Demokratie, Freiheit, Gleichheit: Studien zum Verfassungsrecht der USA [1 ed.] 9783428508273, 9783428108275

Die Verfassung der USA ist die älteste und einflußreichste "moderne" Verfassung. Der U. S. Supreme Court hat d

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Demokratie, Freiheit, Gleichheit: Studien zum Verfassungsrecht der USA [1 ed.]
 9783428508273, 9783428108275

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 895

Demokratie, Freiheit, Gleichheit Studien zum Verfassungsrecht der USA

Von

Winfried Brugger

Duncker & Humblot · Berlin

WINFRIED BRUGGER

Demokratie, Freiheit, Gleichheit

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 895

Demokratie, Freiheit, Gleichheit Studien zum Verfassungsrecht der USA

Von

Winfried Brugger

Duncker & Humblot • Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10827-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Inhaltsverzeichnis Einleitung

11 TeilA Deutsch-Amerikanischer Verfassungsvergleich

§ 1 Der moderne Verfassungsstaat aus Sicht der amerikanischen und der deutschen Verfassung I. Idee und Konkretion des modernen Verfassungsstaates II. Verfassunggebung III. Verfassungsgestalt IV. Verfassungsvorrang und Verfassungsgerichtsbarkeit V. Verfassungsstruktur 1: Gewaltenteilung, Föderalismus, Grundrechte VI. Verfassungsstruktur 2: Die drei Säulen des modernen Verfassungsstaates ... VII. Die erste Säule: Das System der Grundrechte VIII. Die zweite Säule: Das System der Staatsorganisation IX. Die dritte Säule: Die Öffnung des Staates nach außen X. Rückblick §2

Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutsch-amerikanischer Sicht I. Der Begriff der Verfassung II. Übereinstimmungen und Differenzen zwischen der deutschen und der amerikanischen Staatsorganisation III. Die prozedurale und die materiale Sicht der Verfassung IV. Gemeinwohlkonkretisierung durch die Verfassung V. Gemeinwohlkonkretisierung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Die Verweigerung verfassungsgerichtlicher Kontrolle 2. Verfassungsgerichtliche Kontrolle im Grundrechtsbereich: Allgemeines . 3. Verfassungsgerichtliche Kontrolle im Grundrechtsbereich: Demokratische Mitwirkung 4. Verfassungsgerichtliche Kontrolle im Grundrechtsbereich: Berufliche und wirtschaftliche Persönlichkeitsentfaltung 5. Verfassungsgerichtliche Kontrolle im Grundrechtsbereich: Persönlichkeitsentfaltung im privaten Bereich 6. Die Dichte verfassungsgerichtlicher Kontrolle

20

20 20 22 23 27 32 35 37 52 69 77 80 80 81 82 88 90 94 96 98 99 101 105

6

nsverzeichnis TeilB

§3

Verfassungsrecht und Verfassungspolitik

108

Verfassungsgerichtspolitik ä la USA I. Zur Stellung der Bundesgerichtsbarkeit II. Der aktivistische Supreme Court der Warren-Ära III. Der moderate Supreme Court der Burger-Ära IV. Die gegenwärtige justizpolitische Auseinandersetzung V. Die Zukunft des Supreme Court in der Rehnquist-Ära VI. Verfassungsgerichtspolitik und Verfassungsinterpretation

108 108 109 111 117 122 126

Teil C Verfassungsrecht, Verfassungstheorie, Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsinterpretation §4

Wertordnung und Rechtsdogmatik im amerikanischen Verfassungsrecht I. Naturrecht und Rechtspositivismus in Calder v. Bull II. Die moderne Auseinandersetzung um das Wertdenken 1. Interpretivismus 2. Demokratisch-prozessuales Wertdenken - der repräsentationsoptimierende Ansatz 3. Materiales Wertdenken III. Kritische Anmerkungen 1. Interpretivismus 2. Prozessuales Wertdenken 3. Materiales Wertdenken 4. Rechtsvergleichender Ausblick

131 131 132 135 135 139 142 146 146 147 148 150

§5

Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten von Amerika 156 I. Hintergrund des modernen Methodenstreits 156 II. Die anerkannten Methoden der Verfassungsinterpretation 160 III. Offenheit und Flexibilität der Auslegungsgesichtspunkte 162 IV. Critical Legal Studies 167 V. Richterliche Zurückhaltung durch Bindung an das Gesagte und Gewollte .. 169 VI. Richterlicher Aktivismus durch Rekurs auf teleologische Argumente 174 VII. Abschließende Würdigung 179

§6

Amerikanische Verfassungstheorie I. Verfassungslegitimität zwischen Geschichte und Gegenwart II. Minimale Verfassungsbindung III. Verfassungslegitimität und Verfassungsinterpretation IV. Freiheit vor Demokratie V. Kriterien richterlicher Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht VI. Rechtsevolution und Rechtsverdichtung VII. Streit um die Gerechtigkeit VIII. Politische Gerechtigkeit, Verfassungsrecht, Verfassungsgerichtsrecht IX. Begriff der Verfassung und Georg Jellineks Statuslehre

182 182 184 186 189 191 194 196 198 201

nsverzeichnis X. XI. XII. XIII.

Die drei Säulen des Gemeinwohls Freiheit und Demokratie - Schwache und starke Konzeptionen Verfassung, Recht und Zeit Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit

203 204 205 207

TeilD HardCases

211

§7

Abtreibung - ein Grundrecht oder ein Verbrechen? Ein Vergleich der Urteile des United States Supreme Court und des BVerfG 211 I. Konträre Abwägungen 211 II. Roe v.Wade 212 III. Die deutsche Abtreibungsentscheidung 216 IV. Indikationslösung oder Fristenlösung? 222 V. Grenzen des Verfassungsrechts und der Verfassungsrechtsprechung 223

§8

Persönlichkeitsentfaltung als Grundwert der amerikanischen Verfassung. Dargestellt am Beispiel des Streits um den Schutz von Abtreibung und Homosexualität . I. Persönlichkeitsentfaltung als Grundwert der westlichen Rechtstradition II. Der Blick auf das amerikanische Verfassungsrecht III. Zur Aktualität der Diskussion um Abtreibung und Homosexualität IV. Die verfassungsrechtliche Basis: Das allgemeine Freiheitsrecht V. Die Freiheit zur Abtreibung: Roe v. Wade VI. Die Reaktion auf Roe v.Wade VII. Zur Bindung an Präzedenzfälle VIII. Die deutschen Abtreibungsentscheidungen IX. Ein Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung? Zu Bowers v. Hardwick ... X. Verfassungskonkretisierung nach Roe v. Wade und Bowers v. Hardwick

§9

226 226 226 228 229 232 235 242 245 251 254

Meinungsfreiheit im Recht der Vereinigten Staaten von Amerika 263 I. Textliche Grundlage und geschichtlicher Abriß 263 II. Funktionen der Meinungsfreiheit 265 1. Wahrheitssuche über die Konkurrenz der Ideen oder den Markt der Meinungen 265 2. Demokratischer Dialog und politische Kontrolle 266 3. Autonome Selbstdarstellung 267 4. Stabilität und Wandel 268 III. Dogmatik der Meinungsfreiheit 270 1. Die Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstäbe 271 2. Verhältnismäßigkeits- und Bestimmtheitstest 273 3. Geringwertige Arten von Rede 273 4. Inhaltsneutrale Beschränkungen der Meinungsfreiheit 277 5. Symbolische Rede und Handlung 278 6. Zusammenfassung 279 IV. Schützt der erste Zusatzartikel jede Meinung? 279 V. Meinungsfreiheit und private Macht 283 VI. Prinzipien der Meinungsfreiheit 286

8

nsverzeichnis

§ 10 Recht und Rasse in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung I. Recht und Rasse von der Verfassunggebung bis zum Bürgerkrieg II. Die Rassenfrage nach dem Bürgerkrieg III. Brown v. Board of Education IV. Rassenbevorzugung: Affirmative Action oder Reverse Discrimination?

289 290 296 299 302

TeilE Rückblick und Ausblick § 11 Freiheit, Repräsentation, Integration. Zur Konzeption politischer Einheitsbildung in den „Federalist Papers" I. Entstehung und Wirkung der Federalist Papers II. Die Bedrohung der Freiheit im Pluralismus III. Die Sicherung der Freiheit im Pluralismus IV. Ein Kontrastprogramm: Thomas Paines Konzeption von demokratischer Repräsentation

311

311 312 313 315 323

Anhang: The Constitution of the United States of America (1787)

328

Drucknachweise

346

Sachwortverzeichnis

347

Abkürzungsverzeichnis ACLU Adm. ALJ Am. APA Art(s). Ass'n cert. C.F.R. CFTC Ch(s). CIA Cir. C.J. CI. Co. Comm'n Comm. Comp. concurring Const. Corp. Ct. D. D.C. Dep't dissenting EEOC EPA F. (2 n d oder 3 r d ) FCC FDA Fed. Fed. Reg. FERC F. Supp. FTC ICC Inc.

American Civil Liberties Union Administrative Administrative Law Judge American; Amendment Federal Administrative Procedure Act Article(s) Association certiorari Code of Federal Regulations Commodity Futures Trading Commission Chapter(s) Central Intelligence Agency Circuit Court of Appeals (Federal) Chief Justice Clause Company Commission Committee Comparative concurring opinion Constitution; Constitutional Corporation Court District Court (Federal) District of Columbia Department dissenting opinion Equal Employment Opportunity Commissi« Environmental Protection Agency Federal Reporter (zweite oder dritte Folge) Federal Communications Commission Food and Drug Administration Federal Federal Register Federal Energy Regulatory Commission Federal Supplement Federal Trade Commission Interstate Commerce Commission Incorporated

10 INS Ins. Int'l J. L. Ltd. NAACP Nat'l NIRA N.J.L. NLRB No(s). OMB OSHA Pub. Rev. S.Ct. SEC Sec. (§) Stat. Supp. S.W. TVA U. U.S. U.S.C. U.S.C.A. U.S.C.S.

Abkürzungsverzeichnis Immigration and Naturalization Service Insurance International Judge; Justice; Journal Law Limited National Association for the Advancement of Colored People National National Industrial Recovery Administration/Act New Jersey Law Reports National Labor Relations Board Number(s) Office of Management and Budget Occupational Safety and Health Administration Public Review Supreme Court Reporter; Supreme Court Securities and Exchange Commission Section United States Statutes at Large Supplement South West Reporter Tennessee Valley Authority University United States Supreme Court Reports; United States United States Code United States Code Annotated United States Code Service

Einleitung Der Band vereinigt Aufsätze aus den letzten 16 Jahren, die sich mit dem amerikanischen Verfassungsrecht beschäftigen und oft Vergleiche zum Grundgesetz ziehen. Sie sind neben zwei Büchern entstanden: einer ausführlichen Analyse der „Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA" 1 und einer komprimierten „Einführung in das öffentliche Recht der USA" 2 , die neben den Grundrechten das Staatsorganisationsrecht und das Allgemeine Verwaltungsrecht behandelt. Die Lehrbuchform zwingt zur gleichmäßigen Abdeckung großer Gebiete und erlaubt es nicht, tiefer in Probleme von besonderem wissenschaftlichen und politischem Interesse einzudringen. Die hier vorgelegten Aufsätze tun genau dies. Sie analysieren im Detail Themen, die für Juristen und Politologen von besonderer Brisanz sind: die Verwirklichung von Demokratie, Freiheit und Gleichheit im modernen Verfassungsstaat, in der Spannung von Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit. Diese Themen rechtsvergleichend anhand der Verfassung der USA zu untersuchen, bietet sich aus mehreren Gründen an: Die US-Verfassung mit der Bill of Rights ist die älteste „moderne Verfassung". Der Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit wurde durch den U.S. Supreme Court eingeleitet, als er 1803 Marbury v. Madison entschied. Seit diesem Urteil sind Vorrang der Verfassung und Vorrang der Verfassungsgerichtsbarkeit verknüpft, allerdings schon damals und bis heute vor dem Hintergrund der Frage nach dem Umfang legitimer Beschränkung der politisch verantwortlichen Organe. Die amerikanische Verfassung war lange das meistzitierte und meistkopierte Vorbild für spätere Verfassungen des westlichen Typs. In der demokratisch-marktwirtschaftlichen Transformation vieler ehemals sozialistischer Staaten wurde sie immer wieder als Option bedacht; allerdings stand und steht die US-Verfassung zunehmend in Konkurrenz zur kontinentaleuropäischen Variante des modernen Verfassungsstaates, für die das deutsche Grundgesetz ein repräsentatives und wirkungsträchtiges Modell bildet (§§ 1; 2).3 Diese folgenreiche Entwicklung wird von der US-Verfassungsrechtswissenschaft noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen: Im weltweiten Vergleich geht der Trend bei Erlaß neuer Verfassungen oder Änderung bestehender Verfassungen eindeutig weg von dem klassischen Ausgangsmodell US-Verfassung und hin zur mate1 Verf., Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987. 2 Verf., Einführung in das öffentliche Recht der USA, 1993, 2. Aufl. 2001. 3 Vgl. auch Verf., Die US-Verfassung im Vergleich zum Grundgesetz, in: W. Blomeyer/ K. Krakau (Hrsg.), Konflikt der Rechtskulturen? Die USA und Deutschland im Vergleich (erscheint demnächst).

Einleitung

12 4

rialen Werteverfassung. Die amerikanische Verfassung dagegen steht für den Typus demokratisch-liberale Organisationsverfassung'. Entscheidend ist demokratische Selbstbestimmung, die den „due process of law" achtet und sich an grundrechtliche Schranken bindet; der Vorrang der Verfassung wird von einem Verfassungsgericht kontrolliert. 5 In den meisten neueren Verfassungen stellen diese Strukturelemente nur einen Teil der Gesamtverfassung dar. Sie werden ergänzt - verstärkt oder relativiert? - durch positive Staatsziele und bürgergerichtete Werte, die aus der übergreifenden Gemeinwohlausrichtung konkrete Ziele und Aufgaben auswählen und mit besonderem verfassungsrechtlichen Status versehen. So sollen die demokratisch gewählten Organe bei der Regulierung von Staat und Gesellschaft negativ (abwehrrechtlich) und positiv (final und leistungsrechtlich) gesteuert werden. Das Grundgesetz mit seinen wenigen expliziten Schutz- und Staatszielbestimmungen geht textlich einen Schritt in diese Richtung, nimmt aber, verglichen mit jüngeren Verfassungen, noch eine Zwischenstellung ein.6 Expansive materiale Werteverfassungen dagegen sehen viele Staatsziele vor; das politische Handeln ist verfassungsrechtlich sozusagen von allen Seiten teleologisch umringt, wenn nicht umzingelt. Verfassungsdogmatisch tendiert das Grundgesetz letztlich doch zum expansiven materialen Modell, weil über die vom BVerfG entworfenen objektivrechtlichen Funktionen der Grundrechte eine Vielzahl konkret zu verfolgender Gemeinwohlziele dazukommt. Zum Schwur kommt es institutionell bei der Einsetzung von Verfassungsgerichten, die das „Verfassungsrecht" authentisch zu interpretieren haben. Wieviel Macht soll den Verfassungsgerichten zustehen, im Verhältnis zur Deliberation und Entscheidung der politisch verantwortlichen Organe? Die einschlägigen Zuständigkeitsnormen geben nur scheinbar eine klare Antwort. Ihre Auslegung hängt typischerweise von tiefergreifenden Konzeptionen „legitimer verfassungsgerichtlicher Macht" und, nicht zu vergessen, gerichtlicher Selbstbehauptung ab. Über diese Aspekte wird in den USA seit mehr als 200 Jahren eine produktive intellektuelle Auseinandersetzung geführt, wie insbesondere die Aufsätze in Teil C verdeutlichen. Es geht dann um die Frage, ob und wie streng Verfassungsgerichte an rechtspositive Vorgaben gebunden sind. Sollen sie auch Naturrechtsargumente benutzen dür4 Hierzu finden sich viele Nachweise im Werk von P. Häberle, etwa in: Verfassunglehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 368 ff. Dieser Trend läßt sich auch in vielen Menschenrechtserklärungen und -pakten nachweisen. 5 In den USA gibt es sogar Vorschläge, die Verfassungsgerichtsbarkeit erheblich einzuschränken, wenn nicht gar abzuschaffen. Vgl. M. Tushnet, Taking Away the Constitution From the Courts, 1999, besprochen von Verf., in: Der Staat 39 (2000), S. 135 ff. Das ist nicht die herrschende Ansicht, aber immerhin eine respektable Minderheitsposition. Vergleichbare Vorschläge in Deutschland würden helle Empörung hervorrufen. Warum? Wahrscheinlich weil Deutsche sich nicht vorstellen können, daß ein Gemeinwesen politisch funktioniert ohne das verfassungsgerichtliche Wächteramt; in den USA ist das zumindest ohne Aufregung diskutierbar. 6 Vgl. Verf., Besprechung von Erhard Denninger, Menschenrechte und Grundgesetz, in: Der Staat 33 (1994), S. 637ff.

Einleitung

fen? Wie ist Rechtspositivismus zu verstehen? Als Reduktion „anwendbaren" und „kontrollfähigen" Rechts auf spezifisch Gesagtes oder, bei Auslegung vager Klauseln, historisch spezifisch Gewolltes (§§4; 5 V)? 7 Die Schulen des „interpretivism/ textualism" und des „originalism/intentionalism" vertreten diese Sicht, die auf eine Maximierung politischer und eine Minimierung verfassungsgerichtlicher Verantwortung hinausläuft. Deutsche Parallelen zu dieser Sicht gibt es bei Autoren, die den Bereich des verfassungsgerichtlich kontrollfähigen Rechts eng verstehen wollen; dazu zählt etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde. 8 Ferner sind Affinitäten bei all den Autoren zu vermuten, die den „Richterstaat" oder eine „Juridifizierung" beklagen.9 Überzeugungskraft und Attraktivität kann ein solches Modell nur auf der Basis einer etablierten und generalisierten Erwartung der Bevölkerung gewinnen, daß der demokratisch organisierte politische Prozeß starke Legitimationsleistungen erbringt, der nur ausnahmsweise nach verfassungsgerichtlicher Kontrolle verlangt (§611). Für eine weitergehende gerichtliche Konkretisierungskompetenz tritt das prozedurale Rechtsdenken ein, das dem Supreme Court auch die Macht zuspricht, die Repräsentation aller Bürger im politischen Prozeß unter Rekurs auf das Demokratieprinzip zu verstärken und zu optimieren; greift dann allerdings keine spezifische Grundrechtsschranke ein, sind die Ergebnisse des politischen Prozesses zu achten, wie „schlimm" immer diese für die Verfassungsrichter erscheinen mögen (§§2111; 4 I I 2 und III 2). 10 Von diesem Grundgedanken des „representation reinforcing" ausgehend, hätte der Supreme Court zum Beispiel die Abtreibungsentscheidung Roe v. Wade nicht erlassen dürfen (§§ 7, 8). Trotzdem ist das schon eine „aktivistische" Sicht von Verfassungsgerichtsbarkeit, aber eben nur in prozeduraler Hinsicht. Eine gewisse deutsche Parallele findet sich in der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie 11, deren Konjunktur allerdings von kurzer Dauer war, während das verfassungsrechtliche Leitbild der fairen Repräsentation von „We the People" in den USA immer wieder betont wird (§ 61). Noch weiter geht die materiale oder expansive Sicht der Verfassung, die, kombiniert jedenfalls mit einer grundsätzlichen Zuständigkeit des Verfassungsgerichts, in 7

Zu dieser rechtspositivistischen Interpretationstheorie im deutschen Kontext Verf., Rundfunkfreiheit und Verfassungsinterpretation, 1991, S. 22ff., 35, 51. 8 Hierzu N. Manterfeld, Die Grenzen der Verfassung. Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie des Grundgesetzes am Beispiel Ernst-Wolfgang Böckenfördes, 2000. 9 Nachweise bei M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S.65f. Von dieser Sicht ausgehend, ist das Lüth-Urteil, das den Beginn der Rechtsprechung zu den objektivrechtlichen Funktionen darstellt, ein „Sündenfall"; dazu ebd., S. 81. 10 Vgl. auch Verf., Grundrechte (Fn. 1), § 35; J. Riechen, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie. Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle unter besonderer Berücksichtigung von John Hart Elys prozeduraler Theorie der Repräsentationsverstärkung, 2002. 11 Zusammenfassend E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: NJW 1974, S. 1529ff., nachgedruckt in ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 115 (133 ff.).

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Einleitung

den USA in einzelnen Bereichen vertreten wird: So entwickelte der Supreme Court durch eine Kombination von Analogien zu spezifischen Grundrechten und eine Konkretisierung der allgemeinen Freiheitsklausel ein verfassungstextlich nicht genanntes „Privatsphärenrecht", das gegen legislative Abtreibungsverbote wirkt (§§5 VI; 7; 8). 12 Das Gericht schützt unter Berufung auf überkommene Traditionen und Werte die im Text ebenfalls nicht erwähnte „Familie". Generell konkretisiert der Supreme Court im Rahmen des allgemeinen Freiheitsrechts „non-textual, fundamental rights" und im Rahmen der allgemeinen Gleichheitsklausel „suspect classifications"; diese entsprechen im großen und ganzen den im Grundgesetz zahlreicheren spezifischen Freiheits- und Gleichheitsrechten. So beschneidet der Supreme Court über spezifisch Gesagtes hinaus die Macht der Gesetzgebung; das macht ihn zu einem „aktivistischen" Gericht auch in bezug auf manche Ergebnisse des legislativen Prozesses (§§2 II; 4 I I 3 und III 3; 5 VI). Wovor er allerdings, anders als das BVerfG, zurückschreckt, ist die Verpflichtung der Legislative auf positive Leistungen aus verfassungsrechtlichen Gründen (§ 1 VII3, 5). 13 In Deutschland wird die expansive Sicht von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit von einer breiten Mehrheit vertreten. 14 Das liegt daran, daß das Grundgesetz im Verfassungstext selbst materiale Ausrichtungen enthält, während die USVerfassung solche nur in der Präambel - im „soft law" - formuliert; in Amerika werden diese übergreifenden Gemeinwohlziele dann, durch den Korpus der Verfassung gewaltenteilig und föderal strukturiert, demokratisch und im Rahmen von „due process" durch das „hard law" des Kongresses und der Gliedstaaten konkretisiert (§ 1 V 3). Anders als der Supreme Court hat das BVerfG objektivrechtliche Grundrechtsfunktionen erfunden (§ 1 VII5). Nach der expansiven Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit sind diese ein „Glücksfall", nach der limitierenden Sicht der „Sündenfall". 15 Schließlich spielt hier der gleich noch zu erörternde Unterschied zwischen Fallrechts- und Kodifikationsrechtssystem eine Rolle. Im Ergebnis läuft die materiale Sicht tendenziell auf eine Minimierung politischer und eine Maximierung verfassungsgerichtlicher Verantwortlichkeit hinaus. Letztere ist zwar beim BVerfG durch diverse Strategien gerichtlicher Zurückhaltung moderiert 16, aber die grundsätzliche Zuständigkeit ist der Sache nach gegeben: Ein Verfassungsprinzip oder das 12 Vgl. auch Verf., Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: AöR 108 (1983), S.25ff. Zum noch nicht abschließend geklärten verfassungsrechtlichen Status von Homosexualität vgl. die Entscheidungen Bowers v. Hardwick und Romer v. Evans : § 8IX und: Einführung (Fn. 2), § 12 VI. 13 Zu den wenigen Ausnahmen in staatsnahen Bereichen wie Gerichtszugang und Wahlen siehe auch die Einführung (Fn.2), § 13, ferner Verf., Function and Interpretation of Fundamental Rights, in: Albrecht Weber (ed.), Fundamental Rights in Europa and North America, Part B, Ch. 8: USA (erscheint demnächst). 14 Vgl. etwaK.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1998; Manterfeld (Fn. 8), Teil B, und die oben Fn. 4, 9 genannten Schriften. 15 Vgl. schon oben Fn.9. 16 Ein ausführlicher Vergleich bei Chr. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1996.

Einleitung

allgemeine Freiheits- oder Gleichheitsrecht oder die expansive Auslegung eines spezifischen Grundrechts steht bei einem „zu schlimmen" Gesetz potentiell immer bereit, um das Damoklesschwert der Verfassungswidrigkeit, das dann permanent über dem Parlament schwebt, niederfallen zu lassen. Angesichts des Trends zur materialen Umformung der prozeduralen Verfassung könnte man daran denken, die US-Verfassung als Klassikertext zu qualifizieren und gleichzeitig ins Schatzhaus der Geschichte zu verabschieden. Das würde aber weder dem Selbstverständnis des amerikanischen Konstitutionalismus noch dem politischen Gewicht der USA Rechnung tragen. Damit würde auch das deutsche Verfassungsdenken eine wichtige gedankliche Option zur Einschätzung der Vorteile und Nachteile des einen oder des anderen Modells oder diverser Zwischenformen verlieren. Zum Teil ist das in Deutschland schon so. Nicht selten hat man den Eindruck: Je mehr Verfassungsrecht, desto besser! Je mehr Grundrechtsfunktionen, desto besser! Eine gedankliche Distanz zu solchen Entwicklungen einnehmen kann man nur oder kann man jedenfalls besser, wenn ein lebensfähiges Alternativmodell zur Auswahl steht, und eine solche Option bietet das amerikanische Verfassungsrecht, wie die Teile A und C deutlich machen sollen.17 Das Grundgesetz ist über 50 Jahre alt. Das ist ein gestandenes Alter, wovon nicht zuletzt über 100 Bände von Entscheidungen des BVerfG zeugen. Verglichen mit den über 200 Jahren an Rechtsprechung des Supreme Court allerdings ist das Grundgesetz noch jung. Aber es wird im Laufe der Jahre, trotz der zahlreichen Textänderungen, immer mehr von der Spannung zwischen dem Verfassungstext und dem Verfassungsgerichtsrecht erfaßt werden. Zum Verfassungswandel gibt es in den USA eine erhellende Diskussion: Mit welchen Argumenten und Strategien läßt es sich rechtfertigen, daß das Verfassungsgericht - auch gegen den Gesetzgeber - die alte Verfassung „auf den neuesten Stand bringt" (§ 6)? Die US-Verfassung ist kurz, das GG ist lang (§ 1 III). Das hängt einerseits mit dem unterschiedlichen Alter zusammen, andererseits kommt hier auch ein Unterschied zwischen Fallrechtssystemen und Kodifikationsrechtssystemen zum Ausdruck. 18 Ersteres kann damit leben, im Rahmen übergreifender Normen Fall für Fall, Schritt für Schritt vorzugehen, ohne daß ein „master plan" greifbar ist, und kommt mit einem gerüttelt Maß an Unsicherheit zurecht, jedenfalls wenn es sich, wie in den USA, um ein Land mit demokratischem Selbstbewußtsein handelt. Letzteres neigt zu einer möglichst vollständigen und angemessenen Systematisierung und Vertextlichung und somit auch zu Länge und schneller Abänderbarkeit; es erwartet viel Rechtssicherheit und Steuerungsfähigkeit vom Recht - auch von der geschriebenen Verfassung. Zwar spielen Fälle dann immer noch eine Rolle - schließlich finden sich im Grundgesetz ebenfalls vage Normen - , aber die Bedeutung des „Falles", auch in der 17

Hierzu auch Verf., Kultur, Verfassung, Recht, Staat, in: AöR 126 (2001), S.271 ff. Hierzu Verf., Einführung (Fn. 2), § 81; Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht, in: FS Helmut Quaritsch, 2000, S.45 (65 f.). 18

Einleitung

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Juristenausbildung, nicht nur für „Subsumtion", sondern auch und gerade für die Formulierung von überzeugenden Präzedenzregeln, ist deutlich geringer. Deshalb gibt es in amerikanischen Lehrbüchern des Verfassungsrechts selten „Allgemeine Grundrechtslehren", dafür aber um so mehr Fallgruppenbildung. Der Prozeß der Bestellung der Verfassungsrichter und der Wahrnehmung des verfassungsgerichtlichen Geschäfts ist in den USA stärker politisiert und besser durchleuchtet als bei uns (§§ 3; 51). 19 Das hängt mit der Tradition des Rechtsrealismus zusammen, den es zwar in Deutschland in Form der Interessenjurisprudenz und der Ideologiekritik auch gibt, der aber nie zur herrschenden Lehre oder Denkrichtung geworden ist. Der amerikanische Rechtsrealismus hat die Entstehung generellen Respekts für den Supreme Court nicht gehindert, aber kaum jemand in den USA glaubt, daß die Richter in Washington exklusiv „Recht auslegen"; zum Teil gibt es extrem ideologiekritische Schulen, die den gerichtlichen Prozeß stark oder gar exklusiv durch Gesichtspunkte von Rasse, Klasse und Geschlecht beeinflußt sehen (§5IV). Bei uns ist die Aura objektiver Richterweisheit noch stärker entwickelt und wird von vielen gepflegt. Dauerhaft wird das nicht so bleiben, denn mit der Zunahme gesellschaftlicher Konflikte werden sich auch Spaltungen im höchsten Gericht ergeben, die vermutlich zu einer größeren Anzahl von abweichenden Voten führen. Zudem wird das öffentliche Interesse an der Auswahl von Richtern für das BVerfG deutlich größer. Es ist inzwischen nicht mehr selten, daß amtierende Richter durch Vorträge, Interviews und Beiträge in der Publizistik „Gesichter" bekommen und „Persönlichkeit" zeigen. Das macht sie menschlich, bringt aber natürlich die Gefahr mit sich, daß Menschliches als allzu menschlich wahrgenommen wird. 20 Allerdings sind wir in Deutschland noch nicht so weit, daß in Lehrbüchern des Verfassungsrechts gleich nach dem Text der Verfassung Richterbiographien folgen, damit man die ergangenen Entscheidungen besser verstehen kann. Es fehlt auch noch die Literaturgattung „Wie im Verfassungsgericht wirklich gearbeitet wird", die in den USA fest etabliert ist. 21 Was Recht und, davon umfaßt, Verfassungsrecht wirklich bedeutet, das wird erst im konkreten Streitfall klar. So denkt die US-Verfassungsrechtswissenschaft, die auch in Methoden- und Schulenstreitigkeiten nie vergißt, ihre Prämissen und Ab19

Vgl. auch J. Zätzsch, Richterliche Unabhängigkeit und Richterauswahl in den USA und Deutschland, 2000. 20 Prozeßvertreter vor den neun Richtern des Supreme Court bereiten sich bei erwartbaren knappen Entscheidungen nicht nur juristisch, sondern auch psychologisch auf die „fünfte Stimme" vor, die sie vor allem mit ihrem Plädoyer auf ihre Seite zu ziehen versuchen. 21 Vgl. z. B. B. Woodward, The Brethren, 1979; RH. Irons , A People's History of the Supreme Court, 1999; E. Lazarus , Closed Chambers: The Rise, Fall and Future of the Modern Supreme Court, 1999. Viel Biographisches findet sich auch in Analysen des Supreme Court, die sich auf das Gericht unter der Ägide des jeweiligen Chief Justice konzentrieren. So gibt es zahlreiche, über das Internet leicht eruierbare Darstellungen über den „Warren Court", den „Bürger Court" und den „Rehnquist Court". Earl Warren war Chief Justice von 1953 bis 1969, Warren Burger von 1969 bis 1986; seither ist William H. Rehnquist oberster Richter.

Einleitung

grenzungen anhand von Fällen zu illustrieren. Gleiches sollte für die Verfassungsvergleichung gelten. Deshalb enthält der Band in Teil D Aufsätze zu einigen „hard cases", anhand derer sowohl hervortritt, wie Theorie und Praxis zueinander stehen, als auch, welche Unterschiede sich zwischen der amerikanischen und der deutschen Verfassungskultur ergeben. Die Abtreibungsfrage ist ein besonders treffendes Beispiel, denn hier haben die beiden Verfassungsgerichte in ihren ersten Entscheidungen trotz vergleichbarer textlicher Ausgangslage ganz unterschiedliche Resultate vertreten (§ 7). Das hängt mit einem unterschiedlichen Freiheits- und Persönlichkeitsverständnis der beiden Kulturen zusammen (§ 1VII2). Während in Deutschland Persönlichkeitsentfaltung, wie die Menschenbildformel des BVerfG zeigt, auf Integrität und soziale Integration abstellt, steht in den USA das Moment der individuellen Selbstbehauptung im Vordergrund (§ 1 VII 3). Das hat mit dem Siedlermythos zu tun: „Go West Young Man." 22 Die zweiten Leitentscheidungen gehen stärker aufeinander zu, ohne daß Identität in Ergebnis oder Dogmatik zustande kommt (§ 8); das ist ein gewisser Beleg für Vertreter der Konvergenzthese, die in Teilen eine Annäherung der beiden Rechtskulturen vorliegen sehen. Sexuelle Persönlichkeitsentfaltung und Homosexualität , verfassungsrechtlich in den USA über das Privatsphärenrecht mit der Abtreibungsfrage verbunden, zählen ebenfalls zu den besonders interessanten Fragen, weil die Verfassungstexte deren Rechtsstatus nicht spezifisch regeln, man also auf Theorien verfassungsrechtlicher Legitimität und verfassungsgerichtlicher Macht zurückgreifen muß. Die Meinungsfreiheit ist in den USA wie in Deutschland ein herausragendes Grundrecht (§ 9). 23 Die amerikanische Diskussion ist deshalb erhellend, weil der einschlägige Text - der erste Zusatzartikel - kurz und absolut gefaßt ist, also zu seiner Auslegung und vor allem Begrenzung einer Reflexion auf die zugrundeliegenden Funktionen kommunikativer Freiheit bedarf. Funktionsüberlegungen spielen in den USA eine große Rolle, während in Deutschland aufgrund des detaillierten Textbefundes und der Kodifikationstradition solche Kriterien seltener benutzt werden - die Ausnahme bildet der Bereich der Massenmedien. Rassische Gleichberechtigung schließlich ist ein Thema, das in den USA einen Sonderstatus hat, weil es auf einen Geburtsfehler der Verfassung hinweist (§10). Die Unabhän22

Der Unterschied läßt sich auch so ausdrücken: Die US-Verfassung ist primär eine „Verfassung der Freiheit", das Grundgesetz eine „Verfassung der Würde". Hierzu D.P. Kommers , Kann das deutsche Verfassungsrechtsdenken Vorbild für die Vereinigten Staaten sein?, in: Der Staat 37 (1998), S.335 (338 f.); E.J. Eberle , Dignity and Liberty. Constitutional Visions in Germany and the United States, 2002, S. 254 ff. 23 Vgl. auch Verf.Neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung des Supreme Court zur Redefreiheit, in: H.-J. Cremer u. a. (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts. FS für Helmut Steinberger, 2002, S. 681 ff.; ferner, mit Funktionsanalysen: Freiheit der Meinung und Organisation der Meinungsfreiheit. Eine liberale Konzeption der geistigen Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG, in: EuGRZ 1987, S. 189 (225 ff.); Der Kampf der Meinungen, in: Verf., Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 1999, § 19; Verbot oder Schutz von Haßrede? Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und amerikanischen Recht, in: AöR (erscheint demnächst). 2 Brugger

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Einleitung

gigkeitserklärung von 1776 hatte formuliert: „all men are created equal". Die Bundesverfassung aber enthielt einige rassendiskriminierende Vorschriften. Es bedurfte des Bürgerkriegs und der anschließend ratifizierten Bürgerkriegszusatzartikel 13 bis 15, um verfassungstextlich diese Geburtsfehler auszumerzen. Wie einfachgesetzlich mit den nach wie vor bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Benachteiligungen Farbiger und sonstiger Minderheiten umzugehen ist, ist immer noch Gegenstand heftiger politischer und verfassungsrechtlicher Auseinandersetzung. Der verfassungsrechtliche Streit um „affirmative action" ist aber kein Streit um verfassungsrechtliche Schutz- oder Gleichstellungspflichten, wie das Art. 3 Abs. 2 GG für die Gleichbehandlung der Geschlechter festschreibt, sondern eine Auseinandersetzung darüber, was der Gesetzgeber angesichts der Verdächtigkeit der Benutzung des Kriteriums Rasse an speziellen Förderungen vorsehen darf. 24 Der Band schließt in Teil E mit einem Rückblick auf die Konzeption politischer Einheitsbildung in den Federalist Papers, dem nach wie vor wichtigsten Kommentar zum Verständnis der Verfassung der USA und der Art und Weise, wie das Gemeinwohl des neu zu gründenden Bundesstaates organisiert werden sollte (§11). Der Rückblick ist gleichzeitig ein Ausblick, weil es in den Federalist Papers um eine der europäischen Einigung ähnliche Zielvorstellung geht: eine engere politische Union bislang staatenbündisch organisierter Einzelstaaten, in Ergänzung und Umhegung einer Wirtschaftsunion. Anders als die Federalist Papers vertrat Thomas Paine in seinen Schriften eine stark ökonomisch inspirierte Sicht von Einigung, die an Gedanken funktionaler Einigung auf EG-Ebene erinnert. In gewissem Umfang also spiegeln diese beiden unterschiedlichen Konzeptionen heutige Diskussionen zwischen ökonomischer und politischer Integration wider. Ganz vergleichbar ist die Lage freilich nicht, denn die USA konnten auf einem ganzen Kontinent einen neuen Kontinentstaat etablieren, während die Europäische Union sich als Union von etablierten Mitgliedstaaten organisieren muß. Der Rekurs auf das Gemeinwohl in den Federalist Papers führt zu einer Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie verbindenden Frage: Wenn das Gemeinwohlverständnis auf jeweilige politische Organisationen bezogen wird, gibt es dann trotzdem vergleichbare Gemeinwohlstrukturen? Das läßt sich, wie § 2 des Bandes für die US-Verfassung und das Grundgesetz darstellt und wie neuere Arbeiten des Verfassers für die Europäische Gemeinschaft fortführen 25, bejahen: Am besten wird Gemeinwohl als aus drei Säulen bestehend verstanden: Rechtssicherheit (mit den Elementen Bedeutungs- und Durchsetzungssicherheit, Gewaltenteilung und Stabilität), Legitimität (mit den Elementen gute Ziele im Rahmen grundrechtlicher Grenzen) und Praktikabilität (unter anderem mit den Elementen Zweck-Mittel-Analyse und Kosten-Nutzen-Ab wägung). Jeweilige Normen oder Institutionen sind dann be24

Zur neueren Entwicklung von „affirmative action" siehe Verf., Einführung (Fn. 2), § 12IV. Vgl. Verf., Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht an der Jahrtausendwende. Das Beispiel Europäische Gemeinschaft, in: P.-Chr. Müller-Graff/H. Roth (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft. Signaturen und Herausforderungen zum Jahrtausendbeginn, 2000, S. 15 ff. 25

Einleitung

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sonders gemeinwohlförderlich, wenn sie durch Argumente aus allen drei Säulen unterstützt werden; im umgekehrten Fall sind sie gemeinwohlschädlich. Zwischen diesen beiden klaren Fällen liegen viele Fälle von Gemeinwohlunentschiedenheit, in denen Gesichtspunkte geschichtlicher und lokaler Besonderheiten und politischen Gestaltungswillens notwendigerweise stärker zur Geltung kommen. Das ist dann der Ort für Verfassungsrechtsvergleichung. Ihr primäres Ziel ist Beschreibung und Analyse bestehender Übereinstimmung und Divergenz im Grundsatz und im Detail. An solche Untersuchungen anschließend und sie normativ übergreifend, läßt sich dann über bestmögliche Konzeptionen gemeinwohlförderlicher politischer Organisation auf nationalstaatlicher, kontinentaler und weltweiter Ebene diskutieren. 26 Für die Hilfe bei der Vorbereitung dieses Bandes für die Publikation danke ich herzlich meiner Mitarbeiterin Ingrid Baumbusch.

26 Vgl. W. Brugger/M. Anderheiden/S. Kirste (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt (erscheint demnächst).

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Teil A

Deutsch-Amerikanischer Verfassungsvergleich § 1 Der moderne Verfassungsstaat aus Sicht der amerikanischen und der deutschen Verfassung I. Idee und Konkretion des modernen Verfassungsstaates Der moderne Verfassungsstaat setzt zunächst „Staatlichkeit", eine politische Organisation zur Setzung und Durchsetzung von verbindlichen Entscheidungen, voraus. „Modern" bezieht sich in einem schwächeren Sinn auf den souveränen Territorialstaat oder auch Nationalstaat der Neuzeit, der nach innen Ordnung sichert und nach außen als Akteur des Völkerrechts auftritt. Seine Definitionsmerkmale sind ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk sowie eine Staatsgewalt mit interner Ausdifferenzierung von Legislative, Exekutive und Judikative. „Modern" kann in einem anspruchsvolleren Sinn aber auch auf zusätzliche Legitimationskriterien abstellen, vor allem demokratische Legitimation der Staatsgewalt, Auferlegung grundrechtlicher Grenzen, inhaltliche Bindung öffentlicher Gewalt durch positive Staatsziele. Welche Ausrichtung eine politisch organisierte Gemeinschaft jeweils konkret wählt, wird in der „Verfassung" des Landes bestimmt. Diese wird im Rahmen der westlichen Rechtsentwicklung typischerweise in einem Verfassungsdokument niedergelegt, und die Überwachung der Einhaltung jedenfalls einiger der genannten Legitimationskriterien obliegt einem Verfassungsgericht. Damit ist die Idee des modernen Verfassungsstaates oder, wie man auch sagen könnte, der liberalen Demokratie oder des modernen Rechtsstaates bestimmt. Die genannten Prinzipien sind allerdings der Konkretisierung fähig und bedürftig, weil sie mehrere Ausformungen zulassen. Liberalismus kann Konkurrenzliberalismus oder Sozialliberalismus meinen; Demokratie kann populistisch oder repräsentativ, parlamentarisch oder präsidial organisiert sein; der Rechtsstaat kann formell oder material verstanden werden, um nur einige der möglichen Optionen anzudeuten. Die Verfassungsrechtsvergleichung arbeitet die möglichen Varianten dieser Leitgesichtspunkte heraus. Da hier nicht alle Details entfaltet werden können, erfolgt eine Konzentration auf Charakteristika der Verfassungen der Vereinigten Staaten von Amerika 1 und Deutschlands. Die Auswahl gerade dieser beiden Länder läßt 1

Das amerikanische Original unterscheidet nach Article und Section (§). Zur Orientierung hinzugefügt ist die Numerierung entsprechender Unterabschnitte - Clauses - (CL). Bei den Zu-

§ 1 Der moderne Verfassungsstaat

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erwarten, daß einige der wichtigsten Konkretisierungsoptionen vor Augen treten, die i m Rahmen des Typus „westlicher Verfassungsstaat" prägend waren und sind. Für diese Unterstellung spricht, daß der Einfluß der amerikanischen Verfassung von 1787 mit ihrer 1791 ratifizierten B i l l of Rights auf die Entwicklung des Verfassungsdenkens von Anfang an stark war und bis heute einflußreich geblieben ist, auch in Deutschland selbst. 2 Das deutsche Grundgesetz und die Rechtsprechung des BVerfG sind aber i m Laufe der letzten 50 Jahre an die Seite der US-Verfassung getreten. In vielen Ländern, die i m Laufe der politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte sich für neue Verfassungen und die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit entschieden haben, ist der Einfluß des deutschen Modells nicht zu übersehen. 3 Auch in den U S A wird der deutsche Konstitutionalismus zunehmend zur Kenntnis genommen 4 ; zum Teil werden die Chancen der liberalen Demokratie in den neuen Verfassungsordnungen Mittel- und Osteuropas von einer satzartikeln (Amendments) verwende ich eine arabische statt der römischen Numerierung. Deutsche Übersetzungen der US-Verfassung etwa in: W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, 1987, Anhang; H. Schambeck/H. Widder/M. Bergmann (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, 1993, Nr. 42. 2 Vgl. L. Henkin/A. J. Rosenthal (Hrsg.), Constitutionalism and Rights. The Influence of the United States Constitution Abroad, 1990, mit zahlreichen Nachweisen und einem Kapitel über den Einfluß der US-Verfassung in Deutschland von H. Steinberger, S. 199ff.; ferner K. Stern, Das Grundgesetz - eine grundsätzliche Bewertung aus deutscher Sicht, in: R Kirchhof/D. P. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz. Themen einer deutsch-amerikanischen Konferenz, 1993, S. 15 ff. 3 Vgl. zum Beispiel W. Cole Durham , Das Grundgesetz - eine grundsätzliche Bewertung aus amerikanischer Sicht, in: Kirchhof/Kommers (Fn.2), S.41,43, 65 ff.; D.P. Kommers , Can German Constitionalism Serve as a Model for the United States?, in: ZaöRV 58 (1998), S. 1,2: „In recent decades... Germany's Basic Law has replaced the American Constitution as the world's leading model of democratic constitutionalism"; Slynn of Hadley, Vorwort, in: N. G. Foster , German Legal System and Laws, 1996, S. VII: „the influence which contemporary German law has had on other legal systems - Japan, Greece and Turkey, Austria and Switzerland, several countries of Central and South America - makes it necessary or at least desirable that in the United Kingdom we should know more about it". Weitere Nachweise bei J. A. Frowein/ Th. Maraun (Hrsg.), Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, 1998; J. Kokott , From Reception to Transplantation to Convergence of Constitutional Models in the Age of Globalization - With Particular Reference to the German Basic Law, in: Chr. Starck (Hrsg.), Constitutionalism, Universalism and Democracy - A Comparative Analysis, 1999, S.71 ff. 4 Es gibt inzwischen zahlreiche englischsprachige Abhandlungen, die das deutsche Verfassungsrecht behandeln. Besonders wichtige Bücher sind: D.P. Kommers, The Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany, 2. Aufl. 1997 (mit zahlreichen Übersetzungen von BVerfG-Entscheidungen; in dem Vorwort zur 2. Aufl. bezeichnet D. P. Currie das Grundgesetz als „one of the great constitutions of the world"); D.P. Currie , The Constitution of the Federal Republic of Germany, 1994 („Germany is a particularly fertile field for the student of comparative constitutional law", S.XI, siehe auch S.342); P.E. Quint , The Imperfect Union. Constitutional Structures of German Unification, 1997. Der Verbreitung deutschen Verfassungsrechts im Ausland dienen auch englischsprachige Übersetzungen der wichtigsten Entscheidungen des BVerfG. Bisher sind im Nomos Verlag Bände mit Entscheidungen zur auswärtigen Gewalt und zur Meinungsfreiheit erschienen. Weitere Bände sind in Vorbereitung.

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Teil A: Deutsch-Amerikanischer Verfassungsvergleich

gelungenen Übernahme teils amerikanischer, teils deutscher Verfassungselemente abhängig erachtet.5 Das rechtfertigt die Annahme, daß im Vergleich dieser beiden Verfassungen sich wenngleich nicht alle, so doch viele wesentliche Organisationsund Legitimationsprinzipien moderner Staatlichkeit identifizieren und damit letzlich auch verteidigen oder kritisieren lassen. Einige wichtige Überschneidungen und Unterschiede kommen im folgenden zur Sprache. Ferner schlägt der Artikel in Abschnitt VI. einen durch die zunehmende Internationalisierung der politischen Beziehungen bedingten partiellen Paradigmenwechsel beim Verständnis der Grundsäulen zeitgenössischer Staatlichkeit vor. Im Grundgesetz kommt diese Internationalisierung deutlicher und bestimmter zum Ausdruck als in der älteren US-Verfassung, die insoweit stärker auf Politikverfahren als auf Verfassungsvorgaben angewiesen ist - ein Punkt, der an mehreren Stellen des Vergleichs hervortreten wird. II. Verfassunggebung Beide Verfassungen sind aus politischen Krisen entstanden. Die amerikanische Verfassungsentwicklung von der Unabhängigkeitserklärung von 1776 bis zur Verfassunggebung von 1787 läßt sich am besten charakterisieren als Schritt von der Legitimierung der Ablösung von der englischen Krone hin zur Konstitutionalisierung der neuen politischen Gemeinschaft „Vereinigte Staaten von Amerika". Deutlich ist in diesem Schritt die Verbindung von liberalem und demokratischem Prinzip, getragen von naturrechtlichem Gedankengut, wie einige Kernsätze der Unabhängigkeitserklärung zeigen: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. - That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed, - That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or abolish it...". Diese Gedanken spiegeln sich in der Präambel der US-Verfassung wider: „We the People of the United States, in Order to form a more perfect Union, establish Justice, insure domestic Tranquility, provide for the common defence, promote the general Welfare, and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity, do ordain and establish this Constitution for the United States of America." Es sind vereinigte „Staaten", die sich in dieser Verfassung von einem losen Staatenbund zu einem Bun5

Vgl. B. Ackerman, The Future of Liberal Revolution, 1992, Kap. 6, der zur Übernahme vor allem empfiehlt: ein spezielles Verfassungsgericht wie das BVerfG, allerdings ohne abstrakte Normenkontrolle, das Institut der Verfassungsbeschwerde, die liberale Rechtsprechung des BVerfG sowie die einmalige 12jährige Amtszeit der Verfassungsrichter mit dem derzeitigen Wahlmodus; Bedenken hat Ackerman gegen die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Generell gilt aber für ihn: „America has the longest practice of judicial review. But on many matters, more can be learned from European models, especially the remarkable German experience with its Basic Law, enacted after the Hitler disaster" (S.4). Siehe auch S. 101 und E.J. Eberle , Comparative Public Law: A Time That Has Arrived, in: Festschrift für Bernhard Großfeld, 1999, S. 175 (181).

§ 1 Der moderne Verfassungsstaat

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desstaat, einem föderalistischen Gebilde, weiterentwickelt haben. Das drückt sich auch im Verfahren der Ratifizierung des Verfassungsentwurfs aus: Nach Art. V I I der Verfassung bedurfte es der Zustimmung von neun der dreizehn Gliedstaaten durch Konventionen in diesen Staaten; eine bundesunmittelbare Volksabstimmung war nicht vorgesehen. Das Grundgesetz entstand nicht wie die US-Verfassung am Ende eines siegreichen politischen und militärischen Prozesses, sondern als Resultat einer politischen und militärischen Niederlage und einer moralischen Verfehlung ohnegleichen. In anderen Punkten gibt es Übereinstimmungen: Als politische Ordnung ist das Grundgesetz eine Reaktion auf Souveränitätsanmaßungen. Es ist der Wiederherstellung föderalistischer Strukturen verpflichtet, baut auf der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf und bezieht sich auf den Freiheitsgedanken. Durch den Gottesbezug in der Präambel und durch die Anordnung der drei Absätze des Art. 1 wird auf naturrechtliche Vorstellungen unverbrüchlichen Rechts hingewiesen. Ratifiziert wurde das Grundgesetz nicht durch das Volk direkt, sondern durch zwei Drittel der beteiligten Länder (Art. 144 Abs. 1 GG). Auf welches der drei Hauptmomente dieser Verfassunggebungen - Freiheit, Demokratie, Naturrecht - vor allem zur Legitimierung von Staatsgewalt abzustellen ist, oder ob es auf eine Integration von allen Momenten ankommt, ist in den USA wie in Deutschland streitig. Streitig können auch Ausgestaltungen dieser Ideen sein, die von Freiheit durch Staatsabwehr bis zur erfüllten Freiheit durch staatliche Hilfen, von reiner Majoritätsdemokratie bis zur allseits repräsentativen Demokratie und vom statischen bis zum dynamischen Naturrecht göttlicher oder vernunftrechtlicher Provenienz reichen. Klar ist aber, daß je nach Schwerpunktbildung die verfassunggebende Gewalt inhaltlich eher frei oder eher gebunden ist, auf jeden Fall aber irgendeiner - direkten oder indirekten, punktuellen oder intertemporären - Zustimmung durch das Volk bedarf. 6 I I I . Verfassungsgestalt 1. Die amerikanische Verfassung ist alt und kurz, die deutsche ist neu und lang. Beide Verfassungen aber sind schriftliche Dokumente, die versuchen, in einer Urkunde das jeweilige Gemeinwesen rechtlich zu ordnen. Die damit im Vergleich zum 6

Vgl. etwa die Einteilung von B. Ackerman, We the People, Bd. 1, 1991, der auf S. 7 ff., 10ff., 32f., 35 f. zwischen demokratischen „monists"/Anglophilen, liberalen/naturrechtlichen „rights foundationalists'VGermanophilen und „dualists"/Amerikanern unterscheidet. Deutsche Parallelen lassen sich bilden, wenn man an den Vorrang etwa des politischen Formprinzips oder des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips in Carl Schmitts Verfassungslehre, 5. Aufl. 1970, II. und III. Teil denkt oder eine Integrationstheorie von Verfassunggebung im Geiste von R. Smend vertritt: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 475 ff. Grundgesetzlich treten diese Spannungen in der Interpretation der Art. 79 Abs. 3 und 146 auf. Rechtsvergleichend zu Art. 79 Abs. 3 GG J. E. Fleming, We the Exceptional American People, in: Constitutional Commentary 11 (1994), S. 355 ff.

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Teil A: Deutsch-Amerikanischer Verfassungsvergleich

Vereinigten Königreich Großbritannien weit schwächere Rolle von Verfassungsgewohnheitsrecht7 und die weit stärkere Rolle schriftlicher Fixierung läßt sich mit dem revolutionären Ablösungsprozeß der ehemaligen Kolonien erklären, die sich lange, aber vergeblich auf das alte, überkommene Recht aller Engländer - auf das Verfassungsgewohnheitsrecht - berufen hatten. Dieses war unsicher und aus Sicht der Kolonien ausbeuterisch geworden; deshalb bedurfte es der naturrechtlichen Kritik und der Sicherung durch Schriftlichkeit der neuen Verfassung. In Marbury v. Madison , der ersten grundlegenden Entscheidung des Supreme Court, taucht dieses Motiv deutlich auf: „This original and supreme will [of the people] organizes the government, and assigns, to different departments their respective powers. It may either stop here; or establish certain limits not to be transcended by those departments. The government of the United States is of the latter description. The powers of the legislature are defined and limited; and that those limits may not be mistaken, or forgotten, the constitution is written." 8 Fast alle Verfassungen, die nach dem II. Weltkrieg erlassen worden sind, sind aber weit umfangreicher und detaillierter als der amerikanische Klassiker; Ähnliches gilt für internationale Menschenrechtspakte im Vergleich zu der Bill of Rights in der US-Verfassung. Müßten die Amerikaner heute ihre Verfassung neu formulieren, spricht manches dafür, daß auch sie eine umfangreichere Textgestalt wählen würden. Ausführlichkeit gewährleistet mehr Rechtssicherheit und inhaltliche Vorhersehbarkeit als Kürze. Kürze in Form der Beschränkung auf einige Leitbegriffe, emotionsgeladene und integrationsfördernde Formeln verweist die Bürger stärker auf das, was die in der Verfassung wiederum mehr oder weniger ausführlich bestimmten Organe aus den legitimatorischen Leitbegriffen machen. 2. Kürze oder Ausführlichkeit einer Verfassung sind auch bedeutsam für die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit als Wächter der Verfassung. Je kürzer - und älter - eine Verfassung ist, desto größer wird potentiell - und in den USA aktuell - die Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit, die offenen Klauseln der Verfassung zu konkretisieren und bei Fakten- oder Wertewandel zu aktualisieren. Das erklärt die in den USA auf den ersten Blick widersprüchlichen Betonungen der Schriftlichkeit der Verfassung einerseits9 wie der Bedeutung des Supreme Court andererseits. 10 Daraus wird ebenfalls ersichtlich, daß eine Vorschrift wie Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG, die von der weitgehenden Übereinstimmung von Verfassungstext und Verfassungsrecht ausgeht, im amerikanischen Kontext irrelevant ist: Ein Blick auf den Text der 7 Zur englischen Verfassung siehe G. Marshall, Constitutional Conventions. The Rules and Forms of Political Accountability, 1984. 8 Marbury v. Madison , 5 U.S. (1 Cranch) 137, 176 (1803). 9 Vgl. dazu generell L. Alexander (Hrsg.), Constitutionalism. Philosophical Foundations, 1998, S. 1,9, 16, 27 f., 111, 137, 210, 217ff., 225, 236. 10 Des öfteren hat der Verfasser erlebt, daß Verfassungsrechtler in den USA in ihren Vorlesungen betonten: „Forget about the text of the Constitution, pay attention to what the Supreme Court says!"

§ 1 Der moderne Verfassungsstaat

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Verfassung enthüllt nur einen Bruchteil des geltenden Verfassungsrechts; dieses ist im wesentlichen der Dogmatik und den Entscheidungen des Supreme Court zu entnehmen.11 Dort ist meistens die Quelle für Änderungen, selten im Text der Verfassung selbst.12 Für eine Verfassungsrechtsänderung bedarf es also in den meisten Fällen statt der in Art. V vorgesehenen Zwei-Drittel-Mehrheit beider Häuser des Kongresses sowie einer Drei-Viertel-Mehrheit in den Gliedstaaten einer einfachen Mehrheit des Supreme Court und einer Begründung, warum das Gericht in dem anstehenden Fall sich nicht an frühere Präzedenzfälle gebunden sieht.13 Auch für das Grundgesetz gilt, daß das im konkreten Streitfall geltende Verfassungsrecht meist erst in einer Entscheidung des BVerfG zu finden ist. Doch ist der Grad an Dichte von Verfassungsrecht im Text des Grundgesetzes deutlich höher als in der US-Verfassung; auch Verfassungsänderungen finden häufiger im deutschen Text Ausdruck als im amerikanischen: Die dortige Verfassung hat in über 200 Jahren erst 27 Änderungen erfahren - das Grundgesetz ist in 50 Jahren sechsundvierzigmal geändert worden. Sollte eine Verfassung kurz oder ausführlich sein? Diese Frage läßt sich ohne eine Berücksichtigung der konkreten Situation der Verfassunggebung bzw. Verfassungsänderung und der ihr zugrundeliegenden Gefährdungen und Mißtrauens- oder Vertrauenslagen nicht beantworten. Von daher ist es verständlich, daß die Autoren des Grundgesetzes wie der meisten anderen neuen Verfassungen sowie der Menschenrechtspakte nach der Katastrophe des II. Weltkriegs ausführliche Grund- und Menschenrechtskataloge entworfen haben. Mißtrauenspotentiale gegenüber dem politischen Prozeß oder dem politischen Gegner scheinen im Grundgesetz deutlich auf. Man denke an das Widerstandsrecht in Art. 20 Abs. 4 GG, an die Notstands Verfassung in den Art. 115 äff. GG, an den Europaartikel 23, an die Neufassungen des Asylgrundrechts in Art. 16 a GG sowie des Wohnungsgrundrechts in Art. 13 Abs. 3 11 Vgl. den berühmten Ausspruch von Chief Justice Ch.E. Hughes, Speech, Elmira, New York, May 3,1907: „We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is." 12 Ausdruck dieser Tatsache ist es, daß es in den USA eine breite Diskussion über Verfassungsänderungen außerhalb des eigentlich dafür vorgesehenen Abänderungsverfahrens gibt. Vgl. die Besprechung einschlägiger Literatur in: J.E. Fleming, We the Unconventional People, in: University of Chicago Law Review 65 (1998), S. 1513ff. In Deutschland tritt dieses Problem kaum auf, wie die häufigen Verfassungstextänderungen zeigen, die dafür sorgen, daß die politische Identität des Gemeinwesens jedenfalls im wesentlichen dem Verfassungstext zu entnehmen ist. Zum Sonderfall europäische Integration siehe unten Abschnitt 1X4. 13 Vgl. R. Post, Theories of Constitutional Interpretation, in: Representations 30 (1990), S. 13 (20): „The implication of doctrinal interpretation is that the actual text of the Constitution is remitted to one end of a growing line of precedents." Dort sowie in der 2. Abtreibungsentscheidung des Supreme Court, Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania v. Casey , 505 U.S. 833, 854ff. (1992) näher zur Rolle von Präzedenzfällen in den USA. Zur Lage in Deutschland siehe M. Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977; E. Benda/E. Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, 1991, Rn. 1259.

Teil A: Deutsch-Amerikanischer Verfassungsvergleich

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bis 7 GG, die klar Gesetzescharakter haben.14 In den USA ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit der politischen Prozesse weit stärker entwikkelt. Anders läßt es sich nicht erklären, daß die Frage der Notstands- und Kriegsgewalt seit Verfassungserlaß und bis heute in der Schwebe gehalten wird: Der Präsident und der Kongreß sind zuständig, aber wer genau für welche Regelung verantwortlich ist, ist zwischen beiden streitig, und der Supreme Court hat sich nicht so genau festgelegt. 15 Ein Weniger an Verfassungsrecht gibt auch dem Gesetzgeber und der Regierung ein Mehr an Flexibilität, was im Rahmen des amerikanischen Pragmatismus eher als Tugend denn als Verführung zum Laster angesehen wird. 16 Die amerikanische Verfassung ist weitgehend dem Modell der kurzen Verfassung verpflichtet und hat kaum gesetzesgleiche Änderungen getroffen. 17 Die Verfassungsgesetzgeber sind insoweit dem Rat von Chief Justice John Marshall in McCulloch v. Maryland , der nach Marbury v. Madison zweiten grundlegenden Entscheidung des Gerichts, gefolgt. „A constitution, to contain an accurate detail of all the subdivisions of which its great powers will admit, and of all the means by which they may be carried into execution, would partake of the prolixity of a legal code, and could scarcely be understood by the public. Its nature, therefore, requires, that only its great outlines should be marked, its important objects designated, and the minor ingredients which compose those objects, be deduced from the nature of the objects themselves... we must never forget that it is a constitution we are expounding." 18 Der letzte Satzteil kann als Aufforderung zu einer Entwicklung spezifischer Methoden der Verfassungsauslegung verstanden werden 19; er kann im Zusammenhang 14

Vgl. A. Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, in: AöR 119 (1994), S. 35 ff.; M. Brenner, Die neuartige Technizität des Verfassungsrechts und die Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung, in: AöR 120 (1995), S. 248 ff. 15 Vgl. W. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 2. Aufl. 2001, §§71112, IV5, und unten Abschnitt IX. 2. 16 Vgl. A. Hamilton! J. Madison!J. Jay , The Federalist Papers, 1787/88, Nr. 23, 41 und W.F. Murphy/ J. E. Fleming!S. A. Barber , American Constitutional Interpretation, 2. Aufl. 1995, Kap. 19. 17 Zu diesem Unterschied siehe D.P. Kommers , The Basic Law: 1949-1999, Manuskript 1999, S. 9f.: ,,[T]he Basic Law's imperfection may be traced to its excessive detail, and the detail continues to accumulate. In many of its parts, it reads like a legal code the complexity of which most Germans probably do not understand. From an American perspective, the Basic Law fails to distinguish between what John Marshall called ,great outlines' and ,minor ingredients'." 18 McCulloch v. Maryland , 17 U.S. (4 Wheat.) 316,406 (1819). 19 Vgl. hierzu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 53 ff., mit der These, die Verfassung sei kein Gegenstand, dem man sich mit den üblichen Methoden der Gesetzesauslegung nähern dürfte. Ob das richtig ist, hängt erstens von dem Grad ab, bis zu dem die jeweilige Verfassung Gesetzescharakter hat, zweitens von der Art und Weise des Einsatzes der Methoden der Gesetzesauslegung. Siehe dazu W. Brugger, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, in: AöR 119 (1994), S. 1 ff., auch in: ders.,

§ 1 Der moderne Verfassungsstaat

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des zuvor Gesagten aber auch in Konkurrenz zur Verantwortlichkeit der politischen Organe angesehen werden. Dann dient das Zitat als Strategie zur Steigerung der Macht von Verfassungsgerichten, die sich zutrauen, aus der „Natur der Sache" leitender offener Verfassungsmaßstäbe das aus ihrer Sicht Richtige abzuleiten - ein Thema, auf das zurückzukommen sein wird. IV. Verfassungsvorrang und Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Der Verfassungsvorrang ist im Grundgesetz unmißverständlich festgelegt: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden" (Art. 20 Abs. 3). Für die Grundrechtsbindung wird spezielle Vorsorge getroffen: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht" (Art. 1 Abs. 3). Auch was die institutionelle Überprüfung des Verfassungsvorrangs angeht, ist das Grundgesetz klar und spezifisch. Diese obliegt, wie die Art. 92 ff. zeigen, dem BVerfG, das mit umfassenden Kompetenzen zur Überprüfung von Streitigkeiten im staatsorganisatorischen, grundrechtlichen und internationalen Bereich ausgestattet worden ist. Zum Ausgang des 18. Jahrhunderts war diese Frage noch nicht so klar entschieden. Die amerikanische Verfassung setzte zwar in Art. III § 1 einen Supreme Court ein; dessen Kompetenzen zur Kontrolle insbesondere der Legislativgewalt waren aber von den Verfassunggebern nicht im einzelnen vorhergesehen oder vorherbestimmt worden. Zudem ist die Vorrangklausel der US-Verfassung nicht so umfassend wie diejenige des Grundgesetzes: „This Constitution, and the Laws of the United States which shall be made in Pursuance thereof; and all Treaties made, or which shall be made, under the Authority of the United States, shall be the supreme Law of the Land; and the Judges in every State shall be bound thereby, any Thing in the Constitution or Laws of any State to the Contrary notwithstanding" (Art. V I § 2). Es bedurfte der bahnbrechenden Entscheidung Marbury v. Madison , um zum ersten Mal für das neugegründete Gemeinwesen Klarheit über die Bedeutung der „supremacy clause" sowie die Merkmale von „judicial review" zu schaffen. Chief Justice John Marshall trat mit starken Worten sowohl für den allgemeinen Verfassungsvorrang wie das besondere Wächteramt des Supreme Court ein: „The powers of the legislature are defined and limited; and that those limits may not be mistaken or forgotten, the Constitution is written... an act of the legislature, repugnant to the constitution, is void... It is emphatically the province and duty of the judicial department to say what the law is... So if a law be in opposition to the constitution; if both the law and the constitution apply to a particular case, so that the court must either Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus. Studien zur Legitimation des Grundgesetzes, 1999, §2.

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decide that case conformably to the law, disregarding the constitution; or conformably to the constitution, disregarding the law; the court must determine which of these conflicting rules governs the case. This is of the very essence of judicial duty. If then the courts are to regard the constitution; and the constitution is superior to any ordinary act of the legislature; the constitution, and not such ordinary act, must govern the case to which they both apply... This... [is] the very foundation of all written constitutions."20 Die Gründe, die Marshall im einzelnen zur Unterstützung seiner Sicht vorbrachte, waren damals durchaus umstritten 21, und in dem konkreten Fall setzte das Gericht die doppelte Vorrangthese - vielleicht aus Furcht vor Nichtbefolgung - nicht durch: Zwar erklärte der Supreme Court eine eher technische Zuständigkeitsregel für nichtig, aber der Kläger Marbury verlor den Prozeß trotzdem. Es dauerte 54 Jahre, bis der Supreme Court die Verklammerung von Verfassungsund Verfassungsgerichtsvorrang benutzte, um in einem folgenreichen Fall ein Bundesgesetz für nichtig zu erklären. 22 Wie überzeugend oder angreifbar auch immer die Gründe in Marbury v. Madison 1803 gewesen sein mögen - heute sind sie Allgemeingut des modernen Konstitutionalismus23, wie die Vorschriften des Grundgesetzes exemplarisch zeigen. Im einzelnen sind jedoch durchaus Unterschiede zu diagnostizieren: Der Supreme Court der USA ist gleichzeitig höchste Instanz der allgemeinen Gerichtsbarkeit und Organ der letztverbindlichen Auslegung der Verfassung. In der erstgenannten Kapazität ist er der Legislative untergeordnet, in der letztgenannten übergeordnet, was manchmal zu schwierigen Abgrenzungsfragen führt. Das BVerfG ist, wie die meisten neueren Verfassungsgerichte, ausschließlich Verfassungsgericht 24, das in seiner Rechtsprechung darauf achten muß, nur verfassungsrechtliche Konflikte zu entscheiden und nicht zum Superrevisionsgericht zu werden - auch das eine schwierige Aufgabe. Ferner ist die Zuständigkeit des Supreme Court nach den allgemein für die Gerichtsbarkeit geltenden Regeln des Art. III beschränkt auf „cases and controversies", umfaßt also weder Rechtsgutachten noch Streitigkeiten über die Verfassungsmäßigkeit 20

5 U.S. (1 Cranch) 137, 176-178 (1803). Vgl. Brugger, Grundrechte (Fn. 1), § 2. 22 Vgl. Dred Scott v. Sandford, 60 U.S. (19 How.) 393 (1857). Marbury v. Madison wurde 1803 entschieden. 23 Vgl. R. Kay , American Constitutionalism, in: Constitutionalism (Fn.9), S. 16: „As the twentieth century comes to a close, the triumph of constitutionalism appears almost complete. Just about every state in the world has a written constitution. The great majority of these declare the constitution to be law controlling the organs of the state. And, in at least many states, that constitution is, in fact, successfully invoked by courts holding acts of the state invalid because inconsistent with the constitution." 24 D.R Kommers/ J.E. Finn , American Constitutional Law. Essays, Cases, and Comparative Notes, 1998, S.25, nennen dies das europäische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit, das aus ihrer Sicht „more persuasive" (S. 26) ist. Vgl. schon oben Fn.5 sowie W.F. Murphy , Constitutions, Constitutionalism, and Democracy, in: D. Greenberg/S. N. Katz/M. Beth Oliviero/ S. C. Wheatley (Hrsg.), Constitutionalism and Democracy. Transitions in the Contemporary World, 1993, S. 3 (15). 21

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von Gesetzen als solchen. Das BVerfG hat die letztgenannte Zuständigkeit im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 2a GG. 25 2. Das Zitat aus Marbury v. Madison läßt auch eine interessante Ambivalenz im Hinblick auf die Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes erkennen. Marshall spricht von „void", und Rekurse auf „null and void" oder „invalid" findet man häufig in Literatur und Rechtsprechung. Vom case or controversy-Erfordernis ausgehend, führt die Verfassuiigswidrigkeit einer entscheidungsrelevanten Norm rechtstechnisch eigentlich nur zur Nichtanwendung des Gesetzes in dem anhängigen Verfahren sowie, über die Maxime des „stare decisis" und der „doctrine of precedence"26, zur Nichtanwendung in vergleichbaren zukünftigen Fällen.27 In der praktischen Auswirkung läuft das allerdings auf eine Erklärung der Nichtigkeit der Norm selbst hinaus wie in § 78 BVerfGG. 3. Wenngleich inzwischen geklärt ist, daß Verfassungsgerichte bei einem Verfassungsverstoß den Vorrang der Verfassung gegen die Legislative durchsetzen dürfen, so sollte diese Kompetenz doch nicht leichtfertig wahrgenommen werden. Verfassungsgerichtliche Zurückhaltung ist eine immer wieder ins Spiel gebrachte Maxime im deutschen wie im amerikanischen Rechtsdenken, mit der an den dem Gesetzgeber gebührenden Respekt erinnert wird. 28 Deshalb haben beide Gerichte Kataloge von Zulässigkeitsvoraussetzungen entwickelt, in deren Mittelpunkt bei konkreten Rechtsstreitigkeiten die Antrags- oder Klagebefugnis - „Standing" - steht. In Deutschland wird der Respekt gegenüber dem legislativen Gemeinwohlurteil zudem durch die Doktrin der verfassungskonformen Auslegung gewahrt: Soweit Wortlaut und Parlamentswille eine Auslegung des Gesetzes zulassen, die verfassungsgemäß ist, ist das Gesetz in dieser Auslegung in Kraft zu lassen; allerdings darf es nicht zu einer Manipulation des klar Gesagten oder Gewollten kommen.29 Ähnlich hat sich der Supreme Court in Ashwander v. Tennessee Valley Authority geäußert. 30 Danach entscheidet das Gericht eine Streitigkeit nach Verfassungsmaßstäben nur, wenn (1) eine „real, earnest and vital controversy between individuals" vorliegt, (2) wenn eine Entscheidung „absolutely necessary" ist. (3) Die Entscheidungsregel ist möglichst eng zu formulieren. (4) Falls eine andere Entscheidungs25 Generell zur Typik von Verfassungsgerichtsbarkeit siehe E.-W. Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit. Strukturfragen, Organisation, Legitimation, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 157 (170ff.), der das Einheitsmodell (USA), das Trennungsmodell (Österreich) und das Vorrangmodell (Deutschland) unterscheidet. 26 Vgl. schon oben Fn. 13 sowie M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Aufl. 1976, §§66ff.; W. Burnham, Introduction to the Law and Legal System of the United States, 1995, S.65f. 27 Vgl. Brugger, Einführung (Fn. 15), § 3 III. 28 Näher hierzu in bezug auf die amerikanische und deutsche Verfassungsordnung Chr. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1996, S. 125 ff., 227 ff. 29 Vgl. zuletzt BVerfGE 83, 130 (144) m. w. N. 30 297 U.S.288 (1936). Die Zitate finden sich auf S. 346, 347, 348.

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grundlage als die Verfassung zur Verfügung steht, ist diese zu wählen. (5) Der Kläger muß durch die Anwendung des Gesetzes wirklich verletzt sein und (6) darf von ihm nicht profitiert haben. (7) formuliert die amerikanische Version der verfassungskonformen Auslegung: Selbst wenn ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes bestehen, „it is a cardinal principle that this Court will first ascertain whether a construction of the Statute is fairly possible by which the question may be avoided". Obwohl als Kardinalprinzip deklariert, hat sich der Supreme Court nicht immer an diese Maxime gehalten - schon Marbury v. Madison verstößt klar dagegen, und weitere in der Sache bedeutsame Fälle ließen sich anführen. Das läßt darauf schließen, daß eine bloße Anempfehlung gerichtlicher Zurückhaltung nicht weit führt. Ihre Wirksamkeit endet dort, wo Verfassungsrichter einen Fall entscheiden wollen, weil sein Thema ihnen ein Herzensanliegen ist. In der amerikanischen Juristenausbildung hört man deshalb oft den Satz, beim Studium von Entscheidungen des Supreme Court solle man deutlich unterscheiden zwischen dem, was das Gericht vorgibt zu tun, und dem, was es wirklich tut. 31 Rechtsrealismus ist eine weitverbreitete Haltung, die in den USA deutlicher als in Deutschland ausgeprägt ist. 32 4. Schließlich setzt eine verfassungsrechtliche Streitigkeit voraus, daß die Verfassung einen Maßstab des Rechts zu erkennen gibt, der anderes ist als die Bestimmung von Politikzielen, die den politisch verantwortlichen Organen und nicht dem Verfassungsgericht obliegt. Im Grundgesetz kommt diese Beschränkung durch den Begriff „rechtsprechende Gewalt" in Art. 92 sowie die Formulierung „in seinen Rechten verletzt" in Art. 19 Abs. 4 zum Ausdruck. Liegen keine oder nicht ausreichende Inhaltsmaßstäbe von objektivem oder subjektivem Recht vor, sind entsprechende Klagen unzulässig oder zwar zulässig, aber in der Begründetheit nur beschränkt gerichtlich überprüfbar; auf jeden Fall überprüfen die Gerichte aber die Einhaltung der Kompetenzgrenzen und etwaiger Verfahrensmaßstäbe. Das ist in den USA nicht im31 Hier wie dort bieten sich zur Analyse Entscheidungen an, in denen die Gerichte vorgeben, sich im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung zu bewegen, der Sache nach aber wesentliche Abweichungen und damit „overrulings" vorliegen. Nach Ansicht der Kritiker der Kreuz-Entscheidung des BVerfG (E 93, 1) ist das Gericht in dieser Entscheidung von den früheren Urteilen zur christlichen Gemeinschaftsschule abgewichen. 32 Diese Aussage bezieht sich auf das vorherrschende Verhältnis des Publikums und der Rechtswissenschaft zur Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit, ferner auf die deutsche Juristenausbildung. Das schließt nicht aus, sondern ein, daß es bei uns auch - zum Teil starke - rechtsrealistische und ideologiekritische Einschläge gibt, vgl. etwa unten Fn. 103. Es wäre aber in Deutschland undenkbar, daß ein führendes Casebook zum Verfassungsrecht dem Text der Verfassung gleich biographische Notizen zu den Justices des Supreme Court folgen läßt, offenbar in der aus Sicht der Autoren rechtsrealistischen Annahme, daß diese Biographien Licht auf die Entscheidungen der Richter werfen. Siehe G.R. Stone/L.M. SeidmanIC.R. Sunstein/M.V. Tushnet, Constitutional Law, 3. Aufl. 1996, S. LXXVIIff. Zum amerikanischen Rechtsrealismus siehe W. E. Rumble, American Legal Realism. Skepticism, Reform, and the Judicial Process, 1968; W.W. Fisher III/M. J. Horwitz/Th. A. Reed (Hrsg.), American Legal Realism, 1993.

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mer der Fall. Liegt eine „political question " vor, so weigert sich der Supreme Court, den Konflikt zwischen zwei Staatsorganen zu entscheiden. Die Klage ist unzulässig, das Gericht nimmt weder Stellung zu Kompetenz, Verfahren noch Inhalt der getroffenen Entscheidung; es obliegt den Streitparteien, zu einer Lösung zu finden. Was sind die Merkmale eines solchen nichtjudizierbaren Verfassungskonflikts? Baker v. Carr ist die Leitentscheidung: „Prominent on the surface of any case held to involve a political question is found a textually demonstrable constitutional commitment of the issue to a coordinate political department; or the lack of judicially discoverable and manageable standards for resolving it; or the impossibility of deciding without an initial policy determination of a kind clearly for nonjudicial discretion; or the impossibility of a court's undertaking independent resolution without expressing lack of the respect due coordinate branches of government; or an unusual need for unquestioning adherence to a political decision already made; or the potentiality of embarassment from multifarious pronouncements by various departments on one question."33 „Political questions" sind nicht häufig, aber die Anzahl zu bestimmen ist schwierig, weil manche Verfassungsstreitigkeiten wegen der antizipierten Zurückweisung durch den Supreme Court dort schon gar nicht als Klage eingereicht werden. So gab es zum Beispiel während des durch das Repräsentantenhaus vorangetriebenen Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsident Clinton - der Parallele zur deutschen Präsidentenanklage in Art. 61 GG - keine Bemühung, den Supreme Court entscheiden zu lassen, ob die vorgeworfenen Taten „high Crimes and Misdemeanors" im Sinne von Art. II § 4 der Verfassung darstellen. Über eine Amtsenthebungsanklage des Repräsentantenhauses hat nach Art. I § 3 Cl. 6 der Senat „the sole Power". Die meisten Verfassungsrechtler sehen Streitigkeiten über das impeachment-Verfahren als „political questions" an. Gilt dies auch, falls Repräsentantenhaus und Senat als in der Verfassung erwähnte zuständige Organe ihre Kompetenzen überschreiten und Verfahrens verstoße begehen? Offenbar ja; die Gegenansicht wird in Nixon v. United States 34 von zwei Richtern des Supreme Court vertreten. Diese treten zumindest für eine minimale Prozedurkontrolle im Rahmen des Amtsenthebungsverfahrens ein. Das ist „deutsch" gedacht: Die Klage wäre zulässig, aber in der Begründetheit nur beschränkt überprüfbar. 35 Sollten die USA dem deutschen Modell einer schnellen verfassungsgerichtlichen Entscheidung ä la Art. 61 GG folgen? Die meisten amerikanischen Verfassungsrechtler lehnen dies ab und verweisen dazu auf das Clinton-Verfahren: Gerade weil sich dieses lange hinzog und die komplexen politischen und rechtlichen Fragen immer wieder von Bevölkerung, Politikern und Juristen hin- und hergewendet worden 33 34 35

243.

Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 217 (1962). Vgl. 506 U.S. 224, 239ff. (1993). Der Fall betrifft eine Richteramtsenthebung. Zu den Unterschieden der beiden Vorgehensweisen siehe Rau (Fn.28), S.64ff., 228 ff.,

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sind, hat sich schließlich bei einer breiten Mehrheit die Meinung festgesetzt, daß die einschlägige Sanktion jedenfalls nicht die Amtsenthebung sein sollte. Der Senat hat dieser öffentlichen Meinung rechtlich verbindlichen Ausdruck verliehen und damit einen langwierigen Prozeß zu einem Ende gebracht, in dem fast alle Bürger Mitglieder der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten geworden sind.36

V. Verfassungsstruktur 1: Gewaltenteilung, Föderalismus, Grundrechte 1. Die amerikanische Verfassung stellt ein Musterbeispiel der klassischen modernen Verfassung dar: Staatsziele sind in der schon zitierten Verfassungspräambel genannt. Was meinen diese abstrakten Zielbestimmungen konkret? Dazu sagt die Verfassung von 1787 nichts inhaltlich Verbindliches. Sie regelt Funktionen, Organe, Zuständigkeiten und Verfahren, wobei sie in den Art. I bis III dem Gewaltenteilungsschema folgt. Art. I beginnt in § 1 mit „All legislative Powers herein granted shall be vested in a Congress of the United States, which shall consist of a Senate and House of Representatives." Art. II § 1 formuliert: „The executive Power shall be vested in a President of the United States of America...". Art. III § 1 setzt fest: „The judicial Power of the United States, shall be vested in one supreme Court, and in such inferior Courts as the Congress may from time to time ordain and establish...". Die horizontale Gewaltenteilung wird durch die vertikale der föderalen Struktur ergänzt: Die Legislative besteht, wie Art. I § 1 zeigt, aus einem Abgeordnetenhaus und einer Gliedstaatenvertretung, dem Senat. Art. IV und V I enthalten weitere föderale Regelungen. Sie werden durch Art. V und V I I ergänzt, die die Änderung und Ratifizierung der Verfassung betreffen. Einen Grundrechtskatalog enthielt die ursprüngliche Verfassung von 1787 nicht. Die Bill of Rights wurde erst auf Drängen der Anti-Federalists 1789 formuliert und 1791 ratifiziert, um die Chancen der Ratifizierung des Verfassungsentwurfs von Philadelphia - im Ergebnis erfolgreich - zu erhöhen. Läßt man einmal Ratifizierungs- und Änderungsfragen sowie Demokratie als Prinzip der Staatswillensbildung beiseite, könnte man sagen, daß die amerikanische Verfassung als Klassiker der modernen Verfassung drei Elemente oder Säulen hat: Gewaltenteilung, Föderalismus, Abwehrrechte. 37 Nimmt man die Demokratie hinzu, läßt sich formulieren: Die US-Verfassung ist Staatswillensbildungsverfassung, Staatsorganisationsverfassung und Staatsabwehrverfassung. 36

Vgl. P. Häberles gleichnamigen Artikel, in: JZ 1975, S. 297 ff. Die Einbeziehung der Öffentlichkeit als Organ der Verfassungskonkretisierung geht in den USA zum Teil erheblich weiter. M. Tushnet, Taking the Constitution Away From the Courts, 1999, tritt für ein populistisches Verfassungsrecht ein, in dem der politische Prozeß statt des Supreme Court Verfassungskonflikte entscheidet. Das ist in den USA eine respektable Minderheitsposition; in Deutschland würden solche Thesen vermutlich als verfassungsgefährdend eingestuft. Vgl. meine Besprechung, in: Der Staat 39 (2000), S. 135 ff. 37 Die neueren Zusatzartikel beziehen sich alle auf die genannten Hauptregelungsbereiche.

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Diese Elemente finden sich auch im Grundgesetz wieder. Die Gewaltenteilung ist in den Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG festgesetzt und schwerpunktmäßig in den Abschnitten III bis VIII und IX im Detail geregelt worden. Föderalismus als Strukturprinzip wird im wesentlichen in Abschnitt II thematisiert. Die Grundrechte bilden den I. Abschnitt des Grundgesetzes. Unter Berücksichtigung des Demokratiegedankens bietet sich die folgende Einteilung an: Die Staatswillensbildung wird in Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 (Demokratieprinzip) skizziert und in Abschnitt III spezifiziert. Die Staatsorganisation ist in den Abschnitten II bis IX geregelt. Die Grundrechte finden sich in Abschnitt I. 2. Wie die Plazierung der Grundrechte deutlich macht, ist es hier zu einer Bedeutungszunahme gekommen. Diese hat vor allem zwei Gründe: zum einen die Schrekken des II. Weltkriegs im allgemeinen, die zu der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 sowie, im Laufe der Zeit, zur Formulierung und Ratifizierung von vielen weiteren Menschenrechtspakten geführt haben; zum anderen die deutsche Erfahrung im besonderen, die über die auffällige Positionierung des Grundrechtsabschnitts permanent an die Gefahren des Totalitarismus und an den „vorstaatlichen" Charakter der Grundrechte erinnern will. All das sind nachvollziehbare und gewichtige Gründe, die rein konstruktivistische Bedenken - erst muß die Staatsmacht gebildet werden, bevor man sie einschränken kann - in den Hintergrund treten lassen. Trotzdem sollte man sich in Erinnerung rufen, daß die amerikanischen Föderalisten, die für eine Verfassung ohne Grundrechtsteil eingetreten waren, durchaus Gründe für ihre Haltung hatten. Sie waren der Meinung, daß Freiheit und Gerechtigkeit, zwei der in der Präambel der US-Verfassung genannten Ziele, ausreichend durch vertikale und horizontale Gewaltenteilung und eine repräsentative Demokratie zu sichern seien; grundrechtliche Abwehrrechte gegenüber der neugegründeten nationalen Gewalt seien überflüssig, ja schädlich, ließen sie doch den Eindruck entstehen, das mit ihnen abzuwehrende Verhalten des Staates sei eigentlich erlaubt und müsse erst verboten werden. 38 Zudem würde so abgelenkt von der letztlich entscheidenden Gemeinwohlsicherung, die sich in demokratischer Selbstbestimmung äußere. Falls der letztgenannte Punkt überzeugend ist, so hat das weitere Folgen: Auch wenn man aufgrund der geänderten Sachlage den Grundrechten inzwischen eine wichtigere Bedeutung beimißt, führt der Weg doch nicht mehr ohne weiteres zu einer Strategie der Grundrechtsmaximierung, wie sie jedenfalls der Rhetorik nach vom BVerfG gepflegt wird 39 , sondern zu einer beschränkteren Funktion von Grund38 Vgl. im einzelnen The Federalist Papers (Fn. 16), Nr. 84. Auf der anderen Seite ist zu betonen, daß von der naturrechtlichen Basierung des amerikanischen Gemeinwesens aus es durchaus überlegenswert gewesen wäre, von vornherein Grundrechte zu integrieren und ihnen einen prominenten Platz zuzuweisen. 39 Vgl. BVerfGE 6, 55 (72); 43, 154 (167): „Tendenz [in Rechtsprechung und Lehre], insbesondere den Grundrechten... eine möglichst große Wirkungskraft zu verleihen... Dabei ist derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, ,die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet (Thoma)'".

3 Brugger

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rechtsschutz und verfassungsgerichtlicher Kompetenz: ,,[I]t must not be forgotten that in a free representative government nothing is more fundamental than the right of the people through their appointed servants to govern themselves in accordance with their own will, except so far as they have restrained themselves by constitutional limits specifically established... The Power of the people of the States to make and alter their laws at pleasure is the greatest security for liberty and justice ... t