmen, so selten sprachen sie von „Gesellschaft“, „sozialen Klassen“ und ähnlichem.22 Noch Anfang des 20. Jahrhunderts konstatierte der französische Soziologe Arthur Bauer, unter Republikanern sei die Auffassung gängig, es gebe keine Klassen mehr.23 Dem entsprach die Vorstellung, das Hexagon (wie Frankreich wegen der sechseckigen Umrisse des Landes 18 Nicolet, L’idée républicaine; Serge Berstein, La culture républicaine dans la première moitié du XXe siècle, in: Ders./Odile Rudelle (Hg.), Le modèle républicain, Paris 1992, S. 159–171. 19 Hierzu siehe im Überblick: Antoine Prost, Histoire de l‘enseignement en France 1900– 1967, Paris 1968; Robert Gildea, Education in Provincial France, 1800–1914. A Study of Three Departments, Oxford 1983. 20 François Beilecke, Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenassoziation 1892–1939, Frankfurt a.M. 2003, hier v.a. S. 346 ff. 21 Zit. n. Adeline Daumard, La bourgeoisie parisienne de 1815 à 1848, Paris 1963, S. XI. 22 Siehe Antoine Prost, Vocabulaire des proclamations électorales de 1881, 1885 et 1889, Paris 1974, S. 34. 23 Klaus-Peter Sick, Von der politischen Formel zum Begriff der Repräsentation. Die Geschichte von ‚classes moyennes‘ in Frankreich vom 18. zum 20. Jahrhundert, in: Horst Möller u.a. (Hg.), Gefährdete Mitte? Mittelschichten und politische Kultur zwischen

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genannt wurde) bilde grundsätzlich eine irreduzible Einheit, sofern nur die sozialen und politischen Störfaktoren ausgeschaltet würden. Diese Idealvorstellung von Einheit besitzt allerdings bis heute ihre scharfe Kehrseite: Denn neben seiner universalistischen Dimension hat der Republikanismus immer auch ein schroff exklusives Element besessen. Wer nicht für ihn und seine Konzeption von Einheit optiert, wird mit Ausschluss bedroht. Für die den Eid verweigernden Priester in der Revolutionszeit galt dies ebenso wie für regionalistische Tendenzen jeglicher Art. Festzuhalten ist in jedem Fall: In Frankreich bestand mit dem Republikanismus historisch eine „linke“ Tradition, die, ganz im Gegensatz zur Sozialdemokratie und zum Kommunismus, nicht den sozialen Konflikt in das Zentrum ihrer politischen Identität und Rhetorik stellte. Die Tendenz zur Leugnung tatsächlicher sozialer Heterogenität besaß indessen auch für andere politische Traditionen ihre Attraktivität. Tatsächlich kann man feststellen, wie sie im Dienste eines übergeordneten Einheitsprinzips gewissermaßen „wanderte“: Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entfaltete sie ihre Wirksamkeit zunehmend auch auf der politischen Rechten. Der Heraufkunft der Sozialen Frage und der Herausforderung der Arbeiterbewegung begegneten Teile der Rechten, indem sie ein ebenso geschlossen-organologisches wie nationalistisches Gesellschaftsbild propagierten. Gesellschaftliche Widersprüche galt es in der Einheit der Nation aufzuheben. „Das Wort Klasse bedeutet nichts“, so lautete z.B. 1936 die Auffassung eines Redners der äußeren Rechten. „Das Heil des Landes liegt darin, dass sich alle seine Kinder in der Liebe zum Vaterland aufs engste vereinen.“24 Im Hinblick auf die politische Sprache ist besonders interessant, dass Republikanismus und liberaler Konservatismus auf dieser Basis einen gemeinsamen sozialen Schichtungsbegriff fanden, nämlich den Terminus der „classes moyennes“.25 Nicht zufällig begann er sich schon unter der JuliMonarchie vor allem im Orléanismus zu verbreiten: Mit der damals beschleunigten industriellen Entwicklung korrespondierte der Legitimitätsverlust der Bourgeoisie, die angesichts des aufbrechenden Klassengegensatzes immer weniger soziale Homogenität zu verbürgen versprach. Um so mehr brauchte man den Mittelklassen-Begriff: Gerade wegen seiner soziographischen Vagheit war er mehr als jeder andere zum Brückenschlag zwischen den den Weltkriegen: Italien, Frankreich und Deutschland, Sigmaringen 1993, S. 57–82, hier S. 63. 24 Archives de la Préfecture de Police, Paris (künftig APP), 79.501-2534, 18.2.1936, Réunion privé du parti National Populaire, Paris, 15. Arrondissement, 17.2.1936. 25 Allgemein hierzu vgl. Sick, Formel.

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verschiedenen politischen Richtungen geeignet. In einer Zeit zunehmender sozialer Differenzierung entsprach er mit seinen normativen, gleichsam aristotelischen Konnotationen in besonderer Weise dem Bedürfnis nach sozialer Konstruktion von Einheit. Im Sinne der offenen Mittelschichtengesellschaft verlieh er der republikanischen Sozialutopie Ausdruck. Als Gegenstrategie zum Gedanken des Klassenkampfes kam er dem liberalen Konservativismus entgegen. Der Gedanke sozialer Mobilität und Unabhängigkeit durch den Erwerb individuellen (Klein-)Eigentums stellte jedenfalls eines der wichtigsten Bindemittel republikanischer Kultur dar. Seine Attraktivität blieb bis tief in das 20. Jahrhundert ungebrochen.26 Selbst der französische Sozialismus war keineswegs einem ausschließlich binären Klassenmodell im orthodox-marxistischen Sinne verpflichtet. Noch beeinflusst vom orléanistischen Liberalismus erkannte etwa Proudhon in den Mittelklassen den Hort der bürgerlichen Tugenden und rief zur Allianz zwischen ihnen und den Arbeitern auf.27 Jean Jaurès nahm vielfach positiven Bezug auf die „classes moyennes“; und selbst die Kommunistische Partei Frankreichs bemühte sich seit Mitte der 1920er Jahre um die Integration der Mittelschichten in ihr ideologisches Konzept.28 In den dreißiger Jahren wurden die vage definierten „classes moyennes“ dann in allen politischen Gruppierungen zum gesellschaftspolitischen Hätschelkind. Mit ihrer Förderung hoffte man am ehesten, die Krise zu überwinden und gesellschaftliche Einheit zu gewinnen.

2.  Die gegenrevolutionäre Tradition Als dritter Entwicklungsstrang aus der Revolution war neben Linksrepublikanismus und konservativem Liberalismus die gegenrevolutionäre Tradition hervorgegangen. Zwar hatte sich ihr Einfluss im Verlauf des 19. und frühen 20.  Jahrhunderts insgesamt abgeschwächt; gleichwohl ist aus der französischen Republik zum Teil noch bis in die jüngste Zeit stets auch ihre eigene Infragestellung hervorgegangen: Von der Action française über die Varianten 26 Vgl. Nonna Mayer, L’atelier et la boutique: deux filières de mobilité sociale, in: Berstein/Rudelle (Hg.) 1992, S. 263–282. 27 Pierre-Joseph Proudhon, De la Capacité politique des Classes ouvrières, in: Ders., Œuvres complètes, Hg. Célestin Bouglé/Henri Moysset, Paris 1924, S. 230 f. 28 Andreas Wirsching, Kleinbürger für den Klassenkampf? Theorie und Praxis kommunistischer Mittelstandspolitik in Frankreich 1924–1936, in: Möller u.a. (Hg.) 1993, S. 95–116.

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eines französischen „Faschismus“ und das Vichy-Regime bis hin zum Front National lebte die Republik mit ihrem Widerspruch. Ganz wesentlich definiert sich dieser Widerspruch durch eine der republikanischen Kultur konträre Beschreibung der bestehenden und der wünschbaren Gesellschaft sowie durch eine grundsätzlich abweichende Vorstellung davon, wie soziale und politische Einheit konstituierbar sei. Zunächst bildete die Einheit von Religion und Gesellschaft ein unaufgebbares Element im Denken der konservativen Traditionalisten.29 Dies galt auch für jene Katholiken, die sich wie Lamennais aus Enttäuschung über die Bourbonen dem Liberalismus zuwandten.30 Und für die theokratischen Vertreter der gegenrevolutionären Theorie wie de Bonald und de Maistre konnte ohnehin nur die gottgewollte und religiös fundierte Monarchie die Grundlage politischer und sozialer Einheit bilden. Eine neue, in ihrer geistigen Wirkung überaus weitreichende Synthese schufen am Ende des 19. Jahrhunderts Charles Maurras und seine Action française. In ihr wurde die gegenrevolutionäre Tradition mit dem modernen Massenzeitalter vermittelt: Königtum und Katholizismus bildeten zwar nach wie vor die äußeren, für die Konstruktion von Einheit unentbehrlichen Insignien. So leugnete die Action française bei Kriegsausbruch 1914 die Möglichkeit einer echten Einheit aller Franzosen, da es am allein einigenden Band der Monarchie fehle.31 Für Maurras allerdings, der selbst Agnostiker war, erfüllten Katholizismus und Königtum eine primär instrumentale Funktion. Seine Lehre ordnete die säkularisierte gegenrevolutionäre Tradition dem Impuls eines radikalen Antiliberalismus unter. Gesellschaftspolitisch ergab sich hieraus eine grundsätzliche Absage an den republikanischen Individualismus; das Individuum wurde in tradierte Ordnungen zurückgezwängt, in denen sich der Korporatismus der katholischen Soziallehre von René de la Tour du Pin und Albert de Mun mit regionalistischen Elementen verband.32 29 Siehe mit weiteren Literaturangaben Philip Boutry/Alain-René Michel, La réligion, in: Sirinelli (Hg.), Histoire des droites, Bd. III, S. 647–695. 30 André Jardin, Histoire du libéralisme politique. De la crise de l’absolutisme à la Constitution de 1875, Paris 1985, S. 299 ff. 31 Thomas Raithel, Das „Wunder“ der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996, S. 487. 32 Über die Ursprünge der Action française vgl. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française, der italienische Faschismus, der Nationalsozialismus, München 1979, S. 67 ff.; Victor Nguyen, Aux origines de l’Action française. Intelligence et politique vers 1900, Paris 1991. Zur Geschichte siehe nach wie vor das Standardwerk von Eugen Weber, Action Française: Royalism and Reaction in TwentiethCentury France, Stanford/Calif. 1962. Jetzt auch: Michel Leymarie/Jacques Prévotat (Hg.), L’Action française. Culture, société, politique, Villeneuve-d’Ascq 2008; Olivier

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Vor allem aber ging die Action française über die zunehmend steril gewordenen Paradigmen der gegenrevolutionären Tradition dadurch hinaus, dass sie die Nation in den Mittelpunkt ihrer Einheitskonzeption stellte. Maurras’ sogenannter „integraler“ Nationalismus definierte sich durch die Distinktion des Eigenen vom Fremden, welch letzteres zugleich als innerer Feind definiert wurde. Damit knüpfte die Action française an die gegenrevolutionäre Verschwörungstheorie und ihre These vom „jüdisch-freimaurerischen Komplott“ an: Der Konstruktion von Einheit entsprach die Konstruktion von Feindbildern. Ihren gleichsam „klassischen“ Ausdruck fand diese Bestimmung des inneren Feindes, der für die Spaltungen, die Uneinigkeit und die Dekadenz der Nation verantwortlich sei, in Maurras’ berühmt-berüchtigten „quatre Etats confédérés“: „juif, protestant, maçon, métèque“.33 Die Republik galt als die „Herrschaft des Fremden“.34 Eine solcherart konstruierte Einheit besaß ihr Spiegelbild im Antisemitismus und in der Xenophobie. Beide markierten die scharf gezogene Scheidelinie zu den universalistischen Tendenzen des republikanischen Bürgerrechts, das Elemente des ius soli aufgenommen hatte und die Option für Frankreich ermöglichte.35 Zwar definierte sich dieser Gegensatz kaum, wie in Deutschland, in völkischen Kategorien.36 Allerdings erlebte der antisemitisch unterlegte Antirepublikanismus auch in Frankreich eine Renaissance. Nachdem die DreyfusAffäre Höhepunkt und Katharsis zugleich gewesen zu sein schien, wurde Frankreich in den 1930er Jahren von einer neuen Welle des Antisemitismus erfasst.37 Und das Vichy-Regime stellte sich mit seinem kurzen, durch exogene Faktoren entscheidend beförderten Zwischenspiel sehr bewusst in die Dard (Hg.), Le maurrassisme et la culture. L’action française, culture, société, politique (Bd. 3), Villeneuve-d’Ascq 2010. 33 L’Action française, 6. Juli 1912 (und öfter). Zum Topos des „jüdisch-freimaurerischen Komplotts“ vgl. Ariane Chebel d’Appollonia, L’extrême-droite en France. De Maurraus à Le Pen, Brüssel 1988, S. 72 ff. 34 „La république en France est le règne de l’étranger“, L’Action française, 29.12.1909, zit. n. Christian du Saussay/Maurice Torrelli, Les antirépublicains et la continuité de la République, in: Isoart/Bidegaray (Hg.), Des Républiques françaises, S. 581–600, hier S. 588. 35 Vgl. Roger Brubaker, Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich, Hamburg 1994 (zuerst amerik. 1992), S. 72 ff. u. 122 ff. 36 Vgl. hierzu Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, v.a. S. 325–330. 37 Ebd., S. 497–506; Ralph Schor, L‘anti-sémitisme en France pendant les années trente, Brüssel 1992.

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gegenrevolutionäre und antirepublikanische Tradition.38 Nicht zufällig fiel diese Abwendung von der „culture républicaine“ in die Zeit einer umfassenden Modernisierungskrise. Die 1789 geborene neue Gesellschaft, die auf Besitzindividualismus, Gleichheit vor dem Gesetz und dem Anspruch auf staatsbürgerliche Freiheit beruhte, war nun endgültig im Begriff, durch die moderne, komplexe und durch neue Kontingenzerfahrungen geprägte Industriegesellschaft abgelöst zu werden.

3.  Die symbolische Repräsentation der Einheit Der letzte Gedankengang soll der Frage gewidmet sein, wie sich vor dem Hintergrund der vorgestellten Traditionsstränge die republikanische Repräsentationskultur nach dem Ersten Weltkrieg entfaltete. Damit verbindet sich die Überlegung, dass Frankreich im 20. Jahrhundert eine vergleichsweise hohe politisch-gesellschaftliche Stabilität vorweisen konnte. Dies gilt im doppelten Sinne: Relative gesellschaftliche Stabilität wies Frankreich zum einen im diachronen Vergleich mit seiner Geschichte im 19. Jahrhundert auf; zum anderen im synchronen Vergleich mit den anderen europäischen Demokratien der Zwischenkriegszeit.39 Eine wichtige Voraussetzung für diese relative Stabilität war zunächst der Erste Weltkrieg. Sein für Frankreich zumindest vordergründig erfolgreicher, dann rasch mythologisierter Ausgang befestigte einmal mehr die republikanische Legitimität. Vor dem Hintergrund des Großen Krieges näherten sich nicht nur Republikanismus und gemäßigter Katholizismus einander an; sondern vorübergehend konnten sich sogar auch republikanischer Patriotismus und gegenrevolutionärer Nationalismus die Hand reichen.40 Selbst Maurras 38 Zusammenfassend: Jean-Pierre Azéma, Vichy face au modèle républicain, in: Berstein/Rudelle (Hg.), Modèle républicain, S. 337–356, hier v.a. S. 340 f. Eine weitgehende Vergleichbarkeit der antisemitischen Verfolgung im Bereich der traditionellen Ministerialbürokratie zwischen NS- und Vichy-Regime postuliert: Michael Mayer, Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und „Judenpolitik“ in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich, München 2010. 39 Siehe mit weiterer Literatur die Beiträge in: Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007. 40 Grundlegend zur Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die politische Kultur der Rechten jetzt: Michael Hoffmann, Ordnung, Familie, Vaterland. Wahrnehmung und Wirkung des Ersten Weltkriegs auf die parlamentarische Rechte im Frankreich der 1920er Jahre, München 2008.

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äußerte gegenüber dem gläubigen Republikaner und fanatischen Laizisten Georges Clemenceau eine gewisse Hochachtung. Und die Vielzahl der Feierlichkeiten, mit denen nach 1918 der großen Kriegsereignisse gedacht wurde, legt Zeugnis von ihrer einheitsstiftenden Kraft ab: Das Land wurde von einem Netz von Kriegerdenkmälern („monuments aux morts“) überzogen.41 Bereits 1922 wurde der 11. November, der Tag des Waffenstillstandes („Armistice“) zum nationalen Feiertag erhoben. Als Feiertag des einfachen Soldaten, des „poilu“, bildeten sich im 11. November die Geschlossenheit der Nation, ihre Hingabe und ihr Opfermut ab. Solcherart etablierte der 11. November eine für alle politisch-gesellschaftlichen Richtungen grundsätzlich offene Tradition, die in der Mitte der politischen Kultur Frankreichs angesiedelt war. Zugleich avancierte er rasch zum favorisierten Sammlungspunkt der Veteranenorganisationen wie auch der nationalistischen Gruppierungen jeglicher Couleur. Der alljährliche Umzug auf den Champs-Elysees und die Kranzniederlegung am Étoile, am Grab des unbekannten Soldaten, waren Höhepunkte im Festkalender der nationalen Gruppierungen und boten somit ein Ventil für deren Aktions- und Präsentationsbedürfnis.42 Auch das Staatsbegräbnis des Marschall Ferdinand Foch im Jahre 1929 bot Gelegenheit, im Andenken an den Großen Krieg und seine Helden die Geschlossenheit der Nation symbolisch zu zelebrieren.43 Ähnliches galt für weitere große Gedenktage des Ersten Weltkriegs: Der Schlacht von Verdun wurde alljährlich erinnert44, und auch das Gedenken an die Kämpfe an Ourcq und Marne („Marne-Schlacht“) im September 1914 entwickelte für die Rechte 41 Antoine Prost, Les anciens combattants et la société française, 3 Bde. Paris 1977, Bd. 3: Mentalités et idéologies, S. 38 ff.; Jean-Jacques Becker, La France en guerre 1914–1918. La grande mutation, Brüssel 1988, S. 147 ff., sowie der reich illustrierte Band von Annette Becker, Les monuments aux morts. Patrimoine et mémoire de la grande guerre, Paris o.J. Für eine kritische Diskussion anhand eines gegenläufigen Beispiels vgl. Andreas Wirsching, Umstrittene Erinnerung: Die französischen monuments aux morts nach dem Ersten Weltkrieg. Das Beispiel Levallois-Perret, in: Klaudia Knabel u.a. (Hg.), Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung, Göttingen 2005, S. 127–143. 42 Vgl. etwa die Haltung der zur extremen Rechten tendierenden Pariser Tageszeitung L’Echo de Paris zum 11. November, die analysiert wird von Jean-Jacques Becker, La Première Guerre mondiale dans la mémoire des droites, in: Sirinelli (Hg.), Les Droites II, S. 505–547, hier S. 532 ff. 43 Zum weiteren Kontext der Staatsbegräbnisse in der Dritten Republik vgl. Avner BenAmos, The Other World of Memory: State Funerals of the French Third Republic as Rites of Commemoration, in: History and Memory 1 (1989), S. 85-108. 44 Antoine Prost, Verdun, in: Nora, Lieux de memoire II: La nation, Bd. 3, Paris 1986, S. 111–141.

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eine spezifische Mobilisierungsfunktion. Das Gedenken des Sieges in der Marne-Schlacht diente der extremen Rechten als Möglichkeit zur politischen Heerschau.45 Darüber hinaus aber war entscheidend, dass mit dem Republikanismus und der gegenrevolutionären Doktrin zwei langfristig etablierte politischsoziale Sprach- und Begriffssysteme existierten. Die gegenrevolutionäre Tradition etwa konstituierte bei all ihrer antiliberalen und antidemokratischen Substanz doch zugleich ein verbindliches Regelwerk. Ihre Bezugsgrößen wie Monarchie und Religion ließen modernen totalitären Versuchungen wenig Spielraum und immunisierten weite Teile der extremen Rechten gegen rassistisches und faschistisches Gedankengut. Umgekehrt erwies sich die republikanische Tradition spätestens seit 1875 als flexibel genug, unterschiedliche soziale Kräfte und politische Richtungen zu integrieren und damit partielle Einheit zu stiften. Zwar bedeutete Republik im 20. Jahrhundert zunehmend nicht mehr als einen formalen Gegenbegriff zur Monarchie. Und in den dreißiger Jahren mangelte es nicht an Strömungen, die die Einheit Frankreichs im Sinne einer autoritären Republik neu zu begründen suchten und damit in die Nähe faschistischer Modelle rückten. Doch auch unter den Bedingungen der Krise übte der republikanische Diskurs mit seiner individualrechtlichen und freiheitlichen Substanz eine disziplinierende Wirkung aus. Ihn zu verlassen, wäre für jeden Politiker mit dem Risiko der politischen Ächtung verbunden gewesen. Den antidemokratischen Kräften, wie sie auf der politischen Rechten mit den außerparlamentarischen Kampfverbänden und auf der Linken mit der Kommunistischen Partei bestanden, ließ diese republikanische Diskursdisziplin nur sehr begrenzte Spielräume. Dieser Mechanismus lässt sich gut in der Choreographie politischer Repräsentation ablesen. Ein besonders gutes Beispiel ist etwa der 14. Juli 1935, eine Zeit also, als sich die Dritte Republik inmitten einer schweren politischen Krise befand. Zwar war die Einheit Frankreichs durch politische und soziale Gegensätze gefährdet. Am republikanischen Nationalfeiertag aber wollten alle teilnehmen – von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken. Im Zentrum der Stadt sammelten sich zwei große Umzüge: die jüngst etablierte Volksfront und die nationalistische Rechte. Doch während erstere in den Osten der Stadt, zur Place de la Bastille, marschierte, zogen letztere nach Westen, zum 45 Siehe z.B. Archives Nationales (künftig A.N.), F7 13231, 4.9.1925 (Ligue des Patriotes), F7 13241, 20.9.1935, Begehung des 21. Jahrestages der Marne-Schlacht durch die Croix de feu; 451 AP 81, Rundschreiben François de la Rocques (Croix de feu) vom 1.9.1934; APP 79.501-508D, 30.7.1935 u. 7.9.1935 (Vorbereitungen der Jeunesses Patriotes), sowie das Dossier in APP Ba 1962 (Croix de feu).

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Triumphbogen. In der Mitte wurden beide Gruppierungen von einem riesigen Polizeiaufgebot voneinander ferngehalten, so dass es tatsächlich zu keinen gewaltsamen Zusammenstößen kam.46 Wie viele andere zeigt dieses Beispiel, dass politische Willenskundgebungen auch in den dreißiger Jahren am nachhaltigsten unter dem Dach des republikanischen Diskurses artikuliert wurden. Auch in der Krise der Demokratie half die „republikanische Synthese“, vorhandene Gegensätze zu mildern und innerhalb eines einheitsstiftenden Rahmens zu domestizieren.47 Es ist daher durchaus fraglich, ob die Dritte Republik ohne die Niederlage von 1940 von innen heraus zusammengebrochen wäre. 1939, nun schon im Schatten des Zweiten Weltkrieges, suchte die französische Kammermehrheit denn auch noch einmal, die Einheit Frankreichs mittels der republikanischen Tradition symbolisch zu festigen. Anlässlich der 150-Jahr-Feier der Französischen Revolution werde Frankreich, so wurde beschlossen, der ganzen Geschichte der Revolution gedenken: Clemenceaus Motiv – die Revolution als „Block“ – kam hier also deutlich zum Tragen. In den Kanon der Kommemoration gehörte demzufolge der 14. Juli 1789 ebenso wie das Föderationsfest, die Kanonade von Valmy ebenso wie die Ausrufung der Republik am 21.9.1792.48 Historisch-politische Diskussionen über die verschiedenen Revolutionsetappen vermied das Parlament damit und überließ sie der Geschichtswissenschaft. Freilich wurde die Feier selbst schon überschattet von den Fissuren der Uneinigkeit, die sich in den 1930er Jahren ebenso deutlich wie schmerzlich abgezeichnet hatten.49 Nach dem Zwischenspiel des État Français und der Delegitimierung des Vichy-Regimes erwies sich aber die Republik erneut als einzige einheitsverbürgende politische Form der französischen Gesellschaft. Trotz bis in die Gegenwart fortbestehender Widersprüche erscheint die Hinwendung zu ihr als irreversibel: Als nunmehr „institutionalisierte“ Welt ist die Republik in

46 Siehe die Polizeiberichte in A.N. F7 13305. 47 Der Begriff der „republikanischen Synthese“ nach: Stanley Hoffman, Paradoxes of the French Political Community, in: Ders. u.a., In Search of France. The Economy, Society, and Political System in the Twentieth Century, New York 1965, S. 1–117. 48 A.N. F60 475, Dossier Cent-cinquantenaire de la Révolution, Chambre des Députés, 16ème Législature, session 1939: Rapport fait au nom de la Commission de l’enseignement et des beaux arts chargée d’examiner le projet de loi […] du cent-cinquantième anniversaire de la Révolution française. 49 Vgl. Rosamonde Sanson, Les 14 juillet (1789–1975). Fête et conscience nationale, Paris 1976, S. 122 ff.

Nationale Einheit und republikanische Kultur in der französischen Dritten Republik 207

Frankreich eine gewissermaßen „objektive Wirklichkeit“ geworden.50 Einheit ist in Frankreich heute nur noch als republikanische Einheit denkbar.

50 Zur Konstruktion von „objektiver“ Wirklichkeit durch „Institutionalisierung“ siehe Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1980 (zuerst engl. 1966), S. 64 f.

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Nationalrepräsentation und Demokratisierung: Norwegen als europäischer „Musterfall“

Obwohl Tendenzen zur kulturellen Verselbstständigung gegenüber dem dänischen Gesamtstaat schon im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verstärkt zum Ausdruck kamen, kann von einer Unabhängigkeits- bzw. einer nationalen Verfassungsbewegung Norwegens vor 1814 kaum gesprochen werden. Die Loyalität der einheimischen Führungsschicht blieb dem dänischen Reformabsolutismus weitgehend erhalten, auch wenn die weiter gehenden politischen Ideen der Zeit über die Kopenhagener Universität auch nördlich des Skagerak Eingang fanden. Außerdem machte die Kriegssituation ab 1807, als Dänemark an der Seite Napoleons kämpfte, eigenständige Verwaltungseinrichtungen erforderlich. Angesichts der Kriegsniederlage musste Dänemark im Januar 1814 Norwegen nach langjähriger Zusammengehörigkeit an Schweden abtreten. Dies veranlasste den Statthalter, den dänischen Kronprinzen Christian Frederik, und die administrativ-gesellschaftliche Elite, mit dem „Grundgesetz“ (Grunnloven) die norwegische Unabhängigkeit zu proklamieren und, nicht zuletzt gegenüber den europäischen Mächten, zu legitimieren.1 Mit dieser Feststellung 1 Vgl. für die Entwicklung Norwegens seit dem 18. Jahrhundert unter Betonung der Verfassungsgeschichte (mit weiterer Literatur): Peter Brandt/Otfried Czaika, Norwegen, in: P. Brandt u.a. (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 1067–1099, und die Beiträge von P. Brandt zu Norwegen in den folgenden Bänden, zu denen jeweils eine Quellen-CDROM gehört (Bd. 2 im Druck). – Von den großen einschlägigen Gesamtdarstellungen seien hier erwähnt: Cappelens Norges historie, Hg. Knut Mykland, 15 Bde., Oslo 1976–80; Aschehougs Norges historie, Hg. Knut Helle u. a., 12. Bde., Oslo 1994–98; Det Norske Samlagets historie, 800–2000, 6 Bde., Oslo 1999; Jens Arup Seip, Utsikt over Norges historie, 2 Bde., Oslo 1974/81; ferner Rolf Danielsen u.a., Norway. A History from the Vikings to Our Own Times, Oslo 1995. – Für die Ereignisse von 1814 aus dem umfangreichen Schrifttum zusätzlich, knapp und prägnant: Ståle Dyrvik, Ǻret 1814, Oslo 2005; für die rechtsgeschichtliche und rechtstheoretische Perspektive Dag Michalsen (Hg.), Forfatnigsteori møter 1814, Oslo 2008; für die norwegische Parlaments- und Parlamentarisierungsgeschichte immer noch grundlegend Alf Kaartvedt u.a., Det Norske Storting gjennom 150 år, 4 Bde., Oslo 1964.

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ist eine für die moderne Geschichte Norwegens grundlegende Tatsache benannt: Freiheitliche Verfassung und staatliche Eigenständigkeit hängen nicht nur irgendwie zusammen, wie das für etliche Länder gilt, sondern sind in ihrer Entstehung identisch. Allein dieses Faktum erklärt bis zu einem gewissen Grad die Wirksamkeit der damit verbundenen Symbolhandlungen und Mythen bis heute, und zwar das gesamte politische Spektrum umfassend. Im Übergangsstadium von der napoleonischen zur „restaurativen“ Epoche entstanden, war das norwegische Grundgesetz von 1814 im Rahmen des monarchischen Konstitutionalismus zweifellos am progressiven Pol angesiedelt. Anders als die spanische Verfassung von Cádiz (1812) überdauerte es und ermöglichte sieben Jahrzehnte später den Übergang zur parlamentarischen Regierung. Ein indirektes, öffentliches, beschränktes und ungleiches, dennoch ungewöhnlich demokratisches Wahlrecht beteiligte von Anfang an mit den Bauern ein Drittel bis die Hälfte der erwachsenen männlichen Bevölkerung an den politischen Entscheidungen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert setzte sich erst für Männer, dann auch für Frauen das allgemeine und gleiche Stimmrecht durch. Auch in anderen Kernpunkten ging das norwegische Grundgesetz an die Grenze des nach 1814/15 seitens der etablierten Mächte Europas für tolerierbar Erachteten, namentlich bei der Gestaltung der Budget- und Gesetzgebungsbefugnisse des Parlaments sowie des königlichen Vetorechts (suspensiv statt absolut). Die Volksvertretung wurde zwar in zwei Abteilungen gegliedert. Das war jedoch eine rein prozedurale Trennung nach der Wahl; für ein Oberhaus fehlten die sozialen Voraussetzungen wie die politische Akzeptanz. Nach einem kurzen, aussichtslosen Abwehrkrieg musste Norwegen die schwedische Oberhoheit in Form einer Union mit gemeinsamem Staatsoberhaupt, von diesem ernannter, aber gesonderter Regierung und gemeinsamer Außenpolitik anerkennen. Seinen Vertretern gelang es in zähen Verhandlungen dennoch, das im Mai 1814 verabschiedete Grundgesetz im Wesentlichen in die neue Zeit hineinzuretten.2 2 Grundgesetz-Texte vom 17. Mai und vom 4. November 1814 (Letzterer auch in deutscher Übersetzung) in: P. Brandt u. a. (Hg.), Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, CD-ROM 2: 1815–1847, Bonn 2008, 14.2.2, 4, 5; dort weitere verfassungsrelevante Dokumente. – Illiberal, auch nach den Maßstäben der Zeit, blieb das Grundgesetz, flankiert von anderen gesetzlichen Bestimmungen, in religiösen Fragen: Geistliche Versammlungen ohne Pfarrer, untersagt durch das gegen die religiösen Laienbewegungen gerichtete Konventikelplakat von 1741, wurden erst nach 1842 gestattet, die öffentliche Ausübung anderer christlicher Konfessionen 1845; der § 2 Satz 4 der Verfassung, der Juden den Aufenthalt in Norwegen verbot, fiel nicht vor 1851. Bis 1912 galt die Vorschrift von § 2 Satz 2, demzufolge „Jesuiten und Mönchsorden“ nicht im Reich geduldet werden dürften.

Norwegen als europäischer „Musterfall“

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„Hør mig, Despot! Jeg være vil din Pestilents mens jeg er til. For Norges Lov i Dølens Haand skal briste dine Slavers Baand.“ („Hör zu, Despot! Deine Plage werde ich sein, solange ich existiere. Denn Norwegens Gesetz in des Bauern Hand wird zerbersten deiner Sklaven Band.“) Abgedruckt in: Henrik Wergeland, Samlede skrifter: trykt og utrykt. Avhandlinger, opplysningsskrifter 7: 1844–45, S. 235 (Normandens Katechisme).

Weil die Union im Kern eine Personalunion war, vermengte sich die Auseinandersetzung zwischen König und dem Parlament in Norwegen unvermeidbarerweise mit dem norwegisch-schwedischen Streit um den Grad der Autonomie des schwächeren Partners in der Union. Die in diesem Sinne nationale Dimension des Verfassungskampfs trug nachweislich zur Radikalisierung der

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norwegischen Akteure bei: zuerst im Frühjahr 1814 während der verfassunggebenden Versammlung, wo es galt, möglichst große Bevölkerungsgruppen in das Projekt zu integrieren; dann im Vorfeld und während des „Außerordentlichen Stortings“ im Herbst 1814, als man bestrebt war, die Kompetenzen des Königs, der nun der von Schweden war, weiter einzuschränken als im 17. MaiGrundgesetz. In der Folgezeit ging es um die Abwehr königlicher Vorstöße zur konservativen Verfassungsrevision. Obwohl im nationalen Selbstverständnis der Norweger ein politischer, konkret auf die Verfassungsordnung bezogener Nationsbegriff stets dominierte, war schon für die Verfassungsväter von 1814 die Vorstellung leitend: Mit ihrem Werk, in dem sie die zeitgenössischen Fortschrittsprinzipien auf Norwegen anwandten, würden zugleich frühere glückliche Zustände bewahrt bzw. wieder hergestellt.

1. Bäuerliche und bürgerliche Ursprünge demokratischer Sozialkultur Kontinuität verkörperte nicht die Monarchie, sondern die spezifische Entwicklung des freien Erbbauerntums, das Odelsrecht3. So nannte man die größere Abteilung des Parlaments, das als Ganzes den Namen „Storting“ (Großes Ting) erhielt, „Odelsting“, die kleinere Abteilung „Lagting“ (Gesetzesting). Der Ausdruck „Ting“ verwies auf die Gerichts- und Selbstregierungs-Einrichtungen seit der Frühzeit. Der norwegische Nationaldichter Henrik Wergeland (1808–1845), ein entschiedener Demokrat, gehörte zu den Ersten, die den Freiheitskampf als Grundelement der norwegischen Geschichte entdeckten und die Aufklärungs- und Emanzipationsgedanken auf die norwegische Vorzeit zurück projizierten.4 Die Ideen der Aufklärung wurden also fast untrennbar mit Vorstellungen von der Besonderheit (und dem besonderen Wert) der norwegischen Nationalität verbunden, und dabei spielten die Geschichte und die Folkloristik eine ganz zentrale Rolle. Man kann von einer pragmatischen, 3

Das mittelalterliche Odelsrecht, das in die Verfassung übernommen und 1821 außerdem gesetzlich neu befestigt wurde, ist das Recht einer Familie, innerhalb einer bestimmten Frist eine Liegenschaft auf dem Lande gegen volle Entschädigung einzulösen, und diente somit dazu, die Höfe im Eigentum bestimmter Bauernfamilien zu halten. Vgl. Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, CD-ROM  2, 14.12.1. 4 Henrik Wergeland, Norges Constitutions Historie [1841–43], Oslo 1958; Odd Arvid Storsveen, En bedre vår. Henrik Wergeland og norsk nasjonalitet, 2 Bde., Oslo 2004; Sigurd Aarnes, „Og nevner vi Henrik Wergelands navn“. Wergeland-kultusen som nasjonsbyggende faktor, Oslo 1991.

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kaum utopisch aufgeladenen Variante eines aufgeklärten und zugleich ethnisch-kulturell konnotierten Nationalgedankens sprechen.5 Die über Jahrhunderte kulturell, auch sprachlich durch den dänischen Gesamtstaat geprägte Elite schärfte in dem von ihr vorangetriebenen zeittypischen Prozess innerer Nationsbildung auch ihr eigenes, „norwegisch-nationales“ Profil und Rollenverständnis. Dabei ging es, vereinfacht gesagt, politisch um die Behauptung gegenüber Schweden, kulturell um die Emanzipation von Dänemark. Die Repräsentanten der Nationalromantik, deren Durchbruch in den 1840er Jahren verortet wird, transportierten ein antielitäres, tendenziell popular-demokratisches Nationsverständnis. In besonderem Maß gilt das für den autodidakten Sprachwissenschaftler Ivar Aasen (1813–1896), der die seit 1814 Norwegisch genannte Schriftsprache, faktisch ein allenfalls modifiziertes Dänisch, durch eine originärere (neu-)norwegische Sprache ersetzen wollte, die er aus dem Altnorwegischen und den Dialekten der Fjord- und Gebirgsregionen entwickelte. Das Projekt beförderte zugleich die Verselbstständigung des (ursprünglich dänischen) „Riksmål“. Aasens „Landsmål“ konnte sich in Ost- und Nordnorwegen aber nie durchsetzen, namentlich auch nicht in der Arbeiterbevölkerung, und blieb, obwohl seit 1885 amtlich anerkannt, ein teils ideologisches, teils regionales Phänomen.6 Die überwiegende Masse der Bevölkerung lebte noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Lande und betrieb Landwirtschaft. Die Gruppe der Bauern – in Norwegen nie leibeigen –, in sich stark differenziert, auch regional, und überwiegend noch Subsistenzwirtschaft betreibend, bildete nicht nur in der Vorstellung der liberal-nationalen Intelligenz Norwegens seit 1814 die tragende Schicht der norwegischen Nation, sondern sah sich in ihrem politisch aktiven Segment zunehmend auch selbst so. Im Parlament waren die Bauern, vor allem seit den frühen 1830er Jahren, ungewöhnlich stark vertreten. Erst deutlich später konstituierte sich so etwas wie eine bäuerliche Partei. Die Einführung kommunaler Selbstverwaltung auch auf dem Lande 1837 erwies sich als eine effektive politische Schule und steigerte das Vertrauen der Bauern 5

Øystein Sørensen, Kampen om Norges sjel, Oslo 2001; ders. (Hg.), Jakten på det norske. Perspektiver på utviklingen av en norsk nasjonal identitet på 1800-tallet, Oslo 1998; Jan-Erik Ebbestad Hansen (Hg.), Norsk tro og tanke, 2 Bde., Oslo 1998; Ingrid Semmingsen u.a. (Hg.), Norges kulturhistorie, insb. Bd. 4: Det gjenfødte Norge, Oslo 1980. 6 Oddmund Løkensgard Hoel, Nasjonalisme i norsk målstrid 1848–1865, Oslo 1996; Ole Dalhaug, Mål og meninger. Målreisning og nasjonsdannelse 1877–1887, Oslo 1995; Sørensen, Jakten (mehrere Beiträge). – Zur Nationalromantik allgemein vgl. ferner Oscar Falnes, National Romanticism in Norway, New York 1933; Sørensen, Kampen, S. 161–226.

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in die eigenen Fähigkeiten.7 Die herrschende Schicht Norwegens stellte wie schon im 18. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die höhere Beamtenschaft. Einen Adel gab es (anders als in Dänemark und Schweden) schon in der Frühen Neuzeit kaum noch; ebenso wenig existierte ein nicht-adeliger Großgrundbesitz von Bedeutung. Die formelle Abschaffung der übrig gebliebenen Adelstitel und -privilegien durch Verfassung und Ausführungsgesetz war deshalb weniger strittig als das Verbot der Einrichtung eines neuen Verdienstadels, etwa nach napoleonischem Muster. Die einst mächtige Handelsoligarchie ging in der wirtschaftlichen Depression nach 1815 überwiegend bankrott, und nur langsam entstand im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ein neues modernes Wirtschaftsbürgertum. Aus der Beamtenschaft, häufig dänischer oder norddeutscher Herkunft, rekrutierte sich somit auch die politische Elite, einschließlich der größten Gruppe unter den Abgeordneten des Parlaments. Beharrlich verteidigte sie die Verfassung mit ihrer Kompetenzverteilung und setzte einen regelrechten Kult des Grundgesetzes in Gang. Charakteristisch für den norwegischen Liberalismus war die deutliche Relativierung des ökonomischen Laissez faire. Das gilt für die Jahrzehnte um 1900, als die staatliche Sozialpolitik einen hohen Stellenwert erhielt und Konzessionsgesetze den Spielraum des ausländischen Kapitals einschränken sollten, trifft aber auch schon auf das mittlere 19. Jahrhundert zu. Was die Protagonisten der liberalen Beamtenelite postulierten, war ein durch Gemeinwohlorientierung geläuterter Wirtschaftsliberalismus. Staatliche Intervention war ein wesentliches Charakteristikum dieser Politik: als Unterstützung bei der Entfaltung der Marktkräfte in einer erneuerten, durchaus kapitalistischen Gesellschaftsordnung, doch zugleich als ihr bleibendes Merkmal.8 Um 1830 war innerhalb der Beamtenschaft eine neue Generation auf den Plan getreten. Die wichtigste, aus teilweise unterschiedlichen Geistesströmungen gespeiste Fraktion wurde „Intelligenzkreis“ genannt, seit den mittleren 1840er Jahren hatte dieser die politische und politisch-kulturelle Hegemonie im Lande inne. In modifizierter, „gereinigter“ Version eigneten sich die Ideen der Nationalromantik und die Produkte der neuen, volkskundlichen Wissenschaften auch für das pädagogische Nationsbildungskonzept der Intelligenzler, die der unkritischen Verherrlichung der Frühzeit und des Bauerntums 7 Brunjulv Gredåker, Norges landbruskshistorie III: 1814–1920. Kontinuitet og modernitet, Oslo 2002; Halvdan Koht, Norsk Bondereising. Fyreboing til Bondepolitiken, Oslo 1926; Edvard Bull, Sozialgeschichte der norwegischen Demokratie, Stuttgart 1969; Sverre Steen, Lokalt selvstyre i Norges bygder. Første fase, Oslo 1968; ders., Amt og stat 1837–1860, Oslo 1973. 8 Nils Rune Slagstad, De nasjonale strateger, Oslo 2001, Kap. 1, insb. S 68.

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eigentlich distanziert gegenüber standen. Die Angehörigen des Intelligenzkreises waren dem politischen Liberalismus verpflichtet und in ihrem Denken überwiegend utilitaristisch und empirisch-sozialwissenschaftlich orientiert. Sie befürworteten eine aktivere Rolle der Regierung im gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozess und das enge Zusammenwirken von Regierung und Parlament.9

2.  Parlamentarisierung und Nationsbildung Nachdem sich das Verhältnis zum größeren Unionspartner Schweden mit dem Abebben des Streits um die Ausgestaltung und korrekte Anwendung des Grundgesetzes seit den späten 1830er Jahren entspannt hatte, setzte in den 1860er Jahren eine neue Welle des Verfassungskampfes ein. Diese führte – über mehrere Stufen – 1884 zum Sturz des tradierten Beamtenregimes. Der Wechsel zum Parlamentarismus erfolgte aufgrund eines Urteils des Reichsgerichts, einer Art Verfassungsgerichts, dessen Zusammensetzung mehrheitlich vom Storting bestimmt wurde. Die Gegner der parlamentarischen Regierungsform erkannten die Gültigkeit dieser Weichenstellung schnell an. Jene breit zusammengesetzte, auch Teile der Arbeiterschaft einschließende Koalition, die sich dann großenteils in der Partei „Venstre“ (Linke) organisierte, fand sich auf einer gemeinsamen ideologischen Grundlage, die sich als ein demokratisches Nationsbildungsprojekt bezeichnen lässt. Die herausragenden intellektuellen Leitfiguren waren der Historiker Ernst Sars (1835–1917) und der Dichter Bjørnstjerne Bjørnson (1832–1910). Die alternative, oppositionelle Elite, die sich in der Periode zuvor im Bündnis mit den Vertretern der Bauernschaft unter der Führung von Johan Sverdrup (1816–1892) herausgebildet hatte, eroberte Anfang der 1880er Jahre mit der politischen Macht auch die kulturelle Hegemonie. In Konfrontation mit der alten, konservativ gewordenen Beamtenschicht, die jahrzehntelang die erst nach und nach entstehende kapitalistische Bourgeoisie substituiert hatte, trat Venstre für eine breite politische und kulturelle Demokratisierung der norwegischen Gesellschaft ein.10 9 Slagstad, De nasjonale strateger; Seip, Utsikt, Bd. 1, S. 98–109; Sørensen, Kampen, S.  93–140; ders., Anton Martin Schweigaards politiske tenkning, Oslo 1998; AnneLise Seip, Nation-building within the Union. Politics, Class and Culture in the Norwegian Nation-State in the Ninetenth Century, in: Scandinavian Journal of History 20 (1995), S. 35–50. 10 Ottar Grepstad/Jostein Nerbøvik (Hg.), Venstres hundre år, Oslo 1984; Leir Mjeldheimer, Folkerørsla som vart parti. Venstre frå 1880–åra til 1905, Bergen 1985; Slagstad,

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Getragen von einem weit verzweigten und immer dichter geknüpften Netz von Vereinen und Zeitungen, nicht zuletzt un- bzw. vorpolitischen Volksbewegungen religiösen bzw. kulturnationalen Charakters, bestand die alternative Elite nicht allein aus hauptstädtisch-intellektuellen Milieus. Darüber hinaus war sie auch in einer Vielzahl politischer Aktivisten auf regionaler und lokaler Ebene vertreten, oft Volksschullehrern und Bauern. Die Träger des Venstre-Projekts sahen sich als direkte Erben der Verfassungsväter von 1814. Wie bei diesen dominierten in ihren Vorstellungen vom Nationalen die politischen Institutionen, nur dass jetzt die demokratischen Elemente des Grundgesetzes, die im Storting verkörperte Volkssouveränität, betont, die Gewaltenteilung und damit der Einfluss des Königs (der schwedisch von Geburt, Kultur und Lebensstil war) heruntergespielt wurde. Die parallel zur Venstre unter dem Namen „Høyre“ (Rechte) entstehende konservative Partei beruhte auf dem Zusammenschluss zweier elitärer Gruppen: der höheren Beamtenschaft und des großen Wirtschaftsbürgertums. Zur Mitglieder- und Wählerbasis der Konservativen gehörten jedoch in beträchtlicher Zahl auch kleine Gewerbetreibende sowie gut situierte Landwirte. Programmatisch kann die Høyre auf die Formel gebracht werden: Wirtschaftsliberalismus und starke Regierung. Im Abwehrkampf gegen die liberal-nationale Demokratisierungswelle des späten 19. Jahrhunderts entstanden, blieb bestimmend der Wunsch, die Macht der Parteien und des Parlaments einzuschränken und die Besitzenden („die Minderheit“) gegen die Gefahr der Vergewaltigung durch die Mehrheit zu verteidigen.11 1905 war der Endpunkt des Nationsbildungsprozesses innerhalb der Union erreicht, als das Storting in einem revolutionären Akt den König für abgesetzt erklärte. Auch die Außen- und die Verteidigungspolitik wurden nun unter die nationale Souveränität Norwegens gestellt. Unter der Demokratisierungsperspektive noch wichtiger war die Massenmobilisierung anlässlich der Volksabstimmung über die Unionsauflösung am 13. August 1905. Während die Union lange Gegenstand erbitterten innenpolitischen Streits gewesen war, manifestierte sich jetzt eine bemerkenswert breite nationale Einigkeit, als – bei einer Beteiligung von über 85 Prozent – weniger als ein halbes Promille der norwegischen Männer gegen die Unabhängigkeit stimmte. Und zudem schloss sich weit über die Hälfte aller Frauen, welche noch nicht abstimmungsberechtigt De najonale stateger, Kap. 2; Sørensen, Kampen, S. 265–342; Ronald Bahlburg, Die norwegischen Parteien von ihren Anfängen bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, Frankfurt a. M. 1989. 11 Vgl. neben Bahlburg, Die norwegischen Parteien, das Standardwerk von Alf Kaartvedt, Drømmen om borgerlig samling (1884–1918), Oslo 1984.

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waren, in einer Unterschriftenkampagne dem Votum an.12 Vorausgegangen war die politische Sammlung der gemäßigten Liberalen und der Konservativen gegen die aufkommende Arbeiterbewegung wie auch gegen den linken, vermeintlich sozial- und nationalradikalen Flügel der Venstre-Partei. Diese Umgruppierung der politischen Szenerie schlug sich in dem zweiten Plebiszit nieder, in dem die Norweger mehrheitlich für die Beibehaltung der Monarchie stimmten. Ohne einheimischen Adel, ohne jede höfische Tradition, installiert aufgrund einer freien Entscheidung von Volk und Parlament, das einen dänischen Prinzen zum Erbkönig wählte, musste sich das Könighaus in die betonte Einfachheit der norwegischen Verfassungskultur einfügen. Mehr noch als in anderen parlamentarischen Monarchien wurde in Norwegen nach 1905 ein rein repräsentatives Bürger-, oder richtiger: Volkskönigtum eingerichtet, in dem der Herrscher nur noch als nationales Symbol fungierte. Zu Recht hat man von Norwegen im 20. Jahrhundert als von einer „verkleideten Republik“13 gesprochen. Für die verzögerte Hinnahme der Monarchie auch durch die bürgerlichen Radikalen und die Arbeiterbewegung war wegweisend die Entscheidung Håkons VII. im Frühjahr 1940, die Kooperation mit den deutschen Invasoren zu verweigern und stattdessen zusammen mit der Regierung nach England über zu setzen.

3.  Soziale Konflikte und Erweiterung der Arbeiter- zur Volkspartei Obwohl die innen- und gesellschaftspolitischen Konflikte des 19. und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts in ihrem Inhalt epochentypisch waren, blieben Norwegen gewaltsame Auseinandersetzungen größeren Ausmaßes erspart. Die tief greifende Radikalisierung, die die Arbeiterbewegung dort während des Ersten Weltkriegs erfasste, ist sozialgeschichtlich mit der Zusammenballung großer un- und angelernter Arbeitermassen in den – um 1900 hauptsächlich im Zuge der Nutzung der reichlich vorhandenen Wasserkraft neu entstehenden – Großindustrien erklärbar. Damit entfernte sie sich für ein bis zwei Jahrzehnte vom sozialdemokratischen Reformismus des dänischen wie des schwedischen Typs. Die mit wachsenden Mitgliederzahlen einher gehende Linkswendung der Arbeiterpartei (und der mit ihr verbundenen Ge12 Absolute Zahlen etwa bei A.-L. Seip, Nation-building, S. 49. 13 Trond Nordby, Norges grunnlov, fra styringsredskap til symbol – og noen tanker om å gjenreise redskaps-funksjonen, in: Eivind Smith (Hg.), Grundlagens makt. Konstitutionen som politisk redskap och som rättslig norm, Stockholm 2002, S. 210.

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werkschaften) führte diese sogar für einige Jahre in die 1919 neu gegründete Kommunistische Internationale. Die Militanz der Norwegischen Arbeiterpartei widerspiegelte die Schärfe der sozialen Gegensätze und die Diskrepanz früh und umfassend errungener politischer Rechte zu den Herrschaftsverhältnissen im Erwerbsleben. Die in Norwegen besonders hohe Streikfrequenz hing außerdem zweifellos mit der radikal klassenkämpferischen Ausrichtung der linken Parteien und Gewerkschaften zusammen.14 Letztere drangen auf die Wiedervereinigung der zeitweise drei sozialistischen Parteien. Sie kam 1927 zwischen Arbeiterpartei und (minoritären) Sozialdemokraten sowie einem Teil der Kommunisten zustande und wurde von einem großen Wahlerfolg gekrönt. Doch führte erst die doppelte Herausforderung der Weltwirtschaftskrise und der NS-Machtübernahme in Deutschland zur Umgruppierung der innenpolitischen Faktoren in Norwegen (wie vorher schon in Dänemark und Schweden) und zum Strategiewechsel der Arbeiterpartei.15 Nach der Regierungsübernahme im März 1935, gestützt auf das historische Bündnis mit der Bauernpartei, ging es um Agrarprotektionismus einerseits, öffentliche Beschäftigungsprogramme auf der Grundlage marktgemäßer Entlohnung andererseits. Dazu kamen dann eine erweiterte Sozialgesetzgebung und die verstärkte staatliche Intervention in den Wirtschaftsablauf. Die neue Wirtschaftspolitik wies dem Staat einen zentralen Platz bei der Stimulierung und Regulierung der Produktion zu, ohne die Eigentumsverhältnisse im Industrie- und Finanzwesen anzutasten. Das konnte als eine unideologische, rein pragmatische Antwort auf die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise verstanden werden, wurde von berufenen Sprechern der Arbeiterpartei indessen durchaus als eine Reformulierung, nicht eine Aufgabe der sozialistischen Programmatik gedeutet. Das Zentralabkommen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen, 14 Edvard Bull, Arbeiderklassen blir til (1850–1914), Oslo 1985; Per Maurseth, Gjennom kriser til makt (1920–1935), Oslo 1987; Einhard Lorenz, Norwegische Arbeiterbewegung und Kommunistische Internationale 1919–1930, Oslo 1978; William M. Lafferty, Industrialization, Community Structure and Socialism. An Ecological Analysis of Norway, 1875–1924, Oslo 1974. 15 Für das Folgende vgl. Peter Brandt, Vom endgültigen Durchbruch der parlamentarischen Demokratie bis zu den Anfängen des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats – Nordeuropa in der Zwischenkriegszeit, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008, S. 155–228, insb. S. 216 ff.; Sven A. Nilsson u.a. (Hg.), Kriser og krispolitik i Norden under mellankrigstiden. Nordiske historikermötet, Uppsala 1974; Hans Fredrik Dahl, Fra klassekamp til nasjonal samling. Arbeiderpartiet og det nasjonale spørsmål i 30-årene, Oslo 1969; Tom Pryser, Klassen og nasjonen (1935–1946), Oslo 1988.

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in Norwegen noch von der liberalen Vorgängerregierung vorbereitet, bildete dann gewissermaßen das Pendant zu dem Krisenausgleich der Arbeiter- und der Bauernpartei. Zusammen mit der simplen Tatsache, dass die „Vertrauensmänner des werktätigen Volkes“ jetzt an der Regierung saßen, wurde so eine der streik- und aussperrungsgeneigtesten Regionen der Welt zu einer Region mit vorwiegendem Wirtschaftsfrieden. Die wirtschaftlichen Effekte der norwegischen Krisenpolitik sind kaum zu quantifizieren, weil die Region am internationalen Konjunkturaufschwung teilnahm. Und das meiste von dem, was die Arbeiterregierung wirtschafts- und sozialpolitisch in Gang bzw. umsetzte, hatte Vorläufer in den 20er Jahren, teilweise davor, oder fußte auf Planungen und Entwürfen der Vorgängerregierungen, detaillierten Vorarbeiten von Parlaments- und anderen Kommissionen. Unbestreitbar ist die Leistung des Übergangs zu einer neuen handlungsfähigen politischen Konstellation und eines psychologischen Umschwungs. Für alle nordeuropäischen Länder, insbesondere für Norwegen, bedeutete das Zustandekommen der Arbeiter-Bauern-Bündnisse zudem eine Befestigung der parlamentarischen Regierungsweise und damit der Verfassungsordnung. Die Zeit des Minderheitsparlamentarismus war vorbei. Dabei kam den Regierenden zugute, dass sich das gesellschaftliche Klima – im Unterschied zu den 20er Jahren – in Richtung des Bedürfnisses nach Konsens veränderte. Man kann den politischen Ansatz der Norwegischen Arbeiterpartei nach 1935 (und dann noch deutlicher nach 1945) insofern als ein Projekt der Integration der (sozial gesehen) unteren zwei Drittel der städtischen und ländlichen Bevölkerung Norwegens in die nationale Demokratie deuten. Die Umwidmung des norwegischen Verfassungsstaates in eine soziale Demokratie mit korporativen Zügen durch die Arbeiterpartei wurde – wie in Schweden – dementsprechend flankiert von einer Erweiterung der politischen Sprache und Symbolik, in denen jetzt nationalpatriotische Elemente einen wesentlich höheren Stellenwert erhielten. Die Krisenpolitik fand ihren ideologischen Ausdruck in der Ergänzung und tendenziellen Ersetzung des Klassenbegriffs durch den Begriff des „Volkes“. Dieser Volksbegriff war nicht nur vordergründig und bündnispolitisch relevant. Er war darüber hinaus geeignet, eine semantische Brücke zu gedanklichen Ansätzen anderer Herkunft zu schlagen, nicht nur zum popularen Flügel des Liberalismus und den vorpolitischen Volksbewegungen, sondern auch zu den agrarromantisch-kulturnationalen Strömungen, die parteipolitisch unterschiedlich konnotiert sein konnten. Zur Wahl 1933, parallel zum Übergang von einer auf revolutionären Umsturz des Gesellschaftssystems zu einer auf antikapitalistische Strukturreformen zielenden Programmatik, wurde das „Volk“ von der norwegischen Arbeiterpartei semantisch regelrecht strapaziert. „Das ganze Volk in Arbeit!“,

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„Verteidigung der Volksherrschaft!“ sowie „Stadt und Land – Hand in Hand!“ lauteten die durchschlagenden Parolen. Und „Norwegen dem Volk!“ fand kurz danach seine identischen Entsprechungen bei den Schwesterparteien Dänemarks und Schwedens. Als Protagonist zunächst einer Minderheit war der Historiker Halvdan Koht (1873–1965), der spätere Außenminister, schon seit seinem Übertritt von der Venstre zur Arbeiterpartei 1911 für eine stärkere nationale Akzentuierung der Parteiideologie eingetreten. Koht war ein Schüler von Ernst Sars, dessen Verständnis der norwegischen Geschichte er in mancher Hinsicht verpflichtet blieb. Er sah die Mission der Arbeiterbewegung darin, durch die soziale Befreiung und die Aufhebung der Klassenherrschaft die Voraussetzungen zu schaffen für ein erneuertes nationales Projekt mit egalitärer und inklusiver Zielrichtung. Als kulturpolitischer Experte seiner Partei strebte er eine vereinheitlichende Lösung des Sprachenproblems an, indem aus Riksmål, Landsmål und den dort lange nicht berücksichtigten ostnorwegischen Dialekten eine gemeinsame, volksnahe norwegische Sprache komponiert werden sollte. Weder der elitäre bürgerliche Kulturnationalismus, wie ihn der Kreis um Fridtjof Nansen vertrat, noch der antiurbane und antizentralistische Agrarnationalismus, mit dem jener konkurrierte, hatten das handfeste Problem der sich tendenziell vertiefenden Sprachenspaltung einer Lösung näher bringen können. Die Zusammenführung der kulturellen und politisch-emanzipatorischen Traditionen der Bauern und der Arbeiter – bei Anerkennung alles von den herrschenden Klassen und der Hochkultur bereit gestellten Wertvollen – war einer der Leitgedanken Kohts.16

4.  Repräsentationssymbolik zwischen Einheit und Deutungskämpfen Für eine nach zeitgenössischem Maßstab beachtenswerte Repräsentationskultur fehlten Norwegen nach 1814 noch lange die materiellen Voraussetzungen. Wenn die Hauptstadt auch explosionsartig wuchs, war es doch ein Wachstum, das von einem sehr niedrigen Niveau anhob (1814: 13.000 Einwohner). Die ersten Statthalter und ihre schwedischen Mitarbeiter fühlten sich in Christiania (ab 1924 Oslo) sozial und kulturell wie im Exil. Anfang der 1840er Jahre begann man, ein neues Universitätsgebäude zu bauen, nachdem die Börse 1828, 16 Halvdan Koht, Fra Skanse til skanse, Oslo 1947; Bodil Stenseth, En norsk elite. Nasjonsbyggerne på Lysaker 1890–1940, Oslo 1993, insb. S. 161 ff.; Sørensen, Kampen, S. 343–408.

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die Norwegische Bank 1830, das Nationalmuseum 1836 und das Reichshospital 1842 fertig geworden waren. Dazu kam dann eine Reihe weiterer – neuer oder umgestalteter – privater und öffentlicher Hauptstadtgebäude wie Theater, administrative und militärische Einrichtungen. Das Storting tagte bis 1854 in der alten, um die Jahrhundertwende umgebauten Kathedralschule, während sich die neuen Regierungsstellen ihre Büros suchten, wo immer sie in der Stadt gefunden werden konnten. Im Plenarsaal saßen (und sitzen bis heute) die Abgeordneten auf Bänken in alphabetischer Reihenfolge der Städte bzw. Ämter, in denen sie gewählt worden waren.17 Paradoxerweise förderte besonders das städtebauliche Engagement König Carl Johans (1818–1844) den Ausbau Christianias und damit dessen Prestige als nationales Zentrum. Gerade in seiner Auseinandersetzung mit dem Storting musste dem Herrscher daran liegen, die Symbolfunktionen des formell eigenständigen norwegischen Königtums zu stärken. Dies geschah in offenbar bewusster Absetzung von Stockholm, wo französische Vorbilder dominierten, durch Verstärkung der traditionellen Besonderheiten Christianias in der künstlerischen Orientierung. Nachdem mangels Alternativen eine (bald neu möblierte) relativ geräumige, einstöckige und karreeförmige Stadtvilla („Paleet“) zur provisorischen königlichen Unterkunft gemacht worden war – während der Abwesenheit des Königs, also meistens, residierte dort der königliche Statthalter –, startete 1825 der Schlossbau, der indessen nicht vor 1848 zu Ende kam. Der Architekt H.D.F. Linstow holte seine Anregungen aus Kopenhagen (Hansen), München (Klentze) und Berlin (Schinkel); das galt ähnlich auch beim Neubau der Universität. Nur gegen den hinhaltenden Widerstand der auf Sparsamkeit des Staates bedachten bäuerlichen Parlamentsabgeordneten konnten die großen Bauvorhaben realisiert werden. Norwegen kannte keine etablierten Staats- bzw. Nationalsymbole, die in die im Grundgesetz geregelte Verfassungsordnung übernommen werden konnten. Das alte und erneut in Gebrauch genommene Löwenwappen der norwegischen Könige des Mittelalters eignete sich kaum für die angemessene Gestaltung einer Fahne, zumal die nationalen Farben und ihre spezifische Kombination mehrere Jahre im Unklaren blieben, in denen eine provisorische Lösung zum Tragen kam. Die eigene Handelsflagge – das Recht darauf war in der Verfassung vom 4. November 1814 garantiert – war zunächst eng an das dänische Danebrog angelehnt. Als Unionsfahne (Staats- und Militär17 Vgl., auch für das Folgende: Kungliga slottet (Hg.), Karl XIV. Johan – en europeisk karriär, Stockholm 1998, insb. S. 244–246; Geir Thomas Risåsen, Kongelige milijøer i Christiania, in: Livrustkammaren (Hg.), Broderfolkenes vel – Brödrafolkens väl. Unionen 1814–1905, Stockholm 2005, S. 55–66.

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fahne) fungierte die dreizungige schwedische Orlogsflagge mit norwegischer Gösch. Diese als unbefriedigend angesehene Situation motivierte eine von Stavanger ausgehende bürgerschaftliche Initiative, die sich in der Stortingssession 1821 in einer diverse Entwürfe einbeziehenden Debatte niederschlug und schließlich zu der Entscheidung für die schnell populäre und bis heute gültige dreifarbige Fahne (weiß umrandetes blaues Kreuz auf rotem Grund) führte. Die rote Grundfarbe, faktisch übernommen von Dänemark, wenn auch teilweise als alte nationale Überlieferung gedeutet, knüpfte an die erste, im Februar 1814 unter Christian Frederik eingeführte Fahne an, mit den Konnotationen: Gesamtstaatstradition, Unabhängigkeit und 17. Mai/Grundgesetz. Sie stellte über das Blau aber auch eine Brücke zu Schweden, der Union und dem gemeinsamen Oberhaupt her; weiß war angeblich der Schild der mittelalterlichen norwegischen Könige gewesen. Die Kreuzform hob auf das christliche Selbstverständnis des neuen Staates ab und markierte zugleich eine symbolische Gemeinsamkeit der drei nordischen Reiche. Daneben nahmen Befürworter und Propagandisten der neuen Fahne, was die Farbkombination betraf, wiederholt auf die französische Trikolore sowie auf identische Farben der USA und der Niederlande Bezug.18 Eine formelle Gleichstellung der norwegischen und der schwedischen Fahne (Handels- wie Orlogsflagge) erfolgte 1844 mit der Thronbesteigung Oscars I. Sie wurde jetzt jeweils mit einer identischen Unions-Gösch versehen. Ebenso wurde das Unionswappen gleichrangig gestaltet. Schließlich stiftete Oscar 1847, schon länger gefordert, einen eigenen norwegischen Orden, den Königlichen Sankt-Olavs-Orden als dreistufigen Verdienstorden. Ferner stimmte er dem Verlangen zu, sich in Norwegen „König von Norwegen und Schweden“ (statt, wie bisher, auch dort „König von Schweden und Norwegen“) zu nennen. Die Herstellung der Gleichheit zwischen den beiden Unionsgliedern auf symbolischer Ebene war Teil eines politischen Neuansatzes, der den nordischen Staatenverbund vertiefen und dabei das Übergewicht Schwedens weitgehend eliminieren sollte. Der Reformvorschlag eines noch von Carl Johan ernannten zweiseitigen Komitees scheiterte letztlich jedoch an internen Widerständen auf beiden Seiten. Das symbolpolitische Entgegenkommen Oscars I., das in Norwegen zunächst sehr positiv aufgenommen worden war, genügte dort den entschiedenen Nationalpatrioten und Demokraten schon bald nicht mehr.

18 Ole Christian Grimnes, Flagg og våpen, in: Livrustkammaren, Broderfolkenes vel, S. 23–32; Bo Stråth, Union och demokrati. De förenade rikena Sverige-Norge 1814– 1905, Nora 2005, S. 129–135 (auch für das Folgende).

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Die Durchsetzung der 1821 vom Parlament beschlossenen Handelsflagge als Nationalfahne ist eng verbunden mit der Etablierung des 17. Mai – des Tages der Annahme des Grundgesetzes in seiner ersten Version und für die Norweger seitdem eigentlichen Verfassungstages – als Nationalfeiertag. Andere, von Carl Johan bevorzugte Daten, der 20. Oktober – Tag der Entscheidung des „Außerordentlichen Stortings“ über die Union – und namentlich der 4. November – Tag der Annahme der revidierten Verfassung – wurden, ebenso wie der Königsgeburtstag, allenfalls pflichtgemäß im offiziellen Rahmen begangen, gerieten in Konkurrenz mit dem 17. Mai aber bald an den Rand. Die Feier des 17. Mai begleitete die Auseinandersetzung zwischen König und Storting und war selbst ein Teil davon, weil Carl Johan sich durch die in den 1820er Jahren aus eher privaten, kleineren Festveranstaltungen der gehobenen Schichten in die Öffentlichkeit tretenden und größere Kreise erfassenden Feiern nicht ohne Grund provoziert fühlte.19 1824, als das Storting exakt zum zehnten Jahrestag der 17. Mai-Verfassung die königlichen GrundgesetzÄnderungsvorschläge zurückwies, wurde der 17. Mai in der Hauptstadt von Studenten und Bürgern erstmals demonstrativ begangen. Nachdem 1827 auch die Stortingsabgeordneten in den Räumen des Parlaments den 17. Mai gefeiert hatten und am 4. November dieses Jahres Studenten ein unionsfreundliches Theaterstück ausgepfiffen hatten, musste im Folgejahr aufgrund eines regelrechten königlichen Verbots und der Zusammenziehung von Truppen in Christiania darauf verzichtet werden. Als es am 17. Mai 1829 zum Einsatz berittenen Militärs gegen eine größere Menge von Demonstranten kam, proklamierte das Storting das Recht des norwegischen Volkes, den 17. Mai zu feiern. 1833 nahm sich das Parlament das Recht, eine eigene offizielle Feier zu veranstalten; unter Beteiligung zahlreicher Parlamentsabgeordneter wurde am selben Tag das Denkmal für Christian Krohg enthüllt, eine der zentralen Figuren im Verfassungsstreit des Stortings mit Carl Johan; Krohg wurde mit dem Denkmal als dem „Bergungsmann des Grundgesetzes“ von 1824 gehuldigt. Es war das erste Denkmal, das vom eigenständigen Norwegen errichtet wurde. Etwa gleichzeitig nahmen private Bemühungen Gestalt an, den Tagungsort der verfassunggebenden Versamm19 Vgl. für das Folgende ausführlicher Peter Brandt, Verfassungstag und nationale Identitätsbildung. Die Feier des 17. Mai in der norwegischen Geschichte, in: Ders. u.a. (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005, S. 212–243; Sigurd Aa Aarnes, Oppfinnelsen av 17. mai, in: Nytt norsk tidsskrift 11 (1994), S. 10–23; Hildegunn Bjørgen, 17. maifeiring som politisk redskap. En studie av nasjonaldagsfeiringen i Kristiania 1879–1905, Oslo 1995.

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lung vom Frühjahr 1814, eine größere Villa in Eidsvoll, nördlich der Hauptstadt, als authentisches Nationalmuseum im Stiftungsmodell zu erhalten; 1837 erfolgte die Eröffnung. Im Vorjahr hatte das Storting den 17. Mai quasi als Nationalfeiertag eingeführt. In den 1840er Jahren erhielt dieser Tag sein für Jahrzehnte charakteristisches Gepräge, indem ein streng ritualisierter, sämtliche Bevölkerungsgruppen einbeziehender Umzug in den Mittelpunkt des Geschehens rückte, nach Christiania auch in anderen Städten und Ortschaften. Der große Umzug, angeführt von Fahnenträgern, die auf der Grundlage der Verfassung geeinte Nation symbolisierend, bildete in Christiania wie in den anderen Städten von Anfang an den Kern der Feierlichkeiten, wobei sich Zahl und Art der Teilnehmergruppen sukzessive erweiterten. Hinter den Fahnen schritten in festgelegter Reihenfolge freie Berufsvereinigungen und andere Assoziationen, Musikkorps, Gesangvereine und die nach deutschem Vorbild entstehenden Turn- und Sportvereine. Das demokratisch strukturierte Vereinswesen, zunehmend auch überregional organisiert, übte nach 1840 eine gesellschaftsmobilisierende und national vereinheitlichende Wirkung aus und trug dabei auch zur weiteren Standardisierung der Feier des 17. Mai bei. Eine bedeutsame Symbolhandlung wurde beim Parlamentsgebäude vorgenommen: Eine Delegation des Festkomitees ging hinein und lud die Abgeordneten ein, sich in den Zug einzureihen. Auf diese Weise wurde die Verbindung zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten rituell bekräftigt; in den letzten anderthalb Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erfolgte das nach Parteirichtungen getrennt. Während in dieser Phase allein der offizielle Bürgerzug auch das Schloss als Ausdruck königlicher Macht (fertig gestellt 1848) passierte, war das Stortingsgebäude (1866) ein Gegenstand der Huldigung aller Richtungen, auch der radikalen Demokraten und Sozialisten. Musikalische Darbietungen (etwa Konzerte von Chören) gehörten ebenso wie der gemeinsame Gesang unverzichtbar zur Feier. Auch sportliche Wettkämpfe, Spiele und verschiedene Kraftübungen bildeten ab Mitte des 19. Jahrhunderts den festen Bestandteil eines großen Freiluft-Festes, das alle soziale Schichten einbezog und die für die ganz frühe Phase nach 1814 typischen geschlossenen Gesellschaften ersetzte. In den Reden wie in den Parolen und Liedern wurden die Einigkeit des Volkes und die Dankbarkeit gegenüber den Männern von Eidsvoll hervorgehoben, die Segnungen der Verfassung gepriesen: die Verfassungsgebung als ein heiliger Eid, das Grundgesetz als Symbol für die Freiheit wie als Wert an sich. Die Begrifflichkeit um den Dreiklang der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit oder, am Ende des Jahrhunderts bei Venstre: „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ und „Selbstständigkeit“ war eingebettet in ein breites Feld von historischen Bezügen und Naturbildern, typisch für die norwegische Nationalidentität.

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Um 1880 war die Feier des 17. Mai in Christiania (mit Zehntausenden Teilnehmern) wie in anderen Orten des Landes ein fest etabliertes Ritual. Doch im Laufe der 1880er und 1890er Jahre geriet der 17. Mai in den heftigen innenund verfassungspolitischen Streit. Die Konkurrenz der verschiedenen, de facto partei- oder strömungspolitisch ausgerichteten Demonstrationen um die Unterstützung der Bevölkerung bedeutete in den Jahren ab 1884 erst einmal eine dramatische Politisierung, indem der Nationalfeiertag zum Ort des offenen Dialogs zwischen den Massen und den verschiedenen politischen Führungsgruppen wurde. Tatsächlich nahm die Gesamtbeteiligung in der Zeit der Spaltung nicht ab, sondern erheblich zu, sowohl zahlenmäßig, als auch gemessen an der Anzahl der beteiligten Korporationen und Vereine. Der traditionelle Bürgerzug, der formal die jahrzehntelange Kontinuität des 17. Mai beanspruchen durfte, wurde de facto zu einer Parteiangelegenheit der Konservativen. Dabei erhoben auch diese den Anspruch, das Werk der Männer des 17. Mai 1814, das Grundgesetz, das dem Land Jahrzehnte ruhigen Fortschritts in Freiheit ermöglicht hätte, zu verteidigen – und zwar gegen die Forderungen nach durchgreifender Demokratisierung und Loslösung von Schweden. Gegen das offizielle 17. Mai-Komitee formierte sich ab 1884 ein „selbstständiger“ Zug, der sich einige Jahre später „Arbeiterzug“ nannte. Er vereinigte neben Sozialdemokraten und Gewerkschaftern (die einige Jahre später ihrerseits einen eigenen Zug formierten) den linksdemokratischen Flügel des Bürgertums. Als die Venstre-Partei 1892 erstmals separat am 17. Mai auf die Straße ging, nahm sie die Wahlrechtsforderung auf. Entscheidend war hier das Verlangen nach uneingeschränkter nationaler Souveränität, symbolisiert durch die „reine“ dreifarbige norwegische Fahne (während die Høyre die offizielle Fahne mit Unions-Gösch, von den Gegnern als „Heringssalat“ verspottet, hoch hielt). Die „reine“ Fahne erwies sich als äußerst wirkungsvolles Feldzeichen, das national-patriotische Gesinnung und liberal-demokratische Orientierung identifizierte. Um die Jahrhundertwende hörte die parteipolitische Differenzierung auf, sich am 17. Mai widerzuspiegeln. Und seit 1935 beteiligte sich auch die Arbeiterbewegung aktiv und vorbehaltlos an der Ausrichtung der jetzt gemeinschaftlichen 17. Mai-Feiern. Auch ihre Anhänger trugen jetzt die dreifarbige norwegische Fahne und sangen die Nationalhymne. Somit spiegelt sich in der Geschichte der Feier des 17. Mai die norwegische Demokratiegeschichte: Die inhaltliche Kontinuität des 17. Mai kann mit dem Begriff „Freiheit“ klar benannt werden. In mehreren Stufen ist das Freiheitsverständnis erweitert worden: von der konstitutionellen und „nationalen“ Freiheit der Männer von Eidsvoll über den Anspruch auf parlamentarische Demokratie, politische Gleichheit und staatliche Selbstbestimmung, wie ihn die liberal-nationale und

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national-demokratische Strömung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts formulierte, bis zur Einbeziehung sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit seitens der Arbeiterbewegung. Doch trotz dieser erheblichen Veränderungen, die ihren Niederschlag in der Entwicklung des Feiergeschehens fanden, ist der Tag von Anbeginn bis heute Ausdruck der spezifisch norwegischen Synthese von Liberalismus, Nationalpatriotismus und Egalitarismus gewesen. Der norwegische Verfassungspatriotismus als konkreter Ausdruck dieser Synthese wurde indessen stets in hohem Maß auch kulturnational untermauert. Die Verkoppelung beider Aspekte, des politischen und des kulturellen, wie auch die Spannung zwischen ihnen, war die Voraussetzung dafür, dass der Verfassungstag für das norwegische Identitätsbewusstsein dermaßen wichtig werden konnte: Er harmonierte nicht nur mit dem nationalen Selbstbild, sondern hat dieses wesentlich mitgeprägt.

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Belastungen und Chancen der konstitutionellen Repräsentationsformen im späten Habsburgerreich

Dem untergegangenen Habsburgerreich wurden nur wenige Tränen nachgeweint – wenn doch, dann galten sie allenfalls dem verlorenen Glanz der Belle Époque, der Person des toten Kaisers und dem Erbe der k.u.k.-Armee, nicht aber dem Verfassungsstaat, der sich im Gegenteil dem Vorwurf der Erstarrung und des selbst verschuldeten Niedergangs ausgesetzt sah. Und in der Tat konnte spätestens seit 1867, als mit dem ungarischen Königreich der so genannte transleithanische Reichsteil ausgegliedert worden war, kaum noch von einem integrierten Staatswesen ausgegangen werden. Beide Teile wurden von je einer Nationalität beherrscht, und beide verfügten über jeweils eigene Verfassungen, die sich ihrer monarchisch-konstitutionellen Grundform nach zwar ähnelten, in einigen wesentlichen Punkten aber doch signifikant differierten. Insbesondere galt dies hinsichtlich der Kompetenzausstattung des monarchischen Staatsoberhaupts sowie im Hinblick auf das Kräfteverhältnis im horizontalen und vertikalen Gewaltenteilungssystem, das östlich der Leitha tendenziell parlamentarisch und einheitsstaatlich, im westlichen Reichsteil dagegen konstitutionell-monarchisch bzw. dezentral und föderativ ausgerichtet war. Wir befinden uns damit mitten im Komplex der Belastungen, denen sich die Donaumonarchie mit dem „Ausgleich“ von 1867 ausgesetzt sah. Nur vordergründig knüpfte dieser an der Tradition des Länderföderalismus an – in Wirklichkeit durchbrach er ihn: Bei den größeren Völkern führte er zu Gleichstellungsforderungen, bei den kleineren zu der Befürchtung, traditioneller Schutzgarantien verlustig zu gehen und unter Assimilationsdruck zu geraten. Unter diesen Bedingungen war es nicht einmal möglich, sich auf eine prägnante Staatsbezeichnung zu einigen, so dass entweder von „Cis- und Transleithanien“ oder für den Westteil von den „im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern“ bzw. den „Reichsratsländern“ die Rede war.1 Zudem stellte der k.u.k.-Dualismus die Doppelmonarchie alle sieben Jahre neu zur Disposi1 Vgl. Gerald Stourzh, Der Dualismus 1867 bis 1918: Zur staatlichen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7/1,Wien 2000, S. 1177–1230.

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tion, wenn das Budget für das gemeinsame Militärwesen, für die Verwaltung Bosnien-Herzegowinas und für die gemeinsame Außenpolitik neu verhandelt werden musste.

1.  Der Dualismus als Verfassungsproblem für Cisleithanien Im Ergebnis ging der „Ausgleich“ über die föderalistisch-autonomistischen Regelungen des Oktoberdiploms von 1860 nochmals deutlich hinaus. Vor allem fehlte ihm jede institutionelle Verklammerung bundesstaatlichen Charakters, wie sie im Oktoberdiplom mit dem „Weiteren Reichsrat“ und der Zusammenarbeit der Regierungschefs im Ministerrat ansatzweise noch bestanden hatte.2 Der einzig ernsthafte Versuch einer Föderalisierung des Reiches, respektive seines westlichen (cisleithanischen) Reichsteils, auf dem Boden des Dualismus wurde 1871 durch das Kabinett Hohenwart unternommen; sein Scheitern machte deutlich, dass eine wie auch immer geartete bundesstaatliche Lösung nicht mehr realisierbar war. Hohenwarts Ziel hatte darin bestanden, das böhmische Kronland durch „Fundamentalartikel“ staatsrechtlich so stark aufzuwerten, dass sich die Mehrheit des böhmischen Landtags dazu verstehen würde, ihre Absenz- und Blockadepolitik gegenüber dem Wiener Reichsrat aufzugeben und damit die Funktionsfähigkeit der „Dezemberverfassung“ langfristig zu gewährleisten. Dies aber wäre nur durch die faktische Anerkennung des so genannten „böhmischen Staatsrechts“ zu erreichen gewesen, einer von der „alttschechischen“ Landtagsmehrheit vertretenen Rechtskonstruktion, die auf dem Prinzip der Unteilbarkeit und der herausgehobenen Stellung des Königreichs Böhmen beruhte. Vermutlich hätten die Fundamentalartikel, die vom böhmischen Landtag am 10. Oktober 1871 verabschiedet worden waren, auf mittlere Sicht zur Umwandlung des dualistischen in ein trialistisches Reichssystem geführt.3 Die Veröffentlichung der Fundamentalartikel rief auf breiter Front ablehnende Reaktionen hervor: In Ungarn hielt man sie für unvereinbar mit dem Du2

Zur Diskussion um den Charakter der dualistischen Reichsstruktur vgl. Stourzh, ebd., S. 1223–1230; zur Genese des Dualismus vgl. Lázló Péter, Die Verfassungsentwicklung in Ungarn, in: ebd., S. 239–540, hier S. 295 ff. 3 Vgl. Helmut Rumpler, Parlament und Regierung Cisleithaniens 1867 bis 1914, in: ebd., S. 667–894, hier S. 714 ff.; Richard Plaschka, Das böhmische Staatsrecht in tschechischer Sicht, in: Ernst Birke/Kurt Oberdorffer (Hg.), Das böhmische Staatsrecht in den deutsch-tschechischen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Marburg 1960, S. 4.

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alismus und fürchtete gefährliche Rückwirkungen auf die nicht-ungarischen Nationalitäten des eigenen Reichsteils. Die Polen fühlten sich benachteiligt und forderten als ersten Schritt ein Sonderstatut für Galizien, die Deutschliberalen fürchteten um die deutsche Präponderanz im westlichen Reichsteil; die Sudeten­deutschen wünschten sich gar unter den Schutzschirm PreußenDeutschlands. Der schlesische Landtag wollte keinesfalls mit dem böhmischen Landtag zusammengelegt werden, und auch der mährische Landtag zeigte hierfür wenig Sympathie. Als Konsequenz der massiven Gegenreaktionen zog der Kaiser seine ursprüngliche Unterstützung der Fundamentalartikel zurück und verweigerte die Unterschrift unter den böhmisch-österreichischen Ausgleich – die Regierung Hohenwart demissionierte und die Fundamentalartikel blieben das unausgefüllte Programm des böhmischen Konservatismus bis zum Ende des Reiches.4 Vergleichbaren Vorstößen, die auf eine Aufwertung Polens oder Kroatiens und seiner Nebenländer geführt hätten, stellte sich Ungarn konsequent entgegen – bis zum Untergang der Donaumonarchie Anfang/Mitte November 1918. Folglich war eine grundlegende Reichsreform auf bundesstaatlicher Basis unter den Bedingungen des k.u.k.-Dualismus undurchführbar, selbst wenn das ungarische Königreich hiervon nicht direkt betroffen gewesen wäre. Eine Rücknahme des Dualismus barg große Risiken; sie hätte vermutlich zum Ausscheiden der Ungarn aus dem Staatsverband geführt und gefährliche innen- und außenpolitische Folgewirkungen nach sich gezogen. Eine reale politische Alternative kann darin schwerlich gesehen werden. Dies gilt auch für den Vorschlag des Banater-Rumänen Aurel Popovici, der in seinem nach der Jahrhundertwende erschienenen Buch „Die Vereinigten Staaten von Großösterreich“ für eine Umgestaltung der Habsburgermonarchie in eine Föderation von fünfzehn, nach ethnischen Gesichtspunkten gebildeten Staaten plädierte und damit das Interesse des Thronfolgers Franz Ferdinand sowie des populären Wiener Bürgermeisters und christlichsozialen Parteiführers Karl Lueger weckte. Die Antwort, wie das Ziel erreicht werden sollte, blieben sie durchweg schuldig.5

4 Vgl. Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, 8 Bde., Wien 1902– 1914, Neudr. Graz 1972–1980, Bd. 2, S. 197 ff. 5 Vgl. Aurel Popovici, Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich, Leipzig 1906; Ludwig Jedlicka, Erzherzog Franz Ferdinand (1863-1914), in: Hugo Hantsch (Hg.), Gestalter der Geschicke Österreichs, Bd. 2, Innsbruck 1962, S. 527–538, hier S. 533 ff.

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2.  Dezentralisierung und Gewaltenteilung als langfristige Perspektive Wenn der Dualismus nicht zu durchbrechen war, kamen für die Reform der westlichen Reichshälfte nur noch zwei Möglichkeiten in Betracht. Die eine bestand in einer behutsamen, auf die Eigenheiten der Völker Rücksicht nehmenden Dezentralisierung, die zweite in der Herbeiführung punktueller Lösungen, d.h. dem Abschluss von Einzelvereinbarungen mit den Ländern. Die dritte denkbare Variante einer echten Föderalisierung in Verbindung mit der Errichtung eines zentralen Repräsentativorgans der Länder war mit dem bereits angesprochenen „Oktoberdiplom“ von 1860 gescheitert und durch das „Februarpatent“ von 1861 ins Gegenteil verkehrt worden. Dessen Zweikammerlegislative wies bezeichnenderweise kein Föderalorgan auf und kehrte die zugunsten der Länder formulierte Kompetenzregelung des Oktoberdiploms wieder um.6 Zunächst zu Variante Eins, deren Vorgeschichte mit dem kaiserlichen Verfassungsoktroy vom 4. März 1849 beginnt. Dieser vereinheitlichte in zentralistischer Manier die traditionellen Länderverfassungen (Landesstatute), führte neuständische Kurienwahlordnungen ein und reduzierte die autonome Landesverwaltung auf ein Minimum. Die Befugnisse der Landtage bezogen sich auf die administrative und legislative Ausgestaltung der autonomen Landesangelegenheiten und umfassten somit nur einen eng begrenzten Wirkungsbereich. Alle anderen Verwaltungsbefugnisse oblagen dem Statthalter als dem Vertrauensmann der Zentrale. Die Kompetenz-Kompetenz lag beim Gesamtstaat. Als unterste Verwaltungsebene erkannte die Verfassung von 1849 der Gemeinde in Stadt und Land einen relativ großen autonomen („natürlichen“) Wirkungsbereich zu. Das Provisorische Gemeindegesetz von 1849 sprach sogar von der Gemeinde als „Grundfeste des freien Staates“ und konzipierte sie als Ausgangspunkt eines von unten nach oben verlaufenden Selbstverwaltungsmodells, das freilich nicht zur Umsetzung kam.7 Letztlich dauerte es dann noch bis zum Reichsgemeindegesetz des Jahres 1862 (und den nachfolgenden Landgemeindeordnungen 1863–1866) bis sich eine echte gemeindliche Selbst-

6

Zum Verhältnis von Oktoberdiplom und Februarpatent vgl. Fritz Fellner, Das Februarpatent von 1861, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 63 (1955), S. 549–564. 7 Vgl. Wilhelm Brauneder/Friedrich Lachmayer, Österreichische Verfassungsgeschichte, Wien 1998, S. 130.

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verwaltung jenseits der Kontrolle der Zentrale etablierte.8 Die Ortsgemeinden verfügten damit über eine relativ große Eigenständigkeit, ihre Vertreter waren durch Wahlen zu legitimieren.9 Auf dem so geschaffenen Rechtsfundament entfalteten die Gemeinden eine rege kommunale Tätigkeit, die insbesondere in den Landeshauptstädten und Industriezentren von einer stark ansteigenden Verwaltungstätigkeit geprägt war. Das sich durch Eingemeindungen erheblich vergrößernde Wien stand klar an der Spitze dieser Entwicklung. Indes verband sich mit dem Ausbau der gemeindlichen Selbstverwaltung die Gefahr ihrer Überforderung durch die Nationalitätenproblematik, die sich, wie etwa der Streit um die Einrichtung eines slowenischen Gymnasiums im untersteirischen Cilli zeigte, jederzeit von heute auf morgen zum Flächenbrand auswachsen konnte.10 Auch trug die Art und Weise der Privilegierung der Deutschen bzw. die Politik der antislawischen und antijüdischen Diskriminierung unter Wiens Bürgermeister Karl Lueger (1897–1910) nicht unerheblich zur Fragmentierung und Polarisierung des Reiches bei.11 In zusammenfassender Betrachtung kann gesagt werden, dass das Konzept des dezentralen Einheitsstaats nur im Bereich der Gemeindeselbstverwaltung in ausreichendem Maße realisiert wurde. Demgegenüber ist es nicht gelungen, einer systematischen Dezentralisierung auf Bezirks-, Kreis- und Landesebene zum Durchbruch zu verhelfen und damit ein adäquates Gegengewicht zu den weitgehenden und das Gesamtreich gefährdenden Föderalisierungswünschen einzelner Länder zu schaffen. Es blieb somit keine andere Möglichkeit als individuelle Lösungen für die einzelnen Kronländer zu vereinbaren, wobei einerseits die jeweiligen Ausgangsbedingungen differenziert zu betrachten waren, andererseits die Unterschiede zwischen den Ländern im Sinne der gegenseitigen Akzeptanz wiederum nicht zu groß werden durften. Eine Statuserhöhung auf das Niveau Ungarns kam indes für keines der cisleithanischen Länder oder Länderverbindungen in Frage, da ein solches Vorgehen zwangs8 Vgl. Rudolf Hoke, Österreich, in: Kurt G.A. Jeserich u.a. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2: Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 345–397. 9 Vgl. Jiri Klabouch, Die Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848–1918, Wien 1968; ders., Die Lokalverwaltung in Cisleithanien, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 2, Wien 1975, S. 270–305; Peter Urbanitsch, Die Gemeindevertretungen in Cisleithanien, in: Helmut Rumpler/ Ders. (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7/2, Wien 2000, S. 2199– 2281, hier S. 2201–2205. 10 Vgl. Rumpler, Parlament, S. 830 f. 11 Vgl. Jörg Kirchhoff, Die Deutschen in der österreichisch-ungarischen Monarchie, Berlin 2001, S. 90 ff. (Kap. V).

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läufig zur Aufkündigung des k.u.k.-Dualismus durch Ungarn geführt und der Partikularisierung des Reichs Tür und Tor geöffnet hätte.12 Die Herbeiführung individuell-spezifischer Ausgleichslösungen erforderte von allen Beteiligten die Bereitschaft, einen langen und komplizierten Verhandlungsprozess auf sich zu nehmen. Dass die „Mühen der Ebene“ nicht aussichtslos sein mussten, bewies das Zustandekommen der Ausgleichsregelungen für Mähren (1905) und für die Bukowina (1910), während die ab 1901 nochmals in Angriff genommenen Gespräche über einen böhmischen Ausgleich zwar zeitweise kurz vor dem Durchbruch standen, letztlich aber immer wieder an im Grunde zweitrangigen Fragen scheiterten.13 Schließlich stand die Politik des individuellen und punktuellen Kompromisses auch deshalb unter keinem guten Stern, weil der ab 1873 mit der Einführung der Direktwahl der Reichsratsabgeordneten sukzessive vorankommende Prozess der Demokratisierung Cisleithaniens bis zur Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts auf Reichsratsebene im Jahr 1906 hierzu keinen entscheidenden Beitrag zu leisten vermochte. Teilweise muss hier sogar von retardierenden und kontraproduktiven Auswirkungen gesprochen werden, wenn man etwa an den Wahlsieg der Christlichsozialen Partei von 1907 denkt, deren Bekenntnis zu Österreich untrennbar mit dem Ziel der Bewahrung der deutschen Suprematie verbunden war und blieb.14 Bei aller Fragmentierung und Konflikthaftigkeit ist andererseits doch auch zu bedenken, dass die Mehrheit der im Habsburgerreich agierenden Nationalbewegungen nicht auf dessen Zerstörung aus war bzw. keine realistische Alternative vor Augen hatte.15 Dass es von diesem Punkt aus nicht gelungen 12 Zu den Ausgleichsregelungen: Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985, S. 213 ff. 13 Vgl. zum Beispiel den Streit über die Amtssprache für Prag, die den unmittelbar bevorstehenden erfolgreichen Abschluss der Ausgleichsverhandlungen von 1911/12 verhinderte und damit zur Suspendierung der böhmischen Landesverfassung im Jahr 1913 beitrug. (Vgl. Friedrich Prinz, Geschichte Böhmens 1848–1948, Heimstetten 1988, S. 194 ff.). Zu den Verhandlungen über den „böhmischen Ausgleich“ vgl. meine ausführliche Würdigung in dem Beitrag: Konservative Modernisierung in Mitteleuropa. Preußen-Deutschland und Österreich-Cisleithanien in der ,post-liberalen Ära‘ 1878/79 bis 1914, in: Otto Büsch/Arthur Schlegelmilch (Hg.), Wege europäischen Ordnungswandels. Gesellschaft, Politik und Verfassung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1995, S. 21–70, hier S. 34 ff. 14 Vgl. Kirchhoff, Die Deutschen, S. 133 f. 15 Vgl. Jan Kren, Nationale Selbstbehauptung im Vielvölkerstaat. Politische Konzeptionen des tschechischen Nationalismus 1890–1930, in: Ders./Václav Kural (Hg.), Integration oder Ausgrenzung. Deutsche und Tschechen 1890–1945, München 1986,

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ist, eine auf Pluralität und Integration fußende politische Kultur zu etablieren, dürfte zu einem Gutteil auf den dualistischen Überbau des Habsburgerreichs seit 1867 und seine retardierenden Wirkungen sowie die letztlich nicht systematisch und zielstrebig genug vorankommende Dezentralisierungspolitik zurückzuführen sein. Wie die Ausgleichsregelungen für Mähren, die Bukowina und der kurz vor Weltkriegsbeginn (1914) geschlossene, aber nicht mehr in Kraft getretene Ausgleich für Galizien zeigten, standen andererseits noch brauchbare Instrumentarien der Kompromissfindung zur Verfügung und war es im Rahmen einer „Politik der kleinen Schritte“ grundsätzlich möglich, faire Regelungen für alle Seiten zu entwickeln – so etwa zum Wahlverfahren durch getrennte bzw. proportionale Wahlkreiseinteilungen, zur getrennten Sprachgestaltung des Schulunterrichts und des Behördenwesens sowie zum Aufbau eigenständiger Koordinationsorgane unter Wahrung des Minderheitenschutzes.

3.  Die „Regierung des doppelten Vertrauens“ als Reformchance Wie bereits angedeutet, bedürfen die beschriebenen Defizite und Blockaden im Bereich des vertikalen Gewaltenteilungssystems zu ihrem besseren Verständnis auch der Einbeziehung des Wirkungszusammenhangs zwischen Exekutive, Legislative und Judikative auf der Basis der konstitutionellen Vorgaben von 1867. Nach Genese, Form und Inhalt ähnelte die „Dezemberverfassung“ der Verfassung des Norddeutschen Bundes aus demselben Jahr sowie der deutschen Reichsverfassung vom 16. April 1871. Alle drei entstanden als Übereinkunft zwischen Krone und Parlament und nahmen eine mittlere Position zwischen Absolutismus und Parlamentarismus ein. Ihre „Philosophie“ bestand darin, einerseits den Rückfall in absolutistische Zustände zu verhindern und die Krone dauerhaft und fest konstitutionell einzubinden, andererseits einer sukzessiven Parlamentarisierung nach englischem Vorbild bzw. nach französischem (ab 1830), belgischem (ab 1831) oder piemontesischem Muster (ab 1852) aus dem Weg zu gehen.16 15–65, hier S. 55. Kren spricht, etwas euphemistisch, von einem „spezifischen Typus von Nationalismus, welcher im Prinzip auf Selbstbeschränkungen ausgerichtet war“. 16 Vgl. Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999, Kap. II.1a, b, c.; Arthur Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2009, Kap.6.

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In diesem Sinne wurden das Budget- und Legislativrecht des Reichsrats als Pendant der militär- und außenpolitischen Prärogativen der Krone festgeschrieben und eine Trennung zwischen der Rolle des Monarchen als unverantwortlichem Staatsoberhaupt bzw. als oberster Regierungsinstanz vorgenommen. Es galt das Prinzip der monarchischen Regierung durch die an die konstitutionellen Gesetze gebundenen Minister, die zudem gehalten waren, zu Interpellationen und Petitionen der Abgeordneten Stellung zu nehmen. Teilweise wurde das konstitutionelle Erbe von 1848/49 im österreichischen stärker als im deutschen Kaiserreich weiter geführt, so in Bezug auf den mit der Dezemberverfassung in Kraft getretenen Grundrechtskatalog, auf den in Deutschland ebenfalls fehlenden Staatsgerichtshof, ferner hinsichtlich des Vorhandenseins eines echten Ministeriums (und nicht nur eines Reichskanzlers mit Staatssekretären) sowie einer juristischen statt politisch-moralischen Regelung der Ministerverantwortlichkeit bzw. einer weniger rigiden Inkompatibilitätsbestimmung zwischen Parlament und Regierung. Dem standen allerdings als antiliberale Gegengewichte ein umfassenderes Notverordnungs- und Ausnahmerecht, ein vom adligen Grundbesitz dominiertes Herrenhaus sowie ein weit hinter dem deutschen allgemeinen Männerwahlrecht zurückbleibendes kuriales Wahlsystem gegenüber.17 In Anbetracht der im europäischen Vergleich bemerkenswert langen Wirksamkeit kann beiden Verfassungen bescheinigt werden, ihrer auf Stabilität gerichteten Grundphilosophie gerecht geworden zu sein.18 Dieser Erfolg wäre ohne hinreichend funktionale Verklammerung ihrer Organe und Institutionen nicht zu erreichen gewesen, so dass das allzu oft anzutreffende Negativklischee der konstitutionellen Monarchie als eines ungeregelten Nebeneinanders der Verfassungsorgane hier nicht anzuwenden ist.19 Andererseits liefert das bloße Überleben noch keinen ausreichenden Beleg für die Gewährleistung von Integration und Entwicklung als den Kernaufgaben moderner Verfassungsstaatlichkeit, worauf neben vielen anderen zum Beispiel Hartwig Brandt verweist, wenn er kritisch von „fehlender innerer Konsistenz“ und „man-

17 Vgl. Gerald Stourzh, Die österreichische Dezemberverfassung von 1867, in: Ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaats, Wien 1989, S. 239–258; Wilhelm Brauneder, Die Verfassungsentwicklung in Österreich 1848–1918, in: Rumpler/Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie, Bd. 7/1, S. 69–273, hier S. 174 ff. 18 Vgl. mit entsprechenden Belegen Schlegelmilch, Alternative, Kap. 6. 19 Ebd., Einleitung.

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gelnder Fortentwicklung“ spricht.20 Mit Blick auf die damaligen Staats- und Verfassungswissenschaften ist wiederum festzustellen, dass deren Vertreter in ihrer großen Mehrheit die konstitutionelle Monarchie in ihrer spezifischen, deutsch-mitteleuropäischen Ausprägung als bestgeeignete Verfassungsform zur Bewältigung der Integrations- und Entwicklungsaufgaben ihrer Zeit gesehen – und hierfür ihrerseits substantielle Argumente ins Feld geführt haben.21 Im Verhältnis zu der vom Rechtspositivismus dominierten deutschen Staats- und Verfassungslehre war es für die österreichische Seite indes ungleich schwieriger, ein allgemein konsensfähiges Theoriekonzept zu entwickeln.22 Nach einem kurzen Aufblühen des historischen Rechtsdenkens Mitte der 1850er Jahre wurden in den 1870er Jahren Anstrengungen zur Herausbildung einer eigenständigen Österreichischen Reichs- und Rechtsgeschichte unternommen.23 Diese Bemühungen sahen sich freilich mit den Forderungen der Nationalitäten nach ausreichender Berücksichtigung ihrer jeweiligen „Particularrechte“ konfrontiert, so dass zwar die Einführung einer juristischen Studienordnung mit dem Studienfach „Österreichische Reichsgeschichte“ erreicht wurde, insgesamt aber kein Paradigmenwechsel zu verzeichnen war.24 Dies galt auch für den Positivismus, der weder in seiner rechtsdogmatischen Variante noch in Verbindung mit Jellineks Ergänzung des „ungeschriebenen Verfassungsrechts“ entscheidend Fuß fassen konnte. Letztlich ließ sich die 20 Hartwig Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne. Deutsche Verfassungsgeschichte von 1800 bis 1945, Darmstadt 1998, S. 88, 157. 21 Es sei hier auf Otto Hintze verwiesen, bspw.: Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung, in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, Hg. Gerhard Oestreich, Göttingen 1962, S. 359– 389. Ähnlich in dem Beitrag: Machtpolitik und Regierungsverfassung, in: Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hrsg. u. eingel. von Gerhard Oestreich, Göttingen 1982, S. 424–456, wo Hintze vom monarchischen Konstitutionalismus als „stilgerechter Antwort“ auf die strukturellen Anforderungen der Zeit spricht (Ebd., S. 453). 22 Vgl. dazu ausführlich: Arthur Schlegelmilch, Vom Topos zum Typus? Der „deutsche Konstitutionalismus“ als Gegenstand verfassungswissenschaftlicher Forschung und Interpretation, in: Peter Brandt u.a. (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005, S. 353–381. 23 Vgl. Hans Lentze, Graf Thun und die deutsche Rechtsgeschichte, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 63 (1955), S. 500–548, hier S. 507 ff. 24 Vgl. Kurt Ebert, Zur Einführung der Österreichischen Reichsgeschichte im Jahre 1893, in: Hans Constantin Faußner u.a. (Hg.), Die Österreichische Rechtsgeschichte. Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, Graz 1991, S. 49–73.

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Stellung des Staats als des „obersten Friedensbewahrers, … Rechtserzeugers, Richters und Schützers und Verteidigers aller mit seinem Bestande nicht unvereinbaren berechtigten Interessen der socialen Kreise und Gruppen“ im österreichischen Reichsteil nicht annähernd herstellen, so dass es sich hierbei nur um idealtypische Absichtserklärungen ohne ausreichenden gesellschaftspolitischen Realitätsbezug handelte.25 Nur geringe öffentliche Resonanz war schließlich auch dem Konzept des „socialen Königtums“ des seit 1855 als Professor für „Politische Wissenschaften“ an der Wiener Universität lehrenden Lorenz von Stein beschieden. Nach seiner Auffassung sollten Krone und Beamtenschaft durch sozialpolitische Führungsstärke in den Status des „pouvoir actif“ zurückgeführt werden und damit einen entscheidenden Beitrag zur Lösung der bestehenden Integrationsprobleme leisten.26 So heterogen sich das Staats- und Verfassungsdenken des Habsburgerreichs auch darstellte, neigte die deutliche Mehrheit der Auffassung zu, dass die Staatsform der konstitutionellen Monarchie der parlamentarischen vorzuziehen sei bzw. letztere eher eine Bedrohung als eine Chance darstellte. Für eine solche Sichtweise gab es gute Gründe. Denn tatsächlich stellten die geschilderten Schwierigkeiten auf staats- und verfassungstheoretischer Ebene nur eines von mehreren ungelösten Problemfeldern des Verfassungslebens im Vielvölkerstaat dar. Anders als im deutschen Kaiserreich, das bereits nach kurzer Existenz als gemeinsamer Nationalstaat weithin unstrittig war, fehlte es in Österreich an einem vergleichbaren Basiskonsens, der mithin durch komplizierte Verhandlungen und Tauschgeschäfte immer wieder neu hergestellt werden musste. Damit aber bildete sich eine politische Kultur des „Durchfrettens“ und „Fortwurstelns“ aus,27 die zwar durchaus nicht gänzlich erfolglos war, deren Fragilität sich aber sofort zeigte, wenn nationale Empfindlichkeiten betroffen wurden. So war es denn auch jederzeit möglich, dass aus verhältnismäßig geringfügigen Kontroversen schwerwiegende Konfrontationen mit weitreichenden Auswirkungen auf das Gesamtsystem erwuchsen, wie in besonders drastischer Form das Beispiel der Badeni-Krise des Jahres 1897 zeigt, in deren Verlauf nahezu alle Regeln des politischen Anstands und des 25 Vgl. Ludwig Gumplowicz, Das Österreichische Staatsrecht (Verfassungs- und Verwal­ tungsr­echt). Ein Lehr- und Handbuch, Wien 1891, §§ 1, 20, 23; das Zitat aus ders., Die sociologische Staatsidee, Innsbruck 1902, S. 143. 26 Vgl. Dirk Blasius, Lorenz von Stein und die Geschichte der sozialen Bewegung in Deutschland, in: Albert von Mutius (Hg.), Lorenz von Stein 1890–1990. Akademischer Festakt zum 100. Todestag, Heidelberg 1992, S. 11–17. 27 Zur Begrifflichkeit vgl. William A. Jenks, Austria under the Iron Ring 1879–1893, Charlottesville 1965, S. 27, 237, 304 ff. Vgl. dazu Rumpler, Parlament, S. 785, 789.

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Respekts vor den Verfassungsinstitutionen, insbesondere vor dem Parlament, gebrochen wurden.28 Neben der tiefgreifenden und nachhaltigen Vergiftung des Verhältnisses zwischen Deutschen und Tschechen fielen vor allem die verfassungspolitischen Konsequenzen der Badeni-Krise ins Gewicht. Ihr folgte unter Badenis Nachfolger Ernest von Koerber eine vierjährige Periode des Regierens per Notverordnung mit insgesamt 33 (!) Anwendungen des Notverordnungsparagrafen.29 Koerbers Ansatz bestand darin, den Konstitutionalismus durch die Stärkung seiner obrigkeitlichen Elemente in Verbindung mit einer Öffnung des Systems für die großen sozialen und ökonomischen Bewegungen der Moderne „neu aufzustellen“. Recht deutlich zu erkennen sind hier die Anklänge an Koerbers ehemaligen akademischen Lehrer, Lorenz von Stein, für dessen Denken die Prävalenz des Staats und das behördlich-monarchische Staatswohlmonopol den entscheidenden konzeptionellen Ausgangspunkt gebildet hatten.30 Nach Koerbers Abgang setzte sich indes für längere Zeit die Auffassung durch, dass ohne parlamentarische Legitimation nicht weiter regiert werden konnte, und es kam bis zum März 1914 zu keiner weiteren Anwendung des Notverordnungsparagrafen 14.31 Die Nichtverwendung des Paragrafen 14 zwischen 1904 und 1914, die fortgesetzte Wahlrechtsreform bis zur Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts 1906, diverse Reformen der Geschäftsordnung des Reichsrats, die Ausgleichsregelungen für Mähren, Bukowina und Galizien (1906, 1909, 1914), die zeitweilig vorankommenden Verhandlungen 28 Vgl. Berthold Sutter, Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897. Ihre Genesis und ihre Auswirkungen vornehmlich auf die innerösterreichischen Alpenländer, 2 Bde., Graz 1960/65; Paul Molisch, Zur Geschichte der Badenischen Sprachenverordnungen von 1897, Wien 1923. Auslöser des Konflikts war Ministerpräsident Badenis Versuch, per Verordnung die Gleichstellung des Tschechischen mit dem Deutschen im inneren und äußeren Dienstverkehr der Behörden in Böhmen und Mähren durchzusetzen. 29 Vgl. Alfred Ableitinger, Ernest von Koerber und das Verfassungsproblem im Jahre 1900, Wien 1973. Siehe besonders die abschließende Würdigung auf S. 213 ff. Ferner: Rumpler, Parlament, S. 856 ff., 862 ff. 30 Zur Verbindung Koerber – Stein vgl. Franz Bauer, Beamte als Ministerpräsidenten in der ausgehenden Habsburgermonarchie. Dr. Ernest v. Koerber, Paul Freiherr Gautsch v. Frankenthurn, Dr. Max Vladimir Freiherr v. Beck, Diplomarbeit Wien 2006 S. 216. 31 Vgl. Lothar Höbelt, Parties and Parliament. Austrian Pre-War Domestic Politics, in: Mark Cornwall (Hg.), The last years of Austria-Hungary. Essays in Political and Military History 1908–1918, Exeter 1990, S. 41–61, hier S. 51, mit der ergänzenden Bemerkung: „Moreover, it was well-known that no Prime Minister would survive for long having to govern by decree“.

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über den böhmischen Ausgleich sowie die parlamentarische Verabschiedung der Heeresvorlagen von 1912 und 1913 (mit Zweidrittelmehrheit) zeigen: Das monarchisch-konstitutionelle System verfügte auch im Habsburgerreich über das Potenzial, Entwicklung und Integration bis zu einem gewissen Grad zu gewährleisten.32 Indes stellt sich die Frage, ob unter den obwaltenden Umständen auch eine Verfassungsreform im Bereich des Möglichen lag. Die diesbezüglich aussichtsreichsten Aktivitäten verbinden sich mit der Ministerpräsidentschaft Becks zwischen Juni 1906 und November 1908. Er machte dem 1907 erstmals auf der Grundlage allgemeiner und gleicher Wahlen zu Stande gekommenen Reichsrat den Vorschlag einer „Arbeitsgemeinschaft aller, die das Haus und den Staat wollen“, um „die erzieherische Macht der Arbeit, die Disziplin, die aus der Arbeit selbst fließt, zum Gesundungsmittel unseres öffentlichen Geistes zu machen“. Die Idee bestand darin, die Parteien, wo immer möglich, in konstruktive Parlaments- und Regierungsarbeit einzubinden und damit deren latente Obstruktionsneigung abzubauen. In diesem Sinne machte Beck den konkreten Vorschlag, die Regierung durch „Beisitzer aus den Parteien“ zu ergänzen und denjenigen Parteien „den Mitgenuß der Macht nicht zu versagen ..., welche die Mitverantwortung zu tragen bereit sind“. Dabei zeigte er sich durchaus bereit, bis hart an die Grenze des Parlamentarismus zu gehen, überschreiten wollte er sie jedoch nicht. Für Österreich schien es ihm eher geboten, eine Regierungsweise über und mit den Parteien zu gewährleisten. Beck traf sich hier mit dem liberalen Lager, das seinerseits von einer Verfassungsentwicklung im konstitutionell-monarchischen Rahmen ausging, da den im Reichsrat vertretenen Parteien bis auf weiteres nicht zugetraut wurde, den für den Erhalt des Staatswesens notwendigen Realitätssinn aufzubringen.33 Als Becks wichtigster Ansprechpartner auf parlamentarischer Seite erwies sich der Reichsratsabgeordnete der Deutschen Fortschrittspartei Josef Redlich, der zur selben Zeit für das Konzept „einer parlamentarischen Regierung ..., die unter dem wohlwollenden Diktat der in diesem Hause vertretenen Mehrheitsparteien steht“, eintrat. Auch Redlich ließ keinen Zweifel daran, dass die von ihm empfohlene „parlamentarische“ Regierungsweise das Recht der Krone auf die Regierungsbildung nicht infrage stellen und insofern „konstitutionell“ 32 Zu den aufgeführten Reichsratsaktivitäten vgl. Rumpler, Parlament, S. 888 ff. 33 Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck, in: Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des Österreichischen Reichsrates, 53. Sitz. d. XVIII. Session, 19.12.1907, S. 3678. Zu diesem: Alfred Ableitinger, Max Vladimir Freiherr von Beck, in: Walter Pollak (Hg.), Tausend Jahre Österreich. Eine Biographische Chronik, Bd. 3, Wien 1974, S. 28–33.

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sein werde, dass andererseits jedoch eine neue Art von „Regierungskunst“ und ein „besserer Geist“ in das österreichische Verfassungsleben Einzug halten müsse. „Nicht Furcht vor dem Parlamente, sondern Vertrauen zu demselben muß die Regierung haben und es bewähren, indem sie das Parlament beschäftigt ...“, lautete sein Credo.34

4.  Das Scheitern an Beharrungskräften und Fundamentalopposition Redlichs noch im Sommer 1917 verzweifelt wiederholter Appell, „die Monarchie auf der heute bestehenden Grundlage fortzubauen“,35 ist bekanntlich ebenso wenig wie Becks „Arbeitsgemeinschaft“ auf fruchtbaren Boden gefallen. Insbesondere fehlte den Regierungen letztlich der Mut, den entscheidenden Schritt aus dem Windschatten der Krone heraus zu tun und beispielsweise eine eindeutige Distanzierung gegenüber dem Notverordnungsparagrafen 14 als dem wichtigsten formalen Hindernis gleichberechtigter Zusammenarbeit vorzunehmen.36 Aber auch der Reichsrat avancierte nicht, wie Redlich gehofft hatte, zu einem modernen Repräsentativorgan, sondern blieb eine „polarische Erscheinung“ mit reduzierter Handlungsfähigkeit.37 Einen nicht unbedeutenden Anteil an dieser Entwicklung hatte die österreichische Sozialdemokratie, denn sie verweigerte sich konsequent dem Angebot Becks, „bei der Verteilung der politischen Macht, die uns der Herr Ministerpräsident als das Ideal der österreichischen Regierungspolitik geschildert hat, 34 Abgeordneter Dr. Redlich, Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des Österreichischen Reichsrates, 62. Sitz. d. XVIII. Session, 9.4.1908, S. 4168–4179, Zitat: S. 4179. 35 Abgeordneter Dr. Redlich, in: ebd., 4. Sitzung der XXII. Session, 12.6.1917, S. 167. 36 Vgl. Abgeordneter Pollauf, in: ebd., 114. Sitzung der XXI. Session, 31.10.1912, S. 5650: „Stellen Sie sich, meine Herren – theoretisch wenigstens – vor, es gäbe keinen § 14. Die Regierung wäre gezwungen, unter allen Umständen sich um eine Majorität umzuschauen und, um zu einem Parlamentarismus zu kommen, dem Parlamente seine Bedeutung zuzugestehen.“ Die Forderung auf Beseitigung des Notverordnungsparagraphen wurde immer wieder erhoben, auch schon unter der „Februarverfassung“ (damals § 13). Vgl. z.B. den Abgeordneten Freiherr von Tinti am 16. Juni 1865 in der 79. Sitzung, 3. Session des Hauses der Abgeordneten: „Man behebe den § 13, so wird dieß ein Beweis der constitutionellen Gesinnung der Regierung sein und wir werden vielleicht einen leichteren Standpunct haben.“ (ebd., S. 2334). 37 Zitat: Abgeordneter Dr. Redlich, in: Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des Österreichischen Reichsrates, 4. Sitz. der XXII. Session, 12.6.1917, S. 167.

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einen Anteil zu bekommen“, und zog sich auf eine Politik der „Selbstbeherrschung“ und „Mäßigung“ zurück, auch 1917 noch verweisend auf die „historische Mission“ des Bürgertums.38 Damit verband sich zwar keine aktive Obstruktionspolitik,39 doch lief die konstante Verweigerung einer tätigen Mitwirkung am Ausbau der konstitutionellen Monarchie letztlich auf nichts anderes als auf deren Ruin und damit den von der „k.k.-Sozialdemokratie“ nicht eigentlich gewünschten Untergang des Vielvölkerreichs hinaus. Im Ergebnis gelang es letztlich nicht, eine Regierungsweise des „doppelten Vertrauens“ zu installieren, derzufolge der Regierungschef nicht mehr bloß als der „Vertrauensmann des Königs, der für die Politik des Königs eine Mehrheit im Parlament sucht“ (Hartung) verstanden wird, sondern eine Stellung, die gegenüber den beiden konkurrierenden Souveränitätsträgern eine selbständige, ja sogar dominierende Stellung einnimmt und dennoch von beiden abhängt.40 Ungeachtet der vielfältigen, auch strukturellen Gründe, die zum Scheitern von konstitutionellen Repräsentationsformen führten, handelte es sich hierbei wohl um die einzige Chance des von Regierungsund Parlamentsvertretern immer wieder apostrophierten „zweckmäßigen organischen Ausbaus des Bestehenden.“41 Denn im Großen und Ganzen war 38 Zitate: Abgeordneter Dr. Adler, in: ebd., 54. Sitzung der XVIII. Session, 20.12.1907, S. 3783; Abgeordneter Seitz, in: ebd., 5. Sitzung der XXII. Session, 13.6.1917, S. 182. 39 Vgl. Abgeordneter Renner: „Meine Partei und die Sozialdemokratie aller Nationen dieses Parlamentes hat seit ihrem Eintritte nicht ein einziges Mal mit dem Gedanken der Obstruktion gespielt und hat durch die ganze Zeit immer das notwendige parlamentarische Leben aufrecht zu erhalten versucht, selbst unter manchen Opfern des Intellekts und vor allem auch unter manchen Mißdeutungen von der sogenannten radikalen Seite des Hauses, von links und rechts.“ (in: ebd., 7. Sitzung der XXII. Session, 15.6.1917, S. 332). 40 Den Begriff prägte Maurice Duverger, der ihn auf die Rolle der Regierung Frankreichs zwischen 1830 und 1848 bezog, indes fälschlich vom „parlementarisme à double confiance“ sprach. (Maurice Duverger, Le système politique français. Droit constitutionnel et systèmes politiques, Paris 1986, S. 24 ff., 85). Ich gehe hier dagegen von der Zuordnung des Systems „à double confiance“ zum monarchischen Konstitutionalismus aus. So auch: Kirsch, Monarch, S. 172 f. Als Voraussetzung für die Regierung des doppelten Vertrauens galt das Prinzip „le roi règne et ne gouverne pas“ bzw. zumindest: „Le roi ne gouverne pas, mais il influe sur le gouvernement“. Das Zitat: Fritz Hartung, Die Entwicklung der konstitutionellen Monarchie in Europa, in: Ders., Volk und Staat, Leipzig 1940, S. 199. 41 So Ministerpräsident Clam-Martinic am 12. Juni 1917, in: Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des Österreichischen Reichsrates, 4. Sitz. d. XXII. Ses­sion, 12.6.1917, S. 120. Ähnlich z.B. der Abg. Freiherr v. Hock, ebd., 53. Sitz. d. XVIII. Session, 19.12.1907, S. 3706.

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sich die politische Klasse darüber im Klaren, dass „auf unser vergleichsloses Staatsgebilde ... die Formel des reinen Mehrheits- und Parteiregimes nicht übertragen werden“ könne und „die Verwaltung nie in die Hände der Parteien gelegt werden“ dürfe.42 Schließlich blieb es dem so lange parlamentarisierungsfürchtigen Wiener Reichsrat nicht erspart, als „Provisorische Nationalversammlung“ den Übergang „Restösterreichs“ (im Sinne der deutschen Teile der untergegangenen Habsburgermonarchie) in eine parlamentarische Republik nicht nur vorzubereiten, sondern die Gründung des neuen Staats de facto zu vollziehen und dessen wichtigste Institutionen zu errichten. Damit wurden die mit einem Mandat aus dem Jahr 1911 ausgestatteten Parlamentarier nicht nur in die paradoxe Lage versetzt, das Reich, zu dessen Sachverwaltern sie bestellt worden waren, zu überwinden, sondern für eine Staatsform zu optieren, zu deren Verhinderung sie sich bis dahin mehrheitlich mit aller Entschiedenheit bekannt hatten.43

42 Zitate (Reihenfolge): Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck, in: ebd., 53. Sitz. d. XVIII. Session, 19.12.1907, S. 3677; Dr. v. Plener, ebd., 9. Sitz. d. IX. Session, 30.10.1879, S. 182; Dr. Dunajewski, ebd., 8. Sitz. d. IX. Session, 29.10.1879, S. 154. 43 Vgl. Walter Goldinger/Dieter A. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918– 1932, Wien 1992, S. 17 ff.

Martin Zückert

Die Repräsentation von Staat und Demokratie in der Ersten Tschechoslowakischen Republik Chancen und Grenzen ihrer Integrationskraft

Im Dezember 1918 berichtete Tomáš Garrigue Masaryk, der erste Präsident der gerade entstehenden Tschechoslowakei, von einem Vorkommnis, das sich im Sommer 1918 in den Vereinigten Staaten abgespielt haben soll. Nach der Entscheidung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, die Tschechoslowakische Legion1 in Russland zu unterstützen, sei ein amerikanischer General gefragt worden, was denn „Tschechoslowaken“ seien. Dieser habe daraufhin geantwortet, dass es sich hierbei um eine besondere Form der „Spanischen Influenza“ handeln würde. Mit dieser Anekdote versuchte der soeben nach Prag zurückgekehrte Masaryk zu verdeutlichen, dass die Etablierung des neuen Staates kein selbstverständlicher Vorgang sei. Der Umgang mit dem Staatsnamen legte Unsicherheiten offen, die weit über die symbolische Frage des Bekanntheitsgrades hinausgingen und die Notwendigkeit einer außenpolitischen Absicherung, vor allem aber eines funktionierenden Staatsaufbaus nach innen verdeutlichten. 2

1 Bei den tschechoslowakischen Legionen handelte es sich um Freiwilligenverbände, bestehend aus Überläufern, angeworbenen Kriegsgefangenen sowie im Ausland lebenden Tschechen und Slowaken. Diese Verbände wurden vor allem auf französischer, italienischer und russischer Seite im Ersten Weltkrieg gegen die Mittelmächte eingesetzt. Nach dem Ausbruch der Revolution in Russland waren Teile der dort befindlichen tschechoslowakischen Legionen in den Bürgerkrieg involviert. Viele der Betroffenen kamen schließlich erst in den Jahren 1919/20 in die Tschechoslowakei. Zur Geschichte der Tschechoslowakischen Legionen vgl. Karel Pichlík, Bohumír Klípa und Jitka Zabloudilová, Československé legie 1914–1920 [Die tschechoslowakischen Legionen 1914–1920], Praha 1996; immer noch lesenswert ist: Gerburg Thunig-Nittner, Die Tschechoslowakische Legion in Russland. Ihre Geschichte und Bedeutung bei der Entstehung der 1.Tschechoslowakischen Republik, Wiesbaden 1970; John Bradley, The Czechoslovak legion in Russia 1914–1920, New York 1991. 2 Archiv Ústavu T.G. Masaryka [Archiv des Masaryk-Instituts], Praha, Fond TGM/Rrepublika 1918–1937, Karton 427, Nr. 11. „Zpráva presidenta Republiky Ministerské radě“ [Bericht des Präsidenten der Republik an den Ministerrat] (23.12.1918), S. 7.

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Martin Zückert

Der politisch und militärisch umkämpfte Entstehungsprozess der Tschechoslowakei fand vor dem Hintergrund einer nationalen Staatsidee statt, die historische Deutungslinien mit ethnischen Konzepten und geografisch-strategischen Argumenten verband. Der konstruktive Charakter nationalstaatlicher Ideen enthielt im tschechoslowakischen Fall eine besondere Note, da mit der Zukunftsvision von der tschechoslowakischen Nation ein „synthetischer Nationsentwurf“ vorlag.3 Anders als zum Beispiel im Falle Polens ging der tschechoslowakische Staatsentwurf nach 1918 trotz seiner Bezugnahme auf die historischen böhmischen Länder aufgrund seiner ethnisch-nationalen Begründung und der propagierten Einheit von Tschechen und Slowaken als Staatsnation von etwas Neuem aus. Hinzu kam ein idealistischer politischer Überbau, der während des Ersten Weltkriegs im Exil vor allem von Masaryk und dem späteren Außenminister Edvard Beneš entwickelt worden war. Dieser Überbau war kein geschlossenes Konzept, sondern erfuhr mehrfache Veränderungen. Während zunächst – zum Beispiel in der Schrift „Independent Bohemia“ von 1915 – allein von einem tschechischen Nationskonzept ausgegangen und über eine Monarchie als Staatsform nachgedacht wurde, bestimmten in der zweiten Kriegshälfte die Idee der tschechoslowakischen Nation und die Propagierung der Demokratie die Arbeit der so genannten „Auslandsaktion“. Im Zentrum stand nun die Abgrenzung vom „Völkerkerker“ Österreich-Ungarn, der mit deutscher bzw. ungarischer Dominanz, dynastischen Strukturen und Militarismus in Verbindung gebracht wurde.4 Sich „entösterreichern“ wurde nach 1918 zum Schlagwort, das die starke Abgrenzung zum Vorgängerstaat verdeutlichen sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg standen die erwähnten Vorstellungen den Realitäten im neuen Staat gegenüber. Das beanspruchte Territorium legte die Frage, wie die Einheit von Tschechen und Slowaken umzusetzen sei, offen. Die Grenzziehung erforderte aber auch, Wege für den Umgang mit der Bevölkerung deutscher, magyarischer, polnischer und ruthenischer Nationalität zu entwickeln, die zusammen ein Drittel der Bevölkerung zählte. Offensichtlich waren zudem regionale, soziale und konfessionelle Disparitäten.

3 Hans Lemberg, Unvollendete Versuche nationaler Identitätsbildungen im 20. Jahrhundert im östlichen Europa: die „Tschechoslowaken“, die „Jugoslawen“, das „Sowjetvolk“, in: Helmut Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Frankfurt a.M. 1994, S. 581–607. 4 Karel Pichlík, Europa nach dem Krieg in den Vorstellungen T.G. Masaryks im Exil, in: Hans Mommsen u.a. (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die Beziehungen zwischen Tschechen, Slowaken und Deutschen, Essen 2001, S. 67–80.

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Die staatliche Integration war zugleich abhängig von der Durchsetzung des politischen Modells. Die Konzepte der von Masaryk geführten Auslandsaktion trafen auf die Vorstellungen und bereits vor 1914 eingeübten Praxen der etablierten tschechischen Parteien. Neben alten Eliten gab es auch eine aus gesellschaftlicher Destabilisierung, dem Zusammentreffen von Kriegsheimkehrern mit den Nachkriegsbedingungen sowie revolutionärem Gedankengut genährte Streikbewegung, bei der bis 1920 teilweise offen war, ob sie nicht in eine politische Umsturzbewegung umschlägt.5 Unmittelbare Voraussetzung für die Etablierung des neuen Staates war die flächendeckende Durchsetzung staatlicher Strukturen und ihrer Akzeptanz in der Bevölkerung. Wenn die staatsintegrative Wirkkraft der neu entstandenen Tschechoslowakei analysiert werden soll, ist es notwendig, neben der praktischen Dimension der Herrschaftsdurchsetzung auch nach der Bedeutung von Repräsentationsformen dieser Herrschaft und der Darstellung von politischen Aushandlungsprozessen zu fragen. Repräsentation verstanden als Darstellung und symbolische Durchsetzung eines Ordnungskonzeptes, das für ein propagiertes Ganzes steht, ist zunächst einmal Herrschaftspraxis, die vor allem institutionell vermittelt wird. Zugleich geht es um die Etablierung von Repräsentationsverfahren und die Interaktion von Repräsentation und Repräsentierten, die in der Umsetzung Veränderungen unterliegen kann. Damit stellt sich auch die Frage nach der Akzeptanz des Modells durch die Repräsentierten. Betrachtet man die skizzierten Ausgangsbedingungen des neuen Staates, stellt sich die Frage nach Formen und Funktionen von Repräsentation in der Tschechoslowakei nach 1918 auf mehreren Ebenen. Generell standen die europäischen Staaten nach dem tiefen Einschnitt des Ersten Weltkriegs vor der schwierigen Aufgabe, „öffentliche Autorität und private Identität nach der Entfesselung bis dahin ungekannter Zerstörungsgewalt wieder in Einklang zu bringen“.6 Die Erfahrungen des Weltkrieges hatten dabei nicht allein durch die Mobilisierung der Massen zu veränderten Formen der politischen Interessenspräsentation geführt. Gerade in der Habsburgermonarchie führte der 5

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Zur Etablierungsphase vgl. Hans Lemberg, Die Tschechoslowakei im Jahr 1. Staatsaufbau, die Liquidierung der Revolution und die Alternativen, in: Ders./Peter Heumos (Hg.), Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa, München 1993, S. 225–248; vgl. hierzu auch Martin Zückert, National Concepts of Freedom and Government Pacification Policies: The Case of Czechoslovakia in the Transitional Period after 1918, in: Contemporary European History 17, 3 (2008), S. 325–344. So Bernd Weisbrod, Die Politik der Repräsentation. Das Erbe des Ersten Weltkrieges und der Formwandel der Politik in Europa, in: Hans Mommsen (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung, Köln 2000, S. 13–41, hier S. 13.

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Krieg schlussendlich auch zu einer Legitimationskrise staatlicher Repräsentation und damit zum Verlust gesellschaftlicher Bindekraft. Ähnlich wie die anderen neu entstandenen Nachfolgestaaten konnte die Erste Tschechoslowakische Republik sich als eine aus dem Krieg entstandene Gründung aktiv vom Vorgängerstaat absetzen und allein schon dadurch Legitimität beanspruchen. Die Ereignisse des Ersten Weltkrieges, die zur Staatsgründung geführt hatten, konnten zudem als Gründungsphase gedeutet und symbolisch genutzt werden, auch wenn die primär ethnisch-nationale Umsetzung der Kriegsdeutung in der Erinnerungskultur aus gesamtstaatlicher Sicht eher integrationshemmend wirkte.7 Zugleich stand die Tschechoslowakei vor der Schwierigkeit, ihren demokratischen Anspruch auch durch die symbolische Repräsentation von politischen Abläufen umzusetzen. Der Vorteil, sich von einem vielfach delegitimierten Vorgängerstaat absetzen zu können, traf mit dem Problem zusammen, in einer Demokratie eingängige Symboliken herauszubilden.8 Es stellt sich somit etwa auch die Frage nach der Wirkkraft eines Staatsoberhauptes in einer postmonarchischen Epoche.9 Im vorliegenden Fall ist es deswegen für die Analyse demokratischer Repräsentation auch notwendig, „die vordemokratischen Voraussetzungen der Demokratie zu erhellen“.10 Sowohl der Staat in seiner territorialen und gesellschaftlichen Zusammensetzung als auch die Staatsform waren neu und nicht etabliert. In einem ersten Schritt wird deswegen im Folgenden zwischen der Repräsentation der Staatsidee und der Repräsentation des politischen Modells unterschieden. Auch wenn beide Bereiche dem Politischen zuzuordnen sind, ist diese zunächst künstlich wirkende Aufteilung aus zwei Gründen für die weitere Betrachtung sinnvoll. Zum einen können die im Bezug zueinander stehenden Ebenen so besser analytisch gefasst werden. Zum anderen ist die Trennung für die weitere Entwicklung der Tschechoslowakei und der Frage nach dem Nationsent7 Martin Zückert, Memory of War and National State Integration: Czech and German Veterans in Czechoslovakia after 1918, in: Central Europe 4/2 (2006), S. 111–121. 8 Zum Problem der Repräsentation von Demokratie allgemein vgl. Hans Vorländer, Demokratie und Ästhetik. Zur Rehabilitierung eines problematischen Zusammenhangs, in: Ders. (Hg.), Zur Ästhetik der Demokratie. Formen der politischen Selbstdarstellung, Stuttgart 2003, S. 11–26. 9 Zur Rolle der Staatsoberhäupter in Polen und der Tschechoslowakei nach 1918 in vergleichender Perspektive: Jörg K. Hoensch, Masaryk und Piłsudski. Gemeinsamkeiten und Gegensätze, in: Peter Heumos (Hg.), Polen und die böhmischen Länder, München 1997, S. 111–127. 10 Philip Manow, Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, in: Leviathan 34, 2 (2006), S.149–181, hier S. 177.

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wurf und der Staatsform nicht unwichtig, da die Frage nach der Staatsidee und dem politischen Modell während der Zwischenkriegszeit, wenn auch in unterschiedlichem Maße, relevant blieb. In einem zweiten Schritt werden die Rolle des langjährigen Präsidenten Tomáš Masaryk, die Entwicklung der parlamentarischen Repräsentation sowie das Agieren der Armee als staatlicher Institution analysiert und dabei die Felder staatliche und politische Repräsentation wieder zusammengeführt. In der Geschichtsschreibung über die Erste Tschechoslowakische Republik standen lange Zeit kritische Studien zur staatlichen Nationalitätenpolitik im Zentrum, die zudem sehr stark auf einen tschechisch-deutschen Gegensatz fokussierten.11 In den letzten Jahren folgten Publikationen, die nationalitätenpolitische Aspekte in einen größeren Kontext stellten und zunehmend nach der Integrationskraft des tschechoslowakischen Staatsmodells fragten.12 Die zuletzt erschienenen Darstellungen wiederum richten ihren Blick auf politische Abläufe und Strukturen und hinterfragen die Bindekraft des praktizierten Demokratiemodells.13 Bei einer Untersuchung der Repräsentationskultur der Ersten Tschechoslowakischen Republik bietet es sich an, die benannten Problemfelder aufzugreifen und nach der Integrationskraft eines neu konstituierten Staates in einer multikonfessionell und polyethnisch geprägten Gesellschaft zu fragen.

1.  Zur Repräsentation der Staatsidee „Heute gilt: gar kein Vogel in der Hand ist noch immer besser als ein Doppeladler auf dem Dach.“14 Der Schriftsteller Alfred Polgar beschrieb mit diesem Bonmot die antihabsburgische Atmosphäre nach der Auflösung der österrei11 Klassisch ist die insgesamt ausgewogene Darstellung von Johann Wolfgang Brügel, Tschechen und Deutsche 1918–1938, München 1967. 12 Jaroslav Kučera, Minderheit im Nationalstaat. Die Sprachenfrage in den tschechischdeutschen Beziehungen 1918–1938, München 1999; Miroslav Němec, Erziehung zum Staatsbürger? Deutsche Sekundarschulen in der Tschechoslowakei 1918–1938, Essen 2010; Martin Zückert, Zwischen Nationsidee und staatlicher Realität. Die tschechoslowakische Armee und ihre Nationalitätenpolitik 1918–1938, München 2006. 13 Peter Bugge, Czech Democracy 1918–1938. Paragon or Parody?, in: Bohemia 47 (2006/07), S. 3–28; Andrea Orzoff, Battle for the Castle. Thy Myth of Czechoslovakia in Europe, 1914–1948, Oxford 2009; Jan Dobeš, Die Rolle des Parlaments in den Transformationsprozessen der tschechoslowakischen Geschichte, in: Bohemia 47 (2006/07), S. 329-347. 14 Alfred Polgar, Hinterland, Berlin 1929, S. 111.

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chisch-ungarischen Doppelmonarchie. Wie in den meisten anderen Nachfolgestaaten kam es auch in den böhmischen Ländern unter dem Einfluss eines nationalrevolutionären Impetus zur Umcodierung öffentlicher Räume, der zur Beseitigung von Schildern und Abzeichen der ehemaligen Monarchie, zum Überstreichen von deutschsprachigen Straßennamen und zum Umstürzen zahlreicher Denkmäler führte.15 Der als „převrat“ (Umsturz) bezeichnete Vorgang im Herbst 1918, dem sich eine Übergangsphase bis zur Verabschiedung der Verfassung und der formalen Absicherung des beanspruchten Territoriums durch internationale Verträge bis Mitte 1920 anschloss, verlief jedoch zumindest in der westlichen Landeshälfte überwiegend friedlich und in geordneten Bahnen. Das vom revolutionären Nationalausschuss beschlossene Rezeptionsgesetz sorgte dafür, dass bisher gültige gesetzliche Regelungen und Verordnungen bis auf weiteres in Kraft blieben. In der Administration kam es im Vergleich mit anderen Nachkriegsgesellschaften zunächst nur zu einem moderaten Elitenwechsel. Der Staat, seine Einrichtungen und die von ihm etablierte Infrastruktur blieben weitgehend intakt. Die neue Republik übernahm somit nicht allein die Souveränität, sondern auch die Strukturen des Vorgängerstaates und war durch Staatsangestellte und das Handeln der Ministerien und staatlichen Einrichtungen in den Städten und Dörfern präsent.16 Die gewachsenen Strukturen innerhalb der historischen Einheit der böhmischen Länder erhöhten zusammen mit den institutionellen Kontinuitäten die Akzeptanz des neuen Staates bei der Bevölkerung. Konkurrierende Ordnungsversuche in den mehrheitlich deutsch besiedelten Grenzregionen, die darauf zielten, regionale Gebietskörperschaften wie „Deutschböhmen“ oder „Sudetenland“ zu etablieren und diese an Österreich bzw. Deutschland anzuschließen, blieben erfolglos. Neben fehlenden strukturellen Grundlagen dieser Konkurrenzgründungen, verbreiteter Kriegsmüdigkeit sowie der fehlenden internationalen Unterstützung war es an vielen Orten die Angewiesenheit auf die bestehenden Strukturen, um die Sicherheit und Versorgung der Bevölke15 Vgl. Jiří Pokorný, Der Umsturz als Feier. Die ersten Tage der Tschechoslowakischen Republik, in: Rudolf Jaworski/Peter Stachel (Hg.), Die Besetzung des öffentlichen Raumes: politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich, Berlin 2007, S. 345–352. 16 Vgl. hierzu zuletzt Ivan Šedivý, K otázce kontinuity nositelů státní moci: jmenování vedoucích úředníků v kompetenci ministerstva vnitra v letech 1918–1921 [Zur Frage der Kontinuität bei den Trägern der Staatsmacht: Die Ernennung der führenden Beamten in der Kompetenz des Innenministeriums in den Jahren 1918-1921], in: Jan Hájek u.a., Moc, vliv a autorita v procesu vzniku a utváření meziválečné ČSR (1918–1921) [Macht, Einfluss und Autorität im Entstehungsprozess und Bildung der Zwischenkriegszeit-Tschechoslowakei (1918–1921)], Praha 2008, S. 184–197.

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rung gewährleisten zu können. Ereignisse wie das vom 4. März 1919, als es in mehreren Städten der mehrheitlich deutsch besiedelten Grenzregionen zu Demonstrationen und an einigen Orten zu Auseinandersetzungen mit verunsicherten Militärassistenzen kam, belasteten das Verhältnis zwischen der deutschen Bevölkerung und dem tschechoslowakischen Staat, stellten jedoch die Integration der böhmischen Länder schlussendlich nicht in Frage.17 Auch die Streikbewegungen sowie das Unruhepotential der zurückkehrenden Legionäre der aus Freiwilligen und angeworbenen Kriegsgefangenen zusammengesetzten tschechoslowakischen Auslandsarmee, sorgten in der Nachkriegszeit für innenpolitische Belastungen, die jedoch durch sozialpolitische Grundsatzentscheidungen entschärft werden konnten. Schwieriger gestaltete sich dagegen die Integration der Slowakei sowie der Karpato-Ukraine in den Gesamtstaat. In beiden Regionen gab es Befürworter der neuen Staatsidee, die jedoch weder auf historische Vorläufer bauen konnte noch in der breiten Bevölkerung verankert war. Die konkurrierenden tschechoslowakischen und ungarischen Ansprüche führten zu einer militärischen Auseinandersetzung und zu anhaltenden Schwierigkeiten in der Verwaltung. In der Karpato-Ukraine existierte bis zu Beginn der zwanziger Jahre sogar eine Art Militärverwaltung.18 Grundlegend für eine Analyse der staatlichen Repräsentationskultur in der Tschechoslowakei ist es, die erwähnten regionalen Unterschiede zu berücksichtigen. In der westlichen Landeshälfte stellte die historische Landeseinheit mit ihren weiterhin funktionierenden Strukturen einen wichtigen Orientierungskern für die Bevölkerung dar. Die soziale und nationale Vielfalt spiegelte sich in einer ausdifferenzierten Parteienlandschaft sowie zahlreichen Vereinen und Verbänden. Das Verhältnis zwischen dem Staat und den ethnischen Gruppen der böhmischen Länder war nach 1918 etwas qualitativ Neues und wurde dennoch von Vielen als Fortsetzung des deutsch-tschechischen Gegensatzes aus Monarchiezeiten wahrgenommen. Die Slowakei und die KarpatoUkraine mussten hingegen als politische Einheiten erst etabliert werden. Die infrastrukturell auf Ungarn ausgerichtete Region war wenig industrialisiert; politische Interessensvertretungen mussten sich nach 1918 erst re-etablieren.19 17 Zum 4. März 1919 vgl. Karl Braun, Der 4. März 1919. Zur Herausbildung sudetendeutscher Identität, in: Bohemia 37 (1996), S. 353–380. 18 Marián Hronský, Boj o Slovensko a Trianon 1918-1920 [Der Kampf um die Slowakei und Trianion], Bratislava 1998; Peter Švorc, Zakliata krajina. Podkarpatská Rus 1918–1946 [Verwunschenes Land. Karpatenrussland 1918–1946], Prešov 1996, S. 40. 19 Ismo Nurmi, Slovakia. A Playground for Nationalism and National Identity 1918– 1920, Helsinki 1999.

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Eine historische Bezugnahme, die das „Neue“ als Ganzes repräsentiert hätte, war kaum möglich, da es eine gemeinsame staatliche Tradition der ehemaligen Länder der böhmischen Krone und des ehemaligen Oberungarns als Teil des Königreichs Ungarn nicht gab. Rückprojektionen zum Beispiel auf das Großmährische Reich wurden zwar zum Teil vorgenommen, erzeugten jedoch keine eindeutige Bindekraft. Die gewählte staatliche Symbolik war somit meist eine Komposition aus den einzelnen Teilen. Wappen und weitere Staatssymbole wurden aus historischen, zum Teil variierten Wappen der Teilregionen zusammengesetzt. Die staatliche Hymne bestand aus zwei Teilen: auf die tschechische Strophe „Kde domov můj“ (Wo ist mein Heimatland) folgte für die östliche Landeshälfte „Nad Tatrou sa blýska“ (Über der Tatra blitzt es). Auch Darstellungen über die Tschechoslowakei in Schulbüchern oder offiziellen Publikationen bestanden meist aus Aneinanderreihungen: Auf national gedeutete Überblicke zu Geschichte und Geografie der böhmischen Länder folgte in der Regel als Appendix eine Darstellung der Slowakei und in noch geringerem Ausmaß der Karpato-Ukraine.20 National gedeutete Traditionslinien, die notwendig waren, um Teilen der tschechischen Gesellschaft den nationalstaatlichen Gründungsimpetus sichtbar zu machen, bargen für die Repräsentation des Gesamtstaates zum Teil eher Konfliktpotential. Die Propagierung des böhmischen Reformators Jan Hus sowie der Hussiten als rückprojizierte Repräsentanten der Nationalgeschichte war bereits in Teilen des katholisch geprägten Mährens ein schwieriges Unterfangen und scheiterte erst recht in den ländlichen Regionen der Slowakei.21 Nach einer konflikthaften Frühphase gingen der tschechoslowakische Staat und die katholische Kirche seit der Mitte der 1920er Jahre stärker aufeinander zu. Ein erster Höhepunkt dieser Annäherung waren die Feiern zum Wenzelsjubiläum im Jahr 1929, die mit Blick auf die staatliche Repräsentationskultur noch eingehender untersucht werden müssten.22

20 Mary Heimann, Czechoslovakia. The State that failed, New Haven 2009, S. 69. 21 Ľubomír Lipták, Armáda a mestská spoločnosť na Slovensku v medzivojnovom období (náčrt problematiky) [Armee und städtische Gesellschaft in der Slowakei in der Zwischenkriegszeit (Skizze der Problematik)], in: Vojenská história 3, 3 (1999), S. 3–19, hier S. 10 u. 15 f. 22 Vgl. hierzu Petr Placák, Svatováclavské milénium: Češi, Němci a Slováci v roce 1929 [Das Millennium des heiligen Wenzel: Tschechen, Deutsche und Slowaken im Jahr 1929], Praha 2002; zum Staat-Kirchen-Verhältnis allgemein vgl. Pavel Marek, Das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen, in: Martin Schulze Wessel/Martin Zückert, Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder und Tschechiens im 20. Jahrhundert, München 2009, S. 3–46.

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Neben einem Konglomerat an kulturellen und historischen Versatzstücken war somit eine Idee notwendig, die die Entstehung des neuen Staates begründen und repräsentieren konnte. Auch wenn die Ausgangsbedingungen sehr unterschiedlich gelagert waren, wurde die Vorstellung von der Unterdrückung der Tschechen und Slowaken in den beiden Reichshälften der Habsburgermonarchie zum gemeinsamen Bezugspunkt, ihre Überwindung durch den als tschechoslowakischen Befreiungskampf gedeuteten Ersten Weltkrieg zu einem wichtigen Zielpunkt der Staatskonzeption. Neben der politischen Auslandsaktion um Masaryk rückten dadurch die Legionäre als militärischer Arm der Auslandsaktion in die Rolle als Trägergruppe der tschechoslowakischen Idee. Die sozial- und symbolpolitisch geglückte Integration der je nach Zählart bis etwa 100.000 Angehörige umfassenden Gruppe war eine der großen Leistungen der jungen Republik.23 Auch wenn sich unter den Legionären Fraktionen ausbildeten und politische Gegensätze sichtbar wurden, gelang es, die breite Masse der Legionäre, die während des Krieges in eigenen Verbänden auf Seiten der Entente und in großer Zahl in Russland gekämpft hatten, für den Staatsgedanken zu gewinnen. Trotz der hohen Zahl an Tschechen und geringen Zahl an Slowaken, repräsentierten die Legionäre dennoch in hohem Maße die gemeinsame Idee von Tschechen und Slowaken und wurden entsprechend eingesetzt. Der zeitweilige Verteidigungsminister Otakar Husák bezeichnete sie sogar als „sůl národa“ (Salz der Nation).24 Bei zahlreichen offiziellen Anlässen übernahmen Legionäre – in ihren Uniformen repräsentierend – die Burgwache. Ihre Geschichte wurde museal aufbereitet und in Denkmälern versinnbildlicht. Ein Zug, der mit zahlreichen Haltepunkten die gesamte Republik durchfuhr, brachte im Jahr 1922 die sterblichen Überreste eines gefallenen Legionärs von der Ostgrenze nach Prag zum Denkmal des unbekannten Soldaten. Gefallen war er 1917 in Zborów, wo erstmals eine Legionärseinheit mit einem Vorstoß gegen österreichisch-ungarische Truppen für Aufsehen gesorgt hatte.25 In den zwanziger Jahren waren

23 Ivan Šedivý, Legionářská republika? K  systému legionářského zákonodárství a sociální péče v meziválečné ČSR [Legionärsrepublik? Zum System der Legionärsgesetzgebung und sozialen Fürsorge in der ČSR der Zwischenkriegszeit], in: Historie a vojenství 51, 1, (2002), S. 158–184; Natali Stegmann: Soldaten und Bürger. Selbstbilder tschechoslowakischer Legionäre in der Ersten Republik, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 61 (2002), S. 25–48. 24 Zitiert nach Zückert, Nationsidee, S. 85. 25 Zur Erinnerungskultur der tschechoslowakischen Legionäre vgl. Jan Galandauer, 2.7.1917. Bitva u Zborova. Česká legenda [2.7.1917. Die Schlacht bei Zborów. Eine tschechische Legende], Praha 2002.

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etwa 20.000 ehemalige Legionäre als Staatsangestellte tätig und verkörperten somit auch im Alltag die Staatsidee.26 Wenn der Erste Weltkrieg in offiziellen Darstellungen als tschechoslowakischer Unabhängigkeitskrieg gegen Österreich-Ungarn interpretiert wurde – und diese Deutung verkörperten zuallererst die Legionäre –, dann blieb zunächst nur wenig Raum für Konzepte, die Bezüge zum Territorium und seiner polyethnischen Bevölkerung herstellten. Die starke ideelle Abgrenzung vom Vorgängerstaat erhöhte wiederum den Stellenwert der tschechoslowakischen Staatsidee und machte auch klare politische Abgrenzungen zur Habsburgermonarchie notwendig.

2.  Zur politischen Repräsentation Das Gegenkonzept zur Habsburgerherrschaft versprach die Vorstellung nationaler Unterdrückung durch die Verwirklichung nationaler Staatlichkeit und ein als monarchisch, militaristisch und verkrustet wahrgenommenes System durch demokratische Ideale zu ersetzen. Sie verband somit Nationsvorstellungen mit Partizipationsverheißungen. Die konkrete Ausgestaltung demokratischen Handelns blieb freilich unklar. Wenn führende Vertreter des Staates von Demokratie sprachen, verbanden sie dies meist mit Überlegungen zu engagiertem Handeln, moralischen Ansprüchen und der Verantwortlichkeit von Regierenden für Regierte. Fragen des Verfahrens und des Zusammenspiels von Repräsentation und Repräsentierten blieben dabei meist unberücksichtigt. Wenn die Verfassung wiederum auf die „tschechoslowakische Nation“ verwies, war dies zunächst ein politischer Begriff, der jedoch in der Umsetzung eine starke ethnische Komponente hatte.27 Der tschechoslowakische Gegenentwurf zum Vorgängerstaat basierte auf der nationalstaatlichen Vereinigung von Tschechen und Slowaken und einem demokratischen Staatskonzept in Anlehnung an das französische Modell. Die Nationalstaatsidee schloss andere ethnische Gruppen nicht von vornherein aus, ließ aber ihre Integration offen; das Partizipationsversprechen wiederum ließ für die Angehörigen der propagierten tschechoslowakischen Staatsnation Raum zwischen politischer und nationaler Integration. 26 Orzoff, Battle, S. 85. 27 Jaroslav Kučera, Politický čí přirozený národ? K  pojetí národa v československém právním řádu meziválečného období [Politische oder natürliche Nation? Zur Auffassung der Nation in der tschechoslowakischen Rechtsordnung der Zwischenkriegszeit], in: Český Časopis historický 99 (2001), S. 548–568.

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Die Verfassung selbst war unter schwierigen Bedingungen diskutiert und verabschiedet worden: Für die Revolutionäre Nationalversammlung waren Vertreter tschechischer Parteien gemäß den Ergebnissen der österreichischen Reichsratsergebnisse von 1911 bestimmt worden. Vertreter deutschböhmischer Parteien wurden schlussendlich nicht zugelassen. Aufgrund der unklaren politischen Lage in der Slowakei wurden für diesen Landesteil 40 Vertreter ohne Wahl kooptiert. Die magyarische Bevölkerung blieb genauso ohne Vertreter wie die Bevölkerung der Karpato-Ukraine, deren Integration zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht endgültig beschlossen war. Nach der Zustimmung durch die Revolutionäre Nationalversammlung im Februar 1920 fand keine Bestätigung der Verfassung durch die Bevölkerung mehr statt.28 Die Akzeptanz des Staatsmodells konnte somit erst durch die politische Praxis erprobt werden. Was diese Ausgangsbedingungen für die Repräsentation der Tschechoslowakei bedeutete, soll im Folgenden am Beispiel des Präsidenten, des Parlaments sowie der Armee gezeigt werden.

2.1.  Der Präsident – eine politische Integrationsfigur? Als die Tschechoslowakei am 21. September 1937 mit einem Trauerzug von ihrem eine Woche zuvor verstorbenen ersten Präsidenten Abschied nahm, säumten Hunderttausende die Prager Straßen. Sechs Soldaten als Vertreter der nationalen Gruppen des Landes begleiteten den Sarg von der Burg zum Wilson-Bahnhof, von wo aus ein Zug den Sarg zum Begräbnisort nach Lány brachte. Mit T. G. Masaryk wurde ein Mann zu Grabe getragen, der als Garant der tschechoslowakischen Unabhängigkeit, der demokratischen Staatsform und des sozialen Ausgleichs galt. Bereits zu Lebzeiten offiziell als „President – osvoboditel“ (Präsident-Befreier) und in Teilen der Bevölkerung als „Tatiček“ (Väterchen) bezeichnet, stand er für das internationale Ansehen des Staates und seine Kontinuität jenseits alltagspolitischer Auseinandersetzungen.29 Dass seine Rolle im Staat weit über das formal festgelegte Staatsamt hinausging, lag zum einen in seiner Person und ihrem Werdegang bis 1918 begründet, resultierte aber auch aus der individuellen Ausgestaltung seiner Rolle. Formal war die Tschechoslowakei eine parlamentarische Demokratie 28 Bugge, Czech Democracy, S. 9. 29 Wolfgang Schwarz, Das Staatsbegräbnis T.G. Masaryks, in: Elisabeth Fendel (Hg.), Das Gedächtnis der Orte. Sinnstiftung und Erinnerung, Freiburg 2006, S. 239–260.

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mit einem schwachen Präsidenten; in der Realität entwickelte sie sich zu einer Präsidialdemokratie. Mit der „Burg“ wurde in der ersten Republik nicht nur der Amtssitz des Präsidenten auf dem Hradschin, sondern auch ein informeller Zirkel um den Präsidenten bezeichnet, der im vorparlamentarischen Raum Entscheidungen vorbereitete.30 In Abgrenzung zur militaristisch verstandenen Habsburgermonarchie erklärte sich die Tschechoslowakei 1920 zum „antimilitaristischen Staat“31. Zugleich interpretierte Masaryk seine Rolle als Oberbefehlshaber des Heeres sehr umfassend, besuchte regelmäßig Armeeverbände und trat häufig in Uniform oder uniformähnlicher Kleidung auf.32 Dies kann primär als Bezugnahme auf die staatliche Entstehungsgeschichte und die Rolle der Legionärsverbände verstanden werden, symbolisierte aber darüber hinaus auch das Selbstverständnis des Präsidenten und seiner Bewertung des Militärsektors. Mehrere staatliche Stellen sorgten sich darum, Masaryk als obersten Repräsentanten des Staates zu propagieren. Kostenfrei wurden Büsten, Broschüren und Fotografien des Präsidenten an Schulen, Postämter und Staatsgebäude verteilt.33 Eine Broschüre zur staatsbürgerlichen Erziehung junger Wehrpflichtiger beschrieb seinen Lebensweg: „T.G. Masaryk wurde am 7. März 1850 in Göding als Sohn eines Herrschaftskutschers, eines südmährischen Slowaken geboren. Der Umstand, daß seine Mutter deutsch erzogen war, vereinigte in seinem Wesen Nationaleigenschaften beider Völker zu einem harmonischen Charakter.“34

Derartige Aussagen konnten als Integrationsangebot an eine polyethnische Gesellschaft aufgefasst werden. Sie wiesen dem Präsidenten jedoch zugleich eine Rolle zu, die über das demokratisch legitimierte Amt hinausging. Nicht selten wurde Masaryk deswegen die Funktion eines „Ersatzkaisers“ zugewiesen, der jenseits des Politischen als staatliche Integrationsfigur diente und das Herrschaftsvakuum einer postmonarchischen Zeitphase symbolisch füllte. Dass etwa 300 Zivilisten in der karpato-ukrainischen Stadt Michalovice im Jahr 1923 die Feier zum Geburtstag des Präsidenten besuchten, wurde ebenso als eine die polyethnische Gesellschaft stabilisierende Entwicklung gedeutet wie 30 Bugge, Czech Democracy, S. 20 f. 31 František Mašlaň, O mírových snahách presidenta Masaryka [Über die Friedensbestrebungen des Präsidenten Masaryk], Praha 1923, S. 30. 32 Hoensch, Masaryk, S. 114. 33 Heimann, Czechoslovakia, S. 67. 34 Gustav Jausen, Was soll ich wissen. Ein Handbuch für čs. Soldaten deutscher Nationalität, Praha 1927, S. 177.

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die Ausrichtung von Veranstaltungen zum Präsidentengeburtstag durch aktivistische, also staatsbejahende deutsche Verbände in den nationalpolitisch gespannten dreißiger Jahren.35 Betont wurde in solchen Feiern jedoch eher der Bezug zwischen der Integrationsfigur des Präsidenten und Teilen der Bevölkerung als die Kohäsionskraft einer komplexen Gesamtgesellschaft. Dass und in welcher Form zahlreiche Petitionen von Bürgern an den Präsidenten gerichtet wurden, spricht eher für das vormoderne Politikverständnis von Teilen der Bevölkerung als für ein Vertrauen in die Legalität demokratischer Verfahren.36 In diesem Zusammenhang könnte es sich auch lohnen, die Inszenierung und den Ablauf von Präsidentenreisen innerhalb der Tschechoslowakei zu analysieren.37 Ursprünglich als Außenseiter der tschechischen Nationalbewegung gestartet, wurde Masaryk aufgrund seiner politischen Leistungen, seiner internationalen Bekanntheit und seiner Grundsätze, die sich etwa in seiner Kritik an antisemitischen Ausschreitungen oder nationalistischen Extrempositionen gegen Ende des 19.  Jahrhunderts manifestierten, zu einer zentralen Integrationsfigur des Staates. Durch die Ausübung seiner Rolle leistete er viel für die Etablierung rechtsstaatlicher Verhältnisse in einer freien Gesellschaft. Sein steuerndes Eingreifen in politische Prozesse und sein eigenes paternalistisches Agieren machten ihn allerdings eher zum über den Dingen stehenden Repräsentanten als zur Symbolfigur politischer Aushandlungsprozesse.

2.2.  Das Parlament – Ort demokratischer Repräsentation? Mit Blick auf die politischen Verhältnisse im Europa der Zwischenkriegszeit wurde die Erste Tschechoslowakische Republik bereits von Zeitgenossen als „Insel der Demokratie“ bezeichnet. Kritische Analysen verweisen einschränkend darauf, dass die politischen Abläufe in dieser Demokratie problematisch waren. Der Trend ging früh zu einer Expansion der Exekutive zuungunsten der Legislative; der Einfluss vorparlamentarischer Gruppen wie der bereits erwähnten „Burg“ sowie der „Pětka“ (Fünferausschuss), dem Zusammenschluss von Vertretern der fünf wichtigsten tschechischen Parteien, schränkten den Stellenwert der parlamentarischen Arbeit ein. Nach Jan Dobeš hatte das Parla35 Kulturní práce vojska na východě republiky [Kulturarbeit des Heeres im Osten der Republik], in: Bratrství (1922/23), Nr. 31 vom 24.5.1923. 36 Bugge, Czech Democracy, S. 22. 37 So etwa am Beispiel einer Reise von Masaryks Nachfolger Edvard Beneš im Jahr 1937: Der Präsident in Südböhmen. Kundgebungen des Präsidenten der Republik Dr. Edv. Benes anläßlich seiner Reise nach Südböhmen am 6.–8. Mai 1937, Prag 1937.

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ment deswegen nur eine Funktion als „Ornament der demokratischen Ordnung“.38 Dieser Kritik ist weitgehend zuzustimmen. Nichtsdestotrotz kam dem Parlament als Ort politischer Repräsentation ein hoher Stellenwert zu. In der westlichen Landeshälfte, den böhmischen Ländern, blieb das ausdifferenzierte Parteiensystem aus der Zeit vor 1914 erhalten. Sowohl innerhalb der tschechischen als auch der deutschen Teilgesellschaft hatte sich jeweils ein breites Parteienspektrum etabliert, das zugleich die „Versäulung“ der Gesellschaft ausdrückte – hinter der Sympathie mit einer Partei stand häufig die Mitgliedschaft in entsprechenden Vereinen und Verbänden, die Lektüre parteinaher Zeitungen oder die Nähe zu bestimmten Banken. Auch wenn die nationalitätenpolitischen Zuspitzungen die Parlamentsarbeit teilweise entwerteten und zu Beginn der zwanziger Jahre zunächst zu einer gemeinsamen defensiven Rolle deutscher Parteien im tschechoslowakischen Parlament (analog zum Verhalten tschechischer Parteien im Wiener Reichsrat vor 1914) führten, bot die Legislative doch einen gewissen Spielraum. Sie machte eine komplexe Gesellschaftsstruktur sichtbar und bot durch Abstimmungsverhalten und aus dem Parlament heraus gebildeten Regierungen die Option, Kooperationen jenseits bestehender Abgrenzungen einzuführen. Der Regierungseintritt des „Bundes der Landwirte“ und der „Christlichsozialen Partei“ im Jahr 1926 darf deswegen nicht allein als nationalitätenpolitischer Durchbruch in Form der Regierungsbeteiligung deutscher Parteien gedeutet werden. Er verbreitete darüber hinaus vor allem das Signal, dass innerhalb eines komplexen Ganzen unterschiedliche Interessensverbindungen möglich waren. In diesem Fall handelte es sich um die erstmalige Etablierung einer konservativen Koalition, die die führenden linken tschechischen Parteien in die Opposition zwang.39 Die Konstellation, dass ein mehrfach „versäultes“ Parteienspektrum eine polyethnische, konfessionell und regional differenzierte Gesellschaft repräsentierte, war in Krisenzeiten anfällig. Sie erfuhr eine entscheidende Schwächung durch die Etablierung der Slowakischen Volkspartei als regionalistische Gruppierung und vor allem den Anspruch der „Sudetendeutschen Partei“, seit Mitte der dreißiger Jahre die deutsche Bevölkerung als Ganzes zu vertreten.40 38 Dobeš, Rolle, S. 333. 39 Václav Kural, Die Tschechoslowakei als Nationalstaat? Das sudetendeutsche Problem, in: Jörg K. Hoensch/Dušan Kovač (Hg.), Das Scheitern der Verständigung. Tschechen, Deutsche und Slowaken in der Ersten Republik 1918–1938, Essen 1994, S. 63–70, hier S. 65. 40 Zur Sudetendeutschen Partei vgl. Volker Zimmermann, Die Sudetendeutschen im NSStaat. Politik und Stimmung der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland (1938–1945),

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Nicht unwichtig ist in diesem Zusammenhang der Blick in die so genannte Zweite Tschecho-Slowakische Republik, also in die Zeit nach dem Münchener Abkommen. In raschem Tempo kam es im Herbst 1938 zur Reduzierung der tschechischen Parteienvielfalt. Die Gesellschaft sollte nun durch die „Partei der nationalen Einheit“ und als Oppositionsgruppierung durch die „Nationale Partei der Arbeit“ vertreten werden.41 So unterschiedlich die Gründe für die Reduktion des Parteienspektrums im slowakischen, sudetendeutschen und tschechischen Fall in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre auch waren, ist diese Entwicklung doch Ausdruck fehlenden Vertrauens in die Repräsentation gesellschaftlicher Vielfalt auf parlamentarischer Ebene gewesen. Auslöser dieser Vereinigungstendenzen waren äußere Faktoren. Der rasche Ablauf ist jedoch darauf zurückzuführen, dass sich diese Form, Vielfalt politisch zu repräsentieren, nicht etabliert hatte.

2.3.  Die Armee – Repräsentation staatlicher Integration? Abschließend soll noch kurz die Armee als staatliche Großinstitution betrachtet werden. Ihr wurde über die Kernaufgabe der Landesverteidigung hinaus häufig eine integrative Rolle als „Schule der Nation“ zugewiesen. Daraus folgte zugleich die Aufgabe, eine komplexe Gesellschaft innerhalb der Armee wie gegenüber der Bevölkerung zu repräsentieren. Der gesellschaftliche Gegensatz zwischen den Legionären und großen Teilen der Gesellschaft, die den Ersten Weltkrieg mehr oder weniger auf Seiten der Habsburgermonarchie erlebt hatten, wurde im Offizierskorps virulent. Da der Staat offiziell auf den Legionärskult setzte, zugleich aber auf die Fachkompetenz ehemaliger K. u. k.-Offiziere angewiesen war, blieb dieser Konflikt bis in die dreißiger Jahre spürbar, auch wenn er sich mit der Zeit abschliff.42

Essen 1999, S. 42–57; Martin Zückert, Vom Aktivismus zur Staatsnegation? Die Sudetendeutschen zwischen Staatsakzeptanz, regional-nationalistischer Bewegung und dem nationalsozialistischen Deutschland, in: Peter Haslinger/Joachim von Puttkamer (Hg.), Staat, Loyalität und Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1918–1941, München 2007, S. 69–98, hier S. 90–96. 41 Jan Gebhart/Jan Kuklík, Druhá republika 1938–1939. Svár demokracie a totality v politickém, společenském a kulturom životě [Die Zweite Republik 1938–1939. Der Streit zwischen Demokratie und Totalität im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben], Praha 2004, S. 50–73. 42 Zückert, Nationsidee, S. 96–134.

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Weitaus schwieriger war es jedoch, der nationalen Vielfalt der Soldaten gerecht zu werden. Eugen Lemberg, in den zwanziger Jahren als Wehrpflichtiger in der Südslowakei eingesetzt, macht in seinen Erinnerungen auf die Problematik der den Soldaten gebotenen Integrationsofferten aufmerksam: „Die ganze Problematik des Kriegsdienstes in einem Nationalstaat wurde mir aber bewußt, wenn bei Staatsfeiern ein höherer Offizier versuchte, der angetretenen Mannschaft in einer mehr oder weniger gelungenen Festrede klarzumachen, für welche Ideale sie im Falle eines Krieges ihr Leben einzusetzen hätte. Es waren die Ideale des tschechischen nationalen Erwachens, wie sie vor allem Thomas Masaryk, auf dem Geschichtsbild Franz Palackýs weiterbauend, seinem Volk gepredigt hatte: im Sinne eines ins Humanistisch-Demokratische umgedeuteten Hussitismus die nationale Freiheit und Existenz des tschechischen Volkes gegen die als feudalistisch und absolutistisch beschriebene deutsche – bzw. magyarische – Umwelt zu verteidigen. Da mußte man als Deutscher doch hellhörig werden: Es war demnach die Staatsideologie der neuen Republik, gegen die Deutschen zu kämpfen. Wie aber sollten wir, diese Deutschen, für etwas kämpfen und sterben, was wir angeblich selbst bedrohten?“43

Wenn auch erheblich zugespitzt, benennt Lemberg ein wesentliches Problem der Armee: den fehlenden Zielpunkt für alle Wehrpflichtigen. Der Institution wurde in den zwanziger Jahren auferlegt, zu einer „demokratischen Armee“ zu werden, was führende Militärs mit Blick auf die notwendigen Hierarchiestrukturen kritisierten.44 Der Gedanke, die Armee als Verteidigungsinstitution des demokratischen Staates zu propagieren, blieb dagegen kaum entwickelt. Die Vorgaben für die staatsbürgerliche Erziehung der Soldaten, der in der Tschechoslowakei viel Raum zugestanden wurde, blieben selbst unter den Bedingungen zunehmender äußerer Bedrohung in den dreißiger Jahren in hohem Maße auf nationalgeschichtliche Aspekte beschränkt. Ausführungen zum politischen System, das es gemeinsam zu verteidigen gelte, blieben in der Minderzahl und vor allem oberflächlich.45

43 Eugen Lemberg, Ein Leben in Grenzzonen und Ambivalenzen, in: Lebensbilder zur Geschichte der böhmischen Länder, Band 5: Eugen Lemberg 1903–1976, Hg. Ferdinand Seibt, München 1986, S. 133–278, hier S. 161 f. 44 Marie Koldinská/Ivan Šedivý, Válka a armáda v  českých dějinách. Sociohistorické črty [Krieg und Armee in der tschechischen Geschichte. Soziohistorische Skizzen], Praha 2008, S. 301 f. 45 Zückert, Nationsidee, S. 166–183.

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Am Beispiel der Armee werden die Grenzen gesamtstaatlicher Repräsentation auch im Verhältnis zur Bevölkerung sichtbar. Gerade in den mehrheitlich deutsch besiedelten Grenzregionen der böhmischen Länder wurde die Armee mit gruppenspezifischen Interessen konfrontiert. Der tschechische nationale Schutzverein im südböhmischen Parachatice (Prachatitz) forderte im Herbst 1924 die Errichtung einer Kaserne im benachbarten Volary (Wallern). Ziel einer solchen Kaserne sei die „Stärkung respektive Bildung einer tschechischen Minderheit“ vor Ort, um deutschen irredentistischen Bestrebungen entgegentreten zu können. Deutsche Abgeordnete hatten dagegen mehrfach in Prag den „Abzug der tschechischen Soldaten“ aus „deutschem Gebiet“ gefordert. Entgegen der Realität eines polyethnischen Heeres und der Idee eines gemeinsamen Staates deuteten nationalistische tschechische und deutsche Gruppen die Armee als nationale tschechische Institution und befürworteten bzw. lehnten sie deswegen ab.46 Deutlich wird durch das genannte Beispiel eine Konstellation, in der es nicht allein um einen deutsch-tschechischen Gegensatz ging. Vielmehr bestand ein komplexes Dreieckverhältnis zwischen dem nationalstaatlich orientierten Gesamtstaat und partikularistischen Gruppen. Entsprechend schwierig war es für die Armee, den Gesamtstaat zu repräsentieren.

3.  Fazit „ ... wir sind durch Geschichte und Natur zur Demokratie bestimmt. ... Wir sind durch Leib und Seele ein demokratisches Volk“.47 Diese Einschätzung nahm Präsident Masaryk in seinen Gesprächen mit Karel Čapek mit Blick auf das Fehlen eines dominanten nationalen Adels vor. Er verband damit nationale Deutungen mit politischen Einschätzungen und vereinte Nationalstaatsidee und politisches Modell. Trotz der propagierten Verbindung von tschechoslowakischer Idee mit demokratischen Vorstellungen durch die Staatsgründer wurden beide Ebenen weitgehend getrennt wahrgenommen. Hierfür fehlten womöglich auch symbolische Orte und Rituale, die demokratisches Verfahren und staatliches Konzept hätten gemeinsam darstellen können. Die Staatsidee funktionierte letztendlich ohne Bezüge zu politischen Modellen – durch sie repräsentiert fühlten sich viele Tschechen, ein Teil der Slowaken, doch kaum ein Deutscher oder Magyare. 46 Ebd., S. 201–206. 47 Karel Čapek, Gespräche mit Masaryk, Aus dem Tschechischen von Camill Hoffmann und Eckhard Thiele, Stuttgart 2001, S. 442.

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Martin Zückert

Das politische System entwickelte sich nicht in der Form, dass es die komplexe Vielfalt der Bevölkerung der Tschechoslowakei repräsentieren konnte und eine Identifikation mit den politischen Aushandlungsprozessen ermöglicht hätte. Hierfür blieb die parlamentarische Ebene zu schwach, die Entscheidungsabläufe verliefen zu wenig transparent. Die Wahrnehmung des Staatspräsidenten blieb stark an die individuelle Ausgestaltung des Amtes gekoppelt. Präsident Masaryk repräsentierte sein Konzept der tschechoslowakischen Nation und konnte zumindest zum Teil Brücken zu den anderen ethnischen Gruppen schlagen. Seinem Nachfolger Edvard Beneš gelang dies – nicht zuletzt bedingt durch die sich zuspitzende außenpolitische Lage – kaum noch. Funktionale Kontexte der Präsidentenrolle innerhalb des Staatsaufbaus rückten insgesamt in den Hintergrund. Neben einer zeitweiligen wirtschaftlichen und kulturellen Blüte war es der Tschechoslowakei gelungen, ein rechtsstaatliches System mit funktionierenden Strukturen zu etablieren und bis zur Zerstörung des Staates Ende der dreißiger Jahre zu bewahren. Allerdings war es nicht gelungen, ein verbindliches Integrationskonzept durch staatliche Praxis zu vermitteln, das über partikulare Bindungen hinausging. Die Formen staatlicher Repräsentation, aber auch die Reaktionen darauf verdeutlichen dieses Defizit, Staatsidee und politisches Verfahren nach außen zu vermitteln.

Nadine ROSSOL

Repräsentationskultur und Verfassungsfeiern der Weimarer Republik

Ein Panorama demokratischer Repräsentationskultur der 1920er Jahre aufzuzeigen, mit besonderer Betonung von Festivitäten, Symbolik und Geschichtspolitik, ist ein schwieriges Unterfangen.1 Das Interesse der Geschichtswissenschaft an staatlichen Zeremoniellen und politischen Inszenierungen konzentrierte sich auf Monarchien oder Diktaturen.2 Demokratien wurden lange mit einem anderen Schwerpunkt analysiert. Hierbei lag der Fokus auf der medialen Selbstinszenierung von Politikern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.3 Für den europäischen ‚Demokratieschub’ nach dem Ersten Weltkrieg blieb staatliche Repräsentationskultur ein vernachlässigtes Forschungsthema. Dass durch politische Kultur Sinnbezüge hergestellt und mit Symbolen und Zeichen ‚Bezugsgewebe’ erzeugt werden, die Orientierung liefern sollen, ist mehrfach belegt. Für Verfassungen bedeutet dies, dass sie mehr sind als Texte, die Regeln und Ordnungen vorgeben. Um eine integrierende Wirkung zu entfalten, müssen Verfassungen auch symbolische Repräsentation einer Leitidee darstellen, die durch Gründungserzählungen, Verfassungsschwüre oder Feiern verdeutlich werden kann.4 Verfassungskulturelle Ansätze können so Konzepte von politischer Kultur in begrenzten Bereichen greifbar und kon-

1

Für Verfassungskultur mit Betonung auf Kultur vgl. Peter Brandt u.a. (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005; Hans Vorländer (Hg.), Zur Ästhetik der Demokratie. Formen der politischen Selbstdarstellung, Stuttgart 2003. 2 Vgl. Gerd Althoff, Die Macht des Rituals. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003; Matthias Schwengelbeck, Die Politik des Zeremoniells: Huldigungsfeiern im langen 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2007. 3 Vgl. Ulrich Sarcinelli, Von der repräsentativen zur präsentativen Demokratie. Politische Stilbildung im Medienzeitalter, in: Vorländer (Hg.) 2003, S. 187–199; Andreas Dörner, Demokratie-Macht-Ästhetik. Zur Präsentation des Politischen in der Mediengesellschaft, in: ebd., S. 200–224. 4 Hans Vorländer, Integration durch Verfassung? Die symbolische Bedeutung der Verfassung im politischen Integrationsprozess, in: Ders. (Hg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 20.

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kret werden lassen.5 Am Beispiel der Verfassungsfeiern der Weimarer Republik wird beleuchtet, welche Erfolge und Schwierigkeiten die Darstellung der ersten deutschen Demokratie mit sich brachte. Der punktuelle Vergleich mit anderen Staaten zeigt, dass manche Aspekte, die charakteristisch für die Weimarer Jahre erscheinen, nicht auf Deutschland begrenzt waren. Es ist nicht immer die Verfassung, auf die sich staatliche Rhetorik beruft. So lag und liegt zum Beispiel in Frankreich die zentrale Bedeutung auf den Begriffen Republik und Nation.6 Allerdings sind diese Bezugspunkte für deutsche Verfassungsfeiern der 1920er Jahren kaum auseinander zu dividieren. Denn die Festivitäten des Weimarer Staates waren Verfassungs-, Republikund Demokratiefeiern zugleich. Diskussionen um politische Symbolik, festliche Inszenierungen und staatliche Ästhetik der Weimarer Republik zeigen die Zerrissenheit ihrer politischen Kultur. Mit Ausnahme der Nationalhymne wurden alle Bereiche der staatlichen Symbolik von politischen Grabenkämpfen, Streitigkeiten und Polarisierungen bestimmt.7 Dies war keineswegs ein spezifisch deutsches Problem. Auch Österreich kannte ähnliche Debatten.

1. Verfassungstag: Organisation, Regelungen, Schwierigkeiten Die Bedeutung von Feiern für die Stabilisierung von Staaten und Gesellschaften ist ein anerkannter Forschungsgegenstand. Feste fördern Gemeinschaft, indem sie gemeinsame Themen, Bezugspunkte und Helden in Erinnerung bringen. Der Politikwissenschaftler Karl Rohe nennt diese Inszenierungen den „politischen Sonntag, den jede Gemeinschaft braucht, um den politischen Alltag bewältigen zu können“.8 In der Geschichtswissenschaft wurden Feste der Weimarer Republik meist als Beispiel für politische Teilkulturen der 1920er Jahre interpretiert.9 Tatsächlich fehlte dem Weimarer Staat ein politischer Grundkonsens. Die junge Demokratie war nicht die erwünschte Staatsform

5 Arthur Schlegelmilch, Einleitung, in: Brandt u.a. (Hg.) 2005, S. 12 f. 6 Vorländer 2002, S. 24. 7 Wolfgang Ribbe, Flaggenstreit und Heiliger Hain. Bemerkungen zur nationalen Symbolik in der Weimarer Republik, in: Dietrich Kurze (Hg.), Aus Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, Berlin 1972, S. 175–188; Bernd Buchner, Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole der Weimarer Republik, Bonn 2001. 8 Zitiert in Buchner 2001, S. 24. 9 Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.), Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989.

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aller Deutschen, die These eines demokratischen „Repräsentationsdefizits“10 oder gar der „Symbolarmut“ der Republik ist aber fraglich.11 Neuere Arbeiten zur Weimarer Republik haben begonnen, diese Einschätzung zu revidieren.12 Der Verfassungstag erinnerte an die Unterzeichnung der Weimarer Verfassung durch Reichspräsident Friedrich Ebert 1919 und wurde jährlich am 11. August gefeiert. Von 1921 bis 1932 ehrte die Reichsregierung den Tag mit einem Festakt, der ab August 1922 im Reichstag abgehalten wurde. Keine Regierung der Weimarer Republik schaffte diese Feier je ab. Unterschiedlich gestaltete sich jedoch ihre finanzielle Unterstützung, die politische Überzeugungen der jeweiligen Reichsinnenminister widerspiegelte. Der Deutschnationale Martin Schiele gab für die Feier im August 1925 so wenig Geld wie möglich aus13, sein sozialdemokratischer Nachfolger Carl Severing stellte größere finanzielle Mittel zur Verfügung als je ein anderer Innenminister.14 Es blieb nicht bei offiziellen Festakten der Reichsregierung, die mit Reden und klassischer Musik vor einem ausgewählten Publikum im Reichstag stattfanden. Die Organisatoren der Republikfeiern erweiterten die anfänglich bescheidenen Festivitäten zu einem, die deutsche Hauptstadt prägenden, Spektakel. Festumzüge, Sportwettkämpfe, Sternfahrten, Konzerte und andere Veranstaltungen kennzeichneten den Verfassungstag in Berlin ab Mitte der 1920er Jahre.15 Eine Vielzahl von Organisationen, Behörden und Ministerien war an dieser Erweiterung des Festprogramms beteiligt, darunter das Reichsinnenministerium, die Berliner Stadtverwaltung und die preußischen Schulbehörden genauso wie die demokratischen Parteien. Die Choreographie der 10 Lothar Kettenacker, Sozialpsychologische Aspekte der Führerherrschaft, in: KarlDietrich Bracher (Hg.), Nationalsozialistische Diktatur, Berlin 1986, S. 114. 11 Gerhard Paul, Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 1992, S. 54; Hagen Schulze, Weimar 1917–1933, Berlin 1994, S.123. Negativurteile über die Weimarer Staatsrepräsentation finden sich in Memoiren, die Weimarer Politiker nach 1945 publizierten. Vgl. Ferdinand Friedensburg, Die Weimarer Republik, Berlin 1946, S. 220; Otto Braun, Von Weimar zu Hitler, Hamburg 1949, S. 181; Gustav Radbruch, Der innere Weg, Göttingen 1961, S. 130. 12 Buchner 2001; Nadine Rossol, Performing the Nation in Interwar Germany, Basingstoke 2010; Manuela Achilles, Re-Forming the Reich: Symbolics of the Republican Nation in Weimar Germany, Diss. University of Michigan 2005; Sonderheft Central European History Nr. 4.43 (2010). 13 Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv (GNM, DKA), Nachlass Redslob, I, A-2 (Tagebuch). 14 Gotthard Jasper, Der Schutz der Republik, Tübingen 1963, S. 257; Archiv der sozialen Demokratie Bonn (AdsD), Nachlass C. Severing, Mappe 162, S. 8–12. 15 Rossol 2010, S. 18–25 u. 58–79.

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Verfassungsfeiern und die Visualisierung einer staatlichen Ästhetik der Republik waren jedoch untrennbar mit dem kleinen Amt des Reichskunstwarts Dr. Edwin Redslob verbunden. Zu Beginn der Weimarer Republik geschaffen und dem Reichsinnenministerium unterstellt, bestand die Aufgabe des Amtes in der Formgebung der Republik. Redslob sollte den jungen demokratischen Staat sichtbar machen, und dazu zählte die Zusammenarbeit mit Künstlern bei der Neugestaltung staatlicher Symbole ebenso wie die Choreographie von Republikfeiern. Der Reichskunstwart wollte „Demokratie als Attraktion“ (C. Welzbacher) präsentieren. Die Gestaltung der Verfassungsfeiern und ihre Erweiterungen zu volkstümlichen Aktivitäten trugen seine Handschrift.16 Der 11. August wurde nie ein reichsweiter Nationalfeiertag. Da in der Verfassung kein Feiertag festgelegt war, hätte es dafür einer Mehrheit im Parlament bedurft. Dort wurden eine Reihe von Gedenktagen vorgeschlagen: DDP und SPD forderten den 11. August, Teile der SPD den 1. Mai, und die nationale Rechte war ebenso gegen den Verfassungstag wie die kommunistische Linke. Was auf Reichsebene nicht in die Tat umgesetzt werden konnte, fiel an die deutschen Länder. Der Verfassungstag wurde 1923 in Baden und 1929 in Hessen zum Feiertag, und amtliche Anordnungen machten ihn in Preußen zum halboffiziellen Festtag. Dort mussten Schulen und Kreisstädte Verfassungsfeiern abhalten.17 Bayern, als prominentes Gegenbeispiel, kümmerte sich wenig um Republikfeiern. Die bayerische Regierung fühlte sich gegängelt, weil die Reichsregierung darauf bestand, dass auf ihren Vertretungen in München die von Demokratiegegnern abgelehnten Nationalfarben der Republik schwarzrot-gold gezeigt werden sollten. Konflikte zwischen ‚weiß-blauem’ München und Berlin waren nahezu jeden August vorprogrammiert.18 Trotz offizieller Richtlinien hing eine erfolgreiche Gestaltung von Verfassungsfeiern wesentlich vom Willen der lokalen Entscheidungsträger ab. Die Integration von Jugendgruppen, republikanischen Organisationen und Parteien in die örtlichen Festivitäten konnte gefördert oder unterlassen werden.19 16 Vgl. Christian Welzbacher (Hg.), Der Reichskunstwart. Kulturpolitik und Staatsinszenierung in Deutschland, Weimar 2010; Annegret Heffen, Der Reichskunstwart, Essen 1986. 17 Buchner 2001, S. 329. Für Anordnungen, wie Verfassungsfeiern in verschiedenen deutschen Ländern gefeiert werden mussten, vgl. Karl Müller/Albert Wagner, Republikanische Schulfeiern, Langensalza 1928, S. 13–21. 18 Bundesarchiv Berlin (BArch Berlin), R1501/116873, 116864. 19 Achim Bonte, Werbung für Weimar? Öffentlichkeitsarbeit von Großstadtverwaltungen in der Weimarer Republik, Mannheim 1997, S. 231–235; Juliane Ossner, Die Reichsgründungs- und Verfassungsfeiern in Wetzlar und Gießen 1921–1933, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 49 (1999), S. 150–177.

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Auf das Betreiben des liberaldemokratischen Bürgermeisters Hermann Luppe fanden in Nürnberg, trotz der ablehnenden Haltung Bayerns, regelmäßige Verfassungsfeiern statt.20 Im Gegensatz dazu veranstaltete der deutschnationale Bezirksbürgermeister von Berlin-Zehlendorf für seine Mitarbeiter auch zum 10. Jahrestag der Republik im August 1929 keine Verfassungsfeier. Er begründete dies mit der Aussage, keiner der Mitarbeiter wäre an einer Feier interessiert gewesen. Die republikanische Presse der Hauptstadt verlangte (vergebens) seine Absetzung.21 Je nach Wohngegend erlebte die deutsche Bevölkerung sehr unterschiedliche Festivitäten zu Ehren der Republik. Ebenso unterschiedlich waren die Reaktionen zum Abhalten bzw. Unterbleiben der Feiern. Die deutschnationale Presse reagierte besonders empfindlich auf die preußischen Schulfeiern, an denen die Schulkinder teilnehmen mussten. Ein Fernbleiben wurde als Versäumnis einer schulischen Veranstaltung gewertet. Daraufhin beklagten nationalkonservative Tageszeitungen „die Vergewaltigung Andersdenkender“, „Gesinnungsterror“ und den „Missbrauch der Schulkinder.“22 Republikanische Zeitungen, ebenso wie demokratische Politiker, erklärten, dass man keine Parteipolitik betriebe, sondern Erziehung zum Staat.23 Im Gegensatz zu den Republikgegnern bemängelten die Befürworter der Demokratie, wenn keine Verfassungsfeiern abgehalten wurden, das Hissen einer schwarz-rot-goldenen Flagge auf dem Rathaus oder Schulgebäude unterblieb oder lokale Würdenträger langweilige Festreden hielten. Ministerien, Verwaltungen und Zeitungsredaktionen erhielten nicht nur von Gegnern der Republik mahnende Post, sondern auch von überzeugten Demokraten, die auf der Umsetzung amtlicher Verfügungen zum Verfassungstag bestanden. Dazu gehörte auch die Beflaggung des lokalen Rathauses.24

20 Stadtarchiv Nürnberg, C7I, 104. 21 Landesarchiv Berlin (LAB), A Rep. 060-08, 572, S. 401–418. 22 Der Tag, 15.8.1928: Gesinnungsterror gegen Berliner Schulen; Der Tag, 18.2.1930: Zwang zur Teilnahme an Verfassungsfeiern; Deutsche Zeitung, 29.6.1929: Missbrauch der Schulkinder; Deutsche Zeitung, 16.1.1930: Schon als Kind Zwangsbürger? 23 Berliner Morgenpost, 23.8.1929: Schule und Republik; Germania, 23.8.1929: Höhere Schulen und Verfassungstag; Sitzungsbericht des Preußischen Landtags, Bd. 1, Sitzung 18 und 19, 7–8.11.1928, S. 1054–1160. 24 Berliner Tageblatt, 14.8.1928: Immer wieder Jahn; Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam (BLHA), Rep. 34, 994, S. 169–180; BLHA, Rep. 34, 59, S.  153, S. 188–190; Nadine Rossol, Flaggenkrieg am Badestrand. Lokale Möglichkeiten repräsentativer Mitgestaltung in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 7/8 (2008), S. 625–636.

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Zur föderalen und politischen Uneinigkeit kamen andere Schwierigkeiten. Im Sommer 1927 forderte der Politiker der Deutschen Volkspartei Dr. Moldenhauer, ein Feiertag solle erst dann eingeführt werden, „wenn der letzte Franzose Deutschland verlassen habe und Großdeutschland entstanden sei“.25 Damit verwies er auf einen wichtigen Punkt, der die Konsens- und Integrationsfähigkeit der Weimarer Verfassung nicht förderte und den Andreas Wirsching „die Nichtidentität von Staat und Nation“ nennt. Für Engländer und Franzosen vermischten sich Politik und Verfassung weit weniger mit ungeklärten Territorialfragen. In Deutschland wurden genau diese gegen die Verfassung gerichtet.26 So stand, für ihre Gegner, die Verfassung nicht nur für eine ungewollte politische Staatsform, sondern auch für ungerechtfertigte Gebietsabtretungen nach dem Ersten Weltkrieg.27 Ein Feiertag ohne nationalen Konsens läuft dem eigentlichen Sinn eines solchen Tages entgegen, ist aber dem Pluralismus der Demokratie geschuldet, die weder Begeisterung noch Teilnahme erzwingen kann. Auch Österreich kannte dieses Problem: Der Staatsfeiertag der Ersten Republik war der 12. November. Ende April 1919 beschloss die Konstituierende Nationalversammlung für Deutschösterreich: „Zum immerwährenden Gedenken an die Ausrufung des Freistaates Deutschösterreich wird der 12. November eines jeden Jahres als allgemeiner Ruhe- und Festtag erklärt.“ Zur Begründung hieß es: „Nach dem Vorbilde anderer Freistaaten (Frankreich, Nordamerikanische Union) soll auch unsere Republik ihren Staatsfeiertag am 12. November als ihrer legitimen Geburtsstunde besitzen. Gerade ein demokratisches Staatswesen braucht einen derartigen Festtag in Gestalt eines Arbeitsruhetages, zumal da gerade in der Demokratie die Zusammengehörigkeit von Bürger und Staat ganz besonders zum Ausdruck gelangt.“ Tatsächlich war die integrierende Wirkung des Feiertages in Österreich gering. Er hatte, ebenso wie der 1. Mai, rechts von der Mitte den Ruf eines ‚roten‘ Festtages.28 Der österreichische Verweis auf Frankreich und die USA zeigt einen entscheidenden Unterschied zu Deutschland. Österreich erinnerte an die Ausru25 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 423, Stenographische Berichte 13.6.1928– 4.2.1929, Sitzung 10.7.1928, S. 145. 26 Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, Bonn 2007, S. 12. 27 Vgl. Detlef Lehnert, Desintegration durch Verfassung? Oder wie die Verfassung der Nationalversammlung von 1919 als Desintegrationsfaktor der Weimarer Republik interpretiert wurde, in: Vorländer (Hg.) 2002, S. 237–265. 28 Gustav Spann, Der österreichische Nationalfeiertag, in: Emil Brix/Hannes Stekl (Hg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien 1997, S. 145 f.

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fung der Republik, Frankreich an die Revolution und die USA an die Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung. Auch andere Staaten feierten ihre Verfassungen als Ende von Unterdrückung und Beginn staatlicher und rechtlicher Unabhängigkeit. Für die Feiern des norwegischen Verfassungstags am 17. Mai schreibt Peter Brandt: „Freiheitliche Verfassung und staatliche Eigenständigkeit als nationale Freiheit hängen nicht nur miteinander zusammen, wie es für etliche Länder gilt, sondern sind in ihrer Entstehung identisch. Allein dieses Faktum erklärt zu einem gewissen Grad die Wirksamkeit des 17. Mai-Mythos, der das gesamte politische Spektrum umfasst und bis heute lebendig ist.“29 Die deutsche Republik feierte jedoch die Unterzeichnung der Verfassung, soweit wie möglich, ohne ihre revolutionäre Vorgeschichte.

2. Weltkrieg, Revolution und Verfassung: Das Gedenken an 1918 Die Weimarer Demokraten versuchten die Verfassung als Bezugspunkt des Staates und der Gesellschaft zu etablieren. Dies gelingt mitunter leichter, wenn das Verfassungswerk den Endpunkt eines langen und kämpferischen Ringens um Freiheit, Unabhängigkeit, Recht und Demokratie bildet. Dabei geht es um den Weg zur Verfassung, der eine heroische und emotionale Gründungserzählung für das neue politische System liefert. Diese legitimiert und stabilisiert, indem sie Gemeinschaft erzeugen und eine Idee präsentieren soll, die über gesellschaftlich Trennendes hinausragt.30 Hier hatten die Weimarer Demokraten einige Schwierigkeiten, feierten sie doch ein Verfassungswerk ohne dessen kämpferisch-revolutionäre Vorgeschichte. Im August 1927 schrieb der liberale Politiker (und spätere Bundespräsident) Theodor Heuss über den deutschen Verfassungstag: „Dem 11. August fehlt die Erschütterung durch einen eindrucksvollen Geschichtsvorgang, der Zeitgenossen einmal getroffen hatte und in eine wuchernde Legende einging. Es fehlt ihm auch das Pathos einer Echo weckenden Verkündigung, das heimliche Bildhafte eines Geschehnisses, an dem die Phantasie sich entzünden könnte.“31 In eine ähnliche Richtung ging der Vorwurf des linken Journalis29 Peter Brandt, Verfassungstag und nationale Identitätsbildung - Die Feier des 17. Mai in der norwegischen Geschichte, in: Brandt u.a. (Hg.) 2005, S. 215. Vgl. für diesen Teil auch Nadine Rossol, Weltkrieg und Verfassung als Gründungserzählung der Republik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 7.12.2008, S. 13–18. 30 Heinrich A. Winkler, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004, S. 7–13. 31 Theodor Heuss, Verfassungstag, in: Deutsche Republik, 12.8.1927, S. 617.

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ten Carl von Ossietzky im März 1930. Er beklagte, dass die Republik weder die Niederschlagung des rechtsnationalistischen Kapp-Putsches 1920 noch die öffentliche Empörung nach der Ermordung von Außenminister Walther Rathenau 1922 staatsfördernd genutzt hatte. Beide Male sei eine Mehrheit der Bevölkerung bereit gewesen, aktiv für den demokratischen Staat einzutreten, glaubte Ossietzky. Beide Male „sah der Deutsche die Republik, wie sie der Franzose immer gesehen hatte; nämlich kämpferisch als Tochter der Freiheit.“32 Gerade der Bezugspunkt Frankreich verdeutlichte, was der ersten deutschen Demokratie auf diesem Gebiet fehlte. Um die Weimarer Verfassung in einen ‚kämpferischen Republikbegriff‘ einzubeziehen, hätte an entsprechende Ereignisse erinnert werden müssen. Vor einer positiv besetzten Verbindung zwischen der Revolution 1918 und der Verfassung scheuten die staatlichen Institutionen im Hinblick auf die Kriegsniederlage zurück. So symbolisierte in öffentlichen Reden zur Feier des 11. August der Zeitraum vom Winter 1918 bis zum Frühjahr 1919 Unsicherheit, Instabilität und Chaos, was erst durch die Verfassung beseitigt wurde.33 Eine republikanische Gründungserzählung, die von der Kriegsniederlage über die Revolution zur demokratischen Verfassung führte, wurde nicht präsentiert. In Reden zum Verfassungstag waren Bezüge auf die Frankfurter Nationalversammlung, um die Weimarer Verfassung als Vervollständigung einer alten republikanischen Idee zu präsentieren, eine Selbstverständlichkeit. Somit waren Demokratie und Parlamentarismus historisch gewachsen und keineswegs ‚undeutsch’, wie Republikgegner oft behaupteten.34 Reichsinnenminister Severing sprach 1929 von der Verfassung als Endpunkt der „Meilensteine auf dem Wege zur Demokratie“, darunter „Freiherr vom Stein, die Kämpfe 1848, die Paulskirche, das Wahlrecht und die Selbsterziehung der Arbeiterschaft in den sozialpolitischen Körperschaften“.35 Obwohl sich das Gedenken an 1848 einfacher in die junge Republik integrieren ließ als die Revolution 1918, blieb die Erinnerung daran gespalten. Daniel Bussenius zeigt, dass die Trennungsli-

32 Carl v. Ossietzky, Von Kapp bis…?, in: Die Weltbühne, 11.3.1930, S. 376. 33 Josef Wirth, Rede 1921, in: Reichszentrale für Heimatdienst (Hg.), 10 Jahre Weimarer Verfassung. Die Verfassungsreden bei den Verfassungsfeiern der Reichsregierung, Berlin 1930, S. 12 f.; Dr. Petersen, Rede 1924, in: ebd., S. 45 f.; Dr. Platz, Rede 1925, in: ebd., S. 57; Dr. Külz, Rede 1926, in: ebd., S. 70; von Kardorff, Rede 1927, in: ebd., S. 78 f. 34 Der badische Staatspräsident Hummel verwies in seiner Rede 1922 neben der Frankfurter Paulskirche auch auf die Tradition der badischen Verfassung: ebd., S. 21 f. 35 Carl Severing, Rede 1929, in: ebd., S. 114.

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nien von SPD, DDP und Zentrum zwischen der Betonung der Revolution und der Entstehung des Parlaments verliefen.36 Viele Versuche, die Verfassung in eine kämpferische Vorgeschichte zu integrieren, bezogen sich auf den Ersten Weltkrieg. Der Rechtsprofessor Gustav Radbruch verdeutlichte dies in seiner Festrede am 11. August 1928: „Das Volksheer – und Volksheer war damals, kämpfend oder leidend, das ganze deutsche Volk, Frauen und Männer … bedingte den deutschen Volksstaat. Wir können der Verfassung des erneuerten Deutschland nicht gedenken, ohne der Jahre 1914 bis 1918 zu gedenken.“37 Damit reklamierte er den Weltkrieg nachträglich für den neuen demokratischen Staat und versuchte nicht nur das die 1920er Jahre dominierende Thema näher an die Republik zu binden, sondern auch der jungen Verfassung eine kämpferische Vorgeschichte zu geben. Gustav Radbruch ging in seiner Rede noch weiter und verband die Verfassung mit den ‚Märtyrern der Republik.‘ Damit verband er die Weltkriegstoten mit den in der Republik verstorbenen Politikern. „Es gibt einen alten Aberglauben, dass nur das Haus bestehe, in dessen Grundstein ein Lebendiges eingemauert ist. Wie unendlich viel Leben ist in das Fundament unserer Verfassung eingemauert worden!“ Dann erinnerte Radbruch an Friedrich Ebert sowie Walther Rathenau und führte aus: „und neben diesen Namen, die der Geschichte gehören, wie viele Namenlose, doch Unvergessenen haben für diese Verfassung gekämpft und geblutet!“38 Auf der Ebene der Staatsvertreter blieb Gustav Radbruchs Versuch, eine emotionale Vorgeschichte für die Verfassung zu betonen, die Ausnahme. Nichtstaatliche Organisationen verfolgten diesen Ansatz weit mehr. Der republikanische Veteranenverband Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold betonte gegenseitige Bezüge zwischen Krieg und Verfassung ganz besonders. Dies ist nicht überraschend, verstand sich die 1924 gegründete republikanische Organisation doch als Kriegsveteranen-Vereinigung und als Schutztruppe für die junge Demokratie. So zeigte das Reichsbanner seine Unterstützung für die Republik bei Umzügen und Festen und betonte eine republikanische Interpretation des Weltkrieges. Damit bot die Organisation Raum für die Kriegserinnerungen der eigenen Mitglieder aus der Arbeiterschaft.39 36 Daniel Bussenius, Eine ungeliebte Tradition. Die Weimarer Linke und die 48er Revolution 1918–1925, in: Winkler (Hg.) 2004, S. 110–112. 37 Gustav Radbruch, Rede 1928, in: Reichszentrale für Heimatdienst (Hg.), 10 Jahre Weimarer Verfassung, S. 100. 38 Ebd., S. 110. 39 Benjamin Ziemann, Republikanische Kriegserinnerung in einer polarisierten Öffentlichkeit. Das Reichsbanner Schwarz-rot-gold als Veteranenverband der sozialistischen

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Die zeitliche Nähe beider Daten im August, der Kriegsbeginn am 4.8. (1914) und die Unterzeichnung der Verfassung am 11.8. (1919), erleichterte gegenseitige Bezüge. Ende Juli 1926 schmückte die Illustrierte Reichsbanner Zeitung (IRZ) ihre Titelseite mit einer Zeichnung, die an die Brutalität des Krieges erinnerte. Sie zeigte drei verstümmelte Leichen, teilweise in Stacheldraht verfangen, und darüber die Gesichter drei junger Soldaten.40 Eine Woche später berichtete die Zeitung über die bevorstehenden Verfassungsfeiern und wies ihre Leser an, beide Ereignisse miteinander zu verbinden. Die Schrecken und Leiden des Krieges, so die IRZ Anfang August 1926, konnten durch die demokratische Verfassung abgeschwächt werden. Diese neue Verfassung garantiere allen Deutschen ein Mitspracherecht an Krieg und Frieden.41 Schon Anfang 1925 hatte die Reichsbanner Zeitung gefolgert, das einzig positive Kriegsvermächtnis sei die deutsche Republik gewesen.42 Das Reichsbanner wollte nicht nur Weltkrieg und Republik in einen Zusammenhang stellen, sondern auch der Kriegsverherrlichung nationalistischer Kreise eine Absage erteilen. Dadurch sollte die Kriegsniederlage mit einem positiven Ergebnis – der so genannte ‚Volkskrieg‘ führte zum ‚Volksstaat‘ – verbunden werden. Auch wenn in republikanischen Kreisen, besonders bei der sozialdemokratischen Arbeiterschaft, diese Interpretation durchaus schlüssig war43, dominierte sie nie das deutsche Weltkriegsgedenken der 1920er und 1930er Jahre. Alle europäischen Länder mussten den Krieg und seine enormen Folgen in die politische Kultur der Nachkriegsjahre einbeziehen. Dabei lag es für Frankreich und England nahe, die Werte von Freiheit, Demokratie und Republik in den Mittelpunkt zu stellen, die sie im Krieg siegreich verteidigt hatten.44 Der Weimarer Versuch, Volk und Verfassung zu verbinden und die Verfassung als Ausdruck des Volkswillens nach Kriegsende zu präsentieren, war so zum Beispiel in Frankreich nicht vorhanden. Denn in Frankreich waren es ohnehin nicht die wechselnden Verfassungen, auf die sich die kollektive Erinnerung bezog,

Arbeiterschaft, in: Historische Zeitschrift 276 (1998), S. 357–398. Immer noch grundlegend Karl Rohe, Das Reichsbanner schwarz-rot-gold, Düsseldorf 1966. 40 IRZ, 31.7.1926, Titelseite. 41 IRZ, 7.8.1926: Verfassungstag. 42 IRZ, 7.2.1925: Die Ehrenpflicht gegen unsere Gefallenen. 43 Benjamin Ziemann, „Gedanken eines Reichsbannermannes auf Grund von Erlebnissen und Erfahrungen“. Politische Kultur, Flaggensymbolik und Kriegserinnerung in Schmalkalden 1926, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 53 (1999), S. 201–232. 44 Wirsching 2007, S. 12.

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sondern die Ideen der Revolution, verfestigt in den Werten Nation, Staat und Republik.45

3.  Demokratie sichtbar machen: Zeremoniell und Visualisierung Zu den historischen Bezugspunkten, die in Festreden und Zeitungsartikeln geknüpft wurden, versuchten die Organisatoren der Verfassungsfeiern ebenfalls eine demokratische Gemeinschaft sichtbar und erfahrbar zu machen. Die visuelle Darstellung der Verfassung bezog sich zunächst auf den Text selbst. Der Reichskunstwart Edwin Redslob gestaltete den Plenarsaal des Reichstages für die Festakte am 11.August. Die Präambel der Verfassung, die die Einigkeit des deutschen Volkes hervorhob, prangte unübersehbar über dem Rednerpult.46 Um den zehnten Jahrestag der Verfassungsunterzeichnung 1929 zu feiern, hatte die Reichsregierung 300 künstlerisch aufwendig gestaltete Verfassungsausgaben drucken lassen, die als Ehrengeschenke ausgehändigt wurden. Fünf von ihnen bestanden aus handgeschöpftem Papier.47 Im März 1930 schickte Reichsinnenminister Carl Severing das erste Exemplar der Prachtausgaben an Reichspräsident Paul von Hindenburg. Severing verwies in seinem Brief auf die Bedeutung der Verfassung in den unruhigen Nachkriegsjahren, gedachte des verstorbenen Reichspräsidenten Ebert und würdigte die Leistungen Hindenburgs. Er bat Hindenburg, die Ausgabe im Haus des Reichspräsidenten aufzubewahren, und schloss mit den Worten: „Auf kostbarem und dauerhaftem Material, der zerstörenden Wirkung der Zeit entzogen, verbleibe das Grundbuch unserer Verfassung im Haus des deutschen Reichspräsidenten und sei so auf das engste mit der höchsten Würde verbunden, die unser Volk zu vergeben hat.“48 Hindenburg versprach, die Ausgabe in Ehren zu halten und an seinen Nachfolger weiterzugeben.49 Hier wurde die Verfassung erneut, durch die Direktwahl des Reichspräsidenten, mit dem Volk verbunden und als materieller Gegenstand präsentiert, der durch das verwendete hochwertige Material ein ‚greifbares’ Gründungsdokument für kommende Generationen werden soll. Redslob erkannte dieses 45 Daniel Schulz, Verfassung und Nation. Formen politischer Institutionalisierung in Deutschland und Frankreich, Wiesbaden 2004, S. 71 f. 46 Fotos in Lothar Gall, Fragen an die deutsche Geschichte, Berlin 2000, S. 221; Reichszentrale für Heimatdienst (Hg.), Zum Verfassungstag, Berlin 1928. 47 BArch Berlin, R32/186a, S. 35. 48 BArch Berlin, R601/634, S. 290. 49 Ebd., S. 292.

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Potenzial und bezeichnete die in Leder gebundene und auf Pergamentpapier gedruckte Verfassung im Hause des Reichspräsidenten als eine Verfassungsausgabe „mit der Bedeutung einer Insignie“.50 Öffentlich ausgestellt wurde die Verfassung nicht. Allerdings stand ein ausgeprägter Kult um das Verfassungsdokument mehr in einer nordamerikanischen Tradition als in einer europäischen. Doch auch in den USA regte sich das Interesse daran erst, nach dem Bürgerkrieg, in den 1870er Jahren. Das Verfassungsdokument wurde zunächst im State Department aufbewahrt und 1921 mit der Unabhängigkeitserklärung zur Library of Congress gebracht, wo beide Dokumente 1924 in einem eigens angefertigten Schrein ausgestellt wurden. In den 1920er Jahren betonten europäische Besucher die „Verfassungsheiligung“ der Amerikaner, und brachten damit ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck.51 Einen erzieherischen Anspruch vertrat die preußische Landesregierung, die Verfassungsausgaben zum Schulabschluss verteilte. Dies wurde zum Brauch, der mit der Verteilung des Grundgesetzes noch heute in manchen Bundesländern üblich ist. Mitunter wurden Verfassungen auch als Preise für Schulwettbewerbe ausgegeben, und die Schulbehörde für Berlin-Brandenburg betonte, dass für die Reden bei Schulverfassungsfeiern der Verfassungstext doch eine Vielzahl an möglichen Themen anböte, die in den Festreden erläutert werden sollten.52 Diese prosaische Vorgehensweise sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der ersten deutschen Demokratie andere Symbole gab, die die Emotionalität der Republikaner stärker bündelten als die Verfassung. Die einfachste Weise, um individuelle Unterstützung der jungen Demokratie sichtbar und öffentlich auszudrücken, war das Zeigen von schwarz-rot-goldenen Fahnen. Dies wurde von republikanischen Organisationen, Verbänden, Zeitungen und Parteien auch eingefordert, besonders wenn republikanische Feiern oder Gedenktage anstanden. Anfang August 1929 erinnerte das Berliner Tageblatt die Bürger Berlins daran, dass republikanische Flaggen das Stadtbild zur Feier des Verfassungstages dominieren müssten. Verfassungstreue Bürger, die sich zu diesem Zeitpunkt in Urlaub befänden, sollten sicherstellen, dass ihre Häuser oder Wohnungen dennoch in republikanischen Farben geschmückt seien.53 Ähnliche Aufrufe fanden sich auch in anderen Zeitungen. Die Anzahl von republikanischen Fahnen wurde als Zeichen für die Unterstützung der jungen Demokratie gewertet. Keine Zeitung, die der 50 BArch Berlin, R32/504, S. 100. 51 Jürgen Heideking, Der symbolische Stellenwert der Verfassung in der politischen Tradition der USA, in: Vorländer (Hg.) 2002, S. 129 f. 52 BLHA, Rep. 34, 994, S. 2. 53 Berliner Tageblatt, 4.8.1929: Schwarz rot gold am 11.August.

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Weimarer Republik zugetan war, verzichtete auf ausführliche Beschreibungen des geschmückten Stadtbildes. Dabei wurde betont, dass schwarz-rot-goldene Farben besonders häufig in ärmeren Stadtvierteln zu sehen seien. Damit wurde nicht nur eine Gemeinschaft der Demokraten betont, sondern auch eine ‚republikanische Topographie‘ entworfen. Antirepublikanische Zeitungen zählten ihrerseits Fahnen und warfen der republikanischen Presse Übertreibung vor.54 Dieses Zeigen von demokratischer Präsenz geschah nicht nur in großen Städten. Gerade die preußischen Akten über den Diebstahl von schwarz-rotgoldenen Fahnen und Wimpeln verdeutlichen, dass das Beflaggen in kleinen Städten und Gemeinden ebenso ernst genommen wurde, um die eigene politische Überzeugung öffentlich darzustellen.55 Eine Reihe von Ansätzen, eine Gemeinschaft der Demokraten sichtbar zu machen, gab es auch bei den Festakten der Reichsregierung zum Verfassungstag. Gegliedert in zwei Teile, hielt zuerst meist ein Universitätsprofessor oder Politiker vor einem geladenen Publikum eine Festrede, umrahmt von klassischer Musik endete die Feier mit dem Singen des Deutschlandlieds. Danach folgte das Heraustreten aus dem Reichstag auf die auf den Vorplatz führende Treppe. Menschenmassen – die während des Festaktes mit Musikkapellen unterhalten wurden – sahen zu, wie der Reichspräsident eine Ehrengarde der Reichswehr abschritt. Dieser Ablauf veränderte sich nicht. Der Reichskunstwart fand, dass das Öffnen der Türen den offiziellen Festakt mit dem Volk verbinde.56 Der Schriftsteller und Journalist Kurt Tucholsky konnte seinen Spott bezüglich dieses ‚demokratischen’ Rituals kaum zügeln.57 Redslob schrieb 1925 über die Verfassungsfeiern: „Der Stil sachlich und ernst zugleich, aber die Feier durch Musik und militärisches Schauspiel mit der Kundgebung der Volksmengen verbunden, die sich mit dem Wunsch zur Teilnahme bei derartigen Ereignissen vor dem Reichstag versammeln.“58 In Entwürfen zur Umgestaltung der Gegend um den Reichstag am Spreebogen schlug der Architekt Hugo Häring vor, dass Tribünen, auf denen die Bevölkerung Platz finden sollte, vor dem Reichstagsgebäude platziert werden sollten. So könnte 54 Vorwärts, 11.8.1927: Berlin unter schwarz rot gold; Berliner Morgenpost, 12.12.1928: Die Reichsfarben am Verfassungstag; Der Tag, 11.8.1927: Flaggen-Aufruf ohne Echo; Das Reichsbanner, 24.8.1929: Der Sieg der Weimarer Reichsverfassung; Der Tag, 3.9.1927: Zahlen beweisen; Deutsche Tages-Zeitung, 6.8.1927: Flaggenzwang für alle Gemeinden; Berliner Börsen-Zeitung, 7.9.1928: Erfreuliche Maßnahmen. 55 Vgl. GStAPK, Rep. 84a, 55612, 55622, 55623, 55649. 56 BArch Berlin, R32/273, S. 115. 57 Vossische Zeitung, 12.4.1925: Die Inszenierung der Republik. 58 Edwin Redslob, Die staatlichen Feiern der Reichsregierung, in: Gebrauchsgraphik 1925, S. 54.

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das Volk nicht nur besser an Festivitäten teilnehmen, sondern seine wichtige Position im neuen demokratischen Machtgefüge hätte eine architektonische Form gefunden. Redslob unterstützte die Pläne Härings, auch wenn sich eine Umgestaltung des Spreebogens letztendlich nicht realisieren ließ.59 Verfassungsfeiern in der Weimarer Republik waren, auch wenn sie dies nicht immer blieben, staatlich organisierte Feiern. Im Gegensatz zu anderen Festen, zum Beispiel den schweizerischen Bundesfeiern, die sich erst lokal entwickelten und dann vom Staat übernommen wurden, funktionierten deutsche Verfassungsfeiern zunächst von oben nach unten. Ausdrückliche Forderungen, dass sich die Republikfeiern zu echten Volksfeiern entwickeln müssten, gab es seit Bestehen der Republik. Und auch nahezu seit ihrem Bestehen überlegten Organisatoren der Feiern, mit welchen Mitteln Volksfeste zu Ehren der Weimarer Verfassung gefördert werden könnten. Einhergehend mit diesen Überlegungen begleitete die Verfassungsfeiern der Republik auch immer die Frage, mitunter gleichermaßen von Republikanern und ihren Gegnern gestellt, ob in der schwierigen Nachkriegszeit überhaupt ausgelassen gefeiert werden sollte. Im August 1923, in der Mitte der Ruhrbesetzung, betonte der Rechtsprofessor Gerhard Anschütz in seiner Festrede im Reichstag, dass man keine Jubelfeiern abhalte, sondern Feiern „ernster Freude“.60 Gustav Radbruch erklärte an gleicher Stelle fünf Jahre später: „…von der älteren eidgenössischen Schwester vermag die deutsche Demokratie manches zu lernen, unter anderem auch, wie ein Volk seine ernsten Feste fröhlich feiert.“61 Kaum überraschend kritisierten politische Gegner der Demokratie die Verfassungsfeiern als zu kostspielig und dem Ernst der politischen und wirtschaftlichen Lage unangemessen.62

4. Verfassungsfeiern als Volksfeste: Spiel, Sport und Gemeinschaft Die Forderung, dass Verfassungsfeiern Volksfeste sein sollten, war älter als die deutsche Republik und universeller als der Blick Radbruchs auf die Schweiz.63 59 Christian Welzbacher, Die Staatsarchitektur der Weimarer Republik, Berlin 2006, S. 158–161. 60 Gerhard Anschütz, Rede 1923, in: 10 Jahre Weimarer Verfassung, S. 28 f. 61 Gustav Radbruch, Rede 1928, ebd, S. 98. 62 Deutsche Tages-Zeitung, 8.1.1927: Wofür Geld da ist?; GStAPK, I HA, Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 6, S. 180, Amtlicher Preußischer Pressedienst: Kosten höfischer Feste in Deutschland der Vorkriegszeit. 63 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Verfassung und Fest. Überlegungen zur festlichen Inszenierung vormoderner und moderner Verfassungen, in: Hans-Jürgen Beck (Hg.), Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur, Berlin 2003, S. 7–49.

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Der Bezug auf das Volk prägte nicht nur Festveranstaltungen in Demokratien, sondern viele Inszenierungen von Staatlichkeit und Herrschaft. In den wenigsten Fällen verband sich die Popularisierung festlicher Aktivitäten mit einer Erweiterung der politischen Teilhabe der Bevölkerung. Dies machte sie trotzdem nicht unattraktiv. Im Berlin des Kaiserreichs waren nicht nur überzeugte Monarchisten beeindruckt von öffentlichen kaiserlichen Festivitäten.64 Jakob Vogel beschreibt die Beliebtheit militärischer Paraden, die mitunter auch folkloristische populäre Elemente besaßen, für Deutschland und Frankreich von 1871 bis 1914. Trotz der unterschiedlichen politischen Ausgangslage beider Länder findet Vogel nur geringe Unterschiede.65 Die festlichen Formen der Weimarer Republik waren keine Erfindung der Demokraten, wurden aber explizit in einen republikanischen Kontext eingeordnet. Das ‚Volksfest‘ im ‚Volksstaat‘ nahm eine besonders wichtige Rolle ein, da die Republikaner damit ihre Festivitäten von denen des Kaiserreichs abgrenzten. Die Zeitschrift des Reichsbanners IRZ veranschaulichte diese Interpretation mit ihrer Titelseite vom August 1925. Unter der Überschrift „Einst und Jetzt“ publizierte sie zwei Fotos: eine Militärparade mit der Unterschrift „ein Volksfest 1913“ und dem Vermerk „das Volk hinter Schutzmannsketten weit im Hintergrund“, sowie eine Ansammlung von Menschen in einem Park mit der Beschriftung „Verfassungsfeier der Republikaner 1925“.66 Feiern der Republik spiegelten demnach durch ihre Möglichkeit der Partizipation die Grundzüge der Demokratie wider. Der Reichskunstwart Redslob teilte diese Interpretation des Verfassungstages: „Er ist dem Wesen der volkstümlichen Feier innerlich verwandt, er will die scharfe Trennung zwischen Mitwirkenden und Zuschauern überwinden und Formen entwickeln, die dem Volkstaat entsprechen.“67 Ab Mitte der 1920er Jahre gehörte eine festliche Parade zu den Programmpunkten des Verfassungstages. Sie zog durch die Berliner Innenstadt, entlang der Prachtstraße Unter den Linden, zum Brandenburger Tor. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold stellte eine große Zahl der Teilnehmer. 1927 waren, bei etwa 12.000 Teilnehmern, die Hälfte Männer des Reichsbanners.68 Ein Jahr 64 Thomas Lindenberger, Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900–1914, Bonn 1995, S. 65. 65 Jakob Vogel, Nationen im Gleichschritt. Der Kult der „Nation in Waffen“ in Deutschland und Frankreich 1871–1914, Göttingen 1997. 66 IRZ, 22.8.1925: Einst und Jetzt. 67 BArch Berlin, R32/426, S. 96; Edwin Redslob, Die Verfassungsfeier als Ausdruck deutscher Festkultur, August 1929. 68 LAB, A Pr Br Rep. 030, C Tit. 90, 7530, S. 317.

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später hatte die Parade bereits 30.000 Teilnehmer, und nur ein Drittel kam von dieser republikanischen Organisation. Denn auch andere Vereine und Organisationen, darunter der Bund jüdischer Frontsoldaten, Gewerkschaften, der Beamtenbund genauso wie Organisationen der Arbeiterjugend, Gesangsvereine und die Berliner Feuerwehr, nahmen teil.69 So vergrößerte sich die festliche Parade zum Verfassungstag in der Hauptstadt jedes Jahr und erweiterte dabei ihr Teilnehmerspektrum. Das Berliner Tageblatt beschrieb diesen Vorgang zum Verfassungstag 1928 mit den folgenden Worten: „Unter Fackeln und Musik gehen im gleichen Schritt und Tritt Ehepaare, Kinder, junge Burschen mit ihren Mädchen, Frauen und Männer aller Stände und Berufe, es geht das Volk. Wer das gesehen hat, der hat nicht nur einen organisierten Fackelzug gesehen, sondern die Feier eines ganzen Volkes und das Bekenntnis eines ganzen Volkes.“70 Die Linksintellektuellen der Zeitschrift Weltbühne kritisierten genau diese Festformen. Carl von Ossietzky warnte im August 1929, dass die Republikaner sich davor hüten sollten, pompöse Paraden am Verfassungstag mit republikanischer Überzeugung der Bevölkerung gleichzusetzen: „Was ein Bundesfest aller freiheitsgewillten Bürger hätte werden können, das ist in Wahrheit ein Paradetag für republikanischen Byzantinismus aller Art geworden.“71 Auch die nationale Rechte übte Kritik, die jedoch nicht auf Umzüge und Paraden an sich abzielte, sondern auf die Tatsache, dass die Republikaner solche für die öffentliche Darstellung der jungen Demokratie nutzten. Der anti-demokratische Politiker der Deutschnationalen Volkspartei Friedrich Everling kritisierte 1927, das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold habe sich seine Farben bei der Demokratie geborgt und würde eine neue Art des Militarismus verbreiten.72 Auch der nationalistische Frontkämpferverband Stahlhelm kommentierte mehrmals das Erscheinungsbild des Reichsbanners und betonte, die Organisation übernehme „frisch fröhlich die äußeren Formen der Stahlhelmaufmärsche“.73 Die Republikgegner zeigten sich irritiert vom Auftreten der Demokraten. Umdeutungen und politische Aufladungen von etablierten Festformen, die nicht nur in Deutschland genutzt wurden, waren nicht verwunderlich. Sport, darunter gymnastische Turnübungen als wichtiger Teil von Festvorführungen, 69 Ebd., 7531, S. 34. 70 Berliner Tageblatt 13.8.1928, zitiert in Friederike Schubert, Zehn Jahre Weimar – Eine Republik blickt zurück, in: Winkler (Hg.) 2004, S. 134. 71 Carl v. Ossietzky, Zum Geburtstag der Verfassung, in: Die Weltbühne, 6.8.1929, S. 190. 72 Friedrich Everling, Die Flaggenfrage, Berlin 1927, S. 44. 73 Der Stahlhelm, 29.8.1932. Vgl. ähnliche Kritik des Stahlhelms schon 1924: Staatsarchiv Leipzig, 20031, PP-St.30, S. 24–26.

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zählte in vielen Ländern dazu. Jedoch charakterisierte die Instrumentalisierung des Turnens für staatliche Zwecke im 19. und frühen 20. Jahrhundert Frankreich und Deutschland weit mehr als zum Beispiel Großbritannien. Dort galten gymnastische Übungen hauptsächlich als Frauensache zur Erhaltung der Fitness.74 Ganz anders in Frankreich: seit der Französischen Revolution stand diese Körperpraxis für republikanische Gesinnung. Die Inszenierung von Körpern, sei es durch Sportveranstaltungen, Festzüge, Massenspiele oder Turnübungen, war in Frankreich untrennbar mit der Republik und ihrer nationalen Festkultur verknüpft. Sie symbolisierte die Formierung der Masse zu disziplinierten republikanischen Staatsbürgern. Dieser Zusammenhang ergab sich nicht aus der Körperpraxis der Gymnastik, sondern aus ihrem politischen Bezugsrahmen.75 Im Vergleich zu Frankreich war der junge Weimarer Staat in diesem Punkt im Nachteil. Sport, Gymnastik und Turnen standen zwar nicht per se für das Kaiserreich, aber besaßen auch keine eindeutige Bindung an die Republik. Diese musste immer neu konstruiert werden. Sportveranstaltungen und Festspiele hatten bei Verfassungsfeiern die Aufgabe, zu unterhalten und einen Zusammenhang zu dem gefeierten Anlass herzustellen. Der Popularitätswert von Sportwettkämpfen war auch den Organisatoren der Republikfeiern von Beginn an klar. Der Reichskunstwart Edwin Redslob bemerkte im April 1923, dass die Jugend den Verfassungstag „mit Reigen, Gesang und Wettkampf“ feiern sollte. Redslob schlug vor, die Feiern in Sportstadien und auf Sportplätzen stattfinden zu lassen. Regierungsvertreter sollten zur Siegerehrung erscheinen und von der Reichsregierung gestiftete Preise ausgeben.76 Diese Vorschläge wurden in Verbindung mit Schulen und Sportvereinen umgesetzt. Die preußischen Behörden nahmen die Hinwendungen zu sportlichen Aktivitäten bei Verfassungsfeiern auf und empfahlen sie weiter. Besonders Schulen veranstalteten häufig zuerst eine ernste Verfassungsfeier und daran anschließend Sportwettkämpfe. Im Berliner Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg feierten die Schulen den Verfassungstag gemeinsam auf dem Sportplatz. Dies war eine Veranstaltung mit wachsender Popularität, an welcher im August 1926 5.000 Kinder teilnahmen und drei Jahre später schon 10.000.77 Auch die 74 Jean-Michel Faure, Nationalstaaten und Sport, in: Etienne Francois u.a. (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1995, S. 324 f. 75 Inge Baxmann, Mythos Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne, München 2000, S. 206 f. 76 BArch Berlin, R1501/116871, S. 9–12. 77 Das Reichsbanner, 1.9.1926: Verfassungsfeiern im Gau; LAB, A Pr Br Rep. 030 C Tit. 90, S. 234.

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Schulen Berlin-Neuköllns feierten zusammen im Volkpark. Das Festprogramm bestand im August 1928 aus einem Anmarsch mit schwarz-rot-goldenen Fahnen, zwei Musikstücken, einer Festrede und dem Deutschlandlied. Danach begannen die sportlichen Wettkämpfe. Abschließend schrieb das Kreisschulamt über die Veranstaltung der Neuköllner Schulen: „Alles in allem dürfte die Verfassungsfeier in dieser Form der jungen Generation ein Erlebnis gewesen sein, das in seiner Wirkung wesentlich zur Befestigung des republikanischen Gedankens beigetragen hat.“78 Allerdings, so warnte unter anderem der Sozialdemokrat Carlo Mierendorff, sollte der politische Teil der Verfassungsfeier, das Staatsbekenntnis zur Republik, nicht zum Beiwerk von Fußballspielen und Turnveranstaltungen verkommen.79 Tatsächlich erlebten einige preußische Schulen zum Verfassungstag 1928 einen ungewünschten Höhepunkt von Sportveranstaltungen. Die preußischen Behörden hatten empfohlen, für den sportlichen Teil der Schulfeiern des 150. Geburtstags von ‚Turnvater‘ Friedrich Ludwig Jahn zu gedenken, der auf den 11. August fiel.80 Jedoch hatten die Beamten und Schulbehörden die Phantasie einiger antirepublikanischer Lehrer unterschätzt. Sie mussten zwar Schulfeiern zu Ehren der Republik abhalten, wie Preußen es für den Verfassungstag verlangte, konnten aber diese Gelegenheit nutzen, in den Festansprachen den Lebensweg von Jahn nachzuzeichnen. Damit verschoben sie die Schwerpunkte der Feier von Republik, Demokratie und Verfassung zu Nation, Deutschland und Vaterland. Republikanische Eltern brachten diese Fälle an die Presse, und die Schulbehörde für Berlin-Brandenburg verlangte von einzelnen Schulen detaillierte Beschreibungen ihres Festprogramms.81 Trotz dieser Ereignisse, welche die Behörden als unerfreuliche Einzelfälle deklarierten82, blieb die Förderung von Sportwettkämpfen ein wichtiger Bestandteil der Popularisierungsstrategie des Verfassungstages.

78 BLHA, Rep.34/994, S. 254. 79 BArch Berlin, R32/427, S. 18, 6.7.1929. 80 BLHA, Rep.34/994, S. 287. Vgl. auch Thomas Koinzer, Die Republik feiern. Weimarer Republik, Verfassungstag und staatsbürgerliche Erziehung an den höheren Schulen Preußens in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, in: Bildung und Erziehung 58 (2005), S. 85–103. 81 BLHA, Rep.34/994, S. 169, 174–180, 294. 82 Ebd., S. 180.

Repräsentationskultur und Verfassungsfeiern der Weimarer Republik

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5.  Schlussbemerkungen Die Darstellung der Republik und die Choreographie ihrer Verfassungsfeiern standen die gesamten Weimarer Jahre im politischen Kreuzfeuer. Anders als Debatten über Staatsrepräsentation im wiedervereinten Deutschland 1990, zum Beispiel bezogen auf die Architektur des Reichstagsgebäudes und des Regierungsviertels, drehte es sich in den 1920er Jahren nie nur um verschiedene repräsentative Konzepte, mit welchen die demokratische Staatlichkeit besonders gut in Szene gesetzt werden könnte. Es ging immer auch um die Staatsform an sich. Daher überzeugten Verfassungsfeiern und der Bezug auf die Verfassung als Sinnbild des ‚Volksstaats‘ nie die Gegner der Republik. Die Weimarer Verfassung wurde, wie Verfassungsdokumente anderer europäischer Demokratien, nicht zum emotionalen Symbol der Republik. Die Revolution von 1918 konnte wegen ihrer Verbindung mit der Weltkriegsniederlage von Regierungsvertretern kaum als kämpferische Gründungserzählung der Verfassung präsentiert werden, und so blieb die symbolische Strahlkraft der Verfassung hinter den demokratischen Farben schwarz-rot-gold zurück. Im Gegensatz zu Diktaturen konnte die junge Republik weder Begeisterung noch Teilnahme für die eigenen Festlichkeiten erzwingen. Trotz dieser Ausgangslage versuchten die Organisatoren der Republikfeiern die Popularität der Festivitäten zu erhöhen. Sie bedienten sich mit Einbeziehung der Jugend, Sportwettkämpfen, Festspielen und bunten Paraden Mitteln, die auch in anderen Ländern benutzt wurden. Da die festlichen Formen universell nutzbar waren, ordneten die Weimarer Demokraten sie in einen republikanischen Bezugsrahmen ein. Die Verfassung, die die politische Teilhabe aller und damit den ‚Volksstaat‘ – erkämpft durch den ‚Volkskrieg‘ – ermöglicht hatte, wurde so zum indirekten Bezugspunkt. Denn dass Verfassungsfeiern ‚Volksfeste‘ werden sollten, wurde durch die Betonung der Republik als Volksstaat begründet.

DETLEF LEHNERT

Das Repräsentationsquartett der Weimarer Republik Friedrich Ebert und Paul v. Hindenburg, Otto Braun und Paul Löbe in politisch-kultureller Analyse

In der Rückschau vom Bonner Grundgesetz auf die Weimarer Republik galt es als deren geschichtsträchtiges Versäumnis, die neu entstandene Demokratie nicht als repräsentative begründet zu haben. Die „Väter der Weimarer Verfassung“ hätten in deren Geburts- schon die „Todesstunde“ angelegt, so formulierte das einflussreich und zugespitzt Ernst Fraenkel: „Dank ihres Unverständnisses für die repräsentativen Aufgaben eines Parlaments schufen sie eine plebiszitär-autoritäre Verfassung“.1 Für dieses Verdikt zum Politologentag 1958 blieb Fraenkel die überzeugenden Belege ebenso schuldig wie sein antipluralistischer Kontrastautor Carl Schmitt, auf den solche Umdeutung zurückgeht. Noch 1930 formulierte Richard Thoma die herrschende Lehre in jenem Staatsrechts-Handbuch, das er mit seinem Fachkollegen Anschütz herausgab2, allerdings völlig konträr: „Dieser ‘plan of government’, d.h. die Organisation der Herrschaftsgewalt und die Ordnung des Zusammenwirkens der Organe ist derart konstruiert, dass er die Repräsentativversammlung ´Reichstag` in den beherrschenden Mittelpunkt stellt“, woraus schlüssig folgt: „Die deutsche Republik ist insofern eine überwiegend mittelbare und zwar repräsentative und zwar ,parlamentarisch‘ regierte Demokratie.“3 Dagegen ließe sich einwenden, dass Thoma als positivistischer Jurist hier nur die Verfassungsnormen dargelegt hat, die er auf diese Weise übrigens teilweise wörtlich aus dem Kommentartext des „Verfassungsvaters“ Hugo Preuß entlehnte: „Die deutsche Republik wird durch die Reichsverfassung als mittelbare, repräsentative, und zwar parlamentarische Demokratie organisiert, die aber durch die unmittelbar demokratischen Einrichtungen des Volksentscheids und Volksbegehrens, der 1 2

Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1974, S. 147. Zur Bedeutung von Thoma und Anschütz nunmehr auch Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, Tübingen 2010. 3 Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, S. 194.

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Volksabstimmung, der Wahl und Absetzung des Reichspräsidenten durch das Volk (vgl. RVerf. Art. 73–76, 18 Abs. 4, 41 Abs. 1, 43 Abs. 2) modifiziert wird.“4

Doch auch ein nicht dem liberalen Repräsentativgedanken folgender Autor wie der linke Schmitt-Schüler Kirchheimer bescheinigte sogar einer Verfassungswirklichkeit der Gründungsphase ein dem Entwurf gemäßes Profil: „Von 1919 bis 1922 beruhte die deutsche Republik auf dem freien Bündnis, das die deutsche Sozialdemokratie in den letzten Kriegsjahren mit der politischen Vertretung des katholischen Volksteils und den liberalen bürgerlichen Fraktionen eingegangen war. In diesen Jahren besaß die Republik eine einigermaßen westlichen Organisationsformen angenährte Parlamentsregierung mit ihrem selbstverständlichen Korrelat einer politischen Machtfülle des Parlaments“.5

Hätte Fraenkel die Weimarer Verfassung außer in Schmittscher Entstellung noch mehr in originären Dokumenten betrachtet, wäre ihm wohl so wie Kirchheimer eine „Äußerung von Preuß im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung“ aufgefallen: „Bei uns herrscht eben nicht eine in sich einheitliche Richtung, sondern das Zusammenwirken verschiedener Richtungen, die aus ihren sonst auseinandergehenden Zielen einen Komplex herausnehmen können, der eine Verbindung ermöglicht.“6 Dieses Verständnis des Parlamentarismus als Repräsentation politischer und gesellschaftlicher Heterogenität, mit Verweisung auf eine Dialektik von Konflikt und Kompromiss, griff wesentlich schon dem richtigen Kern der Fraenkelschen Pluralismustheorie voraus.7 In politisch-kultureller Analyse müssen aber neben der operativ-instrumentellen Dimension von Vertretungsorganen zugleich Symbolgehalte betrachtet werden, die sich auch in leitenden Repräsentanten verkörperten.8 Als Epochensignaturen sind Namens-Symbolisierungen kaum zu verdrängen: Von der Bismarckära über den Wilhelminismus und die Hitlerdiktatur bis hin 4 Hugo Preuß, Reich und Länder, Berlin 1928, S. 49. 5 Otto Kirchheimer, Funktionen des Staats und der Verfassung, Frankfurt a.M. 1972, S. 42. 6 Ders., Von der Weimarer Verfassung zum Faschismus, Frankfurt a.M. 1976, S. 123/ Anm. 25 (das Original-Titat von Preuß findet sich in: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336, Berlin 1920, S. 185). 7 Dazu nun Andreas Voßkuhle, Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus, in: Jürgen Kocka/Günter Stock (Hg.), Hugo Preuß: Vordenker einer Pluralismustheorie, Berlin 2011, S. 23–42; Detlef Lehnert, Pluralistisches Staatsdenken bei Hugo Preuß, Baden-Baden 2011 (in Vorbereitung). 8 Die Unterscheidung instrumenteller und symbolischer Funktionen wird dem DFGSchwerpunktprogramm „Theorie politischer Institutionen“ entlehnt; zum Konzept vgl. Gerhard Göhler (Hg.), Die Eigenart der Institutionen, Baden-Baden 1994.

Ebert und v. Hindenburg, Braun und Löbe in politisch-kultureller Analyse

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zur Adenauer-Ära transportieren derlei Stichworte neben jeweiligen MachtZuschreibungen auch politisch-kulturelle Deutungsgehalte. Ihren Ursprüngen nach ist diese Reihung eher inkonsistent; denn ein preußischer Ministerpräsident, der Erbmonarch, ein Diktator und der Bundeskanzler sind nach staatsrechtlichen oder politikwissenschaftlichen Begriffen nur entfernte Verwandte.

1.  Der Reichstagspräsident als Kontinuitätselement Ein gängiges Klischeebild führte Defizite in der politischen Repräsentation zwischen Wilhelm II. und Hitler auf eine chronische Weimarer Misere von Instabilität und Diskontinuität zurück. Für drei von vier höchsten Repräsentativorganen galt jedoch, anders als für die Reichskabinette, eine ausgeprägte Stabilität und Kontinuität. Als Reichstagspräsident amtierte Paul Löbe, eine kurze Unterbrechung im Sommer und Herbst 1924 ausgenommen, die gesamte Zeitspanne von 1920 bis 1932.9 Kein deutscher Parlamentspräsident der fünf Jahrzehnte zuvor, und danach nur Gerstenmaier, erreichte solche Amtsdauer. Die Symbolgehalte in der Reichstagspräsidentschaft sind bislang kaum beachtet worden: Eine vom Reichstag 1918 zur Nationalversammlung hinüberreichende Teilkontinuität verkörperte zunächst noch der Zentrumspolitiker Fehrenbach. Zuletzt bedeutete der NS-Reichstagspräsident Göring ein Zeichen dafür, dass nicht – wie nach der Inflationskrise und kurzzeitiger deutschnationaler Präsidentschaft 1924 – nur eine andere Republik, sondern nun bereits seit den Juliwahlen 1932 der Übergang in ein „Drittes Reich“ bevorstehen konnte. Für die reguläre Weimarer Reichstagstätigkeit von 1920 bis 1932 spricht einiges dafür, auch dortige Präsidentschaft nicht als eher nur sitzungstechnische oder dekorative Funktion zu unterschätzen. Gerade wo dem Parlament als politische Institution solche eigenlegitimierende Tradition wie in Großbritannien fehlte und Fraktionsvielfalt eine richtungsübergreifende Profilwahrnehmung 9 Auch Parlamentskontinuität war in den 20er Jahren gegeben: Die Nationalversammlung, deren Werk im August 1919 vollendet war, nahm sich das souveräne Recht, bis weit ins Jahr 1920 ohne Neuwahl zu arbeiten. Die im Juni 1920 und Dezember 1924 gewählten Reichstage schöpften nahezu die Legislaturperiode aus. Dem noch die Inflations- und Stabilisierungskrise spiegelnden Reichstag der Maiwahlen 1924 wird nur die DNVP nachgetrauert haben, die für wenige Monate die stärkste Fraktion und so auch den Präsidenten stellte. – Bekanntlich wurden die Bundestage 1972, 1983 und 2005 zum Neuwahl-Appell ans Wahlvolk vorzeitig aufgelöst, ohne dass die Republik der plebiszitären „Todesstunde“ (Fraenkel) auch nur im Sekundentakt näher kam.

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erschwerte, war für die öffentliche Präsentation die Person an der Spitze von einiger Bedeutung. Wenn man von der äußersten Linken und Rechten absieht, die erst über die Weltwirtschaftskrise systemgefährdenden Massenzulauf erhielt, lässt der noch dürftige Forschungsstand die Einschätzung zu, dass mit der langen Präsidentschaft Löbe in öffentlicher Meinung eine insgesamt als gelungen betrachtete Repräsentation des Reichstags etabliert wurde.10 Wer die unmittelbare Nachkriegs- und Umbruchszeit erst mit dem KappLüttwitz-Putsch enden sieht, wird die Weimarer Epoche umso deutlicher mit der Ära Löbe verbinden. Zuvor war dieser gelernte Schriftsetzer seit 1903 Chefredakteur des Breslauer SPD-Blatts „Volkswacht“.11 Das kam der Ausdrucksfähigkeit sowie der Beweglichkeit seiner Kommunikationsformen sehr zugute und ließ ihn zu einem breit anerkannten Reichstagspräsidenten werden. Vor der Wahl in die Weimarer Nationalversammlung im Alter von 43 Jahren war er nur kommunal- und regionalpolitisch tätig gewesen. Entgegen zählebigen Klischees über „verkalkte“ Funktionäre repräsentierte Löbe als Reichstagspräsident symbolträchtig den Aufstieg einer neuen Generation. Es ist wohl eher die Geschichtsschreibung, die bislang den Reichstag in seiner Zentralstellung für politische Repräsentationskultur nur unzureichend berücksichtigte: Zu Braun, Ebert und Hindenburg liegen jeweils über 1000 Seiten umfassende Biografien vor12, doch Löbe ist weithin unberücksichtigt geblieben. Auch die Studie von Mergel über „Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik“ füllt solche Lücke nur partiell aus13, da ihr Schwerpunkt auf der binnenkulturellen Perspektive dieser Institution liegt. Ein Befund, dass der Reichstag in seiner Außendarstellung nicht sonderlich engagiert war, ersetzt keine breiter angelegten Untersuchungen, wie diese Repräsentativkörperschaft im Zeitalter der Massenkommunikation die öffentliche Meinung tatsächlich erreichte.

10 Die wesentlich nur Episoden schildernde Autobiografie von Paul Löbe, Der Weg war lang, 4. Aufl. Berlin 1990, S. 96, bemerkt aber zum äußerlich glanzlosen Start von 1919: „noch würdigte man nicht den Wert einer wirksamen Repräsentation!“ 11 Vgl. Theodor Oliwa, Paul Löbe. Ein sozialdemokratischer Politiker und Redakteur. Die schlesischen Jahre (1875–1919), Neustadt 2003. 12 Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a.M. 1977; Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1971–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006; Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007. 13 Vgl. gerade auch Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik, Düsseldorf 2005, zu Löbe: „Es ist ein Zeichen für die Unterschätzung des Parlamentarismus in der Weimarer Republik, dass es über diese wichtige Figur keine befriedigende wissenschaftliche Biographie gibt“ (S. 210/Anm. 142).

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2.  Der preußische Ministerpräsident als Stabilitätsfaktor Die Zeitspanne 1920 bis 1932, wie bei Löbe nur wenige Monate unterbrochen, war auch die Regierungsperiode des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun. Kein Amtsvorgänger nach Bismarck erreichte solches Maß an Leitungskontinuität, und kein Bundesland seit 1945 ist mit Preußen vergleichbar, das mehr ein zweites Teil-Reichsgebiet als nur ein Land neben anderen darstellte. Die Konsolidierung der Republik hatte sich in Preußen darin manifestiert, dass für die im Herbst 1920 beschlossene Landesverfassung über die Weimarer Koalitionsparteien hinaus auch die DVP stimmte. Wie Löbe entstammte der nur drei Jahre ältere Sozialdemokrat Braun dem Druckergewerbe, hatte sich aber nach Verlagstätigkeiten mit der Leitung einer Krankenkasse für administrative Führungsaufgaben qualifiziert. In Verbindung mit seinem gegen Antirepublikaner zunächst recht aktiven Innenminister wurde schon zeitgenössisch von einem „System Braun-Severing“ gesprochen. Wie bei Löbe war es auch für Braun kein Hindernis der parteiübergreifenden Akzeptanz bis weit in die bürgerliche Mitte, dass er ursprünglich links jedenfalls von Ebert stand. Als Agrarminister hatte er sich mit Vertretung der Landarbeiterinteressen so unbeliebt bei protestantischen wie katholischen Selbständigen gemacht, dass man dort eher noch seine künftige Ministerpräsidentschaft hinnehmen wollte.14 Durch Zusammenlegung der Reichstags- und Preußenwahlen 1924 und 1928 wurde signalisiert, dass es in beiden Wahlgebieten um reichsweit belangvolle Angelegenheiten ging. Nicht einmal bei der turnusmäßigen Neuwahl im Mai 1932 im Zeichen des Tiefpunkts der Weltwirtschaftskrise ist die Ära Braun komplett abgewählt worden. Da sich KPD und die nunmehr von der NSDAP dominierte Rechtsopposition nicht verständigen konnten, bestand seither eine verfassungsmäßig geschäftsführende Minderheitsregierung, bis diese verfassungswidrig gewaltsam über den sog. „Preußenschlag“ des autoritären Papen-Regimes aus der Regierungsverantwortung gedrängt wurde. Mit Preußen ging 1945 dann auch die Erinnerung an den letzten demokratischen Repräsentanten dieses Staates unter. Als Löbe 1950 den „Ministerpräsidenten Braun“ dem Bundestagspräsidenten Ehlers vorstellte, fragte dieser einem Bericht in der Wochenschrift „Die Zeit“ zufolge ganz erstaunt, welches Bundesland er denn als Ministerpräsident vertrete.15

14 Vgl. Schulze 1977, S. 42 (Steindrucker), S. 69 ff. (Verlag), S. 104 ff. (Krankenkasse), S. 229 ff../265 ff. (Agrarminister), S. 242 ff. (links) S. 299 (Braun-Severing). 15 Vgl. ebd., S. 31 (zit. n. „Die Zeit“ vom 13.7.1950).

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„Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür gegenüber dem Reichstag die Verantwortung“, stand bereits in Art. 56 der Weimarer Verfassung. Der Wortlaut von Art. 46 der neuen Preußischen Verfassung von 1920 war für den Ministerpräsidenten sinnidentisch. Dort war jedoch die parlamentarische Verantwortlichkeit als Kerninstitut jedes repräsentativen Systems weder durch präsidialen Überbau noch föderativen Unterbau wesentlich gehemmt.16 Dies half Otto Braun, auch in Koalitionsregierungen noch am ehesten wie ein Premier amtieren zu können. Gemäß Art. 45 ernannte der Ministerpräsident „die übrigen Staatsminister“, faktisch natürlich in Absprache mit den an einer Regierungskoalition beteiligten Parteien.

3.  Zwischen Kanzlerregierung und Präsidentschaft Der ursprüngliche Preuß-Entwurf zur Weimarer Verfassung wollte allerdings die Länderstaatlichkeit überwinden und die Präsidentschaft auf die Hervorbringung und Begleitung einer starken Parlamentsregierung konzentriert wissen.17 Doch erwiesen sich politisch-kulturelle Traditionsüberhänge als mächtiger. Schon das späte Kaiserreich hatte vom Sturz Bethmann Hollwegs bis zum Abtreten des Prinzen Max innerhalb von gut zwei Jahren vier Reichskanzler verbraucht. Was dem Monarchen und seinen Kanzlern an realer politischer Gestaltungsmacht verloren ging, war operativ auf die Oberste Heeresleitung unter Hindenburg-Ludendorff und die sich zunehmend selbständiger artikulierende Reichstagsmehrheit übergegangen. Dennoch wäre ein Zugriff Eberts auf die Kanzlerschaft wohl chancenreicher gewesen, um das Repräsentationsprofil ähnlich wie dann in Preußen zu gestalten. Das hätte der österreichischen Lösung entsprochen, wo Karl Renner zunächst das Staatskanzleramt übernahm, während nach dem Verfassungskompromiss die polarisierten Lager die Präsidentschaft dem bürgerlichen Sozialreformer Michael Hainisch überließen. Auch dieser war nicht etwa profilschwach, sondern hatte sich im Kreise der „Wiener Fabier“ engagiert und symbolisierte als Sohn der Frauenrechtlerin Marianne Hainisch auch diesbezüglich einen Aufbruch in die neue Zeit.18

16 Vgl. dazu Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919-1932, Düsseldorf 1985. 17 Vgl. die Einleitung von Detlef Lehnert zu Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 4: Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, S. 1–70. 18 Zum politischen Kontext vgl. Eva Holleis, Die Sozialpolitische Partei. Sozialliberale Bestrebungen in Wien um 1900, Wien 1978, S. 10 f., 72 f.

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Für das Verwaltungspersonal blieb Ebert auch als Mitglied der Revolutionsregierung weiterhin der Reichskanzler.19 Darin verkörperte er sogar ein Stück traditionaler Herrschaftslegitimation, weil Prinz Max von Baden sein Amt noch vom Kaiser empfangen und an Ebert abgetreten hatte. Gleichzeitig stand Ebert im Rat der Volksbeauftragten an der Spitze einer Revolution, die sich faktisch wesentlich auf das sozialdemokratisch-freigewerkschaftliche Organisationsnetzwerk stützte. Der tatsächliche Weg führte dann, insofern nun strikt dem legalen Typus der Herrschaftslegitimation folgend, über die verfassunggebende Nationalversammlung. Bevor Ebert sich für das Präsidentenamt entschieden hat, kursierte z.B. der Name des Berliner Oberbürgermeisters Wermuth auf der Liste des DDP-Vorsitzenden Naumann wie des bayerischen Gesandten20, den offenbar Kommunal-Preußen weniger beunruhigten als StaatsPreußen. Als Staatssekretär im Reichsschatzamt trat Wermuth 1912 im Protest gegen die ihm verweigerte Erhöhung der Erbschaftssteuern zurück. Daraufhin wurde er zum Berliner Stadtoberhaupt gewählt und war viel gerühmt wegen seines Organisationstalents gerade bei der schwierigen Lebensmittelversorgung im Krieg.21 Mit dessen Profil als bürgerlicher Sozialreformer, quasi eine Art „Berliner Fabier“, wären einem Kanzler Ebert kaum Probleme entstanden. Die Adenauer/Heuss-Lösung von 1949 wird man in anderer politischer Farbenlehre als solche Beantwortung einer doppelten Repräsentationsfrage einstufen können.22 Als Verkünder der Republik und langjähriger Abgeordneter im Reichstag wäre zudem der redegewandte und symbolbewusste Politiker Scheidemann als dessen Präsident zunächst eine logischere Besetzung gewesen als in operativer Führungsrolle des Reichsministerpräsidenten. Im Unterschied zu Scheidemann wäre mit Ebert nicht schon anlässlich des Versailler Vertrags diese Führungsposition zum Hauptschauplatz von In19 Für damalige Regierungsanalysen noch immer unentbehrlich: Wolfgang Elben, Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution 1918–1919, Düsseldorf 1965. 20 Vgl. Mühlhausen 2006, S. 174 (dort mit Anm. 37). 21 Dazu mit einigem Quellenwert: Adolf Wermuth, Ein Beamtenleben, Berlin 1922. 22 Der Nachruhm, aus historischer Gunst besserer Umstände nach 1949, lässt zuweilen vergessen, dass Adenauer zunächst primär ein Administrationsprofil vergleichbar zu Ebert aufwies und eher noch den Habitus kaiserzeitlicher Sekurität verkörperte, aus der seine Karriere als politischer Beamter herstammte. Obwohl es nach dem Zweiten Weltkrieg noch mehr ehemalige Soldaten als nach dem Ersten gab, konnte sich die rein zivile Repräsentationsform Adenauer/Heuss rasch den erforderlichen Respekt verschaffen. Der Oppositionsführer Schumacher, schwer gezeichnet von der äußeren Front des Ersten und der inneren des Zweiten Weltkriegs, erschien demgegenüber wie ein lebendes Mahnmal einer Geschichte, an die viele in neuem existentiellen Sekuritätsdenken nicht mehr erinnert werden wollten.

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stabilität und Diskontinuität geworden: Von den 12 Regierungschefs waren 8 insgesamt weniger als ein Jahr im Amt. Nur Hermann Müller von der SPD und außer Wilhelm Marx noch Joseph Wirth und Heinrich Brüning von der Zentrumspartei sind mehr als solche Interims-Repräsentanten gewesen. Aber keiner von Ihnen vermochte das Repräsentationsprofil dieser politischen Institution zu prägen. Das wäre anders verlaufen, hätte sich ein Kanzler Ebert ähnlich wie Otto Braun in Preußen auch über Regierungskrisen hinweg an der Staatsspitze behaupten können und wäre er nach dem Rechtsruck 1924 dann von einem Kanzler Stresemann abgelöst worden. Dieser Außenminister bleibt in politischer Erinnerungskultur mit dem Friedensnobelpreis 1926 verbunden.23 Tatsächlich amtierten sowohl Arbeitsminister Heinrich Brauns als auch Reichswehrminister Otto Geßler aber mit jeweils fast acht Jahren zwei Jahre länger als Stresemann. Nicht erst unter Hindenburg konnten freilich Reichswehrminister kaum ein selbständiges Repräsentationsprofil zeigen. So wurde Geßler schon als bloßer Fachminister bezeichnet, bevor er die DDP verlassen hat. Vielleicht hätte es mehr Chancen gegeben, die Reichswehr unter den Primat der Politik zu stellen, wenn Otto Braun das Angebot angenommen hätte, nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch Reichswehrminister zu werden.24 Verständlicherweise zog er die preußische Ministerpräsidentschaft vor. Aber seine Ausrede, er sei als Pazifist für das Amt ungeeignet, hat man pflichtbewussten Sozialdemokraten auch später nicht durchgehen lassen, sich damit einer undankbaren Aufgabe entziehen zu wollen. Im Sinne eines Bekenntnisses zur Geltung des Völkerrechts (Art. 4 WRV) war die Weimarer Verfassung ohnehin – in vernünftigem Maße – auf Pazifismus angelegt.25 Für die innere Repräsentation der Republik hätte vielleicht die Kontinuität im Arbeitsministerium bedeutsam werden können. Doch war der Zentrumspolitiker Brauns auch seinem Eigenprofil nach mehr ein Arbeits-Minister, so wie die ihm vorausgehenden und nachfolgenden SPD-Gewerkschaftler Bauer, 23 Analog zu Braun, Ebert und Hindenburg gibt es folglich dann auch eine umfassende Biografie: Jonathan Wright, Gustav Stresemann 1878-1929, München 2006. 24 Schulze 1977, S. 296 f. 25 Entgegen Klischees vom Weimarer „Kronjuristen“ und werturteilsneutralen Rechtspositivisten nannte das Kommentarwerk von Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Berlin 1929, aber eine in Art. 148 formulierte Norm, „die es als Auf­gabe unserer Schulen bezeichnet, für Völkerversöhnung zu wirken, einen Gewissens­zwang gegen jeden, der sein Deutschtum hochhält“; er bezog unter Hinweis auf das „Friedensdiktat von Versailles“ eine seiner nationalliberalen Herkunft entsprechende Gegenposition: „Vielmehr for­dert der Geist unseres Volkstums, allem andern zuvor, Erziehung der Jugend zur Deutschgesinnung, zum nationalen Selbstbewusstsein, zu nationalem Ehrgefühl“ (S. 593 f.).

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Schlicke und Wissell. Der führende Repräsentant des christlich-nationalen Gewerkschaftsbundes war Stegerwald, der 1921 für einige Monate Otto Braun als preußischer Ministerpräsident abgelöst hatte. Von Stegerwald ist schon 1920 die „Volksgemeinschaft“ zum politischen Programm erhoben worden, um eine deutungskulturelle Brücke zwischen katholischen und nationalen Strömungen in seinem Dachverband zu schlagen. In der völlig zutreffenden Analyse, dass ein Stichwort „Volksgemeinschaft“ von der NSDAP nicht erfunden, vielmehr – wie so vieles – nur umgedeutet wurde, gerät neuerdings aus dem Blickwinkel, dass auch zuvor dieses Schlagwort eine Stoßrichtung gegen „Klassenkampf“ aufwies und allenfalls eine Sozialdemokratie nach Art der Burgfriedenspolitik der Kriegsjahre tolerierte. Mit der „Volksgemeinschafts“-Parole konnte aber die endgültige Nationalisierung des vormals als „ultramontan“ (Rom-orientiert) abgestempelten Politischen Katholizismus tatsächlich vorangetrieben werden.26 Als späterer Kanzler wäre Stegerwald folgerichtiger als sein langjähriger Mitarbeiter Brüning erschienen, der freilich als Weltkriegsoffizier besser ins neue Repräsentationsprofil einer Hindenburgschen Präsidialregierung hineinpasste.27

4.  Repräsentationsprofile zweier Reichspräsidenten Bei den Reichspräsidenten Ebert und Hindenburg fällt auf, dass deren Amtszeit erst mit dem Sterbedatum ablief. Dies war zuletzt an der Staatsspitze und auch sonst in den höchsten politischen Führungspositionen nur im Dreikaiserjahr 1888 der Fall und ist auch seither im Präsidenten- oder Kanzleramt nicht wieder zu verzeichnen. Der jedenfalls in symbolischen, teils auch operativen Funktionen ersatzmonarchische Repräsentationsstatus des Präsidentenamtes tritt darin zutage. Bis heute ist Ebert das einzige sozialdemokratische Staatsoberhaupt, das wiedergewählt wurde und so auch die längste Amtszeit aufweist. Die Zuordnung des Nachfolgers wurde in der ihm nahe stehenden Rechtspresse nur einmal und sehr beiläufig erwähnt: „Hindenburg ist zwar Mitglied der Deutschnationalen Partei, aber er hat keinerlei parteipolitisches 26 Fatal symbolträchtig mündete die letztmalige Stigmatisierung der Zentrumspartei als „reichsfeindlich“ zu den „Hottentotten“-Reichstagswahlen 1907, als Erzberger die Übergriffe der Kolonialpolitik attackiert hatte, im Mord an diesem Politiker 1921, nachdem er dann mit der Erfüllungspolitik aus dem von ihm mit getragenen Waffenstillstand 1918 und Versailler Vertrag 1919 identifiziert wurde. 27 Auch wegen der überaus breiten Erschließung von Weimar-Literatur sei hier erwähnt: Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Stuttgart 2008.

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Interesse.“28 Dies würde als Richtungsverschiebung um vier Schritte nach rechts – DDP, Zentrum und DVP überspringend – erscheinen können, wenn es nicht auch manche Kontinuitätslinien gegeben hätte. Auf staatsinstrumenteller Ebene blieb dabei zugleich symbolträchtig, dass für Ebert und Hindenburg der gleiche Otto Meissner als Verfassungsberater tätig war. Der zum Staatssekretär aufsteigende Meissner hatte bereits 1919 als 39jähriger Karrierebeamter einen in weiteren Auflagen fortgeschriebenen Verfassungskommentar publiziert, der über seine Amtsstellung zusätzliche Bedeutung erlangte. Dort sah er den Präsidenten nicht schon „durch die Zuständigkeiten bestimmt, die ihm die Verfassung ausdrücklich zuweist. ... Das Amt erhält seinen wesentlichsten Inhalt durch die Persönlichkeit des Inhabers“29, also dessen jeweils spezifisches Repräsentationsprofil. Überdies gibt es von Ebert zu Hindenburg sogar ein verborgenes politischkulturelles Kontinuitätselement. Zumeist wird Max Weber mit dem Konzept der „plebiszitären Führerdemokratie“ die geistige Vaterschaft für eine kompetenzstarke Reichspräsidentschaft aus Volkswahl zugeschrieben. Er gehörte wie der Jurist Anschütz zum Beraterkreis um Preuß und soll beide zur Meinungsänderung gebracht haben, sich von liberal-repräsentativer Tradition der Präsidentenwahl aus dem Parlament zu verabschieden. Doch machte Weber in einem Brief zwei Tage nach jener Sitzung des Verfassungsbeirats, die Weichen in Richtung der Volkswahl des Präsidenten stellte, die situationsbedingten Motive deutlich: „das ‚Gespenstische’ der Lage liegt eben darin, dass Alles doch vielleicht ‚Makulatur’ wird, wahrscheinlich sogar, denn das Rad geht über die Dinge und uns Alle hinweg. Es sei denn, dass jetzt, was möglich ist, eine Diktatur Ebert’s kommt“.30 Das Versagen des wilhelminischen Führungspersonals hatte Weber im Krieg noch zu der Einsicht geführt, dass parlamentarischen Repräsentationsformen die beste politische Führungsaus-

28 Der Tag, 28.4.1925, zit. n. Detlef Lehnert, Die geschichtlichen Schattenbilder von „Tannenberg“. Vom Hindenburg-Mythos im Ersten Weltkrieg zum ersatzmonarchischen Identifikationssymbol in der Weimarer Republik, in: Kurt Imhof/Peter Schulz (Hg.) Medien und Krieg – Krieg in den Medien, Zürich 1995, S. 66/Anm. 38. Die „Mitgliedschaft“ wird nicht im formellen Sinne einer Beitragszahlung bestanden haben, sondern als Parteigängerschaft nach Art jener gouvernementalen Orientierung der höheren Beamten und Führungsoffiziere der Vorkriegszeit, deren vermeintliche „Überparteilichkeit“ Radbruch die „Lebenslüge des Obrigkeitsstaats“ nannte. 29 Otto Meissner, Das Staatsrecht des Reichs und seiner Länder, Berlin 1923, S. 91. 30 Zit. n. Preuß 2008, S. 14 (mit dem alles überrollenden Rad der Geschichte und letzter Hoffnung auf Ebert meinte Weber jene Straßenkämpfe des 6.12.1918, die vor der entscheidenden Sitzung des Verfassungsbeirats die Berliner Zeitungsspalten füllten).

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lese gelingen kann.31 Jedenfalls in einer Ausnahmesituation sollte aber offenbar der parlamentarischen Vielfalt noch eine besondere Repräsentation der staatlichen Einheit gegenübergestellt werden. So muss es Weber beeindruckt haben, dass heimkehrende Truppenteile die Parole ausgaben, nunmehr Ebert zum Präsidenten auszurufen, um einen neuen Ordnungsfaktor zu schaffen. Weber hat einige Monate darauf auch öffentlich in einem Zeitungsartikel an die Sozialdemokratie appelliert, sich von einem „kleinbürgerlichen, pseudodemokratischen Vorstellungskreis“ zu lösen, weil die „vielberedete ‚Diktatur‘ der Massen eben: den ‚Diktator‘ fordert, einen selbstgewählten Vertrauensmann der Massen, dem diese so lange sich unterordnen, als er ihr Vertrauen besitzt“.32 Neben der Reichskanzler-Fiktion des 9. November, die von der Realität des Rates der Volksbeauftragten schon einen Tag darauf überholt war, stand nach dem 6. Dezember 1918 nun auch die Präsidenten-Vision symbolträchtig im öffentlichen Raum. So wie entsprechende Pläne sich verbreiteten, wurde dahinter tatsächlich ein plebiszitär-autoritäres Konzept sichtbar. Dies waren nicht allein spontane Willensbekundungen. Es gibt diverse Belege, dass aus der Heeresleitung selbst auf ein Gegenkonzept zur Novemberrevolution hingearbeitet wurde33: Wiedereinberufung des Reichstags und Einsetzung Eberts als Präsident mit weitgehenden Vollmachten. Mehr noch als Gelehrte neigten allerdings Militärs dazu, die parteipolitische Bindung des Ebertschen Regierungsauftrags zu unterschätzen. Denn er war eben nicht als plebiszitäre Führungspersönlichkeit, sondern als hinter den Kulissen organisierender SPDChef in sein Amt gelangt. Es mag der Zugriff Eberts auf das Präsidentenamt aus den Händen der Konstituante auch der symbolpolitischen Logik gefolgt sein, diese mögliche offene Flanke eines plebiszitär-autoritären Regimes zu schließen. Tatsächlich geschah aber das 1919 noch Undenkbare, dass nämlich 1925 ein 77jähriger der Nachfolger eines 54jährig Verstorbenen wurde, und so konnte letztlich Hindenburg diese Präsidentschafts-Projektionen aufgreifen.34 Genau dies meint die These von einer verborgenen Kontinuitätslinie in den politisch-kulturellen Dispositionen im Hintergrund des Reichspräsidentenamts: Von den heimkehrenden Truppen als neuer Volksführer gewissermaßen auf dem Schild durch die Straßen der Reichshauptstadt getragen zu werden, stand Ebert nicht zur Verfügung. Aber in Hindenburg wurde die ursprüngli31 Vgl. Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1971, S. 306–443. 32 Ebd., S. 499. 33 Detailgenaue Analysen der militärpolitischen Konstellation finden sich vor allem bei Ulrich Kluge, Soldatenräte und Revolution, Göttingen 1975. 34 Das Repräsentationsprofil von Hindenburg ist eindringlich analysiert bei Pyta 2007.

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che Farce dann historische Realität, da ihn nichts mehr qualifizierte als der Heerführer-Mythos. Die weitere Verlängerung dieser hintergründigen Kontinuitätslinie des unbewältigten Weltkriegserbes, nämlich die Machtübergabe vom Generalfeldmarschall a.D. an den so genannten „böhmischen Gefreiten“ Hitler, wuchs sich dann bekanntlich zur eigentlichen Tragödie aus.35 Doch war der Übergang von Ebert zu Hindenburg nicht die alleinige Zäsur in den langen Amtszeiten Brauns und Löbes. Auch die erste und zweite Periode innerhalb der Ära Ebert und Hindenburg unterschieden sich im Repräsentationsprofil stärker, als es in vielen Darstellungen zum Ausdruck kommt.36 Als Eberts beste Jahre wird man die Periode nach der Revolution 1918/19 und vor dem Inflationswinter 1922/23 bezeichnen dürfen. In dieser Zeit verdankte er nicht nur sein politisches Mandat der Weimarer Koalition, sondern leistete auch wesentliche Beiträge, dass sich diese für gemeinsames Wirken zusammenfand. Indem sich das Provisorium parlamentarischer Wahl des Präsidenten offenbar gut bewährt hatte, wäre es naheliegend gewesen, die Zweidrittelmehrheit seiner Wiederwahl für solche Verfassungsänderung zu nutzen, statt einen fragwürdigen Präzedenzfall der Verfassungsdurchbrechung über Amtszeitverlängerung zu schaffen. War keine Verfassungsänderung gewünscht oder sie nicht durchsetzbar, hätte gerade nach dem Rathenaumord 1922 die mit Abstand günstigste Konstellation für die Volkswahl bestanden. Zu diesem Zeitpunkt erlangte die wiedervereinigte SPD mit 38 % der Reichstagsmandate eine Stärke wie zuvor nur kurz in der Weimarer Nationalversammlung und dann erst wieder in den 1960er Jahren unter Willy Brandt. Regionale Wahlergebnisse bestätigten dies als nahezu repräsentativ für die Massenstimmung.37 Stattdessen wurde mit Kanzler Wirth der nach dem Erzbergermord führende Repräsentant des südwestdeutsch-demokratischen Zentrumsflügels entmachtet und die präsidiale Fehlentscheidung der Ernennung des NichtPolitikers Cuno zu dessen Nachfolger getroffen. Die Inflationskrise brachte dann häufigen Gebrauch des Art. 48 sowie ein erstes Ermächtigungsgesetz und die Reichsexekution gegen Sachsen mit ebenso folgenschwerer Vor35 Vgl. die für aktivistische Kreise ausschlaggebenden Stichworte bei Wolfram Pyta, Die Privilegierung des Frontkämpfers gegenüber dem Feldmarschall, in: Ute Daniel u.a. (Hg.), Politische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren, München 2010, S. 147–180. 36 Näher ausgeführt bei Detlef Lehnert, Die Weimarer Republik, Stuttgart 2009. 37 Wegen der in Erläuterungsteilen zusätzlich vorhandenen Daten und Quellen kann zuweilen der Rückgriff auf die ältere Version lohnen: Detlef Lehnert, Die Weimarer Republik, Stuttgart 1999, S. 268 f.

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bildwirkung für den späteren „Preußenschlag“. Nunmehr häufte sich auch Kritik des Reichstagspräsidenten Löbe und des preußischen Ministerpräsidenten Braun an präsidialer Repräsentation, die linksrepublikanische Kräfte unzulänglich integrierte und der republikfernen Rechten zu „konziliant“ begegnete.38 Das war auch die Meinung bei Liberaldemokraten wie Preuß, der nun häufiger betont kritische Artikel dazu veröffentlichte.39 Nur zwischen der ersten Amtsperiode Eberts bis zum Herbst 1922 und der zweiten Hälfte der Hindenburg-Jahre seit Frühjahr 1930 lagen tatsächlich Welten. Aber spätestens die beiden Reichstagswahlen 1924 mit jeweils über 20 % deutschnationalen Mandaten schufen die Voraussetzungen für ein politisch-kulturelles Restaurationsklima, in dem kurz darauf Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt werden konnte. Gleichzeitig hatte sich vom Januar 1919 bis Mai 1924, parallel zur Entkernung des ursprünglichen Repräsentationsprofils der Präsidentschaft Eberts, die SPD-Wählerschaft von 11 ½ auf weniger als 6 Millionen halbiert. Gerade weil der Vorsprung Hindenburgs mit 3 % vor dem Zentrumspolitiker Wilhelm Marx als Kandidat der Weimarer Koalitionsparteien so gering war, ist es wohl zutreffend, dass eine charismatische Komponente seines Weltkriegsmythos den Ausschlag gab. Im Frühjahr 1925 fanden sich nach Krisenjahren aber starke traditionalistische Impulse bei jenen, die ohnehin für nahezu jeden Kandidaten der Rechten gestimmt hätten. Hindenburg wurde überwiegend von einer Generation kaiserzeitlicher Sekurität gewählt, die aus den Wirren der Kriegs- und Nachkriegsdekade 1914-1924 nun alsbald ersatzkaiserlich herausgeführt sein wollte. Dass er auch nicht entfernt Nachfolger des Tatmenschen Bismarck sein konnte, war an ihm klar genug zu erkennen. Aber eine ruhigere Hand am Ruder des Staatsschiffs wie noch unter Wilhelm I. und dem als „Wissenschaftler des Krieges“ stilisierten Moltke, also nicht die Sprunghaftigkeit wie zuletzt mit Wilhelm II. und Ludendorff, konnte man Hindenburg zutrauen. Solche Erwartungen hat er in der ersten Hälfte seiner Amtszeit erfüllt – in nunmehr ruhigeren Zeitumständen trotz einiger restaurativer Symbolhandlungen instrumentell sogar zurückhaltender als sein Vorgänger. Damit wurde aber ein großer Teil der traditionalistischen wie der charismatischen Repräsentationsmotive verbraucht. Spätestens mit Unterzeichnung der Young-Plan-Gesetze im März 1930 isolierte sich der Funktionsträger Hindenburg ähnlich von seiner Wählerbasis wie Ebert in der zweiten Hälfte von dessen Amtszeit. Nicht allmählich zum Staatsnotar einzuschrumpfen, bildete für ihn ein zusätzliches Motiv, nun demonst38 Vgl. Mühlhausen 2006, S. 904 (Löbe); Schulze 1977, S. 403 f. (Braun). 39 So vor allem in: Hugo Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar, Berlin 1924.

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rativ einen Übergang ins Präsidialregime zu vollziehen. Die Massenflucht der Hindenburg-Wähler von 1925 zu Hitler und dem Stahlhelm-Kandidaten Duesterberg 1932 bleibt dennoch ein drastisches Beispiel, wie die Veralltäglichung einer partiell charismatischen Repräsentationsform diese unter Bedingungen legaler Herrschaft aus- und letztlich aufzehrt. Hindenburgs „Preußenschlag“Kanzler Papen ist dann mit grotesken 10 gegen 90 Prozent im ungeliebten Reichstag untergegangen. Das klägliche Ende dieses Präsidialregimes wurde zur Bestätigung eines seltenen Augenblicks von Selbsterkenntnis, in dem Hindenburg über den so weitgehend nicht erwarteten Austausch seiner Wählerschaft ausrief: „Ja, was bin ich für ein Esel gewesen, dass ich mich ein zweites Mal habe wählen lassen!“40 Die eigentliche politische „Eselei“ hatten aber die republikanischen Teile der vermeintlich staatserhaltenden Ordnungskoalition von 1932 begangen. Für diese erschien Hindenburg als die einzige noch verbliebene Repräsentationsalternative von legaler Herrschaft in Konkurrenz zur charismatischen Massenmobilisierung Hitlers.41 Tatsächlich bedeutete die Auslieferung der Republik an die Restentscheidung Hindenburg oder Hitler in wenigen Monaten auch das symbolträchtige Ende der zwölfjährigen Ära Braun und Löbe.

5.  Probleme eines fragmentierten Repräsentationsgefüges Der in Wahlstimmen messbare Sammlungserfolg Hitlers belegte zuletzt, dass im Gegensatz zu manchen Geschichtsbildern nicht Kontinuitätsfaktoren zum Kaiserreich, sondern politisch-kulturelle Erosionstendenzen das Hauptproblem gewesen sind. Wo es tatsächlich stabile „rote“ und „schwarze“ Integrationsmilieus gab wie in Hitlers Geburtsland Österreich, blieb seine NSDAP bis Anfang 1933 relativ schwach und beerbte wesentlich nur das sog. dritte Lager der Großdeutschen.42 In Deutschland krankte jedoch die parlamentarische Repräsentationsform an ständigen Friktionen: Neben der SPD wuchs vorüberge40 Zit. n. Pyta 2007, S. 683. 41 Angesichts der zuweilen etwas vordergründigen Entlehnung des Weberschen Charisma-Konzepts muss darauf hingewiesen werden, dass dieser Klassiker der Politischen Soziologie den Typus legal-bürokratischer Herrschaft gewiss auch vor dem Hintergrund des preußischen Anstaltsstaats entfaltet hat. Von legalistischen Skrupeln war Hindenburg in seiner Rolle als Staatsfunktionsträger weniger frei als ein Politiker wie Bismarck. Auch schon unter dem Stichwort „Hindenburg-Programm“ kursierte im Krieg nicht primär ein mit seinem Namen verbundener politisch gestaltender Entwurf, sondern die Organisationsform einer gigantischen Materialschlacht. 42 Vgl. Dirk Hänisch, Die österreichischen NSDAP-Wähler, Wien 1998.

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hend die USPD und dann bald eine stalinisierte KPD zur Massenpartei. Der angeblich so milieufeste Politische Katholizismus war nicht nur regional in Zentrumspartei und BVP gespalten, auch das Zentrum wirkte gerade in führenden Repräsentanten nur wenig zentriert: Der Ex-Kanzler Wirth trennte sich vorübergehend von der Fraktion, Papen als Kanzler sogar von der Partei, Stegerwald hatte in seiner Funktion stets auch den Brückenschlag zum nationalen Lager im Auge, und Brünings Loyalität zu Hindenburg ließ ihn die Interessen der eigenen Wählerschaft vernachlässigen. Seit der gespaltenen Dawes-Plan-Abstimmung 1924 zerfiel die DNVP ersichtlich in Interessenten und Ideologen; der Letzteren Einfluss trieb Nachfahren der Vorkriegskonservativen unter die Führung des vormals nationalliberalen Alldeutschen Hugenberg. Dauerkonflikte mit dem Stinnes-Flügel der DVP bremsten Stresemanns Ambitionen. Die bei Gründung noch eher linksliberale DDP etikettierte sich in Fusion mit dem teils antisemitischen Jungdeutschen Orden 1930 zur „Staatspartei“ um. Wie sollte das staunende Publikum bei so ausgeprägter Fragmentierung und Profilunschärfe noch begreifen, was rivalisierende Kräfte jeweils repräsentierten? Eine massendemokratisch zu verankernde parlamentarische Repräsentation funktioniert am wirksamsten als bipolares System. Das muss nicht ein schlichtes Links-Rechts-Schema und schon gar kein Zweiparteiensystem sein, wie Preußen in der Ära Braun bezeugt. Dort sind aber die Konturen von Regierung und Opposition zumeist ähnlich klar gewesen wie zu Beginn des Kaiserreichs mit Bismarcks Reichsfreunde-/Reichsfeinde-Polarisierung und der frühen Bundesrepublik in einer Adenauer-Schumacher-Rivalität. Im Überhang der Burgfriedensmentalität des Ersten Weltkriegs wurde jedoch mit häufigem Schielen auf einheitsbildende Kräfte von Großen Koalitionen die konkurrenzdemokratische Logik in der Weimarer Zeit ignoriert. Eine jüngst publizierte Auswertung der namentlichen Abstimmungen im Reichstag bestätigt auch für die Periode der relativen Stabilisierung von 1924 bis 1928 zwei verhaltensprägende Spannungslinien43: Den zuverlässig republiktragenden Fraktionen 43 Vgl. das Schaubild bei Marc Debus/Martin E. Hansen, Die Dimensionalität der Reichstage der Weimarer Republik von 1920 bis 1932, in: Politische Vierteljahresschrift 51 (2010), S. 33. Die S. 34 unterstellte Bestätigung der Mergel-These zur möglichen Integration der DNVP findet sich aber in jenem Schaubild nur hinsichtlich eines die NSDAP zuweilen noch gewollt übertreffenden ideologischen Extremismus des alldeutschen Pressemagnaten Hugenberg. Demgegenüber ist der empirische Befund für die Entwicklung des Westarp-Flügels bis 1928 mit „nur“ gleichem Niveau des Antirepublikanismus wie bei der NSDAP kaum ermutigend. Ebenso geben auf der sozioökonomischen Konfliktachse die nüchternen Daten gerade nicht das her, was die Autoren in Übernahme von Thesen aus der Literatur im Textumfeld anmerken: Tat-

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SPD und DDP standen ebenso verlässlich antirepublikanische Positionen von DNVP und NSDAP gegenüber. Unter den nicht klar einem dieser politischen Lager zugehörigen Parteien bildeten KPD und DVP auf der sozioökonomischen Konfliktachse die extremen Polaritäten. Also nicht allein verfassungsnormative, sondern auch empirisch ansetzende parlamentarische Repräsentationsanalyse führt zu diesem Befund: Nach dem Verlust einer sozialliberalen Gründungsmehrheit kam so gesehen nur mehr der Politische Katholizismus für erweiterte strategische Partnerschaft in Frage. Am gründlichsten verfehlten jedoch seit dem Sturz des Kabinetts Wirth zunehmende Neigungen die Anforderungen demokratischer Repräsentation, aus den Schwierigkeiten der Mehrheitsbildung dann Zuflucht in der Ernennung von „Fachministern“ oder sog. Fachkabinetten zu suchen. Die militante Ideologisierung der politischen Extreme verdeckte Entwicklungen, das Repräsentationsprofil zur Staatstechnik hin zu verlagern und den Eindruck zu erwecken, als sei die Herrschaft über Menschen einer fachmännischen Verwaltung von Sachaufgaben gewichen. Im engeren kulturgeschichtlichen Verständnis wird die Ablösung der expressionistischen Periode durch entindividualisierende „Neue Sachlichkeit“ gemeinhin in den Verlauf der 20er Jahre datiert.44 Diese Tendenz hatte nicht allein progressiv-aufklärerisches Gepräge, sondern begleitete auch moderne Zivilisationstechniken, die wert- und systemindifferent erschienen. Jene von Max Weber beschriebene Verselbständigung des „Gehäuses der Hörigkeit“45 gegenüber neuen Staatsverwaltungs- und Kulturtechniken mit Dominanz des „Fachmenschentums“ begünstigte die Trennung zwischen instrumentellen und symbolischen Dimensionen in Repräsentationsprofilen. Schon die Streberei Wilhelms II. nach „persönlichem Regiment“ geriet ansächlich war die DVP im Abstimmungsverhalten sozusagen der restaurative Gegenpol zur revolutionären KPD. Statt jedoch die behauptete „Linkswende“ der SPD im Gefolge des Heidelberger Programms von 1925 (S. 20) zeigt das Schaubild damals klar eine moderate Position der linken Mitte, die nicht über das hinausging, was sogar die NSDAP in jener frühen Phase an Arbeitnehmerfreundlichkeit demonstrieren wollte. Überraschend ist eher die sozialpolitisch von den SPD-Gewerkschaftlern gar nicht so weit entfernte Haltung der DNVP. Das wirft die kritische Frage auf, warum der Stegerwald-Dachverband nicht auch diesen Brückenschlag versuchte, die „Gewerkschaftsachse“ aber nur Planspiel des isolierten Generals Schleicher blieb – und dann nur mehr der NSDAP die letzten Argumente der Überwindung des sozialreaktionären Papen-Regimes zugespielt waren. 44 Der Überblick von Büttner 2008 bezieht den Kulturbereich ein (S. 209–334). Im Konzept angelegt bei Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1990. 45 Zur Einführung und Orientierung: Hans-Peter Müller, Max Weber, Köln 2007.

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stelle politisch organisierender Führung mehr zur substanzarmen öffentlichen Selbstinszenierung. Die rastlose operative Tätigkeit des Emporkömmlings Ludendorff stellte den reaktivierten Generalspensionär Hindenburg für den symbolbefrachtet repräsentierenden Teil des OHL-Herrschaftsanspruchs frei. So fiel Ludendorff nach der Kriegsniederlage auch noch der Putschaktionismus zur Last, weswegen er im ersten Wahlgang zur Reichspräsidentschaft 1925 mit 1 % Stimmen endgültig marginalisiert wurde. Sein Nachfolger Groener war auf operative Leitungsfunktionen zunächst im Demobilmachungsprozess und später als Reichswehrminister reduziert. Den vornehmlich organisations- und verhandlungserprobten Reichspräsidenten Ebert ergänzten hingegen Kanzler und Minister mit mehr Neigung zur Symbolpolitik wie Scheidemann, Erzberger, Rathenau, Wirth und Stresemann. Insofern war die politische Klasse dann mit instrumentalistischer Blindheit geschlagen, das Staatsbürgerpublikum 1925 ggf. auf die Volkswahlentscheidung zwischen den Beamten-Profilen von Karl Jarres und Wilhelm Marx beschränken zu wollen und damit leichtfertig eine symbolpolitisch-plebiszitäre Flanke für die Kandidatur Hindenburgs zu öffnen. Im ersten Wahlgang hatte noch Otto Braun für die SPD kandidiert46, nachdem Löbe sich verweigerte; denn sein Repräsentationsprofil war diskursiv-moderierend und nicht dezisiv-staatsleitend geprägt. Seitdem mit Ebert der Organisationspolitiker erster Reichspräsident und der Symbolpolitiker Scheidemann Reichsministerpräsident geworden war, ist nach dem Verzicht auf den Kanzler- und 1922 dann Volkswahlzugriff Eberts hier vielleicht ein dritter strategischer Fehler unterlaufen. Vorliegende Zeitzeugnisse berichten, dass Hindenburg allein Braun bis zum Herbst 1929 noch respektvoll und nicht herrisch von oben herab behandelte wie zuvor und danach „seine“ Reichskanzler. Der alte Herr mag sich in seiner historischen Erinnerungswelt zuweilen als vereinigter Symbolerbe Wilhelms I. und Moltkes gefühlt haben. Doch mit dem langjährigen preußischen Ministerpräsidenten 46 Ein bei Schulze 1977, zwischen S. 544/45, abgedrucktes Flugblatt der SPD vom März 1925 hilft manche falsche Vorstellung zur politischen Repräsentationskultur in der Weimarer Republik zu korrigieren. Nicht erst in Konkurrenz zur NSDAP wurde die von Max Weber mit „Führer“-Auslese bezeichnete Funktion der parlamentarischen Demokratie auch wahlwerbend aufgegriffen. Die Parole „Jarres ... nein – Braun soll unser Führer sein“ liest sich ja nur deshalb heute so anders, weil seit 1933 sozusagen „der Führer“ dann „braun“ war. Für das breitere Publikum waren nicht Parteitagsreden oder Leitartikel in Parteiorganen, sondern andere Medienträger der Massenkommunikation orientierend. Die von 1925 bis zum Doppelwahlkampf im Reich und in Preußen 1928 wohl ihren Höhepunkt erreichende Präsentation Otto Brauns kann jedenfalls nicht bestätigen, dass die SPD ihren geeignetsten Repräsentanten in falsch verstandenem Egalitarismus versteckte oder gar öffentlich demontierte.

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Braun stand ihm operativ dann noch am ehesten so etwas wie ein rot lackierter „Eiserner Otto“ gegenüber, dessen kräftige Einen-Meter-Neunzig-Gestalt sogar äußerlich etwas an Bismarck erinnerte. Überdies war die preußische Polizei die einzige mögliche Gegenmacht, die auch den Oberbefehlshaber der Reichswehr in seiner militärisch geprägten Vorstellungskraft beeindruckte. „’Wenn er will’, vertraute Hindenburg Besuchern an, „kann Herr Braun ein paar Polizisten über die Straße schicken und mich verhaften lassen“.47 Das war gewissermaßen das virtuelle Gegensymbol zum berüchtigten Motto von Hindenburgs Gutsbesitzer-Kollegen Oldenburg-Januschau, dass ein preußischer König und deutscher Kaiser jederzeit in der Lage bleiben müsse, den Reichstag mit „einem Leutnant und zehn Mann“ zu schließen. Es ist also fraglich, ob Hindenburg bereit gewesen wäre, auch gegen Braun im zweiten Wahlgang neu anzutreten. Gegen Wilhelm Marx als Vertreter der Minderheitskonfession zu gewinnen, wird Hindenburg als folgerichtig zu erwarten angesehen haben. Aber sozusagen nachträglich das frühe ordnungszentrierte Arrangement mit Ebert aufzukündigen und damit unvermeidlich tiefe innenpolitische Gräben aufzureißen, wäre ihm wohl schwerer gefallen. Hingegen konnte er den unterlegenen Zentrumsbewerber, der im Unterschied zu Braun keine eigenen Machtbastionen aufzubieten hatte, dann als einen unter vielen Kanzlern wieder einbinden und deren politische Richtlinienkompetenz bis 1932 immer weiter subalternisieren. Nach ähnlichem Muster hat er zuletzt auch den im Reichspräsidenten-Wahlkampf 1932 unterlegenen Hitler einbinden wollen. Nur diese „Kleinigkeit“ hatte Hindenburgs und seines Umfelds demokratieferne Gedankenwelt dabei übersehen: Seine Wählerschaft von 1925, mit der DNVP als zweitstärkster Reichstagspartei hinter einer SPD, die ihren Bewerber im zweiten Wahlgang zurückzog, hatte er wirklich zu repräsentieren vermocht. Hingegen war Hindenburg 1932 überwiegend nur als kleineres Übel gegenüber Hitler gewählt worden und hatte sonst fast nur mehr gemäßigt rechtsstehende Splittergruppen hinter sich.48 Ein Kernproblem der Politischen Kultur blieb im langen Schatten der Weltkriegsfolgen ein Defizit an Zivilität.49 In soziokultureller Hinsicht müsste 47 Zit. n. Schulze 1977, S. 492. 48 Zur allgemeinen Datenbasis auch für diesen Beitrag: Jürgen Falter u.a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986. 49 Wenn Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München 1928, dessen DNVP-Mitgliedschaft (bis 1930) von seinen liberalen Schülern nach 1945 verdrängt wurde, auf dem Bekenntnis insistierte: „Das Heer ist nicht nur Veranstal­tung oder Werkzeug, sondern vor allem eine Lebensform des Staatsvolks“, hatte er Grund­sätze des „politischen Gemeinschaftserlebens“ in den „Weltkriegsschicksalen“ exempla-

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nicht allein in Mordserien sogar zusätzlich eine zivilisatorische Regression konstatiert werden. Aber das wäre ein neues Thema, das neben kultur- auch humanwissenschaftlichen Sachverstand mit einzubeziehen hätte. Schon die äußere Lage bis hin zum „Ruhrkampf“ 1923 sorgte dafür, dass Kriegsmentalitäten immer wieder reaktiviert wurden. Es würde hier zu weit führen, die fortdauernde Militarisierung der Innenpolitik detailliert zu erörtern – bis hin zu jenem Dokument, in dem Ebert zum Krisenhöhepunkt 1923 neben dem Oberbefehl auch die vollziehende Gewalt vorübergehend an den Reichswehrchef Seeckt abgetreten hat.50 Was Preuß damals in einem Zeitungskommentar hinsichtlich des Missbrauchs von Art. 48 anmerkte, hatte über den Anlass seiner Ablehnung der Reichsexekution gegen die sächsische Linksregierung hinaus grundsätzliche Bedeutung: „Befehle eines Generals an eine Landesregierung oder eine Landesvertretung sind in der bürgerlichen Republik ein Unding.“51 Dieses Insistieren auf einer staatsbürgerlichen Zivilität der Republik war die liberaldemokratisch-moderate Variante des bitteren Fazits, dass manche als staatserhaltend hochgelobte Führungsentscheidung der Nachkriegszeit wesentlich darin bestand, den Militärs wie schon in der Kriegsära HindenburgLudendorff weiterhin allzu weitgehende Vollmachten zu belassen. Insofern hatte sich auch schon in die Weimarer Republik seit 1923 eine Art von tatsächlicher Nebenverfassung, teils fast ein wenig Doppelstaatlichkeit hineingefressen, die unter Hindenburg dann offiziell wurde. In welchem Maße dieser Weltkriegsüberhang unvermeidlich war, ist gewiss nicht zeitgerecht an der Erbauungsliteratur des soldatischen Nationalismus zu bemessen, und sogar Hindenburg vermochte 1925 keine absolute Mehrheit zu mobilisieren. Über den (Anti-)Kriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ hat sich die Rechtspresse auch deshalb so erregt, weil er jedenfalls im städtischen Raum sehr populär war.52 Mit der Parole „Kinderspeisung statt Panzerkreuzer“, die ursprünglich risch vor Au­gen (S. 46/Anm.1, 14, 16). Die Smend-Kritik bei Hans Kelsen, Der Staat als Integration, Wien 1930, hat gegen solchen Neuhegelianismus dann neukantisch die Erfahrungen des „Kriegsteilnehmers“ dekonstruiert: „Denn der erlebt Kasernendrill, Schützengraben, Sturmangriff, Trommelfeuer und tausend andere Einzelheiten, die in ihrer mosaikartigen Totalität (Erlebnistotalität) alles, nur nicht die reale Einheit des soziologi­schen und am allerwenigsten des eigenen Staates darstellen“ (S. 40). 50 Nachweise in Preuß 2008, S. 685 (Kommentartext Lehnert). 51 Ebd., S. 385. 52 Gegen Ende der 1920er Jahre gewinnt die Verbildlichung zunehmende Bedeutung für angemessene Analyse nicht zuletzt auch von Politischer Kultur, noch bevor die Vertonung des politischen Zeitgeschehens über die Wochenschau im Kino und den häuslichen Radio-„Volksempfänger“ tatsächlich propagandistische Massenbeeinflussung ermöglichte. Die Beschallung durch Wahlreden usw. sollte zuvor nicht überschätzt

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der linksliberale Publizist Hellmut v. Gerlach formulierte, holte die SPD 1928 ihr bestes Ergebnis im Reich und in Preußen seit der Nationalversammlungswahl 1919. In historischen Analysen wird die Existenz des Frauenstimmrechts als Reservoire einer Prämie auf Zivilität und Zurückdrängung der Weltkriegspsychosen kaum beachtet. Das hängt sicher mit dem Mangel ähnlich bedeutender politischer Repräsentantinnen zusammen, ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass NSDAP und KPD als gewalttätig auftretende Parteien nur erkennbar unterrepräsentiert auch weibliche Unterstützung erhielten.53

6.  Fazit und Forschungsperspektiven Zwei Schlussfolgerungen ergeben sich aus dieser Problemskizze: Auch für politische Repräsentationskultur ist die Zeitdimension konstitutiv. Die parlamentarische Temporalstruktur ist die Legislaturperiode, und weil keine einzige Kanzlerschaft der Republikzeit eine solche überdauerte, konnte es schon deshalb keinen Weimarer Bismarck oder Adenauer geben. Auch ein Kanzler Adenauer, der 1926 konkret in Erwägung stand, hätte damals nicht mehr als ein Beamtenpolitiker nach dem Muster „Zwischen Rathaus und Reichskanzlei“54 sein können; sein Name wäre dann ebenso mit dem „Bonn ist nicht Weimar“Verdikt55 belegt gewesen und heute wohl nicht bekannter als die anderen 19 Reichskanzler nach Bismarck und vor Hitler. Politische Kulturanalyse sieht insofern auch in führenden Repräsentanten mehr den Ausdruck als die Gestal-

werden, da für auditive Wirksamkeit doch weit mehr als bei visueller Begegnung mit Abbildungen in Zeitungen und Plakaten die aktive Bereitschaft zur Aufnahme beim dorthin sich bewegenden Publikum erforderlich war (Bismarck sprach mit Fistelstimme und Adenauer fehlte die rhetorische Ausdruckskraft mancher Widersacher, dennoch ist die politische Repräsentationswirkung beider kaum zweifelhaft). 53 Vgl. Falter u.a. 1986, S. 83, dass bei der Reichstagswahl 1930 die KPD und auch die NSDAP nur ca. 75 % bzw. 88 % der Frauen- anteilig gegenüber den Männerstimmen (diese als 100 % gesetzt) sammelte. 54 Vgl. Wolfgang Hofmann, Zwischen Rathaus und Reichskanzlei. Die Oberbürgermeister in der Kommunal- und Staatspolitik des Deutschen Reiches von 1890 bis 1933, Stuttgart 1974. 55 Vgl. Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2009; Christoph Gusy (Hg.), Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003.

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ter ihrer historischen Zeitumstände.56 Nicht minder wichtig ist hier der politisch-kulturelle Raum, in dem sich Repräsentationsprofile bilden und behaupten müssen. Die Profilunschärfen in einem fragmentierten Repräsentationsgefüge ohne klar erkennbare Polaritäten sind auf Reichsebene vermutlich nachteiliger gewesen als für sich genommen ein als Erklärungsfaktor viel bemühter politischer Extremismus, der so aber noch weiter begünstigt wurde. Um noch einmal auf die Schaubilder des Abstimmungsraums Reichstag zurückzukommen57: In solcher quantifizierenden Zweidimensionalität erscheinen katholische Zentrumspartei und DVP als im operativen Parlamentsalltag benachbart. Trotzdem verliefen zwischen beiden die Bruchlinien der Reichspräsidentenwahl 1925 und zumeist auch der Preußenkoalition. Das Kabinett des DVP-nahen Kanzlers Hans Luther verlor in jener Legislaturperiode seine Mehrheit über die außenpolitische Richtungsfrage des Locarno-Abkommens; es scheiterte letztlich am Symbolkonflikt um die Reichsfarben, das Kabinett Marx dann im Streit um die Konfessionalität des Schulwesens. Der politisch-kulturelle Raum der Weimarer Republik war also in einer die Repräsentierenden wie die Repräsentierten gleichermaßen überfordernden Weise vieldimensional konfiguriert, nicht allein sozioökonomisch und systempolitisch polarisiert58. Gerade die symbolvermittelten Repräsentationsprofile wird kein instrumentalistisch halbiertes Forschungskonzept sinnvoll in die Gehäuse neuer Hörigkeit gegenüber pseudoexakter Datentechnik hineinzwängen können. Aber für „alt-europäische“ Relikte qualitativer Repräsentationsanalyse gibt es ja immerhin noch Sammelbände wie diesen.

56 Wer den von der Almond/Verba-Studie „Civic Culture“ hergeleiteten „Politische Kultur“-Ansatz für US-Theorieimport hält, sollte sich bei Almond selbst vergewissern, dass solche Fragestellung „in ihrer heutigen Form in der Auseinandersetzung mit dem Zusammenbruch der Weimarer Demokratie und dem Aufstieg des Nationalsozialismus“ sich entfaltete und sogar mit der Kritischen Theorie verknüpft war über den „Forschungsgegenstand der ‚autoritären Persönlichkeit‘, der von Frankfurt am Main aus New York und Berkeley erreichte“; so formuliert in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hg.), Politische Kultur in Deutschland, Opladen 1987, S. 27. 57 Vgl. Debus/Hansen 2010, S. 33. 58 Das macht den Begriff der „überforderten Republik“ (Büttner 2008) plausibel, weil eben nicht allein zunächst „Versailles“ (bis zur Rheinlandbesetzung 1923) sowie die Hyperinflation und die Weltwirtschaftskrise den Konsolidierungsprozess erschwerten, sondern politisch-kulturelle Regime- und Kriegsfolgelasten hinzutraten.

Autorinnen und Autoren Dr. Peter Brandt, Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Fernuniversität Hagen, Direktor des Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften Dr. Andrè Brodocz, Professor für Politische Theorie an der Universität Erfurt Dr. Georg Kreis, Professor für Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Basel, Leiter des Europainstituts dieser Universität Dr. Carsten Kretschmann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart Dr. Detlef Lehnert, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Präsident der Hugo-Preuß-Stiftung und Vorstandsvorsitzender der Paul-Löbe-Stiftung Dr. Wolfram Pyta, Professor und Leiter der Abteilung für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität Stuttgart, Direktor der Forschungsstelle Ludwigsburg Dr. Nadine Rossol, Lecturer in Modern European History im History Department der University of Essex Dr. Arthur Schlegelmilch, Professor für Neuere Geschichte an der Fernuniversität Hagen, Geschäftsführender Direktor des Instituts „Geschichte und Biographie“ in Lüdenscheid Dr. Hans Vorländer, Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dresden, Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung Dr. Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien und Professor an der Universität Münster Dr. Monika Wienfort, Professorin für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin

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Autorinnen und Autoren

Dr. Andreas Wirsching, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität München (LMU), Direktor des Instituts für Zeitgeschichte Dr. Martin Zückert, Geschäftsführer des Collegium Carolinum an der Universität München (LMU)

Guido Thiemeyer

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Das Studienbuch bietet eine systematische Einführung in die Geschichte der europäischen Integration. Ein chronologischer Überblick schildert zunächst die Prozesse der europäischen Einigung von 1815 bis zur Gegenwart. Im Zentrum des Buches steht eine strukturelle Darstellung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Motive und Antriebskräfte, die den Einigungsprozess bis heute prägen. Dabei wird deutlich, dass die Analyse der europäischen Integration nicht erst 1945 beginnen darf, sondern schon im 19. Jahrhundert ansetzen muss. Die Zukunft der Europäischen Union wird abschließend aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive diskutiert. Das Buch richtet sich an Studierende der Geschichts- und Politikwissenschaften sowie an Lehrer und Dozenten in der politischen Bildung. 2010. 237 S. Br. 120 x 185 mm. ISBN 978-3-8252-3297-9

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Jens Ivo engels

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Will man das republikanische Selbstverständnis Frankreichs in unserer Gegenwart verstehen, sind Kenntnisse über die Dritte Republik (1870–1940) unerlässlich. Dieses Studienbuch behandelt kom-pakt die siebzig Jahre zwischen Zweitem Kaiserreich und Zweitem Weltkrieg, es vermittelt Orientierung und Basiswissen und stellt, unter Berücksichtigung der französisch- und englischsprachigen Forschung, wichtige Erklärungsansätze vor. Der Autor spannt dabei einen Bogen von der langwierigen Durchsetzung bis hin zur Selbstauflösung der Republik. 2007. 223 S. Br. 120 x 185 mm. ISBN 978-3-8252-2962-7

„Engels [hat] einen vorzüglichen Überblick vorgelegt, dem für den deutschsprachigen Raum der Status einer Standardlektüre gebührt.“ Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog

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André Schlüter

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Moeller van den Bruck (1876–1925), Kulturhistoriker, Staatstheoretiker und völkisch-nationaler Publizist, gilt heute als zentrale Figur der Konservativen Revolution in der Zeit der Weimarer Republik. Mit seinem 1923 erschienenen Hauptwerk »Das dritte Reich« wurde er zum Stichwortgeber der Nationalsozialisten, mit denen er den Hass auf die demokratischen Parteien und den Parlamentarismus teilte. Er bekämpfte die politischen Institutionen der Republik und glaubte, die nationale Identität durch Ausgestaltung einer nationalen Stileinheit befördern zu können. Bemerkenswert ist, dass diese konservative Programmatik Sympathien für moderne Kunst keineswegs ausschloss und Moeller van den Bruck zuweilen zu deren innovativsten Agitatoren gehörte. 1925 beging er nach einem Nervenzusammenbruch in Berlin Selbstmord. Den zum Teil erstaunlichen Wandlungen seines Lebens und Werks geht André Schlüter in diesem Buch nach.

2010. IX, 448 S. Gb. 170 X 240 mm. ISbN 978-3-412-20530-0

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