Auf der Grundlage einer Tagung im Jahr 2017 versammelt der Band dreiundzwanzig Beitrage, die das Phanomen des Orakels vo
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German Pages 618 [620] Year 2021
Table of contents :
Cover
Titel
Inhalt
Heinz-Günther Nesselrath — Einleitung
1. Delphi in der Archäologie
Michael Maaß — Delphi: Faszination und Akribie
Vinzenz Brinkmann, Ulrike Koch-Brinkmann — Learning from Delphi: Provisional Thoughts on Interdependencies of Storytelling on the Siphnian Treasury and the Athenian Parthenon
Vincent Déroche — Delphi in der späteren Antike und Spätantike
2. Das Orakel und seine ‚Funktionsweise‘
Hugh Bowden — Theophania, Theoria, Thusia: Rethinking the Delphic Experience
Tanja S. Scheer — Jungfräulich, isoliert, ungebildet? Die Pythia als Sprachrohr Apollons
Yulia Ustinova — The Pythia’s Appointment and Oracular Practice: Historical, Anthropological, and Cognitive Perspectives
3. Delphi und die (griechische) Geschichte
Beate Wagner-Hasel — Herakles und der Dreifußraub von Delphi: Überlegungen zu den Hintergründen eines Mythos
Balbina Bäbler — Die goldene Bäckerin: Delphi und die nichtgriechische Welt im Spiegel der Weihgeschenke
Robin Osborne — What Did Delphi Have to Do with “Colonization”?
Kai Trampedach — Die Legitimität des delphischen Orakels
Winfried Schmitz — „Sprache des Temenos“: Weihungen als politische Machtdemonstration
Pierre Sánchez — Zwischen Heiligen und Amphiktyonischen Kriegen: Die regionalen Konflikte um das Heiligtum von Delphi und die Kämpfe um die Hegemonie in Zentralgriechenland
4. Delphi in der archaischen und klassischen griechischen Literatur
Leonie von Alvensleben — Die triadische Struktur des Homerischen Apollonhymnos
Claas Lattmann — Die Pythischen Spiele bei Pindar: Historischer Kontext und kulturelle Bedeutung
Heinz-Günther Nesselrath — Das Orakel von Delphi in der attischen Tragödie
Heinz-Günther Nesselrath — Das Orakel von Delphi bei Herodot
Werner Gauer — Delphis Perserkriegsorakel für die Athener und Herodot
5. Delphi in Philosophie und Theologie der römischen Kaiserzeit
Rainer Hirsch-Luipold — Priester, Philosoph und Propagandist – Plutarch und Delphi
Jürgen Hammerstaedt — Das delphische Orakel und seine Sprüche in den philosophischen Debatten der Kaiserzeit
Ilinca Tanaseanu-Döbler — Delphisches im Neuplatonismus
Ulrich Volp — Delphi und die Orakelkritik bei den Kirchenvätern
6. Delphis Bild in späteren Zeiten
Dorit Engster — Von Erdbeben, Erdspalten und Erddämpfen – antike Berichte und moderne Forschungen zu Delphi
Martin Lindner — Ludit in humanis divina potentia rebus: Das Orakel von Delphi im und als Spiel
Bibliographie
Autorenverzeichnis
Stellenregister
Namen- und Sachregister
Civitatum Orbis MEditerranei Studia herausgegeben von Reinhard Feldmeier (Göttingen), Friedrich V. Reiterer (Salzburg), Karin Schöpflin (Göttingen), Ilinca Tanaseanu-Döbler (Göttingen) und Kristin De Troyer (Salzburg)
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Delphi Apollons Orakel in der Welt der Antike Herausgegeben von
Balbina Bäbler und Heinz-Günther Nesselrath
Mohr Siebeck
Balbina Bäbler, geboren 1967; 1997 Promotion in Klassischer Archäologie an der Universität Bern; seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-Forschungsgruppe 2064 („STRATA: Stratifikationsanalysen mythischer Stoffe und Texte in der Antike“). Heinz-Günther Nesselrath, geboren 1957; 1981 Promotion in Klassischer Philologie an der Universität Köln; 1987 Habilitation; seit 2001 Professor für Klassische Philologie an der Universität Göttingen.
ISBN 978-3-16-157570-9 / eISBN 978-3-16-161058-5 DOI 10.1628/978-3-16-161058-5 ISSN 2196-9264 / eISSN 2569-3891 (Civitatum Orbis MEditerranei Studia) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Inhalt Heinz-Günther Nesselrath Einleitung ...................................................................................................... 1
1. Delphi in der Archäologie Michael Maaß Delphi: Faszination und Akribie .................................................................. 11 Vinzenz Brinkmann, Ulrike Koch-Brinkmann Learning from Delphi: Provisional Thoughts on Interdependencies of Storytelling on the Siphnian Treasury and the Athenian Parthenon ............ 35 Vincent Déroche Delphi in der späteren Antike und Spätantike ............................................. 65
2. Das Orakel und seine ‚Funktionsweise‘ Hugh Bowden Theophania, Theoria, Thusia: Rethinking the Delphic Experience ............. 77 Tanja S. Scheer Jungfräulich, isoliert, ungebildet? Die Pythia als Sprachrohr Apollons ...... 91 Yulia Ustinova The Pythia’s Appointment and Oracular Practice: Historical, Anthropological, and Cognitive Perspectives ........................................... 119
3. Delphi und die (griechische) Geschichte Beate Wagner-Hasel Herakles und der Dreifußraub von Delphi: Überlegungen zu den Hintergründen eines Mythos ..................................................................... 137
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Inhaltsverzeichnis
Balbina Bäbler Die goldene Bäckerin: Delphi und die nichtgriechische Welt im Spiegel der Weihgeschenke ................................................................. 155 Robin Osborne What Did Delphi Have to Do with “Colonization”? ................................. 173 Kai Trampedach Die Legitimität des delphischen Orakels ................................................... 185 Winfried Schmitz „Sprache des Temenos“: Weihungen als politische Machtdemonstration .................................................................................. 209 Pierre Sánchez Zwischen Heiligen und Amphiktyonischen Kriegen: Die regionalen Konflikte um das Heiligtum von Delphi und die Kämpfe um die Hegemonie in Zentralgriechenland ........................................................... 233
4. Delphi in der archaischen und klassischen griechischen Literatur Leonie von Alvensleben Die triadische Struktur des Homerischen Apollonhymnos ........................ 267 Claas Lattmann Die Pythischen Spiele bei Pindar: Historischer Kontext und kulturelle Bedeutung .......................................................................... 297 Heinz-Günther Nesselrath Das Orakel von Delphi in der attischen Tragödie ..................................... 329 Heinz-Günther Nesselrath Das Orakel von Delphi bei Herodot .......................................................... 353 Werner Gauer Delphis Perserkriegsorakel für die Athener und Herodot .......................... 377
Inhaltsverzeichnis
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5. Delphi in Philosophie und Theologie der römischen Kaiserzeit Rainer Hirsch-Luipold Priester, Philosoph und Propagandist – Plutarch und Delphi .................... 397 Jürgen Hammerstaedt Das delphische Orakel und seine Sprüche in den philosophischen Debatten der Kaiserzeit ............................................................................. 413 Ilinca Tanaseanu-Döbler Delphisches im Neuplatonismus ............................................................... 431 Ulrich Volp Delphi und die Orakelkritik bei den Kirchenvätern .................................. 457
6. Delphis Bild in späteren Zeiten Dorit Engster Von Erdbeben, Erdspalten und Erddämpfen – antike Berichte und moderne Forschungen zu Delphi ........................................................ 479 Martin Lindner Ludit in humanis divina potentia rebus: Das Orakel von Delphi im und als Spiel ......................................................................................... 505 Bibliographie ............................................................................................ 535 Autorenverzeichnis ................................................................................... 585 Stellenregister ........................................................................................... 587 Namen- und Sachregister .......................................................................... 603
Einleitung Mehr als anderthalb Jahrtausende, seitdem die letzte delphische Pythia für immer von ihrem Dreifuß herabgestiegen ist, hat Friedrich Dürrenmatt dieser zentralen Gestalt der großen Orakelstätte noch einmal einen bemerkenswerten Auftritt verschafft: In „Das Sterben der Pythia“ lässt er die Titelfigur – sie trägt bei ihm den Individualnamen Pannychis – ihren letzten Tag erleben: Alt, wie sie war, schleppte sie sich durch die endlosen Jahre [...] Pannychis orakelte und orakelte, an eine Pensionierung war nicht zu denken [...] Dazu kamen die tristen Arbeitsbedingungen. Das Heiligtum war feucht und zugig. Von außen sah es prächtig aus, reinster frühdorischer Stil, innen war es eine schäbige, schlecht abgedichtete Kalksteinhöhle. Pannychis’ einziger Trost war, daß die Dämpfe, die aus der Felsspalte unter dem Dreifuß heraufquollen, den Rheumatismus linderten, den die Zugluft verursachte. [...] Wenn sie auch nicht an die Orakel glaubte, so sah sie in ihnen doch nichts Unsauberes, die Orakel waren für sie ein von der Gesellschaft verlangter Blödsinn; aber die von den Sehern formulierten Orakel [...] waren etwas ganz anderes [...] und daß Korruption und Politik dahintersteckten, dachte sie an jenem Sommerabend sofort, als Merops [der delphische Oberpriester], sich hinter seinem Schreibtisch räkelnd, ihr auf seine stinkfreundliche Art erklärte, der Seher Tiresias habe einen Wunsch. [...]1
Damit beginnen bei Dürrenmatt die Ereignisse, die dazu führen, dass die Pythia Pannychis am letzten Tag ihres Lebens erfährt, wie ein Orakel, das sie vor langer Zeit als bloßen Augenblickseinfall einem jungen Mann namens Ödipus ins Gesicht schleuderte, um ihn loszuwerden, sich in schrecklicher Weise – und in noch viel verschlungenerer Weise, als es in Sophokles’ Tragödie dargestellt wird – erfüllt hat. Am Ende formuliert Tiresias der sterbenden Pythia gegenüber die Frage, die bis heute mit dem Phänomen ‚Orakel‘ unlösbar verknüpft ist: „Ödipus wird weiterleben, als ein Stoff, der uns Rätsel aufgibt. Ist sein Schicksal nun durch die Götter bestimmt oder dadurch, daß er sich gegen einige Prinzipien, welche die Gesellschaft der Zeit stützten, versündigt hat, wovor ich ihn mit Hilfe des Orakels zu bewahren versuchte, oder gar, weil er dem Zufall zum Opfer fiel, hervorgerufen durch deine launische Orakelei?“2
Das Beispiel Dürrenmatts zeigt, dass die antike Stätte, die mehr als jede andere zum Sinnbild dafür geworden ist, wie der Mensch immer wieder versucht, Wichtiges über die Zukunft herauszufinden, und dabei immer wieder selbstverschuldeten Irrtümern und Fehlinterpretationen ausgesetzt ist, bis heute ihre 1 2
DÜRRENMATT, 1998, 120–122. DÜRRENMATT, 1998, 158.
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Heinz-Günther Nesselrath
Faszination nicht verloren hat. Unter dem Titel „Delphi – Apollons Orakel in der Welt der Antike“ fand im Juni 2017 eine Tagung statt, deren Beiträge (mit einer Ergänzung durch den Essay von Werner Gauer, siehe unten) im vorliegenden Band versammelt sind. Um den zahlreichen Facetten des antiken Phänomens Delphi gerecht zu werden, wurden die Beiträge in verschiedenen Sektionen zusammengestellt (zwischen denen es natürlich auch Überlappungen gibt). Die erste Sektion ist der Archäologie Delphis gewidmet, die eigentlich erst 1892 mit dem Beginn der französischen Grande Fouille begonnen hat. Die Einstimmung in diese Sektion leistet Michael Maaß mit dem Beitrag „Delphi: Faszination und Akribie“; in ihm zeigt er, dass sowohl die Landschaft, in der Delphi liegt, als auch die archäologischen Entdeckungen – mit den immer wieder stattfindenden Revisionen ihrer Interpretation – immer neue Faszination ausgelöst haben, die sich in der – im Lauf der Zeit durchaus verschiedenen – Präsentation der Funde, aber auch in anderen kulturellen Erscheinungen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts niedergeschlagen hat; ferner bietet er eine Übersicht über die archäologische Arbeit in und an Delphi und die daraus resultierenden Erkenntnisgewinne. Demgegenüber ist der zweite archäologische Beitrag („Learning from Delphi: Provisional Thoughts on Interdependencies of Storytelling on the Siphnian Treasury and the Athenian Parthenon“) von Vinzenz Brinkmann und Ulrike Koch-Brinkmann einer interessanten archäologischen Spezialfrage gewidmet, nämlich dem architektonischen und künstlerischen Einfluss, den die Ausgestaltung des Schatzhauses der Siphnier,3 das um 525 v. Chr. errichtet und 1893 von den französischen Ausgräbern wiederentdeckt wurde, noch etwa hundert Jahre später auf den Parthenon auf der Akropolis von Athen ausübte und die athenischen Gestalter zu einem Bildprogramm anregte, in dem sich bemerkenswerte subtile narrative Qualität entdecken lässt; dies ist ein schönes Beispiel dafür, wie Delphi nicht nur durch seine Orakel, sondern auch durch die in seinem Heiligtum versammelten Bauten auf die übrige griechische Welt einwirkte. Im dritten Beitrag dieser Sektion („Delphi in der späteren Antike und Spätantike“) bietet Vincent Déroche einen wertvollen Einblick in neuere archäologische Grabungen, die beachtliches Licht auf das nicht so bekannte Weiterleben Delphis im 2. bis 6. Jahrhundert n. Chr., seine vergleichsweise konfliktarme Christianisierung und das schließliche Ende der antiken Besiedlung im späteren 6. Jahrhundert n. Chr. werfen. Die zweite Sektion ist dem Orakel und seiner ‚Funktionsweise‘ gewidmet. Hugh Bowdens Beitrag („Theophania, Theoria, Thusia: Rethinking the Delphic Experience“) vermittelt einen anschaulichen Einblick in den Orakelbetrieb der klassischen Zeit, wie er sich aus antiken Quellen rekonstruieren 3
Zur Interaktion der Siphnier mit dem Orakel von Delphi vgl. den Beitrag Nesselrath (Herodot), unten S. 354 f.
Einleitung
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lässt. Im Anschluss daran befassen sich zwei Beiträge mit der wohl wichtigsten Person in diesem Orakelbetrieb, der Pythia: Tanja Scheer („Jungfräulich, isoliert, ungebildet? Die Pythia als Sprachrohr Apollons“) bietet eine auf umfassenden Quellenstudien beruhende Übersicht über das, was sich zu Leben, Stellung und Funktionen dieses menschlichen „Sprachrohrs“ des Orakels noch sagen lässt, und korrigiert zugleich eine Reihe landläufiger Vorstellungen über sie, die durch Quellen eben nicht zu belegen bzw. durch solche Quellen sogar zu falsifizieren oder zumindest erheblich zu modifizieren sind. Demgegenüber konzentriert sich Yulia Ustinova („The Pythia’s Appointment and Oracular Practice: Historical, Anthropological, and Cognitive Perspectives“) auf die Frage, wie die Pythia als „Medium“ für den Empfang und die Vermittlung der Orakelsprüche „funktionierte“, und kombiniert dazu antike Quellenaussagen zur prophetischen mania der Pythia mit modernen Erkenntnissen zu Praktiken und Hilfsmitteln psychischer Bewusstseinsveränderung. In der dritten Sektion – „Delphi und die (griechische) Geschichte“ – geht es um die bedeutende Rolle, die das delphische Orakel (dessen erste Erwähnungen sich in den mutmaßlich ältesten griechischen literarischen Texten, den homerischen Epen,4 finden) im Lauf der griechischen Geschichte, vor allem vom 6. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr., gespielt hat. Im ersten Beitrag der Sektion („Herakles und der Dreifußraub von Delphi: Überlegungen zu den Hintergründen eines Mythos“) erläutert Beate Wagner-Hasel, wie der Mythos von Herakles’ Versuch, seinem göttlichen (Halb-)Bruder Apollon einen Dreifuß aus dem Heiligtum von Delphi wegzunehmen, Konflikte zwischen lokalen und überregionalen Mächten um Delphi widerspiegeln könnte, die im sogenannten „Ersten Heiligen Krieg“ des frühen 6. Jahrhunderts v. Chr. wohl ihre erste historische Bezeugung gefunden haben. Dass Delphi bereits im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. als Orakelheiligtum eine überregionale und auch über die griechische Welt hinausgehende Bedeutung hatte, zeigt der Beitrag von Balbina Bäbler („Die goldene Bäckerin: Delphi und die nichtgriechische Welt im Spiegel der Weihgeschenke“): Hier wird ausgeführt, dass Herodots Nachrichten über zum Teil sehr großzügige Weihgeschenke nichtgriechischer Fürsten des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. in Delphi nicht angezweifelt zu werden brauchen, sondern uns bemerkenswerte Einblicke in ein Beziehungsgeflecht ermöglichen, von dem offensichtlich beide Seiten – die griechische Orakelstätte und ihre nichtgriechischen „Kunden“ – profitierten. In anderer Hinsicht freilich muss die Bedeutung des delphischen Orakels wohl redimensioniert werden, nämlich was seine – in frühe4 In Hom., Il. IX 404 f. wird die „steinerne Schwelle des Bogenschützen Phoibos Apollon im felsigen Pytho“ als sehr reich bezeichnet, was an Spenden von gutbetuchten Orakelbesuchern denken lässt; in Hom., Od. VIII 79 f. wird kurz ein Orakel erwähnt, das Agamemnon, der Oberfeldherr der Griechen vor Troja, in Delphi erhalten haben soll. In beiden Fällen könnte es sich um Rückprojektionen aus der Zeit handeln, in der die homerischen Epen ihre endgültige Fassung erhielten, d.h. im 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr.
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Heinz-Günther Nesselrath
rer Literatur oft sehr stark betonte – Rolle als angebliche „Steuerungsmacht“ während der sogenannten Großen Griechischen Kolonisation im 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr. betrifft: In dem Beitrag „What Did Delphi Have to Do with “Colonization”?“ unterzieht Robin Osborne diese Rolle einer nüchternen Neubewertung und fragt dabei sowohl nach dem Verhältnis zwischen „privaten“ und „staatlichen“ (d.h. von Poleis als solchen initiierten) OrakelKonsultationen als auch nach den Rückwirkungen, die solche Konsultationen auf die Entwicklung der Reputation und Bedeutung der Orakelstätte hatten. Eine weitere kritische Nachfrage zu oft überzogenen älteren Vorstellungen von Delphi als einem planvoll agierenden Motor innerhalb der griechischen Staatenwelt stellt Kai Trampedach: In seinem Beitrag „Die Legitimität des delphischen Orakels“ erläutert er anhand von umsichtigen Darlegungen zum delphischen Orakelbetrieb, dass frühere Annahmen einer mehr oder weniger konsistenten Politik ‚Delphis‘ (zugunsten von Tyrannen oder Persiens oder Spartas etc.) sich angesichts der uns bekannten Quellennachrichten als nicht haltbar erweisen und dass die allseits anerkannte ‚Legitimität‘ und die große („panhellenische“) Reputation des Orakels gerade auf einer konsequenten Neutralität innerhalb der sich immer wieder ändernden Mächtekonstellationen der archaischen und klassischen Zeit beruht haben müssen. Dessen ungeachtet war Delphi – spätestens seit der regelmäßigen Austragung der Pythischen Spiele seit 582 v. Chr. (dazu weiter unten) – ein Ort, an dem die gesamte griechische Welt zusammenkam, voneinander Notiz nahm und sich auch in Konkurrenz zueinander in Szene setzte (nicht zuletzt architektonisch durch Schatzhäuser und Siegesmonumente); so ist Delphi als ein panhellenisches Zentrum, in dem die einzelnen griechischen Poleis über Jahrhunderte hinweg (vor allem im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr.) ihre Siege – nicht nur über Nichtgriechen, sondern auch über andere Griechen – durch oft aufwändige Weihegaben an den Gott Apollon öffentlich zur Schau stellten und damit leider auch ein beredtes Zeugnis der vielfältigen innergriechischen Konflikte boten, das Thema des Beitrags von Winfried Schmitz („‚Sprache des Temenos‘: Weihungen als politische Machtdemonstration“). In diesen Jahrhunderten war Delphi nicht nur Schaufenster und Projektionsfläche rivalisierender Machtbestrebungen, sondern leider auch selber immer wieder Spielball solcher Bestrebungen, die immer wieder zu Kriegen um den Besitz der Orakelstätte führten; dies zeigt eindringlich der Beitrag von Pierre Sánchez („Zwischen Heiligen und Amphiktyonischen Kriegen: Die regionalen Konflikte um das Heiligtum von Delphi und die Kämpfe um die Hegemonie in Zentralgriechenland“). Die politische, religiöse und kulturelle Bedeutung Delphis in diesen Jahrhunderten hat sich auch in der griechischen Literatur dieser Zeit niedergeschlagen, die der Gegenstand der vierten Sektion („Delphi in der archaischen und klassischen griechischen Literatur“) ist. Das Orakel und sein Gott spielen so eine wichtige Rolle in einer Reihe von Gattungen dieser Literatur: Hym-
Einleitung
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nendichtung, Chorlyrik, attische Tragödie und Geschichtsschreibung. So widmet Leonie von Alvensleben mit ihrem Beitrag („Die triadische Struktur des Homerischen Apollonhymnos“) dem frühesten bedeutenden literarischen Text zu Delphi und seinem Orakelgott Apollon eine eingehende strukturelle Untersuchung, die zeigt, in welcher Weise triadische Elemente die Gesamtstruktur dieses Textes in erheblichem Maße bestimmen und ihn als ein einheitlich konzipiertes Werk erweisen, in dem zwei wesentliche Komplexe aus Apollons ‚Biographie‘ – seine Geburt und sein erstes Auftreten auf dem Olymp sowie seine Etablierung als Orakelgott in Delphi – zusammengeführt sind. Von den Pythischen Spielen, dem zweiten bedeutenden Phänomen, das Delphi in der archaischen und klassischen Zeit eine prominente Rolle im griechischen Raum sicherte, war bereits die Rede; im zweiten Beitrag dieser Sektion („Die Pythischen Spiele bei Pindar. Historischer Kontext und kulturelle Bedeutung“) zeigt Claas Lattmann, dass diese Spiele in den chorlyrischen Epinikien Pindars so dargestellt sind, dass sie neben den Olympischen Spielen zu den bedeutendsten panhellenischen Wettkämpfen der Griechen avancieren. In zwei vertieften Studien zur achten und zur vierten pythischen Ode kann Lattmann zudem demonstrieren, wie eng mit den Spielen Religion, Anerkennung menschlicher Leistung und Legitimation politischen Handelns und Herrschens verbunden waren. – In „Das Orakel von Delphi in der attischen Tragödie“ bietet Heinz-Günther Nesselrath einen Einblick, welche Rolle Delphi in insgesamt elf von den erhaltenen Stücken der attischen Tragödie spielt (in zweien ist der Ort sogar teilweise oder zur Gänze Schauplatz der Handlung), und zeigt, wie sich die drei großen Tragiker in der Darstellung Delphis und seines Gottes – namentlich was das zunehmende Hervortreten kritischer Stimmen gegenüber dem Orakel betrifft – charakteristisch unterscheiden. Schließlich erörtert der Beitrag „Das Orakel von Delphi bei Herodot“ (ebenfalls Heinz-Günther Nesselrath) die Sicht des ersten großen griechischen Geschichtsschreibers auf das Orakel; dabei erweist sich Delphi, das von Herodot persönlich besucht und als wichtige Informationsquelle für diverse Teile seines Werks benutzt wurde, als bedeutender Zeuge für das (teils mehr, teils weniger konfliktvolle) Zusammenwirken göttlicher Macht und menschlichen Handelns, das Herodot überall in der Geschichte am Werk sieht. Einer besonderen Frage zu den bei Herodot überlieferten Orakeln – nämlich der Frage nach der Rolle der Orakelstätte Delphi im Perserkrieg von 480/479 v.Chr. und den im Vorfeld der Xerxes-Invasion den Athenern verkündeten Orakeln – widmet sich schließlich der Beitrag von Werner Gauer („Delphis Perserkriegsorakel für die Athener und Herodot“) und schlägt vor, mit dem in einem dieser Orakel zur Sprache gebrachten „Zorn des Zeus“ einen Aspekt neu zu bewerten, der bisher zu wenig berücksichtigt wurde.
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Heinz-Günther Nesselrath
In der nachklassischen Zeit (nach dem 4. Jahrhundert v. Chr.) wird es zunächst ziemlich ruhig um Delphi;5 aber von der frühen römischen Kaiserzeit an zeigt sich, dass die Orakelstätte keineswegs vergessen ist. Doch beginnt sich ihre Funktion nun merklich zu ändern, wie die fünfte Sektion („Delphi in Philosophie und Theologie der römischen Kaiserzeit“) dokumentiert: Von einer realen Kultstätte wird Delphi zunehmend zu einem geistigen Ort, einem Symbol, das von den einen (paganen Stimmen) hochgehalten, von den anderen (christlichen Stimmen) zunehmend bekämpft wird. Die Anfänge dieser Entwicklung lassen sich bei dem umfassend gebildeten Platoniker Plutarch von Chaironeia erkennen, für das Heiligtum von Delphi freilich noch ein sehr realer Ort ist, dem er sogar lange Jahre als Priester diente; die große Bedeutung, die Delphi und seine Orakelstätte für Plutarch und seine religiösen und philosophischen Anschauungen hatten, erläutert Rainer Hirsch-Luipold in seinem Beitrag „Priester, Philosoph und Propagandist – Plutarch und Delphi“. Weniger das reale Delphi dagegen als seine berühmten (teilweise auch berüchtigten) Sprüche waren Gegenstand kaiserzeitlicher philosophischer Diskussionen um Sinn und Unsinn des Orakelwesens: In „Das delphische Orakel und seine Sprüche in den philosophischen Debatten der Kaiserzeit“ beleuchtet Jürgen Hammerstaedt vor allem die Kritik der Kyniker (hier hauptsächlich vertreten durch Oinomaos von Gadara, frühes 2. Jahrhundert v. Chr.) und der Epikureer (vertreten durch Diogenianos und Diogenes von Oinoanda, mittleres 2. Jahrhundert n. Chr.) am Orakelwesen im allgemeinen und der Rolle Delphis im besonderen und zeigt, dass diese beiden doch sehr unterschiedlichen Richtungen mitunter auch Argumente voneinander bezogen (so Diogenes von Oinoanda von Oinomaos). Auch in der seit der Mitte des 3. Jahrhunders n. Chr. sich entwickelnden neuplatonischen Philosophie wird Delphi zunehmend eine abstrakte Chiffre: Der Beitrag „Delphisches im Neuplatonismus“ von Ilinca Tanaseanu-Döbler bietet eine detaillierte Übersicht über die Bedeutung des Orakels bei den späteren Platonikern von Plotin bis Proklos; dabei gehen die konkreten Bezüge zur Orakelstätte mehr und mehr verloren, und Delphi mit seinem Gott wird – vor allem dank der Maxime „Erkenne dich selbst!“, die ursprünglich real an der Fassade des Apollontempels stand – zu einem Initialpunkt der paganen griechischen Philosophie, die im Neuplatonismus ihre letzte große antike Ausprägung fand. In Opposition zu 5
Mit dem vor allem von den griechischen Ätolern erfolgreich zurückgeschlagenen Angriff der keltischen Galater auf das Heiligtum 279 v. Chr. gerät Delphi noch einmal für kurze Zeit ins Rampenlicht (vgl. Pausanias, Ι 4,4). Doch gibt es auch eine bei Strabon (IV 1,13) berichtete Geschichte, derzufolge die Kelten damals Delphi erobert und geplündert und ein Teil von ihnen eine große Quantität Gold und Silber nach Tolosa (dem heutigen Toulouse) geschafft hätten, von wo es sich später der römische General Quintus Servilius Caepio (Urgroßvater des Caesarmörders Brutus) angeeignet habe. Der große Verlust hellenistischer historischer (aber auch poetischer) Literatur ist sicher dafür verantwortlich, dass in diese widersprüchlichen Überlieferungen nicht mehr Licht gebracht werden kann.
Einleitung
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diesem zunehmend abstrakter gewordenen Delphi tritt dann das Christentum: In „Delphi und die Orakelkritik bei den Kirchenvätern“ beleuchtet Ulrich Volp an ausgewählten Texten, wie sich das junge Christentum in einer nicht nur „transzendenten“, sondern auch „rituellen“ und nicht zuletzt „intellektuellen Konkurrenz“ zum delphischen Orakel sah, das aufgrund seiner reichen Präsenz in mehr oder weniger kanonisch gewordenen Texten früherer Literatur einen besonders markanten Punkt der Herausforderung darstellte. Auch wenn aber das Orakel irgendwann im 4. Jahrhundert n. Chr. verstummte und selbst der Ort Delphi im späteren 6. Jahrhundert für lange Zeit von der Landkarte verschwand, hat die Vorstellung von Delphi als mächtiger und geheimnisvoller Orakelstätte bis heute überdauert, wie zwei Studien in der sechsten und letzten Sektion des Bandes („Delphis Bild in späteren Zeiten“) dokumentieren. In „Von Erdbeben, Erdspalten und Erddämpfen – antike Berichte und moderne Forschungen zu Delphi“ bietet Dorit Engster einen ebenso umfassenden wie faszinierenden Einblick in die antiken und modernen Vorstellungen von den ‚naturwissenschaftlichen‘ Voraussetzungen oder Begleitumständen, die bei der Inspiration der Pythia und ihren OrakelVerlautbarungen eine Rolle gespielt haben könnten. Zu guter Letzt beleuchtet dann Martin Lindner in seinem Beitrag „Ludit in humanis divina potentia rebus – Das Orakel von Delphi im und als Spiel“ einen nur selten ins Bewusstsein gehobenen, aber durchaus aufschlussreichen Aspekt des Nachlebens des delphischen Orakels: seine Präsenz (symbolisiert durch Apollon, seinen Tempel, die Pythia oder auch einfach nur durch den Dreifuß, auf dem die Pythia gesessen haben soll) in Gesellschaftsspielen der Neuzeit und Moderne – wobei sich bemerkenswerterweise feststellen lässt, dass diese Präsenz in jüngster Zeit sogar stärker ist als noch im 19. oder früheren 20. Jahrhundert. So ergibt sich (jedenfalls hoffen dies die Herausgeber) aus der Summe der hier vorgelegten Beiträge ein multiperspektivisches Bild der antiken Orakelstätte Delphi, in dem zumindest auch einiges Neue zu finden sein dürfte. Aufmerksamen Leserinnen oder Lesern wird auffallen, dass den einzelnen Autor(inn)en gelegentlich auch recht unterschiedliche Delphi-Bilder vorschweben;6 diese Unterschiede wurden absichtlich nicht wegretuschiert, sondern stehen gelassen. In der formalen Präsentation wurden auch die z. T. unterschiedlichen Zitier-Gepflogenheiten bei den deutsch- und englischsprachigen Beiträgen beibehalten. Herausgeberin7 und Herausgeber hoffen, dass die Beiträge insgesamt zu einem Leseerlebnis führen, das zu weiteren Fragen und Forschungen anregt: Lector, intende – frueris (speramus). Göttingen, im Oktober 2020 6
Im Beitrag Gauer z.B. sieht Delphis Wirken durchaus etwas anders aus als in den Beiträgen Osborne und Trampedach. 7 Die Herausgeberin Balbina Bäbler hat das Stellen- und das Namen- und Sachregister erstellt, wofür ihr der Mitherausgeber Heinz-Günther Nesselrath sehr dankbar ist.
1. Delphi in der Archäologie
Delphi: Faszination und Akribie Michael Maaß
Abb. 1: Delphi im Abendlicht von der Kirphis aus, im Juni 1994 1 Aufnahme Thomas Goldschmidt, © Badisches Landesmuseum Karlsruhe
Die folgenden Ausführungen wollen auf einige Punkte der Wirkungsgeschichte sowie auf die Akribie und den Scharfsinn eingehen, der zu alten Befunden aus dem 19. Jahrhundert neue Folgerungen und Ergebnisse gebracht hat. Die Aufnahme von Thomas Goldschmidt (Abb. 1) zeigt die mächtigen, von Rinnen und Einstürzen durchzogenen Felsstufen des Pleistostales. Den 1
Als Ausschnitt: MAAß, 1996, Abb. S. 67. Ähnlich die Schwarz-Weiß-Aufnahme: MAAß, 1993, 32 Abb. 6. Allen genannten Bildquellen sei hier gedankt. Zu Abb. 6b konnte trotz eingehender Archiv-, Verlags- und Internetrecherchen kein Inhaber des Urheberrechtes gefunden werden. Der Autor ist nach einer Klärung des Urheberrechtes zur Regulierung eines entsprechenden Anspruchs bereit.
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Michael Maaß
Einschnitt der Kastaliaschlucht flankieren mächtige Felsen, die Phädriaden, darüber steht hoch in der Ferne der doppelte Gipfel des Parnassmassives. Bevor wir zu meiner persönlichen Faszination kommen, möchte ich mit der des Dichters beginnen, der in seinem Apollonhymnos die Ankunft des Gottes in Delphi mit der Beschreibung der Landschaft eröffnet (Hymnus Homericus ad Apollinem v. 282–285): „ἵκεο δ’ ἐς Κρίσην ὑπὸ Παρνησὸν νιφόεντα κνηµὸν πρὸς ζέφυρον τετραµµένον, αὐτὰρ ὕπερθεν πέτρη ἐπικρέµαται, κοίλη δ’ ὑποδέδροµε βῆσσα τρηχεῖ’ …“ 2
Edward Dodwell empfand,3 dass diese dramatische Landschaft die Gegenwart Apollons atme. Gustave Flaubert hat sich 1851 über das Schauspiel der Landschaft begeistert: „C’est un paysage inspiré! Il est enthousiaste et lyrique! Rien n’y manque: la neige, les montagnes, la mer, le ravin, les arbres, la verdure. Et quel fond!“4
Zur Dramatik der Landschaft gehört die Entfaltung des Panoramas: Steigt man vom Ort auf die Höhe zu dem Haus des Dichters Angelos Sikelianos (Abb. 7b), öffnet sich die Sicht nach drei Himmelsrichtungen. Himmel, Licht und Wolken weiten sich über den Konturen der Gebirgszüge, und man liest auf dem Denkmal für Eva, Frau des Dichters, die Verse aus dem Drama „Sibylla“ von 1940:5 „Νότος, βοριάς, ανατολή καὶ δύση Μέγας σταυρός, κ’ πο πάνω του του ανθρώπου Το πνέµα βλέπω τώρα καρφοµένο. Μα θα λυθή, κι’ ο αγέρας που ανασαίνω Μεσ’ την ψυχή µου εγώ την ώρα τούτη Γιά όλες θα πνέψει τις ψυχές.“
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„Und du gelangtest nach Krisa am Fuß des beschneiten Parnassos, / Wo sich sein Hang nach Westen wendet, aber darüber / Hängt ein Fels und unten läuft die Tiefe des Waldtals / Rauh dahin“ (Übers. von Thassilo v. Scheffer). 3 DODWELL, 1819, 166. 4 „Diese Landschaft ist von Geist erfüllt! Sie ist erhebend und lyrisch! Nichts fehlt: der Schnee, die Berge, das Meer, die Schlucht, das Grün. Und was für ein Hintergrund!“ – MAAß, 1993, 20 (Zitate Dodwell, Flaubert und Sikelianos). 5 „Süden, Norden, Osten und Westen, ein großes Kreuz; und auf ihm sehe ich die Menschenseele angenagelt. Aber sie wird frei, und der Wind, den ich jetzt mit meiner Seele atme, wird für alle Seelen wehen“ (Übersetzung: Autor).
Delphi: Faszination und Akribie
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1. Faszination Ein Vergleich der französischen Grande fouille de Delphes (1893–1903) mit der deutschen Alten Olympiagrabung (1876–1882) deutet unterschiedliche Aspekte dieser kulturpatriotischen Prestigeprojekte an. Verschieden waren die Landschaften und die Arbeitsbedingungen, sanftes Hügelland in Olympia, dramatisches Felsengebirge in Delphi. Auch die Rekrutierung der Grabungsarbeiter war ortsspezifisch: Für die großen Erdbewegungen in Olympia kamen Arbeiter von weit her, in Delphi waren es hauptsächlich Ortsansässige, mit Unterstützung durch Feldbahntechnik. Die Funde von Architektur und Bauschmuck sind an Bedeutung vergleichbar, unvergleichlich ist dagegen der Reichtum von Bronzefunden in Olympia und der von Inschriften und Preziosen von Gold und Elfenbein in Delphi. In Olympia avancierte der Hermes des Praxiteles aus dem Heraion zum Liebling einer kunstliebenden Öffentlichkeit, in Delphi taten dies die Gruppe der sog. Tänzerinnen und die Statue des Antinous. Diese Vorliebe für die Eleganz der spätklassischen Bildwerke des 4. Jhs. und des kaiserzeitlichen Klassizismus wurde in den 1920er Jahren abgelöst durch eine höhere Wertschätzung der Werke des Strengen Stils, der Giebelfiguren in Olympia und des Wagenlenkers in Delphi. 1.1. Gipse Die Funde in Delphi wurden mit einer Auswahl von Gipsabgüssen prominenter Stücke in der Pariser Weltausstellung von 1900 präsentiert.6 Diese Sammlung delphischer Gipse war dann 1901 bis 1934 im Louvre (Éscalier Daru) aufgestellt (Abb. 2), die monumentale Rekonstruktion mit der Front
Abb. 2: Die Gipsabgüsse aus Delphi im Louvre, Escalier Daru, 1901–1934 (© bpk/ RMN - Grand Palais) 6
MAAß, 2010, 70, Abb. 13 (https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/weltausstellung 1900c/0267/image).
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des Siphnierschatzhauses ist links im Hintergrund über den Treppenstufen zu erkennen.7 Die Sammlung befindet sich jetzt in den Écuries des Schlosses von Versailles. Je eine weitere Ausführung des Siphnierschatzhauses war für das Museum in Delphi und die Sorbonne bestimmt. Letztere steht jetzt in der Universität von Strasbourg. Gipse nach Antiken waren im 18. und 19. Jahrhundert hochgeschätzt. Sie fielen dann seit den 1920er Jahren einer Geringschätzung zum Opfer, verehrt wurden stattdessen Originale, selbst an kleinen Fragmenten spürte man eine Aura von Authentizität.8 Abgusssammlungen gerieten in Vergessenheit, wurden vernachlässigt, z. T. auch aufgegeben. So auch die Rekonstruktion des Siphnierschatzhauses (Abb. 3) im alten Museum von Delphi.
Abb. 3: Delphi, Altes Museum, Ionischer Saal mit Skulpturen und Rekonstruktion des Schatzhauses der Siphnier, (Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege, Berlin, Abt. Meßbild, Neg. Nr. 19 g 29 / 1356.1)
Etwa seit den 1980er Jahren trat der historische und ästhetische Wert von Gipsabgüssen wieder in das Bewußtsein, man präsentiert wieder die erhaltenen Bestände.9 Gern würde man für eine allgemeinere Kulturgeschichte der 7
MARTINEZ, 2016, 27 Abb. 11 (Documentation du département des Antiquités grecques, étrusques et romaines du musée du Louvre, © Musée du Louvre). 8 Zur zeitgenössischen Kritik an der Präsentation im Louvre: JACQUEMIN, 2000, 401 Anm. 3. 9 MARTINEZ, 2016.
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Frage nach den Wirkungen der Grabungen in Olympia und Delphi im kulturellen Leben Deutschlands und Frankreichs nachgehen. Einige charakteristische Unterschiede scheinen hervorzutreten. Vor einigen eigenen Bemerkungen möchte ich auf die reiche Sammlung zur Rezeption der Delphigrabungen in bildender Kunst hinweisen, die Anne Jacquemin zusammengestellt hat.10 1.2. Rekonstruktionen Für den zweiten Band der Ergebnisse der von dem Deutschen Reich in Olympia veranstalteten Ausgrabung (erschienen 1892)11 zeichnete Baurat und Bauforscher Friedrich Adler die Rekonstruktionen. Diese stehen in der Tradition romantischer Landschaftszeichnungen (Abb. 4a). Für Delphi hat Albert Tournaire, Romstipendiat in der Villa Medici und Grabungsarchitekt in Delphi, Rekonstruktionen entworfen (Abb. 4b). Seine Kompositionen stehen für einen üppigen, akademisch geprägten Ausstattungsluxus der Belle Époque.12
Abb. 4a: Olympia, Philippeion, nach Adler (1896, © Universitätsbibliothek Heidelberg)
Abb. 4b: Delphi, Siphnierschatzhaus, nach Tournaire (1894, École nationale supérieure des Beaux Arts, © bpk/ RMN - Grand Palais)
1.3. Mode Die Funde der Grande fouille regten Mode und Musik an. Die fein plissierten Chitone der Koren des Siphnierschatzhauses inspirierten den Modeschöpfer
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JACQUEMIN, 2014. CURTIUS/ADLER, 1896, Taf. 131. 12 Collections des Beaux-arts de Paris, l’école nationale supérieure, Env 8407.10.12.13.15, hier: 84-10; PARIS-ROME-ATHENES, 1982, 290, Abb. S. 299. – Dokumentation: http:// www.ensba.fr/ow2/catzarts/rechcroisee.xsp?f=Ensemble&v=&f=Auteurfield&v= Tournaire%2C+Albert&e=&sf=Titredesignation_field . 11
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Mariano Fortuny zu dem berühmten Modell „Delphos“, das in verschiedenen Variationen von berühmten Diven des 20. Jahrhunderts getragen wurde.13 1.4. Musik Den Statuen der graziösen und geheimnisvollen sog. Danseuses, auf die wir noch zurückkommen werden, widmete Claude Debussy als Eröffnung seiner Préludes die Danseuses de Delphes (Abb. 5a–c).14 Meine Frage ist: Wie hängen hier antike Figuren und Musik zusammen? Die Rhythmik dieser Musik ruft ein mythisches Griechenland herauf und lässt die reich differenzierte Metrik altgriechischer Lyrik anklingen. Debussys Prélude ist langsam und feierlich gehalten. In Dreivierteltakten steigen die punktierten Rhythmen der ersten drei Takte zu einem Viervierteltakt auf, in dem die Aufwärtsbewegung innehält. Vor dem Schlag des dritten Viertels setzt mit weit gespannten Griffen der Hände eine Abwärtsfolge von Akkorden mit changierenden Tonarten ein. Diese Bewegung beginnt mit größeren Schritten und führt dann – wieder im Dreivierteltakt – mit kleineren Schritten zum Stillstand in einer etwas erhöhten Lage. Aus dunkel gefärbten Klängen kehrt dann die anfängliche aufsteigende Bewegung zurück.
Abb. 5a: Claude Debussy (Porträtphoto von Nadar um 1908, Wikimedia, gemeinfrei)
Abb. 5b: Die ersten Takte des Prélude der Danseuses de Delphes (docplayer.fr)
Abb. 5c: Gipsabguss der Danseuses, 1901–34 im Louvre ausgestellt (©: s. Abb. 10)
Hier erscheint zwischen Nadars Porträt des Komponisten und der Statuengruppe ein Notenbild der Anfangspartie mit den wechselnden Takten. Das ist keine Programm-Musik zu den Skulpturen, diese sind vielmehr Ursprung einer an Klängen und Rhythmen reichen Phantasie. Das delphische Motiv eröffnet die beiden Hefte der Préludes, die aus der Tradition der Cembalomu13 14
MAAß, 2010, 77 f. Abb. 16: Fortunys , getragen von Geraldine Chaplin. NECTOUX, 2008, 134–141.
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sik des 18. Jahrhunderts, von Bach und Rameau schöpfen. Das Marseillaisemotiv im Abschluss des zweiten Heftes verbindet diese Tradition mit republikanischem Kulturpatriotismus. Dass die Figuren in den wissenschaftlichen Diskussionen nicht mehr als Tänzerinnen gedeutet werden (vgl. Abschnitt 2.4), ist für die Musik nicht von Belang. Man mag hier ein fruchtbares Missverständnis sehen, doch geht es nicht darum. Vielmehr sind die Figuren Auslöser für einen freien künstlerischen Prozess, es geht um die Wirkung als Musik. 1.5. Öffentlichkeit: Photographie und Festveranstaltungen, Krieg und Frieden Photographien von Olympia und Delphi in den 1930er Jahren zeigen eine sehr entgegengesetzte Ästhetik, die von Ideologie und bedrohlichen Zeitläuften geprägt ist. Eine friedlich-bukolische Heiterkeit Olympias in den Aufnahmen von Walter Hege (Abb. 6a) sollte die „Teilnahme an der geistigen Vorbereitung der deutschen Olympiade des Jahres 1936“ fördern.15 Hege hatte mit seinen Aufnahmen der Naumburger Stifterfiguren ein großes Renommé erworben.
Abb. 6a: Der Zeustempel in Olympia (Walter Hege, 1935, © Bildarchiv Foto Marburg/Walter Hege)
Einen bezeichnenden Gegensatz dazu bildet die dramatische Atmosphäre in den Delphi-Aufnahmen, die Georges de Miré geschaffen hat (Abb. 6b).
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RODENWALDT/HEGE, 1936, Vorwort S. 7 und Taf. 18.
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Abb. 6b: Winterstimmung: Blick von Delphi zum Golf von Itea (Georges de Miré, in LA COSTE-MESSELIÈRE, 1957, Taf. 16)
De Mirés Aufnahmen entstanden in acht Monaten unter dem Eindruck des drohenden Krieges. Die Aufnahmen im Museum hätten im Fall von Zerstörung suggestive Erinnerungen an die Funde bewahrt, die zum Kriegsausbruch in der Erde geborgen und nach dem Krieg zum zweiten Mal wieder ausgegraben wurden. Georges de Mirés Arbeit ist wie eine Beschwörung kultivierter Traditionen, für die auch Angelos Sikelianos mit seinem delphischen Drama „Sibylla“ seine Stimme angesichts des drohenden Krieges erhoben hat,16 der nicht nur Bedrohungen und wechselnde Besetzungen, sondern auch Partisanenkämpfe nach Delphi gebracht hat.17 Das Andenken an die Kriegsereignisse gibt der supranationalen Idee des Friedens in Delphi ein besonderes Gewicht. Dieser Idee dienen das „European Cultural Centre of Delphi“ und das Mουσείο Δελφικών Εορτών (Museum of Delphic Festivals) im Haus des Dichters Angelos Sikelianos (Abb. 7a– c). Ursprung sind Initiativen des Dichters und seiner Frau Eva SikelianosPalmer, die Delphi nach antiken Vorstellungen zu einem geistigen, friedenstiftenden Zentrum für die Menschheit machen sollten. Politische Unterstützung erhielt diese Bewegung durch einen Parlamentsbeschluss, der ausländischen Institutionen das Recht zum Grunderwerb in Delphi erlaubte. Die Gründung des Europäischen Kulturzentrums Delphi, in dem sich auch die Konrad-Adenauer-Stiftung engagiert, erfolgte 1965.18
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JACQUIN, 1988, 205. BOMMELAER/PENTAZOS/PICARD, 1992, Delphes pendant la guerre, 244-249. SCOTT, 2014: 279 f. Abb. 13.4 und 13.5. 18 Aktivitäten: https://www.kas.de/de/web/griechenland . 17
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Abb. 7a: Plakat der Aufführung des Prometheus 1927 (www.idcworld.org – Public Domain)
Abb. 7b: Haus von Angelos Sikelianos, Delphi, jetzt: Museum of Delphic Festivals (© European Cultural Centre of Delphi)
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Abb. 7c: Relief mit der Darstellung des Dichters Angelos Sikelianos, Museum of Delphic Festivals, Delphi (Photo: Anne Jacquemin)
2. Akribie 2.1. Anfänge der Archäologie in Delphi Am Beginn der delphischen Archäologie steht der Besuch des Cyriacus von Ancona im Jahr 1436, der das Dorf Kastri mit Hilfe von Inschriften als das antike Delphi erkannte. In seinem anschaulichen Bericht erwähnt er das Theater, das Stadion als vermeintlichen Hippodrom, Gräber, Statuen und Inschriften. Der Nachwelt vermittelte er die Vorstellung eines runden Apollontempels, den er in den Resten, namentlich dem runden Sockel des Argivermonumentes erkannt zu haben glaubte – so wurden Rundtempel in der barocken Baukunst und Malerei zu einem Attribut Apollons, wie hier im Schlossgarten von Schwetzingen (Abb. 8).
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Abb. 8: Schwetzingen, Schlossgarten: Der Rundtempel als Attribut des Apollon in Renaissance und Barock (Photo: Autor)
Edward Dodwell erkannte in seinem Reisebericht von 1819 dann die rechteckige Tempelform auf römischen Münzbildern.19 Im neugegründeten Königreich Griechenland fanden Funde, zunächst aus den Nekropolen im Umkreis der antiken Stadt, einen Platz in den Sammlungen, die im Kloster der Panagia auf den Ruinen des antiken Gymnasions eingerichtet wurden (Abb. 9).20 Nach Beginn der Ausgrabungen wurde das Kloster zur Freilegung des Gymnasions abgebaut, die Fresken aus der Kirche kamen in das Byzantinische Museum zu Athen.
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DODWELL 1819, 176 f. MAAß 2010, 76 mit Anm. 42 S. 613. CHATZIDAKIS 2017, 63. Die richtige Vorstellung eines rechteckigen Tempels ist für die Darstellungen als Rundtempel vor dem 19. Jahrhundert nicht von Belang. 20 MAAß, 1993, 232 mit Anm. 7 und 2007, 102.
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Abb. 9: „Ruins at Delphi, in Phocis“, nach Dodwell 1834: Die Kirche der Panagia über dem antiken Gymnasion (© Universitätsbibliothek Heidelberg)
Eine Ausgrabung, die 1860–1862 Paul Foucart und Carl Wescher auch mit Unterstützung von Napoleon III. unternahmen, legte mitten im Dorf einen Teil der Tempelterrasse und -fundamente und darunter die Halle der Athener frei. Das Dorf Kastri wurde von seiner durch Erdbeben und Bergstürze heimgesuchten Lage auf seine jetzige Position verlegt, die mehr Sicherheit bietet. Wegen der Opfer durch die schrecklichen phokischen Erdbeben21 waren die Delpher zu einer Umsiedelung auf den weniger gefährdeten, westlich gelegenen Bergsporn bereit. Damit war das Heiligtumsareal für die Grabungen frei. Beginnen möchte ich den folgenden Überblick mit dem Tempelbau, insbesondere mit einigen Aspekten, die mir in der jüngsten Publikation von Amandry und Hansen mit den sehr lebendigen Darstellungen vom Baubetrieb Eindruck gemacht haben. 2.2. Der Apollontempel 2.2.1. Die vorklassischen Bauten Bis zum 8. Jahrhundert v. Chr. kennen wir nur Kultgegenstände – Weihgaben –, aber keinen Kultplatz. Es folgt dann der im homerischen Apollonhymnos gepriesene erste Steintempel der Architekten Trophonios und Agamedes. Zu diesem dürften Fundamentpartien innerhalb der Nachfolgerbauten und altertümliche, in der Brunnenanlage auf der Tempelterrasse wiederverwendete
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MAAß, 1993, 22 mit Anm. 9.
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Baureste gehören, die auf einen Tempelbau der Amphiktyonen nach dem sogenannten Ersten Heiligen Krieg22 zurückgehen könnten. Dieser Tempel brannte 548/47 v. Chr. ab. Erhalten sind von dem spätarchaischen Nachfolgebau, dem sog. Alkmeonidentempel, die gewaltige Terrassenmauer mit den kurvenpolygonalen Fugen, von Émile Bourguet als „puzzle des géants“ charakterisiert,23 weiterhin die Fundamente, die für den nächsten, den klassischen Nachfolgebau des 4. Jahrhunderts mit Abbruchmaterial des aufgehenden Bauwerks verstärkt und erweitert wurden. 2.2.2. Das Heiligtum als Dauerbaustelle Unsere Anschauung der Heiligtumsanlagen geht von den Rekonstruktionen eines jeweils vollendeten Zustandes aus. Wie aber sahen die Heiligtümer tatsächlich aus? Über viele Jahrzehnte um 500 v. Chr. und im 4. Jahrhundert v. Chr. war der Tempel Baustelle. Außerdem gab es die Baustellen zur Errichtung von Denkmälern und kleineren Bauten, aber auch wiederholt die Großbaustellen wie für die Aitolerhalle, die Attaloshalle, das Theater, später noch große Reparaturen nach Schäden am Tempel. Den Eindruck für die Besucher des Heiligtums in dessen Blütezeit möchte ich mit Manolis Korres illustrieren, in seiner Bildergeschichte von Bauarbeiten auf der Athener Akropolis.24 2.2.3. Der Neubau nach dem Schaden von 373 v. Chr. 2.2.3.1. Die Schäden von 373 v. Chr. und die Verwertung alter Bauteile Wohl für das Jahr 373 v. Chr. ist ein schweres Erdbeben mit einem Tsunami bezeugt, das die Städte Helike und Bura auslöschte, und das auch zu Verschiebungen und Absenkungen des Terrains in Delphi führte. Wenig später beginnen die in Steininschriften erhaltenen Abrechnungen für die Erneuerung des Tempels. Früher glaubte man, der Tempel sei zusammengestürzt wie ein Kartenhaus, doch urteilt Erik Hansen auf der Grundlage baustatischer Erwägungen und wegen des guten Zustandes der systematisch weiterverwendeten Bauglieder, dass er planvoll demontiert werden konnte. Der Bau kam also durch das Beben zwar nicht zu Fall, doch konnte er so nicht gehalten werden.25 Die erste Aufgabe für den Architekten war eine Schadensaufnahme und die Prüfung,
22 Zu der modernen, aber historisch unrichtigen Benennung des Krieges mit den traditionellen Daten von 595 v. Chr. bis 585 v. Chr. s. P. Sanchez in diesem Band, 238–242. 23 BOURGUET, 1914, 272. 24 KORRĒS, 1992, 46 f. Nr. 19, Abb. S. 47 (Baustelle); Nr. 7.9.11–18: Steinbrucharbeiten und Transport. 25 AMANDRY/HANSEN, 2010, 157–169, insbesondere 166 Abb. 2,9. SCOTT, 2014, 244.
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was die Ruine für einen Neubau und andere Bauvorhaben noch hergeben konnte. Die Fundamente hatten wegen der Bewegungen und Terrainsenkungen nachgegeben und mussten für den Neubau saniert werden. Nach dem Urteil Erik Hansens bot der nicht eingestürzte Bau mit klaffenden Fugen und verwundenen Baulinien ein sehr prekäres Aussehen. Dass auch die Sphinxsäule der Naxier bis in die Spätantike stehen geblieben war, also das Erdbeben von 373 v. Chr. überstanden hat, spricht dafür, dass der Tempel nicht eingestürzt war. Die genaue moderne Vermessung der Tempelruine führte zu dem Schluss: Für den Neubau wurde die Euthynterie im Norden abgearbeitet, um einen Ausgleich zu den abgesackten Fundamenten an der Südseite zu erreichen. Die Westseite war am stärksten mitgenommen, daher wurden die oberen Schichten mit Abbruchmaterial, darunter auch Marmor, neu versetzt und die gefährdete Südwestecke wie mit einem Bollwerk gesichert. Im Rahmen dieser Fundamentsanierung wurden auch leichte Erweiterungen des Baus in seiner Längsrichtung angestückt. Erik Hansen behandelt in dem Band über diesen Tempelbau auch die logistischen Probleme von Abbau und Wiederverwendung. Sehr anschaulich stellt er sich einen großen Bauplatz vor, wohin die Steine gebracht und für die Wiederverwendung planvoll sortiert werden konnten. Dieses Bild entspricht den Wünschen eines Architekten, der vor einem solchen Auftrag steht. Mir scheint aber, dass die Verhältnisse im vorhandenen Baubestand weniger komfortabel und mehr Improvisation nötig und möglich war. Das Material vom aufgehenden, beschädigten Bau wurde zu einem großen Teil für die Verstärkung des vorhandenen Fundamentes an der SW-Ecke verwendet, hier haben wir die am besten erhaltenen Säulentrommeln des alkmeonidischen Tempels. Das Abbruchmaterial fand aber auch anderwärts im Heiligtum, etwa für Stützmauern, Verwendung. 2.2.3.2. Bauholz Von der eindrucksvollen Vorlage des klassischen Tempels durch Pierre Amandry und Erik Hansen möchte ich noch ein Problem anführen, in dessen Erörterung wir Bauforschung, Altphilologie, Forstwirtschaft und Zimmermannsbegriffe auch aus dem Deutschen kombiniert finden. In den Bauakten sind µεσόδµαι aus makedonischem Holz verrechnet. Die Bauabrechnungen notieren zu deren Herstellung eine Sägeleistung von 1729 Fuß Länge:
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Μ]ακεδονικῶν µεσοδµᾶν διαπριώσ[ιος ποδῶ]ν χιλίων ἑπτακατ[ίων ἴκατι] ἐννέα.26
Die so gespaltenen Balken hätten also die doppelte Länge von 3458 Fuß ergeben, ausreichend für ca. 50 Paare von Dachsparren. Hier müssen wir allerdings eine Einschränkung machen. Fraglich erscheint, ob aus der Gesamtlänge aller Sägeschnitte die Länge der entsprechenden Balken gefolgert werden kann, denn je nach Dicke des Baumstammes und der geplanten Balkenstärke könnten nicht nur an einer, sondern an mehreren Seiten der Balken Schnitte erforderlich sein: Die Gesamtlänge würde sich entsprechend reduzieren. Die bisherige Diskussion behandelt den bautechnischen Terminus µεσόδµαι. Den Ausdruck erklärt Erik Hansen (nach sehr eindrucksvollen Abschätzungen der Dachlasten) mit einer sehr ansprechenden Etymologie, mit dem deutschen Zimmermannswort Halbholz, er nimmt dazu die Verwendung als Sparren an.27 Halbholz beschreibt die Spaltung eines etwa quadratischen Balkens zu zwei schmaleren Balken (die weitere Spaltung ergäbe das sog. Kreuzholz). Diese etymologische Erklärung des griechischen Terminus steht aber im Widerspruch zu den Erwähnungen in der antiken Literatur, insbesondere zu den bestimmten Definitionen bei den Lexikographen,28 wo es bei dem Verständnis des Wortes nicht um die vorbereitende Sägearbeit, sondern um die Funktion im Bau geht. Wichtig sind die Zeugnisse über µεσόδµαι, die auf Säulen gelegt werden, vor allem die technischen Beschreibungen in den antiken Lexikographen, die µεσόδµαι nicht als Sparren in einem Dreiecksbinder sehen, sondern als Zugbalken, der auch die Decke tragen kann. Nach Bauinschriften, Etymologie und Lexikographie sind die µεσόδµαι also eher als Zug-Balken in einem Dreiecksbinder zu verstehen, kaum dagegen als Balken, die durch die Längsschnitte von Baumstämmen mit der Säge gewonnen wurden. Die Inschriften verzeichnen noch Ausgaben für Zypressenholz (wahrscheinlich für Türen) und für 571 Balken von Fichtenholz. Das müssen im Vergleich zu den Binderbalken, d. h. den Sparren und Zugbalken, kürzere Stücke gewesen sein, die wegen ihrer großen Zahl wohl auf die Kassettendecke zu beziehen sind. Der Vergleich mit den Formen von steinernen Kassettendecken und die Angaben zu den Holzlieferungen ergeben verschiedene
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DITTENBERGER, 1915, 420, Nr. 248 III 9. BOURGUET 1932, 159 Nr. 41, Kolumne III. AMANDRY/HANSEN, 2010, 443 f. Die Inschrift ist im lokalen, also phokischen, Dialekt verfasst. 27 AMANDRY/HANSEN, 2010, 444. 28 ORLANDOS/TRAULOS, 1986, 176: s.v. µεσόδµη.
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Optionen von Rückschlüssen auf die Maßverhältnisse und Gestaltung der Decke.29 2.2.3.3. Steinbrüche und Transportkosten In die Logistik des Tempelbaus geben die Baurechnungen einen vielfältigen Einblick. So eindrucksvoll die Steinbrucharbeiten gewesen sein müssen, in den Rechnungen für die Steinbeschaffungen des Hauptbaumaterials, des weichen Poros aus der Gegend von Korinth mit der Fracht über den Golf, machen die Steinbrucharbeiten nur 1/20 der Gesamtkosten aus. Jean Bousquet hat die Kostenverhältnisse von Arbeiten im Steinbruch, auf den Transportwegen zu Land und zu Wasser und auf der Baustelle erschlossen,30 Erik Hansen hat das Verhältnis mit einer cartoonartigen, überaus anschaulichen Illustration und mit einem Kosten-Diagramm anschaulich gemacht: Steinbrucharbeiten, Land- und Seetransporte bis zur Baustelle machen etwa drei Viertel der Kosten je Block aus, die Arbeit auf der Baustelle nur etwa ein Viertel.31 Dieser weiche Poros von Lechaion bei Korinth war nicht für alle Bauglieder geeignet. Widerstandsfähigere, härtere marmorartige Kalksteine für Stufenbau und Sockelbereich wurden aus neu erschlossenen Steinbrüchen in der Umgebung des Heiligtums gewonnen.32 Auch hier veranschaulicht Manolis Korres’ Bildergeschichte von dem Parthenonkapitell die eindrucksvollen maschinellen und körperlichen Leistungen, die für solche Bauvorhaben aufgebracht wurden. 2.2.3.4. Die letzten Reparaturen33 Die Bauglieder des klassischen Tempels aus dem Poros der Gegend von Korinth sind in sehr schlechtem Zustand erhalten. Im oberen Bereich des Baues ist die äußere Form von Kapitellen und Säulentrommeln weitgehend durch Brandhitze weggeglüht, was die Reparatur beeinträchtigen musste (Abb. 13). Das muss ein Feuer gewesen sein, das mit schweren Schäden auch in unteren Partien stärker als nur ein Dachstuhlbrand war. Diese gründliche Zerstörung führte Amandry auf eine systematische Brandstiftung zurück, doch ist diese 29
Diesen Abschnitt möchte ich nicht ohne Dank für die Diskussionen mit Wolf Koenigs abschließen, der mir bei dem Umgang mit Problemen von Baubefunden beigestanden hat. 30 BOUSQUET, 1988, 63 f. Jährlich wiederkehrende Posten und vergleichbare Kosten helfen bei Lesung und Ergänzung von Fragmenten. 31 AMANDRY/HANSEN, 2010, Abb. S. 464. 465. 32 AMANDRY, 1981, 714–721. MAAß 1993, 40 f. mit Abb. 14. AMANDRY/ HANSEN, 2010, 175–177 Abb. 2. 22. BOMMELAER/LAROCHE, 2015, 291–293 (mit weiteren Verweisen). 33 AMANDRY/HANSEN, 2010, S. 148.149: Abb. 1.2; 1.3.4 (Erdbeben spätantik); 412 Abb. 17.3; 427 Abb. 17.16 (letzte Reparaturen am klassischen Tempel).
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Erklärung nicht unbestritten. Jedenfalls hat man zur Reparatur die verlorenen äußeren Schichten mit Ergänzungen aus armiertem Putz mehr oder weniger wiederhergestellt, wie etwa an einem Kapitell und an Friesteilen zu sehen ist, wobei die Friesblöcke für einen etwas tiefer gesetzten Dachstuhl zurechtgeschnitten wurden.34 Das war, trotz aller Einschränkungen, eine große Baumaßnahme, die man wohl auf eine inschriftlich bezeugte Reparatur durch Cn. Claudius Leonticus, Proconsul von Achaia unter Kaiser Septimius Severus oder Caracalla, beziehen möchte. Wir wissen aber nicht sicher über das Datum und das weitere Schicksal dieser Wiederherstellung Bescheid. Das gewaltige, von einem Tsunami begleitete, von Ammianus Marcellinus geschilderte Erdbeben (Res gestae 26, 10, 15–19) im Jahr 365 hat sicher auch Schäden in Delphi verursacht,35 zu denen der Befund von Verschiebungen und Absenkung des Terrains gehören dürfte. Das sogenannte letzte Orakel berichtet vom Einsturz der „kunstreichen Halle“ und vom Ende des Kultes. Kaiser Julian habe dieses Orakel zu seinen Bemühungen, die alten Kulte wieder zu beleben, eingeholt. „Εἴπατε τῷ βασιλεῖ· χαµαὶ πέσε δαίδαλος αὐλά. Οὐκέτι Φοῖβος ἔχει καλύβαν, οὐ µάντιδα δάφνην, Οὐ παγὰν λαλέουσαν, ἀπέσβετο καὶ λάλον ὕδωρ.“ „Sagt dem Kaiser: Gestürzt ist die prunkvolle Halle. Phoibos hat nicht mehr sein Haus, nicht mehr den seherischen Lorbeer, nicht auch die weissagende Quelle. Des Wassers Rede ist versiegt.“36
Man würde diesen negativen Bescheid mit dem Ruin des Tempels gern mit dem Erdbebenereignis verbinden, doch trat dieses erst zwei Jahre nach dem Tod des Kaisers ein. Das alles lag zudem schon vor der Geburt des Philostorgios, des Gewährsmannes für diesen Spruch, dessen Motive und Urheberschaft doch widersprüchlich und fiktional erscheinen. 2.3. Werke der Bildhauer Anschließen möchte ich Erkenntnisse zu Werken von Bildhauern, mit denen unsere Vorstellungen über das 4. Jahrhundert wichtige Ergänzungen und Korrekturen erfahren haben.37 Mit Akribie hat Francis Croissant das alte Rätsel der Giebelfiguren des klassischen Tempels gelöst.38 Die klassischen 34
AMANDRY/HANSEN, 2010, 412 Abb. 17.3; 427 Abb. 17.16. SCOTT, 2014, 244. 36 Näheres: GREGORY, 1983, MAAß, 1993, 17 f. Anm. 79–81. SCOTT, 2014, 243. 37 Die Deutungsfragen um die Giebelfiguren und die Akanthussäule (hier nach dem Forschungsstand von 2017) dürften mit noch unpublizierten Arbeiten von Anne Jacquemin und Didier Laroche eine neue Richtung bekommen. 38 CROISSANT, 2003. 35
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Giebelfiguren glaubte man beinahe ein Jahrhundert lang verloren, mit einer Erklärung, die nicht ausnahmslos zutraf: Sie gehörten nicht zu den Werken, deren Abtransport von Delphi nach Rom pauschal erwähnt wird. Schon lange hatte man einen monumentalen Torso beachtet, einen Fund aus dem westlichen Bereich am Tempel. Es ist eine männliche Gestalt, die eine Kithara hielt, deren Ansatz im Bruch noch erkennbar ist. Zum Auftritt mit diesem Instrument gehört als Gewand der Chiton. Francis Croissant konnte dem Torso den Kopf mit einer Binde anpassen. Die durch die Zusammensetzung erschlossene Deutung überrascht: Die Binde verweise auf die Ikonographie des Dionysos, der hier der Erscheinung des Apollon angeglichen sei, umgeben von den bewegten nur sehr fragmentarisch erhaltenen Gestalten der Mänaden. Der pentelische Marmor als Material und die Meißelarbeit verbinden diese Statue mit scheinbar hoffnungslos zerstückten Fragmenten einer anderen Figur, deren Zusammensetzung aber Francis Croissant gelang. Das war die Mittelfigur des Ostgiebels mit einem Sitzenden, in dem man Apollon als Herrn des Heiligtums erkannte. So traurig die Lücken in der Ostgiebelfigur auch sind, die man bis dahin für kaiserzeitlich gehalten hatte, so waren doch damit die beiden Hauptfiguren des Ost- und des Westgiebels gefunden, wie auch der Hinweis auf das Programm, in dem die beiden göttlichen Herren des Heiligtums, Apollon und Dionysos, und ihr Gefolge vergegenwärtigt waren. 2.4. Die Akanthossäule mit den sog. Tänzerinnen Ein weiteres Bündel von Rätseln betrifft Heiligtumstopographie, Kult- und Kunstgeschichte, sowie die Akanthossäule mit den sog. Danseuses de Delphes.
Abb. 10: Die sog. Danseuses als Gipsabguss, 1901–1932 im Louvre ausgestellt, neuerdings restauriert (© 2016 Musée du Louvre/ Hervé Lewandowski)
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Unweit des Schatzhauses von Kyrene fand man die Marmorbruchstücke einer Säule, die als Pflanzenstengel mit Akanthoslaub stilisiert ist. Sie trug die Gestalten von drei jungen Frauen in kurzen Chitonen, die vom Wind bewegt erscheinen (Abb. 10). Die kurzen Gewänder sind für Tänzerinnen typisch. Marcadé und Croissant haben sie „caryatides aériennes, dont le rôle était moins de supporter un fardeau que d’abolire la pesanteur“ („luftleichte Karyatiden, deren Haltung weniger das Tragen einer Last als deren Schwerelosigkeit darstellt“) genannt;39 nicht der Tanz, sondern der Wind scheint die Gewänder zu bewegen.40 Welche mythischen Gestalten mit diesen Frauen gemeint sein könnten, ist noch nicht geklärt. Das inhaltliche Motiv wird erklärt als „Tripodophorie“, die große Festgesandtschaft mit der Weihung eines Dreifußes aus Athen,41 den drei graziöse Karyatiden präsentieren. Ungewöhnlich ist das dreiseitige Kapitell, mit dem die drei Figuren korrespondieren, denn sie waren von den Beinen des schlanken Dreifußes umfangen, dessen Becken sie mit jeweils ihrem rechten Arm stützten. Die Säule setzt sich mit Akanthusblattkränzen fort, die als Stützen der Frauenfiguren und als Träger einer Auflast dienen. Die Wölbung der erhobenen Handflächen entspricht der Mulde des Dreifußbeckens. Hier hat Pierre Amandry angesetzt und gesehen, dass ein berühmter Fund verkannt geblieben war.42 Es ist eine früher für römisch gehaltene Marmornachbildung des Omphalos, des Mittelpunktes der Erde in Delphi, mit der Umhüllung durch ein Wollbindennetz (Agrenon). Die Unterseite des Werkstücks ist nicht plan und horizontal, sondern zeigt die leichte Rundung des Dreifußbeckens, passend zum Auflager, das die Figuren zeigen. Der Dreifuß diente also als Träger dieses Omphalos. Mit dieser Anpassung rückt das Datum auch dieses Steins aus der römischen Kaiserzeit in die Zeit des klassischen Tempelbaus. Das Monument dokumentiert die Rolle Athens, von dessen Namen einige Buchstaben auf der zugehörigen Basis erhalten sind, auf der auch ein delphischer Bauunternehmer genannt ist, den wir von der Bauausführung der Heiligtumsmauer kennen. Die Geschichte der nicht zutreffenden oder unsicheren Deutungsversuche können wir nur leicht berühren. Der Akanthos wurde als Silphion, eine von Kyrene exportierte Pflanze, erklärt, bei dessen Schatzhaus die Funde gemacht wurden. Diese Erklärung ist aber wegen der Erwähnung Athens in der Inschrift der Basis hinfällig. Wichtig wurde der Fundort in anderer Hinsicht: Die Ausgräber hatten den Sturz der Säule durch das Beben von 373 v. Chr. angenommen, das den archaischen Tempel zerrüttet hatte, doch führen die Situation der Säulenbasis und der 39
MARCADE/CROISSANT, 1991, 89. BOMMELAER/LAROCHE, 2015, 240 f.: „C’est le vent et non une danse qui fait bouger les plis des tuniques.“ 41 BOUSQUET, 1964, 666. 42 MARTINEZ, 1997. 40
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Fund der Marmore auf hohen Verschüttungen im Heiligtum zu dem Schluss, dass diese Säule – wie die Sphinxsäule der Naxier – bis zum Ende des Heiligtums erhalten geblieben ist. Mit der Datierung durch den Bauunternehmer der Heiligtumsmauer entfällt die früher diskutierte, auch sonst problematische Verbindung mit der doch zeitlich vorhergehenden praxitelischen Kunst. 2.5. Halos oder Agora – Dreschplatz oder Volksversammlungsplatz? Apollontempel, Orakel im Tempel und Altar dominieren baulich und symbolisch das Heiligtum. Die Versammlung von Bau- und Denkmälerweihungen gruppiert sich locker, den Bedingungen des Geländes und der Erschließung durch Wege entsprechend, um dieses architektonisch mächtige Zentrum. Ein freier Platz darunter bildet ein Nebenzentrum, das einen gewissen Gegensatz zu den zentralen Bauten bildet. Benachbart sind das Buleuterion, das Rathaus der Stadt, und das Prytaneion, der Amtssitz der Verwaltung. Für die Funktion dieses freien Platzes in dem sonst dichtgedrängten Heiligtum zog man als Erklärung die Überlieferungen von der Heiligen Tenne, der Halos, heran. Auf der Halos fanden alle acht Jahre Kultspiele statt, die den Gründungsmythos mit dem Sieg Apollons über den Drachen Python mit Ritualen feierten, die schon für die antiken Erklärer rätselhaften Charakter hatten. Der erstaunliche Fund von kostbaren Weihgaben aus Gold, Silber, Elfenbein und Bronze, die in dem berühmten Bothros, einer Weihgabengrube unter dem Platz, gefunden worden waren, schien die Bedeutung des Platzes in dieser Frage zu bestätigen. Gegen diese Lokalisierung der Halos spricht allerdings die Überlieferung von dem Festzug, mit einem Weg von der Halos bis zum Altar: Das wären nur wenige Schritte, zu kurz für Teilnehmer und Zuschauer. Anne Jacquemin und Didier Laroche haben die umliegenden Baureste analysiert und daraus eine Lösung dieses Problems gefolgert.43 Außer dem Prytaneion und dem Buleuterion nehmen ein Denkmal am Südwestrand, die sog. Exedra Nr. 210, und eine Steinsetzung bergwärts unter der Athenerhalle auf das Areal Bezug. Die sog. Exedra Nr. 210 hat eine Rundung, welche die Rückseite einer mächtigen Dreifußbasis umfing. Diese Rundbasis gehört nach einem bauzeitlich typischen Kalkstein und dessen Bearbeitung in das 5. Jahrhundert v. Chr. Sie wurde nachträglich an der Rückseite halbrund mit einer Konstruktion aus Konglomeratgestein mit Pi-förmigen Klammern hinterfangen. Von dem Platz, auf den dieses Monument mit einem wohl sechs Meter hohen Dreifuß ausgerichtet war, geben Baureste unter der Athenerhalle eine Vorstellung, die zu der älteren, voralkmeonidischen Tempelterrasse gehören. Es handelt sich um eine große ovale Anlage, von der einige Stufen unter dem westlichen Ende der Athenerhalle und eine Steinreihe unter dem Inneren der Halle als Platzbegrenzung erhalten sind. Der so vorstellbare Platz ist ausrei43
JACQUEMIN/LAROCHE, 2014.
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chend für eine Volksversammlung. An das Dreifußmonument erinnert wohl ein Wandbild aus Herculaneum, wo ein überhoch-schlanker Dreifuß von Eroten mit Attributen Apollons umspielt wird. Die ovale Platzbegrenzung wurde dann aber nicht lange nach 480 v. Chr. durch die Athenerhalle überbaut. Damit wäre eine Lokalisierung der Halos an einem anderen Ort gegeben. Einen Dreschplatz wird man am Rand einer Siedlung annehmen, möglichst frei und luftig für die Arbeit mit der Kornschwinge gelegen – das wäre im Bereich des heutigen Ortes. 2.6. Erweiterungen und Umgebung des Heiligtums Heiligtumsgrenzen und -umgebung sind ein Thema, das in Zusammenarbeit von französischen und griechischen Kollegen in den letzten Jahrzehnten beachtlich weiter entwickelt wurde. Der heilige Bezirk war durch das Karree der Umfassungsmauer für die alkmeonidische Anlage bis zum Ende des Apollonkultes fixiert, danach nahm das profane Leben die Anlagen in Beschlag. Von zwei Erweiterungen ist zu berichten, mit denen das Heiligtum gefördert wurde: Im Südwesten steht die langgestreckte Halle der Aitoler, und den Nordosten dominiert der Bezirk mit der Halle Attalos’ I., eine Anlage vergleichbar mit denen am Burgberg von Pergamon, wohl von einem dortigen Architekten entworfen, der als bautechnische Neuerung gewölbte Substruktionen und einen mächtigen Graben als Schutz vor Wasser und Felslawinen nach Delphi brachte. Ein hervorragendes Bauprojekt seiner Zeit war das Gymnasium (Abb. 9), 44 das mit seiner gedeckten Laufbahn und seinen Wasch- und Badeanlagen den Rang der antiken Stadt zeigt. Das Publikumsinteresse ist auf das Heiligtum des Apollon, daneben auch auf das der Athena in der Marmaria fokussiert. Zur Tholos gibt es inzwischen eine neue Rekonstruktionszeichnung, die auch die Akroterfiguren auf dem Dachrand und die Bekrönung des Dachkegels mit einem mächtigen floralen Aufsatz präsentiert.45 Bevor der Athena-Tempel – schon bald nach seiner Freilegung 1903 – von gewaltigen Felsbrocken zerschmettert wurde, konnte eine alte Aufnahme den Zustand der Freilegung noch dokumentieren.46 Die Wohnstadt und die Nekropolen wurden zunächst eher ‚stiefmütterlich‘ behandelt, obwohl dort die ersten Funde noch vor den Heiligtumsgrabungen verzeichnet wurden: Die ersten neuzeitlichen Delphibesucher47 sahen an ihrem Weg Felsengräber, die heute etwas abseits von gewöhnlichen Besichtigungsmöglichkeiten liegen. 44
DODWELL, 1834, Taf. 34 („Ruins at Delphi, in Phocis“). BOMMELAER/LAROCHE, 2015, 87 Abb. 13. 14. 46 BOMMELAER/PENTAZOS/PICARD, 1992, 216 f. Abb. 113. 114. 47 Reiche Dokumentation über die frühen Besucher: HELLMANN, 1992, 14–54. 45
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Zu den schon vor den systematischen Grabungen beachteten Funden zählt eine leider einem Straßenbau geopferte Felsgrabscheintür, im Volksmund genannt „Logari“, die Reliefstele eines Athleten und der 1842 publizierte Meleagersarkopag.48 Zu diesem Areal von Funden, der Nekropole östlich der Stadt, ist zu bemerken, dass die Grande fouille de Delphes 1892 vertraglich auf das Heiligtumsareal beschränkt war. Daher ist das Verhältnis von Heiligtum und umgebender Stadt noch nicht sehr lange in den Blick gerückt. Zu dem Umfeld von Heiligtum und Stadt gehören außer den Nekropolen auch Befestigungsanlagen des 4. Jahrhunderts und Steinbrüche in nächster Nähe und in der weiteren Umgebung. Erstaunlich ist die kühne Lage des Stadions, das aus dem steilen Felsenhang gewonnen wurde (Abb. 11) und der noch oberhalb liegenden Steinbrüche.
Abb. 11: Das Stadion über dem Heiligtum, Aufnahme Thomas Goldschmidt, © Badisches Landesmuseum Karlsruhe
Die Grabungs- und Untersuchungsmethodik ist seither in Detailgenauigkeit so weiterentwickelt worden, dass der ingenieurmäßige Feldbahntransport großer Grabungsschuttmassen wie in der Grande fouille nicht mehr zu denken ist. Die Höhe der Schuttmassen über dem antiken Niveau ahnt man bei dem bekannten Photo, das die partiellen Freilegungen vor der Grande fouille dokumentiert.49 48 49
MAAß, 1993, 70–73 Abb. 28–30. JACQUEMIN, 1992, 153 Abb. 66. MAAß, 1993, 175 Abb. 81.
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Ziel der Grande, von den Nachkommen dann auch Ancienne fouille genannten Grabung von 1893 bis 1903 war das Gesamtbild des Heiligtums in seinen Glanzzeiten, mit seinen Bauten und den überraschenden und publikumswirksamen Funden, ein Kraftakt unter dem Druck der vertraglichen Grabungszeit von zehn Jahren und unter Einhaltung der bewilligten Mittel. Für die Akribie moderner Methoden hatte sich aber ein Reservat unter dem ausgedehnten Pfeilerfundament des Weihgeschenks der Rhodier mit dem Viergespann des Sonnengottes erhalten. Hier gab es Schichten, die unter dem Bauwerk unberührt geblieben waren. Abbau und Neuzusammensetzung zur bautechnischen Konsolidierung dieser Fundamente gaben Gelegenheit, diese Schichten genauer zu untersuchen, die eine reiche Ausbeute von Befunden enthielten: Hausbauten aus drei Phasen vom 8. bis 6. Jahrhundert, durch Katastrophen zerstört und mit Verfüllungen erhalten.50 Dabei handelt es sich um abgeräumte Weihgaben, die aus dem angrenzenden Heiligtumsareal stammen. Dieses wurde nach der datierenden Keramik um 580/570 v. Chr. in den bis dahin bewohnten Bereich erweitert und mit einer stattlichen kurvenpolygonalen Mauer abgegrenzt. Die Anlagen der römischen Zeit, Stadtvillen, Bäder und Grabbauten, sind in den letzten Jahrzehnten stärker in das Interesse gerückt.51 Der Ort blieb dann noch bis in das 7. Jahrhundert besiedelt, erhielt stattliche, mosaik- und marmorgeschmückte Kirchen und bescheidene Einbauten von Wohnungen und Werkstätten in den römischen Stadtvillen. Bis zum Besuch des Cyriacus von Ancona im Jahr 1436 gibt es keine direkten Zeugnisse mehr zu Delphi selbst. Wir wissen nicht, seit wann der Ort nicht mehr Delphi, sondern Kastri hieß. Nach den Bulgareneinfällen im 10. Jahrhundert sind Albaner in die Gegend eingewandert, die sich teilweise hellenisiert, aber ihre Sprache auch lange Zeit bewahrt haben, denn Dodwell hebt bei seinem Besuch in Delphi die Zweisprachigkeit des sehr ärmlichen Ortes hervor. Lokales Zentrum wurde das etwas tiefer gelegene Chryso, Residenz des Bischofs von Salona (antikes und heutiges Amphissa), dessen Gastlichkeit uns Dodwell in seinem Reisebericht illustriert (Abb. 12).52
50 LUCE, 1991/1992/1993. MAAß, 1996, 135–148, Funde aus Häusern des 8. Jahrhunderts: 138–141, das von ca. 570 v. Chr.: 140 f. LUCE, 2008, zusammenfassend dort: fasc. 13,1: 82–83 und fasc. 13,2: pl. 1–3 und 5. 51 DEROCHE/PETRIDIS/BADIE, 2014. 52 DODWELL, 1821, 156.165 Abb. S. 157 http://digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/dodwell1821/0011/ image?sid=515f82473a18509119a5046436bf962f .
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Abb. 12: “Dinner at Chrisso“ DODWELL, 1821, Bd. I, S. 156 f., © Universitätsbibliothek Heidelberg
3. Dank (Epilog) Motiviert haben mich zu den vorangehenden Ausführungen meine Faszination und die bewunderungswürdige, erkenntnisreiche Akribie von „Kollegen und Freunden am Parnaß und von der anderen Seite des Rheins“ – so lautete auch schon die Widmung meines Buches über Delphi von 1993; das Vorhaben hatte mir Erika Simon bei dem Herausgeber weitergegeben. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft zeigte sich damals generös bei den Kosten der Bildbeschaffung, etwa für die suggestiven Aufnahmen von Nikos Kontos … 53 Die Arbeiten gaben mir Gelegenheit, Pierre Amandry, Claude Rolley, Anne Jacquemin und Didier Laroche dankbar und freundschaftlich näher zu kommen. Das Buch spielt in meiner beruflichen Biographie eine besondere Rolle. Es fand Beachtung bei meinem Dienstherrn im Badischen Landesmuseum, Harald Siebenmorgen, und wurde Grundlage für eine Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem griechischen Antikendienst und der École française in Athen – als Fortsetzung dieser Partnerschaft folgte das größere Ausstellungsprojekt „Im Labyrinth des Minos – Kreta, die erste europäische Hochkultur“.
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MAAß, 1993, 317.
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Abb. 13: Delphi, Apollontempel im Juni 1994, Aufnahme Thomas Goldschmidt © Badisches Landesmuseum Karlsruhe
Dazu möchte ich die Aufnahmen hervorheben, die Thomas Goldschmidt, Museumsphotograph, für dieses und andere Ausstellungsprojekte angefertigt hat. Davon sind in diesem Beitrag zu Beginn die Panorama-Aufnahme, dann auch das Stadion und zum Abschluss hier der Tempel gezeigt (Abb. 13).
Learning from Delphi1 Provisional Thoughts on Interdependencies of Storytelling on the Siphnian Treasury and the Athenian Parthenon Vinzenz Brinkmann, Ulrike Koch-Brinkmann 1. The Gods’ Two Factions on the East Frieze of the Siphnian Treasury at Delphi Investigating the polychromy of Archaic architectural sculpture in Delphi 37 years ago, we became aware that numerous name inscriptions, applied with colour on the background of the north and east frieze of the Siphnian Treasury, had either not yet been detected or misunderstood.2 At the time we were able to prove that every person depicted on the friezes is named in perfectly readable letters so that the narration of the two mythical episodes can easily be perceived. Moreover, we saw that several names of the giants fighting against the Olympian gods on the north side of the small (but richly decorated) temple-like marble building were telling names – indicating the character of the acting person. Personal names of giants on the Treasury like Ephialtas (‘nightmare’) or Hyperphas (‘oversized’) rarely or never appear – as far as names are preserved – anywhere else in Greek art or texts.3 Still, it took us a moment to fully comprehend the narrative sequence and content of the split action on the east frieze. On the left half the Olympian Gods are gathered in an assembly, which is divided in two parties facing each other, while the right half shows a monomachy of two male warriors, who are accompanied each by a helper and a chariot together with its charioteer. The fragmented name inscription ΑΨΙΛ... on the base line underneath the feet of Zeus eventually turned out to be the clue to solve the riddle. As soon as it became clear that all the names on the Treasury friezes were written in the Western Greek alphabet, the letter combination ΑΨΙΛ... could be identified as Achilles. This helped to fill the lacuna in the center of the assembly of gods: here, a rep1 The authors express their gratitude to Dimitrios Pandermalis, Ian Jenkins and Raphaël Jacob for their substantial support. 2 See BRINKMANN, 1994; BRINKMANN, 1985. 3 For the giant Ephialtes see Apollod., Bibl. 1.37 [= 1.6.2] and Hyginus, Fabulae Praef. 4.
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resentation of the famous psychostasia of the souls of Achilles and Memnon can be assumed, while the two heroes themselves are fighting against each other on the other half of this picture/frieze (fig. 1).
Fig. 1: East frieze of the Siphnian Treasury at Delphi, reconstruction on the base of the preserved colour traces including painted name inscriptions, Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main, inv. St.P 698a-d
A subsequent observation led to the final understanding of the strict political order in which the divine assembly as a whole is depicted (fig. 2):
Fig. 2: Detail of fig. 1 showing the assembly of the Olympian Gods, divided in the pro-Trojan and pro-Achaean faction, with indication of the participants’ identity.
The left half shows the pro-Trojan faction with Apollo and Zeus, while on the right side all pro-Achaean Olympians, with Poseidon and Athena as leading figures, are gathered. The divine mothers of the two fighting heroes, Thetis and Eos, are shown as guests or supplicants/lobbyists of the assembly: they sit at the right and left edges of the two factions and plead for the life of their
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respective son. So we have here a political body precisely separated by factions, with each of them committed to their opposing interests.4
2. Learning from Delphi As a pan-Hellenic sanctuary Delphi was receptive to innovations in art and architecture much earlier and faster than an ‘autochthonous’ city state like Athens. When Athens eventually was ready to adopt the achievements of innovative marble architecture and its decoration from the Ionian islands like Paros and Naxos,5 this happened almost a century later than at Delphi: Architectural motifs like caryatids and Ionian capitals were imported from Ionia and applied to the Siphnian Treasury as early as 525 BC, while they were introduced in Athens only on the occasion of erecting the Classical Erechtheion, which was finished not before 406 BC. The architectural (and certainly also iconographic) concepts of the buildings realized in Delphi thus served as role models for other Greek cities, especially Athens. At the Parthenon, we can expect – as already postulated by Spaeth in 19916 – an at least equally complex narrative structure for the sculptures attached to this building.
3. Euripides, the Eleusinian War, and the Complete Assembly of Gods on the East Frieze of the Athenian Parthenon The competition between Athena and Poseidon for supremacy in Athens is familiar to us from its representation on the western pediment of the Parthenon. Less well known, however, is the continuation of this most important myth of the city of Athena. This myth about the origins of Athens had been dramatically staged – and thus was widely disseminated – by Euripides’ tragedy “Erechtheus”.7 Every 4 This split into two political factions is not a ubiquitous phenomenon in the known representations of an assembly of Gods in Greek art: the introduction of Heracles on Olympus, e.g., is shown as being unanimously accepted, so in this case it was not necessary to represent a split into two parties. See, e.g., BOARDMAN ET AL., 1990, 1–192. 5 See the research of the Gottfried Gruben team in Paros and Naxos (GRUBEN, 1982, 226– 227 figs. 9, 10, 16); cf. SIMON, 1975. 6 SPAETH, 1991. 7 Our knowledge of the tragedy Erechtheus, which is only preserved in fragments, has been significantly enlarged by the findings of Colin Austin (AUSTIN, 1967) and the recent contribution by Oliver Primavesi (PRIMAVESI, 2016). Joan Breton Connelly (CONNELLY, 1996 and 2014) was the first to recognize the importance of this Euripidean text for the understanding of the iconography of the Athenian Acropolis.
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Athenian child knew the story of the maiden goddess Athena, who – her virginity notwithstanding – had a “son” (through the agency of her pursuer Hephaestus and Gaia, who became a kind of ‘host mother’), whom she raised on the Acropolis and who, after becoming king, eventually had to save the Athenian people from the fatal threat posed by ‘evil’ Poseidon and his trident. Defeated by Athena and thus profoundly humiliated, Poseidon called – and this was the last resort of his vengeful activities – upon his son Eumolpus, the Thracian singer and king, to join him and to gather an enormous army at Eleusis, a place not too far from (and at that time obviously an opponent to) the city of Athens. In myth, Eumolpus, is on the one hand known for introducing the Eleusinian Mysteries, but on the other hand also for his attempt to conquer and devastate the Athenian Acropolis. In some ancient sources, this mythical conflict was named the “Eleusinian War”, obviously reflecting political tensions between Athens and Eleusis, which were seemingly accepted as a historical fact.8
4. The Assembly of Gods on the Parthenon’s East Frieze: Following the Delphic Narrative Matrix A solid communis opinio identifies at least ten of the twelve Olympian participants at the plenary session (assembly) of Gods depicted on the Parthenon frieze (fig. 3). The first god on the very left side is Hermes holding his petasos in his hands and facing left. The next figure – a male person leaning on the shoulder of Hermes – deserves quick reconsideration: the typical posture of his left hand indicates that he is holding the trident,9 hence we have to identify him as Poseidon, Athena’s humiliated competitor. Next comes Demeter, the chief goddess of Eleusis and as such a strategic partner of Poseidon; she is clearly marked by a torch in her left hand. The war-god Ares follows, shown in restless movement and thus illustrating the firm will of Poseidon and Demeter to wage a war against the Athenian city-goddess.
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Cf. KRON, 1990, 468–469 with further bibliography. Identified cogently as Poseidon by CONZE, 1866. This god has also been identified as Dionysus, but the typical posture of holding a scepter or trident firmly contradicts this proposal: cf., e.g., Poseidon on Roman sarcophagi (ROBERT, 1919). 9
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Fig. 3: Assembly of the Olympian Gods on the Parthenon frieze, with indication of the participants’ identity as proposed in this essay.
After a subtle caesura, which emphasizes the importance of what follows, the hieros gamos of Hera, lifting her wedding veil, and Zeus, is the concluding element of the left wing of the gods’ assembly. After the famous middle scene, which is depicted above the temple’s entrance and obviously refers to two different Athenian religious festivals (the Arrhephoria 10 and the Panathenaia11), the right wing of the gods’ assembly starts with the ‘couple’ (in what remains a purely ‘Platonic’ love affair) of Athena and Hephaestus, the ‘parents’ of Erechtheus-Erichthonius, the new king and redeemer of Attica, who saves the city through the death of his eldest daughter and his own annihilation, which is executed by Zeus and/or Poseidon. Athena’s aegis is indicated by snakes on her lap, while the lame god Hephaestus is clearly identifiable by his crutch. Next is Dionysus, once holding an empty wine vessel in his right hand (which hung loosely by his side, but is now lost) and raising close to his face a (once painted) branch of vine (?) with his lifted left arm.12 Dionysus 10
All known facts (which are still scarce) firmly suggest that the Arrhephoria is connected to a fertility rite. See Schol. Lucian Dial. Meretr. 2.1 (275–276 Rabe) and less fully Clem., Protr. 2.17.1 who report that cakes in the shape of snakes and male sex organs were carried by the Arrhephoroi. ROBERTSON, 1983 points to the fact that even the nursing of a new born child could be involved in this (still rather obscure) ritus. 11 Cf. WESENBERG, 1995. The recent investigation with the help of raking light technique executed by the Liebieghaus Polychromy Research Project was able to prove that Wesenberg is correct in separating a torch in the hand of the first maiden. There are absolutely no indications preserved for chairs or similar seats. 12 This figure (east VI 38) has also been identified as Poseidon (cf. BROMMER, 1977, 261; SIMON, 1994, no.136). The posture of his left hand, however, rules out the reconstruction of a trident. See the standardized appearance of Dionysus on Archaic and Early Classical Attic vases, on which he holds vine or/and ivy and a drinking vessel: e.g. Beazley Archive, pottery
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and Apollo share the Oracle of Delphi, the major pan-hellenic sanctuary, both play a major role in Attic cult, and they may even overlap each other.13 This explains why the twins Apollo and Artemis (who are also connected) follow next. The last member of the gods’ faction on the right is the Goddess of Love, Aphrodite, the force to unite the unequal couple of Athena and Hephaestus. That Athena is firmly connected with Aphrodite, may be proven, e.g., by the main ritual act during the Arrhephoria festival.14 Considering the fact that there is a bloody conflict between Athens and Eleusis (the ‘Eleusinian War’) incorporated in the myth of the origin of Athens, and taking account of the narrative structure of the highly innovative east frieze of the Siphnian Treasury in Delphi, we obviously have to conclude – at least for the time being – that the representation of the gods’ plenum on the Athenian temple could not take second place vis-à-vis the intellectual achievements of Delphic architecture. The assumption that not only at Delphi but also on the Athenian Acropolis two political factions of the gods are shown on the left and on the right wing is firmly suggested by the spatial distribution of the participants on the Parthenon Frieze: the left faction is concisely representing the interests and the strategy of Eleusis by uniting Poseidon and Demeter with aggressive forces like Ares and Zeus (who will eventually assist his brother Poseidon in killing Erechtheus-Erichthonius and in this way radically terminating the Eleusinian War against his beloved daughter Athena). The right faction is equally precisely distinguished: Athena and Hephaestus are dominating the pro-Athenian party, in which the Attic Dionysus and the Attic children of Leto, who are born on Delos – an island annexed by Athens –, are obliged to be present. We have also learned from the frieze in Delphi that the Olympian gods’ assembly is convened to make decisions that are both pending and urgent. This divine council is obviously destined to take action whenever a decision on the life or death of half-gods (a rather exclusive category of human beings) has to
database (www.beazley.ox.ac.uk), no. 6, 1483, 1536, 4319, 9953, 11774, 16068, 23205, 202254, 202451, 202534, 200502, esp. 26, 6793, 13378, 202619, 203728, 203914, 203915, 44906, cf. also 203003. On the contrary the figure east IV 25, which has often been identified as Dionysus (cf. BROMMER, 1977, 258–259; GASPARI, 1986, no. 486), has to be recognized as Poseidon, since this figure shows the typical posture of the Sea God’s hand, which is turned towards the face holding the trident. cf. footnote 9. Cf. DIETRICH, 2018 108–113, is discerning the function of attributes in the assemblies of gods on Siphnian Treasury and Parthenon. 13 Cf. ROHDE, 1894, 340–343 with footnotes; DETIENNE, 2001; ISLER-KERENYI, 2007, 235–254. 14 ROBERTSON, 87 (1983) 252–254, denies this connection to Aphrodite. On the Arrhephoria cf., e.g., HARRISON, 1922, 121–123, 131–134; BURKERT, 1972, 169–173; BURKERT, 2011, 348–349.
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be taken.15 This holds true for the ascension of Herakles,16 for the deadly single combat between Memnon and Achilles as well as for other sons17 of gods or goddesses fighting such combats. As we are convinced that the central slab of the Parthenon East Frieze (surrounded by the Olympians) alludes to the birth (Peplos dedication18) and the resurrection/rebirth (Arrhephoria) of Erechtheus-Erichthonius, the occasion of this gods’ meeting is (accordingly) to determine that Erechtheus-Erichthonius will die and that he will subsequently be ‘resurrected’ as a holy serpent in Athena’s sanctuary.
5. The Sculpture of the Western Pediment of the Athenian Parthenon Revisited after Learning from Delphi The pedimental sculpture of the western front of the Athenian Parthenon is much better preserved than the sculptures on the opposite side. Almost all figures are still present at least as fragments, and additional information is given by the drawings of Carrey.19 The story in the center of the gable is undisputed and reported by Pausanias: Athena is presenting the olive tree while her opponent Poseidon is drilling a salt water well - both participating in the final phase of the competition to supervise Athens as city god.20 15
Cf. the actions of the Olympians in the Homeric poems. For this see: Beazley Pottery database no. 310391, 320459, cf.: Beazley Pottery database no. 32141, 43947, 204335, 17 See Achilles vs. Hector on Beazley Pottery database no. 15527, 351201. Is this true for Theseus vs. Minotaurus also (cf. Beazley Pottery database no. 43278)? Compare: Beazley Pottery database no. 360886. 18 See footnote 11. 19 See OMONT, 1898, pl. 2–3. 20 Pausanias’ terse remarks on the pediments of the Parthenon (Paus., 1.24.5-7) do not do full justice to the creative and dramaturgical demands of art in the Periclean era. The west pediment not only testifies to the competition between Athena and Poseidon for the patronage of the city, but also reports in sophisticated narrative layers on the entire conflict between Athens and Eleusis, which finally culminates in the Eleusinian War. (In this sense: SPAETH, 1991, 343: “On the primary level, signaled by the central group of the pediment, the composition refers to the contention of Athena and Poseidon. On a secondary level, signaled by the two opposing groups of spectators, it refers to the battle of the Athenians and the Eleusinians". Spaeth thus refers very precisely and probably consistently to the strict symmetrical composition of the west pediment, both in form and content). Erika Simon very rightly took note of the thunderbolt of Zeus in the centre of the west pediment, which is missing today, but can be indirectly proven (SIMON, 1980). It is the thunderbolt that will end the conflict when Zeus paralyses Erechtheus with this thunderbolt and/or Poseidon impales him on the trident. Athena and Poseidon compete against each other with spear and trident, so they are shown rather in war mode (cf. weapons used by Poseidon and 16
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As we have already emphasized, Athena and her opponent Poseidon are firmly linked to the (at that time hostile) neighboring towns of Athens and Eleusis.21 This entails a strict and symmetrical narrative dialectic that has (as we learned from the east frieze of the Siphnian Treasury at Delphi) to be integrated into the basic matrix of comparable multi-figured works of art.22 The integration of such a bipolar order in fact radically facilitates the reading of a complex composition like a pedimental group consisting of ca. 20 figures! While the central group, with Athena next to Poseidon, who are joined by charioteers and chariots – the arrangement is identical to the deadly encounter of the two heroes on the right half of the eastern Frieze of the Siphnian Treasury at Delphi and as such iconographically directly depending from it – needs no further clarification, the two lateral groups of six or eight figures respectively have to be reconsidered and – so we are convinced – have also to be linked closely to what we have deduced from analyzing the sculptural decoration of the Siphnian Treasury. As a consequence we have to expect a bipolar and symmetrical separation of mythical figures representing the opposing factions in a political crisis, which will eventually lead to the Eleusinian War. On the left hand side the naked Kekrops (B), the old city god of Athens together with his dynasty, is contrasted to the nude and kneeling Keleos (V),23 the old city god of Eleusis, who likewise appears with the Eleusinian dynasty on the opposite end of the gable. These two political parties are fundamentally the
Athena on the Pella Hydria: NEILS, 2013 with further bibliography). On the other hand, the olive tree and the salt spring point to the beginning of the conflict, which will end in bloody violence. An Athenian pictorial design of the years around 450/440 BC cannot possibly depict the divine ruler of the seas as the inferior in a monumental way. Poseidon is the guarantor of Athens’ supremacy on the sea just achieved by the Delian League, and thus it is unthinkable that he is set back in the west pediment of the Parthenon, i.e. on the second most important picture of Greek antiquity (differently: MEYER, 2018 (with further bibliography)). (Equally insufficient is Pausanias’ description of the plot on the east pediment. Although the birth of Athena has just taken place, the plot culminates in the sacrificial act of the deceived wife of the childbearing Zeus. Only through Hera’s sacrifice the „bastard“ Athena is accepted among the Olympian gods.) 21 Eleusis will later be integrated into Attica by Theseus, who kills the Eleusinian King Cercyon, son of Poseidon, in a wrestling combat and declares Hippothoon the new king of Eleusis. Hippothoon, son of Alope and Poseidon and grandson of Cercyon, finally will eventually become one of ten eponymous heroes of Attica (Paus., 1.39.3; Plut., Thes. 11; Ov., Met. 7.439; Hyg., Fab. 38; Apollod., Epit. 1.3; a Satyr-play with the title Cercyon by Aeschylus is lost). 22 Erika Simon confirms this bipolar symmetry of two opposing factions, i.e. the proAthena one on the left half and the pro-Poseidon one on the right half of the west pediment (SIMON, 1980, 239–255). 23 Both kings are rendered naked, but wearing mantles, which are in the course of slipping down from their backs.
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counterparts of the pro-Trojan and pro-Achaean factions on the Delphic Treasury (fig. 4).
Fig. 4: Drawing of the west pediment of the Parthenon by Jacques Carrey (?) 1674, with indication of the participants’ identity as proposed in this essay
In Detail: In the very left corner of the west pediment of the Athenian Parthenon a reclining river god (A) indicates the location of Athens. He should be Ilissos, Eridanos or more probable Kephissos,24 who will be the father-in-law of Erechtheus-Erichthonius, the future new king of Athens. Further to the centre Kekrops (B) may be depicted as surrounded by his children, the three daughters and future baby-sitters of Erechtheus-Erichthonius (Pandrossos, Herse, Aglauros C, D, F) and his son Erysichthon (E), who will eventually renounce the royal dignity in favor of Erechtheus-Erichthonius, ‘son’ of Athena.25 24
See, e.g., OVERBECK, 1857, 251–252, LLOYD, 1848, 426–427, BÖTTICHER, 1870, 59– 64, MICHAELIS, 1871, 192–193 opt for Kephissos. 25 Another interpretative approach for the figures C–F, which adopts the idea of the axisymmetrical design of the pediment even more precisely, might be tempting and should be investigated more thoroughly in the near future. This more strict interpretation would postulate that both halves of the pediment are divided into a perfectly congruent sequence, which is: Antagonist, Chariot, Old Local Deity, Primeval King and Allegory of the Locale. On the right side, accordingly: Poseidon, chariot with Amphitrite and Iris, Demeter with her children, the couple Keleus and Metaneira, the local nymph Eleusis. As a consequence the left side could be read in the same sense: Athena, chariot with Nike and Hermes, old Attic deity, the couple Kekrops and his wife Aglauros, the river god Kephissos, in which sequence the position “old Attic deity” would still have to be clarified. On closer inspection of the drawings by Carrey, however, one easily notices that obviously the arms of the male child (E), a perfect counterpart to Triptolemos (S), are powerfully pulled. This observation allows a first conjecture: does figure E depict the mortal child Zagreus, who is torn apart by the Titans or the children of Ge, after which ordeal he is reborn as the immortal god Dionysus, whose
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On the opposite side of the pediment, King Keleos (V) appears surrounded by his wife Metaneira (U)26 and his son Triptolemos (S), who by being breastfed by Demeter has been sort of transformed into a ‘son’ of that goddess. Next to the couple of the old Eleusinian king is Demeter (Q) sitting with her unequal twins Ploutos and Philomelos-Boöthes (P and R) on her lap. She is joined by her reclining daughter Persephone (T), who is playfully swinging her young “step-brother” Triptolemos (S) on her knees. The very left corner is – as an equivalent to the river god in the opposite corner – again filled by a reclining personification of the locality (W), this time a female one.27 In order to respect the symmetrical narrative, we have to name her consecutively as Eleusis, who is known from Greek vase-painting.28
6. Learning from Delphi Means to Exclude the Assembly of the Twelve Olympians from the East Pediment of the Athenian Parthenon Presumably due to early Christian building activities the centre of the east pediment of the Athenian Parthenon has been destroyed, with only scattered fragments of it having been preserved; most of these can be traced in the storerooms of the Acropolis Museum and the British Museum in London (fig. 5). Already Adolf Michaelis’ survey of all identifications of the lost figures of the east pediment of the Parthenon – starting with Visconti in 1816 and ending with Michaelis’ own major publication on the Parthenon in 1871 – resulted in a rather long list. In 1963, Frank Brommer and Olga Palagia updated this list and more than doubled the number of entries.29 A first analysis of these lists shows that there have been two different – indeed rather diverging – approaches: before the end of the 19th century (respectively before the two World Wars) scho-
place of birth, according to the Athenians, was in Attica (Eleutherai)? This narrative would also form a perfect mirroring of Triptolemos in the right corner (S), who was put into the fire by his “nurse” Demeter to attain immortality. (For Zagreus compare: LINDNER, 1997, with further bibliography.) 26 One should check the assumption of WALDSTEIN, 1885, 120–132 (cf. WALDSTEIN, 1880) that the Venice Fragment (Height 69,5 cm) belongs to the western pediment. If this is the case, the female figure could be V* and thus represent Metaneira. 27 Usually identified in the 19th century as Kallirhoe (see the list in MICHAELIS, 1871, 180–181). 28 Cf. Beazley Pottery database no. 204683, Apulian Loutrophoros, formerly Getty inv. 86.AE.680 (now Museo Archeologico Nazionale Napoli; SIMON, 1988, 68). 29 BROMMER, 1963, fold-out chart following p. 180; PALAGIA, 1993, 60.
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Fig. 5: Drawing of the east pediment of the Parthenon by Jacques Carrey (?) 1674.
lars like Heinrich Brunn30, who were perfectly trained in Classics, often expected a rather cosmo- and mythological scenery alluding to deeper mythopoetic structures, while between about 1860 and about 1940 a communis opinio was gradually established opting for the less imaginative and uncomplex concept of an assembly of the main or even all of the Olympian gods.31 Since 1940 a return to a cosmological interpretation seems to have been avoided for as yet unexplored reasons; perhaps this phenomenon was con30
BRUNN, 1874; cf. WALDSTEIN, 1885, 164; cf. JEPPESEN, 1984, who revived the cosmological approach and supported it with testimonies taken from epic and lyric texts, but was ridiculed by his colleagues Brommer, Beyer, Schefold for his “märchenhafte Phantasien” (see the printed contributions to the discussion following Jeppesen’s footnotes). Compare SIMON, 1986, 68–69 who on the one hand supports the presence of an assembly of the Olympians, but on the other hand emphasizes the cosmological aspect of the framing astral gods Helios and Selene: “Alle drei Geburten [the birth of Athena in the east pediment, the birth of Aphrodite on the basis of the statue of Zeus at Olympia and the birth of Pandora on the basis of the statue of Athena Parthenos in Athens] sind durch kosmische Mächte gerahmt, und dieses Rahmenthema, in dem Helios nie fehlt, wird als typisch phidiasisch angesehen.” 31 Cf., e. g., BUSCHOR, 1948, 35 (“Der Entwurf des Parthenon-Ostgiebels [...] verbindet das Thema der Götterversammlung mit dem großen olympischen Ereignis der Athenageburt”) or CARPENTER, 1962, 268 (“Of the twelve Olympian gods who should appear in the pediment ...”); SIMON, 1986, 68; cf. WILLIAMS 2013, 54 (“The groups of gods on the East Frieze suggests that in addition to the key players required for the miraculous birth, that is Zeus, Athena and Hephaestus, also present were Hera, Dionysus, Hermes and Poseidon ...”.)
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nected with the blossoming of rash universalist ideologies, which is admittedly a major feature of the first half of the 20th century. The elder approach, however, is supported by the conspicuous presence of Athena’s birth in ancient texts, whereas the hypothesis of a frequent representation of the Olympians in full assembly is an ex nihilo assumption, for which there is not much evidence in ancient art.32 The narrative matrix of Athena’s birth33 does not seem to require a full assembly of the Olympians. Moreover, at the time of Athena’s birth an assembly of all the 12 gods of the Olympian pantheon, as proposed by recent publications, is simply preposterous since several gods had not been yet born or would be still in their childhood (Athena among them). Thus the presentation of the full group of the twelve obviously came later and then occurred – as we have already argued – only in crisis situations involving the heroes and demigods, in which the decision of a ‘superior board’ was required. Our approach, which follows the Delphic concept of bipolar narration34 and consequently postulates a hostility between Athens and Eleusis, presents a challenge to the arbitrary and presumably inadequate interpretation of the divine group presented on the east pediment of the Parthenon as an assembly of all Olympian Gods, as it rather strictly rules out that hostile Demeter and Kore could be represented here.
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Athena is the child of the first wife of Zeus (according to Hesiod, Theog. 886–900). This is why Apollo and Artemis are not yet born when Athena jumps out of the head of Zeus. Athena on the other hand is present and safeguarding the birth of Leto’s children on Delos as represented on Roman Sarcophagi (see, e.g., SICHTERMANN, 1992, cat. 1, 3). Hermes must have been born after Apollo, since he was steeling the cattle of Apollo on his very first day immediately after his birth. Dionysus comes even later, since Hermes was assisting the birth of Dionysus. Compare WALDSTEIN, 1885, 144. 33 If on Archaic and Early Classical vase painting Poseidon or Leto’s children appear in the context of Athena’s birth, this does not mean that they were physically present – in the case of unborn Artemis and Apollo this would in any case be impossible –, but they are included in the pictorial concept (as on vases a radical abbreviation of a set of subsequent and separate sequential details often imply proleptic elements) in order to give a forecast of the main aspects of the future biography of Athena. 34 The bipolar form of narration may be encountered again on the famous Kerch Vase in the Hermitage of St. Petersburg: Beazley Pottery database no. 230431; see FURTWÄNGLER / REICHHOLD, 1905 plate 70, and cf. Triptolemos on a Panathenaic Amphora indicating the appeased bipolarity of Athens-Eleusis (Beazley Pottery database nos. 303141, 303140, 303150 etc.).
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7. The First Prerequisite to Produce an Alternative to the Concept of an Assembly of All Olympian Gods It is now time to reconsider those early – philologically supported – approaches, which propose a cosm(olog)ical setting for Athena’s birth35 rather than a relaxed party of an arbitrary selection of Olympians without any distinction between welcome and intrusive guests.36 7.1. Pausanias’ Comment Pausanias comments on the myth represented on the east pediment in very few words, as if he expected his audience to know enough about the representation of the birth of a God and especially the birth of Athena.37 This implies that the readers in the second half of the second century AD, whom he addresses, were familiar with comparable representations. And as a matter of fact several birth scenes on sarcophagi of the second half of the second century do still survive; for example, two sarcophagi from Providence and Rome (Galleria Borghese) show the birth of Leto’s children Apollo and Artemis.38 Hera (!), Athena and Zeus are supervising this cosmological event, as do the three Moirai. By reevaluating Greek and Roman textual sources plus the relevant iconography of Roman sarcophagi we may even expect the ‘full personnel’ that should be present in a plot narrating themes like birth and matrimonial legislation on such a large stage as the east pediment of the Parthenon, which obviously has to comprise – next to the Moirai – also the Horai (possibly augmented by Agathe Tyche), the Dioscuri (including their astral symbols or companions), and divinities indicating the locality (fig. 6–fig. 8).
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Cf. Hom. Hymn, 28.9–16 (µέγας δ' ἐλελίζετ’ Ὄλυµπος / δεινὸν ὑπὸ βρίµης γλαυκώπιδος, ἀµφὶ δὲ γαῖα / σµερδαλέον ἰάχησεν, ἐκινήθη δ’ ἄρα πόντος / κύµασι πορφυρέοισι κυκώµενος, ἔσχετο δ’ ἅλµη / ἐξαπίνης· στῆσεν δ’ Ὑπερίονος ἀγλαὸς υἱὸς / ἵππους ὠκύποδας δηρὸν χρόνον εἰσότε κούρη / εἵλετ’ ἀπ’ ἀθανάτων ὤµων θεοείκελα τεύχη / Παλλὰς Ἀθηναίη). 36 The cosm(olog)ical approaches of BRUNN, 1874, 4–39, and FURTWÄNGLER, 1893, 243– 250 have a strong impact on this study. 37 Pausanias, 1.24.5 ([…] ὁπόσα ἐν τοῖς καλουµένοις ἀετοῖς κεῖται, πάντα ἐς τὴν Ἀθηνᾶς ἔχει γένεσιν, τὰ δὲ ὄπισθεν ἡ Ποσειδῶνος πρὸς Ἀθηνᾶν ἐστιν ἔρις ὑπὲρ τῆς γῆς […]). 38 See footnote 32.
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Fig. 6: Roman Sarcophagus, marble, 2nd cent. CE, Mantua, Palazzo Ducale, inv. 186, frieze of the lid with ‘Capitoline Triad’ as part of the birth scene of Athena.
Fig. 7: Roman Sarcophagus, marble, 2nd cent. CE, St. Petersburg, State Hermitage Museum, inv. GR-4222 (A–433), frieze of the lid with ‘Capitoline Triad’ as part of the birth scene of Athena.
Fig. 8: Top: Roman Sarcophagus, marble, 2nd cent. CE, Vatican Museums, Museo Pio Clementino, Gabinetto delle Maschere, inv. 798, part of the lid frieze with ‘Capitoline Triad’ as part of the birth scene of Athena. – Bottom: Roman Sarcophagus, marble, 2nd cent. CE, Vatican Museums, Museo Pio Clementino, Gabinetto delle Maschere, inv. 800, part of the lid frieze with ‘Capitoline Triad’ as part of the birth scene of Athena.
7.2. Moirai Of major importance to the cosm(olog)ical perspective of the birth are the Moirai to determine the thread of life of the newborn.39 (The Moirai are pre-
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Cf. FURTWÄNGLER, 1893, 246, who strongly affirms that the birth of a god needs the presence of the Moirai (“Sie sind zweifellos derjenige Dreiverein, der bei einer Geburt im Olymp am wenigsten fehlen darf”). See MICHAELIS, 1871, 165 and BROMMER, 1963, table after p. 180, who both together list 45 publications: a firm majority of 11 out of 15 expect the Moirai until 1861, but from 1861 until 1940 only 5 out of 20 opt for the Fates; after 1940 until 1963 no scholar anymore proposeas to identify the Moirai with any of the preserved figures.
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sent when Prometheus creates Man,40 at the birth of Athena on the Madrid Altar,41 or they may attend the birth of Achilles like on a mosaic from Paphos.42) 7.3. Horai and Agathe Tyche While the Moirai represent the dimension of fate (biography), the Horai43 indicate the dimension of time and at the same time the three political virtues eunomia, dike and eirene. However the Horai act as midwives as well!44 Whereas Agathe Tyche45 secures wealth. 7.4. Dioscuri-Anakes Eternal, archaic and immemorial is the appearance of the Dioscuri-Anakes,46 protectors of marriage47 and patrons of medicine.48 40
Cf. Naples, Museo Archeologico Nazionale inv. 6705 (ROBERT, 1919, cat. 357; KOCH / SICHTERMANN, 1982, 184 fig. 216) or Rome, Musei Capitolini inv. 329 (ROBERT, 1919, cat. 355; KOCH / SICHTERMANN, 1982, 183–184 fig. 215); Paris, Louvre (ROBERT, 1919, cat. 351). 41 See the discussion in: BERGER, 1974, 15–16. 42 Mosaic showing the birth of Achilles from the House of Theseus in Paphos (MICHAELIDES, 1987, cat. 50). Even the birth of a mortal baby may be accompanied by the Moirai (AMEDICK, 1991, cat. 64, 273). 43 Compare FURTWÄNGLER, 1893, 247, who postulates that like the Moirai the Horai have to be present on a birth scene on mount Olympus (“Denn sie sind das vollkommenste Gegenstück der Moiren, ihnen aufs nächste verwandt, und doch wieder verschieden genug, beide seit alter Zeit in Poesie und Kunst gerne vereint und einander gegenübergestellt. Auch die Horen sind bei einer Geburt am Platze, denn sie führen die richtige Zeit herbei, in der die Geburt sich erfüllt, und wie die Moiren wurden sie die Geburt schützend gedacht”). See the diagrams in MICHAELIS, 1870, 165 and BROMMER, 1963, table after p. 180, who list 9 scholars until 1938 (8 of them until 1903) proposing the Horai. After 1938 until 1963 no publication any more proposes the Horai as any of the preserved figures. JEPPESEN, 1984, 275–277 will reconsider the presence of two Horai in 1980/84 (see JEPPESEN, 1984, 274–275 for a cosmological approach). 44 Cf. Nonnus, Dionysiaca 16.392–400. for the Horai as midwifes of Teleté, the daughter of Dionysus and Nicaea. 45 On the lists of MICHAELIS and BROMMER (cf. footnote 39) only one scholar (BRØNDSTED 1830) proposes the presence of Agathe Tyche on the east pediment of the Parthenon. 46 For the Dioscuri-Anakes as patrons of medicine and protectors of marriage see FURTWÄNGLER, 1884–1886, 1157–1158. The ‘craniotomy’ of Zeus, necessary to give birth to Athena and executed by Prometheus or Hephaestus, may be considered the most complex medical intervention in Greek myth. No scholar ever proposed the presence of the Dioscuri on the east pediment of the Parthenon except for JEPPESEN, 1984, 274, who at least discusses but discards the possibility of the presence of one unique Dioscurus there. 47 The Dioscuri frame scenes of marriage and sacrificing couples on Roman sarcophagi (e.g. Rome, Villa Albani inv. 435, on which husband and wife may be understood as a reflex
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7.5. Astral Companions: Phosphoros-Heosphoros and Hesperos As an expansion of the astral symbols of rising Sun and setting Moon/Night, we should – in accordance with the narrative structure of ancient literature and art 49 in general and specifically with the fact that Athena might have been born early in the morning50 – expect Phosphoros-Heosphoros51 as Morning star arguably equipped with a string instrument52 (rather than a lifted torch) to celebrate the new-born goddess. 7.6. Divinities Indicating Locality Last but not least, as is the case for the east pediment of the Zeus temple at Olympia (Kladeos and Alpheios)53 and the west pediment of the Parthenon (Athenian river god and Eleusis?), deities indicating localities form an indispensable element of a ‘cinemascopic’ scenery of myth telling and are obviously required in our case as well. Accordingly we have to inquire whether equivalent divinities are present on the east pediment. Since Athena is born on Olympus and will endorse agriculture and polis life, we should restrict our expectations to mountain and river gods as well as female divinities representing terrestrial localities. We can probably rule out all kinds of personification linked to the sea like Okeanos or Thalassa for just one simple argument: salt water is the realm of Poseidon, and Poseidon is Athena’s strongest opponent!
of Zeus and Hera on the east pediment of the Athenian Parthenon; cf. REINSBERG, 2006, cat. 3, 13, 57, 80, 87, 123 [Villa Albani inv. 435], 140). 48 Cf. Herodotus, 8.122 (victory dedication of golden stars: Dioscuri as divine support of the Aeginetan fleet at the battle of Salamis). 49 Cf. Phosphoros and Hesperos on Roman sarcophagi (e.g. Naples, Museo Archeologico Nazionale inv. 6705 (ROBERT, 1919, cat. 357; KOCH / SICHTERMANN, 1982, 184 fig. 216). 50 Cf. JEPPESEN, 1984, 274. 51 As ancient sources let the birth of Athena take place in the morning, Jeppesen proposes the appearance of Eosphoros jumping from his horse on the right wing of the east pediment (JEPPESEN, 1984, 274 fig. 5); cf. Hesperos (?) and Nyx (?) on a Pelike from Kerch (SIMON, 1966, 73; Beazley Pottery Database No. 230432). 52 Flying Erotes, who physically resemble Phosphoros and Hesperos, often hold a Lyre (cf. e.g. HERMARY/CASSIMATIS, 1986, nos. 661, 700). A running or flying Eos is chasing or abducting a young boy holding a Lyre on a classic amphora (WEISS, 1986, nos. 134–190, 268, 269, 272). 53 See the section “Die beiden Flußgötter” in: SIMON, 1968; Paus., 5.10.7.
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7.7. Prometheus According to the Attic (?) version of the story of Athena’s birth Prometheus, not Hephaestus, split the scull of Zeus.54 He might have been assisted by one or two Eileithyias acting as ‘obstreticians’, but this is not necessary. 7.8. Hera’s Legal Act In the specific case of Athena’s birth a further, rather sensitive issue has to be addressed: in the very moment of her birth, Athena could be considered as nothing but a bastard! If Hera, the legitimate (and often cheated) wife of Zeus, had not compromised and adopted – through a legal and religious act – the newborn goddess as a full member in the palace on Olympus, this independent birth by Zeus would have ended in a disaster. By suppressing her anger, Hera secures legal certainty and public peace in the community of Gods and offers a blueprint for Athena’s later engagement as protector of the city and generator of a new concept of citizenship.55
8. The Second Prerequisite to Produce an Alternative to the Concept of Gathering Gods We cannot rule out that the sculpture group on the pediment of the eastern facade of the Parthenon was conceived by Pheidias himself. We may, however, underline the fact that this grand picture was the most important and most elaborate image of all European Antiquity. This specific and unique quality demands various and extensive forms of reflections and transformations at least in Roman times.56 8.1. An Overlooked Series of Faithful Copies of the east pediment of the Parthenon: The Riddle’s Solution? All elements required for a mythopoetic and cosm(olog)ical account of Athena’s birth are represented on a specific type of images, which appear on several lids of Roman marble sarcophagi nowadays in Mantua, Perugia, Rome, and St. Petersburg. This type has been named by scholars ‘Capitoline Triad’
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Apollod., Bibl. 1.20 [= 1.3.6]: ὡς δ’ ὁ τῆς γενέσεως ἐνέστη χρόνος, πλήξαντος αὐτοῦ τὴν κεφαλὴν πελέκει Προµηθέως ἢ καθάπερ ἄλλοι λέγουσιν Ἡφαίστου … 55 NB: Hera’s son Hephaestus will be the father of Erechtheus-Erichthonius, the new king and – through his early death – saviour of the city. 56 Cf. BERGER, 1974, 14–15.
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and assigned to the iconographical class of “Vita Romana”57 instead of recognizing the mythical character of the story: Rising Helios accompanied by the morning star, as well as Selene/Night accompanied by the evening star are framing the scenery (see above figs. 6–8). The main action, however, is focused on Hera, who is conducting a sacrifice obviously in order to adopt and legalize the newborn ‘bastard Athena’, who is standing next to her and her husband. Hera, Zeus and Athena pull together and – by acting with such firm ‘celestial’ discipline – found a powerful ‘brand’ for what Athena will offer to the city: a completely revised and extraordinarily successful concept of urban life and citizenship (politeia), which – accompanied by the iconic label of the ‚Capitoline Triad’ – will be become a point of reference not only for the Roman Republic (civitas), but also for post-medieval Europe and finally revolutionary France (citoyen) as well as – in the meantime – the entire globe. Next to this blueprint of what in later time would be referenced as the “Capitoline Triad”, one encounters the triad of fates (Moirai) and in most extant versions the Dioscuri-Anakes,58 protectors of marriage and medical interventions like a Kopfgeburt (craniotomy), who are making an effort to calm down their horses, which are deeply frightened by the supernatural act of the birth of a goddess from the skull of her father in the unexpected appearance of a grownup person in full armour (see above fig. 6, fig. 8). On a majority of these small friezes on the lids of Roman sarcophagi the goddess Agathe Tyche – holding a cornucopia in her left arm – stands next to the triad of Zeus, Hera and Athena and announces wealth as a result of newborn Athena’s future activities. In all preserved “Capitoline Triad” friezes a reclining male deity is represented under or next to the horses of rising Helios. There are no attributes discernible that would indicate a deity connected to a river or the ocean, but only rather schematic rendering of rock. This favors an identification of this deity as a mountain god (Olympus?) rather than as Okeanos, which, however, cannot be ruled out entirely. Olympus would make good sense, since Athena’s birth takes place on Olympus. To sum up the story as told on the sarcophagi: Athena is born from the head of Zeus while the Dioscuri’s horses shy away from the event and Hera sacrifices to legalize the bastard. The Moirai and Agathe Tyche secure the life and 57
Cf. REINSBERG, 2006, cat. 33, 50, 113, 137, 143, 154, 155. A preliminary proposal to connect the subject of the Capitoline Triad with the east pediment of the Parthenon can be found in BRINKMANN, 2016, 52–59. 58 The Dioscuri-Anakes are a very Archaic phenomenon with roots in eastern cultures and are – as we are told by Pausanias – worshipped in Athens in a sumptuously equipped sanctuary next to the Acropolis. According to Pausanias this Anákeion was adorned with paintings by Mikon, showing the Argonauts, and by Polygnotos, depicting the rape of the Leukippides. Statues showed the Dioscuri-Anakes with their horses (Paus., 1.18.1).
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wealth of Athena and her future city. Helios and Selene/Night frame the cosm(olog)ical event and are accompanied by morning and evening stars, who are – by the way – closely linked to the astral aspect of the Dioscuri-Anakes. Lastly, Olympus/Okeanos indicates the location.
9. The “Capitoline Triad” Frieze Type and the Identified and So Far Unidentifiable Fragments of the Parthenon’s East Pediment 9.1. Helios and Selene/Night On the sarcophagi friezes Helios and Selene/Night are framing the scenery as they do in the east pediment of the Parthenon. 9.2. Heosphoros-Phosphoros and (?) Hesperos Two fragments of a child’s leg, fragments of smaller wings59 and conceivably a fragment of a Lyra60 could be connected to Phosphoros or (?) Hesperos, who do appear on most relevant sarcophagi and are represented there close to Helios and Selene/Night or to the Dioscuri-Anakes. If rising Sun and setting Moon on the east pediment are a precise indication of the specific time of the day, namely the morning hour, the evening star should not be present.61 We may not exclude, however, that Hesperos with his lowered torch is a (superfluous) addition of Roman artists. 9.3. The Three Moirai We presume that E, F, G do represent Klotho (E), Lachesis (F) and Atropos (G), since E shows a movement of both arms, which is extremely typical for the spinning process,62 and G’s swift movement – causing her mantle to flutter in the wind – can be traced precisely on Roman sarcophagi showing the birth of Apollo and Artemis in the presence of Zeus and Athena.63 E and F
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Cf. MICHAELIS, 1871, 176, Table 8 figs. 10–11; SMITH, 1910, figs. 143–145, 151–152. Acropolis Museum inv. 6673; DESPINIS, 1982, 37–44. SIMON, 1986, 89 recalls the fact that the lyre is to be connected with a rather young person still attending basic education (“Instrument der Schuljungen”). 61 Stesichorus, Frg. 233 PMGF = 270a DAVIES/FINGLASS informs us that Athena was born early in the morning. 62 Wallpainting in Ostia (DE ANGELI, 1992 no. 34; cf. Klotho on a Roman sarcophagus: AMEDICK, 1991, cat. 273. 63 Rome, Galleria Borghese inv. IV C (BERGER-DOER, 1992 no. 5); Providence, Rhode Island School of Design inv. 21.076 (BERGER-DOER, 1992 no. 4). 60
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are sitting on chests64 covered with folded cloth, which has a perfect parallel on the birth scene of Leto’s children in the Galeria Borghese. 9.4. The Reclining Male Deity Indicating the Locality (D) D cannot be Dionysus65 (as assumed repeatedly in the 20th century), since he is not yet grown up or even born at the time of Athena’s birth.66 Moreover, it is highly improbable that he is lying on a panther skin. The identification of two unspecific elements underneath his mantle, which is covering a steep rock, as paws of a panther can rather be ruled out. Paws of a panther as represented on the south metopes of the same building are nicely detailed and very close to their natural models, while the unspecific swelling forms under the mantle of D could be interpreted more convincingly as water flowing from springs. (Here the springs of the famous river Enipeus fueled by the waters of mount Olympus may come to mind; however, helpful parallels on other monuments are lacking.) The left elbow rests on a steep rock which perfectly represents an impressive mountain (fig. 9). However this may be: it is a fact that even if a panther skin is rendered here, this would not help to identify the figure, since mountain gods lie or sit on panther skins as well.67
64
THIERSCH, 1903, 5–9 proposes that the Moirai sit on rocks, as already did FURTWÄNG1893, 247. 65 FURTWÄNGLER, 1893, 249 presents strong arguments against identifying D with Dionysus. He opts – with several good arguments – for Kephalos, who, according to Hesiod (Theogony 986), is the father of the morning star Phaethon after being seduced by Eos. Both morning and evening star can be present on the “Capitoline Triad” scenes from Roman sarcophagi lids. Kephalos and Eos are represented on Attic vases in most cases with a lyre (cf. WEISS, 1986). If Furtwängler’s identification of D with Kephalos is correct, the question arises whether D was once holding the pedimental fragment of a marble lyre (see here 9.2). 66 Cf. WALDSTEIN, 1885, 144: “How can the heroes and demigods whose relation to Athena is that of enjoyers of her patronage be present at her birth as full-grown men?”. 67 E.g. Munich Glyptothek inv. 251: Roman relief showing cattle and mountain god (FUCHS, 2002, cat. 1); mountain gods on sarcophagi: Rome, Musei Vaticani, Museo Gregoriano Profano. inv.: 9558; Rome, Museo Capitolino inv. 725 (GRASSINGER, 1999, cat. 51); Rome, Musei Vaticani, Museo Gregoriano Profano inv. 9558 (GRASSINGER, 1999, cat. 99); Rome, Museo Nazionale Romano inv. 168186 (GRASSINGER, 1999, cat. 68). LER,
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Fig. 9: East pediment of the Parthenon, male deity (D) reclining on a rock (Olympos/Okeanos), London British Museum, inv. 1816,0610.93.
There are indications that the head of D was remodeled in Roman times.68 Consequently we cannot exclude that D was initially bearded as all local deities on the sarcophagi friezes of the so-called “Capitoline Triad” type are. 9.5. The Dioscuri-Anakes Several fragments, which had already been attributed to the east pediment, can be assigned to the appearance of Kastor and Polydeukes next to the birth of Athena on the Parthenon (fig. 10, fig. 11). This is supported by the fact that the “Horse Tamers” from Monte Cavallo (Quirinal Hill) in Rome obviously represent quite close, but coarse copies of the Dioscuri in the Athenian pediment (fig. 12).
Fig. 10: East pediment of the Parthenon, arm fragment of a male figure with remains of a mantle wrapped around, London, British Museum, inv. 1816,0610.315.
68
Cf. WILLIAMS, 2013, 4–21.
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Fig. 11: East pediment of the Parthenon, fragments of a male right and left leg, Athens, Acropolis Museum, Smith 1910, no. 59, 60.
Fig. 12: Left arm with wrapped mantle of a Horse Tamer from the Quirinal hill in Rome compared with the arm fragment of the east pediment from fig. 10.
From both horses of the Anakes the bodies and fragments of heads and legs are preserved and stored in Athens.69 It is not the first time that they are connected to the east pediment; but their earlier interpretation as part of a biga70 was erroneous, because there is definitely not enough space for that on the
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Cf. SMITH, 1910, 27 no. 188. Fragment Acropolis Museum inv. 851 (SMITH, 1910, no. 188) might belong to the horse of the left Dioscurus. 70 BEYER, 1974, 141–147; cf. JEPPESEN, 1984.
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pediment. As isolated horses71 of the Dioscuri, however, they fit perfectly into this important image of European Antiquity, and through their rearing pose they well convey a fittingly frightful reaction in front of the opening of Zeus’ skull (fig. 13).
Fig. 13: Horse of the left Horse Tamer from the Quirinal hill. Photomontage integrating the fragment of a horse’ body from the east pediment, Athens, Acropolis Museum, inv. 6456.
Torso H, accepted as belonging to the pediment since the middle of the 19th century but erroneously identified as Hephaestus,72 preserves the body of the left Dioscurus-Anax, which is proven by the Roman copy from the Quirinal Hill: its movement and anatomic details, as well as the small part of the freeflowing mantle (which barely touches the left shoulder from behind), evidently connect H to the Quirinal, as had been observed already by Giorgos Despinis.73 Furthermore two fragments of arms partially covered by a mantle 71
Erika Simon postulates a reconstruction of H as Poseidon accompanied by a horse (SI1986, fig. 11). Not incidentally, her drawing resembles the composition and movement of the Dioscuri from the Quirinal Hill, and she also makes the point (pp. 94–95): “Darüberhinaus handelt es sich um ein berühmtes Motiv der klassischen Kunst, das bis zu den Dioskuren vom Monte Cavallo nachwirkte.” 72 See FURTWÄNGLER, 1893, 243–244, who – together with Michaelis and Friederichs – rejects the interpretation as Hephaestus. 73 DESPINIS, 1982, 57. MON,
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fit nicely into a reconstruction of both Dioscuri again based on the comparison with the Quirinal Horse Tamers.74 The left hand, whose thenar is deeply cut by the reins pulled sharply by his abruptly rearing horse, was recently and (in our opinion) erroneously connected to A.75 Three bigger fragments of the naked legs of this Dioscurus (see fig. 11) as well as the middle part of the head of the horse are preserved and stored in the reserves of the Acropolis Museum.76 It is superfluous to emphasize that all related elements here connect precisely with the Quirinal “Horse Tamers”. 9.6. Hera: Angry, but Nevertheless Compromising and Sacrificing Torso Wegner – together with the fragments belonging to it – has been correctly identified as the goddess Hera, wife of the birth-giving Zeus.77 9.7. Zeus Giorgos Despinis ascribed – tentatively and with respect to our arguments incorrectly78 – a big left male hand holding an object perforated with drill holes, to the figure of Zeus on the pediment. (Despinis may be correct however in identifying the object as main part of a thunder bolt.) With much greater probability we may connect a colossal foot, a colossal shoulder and limb - all listed by Smith as fragments of the pedimental sculpture - with the central and tallest statue of the pedimental composition.79 9.8. Athena So far the “Ingres Athena”, or only small fragments like the forepart of a right foot,80 had been assigned. In 1896, Furtwängler argued that the Ingres/Medici Athena is not a Roman copy but the authentic and original statue from the centre of the east pedi-
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SMITH, 1910, no. 1 (London, British Museum, inv. 1816,0610.315); SMITH, 1910, no. 7. SMITH, 1910, no. 27. 76 SMITH, 1910, no. 59, 60. Cf. DESPINIS, 1982, 55. 77 Cf. PALAGIA, 1997 (with older literature). 78 DESPINIS, 1982, 15–21; Despinis came upon this fragment in the reserves of the National Museum of Athens. There is obviously no archival note which would help to assign the hand to the Parthenon. Zeus, however, holds a thunder bolt quite rarely in his left hand. The “Capitoline Triad” friezes from Roman sarcophagi, which we interpret as close reflections of the east pediment, indeed show Zeus uniformly holding the thunder bolt in his right hand, see above 8.1; cf. also MOSTRATOS, 2004, 132–133, who questions the attribution to the Parthenon with good arguments. 79 SMITH, 1910, no. 39, 42 and 43. 80 SMITH, 1910, no. 10. 75
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ment.81 This “Ingres Minerva” exhibits a rare detail – a mantle whose two ends fall from her left shoulder – and is thus closely related to the Athena on the “Capitoline Triad” sarcophagi in Arrezzo, Galleria Borghese Rome, Mantua and Petersburg.82 9.9. Agathe Tyche83 Despinis punctiliously assigned the left female hand holding a broken element to the complex of the east pediment (fig. 14, fig. 15). However, he failed to correctly identify this person: he read the pole-shaped element, with vertical incisions preserved on it, as the remnants of a torch and identified its bearer as Demeter. However, the element taken by the left hand with elegantly spreading fingers is curved and slightly conic and thus not at all compatible with torches, but typical of a cornucopia (fig. 16). Roman statues, like the portrait statue of Livia in Berlin,84 repeat these features faithfully (and may be understood as copies of the very figure of Agathe Tyche from this most important ancient European image display).85 A fragment of a female head with a veil covering the rear part of the hair is preserved and exhibited in the Acropolis Museum. The motif of a veil covering the back part of a female head reappears at the Livia-Fortuna statue in Copenhagen 86 and can also be assigned to the Agathe Tyche statue which we propose for the eastern pediment. A further fragment attributed by Smith and others to the pedimental
81 FURTWÄNGLER, 1896. See however FURTWÄNGLER, 1906, 330 (Here Furtwängler rather takes back his suggestion that the Ingres Athena is the original from the Parthenon east pediment. Following SAUER, 1891, 86 and 89–91, Furtwängler now rules out that Athena stood in the very centre, as he had believed before). FURTWÄNGLER, 1896, 20 (with footnote 4) cites Carl Bötticher, who proposed as early as 1872 that the Medici (Ingres) Athena is a Greek prototype and once belonged to the Parthenon pediments. cf. BEYER, 1974, 138 with footnote 39. 82 See footnotes 47, 49, 56. 83 Agathe Tyche is referred to in texts and inscription of 5th c. BC (Pind., Hymn. Frg. 39; Aeschyl., Ag. 664; Eur., Cycl. 607; IG II 2, 4564) and apparently represented in Attic sculpture as early as the second half of the 5th c. BC, as is presumably proven by a relief now in the reserves of the Archaeological Museum of Aegina town and published by DELIVORRIAS, 1993, 224–227, fig. 1–3 and identified as Tyche, PALAGIA, 1984, 283 no. 805 calls the female goddess equipped with cornucopian as City goddess of Aegina. FURTWÄNGLER, 1896, 21–22 mentions an Attic relief showing a Tyche as counterpart to Athena, which could be a reflex of the Athena from the east pediment of the Parthenon (22: “Athena, als Stadtschützerin der Tyche der Stadt gegenüber, ist ohne Zweifel in einem Typus dargestellt, der gewissermaßen als Wahrzeichen der Stadt gelten könnte“, cf. WOLTERS, 1894, 483-490). 84 Antikensammlung Berlin SK 587; FILGES, 1997, 167 and 304. 85 See here above 7.3. 86 Ny Carlsberg Glyptotek inv. No. 1643; LA ROCCA, 2013, 164–165 and 205, cat. No. III.5.
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sculpture of the Parthenon shows female drapery on the right part of a waist.87
Fig. 14: Fragment of a female left hand once holding a cornucopia, Athens, Acropolis Museum, inv. 5688.
Fig. 15: Curved and conic fragment of the cornucopia, see fig. 14.
Fig. 16: Portrait statue of Livia (?), Berlin, Antikensammlung, inv. SK 587 comparison with the Acropolis Museum hand fragment from fig. 14.
This fragment fits nicely on the right hip of the Copenhagen Livia, which obviously repeats the Agathe Tyche from the east pediment. 87
Acropolis Museum inv. No. 930; SMITH 1910, table 14C 135; cf. CARPENTER 1933, 54–56.
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Agathe Tyche as well as Hera are represented veiled since they are conducting/attending a sacrifice (capite velato). 9.10. Figures in the East Pediment Which are not Repeated on the “Capitoline Triad” Friezes of Roman Sarcophagi 9.10.1. Figure M As we propose a deity indicating locality in the opposite corner of the pediment (D as Okeanos/Olympus), we consequently have to assume that M is to be read as personification of the locality as well.88 A reclining female local deity which can be found in ancient vase painting and mosaics is Attike-Gaia, which will eventually give birth to Erechtheus-Erichthonius, the “son” of Athena and New King of Attica. A common feature of almost all representations of Attike-Gaia, as well as of Gaia and Tellus in general is a specific posture which is characterized by crossed legs.89 9.10.2. Figures K and L Gaia and Tellus are represented in numerous ancient images as surrounded by the seasons (Horai).90 We propose that this feature is again an immediate reflex from the Parthenon’s east pediment. At the time when the Parthenon was erected, the Horai were normally two91 or maybe even three, (Auxo,) Thallo and Karpo, who were equated as early as in the second half of fifth century with the political virtues: (dike,) eunomia and eirene.92 We therefore should not exclude that the Parthenon did present an Attike-Gaia reclining in the lap of ‘Peace’ (L) which is accompanied by ‘Order’ (K) or vice-versa.93 88 As SMITH, 1910, 30 correctly argues, D and M are interconnected since both are placed in the corners and thus not observing Athena’s birth. 89 See footnote 28. (This motif could initially have been a playful and intellectual allusion to the shape of the elongated promontory of Attica.) 90 Arachne database no. 1944 (relief from Trajan’s Arch at Beneventum, showing reclining Tellus with crossed legs and one Season); Arachne database no. 12634 (mosaic showing Helios/Aion in the ecliptic, beneath reclining Tellus with crossed legs and four Seasons). Numerous so-called Seasons sarcophagi show the four Seasons and a small reclining Tellus with cornucopia: Arachne database no. 14218, 38371 cf. KRANZ, 1984) cat. 31, 41; Tellus with two putti on the cuirass of the Prima Porta Augustus (Arachne database 19620); Arachne database no. 25780 (Tellus with crossed legs); Medallions of Commodus: WISSOWA, 1924, 344 fig. 4. 91 Paus., 9.35.1; JEPPESEN, 1984, see footnote 64. 92 Proven by the inscriptions preserved on an altar in Brauron: DESPINIS, 2004. 93 FURTWÄNGLER, 1893, 247 suggests thrones for the Horai; we do, however, recall that Homer states that the Horai were guards of the (automatic) doors of mount Olympus (Hom., Il. 5.479) – hence they might well be sitting on the rocks of mount Olympus!
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9.11. The Waldstein Fragment in Venice as Third Hora? In the late 19th century, Charles Waldstein suggested that the beautiful fragment of a female seated figure in Venice might belong to the Parthenon fragments.94 A recent close reexamination of this object did not yet produce a final opinion. The state of preservation is much better than in the case of all other statues and fragments attributed to the Athenian pediments, a fact which makes a reliable comparison of style rather difficult.95 Nevertheless there is a strong new argument, which could support an assignment of the Venice fragment to the Parthenon: a rather voluminous part of the seat was sculpted separately. Absolutely similar to east figure Q,96 there is a rectangular cutting with smoothed surfaces preserved – a rare feature not very frequently found in other Greek and Roman sculpture. Thus we cannot exclude that this seated female figure might once have been the right-hand side neighbour to Q or rather the left-hand side neighbour to K and as such possibly representing the third Hora (Auxo/dike?).
10. Conclusions The observations on the pedimental sculptures and associated fragments of the Parthenon presented here in a preliminary and sketchy manner are to be understood as the first phase of a larger research project (fig. 17). A precise measurement and 3D-Scanning of all the sculptures and fragments has to follow soon in order to prove our assumptions by double checking their dimension, arrangement, and position in relation to the space offered by the pediment.97
94
WALDSTEIN, 1880. On all Parthenon sculpture, which had been attributed to the pediments so long, the ridges of the folds are broken, a fact that irritates completely and evokes a misleading stylistic idea. FURTWÄNGLER, 1893, 229 thinks the Venice fragment is later because of its style; perhaps, however, he overlooks the big difference in its state of perservation, which makes a comparison of styles more difficult. 96 K, too, had been cut in the area of the seat, however in an irregular shape. 97 In 1985, the authors of this preliminary text together with Alekos Mantis have undertaken a reexamination in raking light of all traces left behind by the sculptures on the upper surface of all horizontal blocks which do survive of the eastern pediment. The resulting photographs have been studied carefully. It seems, however, that no new evidence, which might add to the already existing knowledge based on the endeavour of SAUER, 1891, 59–71, can be produced. 95
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Fig. 17: Photomontage of the East pediment of the Parthenon: hypothetical reconstruction using the model of K. Schwerzek (1896) overlaid with elements from the Mantua Sarcophagus from fig. 6. Indication of the participants’ identity as proposed in this essay.
Moreover, a systematic examination of Roman copies and adaptations of Greek prototypes showing the gods to which we refer in this study will contribute – as the Horse Tamers of Monte Cavallo already gave an example – to develop a much more precise idea of the missing sculptures in the eastern pediment of the Parthenon.
Delphi in der späteren Antike und Spätantike Vincent Déroche 1. Zur Einführung Delphi in seiner späten Periode darzustellen ist paradoxerweise umso schwieriger, je länger man – in diesem Fall seit etwa dreißig Jahren – über dieses Thema gearbeitet hat: Die Lücken in unserem Wissensstand erscheinen mir heute viel deutlicher als 1983, als ich begann, mich mit Delphi zu beschäftigen, und es ist kein Zufall, dass die Abhandlung, die ich der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres im Jahre 1986 vorlegte, noch nicht zu einer Publikation geführt hat. Ein wirklicher Gesamtüberblick ist zur Zeit unmöglich, aber eine kurze Bilanz kann nützlich sein, im Sinne der Liste offener Fragen, die mit beachtenswerter Klarheit P. Amandry 1981 aufgestellt hat,1 wenn auch die Antworten heute noch nicht vollständig sein können. Das Thema selbst hat den Vorzug, dass es zu dem Versuch einlädt, Delphi in dieser Epoche nicht als Ansammlung von unterschiedlichen Gebäuden zu betrachten, sondern als städtisches Phänomen, eine Stadt, die in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen werden sollte. Gerade in den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Studien über die früheren Epochen von Delphi erschienen, die ebenfalls einen umfassenderen Zugang zu der Stätte entwickelten, was Vergleiche erlaubt.
2. Das römische Delphi Das erste Problem, dem man beim Studium des späten Delphi begegnet, ist die Schwierigkeit, die wir haben, uns das römische Delphi in allen Einzelheiten vorzustellen, trotz Plutarch und trotz der epigraphischen Studie von D. Rousset:2 Die Geschichte der Bauten dieser Zeit muss noch weitgehend geschrieben werden, trotz ihrer manchmal beeindruckenden Ausstrahlungskraft am Ort, und auch diejenige der Weiterverwendung der früheren Gebäude verdiente eine Studie. Der hervorstechendste Zug ist ein Bauprogramm an der Ostflanke des Peribolos, das schon früh die Aufmerksamkeit von R. Gi1 2
AMANDRY, 1981, 722–740. ROUSSET, 2002.
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nouvès auf sich gezogen hatte; unglücklicherweise veröffentlichte er nur eine recht kurze Studie über die Ost-Thermen, die seine der Académie vorgelegte Abhandlung nur zum Teil wiedergibt.3 Von oben nach unten sind die OstThermen und die „römische Agora“ Bauwerke von unbestreitbar öffentlichem Charakter, und das „Peristylhaus“ auf dem dazwischenliegenden Niveau ist es vielleicht auch. Die „römische Agora“ ist wahrscheinlich keine Agora im politischen Sinne des Begriffs, wie man sie kürzlich unterhalb der Stoa der Athener identifiziert hat,4 sondern ein Geschäftsarel, das an einem der Eingänge des Peribolos gelegen war. Die Ausgrabungen5 haben bisher keine Spur einer Anlage vor der römischen Zeit gefunden, was so nahe am Heiligtum immer noch erstaunt; wahrscheinlich haben die Terrassierungsarbeiten die früheren Verhältnisse verdeckt oder zerstört. Die erste Phase ist nur durch einen ionischen Säulengang aus blauem Marmor von Levadia aus dem 2. Jahrhundert datierbar;6 sie muss die Ost-West-Mauer aus großen Blöcken ohne Mörtel erklären, die als hintere Mauer gewisser Ladenlokale erscheint, unter der Mauer der zweiten Bauphase und mit einer leicht unterschiedlichen Orientierung. Der Fund eines Antenkapitells kleiner Größe weist auf ein zweites Stockwerk mindestens an einigen Stellen hin, wie in der folgenden Bauphase. Dieser erste Bauzustand erlebte eine Katastrophe: Die Mauern der zweiten Phase enthalten Säulenfragmente aus blauem Marmor, deren Untersuchung erwiesen hat, dass sie der Hitze eines Brandes ausgesetzt worden waren. Anders gesagt: nach einer teilweisen Zerstörung hat man, was man konnte, von dem Säulengang wieder verwendet, und den derzeit sichtbaren Bauzustand hergestellt.7 Dieser hatte zwei Phasen: die erste in einem opus incertum mit Oberkanten aus Ziegelsteinen, die zweite in einem sehr charakteristischen Mauerwerk, nämlich von der Art „cloisonné“ („abgetrennt“), wobei jeder Baustein von rautenförmigen Ziegelfragmenten eingerahmt ist. Der Grundriss wurde aus Gründen der Symmetrie wiederhergestellt; man kann annehmen, dass der Grundriss der ersten Bauphase ungefähr identisch war (außer für die Nordmauer, wie wir gesehen haben) aufgrund der symmetrischen Achse, die durch den Eingang der Heiligen Straße vorgegeben ist, und weil sich die Läden ebenfalls auf der Südseite befanden. Die Grenze im Osten ist klar, aber der Erhaltungszustand ist so, dass man eine Öffnung annehmen muss, die derjenigen des Peribolos im Westen entsprach; die heutigen Touristenpfade führen in Wirklichkeit durch die Bau3
GINOUVÈS, 1955. JACQUEMIN/LAROCHE, 2014. 5 Siehe Bulletin de Correspondance Hellénique 115, 1991, p. 700–702; 116, 1992, 709– 711; 117, 1993, 641–44; 118, 1994, 423–28. Plan bei BOMMELAER 1991, 25 fig. 91. 6 DÉROCHE, 1992. 7 Der Säulengang muss durch neue Stücke ergänzt worden sein, die wir aber nicht identifizieren können. 4
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werke hindurch und haben mit den antiken Verkehrswegen nichts zu tun. Die Datierung dieser zweiten Bauphase ist schwierig; eine Lampe des 3. Jahrhunderts n. Chr. wurde im Wasserkanal der Nordwest-Ecke gefunden und liefert immerhin einen terminus ante quem für die erste Phase des zweiten Bauzustandes. Die zweite Phase erhält einen anderen terminus ante quem dank des östlichsten Ladenlokals, das vermauert und aufgefüllt wurde, weil eine der Mauern Risse bekam und einzustürzen drohte. Die Keramik dieser sehr speziellen Auffüllung ist ein kohärentes Ensemble aus der Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr., das den Riss mit dem berühmten Erdbeben von 365 in Verbindung bringen lässt. Die Läden können gleichzeitig auch Werkstätten gewesen sein, wie auf dem Markt in Sardes8 (eine lieferte „Tränen“ aus Glas, was auf eine Glasbläserwerkstatt deutet), aber mehrere Bestimmungen sind möglich. In jedem Fall geht diese „Agora“ selbst in ihrer letzten Phase der Christianisierung voraus. Das sehr zerstörte „Peristylhaus“ folgt einem sehr geläufigen Plan für einen Wohnbau gehobenen Standards. Der Säulengang aus blauem ionischem Marmor von Levadia, der aus derselben Werkstatt wie der Säulengang der „Agora“ stammt, wirft aber die Frage auf, ob es sich nicht um ein öffentliches Gebäude handelt, aus zwei Gründen: Das Gelände liegt zwischen zwei öffentlichen Arealen, den Thermen und der „Agora“, und ein weiterer ionischer Säulengang, ebenfalls aus derselben Werkstatt, ist derjenige der römischen Wiederherstellung der gedeckten Laufbahn des Xystos, der stets ein öffentlicher Bau ist.9 Unter dem Hof des Hauses erscheinen die Mauern einer früheren (hellenistischen?) Bauphase. Die Gruppe der wichtigen Bauten, die ionische Säulengänge aus blauem Marmor enthielten – „Agora“, Peristylhaus und Xystos – gehören nicht zwingend zu ein und demselben Bauprogramm, aber sie sind sicher zeitlich sehr nahe, nehmen die gleiche Werkstatt in Anspruch und lassen die Frage nach der Finanzierung aller dieser Gebäude aufkommen: Konnte die Stadt Delphi ausreichende Mittel für sie aufbringen? Man ist versucht, sie kaiserlicher Freigebigkeit zuzuschreiben; in diesem Fall wäre Hadrian der wahrscheinlichste Mäzen.10 Die Ost-Thermen sind durch die Studie von R. Ginouvès sicher in das 3. Jahrhundert n. Chr. datiert. Ihr auffälligstes Charakteristikum ist die Wiederverwendung der Attalos-Stoa als Wasserreservoir: Dieser Eingriff über den Peribolos und auf einen Besitz des Gottes geht der Christianisierung erheb8
Siehe CRAWFORD, 1990. Siehe DÉROCHE, 1989b. Der Unterschied in der Ausführung und vor allem in der Erhaltung erklärt sich durch die Verwendung einer Marmorart im Xystos, die von weißen Adern durchzogen ist und die empfindlicher und frostrissiger ist. 10 Plutarch, Pyth. or. 29, 409b weist in der Tat auf Zuwendungen dieses Kaisers für Delphi hin, ohne dies zu präzisieren, und der Stil der Säulengänge ist mit der Zeit Hadrians vereinbar – und dies sind wahrscheinlich die Gründe, weshalb J. Jannoray ihm den Säulengang zugeschrieben hat, ohne dies zu präzisieren. 9
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lich voran. Die Frage nach der Belegung dieses Areals bleibt rätselhaft: War es bereits ein öffentliches Gelände? Die gut erhaltenen Böden der Thermenanlage haben dem Aushub der Grande Fouille11 Einhalt geboten; Sondiergrabungen wären sinnvoll. Der römischen Zeit sollte man außerdem das Heroon im Westen, Gräber12 und wahrscheinlich mehrere der noch sichtbaren Wohnbauten von Kastalia bis zum heutigen Museum zurechnen. Ein vollständiger Katalog der verstreuten Stücke der römischen Bauplastik in Delphi würde wahrscheinlich einen ersten Eindruck von der Bautätigkeit der römischen Gemeinde Delphi vermitteln, die man bisher noch wenig kennt. Als Beispiel sei auf eine Gruppe korinthischer Kapitelle qualitätvoller Ausführung hingewiesen, wahrscheinlich aus dem 3. Jahrhundert n. Chr.,13 die sich keinem bekannten Gebäude zuweisen lässt, und auf ein unpubliziertes Kapitell eines bekannten Typs mit Hathor-Kopf. Die ebenso gut bezeugte wie ungeschickte Wiederinstandsetzung des Apollon-Tempels scheint auf die hohe Kaiserzeit und nicht auf einen Konflikt mit den Christen zurückzugehen. 14 Die Inschriften, die auf die Rückwand des Xystos aufgemalt waren, bezeugen die Kontinuität der Pythischen Spiele.15 Der Codex Theodosianus bewahrt noch die Spur einer Klage der Delpher gegen die Erpressung von Geldern durch Korinth für seine eigenen Spiele.16
3. Spuren der Christianisierung Wie konnte sich in dieser offensichtlich blühenden Stadt die Christianisierung abspielen? Diese ist gut bezeugt durch die Erwähnung eines Bischofs im Synekdemos (Verzeichnis der Provinzen des römischen Reichs unter Kaiser Justinian) des Hierokles und bestätigt durch die Grabinschrift einer Diakonisse in Delphi. An archäologischem Material haben wir die Spuren von drei spätantiken Basiliken in Delphi.17 Die älteste stammt aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts n. Chr. und ist durch fein gezahnte („theodosianische“) 11
Gemeint sind die französischen Ausgrabungen unter der Leitung von Théophile Homolle 1891–1903. 12 Man beachte vor allem die Arcosolium-Gräber in den Felsen des Hügels westlich der Stätte, die jetzt vom modernen Dorf umschlossen sind. 13 Siehe DÉROCHE, 1987. 14 Siehe DÉROCHE, 2005. Die beschädigte Inschrift, die teilweise eine Antwort der Prätorianerpräfekten der Söhne Konstantins an den Hohepriester Apollons enthält, ist im strikten Sinne noch unpubliziert. Es scheint nicht, dass sie auf einen religiösen Konflikt um den Tempel hindeutet, siehe ATHANASSIADI 1989–1990. 15 Siehe QUEYREL, 1992. 16 Cod. Theod. XV 5,4. 17 Die Beschreibung der Gebäude und der Blöcke ist in DÉROCHE, 1989a zu finden.
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Akanthuskapitelle charakterisiert; sie ist nur durch Architekturteile bekannt, die auf der Stätte verstreut sind und von denen J. Laurent das wichtigste bereits inventarisiert hatte.18 Ihr Standort ist also unbekannt, aber der Vorschlag von D. Laroche und P. Petridis, sie in die unausgegrabene Zone im Osten der römischen Agora zu platzieren, ist interessant.19 Es handelte sich zweifellos um die Bischofskirche im eigentlichen Sinn. Im ersten Drittel des 6. Jahrhunderts wird die Palästra des Gymnasiums dem Erdboden gleichgemacht und dort eine bescheidene Basilika errichtet, deren Architekturteile alle aus thasischem Marmor sind. Die ionischen Kämpferkapitelle scheinen dennoch sehr grob an Ort und Stelle umgearbeitet worden sein. Ungefähr zur selben Zeit wird eine noch bescheidenere Basilika am Eingang des modernen Dorfes errichtet; die Armseligkeit der Architekturteile, die Wiederverwendungen oder sehr grobe Kopien sind, stellen einen Gegensatz zur Anmut des Mosaiks dar. Die Nähe zur Westnekropole, insbesondere zu den Arcosolium-Gräbern im Felsen direkt im Norden, lässt an eine Friedhofskirche denken. Es kann sein, dass es noch weitere Kirchen gegeben hat, die uns entgehen: Mehrere Architekturteile können noch keiner dieser drei Basiliken zugeschrieben werden.20 Diese rasche Bestandsaufnahme zeigt eine für eine Provinzstadt in der Ägäis zu dieser Zeit sehr gewöhnliche Situation, nämlich die Errichtung einiger Basiliken zwischen 450 und 550. Delphi hat nichts Spezifisches, seine außergewöhnliche heidnische Vergangenheit scheint keine entscheidende Auswirkung auf den baulichen Ausdruck seiner Christianisierung gehabt zu haben.21 Wie oft in Griechenland scheint diese keine Spuren von Gewalt hinterlassen zu haben, oder jedenfalls nur sehr wenige: Es steht fest, dass der Apollontempel nicht von den Christen zerstört und noch weniger in eine Kirche umgewandelt wurde. Die Einritzung von Christusmonogrammen auf dem Altar von Chios ist eines der seltenen Zeichen eines Exorzismus von Gebäuden von der vorangehenden Religion, und es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass er die Stätte der blutigen Opfer getroffen hat. Zudem kann man mit E. Bourguet annehmen, dass der Zustand besonders fortgeschrittener Zerstörung im hinteren Teil der Cella, wo sich das Adyton und daher die 18
LAURENT, 1899. Aber nicht das ganze von J. Laurent katalogisierte Material stammt von dort, insbesondere nicht die sehr merkwürdigen dorische Kämpferkapitelle, die ohne Parallelen bleiben. 20 Die Arbeit wird durch ein in Delphi geläufiges Phänomen erschwert, die Versetzung von Architekturblöcken – besonders von Material der Basilika des 5. Jahrhunderts n. Chr. – in wahrscheinlich neuerer Zeit aus Gründen, die uns entgehen. Im Fall der frühchristlichen Blöcke ist die Wiederverwendung in mittelalterlichen oder modernen Kirchen ein zusätzlicher Faktor. 21 Außer in Einzelheiten, wie etwa den dorischen Kämpferkapitellen, die man versucht ist auf eine Nachahmung antiker Monumente des Ortes zurückzuführen. 19
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Orakelbefragung befanden, den Christen zuzuschreiben ist, aber Gewissheit gibt es hier nicht.22 Zur Zeit der Erbauung der großen Basilika des 5. Jahrhunderts war die Christianisierung sicher bereits sehr weit fortgeschritten, aber sie kann erheblich früher angefangen haben – die letzte sichere Bezeugung des Heidentums in Delphi ist eben der Brief der Prätorianerpräfekten der Söhne Konstantins. Das Verbot der Opfer und anderer heidnischer Rituale im Jahr 392 wird oft für ein entscheidendes Datum gehalten. Eine Töpferwerkstatt des 5. Jahrhunderts auf der Rennbahn des Xystos zeigt das Ende des Betriebs im Gymnasium an. Der Bau der zu Unrecht so genannten „Heiligen Straße“ könnte ein chronologisches Indiz liefern: Diese Straße, die ein kontinuierliches Gefälle hat, beseitigt die Stufen der antiken Straße und achtet ihren Verlauf zumindest im Abschnitt des Halos-Platzes nicht, da sie geplant wurde, um das Areal des nunmehr entweihten Heiligtums dem Fuhrverkehr zugänglich zu machen. Geldwechsler richteten sich im Athenerschatzhaus ein, ein Töpferofen und eine Glasbläserwerkstatt im unteren Teil der „Heiligen Straße“, Stelen mit Inschriften wurden ohne Skrupel als Straßenpflaster wiederverwendet, und in der Nische des Krateros wurden Thermen eingerichtet. Die Grande Fouille hat wahrscheinlich Spuren weiterer solcher Wiederverwendungen verschwinden lassen, da sie mit modernen Bauten verwechselt wurden. Allerdings befinden wir uns in einem logischen Zirkel: Die „Heilige Straße“ ist allenfalls durch die wiederverwendeten Inschriften zu datieren; nun sind aber die jüngsten aus dem 3. Jahrhundert n. Chr., während dieser Umbau nur nach 392 vorstellbar ist.23 Die zahlreichen Erwähnungen von Delphi in patristischen christlichen Texten geben uns ebenfalls keinen Aufschluss: Diese Polemiken verweisen auf das literarische Bild eines heidnischen Delphi, das antiken Textquellen entnommen ist, und wissen nichts von der Lage auf dem Gelände.24 Die Parallelen aus der ganzen Region lassen annehmen, dass das Christentum im Lauf des 5. Jahrhunderts die Mehrheits- und schließlich die dominierende Religion wurde, und kein Anzeichen auf dem Gelände widerspricht dem zur Zeit. Delphi scheint nicht in der Situation Athens gewesen zu sein, wo eine Menschengruppe, die mit der philosophischen Tradition verbunden 22 BOURGUET, 1914, 250–251. Man weiß, dass die auf Stützbalken beruhenden Substruktionen des klassischen Tempels, die Hohlräume unter dem Boden lassen, die Einwohner des 19. Jahrhunderts zur Schatzsuche veranlassten, ganz zu schweigen von der Jagd nach Metallklammern: Der Stand der Zerstörung dieser Zone könnte sehr wohl eine prosaische Erklärung haben. Meines Wissens gibt es keinen Fall einer vorsätzlichen Verstümmelung eines Architekturteils. 23 Ich weise darauf hin, dass L. Lavan eine teilweise Entweihung seit dem 4. Jahrhundert, von 324 an, in Erwägung zieht: Public Space in the Late Antique City, (erscheint im Frühjahr 2021), Bd. 2; er plant eine Studie über die Wiederverwendungen an der Stätte von Delphi in der Spätantike. 24 Für ein kurzes Fazit siehe DÉROCHE, 2005.
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war, eine minoritäre, aber reale pagane Präsenz bis in die Mitte des 5. Jahrhunderts erhalten hat, wie das von Marinos verfasste Leben des Proklos bezeugt.
4. Das Delphi der Spätantike Die Stadt der Spätantike beschränkt sich aber nicht auf das religiöse Leben. Eines der auffälligsten Phänomene bei der Beobachtung der Oberfläche ist die Ausdehnung des Wohnbereichs in der „römischen“ Zeit: Gebäude in opus incertum erstrecken sich bis zur Kastaliaquelle im Osten und bis zu der römischen Nekropole im Westen. Ohne Ausgrabungen ist es unmöglich, dieses Phänomen mit Sicherheit eher der Spätantike als der hohen Kaiserzeit zuzuschreiben, aber das Mauerwerk spricht eher für eine jüngere Datierung. Delphi scheint in dieser Zeit seine größte Ausdehnung erreicht zu haben, und die Wiederverwendung des alten paganen Heiligtums bestätigt die Vorstellung einer dichten Wohnbebauung, wo man sich den Platz streitig machte. Die Stätte hat natürliche Grenzen, die von Strabons25 Beschreibung bestätigt werden, der die Stadt in Form eines Theaters schildert: Das Wohngebiet ist im Norden und im Osten von den Phädriaden begrenzt, im Westen vom Sporn der „Festung des Philomelos“, im Süden von der Abschüssigkeit des Hangs, die die Ausdehnung von Bautätigkeit verhindert.26 Eine Mauer, die sicher „spät“ datiert werden kann, versperrt den östlichen Zugang zur Stätte, im Osten des Gymnasiums, aber sie liegt direkt auf dem Felsgestein und kann daher zur Zeit nicht archäologisch datiert werden; die zwei möglichen Anlässe ihrer Erbauung sind der Herulereinfall des 3. Jahrhunderts oder derjenige der Goten im 5. Jahrhundert. Eine kürzlich erfolgte Ausgrabung durch N. Kyriakidis hat bestätigt, dass die antike, dem phokischen General Philomelos zugeschriebene, Festung im Osten in der Spätantike wieder aufgebaut wurde. 27 Die luxuriösesten Gebäude wurden von P. Pétridis registriert28 und verteilen sich über fast die ganze bekannte Stätte. In der noch nicht ausgegrabenen Zone im Osten, gegen die Kastalia hin, erahnt man in Sondierschnitten Mosaikfußböden, die auf ein vergleichbares Wohngebiet hindeuten. Mangels Besserem muss man sich an das einzige Gebäude halten, das gründlich ausgegraben werden konnte, im Südosten des Peribolos.29 In diesem Abschnitt befand sich zunächst ein bescheidenes Gebäude 25
Strab., IX 3,3 (πετρῶδες χωρίον θεατροειδές). Diese Südgrenze liegt nur wenig unterhalb der modernen Straße; der Fußweg der Touristen, etwas oberhalb, entspricht dem Niveau des spätantiken Verkehrs. 27 Siehe KYRIAKIDIS, 2014 und KYRIAKIDIS, 2015–2016. 28 Siehe PÉTRIDIS, 2005. 29 Siehe BADIE/DÉROCHE/PÉTRIDIS 2014. 26
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der hohen Kaiserzeit;30 im 4. Jahrhundert wurden ein oder mehrere Wohnbauten gehobenen Standards eingerichtet, mit Mosaikböden und Räumen mit Apsis, die auf triclinia, Empfangsräume, hindeuten. Dieses Gebäude blieb mit Umarbeitungen bis in die Mitte des 6. Jahrhunderts bestehen. Der generelle Eindruck, der sich aus diesem Bild ergibt, ist also der eines wirklichen Wohlstandes, den man nicht mehr den ökonomischen Auswirkungen des Orakels zuschreiben kann: Woher kommt er? Die einfachste Erklärung ist die allgemeine Entwicklung der östlichen Reichshälfte, die nach der Krise des 3. Jahrhunderts schneller als der Westen wieder zu wirtschaftlichem und demographischem Aufschwung zurückfand, bis zum Schlusspunkt durch die Justinianische Pest seit 541. Die nächstgelegene Stadt, Amphissa, erlebte ebenfalls eine wahre Blüte in dieser Epoche. Aber es kann dafür auch eine lokale, spezifischere Erklärung geben, nämlich die Wiederaufnahme der Bewirtschaftung des dem Apollon geweihten Landes nach dem Verfall seines Kultes. Die Keramik dieser Epoche bestätigt mit einer starken lokalen Produktion diesen Eindruck von Wohlstand.31
5. Das Ende des antiken Delphi Diese Siedlung verfällt wie der Rest Griechenlands von der Mitte des 6. Jahrhunderts an, aber wir können den Prozess nur auf einem kürzlich ausgegrabenen Abschnitt im Südosten des Peribolos verfolgen. Dieses Wohngebiet wurde gegen die Mitte des 6. Jahrhunderts zumindest teilweise aufgegeben, mit einer Räumaktion, deren Überreste man in einer Zisterne findet. Danach, von etwa 580 bis 620, werden dort Werkstätten eingerichtet, vor allem von Töpfern mit Öfen und Abfallhalden von Keramik, die mehrere Räume füllen. Dies ist ein unzweifelhaftes Zeichen für die Verkleinerung der Wohnbebauung: Da die gefährlichen Tätigkeiten der Töpfer außerhalb der städtischen / urbanen Zonen liegen, ist dieser Sektor also zu der Zeit außerhalb des Wohngebiets. Dessen Ausdehnung entzieht sich uns; man kann nur gerade feststellen, dass es immerhin bedeutend genug war, um die Produktion dieser Werkstatt aufzunehmen. Schließlich belegen Gräber einen Teil des Areals mit Beschlag. Keine Spur von Gewalt kennzeichnet das Ende der menschlichen Nutzung, wie übrigens auch auf dem Rest der Stätte: Delphi wurde offensichtlich nicht von den Slaven zerstört, die in Griechenland von 580 an zahlreich sind, aber es ist wahrscheinlich, dass es ihr Vordringen war, das das 30
Es ist nur im zentralen Teil der Thermen erhalten, auf einem höheren Niveau als die Gebäude im Osten und Westen, die seine Spuren durch Abtragung ausgelöscht haben müssen. Im Osten liegt das neue Gebäude nur wenig oberhalb einer archaischen metallverarbeitenden Werkstatt. 31 Siehe PÉTRIDIS 2010.
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Ende der Stätte nach sich zog. Einige Funde von Keramik und vor allem von Münzen bezeugen eine erneute Nutzung im Mittelalter, aber da ist es nurmehr eine einfache unspektakuläre ländliche Stätte. Die Erinnerung an das Heiligtum von Delphi wird erst mit dem Besuch des Cyriacus von Ancona im 15. Jahrhundert wiederhergestellt.
2. Das Orakel und seine ‚Funktionsweise‘
Theophania, Theoria, Thusia Rethinking the Delphic Experience Hugh Bowden 1. Introduction Consultation of the Delphic oracle by Greek cities has generally been considered by scholars as a fundamentally political process.1 This is unsurprising given the nature of the evidence presented primarily in the texts of historians (most obviously Herodotus, Thucydides, and Xenophon), but also in Attic tragedy. In Athens the decision to consult the oracle, the question to be asked, and sometimes even the possible answers, would have been decided by the assembly, and one can assume similar practices in other cities. This is the picture presented both by the literary accounts of consultations, in Herodotus and later historians, and also in the limited epigraphic evidence. On the basis of this evidence, attention has been focused on the construction of the questions, and the nature of the answers given by the Pythia.2 Comparison with divinatory practices in other cultures have inevitably concentrated on what they have in common with consultations of Delphi (the questions and answers) rather than on where they differ (in particular the nature of the surrounding ritual).3 This approach therefore has tended to underplay the importance of what actually took place at Delphi on the occasion of a consultation. In this chapter I want to look at the broader context of what was happening at Delphi on the days when the oracle was giving answers, and to suggest that we need to think more about what the cities that sent envoys to Delphi understood themselves to be doing. I will start with a description of how the God of Delphi saw the oracle’s function, taken from the Homeric Hymn to Hermes: As for humans, I shall harm one and profit another as I lead their countless peoples this way and that. He will profit from my utterance who comes on the cry or the flight of valid omen birds: that man will profit from my utterance, and I shall not deceive him. But he who puts his trust in birds of vain utterance, and wants to enquire after a prophecy beyond
1
Cf. most recently TRAMPEDACH, 2015. E.g. FONTENROSE, 1978. 3 E.g. PARKER, 1985; BOWDEN, 2005. 2
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my intention, and to know more than the eternal gods, I declare he will journey for nothing, though I shall take his offerings. (Homeric Hymn to Hermes 541–9, translation M.L. West) 4
In this speech Apollo announces to his half-brother Hermes his plans for an oracular shrine. Although here he does not mention it by name, it is clear from the context that he is referring to Delphi.5 The passage draws attention to a number of aspects of the consultation of the Delphic oracle that we will consider in this chapter. These include the importance of travelling to the oracle, the offering of gifts in the form of sacrifice, and the role of birds. But it also raises a challenge to the generally accepted explanations for why Greek cities consulted the oracle. It is usually assumed that the Delphic oracle was the most prestigious of all Greek oracles, and that its prestige was an indication of its reliability.6 But Apollo here states that not everyone who comes to Delphi will receive a truthful answer, even if his sacrifice is accepted by the god.7 If there was no guarantee that an oracular response from Delphi could be trusted, why did cities consult the Delphic oracle, when there were other forms of divination available closer to home? We can approach an answer to this question by considering what else the cities would have got from sending an embassy to Delphi.
4
ἀνθρώπων δ᾽ ἄλλον δηλήσοµαι, ἄλλον ὀνήσω, / πολλὰ περιτροπέων ἀµεγάρτων φῦλ᾽ ἀνθρώπων· / καὶ µὲν ἐµῆς ὀµφῆς ἀπονήσεται, ὅς τις ἂν ἔλθῃ / φωνῇ τ’ ἠδὲ ποτῇσι τεληέντων οἰωνῶν· / οὗτος ἐµῆς ὀµφῆς ἀπονήσεται, οὐδ᾽ ἀπατήσω· / ὃς δέ κε µαψιλόγοισι πιθήσας οἰωνοῖσιν / µαντείην ἐθέλησι παρὲκ νόον ἐξερεείνειν / ἡµετέρην, νοέειν δὲ θεῶν πλέον αἰὲν ἐόντων, / φήµ᾽ ἁλίην ὁδὸν εἶσιν, ἐγὼ δέ κε δῶρα δεχοίµην. 5 The scene is set near Pylos, but Apollo goes on to refer to other prophetic activity near Parnassos (555). In the Homeric Hymn to Apollo it is at Pylos that Apollo intercepts the Cretans who will become his first priests (397–399), and he indicates that Delphi will be the place where he expects to receive gifts in the form of sacrifices (536–537). 6 E.g. MAASS, 1993, 1. 7 Cf. Euripides’ Ion, where Apollo apparently gives false information to Xuthos. Other texts can be adduced that appear to refer to Apollo’s reliability, e.g. the Homeric Hymn to Apollo, τοῖσιν δ᾽ ἄρ᾽ ἐγὼ νηµερτέα βουλὴν / πᾶσι θεµιστεύοιµι χρέων ἐνὶ πίονι νηῷ (‘and I would dispense unerring counsel to them all, issuing oracles in my rich temple’, 292–293); or Pindar, ψευδέων δ᾽ οὐχ ἅπτεται (‘he does not engage in falsehoods’, P. 3.29); or Orestes’ description, ἄναξ Ἀπόλλων, µάντις ἀψευδὴς τὸ πρίν (‘King Apollo, who was never before a false prophet’, Aeschyl., Cho. 559); or that of the Chorus in Iphigeneia in Tauris, referring to Apollo at Delphi ἐν ἀψευδεῖ θρόνῳ (‘on his never-deceiving throne’, Eur., IT 1254); cf. Hdt., 1.49. The inconsistency of description cannot, and should not be explained away.
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2. Theophania I want to begin by considering the Delphic festival of the Theophania.8 This is known to us from a reference in Herodotus, describing the gold and silver mixing bowls dedicated at the sanctuary by Kroisos of Lydia. When these offerings were ready, Kroisos sent them to Delphi, with other gifts besides: namely, two very large bowls, one of gold and one of silver […] Now the golden bowl, which weighs eight and a half talents and twelve minae, is in the treasury of the Clazomenians, and the silver bowl at the corner of the forecourt of the temple. This bowl holds six hundred amphorae: for the Delphians use it for a mixing-bowl at the Theophania. (Hdt., 1.51.11–12)9
This is the only certain surviving reference to the festival.10 There are later epigraphic references to a festival of the same name in Chios, and it is possible that this took its name from the Delphic festival.11 Nonetheless, the name of the festival gives a clear indication of what the festival is likely to have involved. Although other suggestions have been put forward, 12 the most likely explanation for the function of the festival at Delphi was to celebrate the annual return of Apollo to Delphi from the land of the Hyperboreans. The date of the god’s reappearance is most plausibly identified with the first day of functioning of the Delphic oracle on 7 Bysios.13 It has been suggested that this festival was the most likely occasion for the performance of a lost Paian by Alkaios known to us from an oration of Himerios.14 We will consider this passage later, but Alkaios depicts a scene of noise and music as nature (in the
8
PFISTER, 1934a; PETRIDOU, 2016, 275–277. ἐπιτελέσας δὲ ὁ Κροῖσος ταῦτα ἀπέπεµπε ἐς Δελφούς, καὶ τάδε ἄλλα ἅµα τοῖσι, κρητῆρας δύο µεγάθεϊ µεγάλους, χρύσεον καὶ ἀργύρεον ... τῶν ὁ δὲ ἀργύρεος [κεῖται] ἐπὶ τοῦ προνηίου τῆς γωνίης, χωρέων ἀµφορέας ἑξακοσίους· ἐπικίρναται γὰρ ὑπὸ Δελφῶν Θεοφανίοισι. 10 The inscription recording the agreement between the people of Skiathos and the Delphians (CID 1.13.24–9) refers to a festival: Δελφṑ|ς δὲ [π]αρέχεν Σκια|θίο[ι]ς ἱστιατόρι|[ο]ν, ξύ̣λα, ὄξος, ἅλα· Θ|[εοξε]νίοις δὲ τὰς | [µοίρ]ας διδόµεν. AMANDRY, 1939 proposed that this was a reference to the Θεοξενία. He accepted the view of earlier scholars that this was the festival Herodotus meant (AMANDRY, 1939, 209, cf. AMANDRY 1944/5, 414). There is no good reason for making this assumption (DEROW/FORREST, 1982, 84), and it would be possible to restore the inscription as naming the Θεοφανία, thereby giving us a second reference to the festival. 11 DEROW/FORREST, 1982, 83–84. The Chian festival may have celebrated a specific divine appearance: GARBRAH, 1986. 12 E.g. LSJ s.v. Θεοφάνια: ‘festival at Delphi, at which the statues of Apollo and other gods were shown to the people.’ 13 PFISTER, 1934a; PETRIDOU, 2016, 276. 14 Himerios, Or. 48.10–11 = Alkaios, Frg. 307c (Campbell). Suggested by PFISTER, 1934a. 9
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form of the birds and the local streams) welcomes the god: the celebration is clearly supposed to resemble a human festival. Historically, 7 Bysios was the one day in the year when Apollo’s oracle could be consulted. That is to say that Apollo’s presence at Delphi was revealed through the inspired speech of the Pythia. The month of Bysios was also the time of the Spring meeting of the Delphic Amphictyony, which gathered at Anthela for the festival of the Pylaia before moving to Delphi.15 Although there is no explicit evidence for the move coinciding with the arrival of Apollo at Delphi, it would not be surprising if the two were intended to coincide. All this suggests that 7 Bysios would have been a very busy day in the sanctuary and the city of Delphi, and in the surrounding area. It is generally accepted that by the Classical period the oracle was functioning on one day a month, for nine months of the year and it is assumed that this would be the seventh day of the month. We might therefore expect major celebrations on these other special days. The festival of the Theoxenia was held in the month after Bysios (Theoxenios). Although our evidence for the festival is not much better than that for the Theophania, it is clear that this was a similar large-scale event, with paians performed, and feasting, honouring the gods, and Apollo in particular, as guests.16 It is another way of marking Apollo’s presence in his sanctuary. The presence of Apollo, revealed through the voice of the Pythia, is an example of epiphany, or theophany. There has been debate, from antiquity onwards, about exactly how the god communicated with mortals, but there was no disagreement that he did.17 When referring to the delivery of an oracle, the usual formula was ‘the god (or Apollo) spoke’.18 There were very few sanctuaries where a divinity demonstrated their presence so clearly. We know surprisingly little about the mechanism of most Greek oracles,19 but the presence of an inspired speaker like the Pythia is by no means common in the 15
ROUX, 1979, 3. PFISTER 1934b; AMANDRY, 1939 and 1944/5; HEDREEN, 2010; PETRIDOU, 2016, 289–294. 17 E.g. Herakleitos, Frg. B 93, on which cf. most recently MAURIZIO, 2013a, TOR, 2016; Plutarch, Pyth. or. 21, 404e; general discussion: MAURIZIO, 1995. 18 FONTENROSE, 1978, 212. 19 Herodotus, the classical source with most to say about oracles (especially at 1.46–9, 8.133–5) is not always easy to interpret. He uses the word promantis occasionally to refer to the Delphic priestess (6.66.2–3, 7.141.2). He uses the same word for the priestess of Dionysos of the Satrai, explicitly stating that she prophesied in the same way as at Delphi (χρέωσα κατά περ ἐν Δελφοῖσι, 7.111.2). But he also uses the word to refer to the priestess of the oracle at Patara in Lycia, whose role was to incubate dreams in the temple (1.182.2). He uses the word again to refer to the (male) priest of Apollo Ptoios (8.135.1) and the priestesses at Dodona (2.55.1), without commenting on the methods they used. On the problems of identifying how the oracle of Zeus at Dodona worked, cf. EIDINOW, 2007, 67–71; PARKER, 2016. 16
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classical period.20 There were oracles associated with heroes, such as that of Trophonios at Lebedeia,21 where the presence of the hero at the sanctuary was assumed on the basis of the site’s association with the events of the end of his life. The rather dramatic descriptions of the consultation process at the Trophonion in ancient writers make it difficult to identify the hero’s role in communicating information.22 There were oracles that worked through incubation, a process that became particularly associated with healing shrines, most famously that of Asklepios at Epidauros.23 In these cases the god appeared to a single sleeping individual in a dream, and their message was therefore reported indirectly. With oracles which worked through the consultation of the entrails of sacrificial victims, as was the practice at Olympia and the oracle of Apollo Ismenios at Thebes,24 the intervention of the god was even less directly perceivable. What happened at Delphi, where the Pythia was visibly possessed by Apollo, and the words of the god could be heard by all present in the adyton of the temple, was an example of direct intervention in the mortal world which was far from a common occurrence. Even if it was something that happened every year over a number of centuries, it would have been worth celebrating with a festival.
3. Thusia If we consider the first day, and probably each of the nine days, when the oracle functioned as being a major festival, it will cast other aspects of Delphic activity in a new light. One of these is the reputation of Delphi for excessive animal sacrifice. In the Homeric Hymn to Hermes, as we have seen, Apollo expects those who come to consult him to provide offerings (δῶρα), which we may take to mean above all sacrificial victims. The association of the sanctuary with sacrifice is an important theme in the Homeric Hymn to Apollo as well. In this hymn the poet has the god explain his plan in founding a temple: 20
It is possible that with the ‘rebirth’ of some oracles in the Hellenistic period and later, some sanctuaries changed the way they functioned in imitation of Delphi. Epigraphic evidence from the oracle at Didyma indicates that responses were given in prose before the destruction of the sanctuary in 494, but in verse after its restoration in 334: this may reflect other changes to the way the oracle functioned. On the change in the way oracles were used in the post-classical period see BOWDEN 2013. The implication of this is that evidence from later periods should be used with caution for the interpretation of the mechanism of oracles in the archaic and classical periods. 21 BONNECHERE, 2003. 22 Paus., 9.39.5–13. 23 HERMES, 1996, 160–179. 24 Hdt., 8.134.1.
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Here I am minded to make my beautiful temple as an oracle for humankind, who will ever come in crowds bringing me perfect hecatombs, both those who live in the fertile Peloponnese and those who live in the Mainland and the sea-girt islands, wishing to consult me; and I would dispense unerring counsel to them all, issuing oracles in my rich temple. (Hom. Hymn. Apoll. 287–293)25
Later, he says to his newly-appointed Cretan priests: O foolish men of misplaced suffering, who want anxiety, hard toil, and heartache! I will give you a simple answer to bear in mind. Each of you must keep a knife in his right hand and keep slaughtering sheep: they will be available in abundance, as many as the thronging people bring for me. Watch over my temple, and welcome the people as they gather here. (Hom. Hymn. Apoll. 532–539)26
These passages emphasise the importance of large-scale animal sacrifice at Delphi, and this is a phenomenon that is visible more widely. Scholars have noted the way that Delphic sacrifice was a subject of interest in ancient texts.27 Delphic sacrificing and feasting is lampooned in a number of passages of old comedy gathered by Athenaeus (4.173b–e), and Aesop is said to have criticized Delphic greed, according to various of the lives of Aesop. In some narratives of the death of Neoptolemos at Delphi, including for example Pindar, Nemean 7, he is killed by the Delphians in a dispute about the division of sacrificial meat.28 In the account of the death narrated by the messenger in Euripides’ Andromache, sacrifice is not the reason for his being killed, but the description of Neoptolemos being hacked to death by a crowd of Delphians resembles the description of sacrificial behaviour mocked by Aesop: Whenever someone comes to sacrifice to the god, the Delphians stand around the altar, each one carrying a sacrificial knife concealed on his person. And when the priest has slain the victim and skinned it and removed and apportioned the innards, each of those standing around hacks off whatever share he can and departs, so that, on many occasions, the sacrificer himself departs without any share at all. (P.Oxy 1800 fr. 2 ii 33-46).29
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ἐνθάδε δὴ φρονέω τεῦξαι περικαλλέα νηὸν / ἔµµεναι ἀνθρώποις χρηστήριον, οἵ τε µοι αἰεὶ / ἐνθάδ᾽ ἀγινήσουσι τεληέσσας ἑκατόµβας, / ἠµὲν ὅσοι Πελοπόννησον πίειραν ἔχουσιν, / ἠδ᾽ ὅσοι Εὐρώπην τε καὶ ἀµφιρύτας κατὰ νήσους, / χρησόµενοι· τοῖσιν δ᾽ ἄρ᾽ ἐγὼ νηµερτέα βουλὴν / πᾶσι θεµιστεύοιµι χρέων ἐνὶ πίονι νηῷ. 26 νήπιοι ἄνθρωποι, δυστλήµονες, οἳ µελεδῶνας / βούλεσθ᾽ ἀργαλέους τε πόνους καὶ στείνεα θυµῷ· / ῥηίδιον ἔπος ὔµµ᾽ ἐρέω καὶ ἐπὶ φρεσὶ θήσω. / δεξιτερῇ µάλ᾽ ἕκαστος ἔχων ἐν χειρὶ µάχαιραν / σφάζειν αἰεὶ µῆλα· τὰ δ᾽ ἄφθονα πάντα παρέσται, / ὅσσα τ᾽ ἐµοί κ᾽ ἀγάγωσι περικλυτὰ φῦλ᾽ ἀνθρώπων· / νηὸν δὲ προφύλαχθε, δέδεχθε δὲ φῦλ᾽ ἀνθρώπων / ἐνθάδ᾽ ἀγειροµένων καὶ ἐµὴν ἰθύν τε µάλιστα. 27 See e.g. KURKE, 2003, 80, 88–90. 28 Pind., N. 7.40–42. 29 ἐπὰν [εἰσέ]λθῃ τ[ις] τῷ θεῷ θυσιάσ[ων ο]ἱ Δελφ[ο]ὶ περ[ι]εστήκασι τὸν βωµ[ὸ]ν ὑφ᾽ ἑαυτοῖς µαχαίρας κ[ο]µίζοντες, σφαγιασαµένου δὲ τοῦ ἱερέως καὶ δείραντος τὸ ἱερεῖον καὶ τὰ σπλάγχνα περιεξελοµένου, οἱ περιεστῶτες ἕκαστος ἣν ἂν ἰσχύσῃ µοῖραν ἀποτεµνόµενος ἄπεισιν, ὡς πολλάκις τὸν θυσιάσαντα αὐτὸν ἄµοιρ[ο]ν ἀπι[έ]ναι.
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When the Delphians kill Neoptolemos by stabbing him from places of concealment (Eur. Andr. 1119), and then when he had fallen, stabbing him again, they are treating him as a sacrificial victim himself. The fourth-century Delphic inscription concerning an agreement with the people of Skiathos (CID 1.13) mentions a goat ‘on the sacrificial table’.30 This has been taken to refer to a victim distinct from the pre-consultation offering, and therefore as further evidence for distinctive Delphic sacrificial practice.31 The text is lacunose here, and does not seem to me to be clear enough for certainty. The inscription does go on to say that the Delphians will provide wood, vinegar and salt in a dining room for the Skiathians, so they clearly expected to eat something.32 The regular sequence of festivals at the sanctuary on days when the oracle functioned might well give the visitor the impression that life in Delphi was one continuous barbecue. But these texts also indicate that a close relationship was recognised between sacrifice and prophecy at Delphi. The word χρηστήριον can refer to an oracular sanctuary, an oracular response, or a sacrificial offering made as part of the process of consulting an oracle. Since there are references to an oracle of Zeus at Olympia which functioned through the consultation of the entrails of sacrificial victims, the terms could be seen to run into each other.33 More generally, occasions of sacrifice were crucially always occasions of divination, as the entrails of the sacrificed victim would be inspected as part of the ritual. What Apollo describes himself as doing in the Homeric Hymns is establishing a place where mortals will come to offer him sacrifice, in return for which he will sometimes offer them sound advice. As we have seen, Apollo says in the Homeric Hymn to Hermes that he will not guarantee that all who bring gifts to him will receive reliable responses, and this reflects a more widely held understanding of the relationship between sacrifice and divination which is most explicitly voiced by Xenophon in several of his works, that the gods will not communicate with mortals unless they wish to, but are more likely to communicate with those who sacrifice to them regularly.34
4. Birds Accounts of Apollo’s arrival at Delphi, and other texts relating to days of consultation give significant attention to the presence of birds, and this is a 30
ἐπὶ | [τὰν τράπ]εζαν αἶγ- | α κ̣[αλλι]στεύοντα (20–22). AMANDRY, 1939, 203–207; ROUX, 1966, 569–571; ROUGEMONT, in CID 1, 129. 32 CID 1.13.24–27. 33 Pind., O. 6.70; Hdt., 8.134.1. 34 Xen., Cyr. 1.6.46, Hipparch. 9.8–9; BOWDEN, 2004, 231–233. 31
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phenomenon that deserves consideration. In the Homeric Hymn to Hermes Apollo refers to petitioners being led to his oracle either by ‘valid omen birds’ or by ‘birds of vain utterance’. Birds are very visible in descriptions of Delphi when the oracle is to be consulted. Himerios summarises the content of the Paian of Alkaios mentioned earlier as follows: When Apollo was born, Zeus equipped him with golden headband and lyre, and gave him also a chariot of swans to drive, and sent him to Delphi and the spring of Castalia, thence to declare justice and right for the Greeks; but when Apollo mounted the chariot he directed the swans to fly to the land of the Hyperboreans. Now when the Delphians learned this, they composed a paean and a tune and arranged dancing choirs of youths around the tripod and called on the god to come from the Hyperboreans. Apollo however delivered law among the men of that region for a full year; but when he thought it was time that the tripods of Delphi should ring out too, he ordered his swans to fly back again from the Hyperboreans. Now it was summer and indeed the very middle of summer when Alkaios brings Apollo back from the Hyperboreans: so what with the blaze of summer and the presence of Apollo the poet’s lyre also adopts a summer wantonness in the account of the god: nightingales sing for him the kind of song that one might expect birds to sing in Alkaios, swallows too and cicadas, not proclaiming their own fortunes in the world but telling of the god in all their songs. Kastalia flows in poetic fashion with waters of silver, and Kephisos rises in flood, surging with his waves, in imitation of Homer’s Enipeus: for Alkaios is compelled just like Homer to give even the water the power to sense the presence of gods (Campbell’s translation).35
There is a significant emphasis here on the activities of birds: swans, nightingales and swallows are all referred to. Apollo’s arrival at Delphi is marked also by the arrival of birds, the interpretation of whose actions is a fundamental aspect of the skill of all Greek manteis.36 Birds are prominent in other texts relating to Delphi too. Pindar is said to have told the story of how Zeus set free two eagles from either end of the world, and how they met at Delphi, 35
Himerios, Or. 48.10–11: ὅτε Ἀπόλλων ἐγένετο, κοσµήσας αὐτὸν ὁ Ζεὺς µίτρᾳ τε χρυσῇ καὶ λύρᾳ, δούς τε ἐπὶ τούτοις ἅρµα ἐλαύνειν – κύκνοι δὲ ἦσαν τὸ ἅρµα – εἰς Δελφοὺς πέµπει Κασταλίας νάµατα, ἐκεῖθεν προφητεύοντα δίκην καὶ θέµιν τοῖς Ἕλλησιν. ὁ δὲ ἐπιβὰς ἐπὶ τῶν ἁρµάτων ἐφῆκε τοὺς κύκνους ἐς Ὑπερβορέους πέτεσθαι. Δελφοὶ µὲν οὖν, ὡς ᾔσθοντο, παιᾶνα συνθέντες καὶ µέλος, καὶ χοροὺς ἠιθέων περὶ τὸν τρίποδα στήσαντες, ἐκάλουν τὸν θεὸν ἐξ Ὑπερβορέων ἐλθεῖν· ὁ δὲ ἔτος ὅλον παρὰ τοῖς ἐκεῖ θεµιστεύσας ἀνθρώποις, ἐπειδὴ καιρὸν ἐνοµοθέτει καὶ τοὺς Δελφικοὺς ἠχῆσαι τρίποδας, αὖθις κελεύει τοῖς κύκνοις ἐξ Ὑπερβορέων ἀφίπτασθαι. ἦν µὲν οὖν θέρος καὶ τοῦ θέρους τὸ µέσον αὐτό, ὅτε ἐξ Ὑπερβορέων Ἀλκαῖος ἄγει τὸν Ἀπόλλωνα· ὅθεν δὴ θέρους ἐκλάµποντος καὶ ἐπιδηµοῦντος Ἀπόλλωνος θερινόν τι καὶ ἡ λύρα περὶ τὸν θεὸν ἁβρύνεται. ᾄδουσι µὲν ἀηδόνες αὐτῷ ὁποῖον εἰκὸς ᾆσαι παρ’ Ἀλκαίῳ τὰς ὄρνιθας· ᾄδουσι δὲ καὶ χελιδόνες καὶ τέττιγες, οὐ τὴν ἑαυτῶν τύχην τὴν ἐν ἀνθρώποις ἀγγέλλουσαι, ἀλλὰ πάντα τὰ µέλη κατὰ θεοῦ φθεγγόµεναι· ῥεῖ καὶ ἀργυροῖς ἡ Κασταλία κατὰ ποίησιν νάµασι, καὶ Κηφισὸς µέγας αἴρεται πορφύρων τοῖς κύµασι, τὸν Ἐνιπέα τοῦ Ὁµήρου µιµούµενος. βιάζεται µὲν γὰρ Ἀλκαῖος ὁµοίως Ὁµήρῳ ποιῆσαι καὶ ὕδωρ θεῶν ἐπιδηµίαν αἰσθέσθαι δυνάµενον. 36 Cf. e.g. DILLON, 2017, 139–177.
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marking it as the earth’s centre.37 Euripides’ Ion is set on a day when the oracle was to function, and therefore when Apollo would appear. When the eponymous character comes on stage, he explains that he will drive away the flocks of birds which might harm the sacred offerings;38 he then sings about them, mentioning a swan,39 and describing the swallows, and mentioning their role in announcing the gods’ words to mortals.40 Later in the play, the messenger describes a flock of doves which live in the temple of Apollo, and which play a crucial role in revealing a plot against Ion.41 Alongside these texts we can set an Attic white-ground kylix from a grave at Delphi, dated to c. 460 BCE.42 This depicts Apollo, seated with his lyre, wearing a garland and pouring a libation; in front of the god stands a black bird, species uncertain but possibly a raven, level with his head, looking towards him. Whatever interpretation may be put on the image, it shows a close association between the god and the bird. These examples indicate a special relationship between birds, and in particular birds with a mantic role, and the sanctuary of Apollo. The Pythia’s inspired prophecy is not the only form of divination being celebrated at Delphi. The different methods of divination are part of a larger single phenomenon. This connection between birds and Apollo’s sanctuary at Delphi was not something that Greeks would learn about only from literature, we may assume. Any visitor to Delphi would have seen the birds there themselves.
5. Theoroi Let us now turn to these visitors, and in particular the embassies sent by cities to Delphi. The Greek word that covers these in this context is theoros, and it needs some discussion. There has been a very full recent study of theoria and theoroi by Ian Rutherford.43 He makes a definite distinction between the use of the word to refer to ‘oracle delegates’ and its use to refer to delegates to overseas festivals.44 One of the reasons for this would appear to be the fact that the earliest known use of the word theoros in Greek literature comes from Theognis (1.805–10), referring specifically to someone whose role is to consult the Delphic oracle. The distinction implies that the consultation of 37
Strab., 9.3.6 = Pind., Frg. 54. Eur., Ion 106–108. 39 Eur., Ion 161–169. 40 Eur., Ion 171–178. 41 Eur., Ion 1196–1208. 42 Archaeological Museum of Delphi, 8140. 43 RUTHERFORD, 2013. 44 He covers festivals in chapter 4, and oracles in chapter 6. See also NIGHTINGALE, 2004, 44–47 for the same distinction. 38
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oracles by cities should be seen as something significantly different from attending a festival – a political rather than a religious procedure, perhaps. But we might usefully look at the issue the other way around. If visitors to oracular sanctuaries are referred to as theoroi, we should understand their role as first and foremost participating in a festival, and more incidentally as enquirers of the oracle. Rutherford cites two fourth century Athenian inventories referring to theoroi sent to the oracular sanctuary of Ammon in Libya, and these appear to be primarily sent with gifts for the god.45 Whether or not they consulted the oracle there at the time is not revealed. The word theoros is not generally used on inscriptions to mean specifically a delegate to an oracle, and it is worth noting that when it is used in other texts, the word is only used of state delegates, not private enquirers.46 All of this suggests, I think, that it is actually misleading to see consulting an oracle as in itself a form of theoria. Rather, consulting an oracle is something a theoros might do, while fulfilling his primary role by attending a festival. Given the challenges of travelling in Greece, especially in the early spring, we should assume that theoroi would set off with time to spare, and so often arrive at Delphi a few days before the festival itself. In Euripides’ Andromache the messenger describes how Neoptolemos and his companions spent three days looking at the sights of Delphi – viewing (thea) being one of the expected activities of theoroi.47 It is important to think about the infrastructural implications of the gatherings associated with the operation of the oracle. Modern perceptions of ancient visits to Delphi are influenced by the way they are represented in Plutarch, which is strikingly similar to the modern experience of tourism.48 Tour guides are central to both, and with it, I suspect, the assumption that ancient Delphi had its equivalent to the modern hotels and restaurants to provide food and shelter to the tourists. But if we have a great influx of visitors around 7 Bysios, and in subsequent months, there would not be the space to accommodate them all. The Amphictyonic regulations of 380 BCE refer to pastades, that is porticos, that were common to all, located on the Sacred Land below the sanctuary,49 and we should probably envisage an encampment of tents there as well. Some idea of what might be involved can be seen in Euripides’ Ion, where a messenger describes the tent put up by Ion on behalf of his newfound father Xuthus, when he hosts a feast for the Delphians: The youth reverently built the round tent on pillars, without walls, taking good care of the rays of the sun, setting it neither towards the middle beams of heat nor in turn towards the 45
SEG 46.122, 21.562. RUTHERFORD, 2013, 380–385. RUTHERFORD, 2013, 98. 47 Eur., Andr. 1086–1088. 48 Plut., Pyth. or. 1–2, 394e–395a. 49 CID 4.1.21–4. 46
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ending ones. He measured a length of 100 feet for a square, having its whole area ten thousand feet, as the wise say, so that he might call all the people of Delphi to the feast. From the treasuries he took sacred tapestries, and shadowed over the tent, a wonder for men to see […] He set up golden mixing bowls in the middle of the banquet.50 (Eur. Ion 1128–76)
A tent like this, it should be said, though suitable for entertaining the Delphians, would have caused problems at other festivals. The regulations for the festival associated with the Mysteries at Andania, known from an inscription of the early first century BCE, gives regulations for tents, limiting them to 30 feet square, and forbidding the presence in them of couches or silver plate worth more than 300 drachmai.51 The visitors will have needed to eat and drink, to have baths, and certainly in the early spring, to have access to firewood. The same Andanian inscription indicates the range of issues that had to be considered alongside the size of tents. These include rules about the water supply and the collection of firewood, as well as control of prices of baths, and the identification of an area for a market to be set up. These regulations are mostly the responsibility of the agoranomoi.52 They remind us that alongside the travellers there will have been a whole commercial world of traders gathering to service them.53 The return of Apollo to his temple will have been accompanied not only by religious rituals within the sanctuary, but also by a large-scale seasonal fair outside it. We have glimpses of how this might work from Pausanias’ description of a festival somewhere near Tithoreia in Phocis, which saw the sale of slaves, livestock, clothes and silver and gold from temporary stalls set up for the occasion.54
50
ὁ δὲ νεανίας / σεµνῶς ἀτοίχους περιβολὰς σκηνωµάτων / ὀρθοστάταις ἱδρύεθ᾽, ἡλίου βολὰς / καλῶς φυλάξας, οὔτε πρὸς µέσας φλογὸς / ἀκτῖνας, οὔτ’ αὖ πρὸς τελευτώσας βίον, / πλέθρου σταθµήσας µῆκος εἰς εὐγωνίαν, / µέτρηµ’ ἔχουσαν τοὐν µέσῳ γε µυρίων / ποδῶν ἀριθµόν, ὡς λέγουσιν οἱ σοφοί, / ὡς πάντα Δελφῶν λαὸν ἐς θοίνην καλῶν. / λαβὼν δ᾽ ὑφάσµαθ’ ἱερὰ θησαυρῶν πάρα / κατεσκίαζε, θαύµατ’ ἀνθρώποις ὁρᾶν […] / […] χρυσέους τ᾽ ἐν µέσῳ συσσιτίῳ / κρατῆρας ἔστησ᾽. 51 Syll3 736 (= ΙG v. 1 1390) 34–39. 52 Syll3 736 (= ΙG v. 1 1390) 99–111. Cf. GAWLINSKI, 2012, 23. 53 DILLON, 1997, 204–227. 54 Paus., 10.32.15. For more on this see CHANDEZON, 2000; DE LIGT, 1993, 35–39, 64– 70, 38–39: ‘many periodic festivals were accompanied by commercial activities of one kind or another, and it seems likely that many accessory festal markets developed into “genuine fairs”.’
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6. What Was It Like to Consult the Oracle? A recent description of what theoroi had to do before they consulted the Delphic oracle talks in these terms: They first had to purify themselves […] What followed then was a system of queueing … there was always a way to skip to the front […] Once the order was decided, the money had to be paid […] All this would take time, and consultants would be obliged to wait for long periods.55
This perhaps resembles the experience of trying to get into a very popular art exhibition, emphasising the tedium and implying that the relationship between consultant and sanctuary is fundamentally transactional. This is not particularly surprising, given the nature of our evidence for the consultation itself. Inscriptions provide little evidence of what was involved. They give minimal instructions, for example ‘the people shall choose three men, one from the Council and two from all Athenians, who will go to Delphi and ask the god […]’.56 In his fullest account of a consultation, Herodotus is scarcely more detailed: ‘The Athenians were anxious to consult the oracle and sent their messengers to Delphi; and when these men had carried out the customary rituals, as they were entering the hall of oracles and sitting down, the Pythia, who was called Aristonike, prophesied in these words […]’.57 However, as we have seen, there is good reason to suppose that the consultants were actually actors in a much larger drama. The Andanian inscription once again offers helpful parallels. The theoroi would be accompanied by Delphic proxenoi,58 just as at Andania the initiates were accompanied by mystagogoi.59 There would have been a formal procession accompanying the priestess to the temple: whether or not the theoroi would have been part of the same procession, or gathered separately is not clear, but they would have been present to witness the priestess entering the temple.60 Inside the temple the theoroi would witness directly and from close up Apollo’s manifestation of himself through the Pythia: they would have been not so much bored customers queueing for their turn, but rather particularly privileged participants. Before the consultation they would have slaugh55
SCOTT, 2014, 15–17. IG ii3 292.42–45: ἑλέσθω δὲ ὁ δ[ῆµ]ος [τρ]εῖς ἄνδρας, ἕν[α] µ[ὲ]ν ἐκ τῆς βουλῆς, δύο δὲ ἐξ Ἀθηναίω[ν ἁ]πάντων, οἵτ[ιν]ες εἰ[ς Δ]ελφοὺς ἀφικόµενοι τὸν θεὸν ἐπερ[ήσ]ο[ν]τ[α]ι […] 57 Hdt., 7.140.1: πέµψαντες γὰρ οἱ Ἀθηναῖοι ἐς Δελφοὺς θεοπρόπους χρηστηριάζεσθαι ἦσαν ἕτοιµοι· καί σφι ποιήσασι περὶ τὸ ἱρὸν τὰ νοµιζόµενα, ὡς ἐς τὸ µέγαρον ἐσελθόντες ἵζοντο, χρᾷ ἡ Πυθίη, τῇ οὔνοµα ἦν Ἀριστονίκη, τάδε. 58 Eur., Andr. 1100–1103. 59 Syll3 736 (= ΙG v. 1 1390) 150–151. 60 Cf. Aeschyl., Eum. 31–33. 56
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tered a sacrificial victim, but afterwards they would have the opportunity to eat the meat, presumably entertaining their proxenos and others as part of the generally understood notion of xenia.61
7. Why Delphi? We can now return to the question raised near the start of this chapter: why did Greek cities send theoroi to consult the Delphic Oracle, when its reliability could not be guaranteed, and there were other more accessible forms of divination available? It is clear that an embassy sent to Delphi was doing rather more than just asking the Pythia a question and recording the answer. Fundamentally they would be doing what all theoroi did, that is, attending a festival – most clearly on the first day the oracle functioned, 7 Bysios, but as I have suggested, probably also on the subsequent days of consultation. In that festival animal sacrifice played a major role, and particular attention was paid to the behaviour of birds. Both these phenomena were central to the activities of Greek manteis, and the festival would emphasise the association between them and Apollo. To take part in the festival therefore was to honour the god above all for his power in the field of divination. As part of the festival, certain individuals, who would, we may be confident, mostly be representatives of cities (and increasingly in the Hellenistic period powerful individuals) who were favourable to Delphi (since it was those who had been awarded promanteia by the Delphians who would go first),62 would encounter the god at close quarters, by asking him questions, and receiving responses, through the Pythia. The religious significance of these encounters should not be underestimated: this was to be as close to Apollo as it was possible to be. Clearly, in order for the theoroi to have questions to ask, cities must have directed a proportion of their concerns towards Delphi, but the theoroi were doing much more for their cities. They were, on their city’s behalf, maintaining a close relationship with the god whose power lay behind all forms of divination. As a result of their journeys, every consultation of entrails, or observation made of the behaviour of birds, was made more trustworthy.
61 62
Cf. Eur., Ion 1122–1131. On promanteia see POUILLOUX, 1952; ARNUSH, 2007, 108.
Jungfräulich, isoliert, ungebildet? Die Pythia als Sprachrohr Apollons
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Tanja S. Scheer 1. Einführung Ohne die Pythia ist die Geschichte des Orakels von Delphi nicht zu denken. Sie war diejenige, die die Orakelsprüche äußerte, von denen die überregionale Bedeutung Delphis abhing. Lisa Maurizio hat die Pythia treffend beschrieben: „the voice at the center of the world“.1 Dass diese Stimme am Nabel der Welt einer Frau gehörte, ist sowohl den antiken Quellen als auch der neuzeitlichen Forschung als besonders spektakulär erschienen.2 Die Stimmen aus der griechischen Antike werden nur sehr unausgewogen für uns hörbar. Die Aufmerksamkeit antiker Autoren erregt überwiegend, wer ein politisches Amt innehat, wer sich in den Institutionen der griechischen Polis Gehör verschaffen kann, für deren Repräsentation ausgewählt wird und wer schließlich an den kriegerischen Unternehmungen der Griechen aktiv beteiligt ist. Interesse findet, wer fähig ist, seinen Besitz prestigeträchtig und eigenständig einzusetzen, oder wer als charismatische Figur eine elitäre Gruppe von Anhängern um sich versammeln und ihnen seine Meinung über die Welt und ihre Normen vermitteln kann. Die Mehrheit antiker Quellenautoren erfüllte in persona eine oder mehrere dieser Anforderungen. Griechische Frauen hingegen hatten in der griechischen Poliswelt diesbezüglich „keine Stimme“. 3 Ein formalisiertes Mitspracherecht in den institutionalisierten Entscheidungsprozessen der Polis blieb ihnen verwehrt und öffentliches Reden war für sie nicht vorgesehen. Die Position der Pythia in Delphi ist also aus historischer Perspektive sehr ungewöhnlich: Sie stand im Zentrum einer Einrichtung, welcher in der neuzeitlichen Forschung immer wieder auch politische Bedeutung zugeschrieben Der vorliegende Beitrag entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekt C 01 „Aufgeklärte Männer – abergläubische Frauen? Religion, Bildung und Geschlechterstereotypen im klassischen Athen“. 1 MAURIZIO, 2001, 38–54. 2 Vgl. etwa BOWDEN, 2005, 25. 3 S. SCHEER, 2000, 145-147; SCHEER, 2011, 59. ∗
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worden ist, und deren Autorität die antiken Quellen betonen.4 Im vorliegenden Beitrag geht es nicht um die Frage, was genau während einer Befragung der Pythia geschah – die antiken Quellen liefern keine zusammenhängende Beschreibung des delphischen Orakelrituals. 5 Vielmehr steht die Pythia hier als soziale Person weiblichen Geschlechts im Vordergrund.
2. Eine weissagende Frau in Delphi? Warum bedurfte es also für die Vermittlung göttlichen Wissens in Delphi einer weiblichen Stimme? Pointiert formuliert: warum war die Prophetin in Delphi, die Pythia eine Frau? Diese Frage erscheint umso berechtigter vor dem Hintergrund einer Behauptung Plutarchs, der in der Kaiserzeit selbst ein Priesteramt in Delphi innehatte und in seiner Schrift Über das E in Delphi feststellt, keiner Frau sei es erlaubt, sich dem Orakel zu nähern. Glaubt man Plutarch, so hätte man in Delphi zum einen einer weiblichen Person die wichtigste Rolle schlechthin zugebilligt, andererseits wäre aber das Orakel grundsätzlich für Frauen verboten gewesen.6 In einigen Schriften Plutarchs, die als Frage-und Antwortkataloge konzipiert sind, behandelt er in vielfältiger Weise Besonderheiten des griechischen Kultlebens. Auch Delphi wird hierbei thematisiert.7 Die Frage, warum die Pythia eine Frau ist, hat Plutarch sich und seinen Lesern aber offenbar nicht gestellt. Die Antwort eines antiken delphischen Bürgers oder einer delphischen Bürgerin wäre in diesem Fall vermutlich sehr einfach gewesen und hätte sich nach einer Grundregel griechischer Kultausübung gerichtet: kata to nomimon, gemäß dem Brauch, gemäß dem Herkommen soll man mit den Göttern verkehren und ihre Verehrung gestalten.8 Die Pythia ist also eine Frau, weil dies seit jeher der Brauch gewesen ist.9 Aitiologische Erklärungen eines derartigen Brauchs anzufügen war beliebt, aber nicht erforderlich. In 4
SCHEER, 2018, 46; TRAMPEDACH, 2015, 25.398.528. S. auch KINDT, 2016, 6. Zur Herbeiführung des enthousiasmos der Pythia als vermutlich einer selbst induzierten Trance, die durch Trigger (wie z. B. Ritual oder Geruch) ausgelöst werden konnte s. z.B. JOHNSTON, 2008, 49-50; FLOWER, 2008b, 226; MAURIZIO, 1995. 6 Plut., De E 2, 385c: τὸ µηδεµιᾷ γυναικὶ πρὸς τὸ χρηστήριον εἶναι προσελθεῖν („dass es keiner Frau erlaubt ist, sich dem Orakel zu nähern“). In der neueren Forschung hat Plutarch allerdings nicht immer Glauben gefunden: DILLON, 2002, 98; CONNELLY, 2007, 78 mit Gegenbeispielen aus den älteren Quellen. 7 Vgl. z.B. Plut., Qu. Gr. 9, 292d; 12, 293b–f. 8 PARKER, 2011, 3; vgl. COLE, 2008, 57. 9 Vgl. z. B. Eur., Ion 1322, wo die Pythia davon spricht, den alten Brauch (ἀρχαῖον νόµον) des Dreifußes zu bewahren. 5
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den antiken Quellen sind keine Erklärungen über die Umstände der ersten Einsetzung einer weiblichen delphischen Prophetin erhalten geblieben.10 In den ältesten Quellen zum delphischen Orakel ist denn auch die Präsenz einer als Pythia bezeichneten Seherin, die das Orakelgeschehen dominieren würde, noch nicht erkennbar. Der Homerische Hymnus an Apollon, welcher die Gründungsgeschichte des Ortes und des Heiligtums beschreibt, erwähnt die Pythia nicht. Er nennt vor Ort keine einzige Frau: Apollon hat vielmehr eine Gruppe kretischer Seefahrer entführt, beauftragt diese damit, sein Heiligtum zu betreuen, und verspricht ihnen Reichtum. Diese Gruppe erscheint als rein männlich.11 Auch den Verfassern der homerischen Epen Ilias und Odyssee ist Delphi bekannt. Der griechische Anführer Agamemnon hat es befragt, eine weibliche Funktionärin wird in diesem Kontext aber nicht genannt.12 Als später bei Aischylos die Urgeschichte des Orakels konstruiert wird, bleibt ebenfalls unklar, wie die divinatorischen Äußerungen der Urzeit vermittelt worden sein sollen. In früher Zeit, d.h. vor der Ankunft Apollons hätten weibliche Gottheiten das Heiligtum innegehabt und Orakel gegeben:13 Das Orakel habe zuerst Gaia als Ur-Wahrsagerin gehört, diese habe es an ihre Tochter Themis weitergegeben, auf die dann Phoibe (in Hesiods Theogonie als Großmutter Apollons eingeordnet) gefolgt sei, von der wiederum Apollon das Heiligtum als Geschenk erhalten habe.14 Wer in der Frühzeit der Gaia, Themis und Phoibe die Orakel geäußert hat, ob man sich diesbezüglich ein weibliches Medium vorstellte und wie dieses benannt gewesen wäre, sagt Aischylos nicht.15 Auch andere spätere Quellen, bei denen es um die Entdeckung, Besonderheit und Etablierung des Ortes Delphi als Orakelort geht, stellen keine Frau in den Mittelpunkt: Im 1. Jahrhundert v. Chr. berichtet Diodor von einem Hirten, der an den Hängen seine Ziegen weidete und zuerst das merkwürdige Gebaren der Tiere bei einem Erdspalt bemerkt haben soll. Er trat näher und 10 Zu Phemonoe als angeblich erster Pythia: Paus., X 6,7 und zur Pythia als Tochter Apollons s. VOIGT, 1938, 1957; ROUX, 1971, 65. 11 Hom. Hymn. Apoll. (III) 393–396. Ob eine ‚patriarchalisch-olympisch‘ geprägte Tendenz des Apollonhymnos womöglich die Erwähnung der Pythia unterdrückt hat, um das Orakel von weiblichen und chthonischen Aspekten rein zu halten, wie STRAUSS CLAY, 1989, 5–16 gemeint hat, muss im Bereich der Spekulation bleiben. Vgl. vielmehr JOHNSTON, 2008, 39: das Schweigen des Hymnus deute in Bezug auf die Pythia entweder auf eine spätere Entwicklung Delphis, oder aber dem Dichter sei es nicht darum gegangen, die konkrete Art und Weise der göttlichen Kommunikation in Delphi darzustellen. 12 Delphis Schätze: Hom., Il. IX 405; Agamemnon als Fragender: Hom., Od. VIII 77. 13 Aeschyl., Eum. 1–19. 14 Hes., Theog. 404–406: Phoibe als Mutter Letos. 15 Vgl. aber das rotfigurige Vasenbild auf einer Schale des Kodros-Malers aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., auf dem Themis dem Aigeus gegenüber auf dem Dreifuß sitzt: CONNELLY, 2007, 76, Abb. 3.4. Transportiert wird offenbar die Vorstellung, Themis selbst habe (als erste Pythia?) die Orakel geäußert: so auch JOHNSTON, 2008, 57.
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begann selbst Weissagungen auszustoßen.16 Erst später – um Unfälle bei unkontrollierter Nutzung des Erdspalts zu vermeiden – hätten die Umwohner dann eine Frau zur alleinigen Prophetin vor Ort gemacht. Warum sie hierzu eine Frau wählten, wird nicht weiter erläutert. Zunächst einmal hat die Erzählung, die bis in die Kaiserzeit geläufig ist, einen männlichen Protagonisten, der von der göttlichen Wirkung des Ortes ergriffen wird.17 Eine weibliche Prophetin steht also nicht ganz so selbstverständlich im Zentrum des delphischen Orakels, wie man vielleicht annehmen würde.
3. ‚Pythia‘ als Amtsbezeichnung? Bezeugungen und Benennungen Auch der Titel dieser Prophetin ist in den antiken Quellen nicht von vornherein etabliert. Der archaische Dichter Theognis von Megara (540–500 v. Chr.) ist der früheste antike Zeuge, der überhaupt eine weibliche Funktionärin in Delphi erwähnt.18 Er nennt sie die „Priesterin des Gottes in Pytho“ (Πυθῶνι θεοῦ ἱέρεια), macht allerdings sogleich klar, dass es sich bei ihr um eine hiereia handelt, die auch andere Dinge tut, als die regulären Opfer für ihre Gottheit darzubringen: sie empfängt vielmehr theoroi (Gesandte) im Heilig-
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Diod., XVI 26,4–6: [4] καὶ χρόνον µέν τινα τοὺς βουλοµένους µαντεύεσθαι προσιόντας τῷ χάσµατι ποιεῖσθαι τὰς µαντείας ἀλλήλοις: µετὰ δὲ ταῦτα πολλῶν καθαλλοµένων εἰς τὸ χάσµα διὰ τὸν ἐνθουσιασµὸν καὶ πάντων ἀφανιζοµένων δόξαι τοῖς κατοικοῦσι περὶ τὸν τόπον, ἵνα µηδεὶς κινδυνεύῃ, προφῆτίν τε µίαν πᾶσι καταστῆσαι γυναῖκα καὶ διὰ ταύτης γίνεσθαι τὴν χρησµολογίαν („Eine gewisse Zeit lang näherten sich alle dem Erdspalt, die eine Weissagung erhalten wollten und weissagten einander; aber später, nachdem viele unter dem Einfluss ihres enthousiasmos in den Erdspalt hinabsprangen und verschwanden, schien es denen, die in der Nähe wohnten, am besten, damit keine Gefahr bestehe, eine Frau als Prophetin für alle einzusetzen, und durch diese die Orakel sprechen zu lassen“). Vgl. hierzu auch Engster, unten S. 481 f. PARKE/WORMELL, 1956 I, 20 sowie STONEMAN, 2011, 33 haben an Ephoros als Quelle für Diodor gedacht, was die Erzählung für das 4. Jahrhundert v. Chr. belegen würde. 17 Plutarch (Def. or. 42, 433cd) will von den gelehrtesten Menschen in Delphi sogar den Namen des Hirten (Koretas) erfahren haben. Pausanias (X 5,7) kennt ebenfalls die Erzählung von den Hirten und führt darüber hinaus weitere – sich widersprechende – Varianten zum Geschlecht der ersten Propheten in Delphi auf: In der ersten Phase habe Gaia eine Bergnymphe namens Daphnis als Prophetin bestellt (Paus., X 5,5), eine einheimische Frau namens Boeo habe aber eine Hymne verfasst, in der ein gewisser Olenos aus dem Land der Hyperboreer als erster Prophet des Phoibos genannt werde (Paus., X 5,8). Ansonsten, so fährt Pausanias fort, sei aber kein anderer männlicher Prophet in Delphi bekannt, nur Prophetinnen. Nach verbreiteter Ansicht sei Phemonoe die erste Prophetin des Gottes gewesen. 18 Theognis, I 805–810.
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tum und enthüllt aus dem Inneren des Tempels die Worte des Gottes.19 Die Amtsbezeichnung Pythia fällt nicht. Ein ähnlicher Befund begegnet in den erhaltenen Gedichten Pindars: In dessen Oden auf Sieger in den Pythischen Spielen wird die weibliche Funktionärin Apollons nur an zwei Stellen erwähnt (beide Male in der 4. Pythischen Ode aus dem Jahr 461 v. Chr.), ohne dass sie als Pythia angesprochen wird. Sie ist nach Pindar die Priesterin (hiereia), die hochgeehrt „bei den goldenen Adlern des Zeus“ sitzt (eine Anspielung auf den Mythos von Delphi als Mittelpunkt der Welt, der dort liegt, wo sich zwei von Zeus ausgesandte Adler treffen).20 Und die Frau in Delphi ist bei Pindar außerdem die „delphische Biene“.21 Auch diese Bezeichnung lässt deutliche positive Konnotationen mitschwingen. Bei Pindar stehen Bienen und Honig mit der Dichtung in engster Beziehung:22 Die Bezeichnung als delphische Biene evoziert entsprechend besondere Formen des prophetischen Sprechens oder dichterisch geformter Äußerung.23 Außerdem hatte schon Semonides von Amorgos in seinem sogenannten Fraueniambos im 7./6. Jahrhundert die Bienenfrau als Paradebeispiel für positive Weiblichkeit beschrieben.24 Die chronologisch frühesten Quellen, die für Delphi eine Frau ins Zentrum stellen, sprechen also von der hiereia, der Priesterin des Gottes. Und auch nach der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. wird die Bezeichnung Pythia nicht einheitlich verwendet. Die bereits erwähnte Urgeschichte des Orakels bei Aischylos wird in dessen Drama Eumeniden von der lokalen Seherin erzählt. Diese tritt in der Handlung der Tragödie als Zeitgenossin des Orestes auf, eine Generation nach dem Trojanischen Krieg. Im Jahr 458 v. Chr. suggeriert der Dichter also seinem athenischen Publikum, in dieser mythischen Zeit habe bereits eine weibliche Seherin in Delphi gewirkt. Er bezeichnet sie allerdings nicht als Pythia: wenn sie von sich selbst spricht, nennt sie sich mantis.25 Euripides im Ion (412–408 v. Chr.) charakterisiert sie als „Delpherin“ 19 HORSTER, 2012, 12 hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Pythia keine Priesterin im üblichen Sinne gewesen sei. Die antiken Quellen belegen sie aber – wie im vorliegenden Fall – gelegentlich mit dem Titel hiereia. S. auch die von FLOWER, 2008a, 189 (grundsätzlich nicht zu Unrecht) postulierte Trennung zwischen dem Seher und dem Priester (mantis und hiereus), die sich im Fall der Bezeichnungen, die der Pythia zugeordet werden, nicht aufrecht erhalten lässt. 20 Pind., P. 4,4: χρυσέων Διὸς αἰητῶν πάρεδρος […] ἱέρεα. 21 Pind., P. 4,60: χρησµὸς […] µελίσσας Δελφίδος. 22 Vgl. auch Schol. Pind., P. 4,106c; Pind., P. 10,53 f.; Frg. 123; 158, wo andere Priesterinnen als Bienen bezeichnet werden. BERRENS, 2018, 224.358 führt Pindars Benennung der Pythia auf die postulierte Reinheit und die mantischen Fähigkeiten der Bienen zurück. Zum Vergleich des Honigs mit der Dichtung s. WASZINK, 1974b; s. auch HERREN, 2008, 50–52. 23 BOUNAS, 2008, 69 f., Anm. 52. 24 Semonides, Frg. 7,83–93 (West); BOUNAS, 2008, 65 f.; vgl. auch SCHEER, 2011, 67. 25 Aeschyl., Eum. 29: µάντις.
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sowie als „Prophetin“26, der letztere Titel wird ihr auch von Platon und späteren Quellen wie Diodor und Strabon zugelegt.27 Für Thukydides ist sie die promantis.28 In den literarischen Quellen scheint vor allem Herodot, dessen Interesse an Delphi groß gewesen ist, die Bezeichnung ‚Pythia‘ für die Seherin in Delphi geprägt zu haben.29 Doch selbst er verfährt nicht einheitlich: auch bei ihm finden sich andere Benennungen, z.B. promantis.30 Wie die Delpher vor Ort ihre sakrale Funktionärin in archaischer und klassischer Zeit bezeichneten, ist nicht belegt. Inschriften, in denen ein „Haus der Pythia“ genannt wird, stammen (stark ergänzt) erst aus dem Jahr 335 v. Chr., bzw. gar erst aus der Kaiserzeit.31 In der Kaiserzeit ist der Begriff Pythia eingeführt.32 Die Bezeichnung „Pythia“ wurde nicht als Eigenname begriffen. Antike Quellen postulieren nirgends, eine historische Frau der Frühzeit habe diesen Namen als persönlichen Namen getragen. Und im Unterschied etwa zur Sibylle, einer anderen Prophetin Apollons, der man in der antiken Überlieferung an vielen Orten der Welt begegnen kann33 (und die in mythischer Zeit auch nach Delphi gekommen sein soll34), ist die Pythia ortsfest. Von einer wandernden Pythia ist bezeichnenderweise nie die Rede. Sie erscheint als die Seherin oder Priesterin, deren seit Herodot geläufige Amtsbezeichnung offenbar vom Namen ihres Heiligtums abgeleitet ist:35 Seit der homerischen Ilias ist „Pytho“ als alternativer Name für Delphi bezeugt, 26
Eur., Ion 92: Δελφίς; Eur., Ion 42: προφῆτις. Sowohl in den aischyleischen Eumeniden (Πυθιὰς προφῆτις) als auch im euripideischen Ion (Πυθία ἤτοι προφῆτις) findet sich der Titel Pythia nur in den Indices der dramatis personae, deren Hinzufügung zeitlich völlig unklar ist. 27 Plat., Phaedr. 244a; Diod., XVI 26,4; Strab., IX 3,5. 28 Thuc., V 16,2: πρόµαντις. 29 Vgl. Hdt., I 65,2; I 67,3; V 67,2; VI 34,2; VI 36,1; VI 66,2.3; VII 169,2; VII 220,3; VIII 51,2. 30 Hdt., VI 66,1.2; VII 141,1: πρόµαντις. Zum Sakraltitel Pythia, der nicht vor Herodot nachweisbar sei, s. auch FAUTH, 1963, 515. 31 FdD III 5.50 col III 1 (4. Jahrhundert v. Chr.), Syll. 4.823; JACQUEMIN et al., 2012, 222 f.423 (Nr. 239). Vgl. auch unten Anm. 97. 32 Vgl. etwa das Werk des Pausanias, der sie durchgehend „Pythia“ nennt: I 13,9; I 20,7; I 22,8; I 43,8; II 1,5; IV 9,8; IV 12,1; IV 12,3; IV 12,7; IV 13,3; I 16,7; IV 20,1; IV 20,3; IV 21,3; IV 21,10; IV 24,2; VII 2,2. u.ö. 33 Die Sibylle ist erstmals erwähnt in einem bei Plutarch überlieferten Fragment Heraklits: DK 22 B 92 (Plut., Pyth. or. 6, 397a). Zum Namen der Sibylle, der ursprünglich Eigenname gewesen sei, dann an verschiedene Seherinnen herangetragen wurde: BUCHHOLZ, 1909–15, 792; POTTER, 1990, 475. PARKE, 1992, 23. 34 Zu den Wanderungen etwa der Sibylle Herophile in Kleinasien, der Ägäis und dem griechischen Festland s. Paus., X 12,5; PARKE, 1992, 23. Zum Felsen der Sibylle in Delphi s. Paus., X 12,1. 35 Zur Ableitung der Bezeichnung Pythia von der Örtlichkeit Pytho s. FAUTH, 1963, 517; SCHERF, 2001, 663. Der Eigenname einer Pythia tritt vor ihrem sakralen Titel zurück. S. TRAMPEDACH, 2015, 186: „Eine funktionierende Pythia hat keinen Namen.“
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und diese Bezeichnung findet sich ansonsten sowohl bei der Benennung des delphischen Apollon wie auch seiner dortigen Dienerin.36 Während aber der Kult des Apollon mit dem Beinamen Pythios in der griechischen Welt verbreitet ist und auf die Benennung der betreffenden Heiligtümer rückwirken kann (in Athen gibt es z.B. ein Pythion), wird in keinem Fall die lokale Priesterin eines solchen Heiligtums als Pythia bezeichnet.37 Diese Benennung ist offenbar auf die kultische Funktionärin von Delphi beschränkt.
4. Göttliche Vorlieben: ausschließlich Frauen als Dienerinnen Apollons? Oder aber war die Pythia eine Frau, weil Apollon nach Meinung der Griechen grundsätzlich weibliche Dienerinnen als Seherinnen oder Priesterinnen bevorzugte oder forderte? Blickt man auf die Traditionen des griechischen Mythos, so erscheint diese These zunächst nicht unplausibel.38 Bei einer Reihe von Seherinnen des Mythos ist deren Verbindung zu Apollon deutlich ausgeprägt. Der Kontext dieser mythischen Erzählungen ist allerdings jeweils das spezifische Feld der Liebschaften zwischen Göttern und sterblichen Menschen. Apollon ist hierbei keine Ausnahme: Er zählt zu den männlichen Olympiern, die Sterbliche begehren und Gewalt, List und Geschenke anwenden, um diese als Geliebte zu gewinnen. Apollon hat die Möglichkeit, die spezifische Gabe der Weissagung als Werbungsgeschenk einzusetzen: dies spielt er bei jungen Mädchen aus, ist hierbei aber nicht zwangsläufig erfolgreich. Das berühmteste Beispiel, bei welchem das Geschenk der Prophetie nicht den gewünschten Effekt hat, ist die Troerin Kassandra. Sie nimmt Apollons Gabe an, aber verweigert sich dem Gott – mit den bekannten Folgen, dass ihr niemand glaubt.39 Ein ähnliches Erzählelement prägt die Traditionen der Sibylle, die das zweite berühmte Beispiel einer Frau darstellt, die als Dienerin Apollons wahrsagt. Sie be36
Hom., Il. IX 405. Apollon Pythios in Lindos auf Rhodos: CHANIOTIS 2008, 21; s. außerdem z.B. Paus., I 19,1; I 42,5 (jeweils Statuen mit diesem Beinamen in Athen); Altar des Apollon Pythios in Olympia: Paus., V 15,4; Tempel des Apollon Pythios in Samos: Paus., II 31,6; Tempel für Apollon Pythios zwischen Pheneos und Pellene: Paus., VIII 15,5 u.ö. 37 Pythion in Athen: Suda π 3130; CURTIUS, 1877, 494. 38 S. auch FLOWER, 2008b, 89: „It is sometimes claimed that spirit possession, being wholly passive in character, was principally the realm of women, not of men.“ 39 Kassandra: Aeschyl., Ag. 1199–1212. Kassandra wird also zwar als vom Gott geliebt, aber nicht als „Geliebte“ des Gottes (so irrtümlich FRIESE, 2010, 33) beschrieben. S. richtig JOHNSTON, 2008, 42 gegen Theorien, die Kassandra als Beispiel für enthusiastische Prophetie als Folge (!) einer sexuellen Beziehung zwischen Gottheit und Medium anführen möchten.
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zeichnet sich in einem bei Pausanias überlieferten Grabepigramm selbst als Jungfrau und soll (nach einigen Quellen) den Gott Apollon ebenfalls abgewiesen haben.40 Aber so wie sterbliche Liebespartner der Götter nicht nur dem weiblichen Geschlecht angehören, beschränkt sich auch Apollon mit seinem Werbegeschenk der Weissagung nicht auf Frauen. Auch Männer können es erhalten wie etwa der schöne Knabe Branchos, der so zum Stammvater des Prophetengeschlechts der Branchiden in Didyma wird.41 Wenn also auch berühmte Seherfiguren des Mythos weiblich sind, so ist Sehertum in den Traditionen über die Frühzeit doch keinesfalls auf Frauen beschränkt – man denke an Teiresias, Kalchas, Mopsos, Amphiaraos etc.42 Vermittler göttlicher Botschaften und Zeichen, die von Apollon ausgehen, treten in der griechischen Vorstellungswelt in männlicher und weiblicher Gestalt auf.43 Im konkreten Kontext der Apollonorakel historischer Zeit ist dies ebenso der Fall: Je nach lokaler Tradition sind männliche oder weibliche Medien bezeugt:44 Herodot nennt etwa für das Orakel des Apollon Ptoos bei Akraiphia einen (inspirierten) männlichen Propheten,45 auch im kleinasiatischen Klaros fungiert ein Mann als Prophet.46 An manchen Orten kann sich das gewünschte Geschlecht der für das Prophetenamt ernannten Personen im Lauf der Zeit ändern: Pausanias nennt sogar für die delphische Frühzeit einen männlichen Orakelsprecher.47 Für das früharchaische Didyma der Branchiden wird von männlichen Propheten berichtet, in Hellenismus und Kaiserzeit sind
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S. Paus., X 12, 6 f.; Ov., Met. XIV 132–142. Vgl. aber Pausanias’ Nachricht über einen Hymnus der Sibylle Herophile, in dem sie sich als die angetraute Frau Apollons und außerdem als seine Schwester oder Tochter bezeichnet habe (X 12,2). FRIESE, 2010, 33 bezieht diese Stelle irrtümlich auf die Pythia; richtig BUCHHOLZ, 1909–1915, 797; PARKE, 1992, 26. 41 Conon, Narr. 33; s. auch Kallim., Branchos 229 Pf.; Luc., Dial. Deor. 2.2; FONTENROSE, 1988, 106 f. Zu (auch nicht ortsgebundenen) Sehern historischer Zeit, die die Gabe der Prophetie als Geschenk Apollons begreifen und ebenfalls den Anspruch erheben, die Stimme Apollons zu vermitteln, s. FLOWER, 2008a, 191 und JOHNSTON, 2015, 480. 42 SCHEER, 1993, 153–271. 43 Für mobile manteis der historischen Zeit stellt FLOWER, 2008a, 188 die These auf, diese seien gewöhnlich männlich gewesen, s. aber ebd. in Anm. 7 die Beispiele für weibliche manteis; sowie dann auch FLOWER, 2015, 299. 44 FLOWER, 2008b, 89, möchte eine „general rule“ aufstellen, nach der die inspirierten Medien Apollons Frauen gewesen wären. Die (durchaus von ihm erwähnten) männlichen Ausnahmen auch in diesem Fall lassen aber eine solche These nicht als tragfähig erscheinen. So bereits HUPFLOHER, 2005, 83. 45 Hdt., VIII 135,2; dieser Seher redet in einer fremden Sprache. 46 Zum männlichen mantis in Klaros s. Tac., Ann. II 54. Iambl., Myst. III 11. TRAMPEDACH, 2015, 203. 47 S. oben Anm. 17.
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hingegen weibliche Amtsträger bezeugt.48 Wenn Plutarch in der Kaiserzeit über die Kunst der Weissagung spricht, so stellt er fest, diese sei die gleiche – unabhängig davon, ob sie von Männern und Frauen praktiziert werde. Männer und Frauen sind fähig zu dichten (wie Anakreon und Sappho), und ebenso verstehen sich Männer und Frauen auf Prophetie – wie Bakis und die Sibylle.49 Auch jenseits der speziellen Kunst oder Gabe der Vermittlung von Orakeln, im vielfältigen städtischen Kult, wurde Apollon nicht unterstellt, nur weibliche Dienerinnen zu akzeptieren. Sein Kultpersonal, seine Priester konnten männlich oder weiblich sein; ausschlaggebend war die lokale Tradition.50 Auch in Delphi waren neben der Pythia weitere Funktionäre im Dienst des Apollon aktiv, und diese waren überwiegend männlich. Genannt werden etwa die hosioi, der prophetes, sowie zwischen einem und drei Priestern, wobei die Funktionen dieser Ämter im Einzelnen nicht ausreichend klar werden.51 In der Kaiserzeit bezeugt Plutarch eine Gruppe von Frauen, die das heilige Feuer zu hüten hatten.52 Um den Kult des Apollon zu verrichten bzw. in seinem Auftrag zu weissagen zu können, bedurfte es also in der griechischen Kultur nicht grundsätzlich eines weiblichen Körpers. Theoretisch hätten die Delpher auch die Tradition
48 Geschlechterwechsel des promantis (Orakelsprechers) in Didyma: FONTENROSE, 1988, 46; CONNELLY, 2007, 80. Catherine Morgan hat allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass die Belege für die Annahme eines männlichen Orakelsprechers der Frühzeit erst aus hellenistischer Zeit stammen: MORGAN, 1989, 27. Unabhängig von der Historizität der Nachrichten bleibt doch festzuhalten, dass die Möglichkeit eines Wechsels von männlichem zu weiblichem Orakelmedium den einschlägigen Quellen als vorstellbar erschienen sein muss. 49 Plut., Mul. vir. prooem., 243b. So auch im Ps.-Platonischen Dialog Theages, in welchem Sokrates Bakis und die Sibylle als Protagonisten des Sehertums nennt: [Plat.] Theages 124d. Zu Männern und Frauen als Verfassern von prophetischer Dichtung s. auch POTTER, 1990, 476, der gar eine „independent tradition of female prophecy in the preclassical world“ in Betracht zieht. 50 Die in der Sekundärliteratur häufig postulierte ‚Grundregel‘ religiöser Organisation in Griechenland, männliche Götter hätten männliche Priester, Göttinnen hingegen Priesterinnen gefordert (TURNER, 1983, VI; CONNELLY, 2007, 2) weist zahlreiche Ausnahmen auf (BURKERT, 2011, 155; HORSTER, 2012, 9). Das Kultpersonal konnte z.B. in den einzelnen Heiligtümern aus Männern und Frauen zusammengesetzt sein: In Argos ist sowohl von den Priesterinnen, aber auch einem männlichen hiereus (Priester) der Hera die Rede (Hdt., VI 8,1). Oder aber das Geschlecht der Amtsträger wich von dem der Gottheit ab: in Argos und Lindos besaß z.B. Athena einen männlichen Priester (Kallim., Hymn. 5,35–43 mit Schol. 37; CONNELLY, 2007, 28). 51 Zu den delphischen Sakralämtern: s. ROUX, 1971, 55-70; BOWDEN, 2005, 14–16; CONNELLY, 2007, 73; Prophetes: COMPTON, 1994, 222. 52 Plut., Num. 9,5. PARKE/WORMELL, 1956 I, 35 f.; CONNELLY, 2007, 43.
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eines männlichen Mediums pflegen können. Sie wählten die Lösung, einer weiblichen Stimme göttliche Autorität zuzugestehen. Welche Anforderungen wurden nun an diese Stimme gestellt und inwiefern waren sie geschlechtsspezifisch begründet? Die Lebensumstände der einzelnen Pythien in Delphi werden in den Quellen der archaischen und klassischen Zeit kaum thematisiert. Welche Voraussetzungen eine Frau erfüllen musste, um das Amt bekleiden zu können, ob und inwiefern dies Beschränkungen des zivilen Lebens mit sich brachte, bleibt in vielerlei Hinsicht fraglich. Vor diesem Hintergrund haben die wenigen Nachrichten des kaiserzeitlichen Autors Plutarch überproportionales Gewicht in der Forschung erlangt – auf ihn stützen sich fast alle Thesen zur Lebensführung und zum sozialen Hintergrund der Amtsinhaberinnen:53 Demnach sei die Pythia erstens eine jungfräuliche Priesterin gewesen. Sie habe außerdem in klosterähnlicher Zurückgezogenheit gelebt. Schließlich sei sie aus einfachen, bäuerlichen Familien ausgewählt worden und habe selbst keinerlei Bildung besessen.
5. Jungfrauen als Sprachrohr Apollons: Die jungfräuliche Pythia? War ein jungfräulicher weiblicher Körper also Voraussetzung für das Amt der Pythia? Akzeptierte Apollon eifersüchtig nur eine Jungfrau als sein Sprachrohr – ebenso wie er im Bereich seiner Liebschaften keinen Nebenbuhler duldete?54 Die mythologischen Quellen machen deutlich, dass in der griechischen Vorstellungswelt die Fähigkeit zur Divination nicht von körperlicher
53 Zum übermäßig starken Einfluss Plutarchs und seiner Beschreibung kaiserzeitlicher Verhältnisse auf die Wahrnehmung Delphis in der Neuzeit: COMPTON, 1994, 218; ebenso FLOWER, 2008b, 231 f. 54 Vgl. die Tötung von Apollons untreuer Geliebter Koronis: Pind., P. 3,8–21. FLOWER, 2008b, 224 argumentiert gegen die Vorstellung, die Pythia sei im sexuellen Sinne die „Braut des Gottes“, und die Orakel entsprängen jeweils einer sexuell konnotierten „Inbesitznahme“ der Pythia durch den Gott (so etwa MAURIZIO, 2001, 48). Diese Vorstellung finde sich – so Flower – nicht in den antiken Texten. Ebenso bereits PARKE/WORMELL, 1956 I, 35. Differenzierter hierzu JOHNSTON, 2008, 40: späte christliche Quellen haben durchaus diese Interpretation (Joh. Chrys., 29. Homilie zum 1. Korintherbrief 12,1 [MPG 62, p. 242]; Orig., Cels. VII 3 f.). Johnston stellt allerdings a.O. zu Recht fest, dies habe wohl wieder einmal nur dazu gedient, einen zentralen paganen Kult durch dessen Sexualisierung herabzusetzen. Aus den paganen Quellen lässt sich die Vorstellung tatsächlich nicht unmittelbar ableiten. Entsprechend fragwürdig erscheint das farbige Bild, welches SISSA, 1987, 62–65 von der Inbesitznahme eines angeblich jungfräulichen Körpers der Pythia durch Apollon gezeichnet hat.
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Virginität abhängig war:55 Apollons Prophetin Kassandra verliert z.B. als trojanische Kriegsgefangene ihre Jungfräulichkeit. Aber die Vergewaltigung durch Aias und/oder Agamemnon lässt die Fähigkeit zur Weissagung, die sie von Apollon erhalten hat, nicht verschwinden: so stellt es zumindest Aischylos in seinem Drama Agamemnon dar.56 In anderen Quellen geht etwa die mythische Seherin Manto, Tochter des Teiresias, die (nach späten Quellen) von Apollon Mutter des Sehers Mopsos wird, problemlos die Ehe mit einem Kreter namens Rhakios/Lakios ein.57 Geschlechtsverkehr unter Menschen galt allerdings in kultischen Kontexten als verunreinigende Aktivität. In einem Heiligtum war er absolut unerwünscht. Kultisch rein zu sein, bevor man etwa ein Opfer darbrachte oder ein Heiligtum betrat, war eine Anforderung, die sich an Männer und Frauen richtete.58 Kultische Funktionäre und Funktionärinnen hatten entsprechend bestimmte Reinheitsregeln zu beachten, die sich nach der lokalen Tradition richteten. Jungfräulichkeit oder dauerhaft zölibatäres Leben war hierbei allerdings nicht die Regel.59 Lokale Priesterämter konnten gelegentlich unverheirateten jungen Mädchen oder auch Knaben vorbehalten sein, weil man etwa eine bestimmte Altersstufe für ein Priesteramt wünschte – z. B. ein junges Mädchen für Artemis oder einen Knaben für Apollon. 60 Unverheiratete jugendliche Amtsinhaber brachten den Nebeneffekt mit sich, der Anforderung kultischer Reinheit besonders gut zu entsprechen, da man davon ausging, sie hätten keinen Geschlechtsverkehr. Im Normalfall war ihr Amt aber befristet, oft als Jahrespriestertum.61 55
Diese Vorstellung findet sich noch bei TRAMPEDACH, 2015, 2001: „Die weiblichen Medien (außer der Pythia auch Kassandra und die Sibylle) erscheinen in der Überlieferung stets als Jungfrauen.“ 56 Aeschyl., Ag. 1080–1197.1215. 57 Z.B. Hes., Frg. 214 Most; Epigoni Frg. 4. West; Apollod., Bibl. III 85 [= III 7,4]; Paus., VII 3,1; SCHEER, 1993, 168.184 f.; FLOWER, 2008b, 43; JOHNSTON, 2015, 483. 58 PARKER, 1983, 74 f. 59 JOHNSTON, 2008, 42. Zur einjährigen Enthaltsamkeit, die etwa dem Priester des Herakles in Phokis auferlegt war, und die eine deutliche Ausnahme darstellt, s. Plut., Pyth. or. 20, 403f. Andere Beispiele, die als Ausnahmen berichtet werden, finden sich bei Pausanias (VIII 13,1): die Essenen im einjährigen Dienst der Artemis von Ephesos sowie das Priesterpaar für Artemis Hymnia in Orchomenos/Mantineia, welches sein Leben in Reinheit verbringt (allerdings offenbar erst in vorgerücktem Alter ernannt wird). Vgl. auch PARKER, 1983, 86 f.; BURKERT, 2011, 155. 60 Jugendliche Artemispriesterin: Paus., VIII 5,11 f.; ein junger Priester für Hermes in Tanagra: Paus., IX 22,1–8; Knabe für Apollon in Theben: Paus., IX 10,4; ein schöner Knabe als Priester in Aigai: Paus., VII 24,4. S. VIITANIEMI, 1998, 52–54. Allgemein zu lokalen Altersvorschriften für Priesterinnen: DILLON, 2002, 75. 61 S. etwa den Fall der für ein Jahr ernannten Jungfrau im Dienst der Aphrodite von Sikyon: Paus., II 10,4. Zum Fall der ephesischen Artemispriesterinnen: CONNELLY, 2007, 41.
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Im Gegensatz dazu war das Amt der Pythia offenbar ohne zeitliche Begrenzung.62 War sie tatsächlich an lebenslange Jungfräulichkeit gebunden? Die Vorstellung von der jungfräulichen Pythia stützt sich vor allem auf drei Quellenstellen.63 Die Autoren dieser Stellen sind vergleichsweise späten Datums: Diodor im 1. Jahrhundert v. Chr. und der schon erwähnte Plutarch im frühen 2. Jahrhundert n. Chr.64 In den alten Zeiten, so Diodor, hätten in Delphi junge unverheiratete Mädchen (parthenoi) die Aufgabe der Orakelübermittlung innegehabt: 65 Diese seien nämlich adiaphthoron und glichen der Artemis. Man sei der Meinung gewesen, so Diodor, unverheiratete Mädchen könnten die Geheimnisse des Orakelgebens besonders gut bewahren. Diodor spricht mit der Charakterisierung τῆς φύσεως ἀδιάφθορον wohl nicht von körperlicher Vollkommenheit in der Bedeutung unversehrter Virginität.66 Er 62
Zum lebenslangen Dienst (διὰ βίου) zur Zeit Plutarchs s. Plut., Def. or. 46, 435cd. Während einige christliche Autoren die Beziehung der Pythia zu Apollo sexualisieren (s. o. Anm. 54) greifen andere Kirchenväter den Fall der Pythia gemeinsam mit anderen Beispielen enthaltsamer Priesterinnen als exemplum zum Ruhm der Jungfräulichkeit (in kurzen Zitaten und ebenfalls ohne spezifische Sachkenntnis) auf: s. etwa Tert., Uxor. I 6,4: et quae Delphis insaniunt nubere nesciunt; Hier., Epist. 123,7 (Brief an Geruchia): welcher den „Jungfrauen der Vesta, Apollos, der Juno von Achaia, der Diana und Minerva“ unterstellt, ihr priesterliches Amt bis ins hohe Alter hinein unter Wahrung ihrer Jungfräulichkeit verwaltet zu haben. 64 Die Quelle Diodors für diese Nachricht ist unbekannt. SCHWARTZ, 1903, 682 hat einen Rhetor um ca 100 v. Chr. in Erwägung gezogen. 65 Diod., XVI 26,6: θεσπιῳδεῖν δὲ τὸ ἀρχαῖον λέγεται παρθένους διά τε τὸ τῆς φύσεως ἀδιάφθορον καὶ τὸ τῆς Ἀρτέµιδος ὁµογενές· ταύτας γὰρ εὐθετεῖν πρὸς τὸ τηρεῖν τὰ ἀπόρρητα τῶν χρησµῳδουµένων. ἐν δὲ τοῖς νεωτέροις χρόνοις φασὶν Ἐχεκράτη τὸν Θετταλὸν παραγενόµενον εἰς τὸ χρηστήριον καὶ θεασάµενον τὴν χρησµολογοῦσαν παρθένον ἐρασθῆναι διὰ τὸ κάλλος αὐτῆς καὶ συναρπάσαντα βιάσασθαι· τοὺς δὲ Δελφοὺς διὰ τὸ γεγενηµένον πάθος εἰς τὸ λοιπὸν νοµοθετῆσαι µηκέτι παρθένον χρηστηριάζειν, ἀλλὰ γυναῖκα πρεσβυτέραν πεντήκοντα ἐτῶν χρησµολογεῖν, κοσµεῖσθαι δ᾽ αὐτὴν παρθενικῇ σκευῇ, καθάπερ ὑποµνήµατι τῆς παλαιᾶς προφήτιδος („Man sagt, dass in alter Zeit Jungfrauen die Orakel gaben, wegen der Vollkommenheit ihrer Natur und ihrer Ähnlichkeit zu Artemis. Diese hielt man nämlich für besonders gut geeignet, die unaussprechlichen Dinge des Orakelgebens zu bewahren. In jüngerer Zeit, so sagt man, kam der Thessaler Echekrates zum Orakelheiligtum, erblickte die orakelgebende Jungfrau, verliebte sich wegen ihrer Schönheit in sie und soll sie geraubt und vergewaltigt haben. Wegen dieses leidvollen Geschehens sollen die Delpher ein Gesetz verabschiedet haben, dass in Zukunft keine Jungfrau mehr die Orakel geben solle, sondern eine ältere Frau von fünfzig Jahren, die wie eine Jungfrau gekleidet sein solle, als Erinnerung an die Prophetin der früheren Zeiten“). 66 Zu den medizinischen Vorstellungen vom weiblichen Körper und über die Unkenntnis des Hymens, dessen Unversehrtheit entsprechend nicht ins Zentrum des Konzepts ‚Jungfräulichkeit‘ gestellt wurde, vgl. SISSA, 1990, 343 f.; 349. ‚Jungfrau sein‘ bedeutete demnach in der griechischen Kultur vor allem ‚nicht verheiratet sein‘ und wurde als sozialer, weniger als körperlicher Status verstanden. Ebenso VIITANIEMI, 1998, 46-47: Jungfräulichkeit sei nicht definiert „through some female anatomical organ“. 63
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betont vielmehr die Vollkommenheit (Unverdorbenheit) in der Natur junger Mädchen, die von körperlichem Verfall noch nicht betroffen sind: den Göttern ist Schönheit stets besonders angenehm, ob sie nun in Gestalt von Opfertieren, Weihgeschenken oder ihrer Funktionäre erscheint. Eine parthenos gleicht Apollons Schwester Artemis aber nicht nur im Hinblick auf eine bestimmte Altersgruppe, in der der weibliche Körper kurz vor der Verehelichung die höchste Stufe der Schönheit erreicht. Wie die Göttin hat eine parthenos weder einen Liebhaber, dessen Einflüsterungen sie womöglich unterliegt, noch einen Ehemann, der versuchen könnte, seine Autorität in irgendeiner Form geltend zu machen. Jungfrauen sind entsprechend nicht korrumpierbar. Dass sie zur (auch sprachlichen) Zurückhaltung erzogen und an eine überwachte und zurückgezogene Existenz gewöhnt sind, kommt noch hinzu.67 Zu Diodors eigener Zeit ist die Pythia allerdings kein junges Mädchen mehr: Ein Fragesteller aus Thessalien namens Echekrates habe eine jugendliche Pythia entführt und vergewaltigt. Darauf hätten die Delpher ein Gesetz erlassen, in Zukunft solle keine Jungfrau, sondern eine ältere Frau um die Fünfzig für die Orakelerteilung zuständig sein. Diese solle aber ins Gewand einer Jungfrau gekleidet sein, um an die Verhältnisse der früheren Zeit zu erinnern. Diodors Erklärung für diese Änderung ist typisch für die Geschlechterbilder und -verhältnisse der griechischen Gesellschaft: Junge Mädchen, die sich nicht im Elternhaus aufhalten und nicht unmittelbar von ihrer Familie bewacht oder kontrolliert werden können, gelten als hochgefährdete Wesen, selbst wenn sie ein Priesteramt innehaben. Die entführte oder vergewaltigte junge Priesterin begegnet mehrfach in den Quellen.68 Die historische Glaubhaftigkeit einer derartigen Erzählung ist zu scheiden von ihrer aitiologischen Funktion. Robert Parker hat in anderem Kontext grundsätzlich festgestellt, es sei „foolhardy to assume that the terms on which priesthoods in a particular cult were held could never change“.69 Nimmt man Diodors Bericht vom Wechsel zu älteren Pythien ernst, so wäre er eine aitiologische Erklärung für eben dieses Geschehen. Über historische Beispiele jugendlicher Pythien ist aus den Quellen allerdings nichts Konkretes bekannt.70 Michael Flower hat entsprechend in Erwägung gezogen, Diodors Erzählung habe ihren Ursprung 67
Vgl. unten zum Thema der „ungebildeten“ Pythia: Anm. 122. Vergewaltigte jungfräuliche Priesterin: andere Beispiele etwa bei Pausanias, VIII 5,11 f., sowie VIII 13,5 zur Priesterin der Artemis Hymnia bei Mantineia. Auch hier wird für die Zukunft die gleiche Lösung gewählt: Man ernennt in der Folge eine ältere Frau zur Priesterin. Vgl. auch CONNELLY, 2007, 44. 69 PARKER, 1983, 79. 70 FLOWER, 2008b, 223. Die These von ROUX, 1971, 68 (aufgegriffen auch von CONNELLY, 2007, 299 Anm. 95), aus den Texten Plutarchs „gewinne man den Eindruck“, zur Zeit Plutarchs sei man wieder zu einer jugendlichen Pythia zurückgekehrt, beruht auf keiner tragfähigen Quellenbasis. 68
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in dem Versuch, das für eine ältere Frau offenbar auffällige Erscheinungsbild der Pythia zu erklären.71 Die Pythia als ältere Frau erscheint hingegen mehrfach in den Quellen: Aischylos hat sie ausdrücklich als Greisin bezeichnet.72 Euripides macht im Ion zwar keine Altersangabe, aber der Titelheld Ion wurde als Säugling von der Pythia auf der Schwelle des Tempels gefunden und ist zum Zeitpunkt der Handlung ein junger Mann. Er nennt die Pythia Mutter (meint hierbei allerdings ausdrücklich „Ziehmutter“73), sie spricht ihn als Sohn oder Kind an.74 Dem Publikum wird auf diese Weise klar gemacht, dass die Seherin sich im Vergleich zu Ion in fortgeschrittenem Alter befindet. Auch Plutarch thematisiert nicht ausdrücklich, aus welcher Altersgruppe man eine neue Pythia auswählt: Bezeichnenderweise spricht er aber von der Pythia als einer gyne und nicht als parthenos.75 Gyne ist die Bezeichnung für eine erwachsene (und im Normalfall verheiratete) Frau.76 Diese Begriffswahl könnte darauf hindeuten, dass auch zu Plutarchs Zeit erwachsene Frauen für das Amt ausgewählt wurden. Plutarchs Nachrichten scheinen auf den ersten Blick jedoch auf Jungfräulichkeit der Pythia hinzuweisen: In seiner Diskussion über die Wirkung des delphischen pneuma (des göttlichen Hauches, auf den manche die besondere Wirksamkeit des Ortes zurückführen wollen), bemerkt er nebenbei, wenn dieses pneuma bei jedem wirke, dann sei es unvernünftig, eine einzige Frau (gyne) um der Orakel willen anzustellen, und ihr die Mühe zu machen, dass man ihr ganzes Leben lang über ihre Reinheit wache. Die Pythia soll hagne und kathareuousa sein: rein und gereinigt.77 Dieser Anspruch gilt ihr Leben lang. Etwas später im gleichen Text kommt Plutarch nochmals auf die Anforderungen an die Pythia zurück:78 Man wache darüber, dass der Körper der Pythia von geschlechtlichem Verkehr rein sei 71
FLOWER, 2008b, 223. Aeschyl., Eum. 38: γραῦς. Vgl. auch die Darstellung der Pythia auf einem Vasenbild des 4. Jahrhunderts als alte Frau mit weißem Haar: JOHNSTON, 2008, 41. 73 Eur., Ion 1324: [Ion] χαῖρ᾽, ὦ φίλη µοι µῆτερ, οὐ τεκοῦσά περ. 74 Eur., Ion 1320–1323: [Pythia]: ἐπίσχες, ὦ παῖ. 75 Plut., Def. or. 46, 435cd: ὅθεν εὔηθές ἐστι τὸ µιᾷ γυναικὶ πρὸς τὰ µαντεῖα χρῆσθαι, καὶ ταύτῃ παρέχειν πράγµατα φυλάττοντας ἁγνὴν διὰ βίου καὶ καθαρεύουσαν („Deshalb ist es töricht, dass man für die Orakel eine einzige Frau benutzt, und ihr Schwierigkeiten macht, indem man sie darauf hin überwacht, ihr Leben lang rein und gereinigt zu sein“). 76 VIITANIEMI, 1998, 48 f. 77 PARKER, 1983, 147: Hagnos als Standardbegriff, um die Reinheit des Verehrers zu beschreiben, der als „fitness to worship“ zu verstehen wäre (ebd. 149). Für katharos im Sinne von „a clean mind“ bzw. „ohne Schuld“: PARKER, 1983, 232.367. 78 Plut., Def. or. 51, 438c: τούτων ἕνεκα καὶ συνουσίας ἁγνὸν τὸ σῶµα καὶ τὸν βίον ὅλως ἀνεπίµικτον ἀλλοδαπαῖς ὁµιλίαις καὶ ἄθικτον φυλάττουσι τῆς Πυθίας („Deshalb wachen sie darüber, dass der Leib der Pythia rein vom geschlechtlichen Verkehr und ihr Leben vom Umgang mit Fremden völlig unberührt bewahrt wird“). 72
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(συνουσίας ἁγνὸν τὸ σῶµα), und man achte darauf, dass ihr gesamtes Leben unberührt sei von der Gemeinschaft mit Fremden (ἀλλοδαπαῖς ὁµιλίαις). Was lässt sich nun hieraus im Hinblick auf die Vorstellung einer lebenslangen Jungfräulichkeit der Pythia schließen? Plutarch bestätigt zunächst einmal, was sich auch aus früheren Quellen erschließen lässt, dass das Amt der Pythia von der Amtsträgerin langfristig versehen wurde. Um ihrer Funktion angemessen nachzukommen, musste sie sich vor der Orakelprozedur den lokalen Reinheits- und Reinigungsriten unterziehen und wurde diesbezüglich überwacht. Von einer gewissen Körperdisziplin der Pythia, wie Trampedach formuliert hat, ist also durchaus auszu79 gehen. Die Details für das Erreichen und langfristige Aufrechterhalten dieser kultischen Reinheit nennt Plutarch hier nicht ausdrücklich, in anderem Kontext beschreibt er allerdings, dass die Pythia den Tempel unparfümiert 80 betrat, und dass Räuchern mit Lorbeer zum delphischen Ritual gehörte. Andere Autoren nennen etwa das Bad in der kastalischen Quelle und das 81 Trinken von Quellwasser als Vorbereitung des prophetischen Rituals. Dass zur kultischen Reinheit auch Enthaltsamkeit oder Reinigung vom Geschlechtsverkehr gehörte, musste nicht ausdrücklich gesagt werden, diese Regel galt für die meisten kultischen Vollzüge in der griechischen Kultur (ein 82 Bad zu nehmen oder sich zu waschen war hierfür häufig ausreichend ). Ob die Verpflichtung zur Enthaltsamkeit für die Pythia aber eine durchgängige Forderung war – seit ihrer Geburt, ab Amtsantritt – oder ob der Status der Reinheit vor jeder Befragung des Orakels erneut hergestellt werden konnte, 83 ist eine andere Frage. Unverheiratete junge Mädchen galten per se als enthaltsam. Hätte man sich aber auch eine 50jährige Frau, die das Amt antritt, als sexuell völlig unerfahrene Jungfrau zu denken? Blickt man auf die üblichen Geschlechterverhältnisse in der griechischen Gesellschaft, so wäre dies sehr unwahrscheinlich. In der griechischen Polis gibt es keinen Platz für Junggesellinnen (und auch nicht für Junggesellen).84 Bürgerliche Frauen, die dieses Alter erreichten, 79
TRAMPEDACH, 2015, 200. Plut., Pyth. or. 6, 397a. CONNELLY, 2007, 76 f. 81 S. zum Wassertrinken und Baden: Paus., X 24,7; das Bad in der kastalischen Quelle s. Schol. Eur., Phoen. 224; DILLON, 2002, 98. Kallimachos deutet an, dass auch zeitweiliges Schlafen auf Lorbeerzweigen zur Vorbereitung gehört haben könnte: Kallim., Iamb. 4 Frg. 194, 26 f. Pf. 82 PARKER, 1983, 74 f. 83 Vgl. ähnlich auch PARKER, 1983, 87, der kurze Perioden von Enthaltsamkeit für lebenslange Priesterämter in Betracht zieht, aber 93 für die Pythia dann doch wieder annimmt, sie sei „certainly bound to strict chastity during her tenure of office“. Anders und durchaus überzeugend BOWDEN, 2005, 16, der die Pflicht zu ritueller Reinigung für die Pythia in Vorbereitung der Orakeltermine annimmt, aber von keinen weiteren Restriktionen ihres Lebens ausgeht. 84 DILLON, 2002, 106. 80
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waren im Normalfall eine Ehe eingegangen. Es lag im Interesse der männlichen Familienmitglieder, auf diese Weise die Versorgung der Frauen der Familie zu gewährleisten.85 Dass die Einwohner von Delphi potentiell einen Kreis von unverheirateten bürgerlichen Frauen vorhielten, um aus ihnen den Posten der Pythia zu besetzen ist nicht anzunehmen. Im Fall 50jähriger Frauen aus bürgerlicher Familie dürfte allerdings die Wahrscheinlichkeit der Verwitwung vergleichsweise hoch gewesen sein. Unmittelbar aus Delphi sind keine Aussagen über das lokale Heiratsalter bekannt. Im Allgemeinen machen griechische Quellen aber deutlich, dass ein größerer Altersunterschied zwischen Braut und Bräutigam üblich war: Mädchen wurden in sehr jugendlichem Alter verheiratet.86 Schließlich hatten 50jährige Bürgerinnen potentiell Kinder geboren. Dies schloss die Übernahme eines sakralen Amtes nicht aus: Lysimache, die im 5./4. Jahrhundert 64 Jahre lang das Amt der Priesterin für Athena Polias in Athen innehatte, war verheiratet und Mutter von Kindern. Ihre Eignung für den Dienst an der jungfräulichen Göttin Athena hatte dieser Familienstand offensichtlich nicht beeinträchtigt.87 Im Fall 50jähriger Bürgerinnen ist entsprechend auch in Delphi kaum mit Frauen zu rechnen, die einen buchstäblich jungfräulichen Körper besaßen. Sie wurden aber wohl als jenseits des gebärfähigen Alters angesehen – und hatten im Allgemeinen gegenüber ihrer Familie und der Stadt die Pflicht bereits erfüllt, Nachkommen zu gebären.88 Dies bestätigt – zumindest für das 2./3. Jahrhundert n. Chr. – eine delphische Inschrift, in der tatsächlich ein Sohn oder Enkel der Pythia erwähnt wird: Marcus Iunius Mnaseas, Schreiber des Bundes der Amphiktyonen, ist Πυθίας ἔγγο[νος καὶ ἄλλ|ων πολλ[ῶν ἱερειῶν ἀ]πόγονος.89 Für eine Pythia war also nicht Virginität in der Bedeutung eines lebenslang intakten Hymens entscheidend. Ausschlaggebend war vielmehr, dass ihr Körper während der Orakelerteilung kultisch rein war. 90 Diese kultische Reinheit konnte nach Bedarf und je nach Lokalbrauch mehr oder weniger aufwendig rituell hergestellt werden. Was das Vorleben der Pythia anlangt, so scheinen leibliche Kinder nicht als unpassend empfunden worden zu sein – im Gegenteil, der genannte Mnaseas ist offensichtlich stolz auf seine Abstammung. Plutarch formuliert an anderer Stelle, worauf es an85 SCHEER, 2011, 23. Die Wahrscheinlichkeit (zumindest früher einmal) verheirateter Pythien wird auch bei PARKE/WORMELL, 1956 I, 36 betont; PARKER, 1983, 93. 86 SCHEER, 2011, 17–19.86. 87 Lysimache: PARKER, 1983, 88. CONNELLY, 2007, 62; TURNER, 1983, 176. 88 Vgl. auch oben den bei Pausanias, VIII 5,11 f. erwähnten Fall in Mantineia: Statt einer Jungfrau ernennt man nun eine ältere Frau zur Priesterin, „die vom Verkehr mit Männern bereits genug hat“. 89 LA COSTE-MESSELIÈRE, 1925, 86, Nr. 12; FdD III 1.553, Datierung 175–225 v. Chr. Vgl. auch PARKE/WORMELL, 1956 I, 36; JOHNSTON, 2008, 41. Den Hinweis auf diese Inschrift verdanke ich P. Sánchez. 90 So auch FLOWER, 2008b, 225. PARKE/WORMELL, 1956 I, 35.
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kam: Die derzeit amtierende Pythia habe bis zu ihrer Ernennung auf schöne (kalos) und wohlgeordnete (eutaktos) Weise gelebt.91 Für eine griechische Bürgersfrau bedeutete dies die Existenz als ehrbare Ehefrau. Was mit der bei Diodor genannten παρθενικὴ σκευή (Ausstattung oder Kleidung einer Jungfrau) in Bezug auf die Pythia gemeint ist, lässt sich nur erschließen. Kleiderbräuche waren in den griechischen Poleis ebenfalls lokal geregelt, eine einheitliche Jungfrauentracht gab es nicht.92 In Justins Beschreibung des Gallier-Überfalls auf Delphi treten die delphischen Priesterinnen auf cum insignibus atque infulis.93 Sie sind an Ehrenzeichen und Binden kenntlich, deren Aussehen aber nicht weiter beschrieben wird. Offensichtlich ging von der Aufmachung der amtierenden Pythia, ihrer Kleidung oder Frisur, ein visuelles Signal aus, das sie als Frau charakterisierte, die keinen Geschlechtsverkehr hat und die deshalb den sakralen Reinheitsregeln genügt.
6. „Klösterliche Abgeschiedenheit“ für die Pythia? Vorstellungen von der klösterlich lebenden Pythia, dürften vom neuzeitlichen (und von christlichen Vorstellungen beeinflussten) Jungfräulichkeitsdiskurs um die Pythia mit geprägt worden sein. Entsprechend ist die Notwendigkeit einer „räumlichen Klausur“ der Pythia angenommen worden.94 Wie eine solche konkret vorzustellen wäre, bleibt weitgehend unklar: Plutarch bemerkt lediglich für seine Zeit, dass man auf die Reinheit der Pythia achtet und sie keine Kontakte mit Fremden haben soll.95 Diese Forderung unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom Verhaltenskodex für ehrbare Bürgerinnen, für die Kontakte mit fremden Männern ebenfalls nicht als schicklich erachtet wurden.96 Wo die Pythia konkret ihren Wohnsitz hat, berichtet 91
Plut., Pyth. or. 22, 405cd. Vgl. allgemein zur Kleidung von Priesterinnen CONNELLY, 2007, 86 f. CONNELLY, 2007, 97 vertritt die Meinung, auf Vasenbildern sei die Pythia (wie auch andere prominente Priesterinnen) vor allem als Trägerin des Tempelschlüssels dargestellt worden. 93 Iust., XXIV 8. 94 FAUTH, 1963, 523: „Jedenfalls verlangte das rituelle Keuschheitsgebot sicherlich eine räumliche Klausur der Apollondienerin.“ FRIESE, 2010, 36: „Strenge Isolation … gehörte zum Alltag (sic!) jeder Pythia.“ Ähnlich auch JOHNSTON, 2015, 481: „The Pythia had little interaction with anyone outside of the Delphic sanctuary once she took office.“ TRAMPEDACH, 2015, 200: „strenge Abgeschlossenheit“. Vasenbilder, in denen die Pythia gern mit dem Tempelschlüssel in der Hand dargestellt wird, lassen sie allerdings eher als Frau „mit Schlüsselgewalt“ erscheinen, denn als eingesperrte Person: S. oben Anm. 92. 95 Plut., Def. or. 51, 438c. S. oben Anm. 78. 96 Ähnlich auch BOWDEN, 2005, 16: „There is no evidence to suggest that her life was particularly restricted in other ways [sc. über die Reinigungsrituale vor der Orakelprozedur hinaus], beyond the fact that the lives of citizen women in all Greek city states were very 92
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Plutarch nicht. Inschriftliche Quellen geben in diesem Punkt zusätzliche Information. In zwei Fällen wird ein „Gebäude der Pythia“ erwähnt. Die Inschriften stammen aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. bzw. aus der Kaiserzeit und dokumentieren jeweils die Renovierung des Bauwerks.97 Weder dessen Standort noch Gestalt sind bekannt.98 Dass es der dauerhafte oder gar „klösterlich abgeschiedene“ Aufenthaltsort der Pythia gewesen ist, in dem sie wohnte, lässt sich aus den Inschriften ebenfalls nicht ableiten.99 Es könnte sich bei diesem Bauwerk auch um ein Amtslokal handeln, das die Pythia zur Vorbereitung auf das Orakel-Ritual zeitweilig aufsuchte.100 Für den delphischen Orakelbetrieb wird überliefert, in frühen Zeiten seien nur einmal jährlich Orakel gegeben worden, am Geburtstag Apollons, später dann einmal im Monat (mit Ausschluss der Wintermonate).101 An diesen Terminen sei der Andrang dann manchmal so stark gewesen, dass sich zwei Pythien (mit einer weiteren als éphedros/Beisitzerin) abgewechselt hätten.102 Nimmt man diese Information ernst, so ergeben sich nur wenige Tage im Jahr (nämlich neun), an denen die Pythia und ihre Kollegin(nen) tatsächlich gefordert gewesen wären.103 Was taten sie den Rest der Zeit? Die Vorstellung von einer Pythia oder auch von drei Funktionärinnen als ‚Kollegium‘, die ohne weitere Aufgabe jahrelang abgeschottet in einem gemeinsamen oikema im Heiligtum gelebt hätten, sollte zumindest überdacht werden. Inschriftliche Zeugnisse aus anderen Heiligtümern machen des öfteren klar, dass die Inha-
circumscribed.“ Ebenso JOHNSTON, 2008, 44 zum allgemeinen Bild der respektablen Bürgerin. 97 S. FdD III 5.50 col III 1: ein Dokument aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., das sich auf die Abrechnungen des Heiligtums bezieht: τοῦ οἰκή [µ]ατος τοῦ τῆι Π[υθίαι. Das oikema für die Pythia ist hier für 2 Minen ausgebessert worden. Das zweite Beispiel bezeugt die Renovierung des Hauses der Pythia durch die Amphiktyonen in der Kaiserzeit: Syll.4 823: τὴν οἰκίαν τῇ Πυθίᾳ; s. auch JACQUEMIN et al., 2012, 222 f.; Haus der Pythia ebd. 423, Nr. 239. Vgl. ROUX, 1971, 69; SÁNCHEZ, 2001, 448; vgl. oben Anm. 31. 98 JACQUEMIN et al., 2012, 423; FRIESE, 2010, 291.309. 99 So etwa FAUTH, 1963, 523: „dass nach inschriftlichem Befund zumindest die amtierende P. ihren Wohnsitz innerhalb des Tempelbezirks gehabt haben muss.“ DILLON, 2002, 77 entwirft auf der Basis lediglich der inschriftlichen Erwähnung des Gebäudes das Bild der Pythia, die in ihrem eigenen Haus im Heiligtum, getrennt von einem eventuellen Ehemann, gelebt habe. Vgl. auch ROUX, 1971, 69. 100 Ähnlich auch JACQUEMIN et al., 2012, 42: „une sorte de logement de fonction?“ Die Pythia bewegte sich durchaus auch außerhalb des heiligen Bezirks: sie wurde etwa am Tag vor der Orakelerteilung feierlich vom Prophetes ins Prytaneion geleitet: s. Plut., De E 16, 391d. Zur Lage des Prytaneions: BOMMELAER/LAROCHE, 2015, 191.235. 101 Kallisth. FGrHist 124 Frg. 49 = Plut., Qu.Gr. 9, 292d–f; S. auch DILLON, 2002, 98; BOWDEN, 2005, 17; STONEMAN, 2011, 27. 102 Plut., Def. or. 8, 414b; vgl. PARKE/WORMELL, 1956 I, 35. 103 S. auch BOWDEN, 2005, 17. DILLON, 2002, 98.
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ber von sakralen Ämtern nicht dauerhaft im Heiligtum anwesend waren, sondern sich dies nach ihren Aufgaben richtete.104
7. Die Pythia: Tochter armer Bauern? Schließlich wäre noch zu fragen, was von Plutarchs Aussage zu halten ist, die Pythia wäre das Kind armer Bauern:105 τραφεῖσα δ᾽ ἐν οἰκίᾳ γεωργῶν πενήτων (aufgezogen im Haus armer Bauern). Plutarch mag im speziellen Fall der zu seiner Zeit amtierenden Pythia Recht haben, aber die Frage stellt sich, ob seine Charakterisierung im Hinblick auf die Pythien generell repräsentativ sein kann.106 Ist es wahrscheinlich, dass die Herkunft der Pythia in Delphi keine Rolle spielte, oder man sie sogar bewusst aus einer ärmeren Familie ausgewählt hat? Auch in diesem Fall erscheint der Blick auf die sonst überlieferten Vergabepraktiken von wichtigen sakralen Ämtern in Griechenland interessant: Im Normalfall sind Priesterämter nichts für arme Leute, nur gelegentlich werden sie unter allen Bürgern oder Bürgerinnen verlost. Priesterämter können in Elitefamilien vererbt, seit dem Hellenismus in Kleinasien in zahlreichen Fällen sogar um viel Geld versteigert werden.107 Ansonsten stellen sie eine Möglichkeit dar, hohes Sozialprestige zu erwerben, nicht zuletzt indem ein Amtsinhaber den Reichtum und Ansehen der Familie in das Amt miteinbringt. Delphi scheint hier keine Ausnahme darzustellen: Im Rahmen des Apollonkultes stammen wichtige Funktionäre eben nicht von einfachen Bauern ab: Für Euripides sind z.B. die (männlichen) Prophetai aus den Besten der Delpher erlost.108 Plutarch berichtet vom Anspruch der delphischen Kult104
Vgl. etwa die sog. Lex sacra aus dem Amphiareion von Oropos, in der eine Anwesenheitspflicht von 10 Tagen im Monat für den Priester festgesetzt wird: LSCG 69. 105 Plut., Pyth. or. 22, 405cd: ὥσπερ ἡ νῦν τῷ θεῷ λατρεύουσα γέγονε µὲν εἴ τις ἄλλος ἐνταῦθα νοµίµως καὶ καλῶς καὶ βεβίωκεν εὐτάκτως: τραφεῖσα δ᾽ ἐν οἰκίᾳ γεωργῶν πενήτων, οὔτ᾽ ἀπὸτέχνης οὐδὲν οὔτ᾽ ἀπ᾽ ἄλλης τινὸς ἐµπειρίας καὶ δυνάµεως ἐπιφεροµένη κάτεισιν εἰς τὸ χρηστήριον („So wie auch diejenige, die jetzt dem Gott dient, in so rechtmäßiger Ehe erzeugt ist wie nur irgendjemand, und ihr Leben in schöner und wohlgeordneter Weise geführt hat: da sie aber im Haus armer Bauern aufgezogen worden ist, bringt sie weder eine spezielle Kunst, noch irgendein Wissen, noch Können mit, wenn sie in das Orakelgebäude hinabsteigt“). 106 Auch CONNELLY, 2007, 73 sowie BOWDEN, 2005, 16 nehmen offenbar Plutarchs Aussage als repräsentative Quelle für die Herkunft der Pythia bereits in der Frühzeit. Dass die Pythia „early on“ aus der „local peasantry“ gewählt worden sei, belegen die Quellen aber nicht. 107 Vgl. CONNELLY, 2007, 44.46–55; CHANIOTIS, 2008, 20 f.; HORSTER, 2012, 9. 108 Eur., Ion 415 f.: οἳ πλησίον θάσσουσι τρίποδος, ὦ ξένε, / Δελφῶν ἀριστῆς, οὓς ἐκλήρωσεν πάλος. („Die nächst am Dreifuß sitzen, aus der Delpherstadt / Die Besten,
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funktionäre, die hosioi genannt wurden, der ältesten delphischen Familie überhaupt anzugehören, die sich auf Deukalion und die Zeit der Sintflut zurückgeführt habe.109 Zur Zeit Plutarchs nahm dessen Bekannte Klea in Delphi ein wichtiges Amt im Dionysoskult ein – sie stammte so wie Plutarch selbst unzweifelhaft aus der Oberschicht.110 Plutarchs Aussage über den sozialen Hintergrund der zu seiner Zeit amtierenden Pythia macht immerhin deutlich: Ihre Geburt ist ehelich. Als Kind von Bauern ist sie darüber hinaus die Tochter von örtlichen Grundbesitzern.111 Dies dürfte für die Mehrheit delphischer Bürger zugetroffen haben, deren Charakterisierung als arm oder reich eine Frage der Perspektive sein konnte (oder aber einer bestimmten Erzählabsicht Plutarchs geschuldet ist). Entweder hatte sich zur Zeit Plutarchs keine Frau aus reicher Familie für das Amt gefunden (was mit dem grundsätzlichen Tenor seiner Schrift Über den Niedergang der Orakel übereinstimmen würde), da möglicherweise das mit dem Amt verbundene Prestige zurückgegangen war.112 Wie groß dieses Prestige für die jeweilige Familie war, die ein weibliches Mitglied für das Amt der Pythia zur Verfügung stellte, wird auch für die früheren Jahrhunderte nicht klar: Interessanterweise sind der Vater oder auch z.B. Brüder der Pythia kaum einmal bekannt, sie traten mit einer Amtsübernahme ihrer weiblichen Verwandten offenbar nicht mit ins Licht der Öffentlichkeit.113 Und im Gegensatz zu anderen Heiligtümern, wie z.B. dem Heraion von Argos, in dem die Priesterinnen der Hera Ehrenstatuen im Heiligtum erhielten, ist ein derart prestige-
Fremdling, die des Loses Wurf erkor“, Übers. Donner/Kannicht). Zur Herkunft der Priesterschaft aus den führenden Familien Delphis s. auch BOWDEN, 2005, 15 f. 109 Plut., Qu. Gr. 9, 292d: πέντε δ᾽ εἰσὶν ὅσιοι διὰ βίου, καὶ τὰ πολλὰ µετὰ τῶν προφητῶν δρῶσιν οὗτοι καὶ συνιερουργοῦσιν, ἅτε γεγονέναι δοκοῦντες ἀπὸ Δευκαλίωνος. („Es gibt fünf hosioi, die ihr Amt lebenslang ausüben. Sie vollführen viele Dinge in Zusammenarbeit mit den prophetai und nehmen mit ihnen gemeinsam am Vollzug der heiligen Dinge teil; man glaubt, dass sie von Deukalion abstammen.“) Vgl. BURKERT, 1972, 142; BURKERT, 2011, 154. 110 Plutarch als Mitglied der Elite: ZIEGLER, 1964, 6–8; HAAKE, 2008, 164. S. auch die Widmung einer seiner Schriften an Klea: Plut., Is. 1, 351b; CONNELLY, 2007, 220. 111 Plutarch hebt die eheliche Geburt hervor: Plut., Pyth. or. 22, 405cd. 112 Für das Augusteische Rom berichten die Quellen z. B. von Problemen, das Vestalinnenkollegium zu besetzen, da die Familien ihre Töchter nicht zur Verfügung stellten wollten: Suet., Aug. 31,3. Die These fehlenden einschlägigen Engagements reicher Familien in Delphi bereits bei POULSEN, 1924, 25. 113 Die fehlende Nennung männlicher Angehöriger der Pythia trägt zu der Schwierigkeit bei, ihren sozialen Status in der delphischen Bürgergemeinde zu bestimmen. Übernahm die Pythia erst in vorgerücktem Alter ihr Amt, so dürfte ihr Vater (und eventuell auch ein Ehemann) vermutlich meist lang verstorben gewesen sein.
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trächtiger Brauch von Seiten der Delpher für die Pythia zumindest nicht als die Regel bezeugt.114 Der familiäre Hintergrund der Pythia wird auch in den früheren Quellen – die fast ausschließlich nicht aus Delphi selbst stammen – nicht expliziert: In Euripides’ Ion bezeichnet sich die Pythia als „ausgewählt aus allen Delpherinnen“,115 an anderer Stelle des Ion erscheint sie als „delphische Frau“.116 Sowohl die Aussagen des Tragikers als auch die Plutarchs machen deutlich, dass die Pythia (wie für lokale sakrale Funktionäre üblich117) offenbar nicht aus einer ortsfremden Familie stammen sollte: Sie wird unter den delphischen Frauen ausgewählt. Die bei Plutarch betonte eheliche Geburt sichert einerseits diesen Anspruch delphischer Abkunft zusätzlich ab, trägt aber zusätzlich zum Bild einer unbescholtenen Amtsinhaberin bei, die den konventionellen Erwartungen an griechische Bürgerfrauen entspricht. Die Auswahl der Pythia dürfte also wohl unter Frauen aus delphischen Bürgerfamilien erfolgt sein, die das richtige Alter hatten, einen guten Ruf besaßen und deren Familienstand – vielleicht als Witwen – die Ausübung eines derartigen Amtes zuließ.118 Blickt man allerdings jenseits der Schriften Plutarchs – der nicht einmal den Namen der zu seiner Zeit agierenden Pythia nennt – auf die ansonsten überlieferten Eigennamen einzelner Pythien, so deuten diese nicht unbedingt 114
Eine in Ostia aufgefundene Inschriftenbasis aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. bezeugt eine (vielleicht aus Griechenland verschleppte) Statue der delphischen Orakelgeberin Charite: CONNELLY, 2007, 134. Eine Statue der angeblich ersten Pythia Phemonoe wurde im 3. Jahrhundert v. Chr. von den Alexandrinern gestiftet: FAUTH, 1963, 518; ROUX, 1971, 65. Ehrenstatuen für Priesterinnen allgemein: z. B. für Lysimache in Athen s. CONNELLY, 2007, 130; HORSTER, 2012, 13 mit Lit. Anm. 34. Zu den Bildern der Herapriesterinnen in Argos s. etwa CONNELLY, 2007, 57 f.118. 115 Eur., Ion 1323: πασῶν Δελφίδων ἐξαίρετος. In der Kaiserzeit behauptet Maximos von Tyros (Max. Tyr., 8,1) die Pythia sei eine Frau, die aufs Geratewohl (γύναιον τὸ τυχόν) aus allen Delpherinnen ausgewählt worden sei. Dass diese Wahl durch das Los erfolgte, wie DILLON, 2002, 98 angenommen hat, geht daraus nicht zwangsläufig hervor. Wenn TRAMPEDACH, 2015, 200, Wahl oder Los aus allen Delpherinnen in Erwägung zieht, aber gleichzeitig feststellt, selbstverständlich müsse die Pythia zuvor auf ihre Eignung getestet worden sein, so erscheint damit eine Auslosung ohne „Vorauswahl“ kaum möglich. 116 Eur., Ion 90: γυνὴ […] Δελφίς. 117 Bürgerliche Abkunft als Voraussetzung für Amtsübernahme in Kulten der Polis: HORSTER, 2012, 10. Plutarch selbst ist diesbezüglich die Ausnahme, da er, obwohl in Chaironeia geboren und ansässig, als Ortsfremder das Amt des delphischen Apollonpriesters innehatte: ZIEGLER, 1964, 24 f.; MAAß, 1993, 52 geht davon aus, Plutarch habe offenbar das Bürgerrecht von Delphi angenommen. 118 Dass sie aus der Gruppe der im kaiserzeitlichen Delphi für das Heilige Feuer verantwortlichen Witwen ausgewählt wurde, von denen Plutarch an ganz anderer Stelle spricht (Plut., Num. 9,5; DILLON, 2002, 102) wie PARKE/WORMELL, 1956 I, 36 vorgeschlagen haben, muss im Bereich der Spekulation verbleiben.
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darauf hin, dass die Frauen aus armen Familien stammten oder dies die geläufige Vorstellung gewesen wäre. Unabhängig von der Historizität der einzelnen Pythien lassen die ihnen im Lauf der Zeit zugeschriebenen Eigennamen wie etwa Xenokleia, Themistokleia, Aristokleia, Aristonike oder Theonike eher aristokratischen denn bäuerlich einfachen Hintergrund assoziieren.119 Mehrere Generationen nach Plutarch war es dem schon erwähnten Mnaseas wichtig, seine familiäre Abkunft unmittelbar von einer Pythia zu betonen.120 Zusätzlich charakterisiert er sich als Abkömmling vieler Priesterinnen (ob hierbei Pythien gemeint sind, ist unklar aber möglich). In der hohen Kaiserzeit erschien die Abstammung von einer Pythia entsprechend als positiv qualifizierendes Moment – und nicht als Hinweis auf eine arme Bauernfamilie. Mnaseas’ Behauptung, eine Reihe von Priesterinnen unter seinen Vorfahren zu haben (καὶ ἄλλ|ων πολλ[ῶν ἱερειῶν ἀ]πόγονος), könnte sogar darauf schließen lassen, dass auch in Delphi manche Familien häufiger als andere die Pythia (und andere weibliche Kultfunktionärinnen) stellten, diesbezüglich also durchaus mit lokalen Familientraditionen zu rechnen ist, die stolz nach außen getragen wurden.121
8. Die Pythia: eine ungebildete Kultfunktionärin? Auch im Hinblick auf den Bildungsstand, auf das religiöse Wissen der Pythia, hat sich Plutarchs Zeugnis als einflussreich erwiesen. Von ihm stammt die Behauptung, die Pythia bringe keinerlei besondere Vorbildung mit: Sie besitze weder besondere Kunstfertigkeit, noch andere Kenntnisse, Erfahrungen oder besonderes Können (dynamis).122 Diese Unwissenheit oder Unbildung begründet Plutarch mit der sozialen Herkunft der Pythia. Die Abstammung 119
f.
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Zur Überlieferung im Einzelnen s. FAUTH, 1963, 518 f. sowie CONNELLY, 2007, 74
S. oben Anm. 89. Vgl. hierzu LA COSTE-MESSELIÈRE, 1925, 83, Nr. 10, sowie auch PARKE/WORMELL, 1956 I, 36; ROUX, 1971, 67; CONNELLY, 2007, 75 zu einem weiteren Fall priesterlicher Familientradition in Delphi aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. Auch in dieser Inschrift wird die Abkunft der geehrten Ehefrau Theonike von einer Pythia hervorgehoben. 122 Plut., Pyth. or. 22, 405cd: οὔτ᾽ ἀπὸ τέχνης οὐδὲν οὔτ᾽ ἀπ᾽ ἄλλης τινὸς ἐµπειρίας καὶ δυνάµεως ἐπιφεροµένη κάτεισιν εἰς τὸ χρηστήριον, ἀλλ᾽ ὥσπερ ὁ Ξενοφῶν οἴεται δεῖν ἐλάχιστα τὴν νύµφην ἰδοῦσαν ἐλάχιστα δ᾽ ἀκούσασαν εἰς ἀνδρὸς βαδίζειν, οὕτως ἄπειρος καὶ ἀδαὴς ὀλίγου δεῖν ἁπάντων καὶ παρθένος ὡς ἀληθῶς τὴν ψυχὴν τῷ θεῷ σύνεστιν („Da sie aber im Haus armer Bauern aufgezogen worden ist, bringt sie weder eine spezielle Kunst, noch irgendein Wissen, noch Können mit, wenn sie in das Orakelgebäude hinabsteigt. Sondern wie Xenophon meint, es sei nötig, dass eine Braut möglichst wenig gesehen und gehört hat, bevor sie zum Haus ihres Ehemannes geht, so soll auch diese unerfahren und mit wenig Wissen über alles Mögliche, wahrlich jungfräulich in Bezug auf ihre Seele mit dem Gott zusammen sein“). 121
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wird in diesem Kontext zu einem gewichtigen Argument: aufgezogen als Tochter armer Bauern ist es nur logisch, dass die Pythia kein besonderes Wissen mitbringen kann.123 Im unmittelbar darauf folgenden Textabschnitt Plutarchs wird allerdings sofort deutlich, dass diese Charakterisierung keine zu generalisierende Aussage über die traditionelle Erziehung bzw. den seit jeher gewünschten Bildungsstand für das Amt der Pythia darstellt. Vielmehr beschreibt der selbst hochgebildete kaiserzeitliche Autor Plutarch eine bestimmte Pythia zu seiner eigenen Zeit und nimmt das zum Anlass, ein Idealbild der delphischen Prophetin zu suggerieren: auf die gleiche Weise, wie ein halbes Jahrtausend zuvor der attische Geschichtsschreiber Xenophon in seinem Oikonomikos die ideale junge Braut beschrieben hat.124 Plutarch nimmt an dieser Stelle sogar ausdrücklich auf Xenophon Bezug. Wie Xenophons Braut so wenig wie möglich gehört und gesehen haben soll, völlig unerfahren und ungebildet das Haus ihres Bräutigams betritt, um dann von diesem geformt zu werden, so geht Plutarchs angeblich ungebildete Pythia „wahrlich jungfräulich in Bezug auf ihre Seele“ ins Haus ihres Gottes Apollon, um dessen Botschaften zu vermitteln.125 Der Vergleich der Pythia mit einer Braut impliziert nicht zwangsläufig, dass ihr Umgang mit Apollon als Sexualkontakt verstanden worden ist. Johnston interpretiert im Kontext die „jungfräuliche Seele“ der Pythia treffend nicht etwa im Hinblick auf körperliche Jungfräulichkeit: Plutarchs Pythia sei vielmehr „uncorrupted by sophisticated ideas from the outside world“.126 Im 2. Jahrhundert n. Chr. greift Aelius Aristides das Bild der Pythia, die 127 Die delphischen Prophetinnen nichts aus eigener Kraft weiß, erneut auf: besäßen kein spezielles Wissen (episteme), welches sie vom Rest der Menschheit unterscheiden würde. Und wenn doch einmal, dann sei ihre Bildung oder ihr Wissen nicht die Grundlage ihrer Orakelsprüche; diese beruhten vollständig auf der gehorsamen Hingabe an die göttliche Macht. Deutlich wird hierbei, dass Aelius Aristides durchaus gebildete Pythien in Betracht zieht. Der entscheidende Punkt für ihn ist allerdings ein anderer: Auch eine 123
Zur methodischen Problematik, diese Aussage Plutarchs zur Herkunft der Pythia zu verallgemeinern s. FLOWER, 2008b, 223. JOHNSTON, 2008, 43 erläutert den Kontext: Die niedrige Herkunft der aktuellen Pythia erkläre einerseits die Leitfrage des Textes, warum die Pythia derzeit nicht mehr in Versen weissage, andererseits sei sie deshalb nicht fähig, eine eigenständige Meinung in den Orakelvorgang einfließen zu lassen. S. auch DILLON, 2002, 99. 124 Xen., Oec. 7,4 f. 125 Inwieweit Xenophons zitiertes Ideal der unwissenden Gattin jemals der griechischen Wirklichkeit entsprochen hat, steht nochmals auf einem ganz anderen Blatt: vgl. hierzu SCHEER, 2011, 97 f. mit Literatur. Zum möglichen „gap between discourse and reality“ im Fall auch der Pythia s. JOHNSTON, 2008, 44. 126 JOHNSTON, 2008, 39. 127 Ael. Arist., Or. 2,39.
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Pythia, die persönliches Wissen besitzt, greift im Amt nicht auf dieses zurück, sondern überlässt sich gehorsam dem Gott. Nach der Bildung der Pythia lässt sich auf zwei Ebenen fragen. Eine spezifische Vorbildung im Sinne von Weltwissen wurde offenbar für die Pythia nicht als notwendig erachtet. Die Sozialisierung als unbescholtene delphische Bürgerin reichte aus und bedingte von vornherein eine gewisse „isolation from the rest of the world“ (im Sinne beschränkten Wissens über die Verhältnisse in der griechischen Welt). Hierfür war speziell ärmliche Abkunft (wie 128 etwa Bowden gemeint hat ) nicht unbedingt erforderlich, da griechische Bürgerinnen grundsätzlich vom „public business of Delphi“ ausgeschlossen waren. Frauen aus den ärmeren Familien dürften mitunter aus purer Notwendigkeit in der Praxis sogar mehr Kontakte zur Welt außerhalb des Hauses gehabt haben als die weiblichen Mitglieder besserer Familien. Musste die Pythia aber jenseits von Weltwissen ‚religiöse Vorbildung‘, rituelles Wissen besitzen, um ihr Amt ausüben zu können? Die einmalige Erwähnung einer ephedros, einer „Beisitzerin“ bei Plutarch könnte darauf hindeuten, dass zukünftige Pythien durch Beobachtung des Orakelrituals rituelles Wissen er129 worben haben. Die bei Friese formulierte Vorstellung von einer „jahrelangen Ausbildung“ der Pythia (wer wäre der Ausbilder/die Ausbilderin?) findet keinen Beleg in den Quellen und scheint eher den Nachrichten über das römi130 Wie Flowers Idee sche Vestalinnenkollegium nachempfunden zu sein. einer „long apprenticeship in a community of believers“ umgesetzt worden 131 sein könnte, ist ebenfalls unklar. Flower ist allerdings insofern zuzustimmen, als eine fünfzigjährige Delpherin potentiell viele Jahre Zeit gehabt haben kann, sich mit der sakralen Umgebung des delphischen Tempels und den Umständen eines Amtes vertraut zu machen, und die ernannte Pythia wohl kaum „just any old peasant woman off the farm“ gewesen ist. Sarah Iles Johnston bringt es auf den Punkt: Wer als Tochter einer bürgerlichen Familie in Delphi aufwuchs, hatte seit Kindertagen von den Erfahrungen gehört, die 132 die Pythia machte und war bereits hierdurch präkonditioniert worden.
9. Weiblich, isoliert, ungebildet? Die Pythia als Sprachrohr Apollons Weshalb also sprach das Orakel von Delphi mit der Stimme einer Frau? Weshalb vertrauten die Bürger von Delphi das zentrale Amt im Orakelbetrieb 128 129 130 131 132
BOWDEN, 2005, 25. Plut., Def. or. 8, 414b. FRIESE, 2010, 86. FLOWER, 2008b, 231; vgl. PARKE/WORMELL, 1956 I, 35 f. JOHNSTON, 2008, 50.
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einer ihrer Frauen an, wenn doch ansonsten auch den bürgerlichen Frauen autoritatives Sprechen versagt wurde? Begründungen hierfür sind uns in den antiken Quellen nicht erhalten, weder das biologische Geschlecht der Pythia noch die Entstehung ihres Titels werden durch aitiologische Erzählungen erklärt. Im Vergleich mit anderen Heiligtümern und Orakelstätten der griechischen Welt wird allerdings deutlich, dass Apollon grundsätzlich sowohl weibliche als auch männliche Funktionäre in seinen Kulten akzeptierte. Auch die Fähigkeit zur Weissagung, die vor allem in der mythischen Tradition als Geschenk Apollons dargestellt werden konnte, wurde grundsätzlich beiden Geschlechtern zugesprochen. Die Bewohner von Delphi hielten an der lokalen Tradition einer weiblichen Prophetin für Apollon fest, ‚gemäß dem Brauch‘ in kultischen Angelegenheiten nicht ohne Not zu ändern. Auch in den frühen Quellen, etwa bei Herodot, kann die Persönlichkeit der Pythia stark zurücktreten: Wenn die Fragenden sie in der männlichen Form als „anax“ (Herr) anreden, implizieren sie direkte Kommunikation mit Apollon und nicht mit einer sterblichen weiblichen Person aus Delphi.133 Ihre familiären Verbindungen sind meist nicht bekannt, und im Unterschied z.B. zum bezeugten persönlichen Sozialprestige der argivischen Hera-Priesterinnen ist Vergleichbares für die delphischen Pythien nicht überliefert. Für die athenischen Dramatiker war die Pythia eine delphische Frau fortgeschrittenen Lebensalters; Diodor liefert eine aitiologische Erklärung für die von ihm gegebene Information, nur Frauen über 50 Jahre würden von den Delphern zur Pythia gemacht. Vor dem Hintergrund der Dürftigkeit konkreter Nachrichten zur Pythia als Person haben die scheinbaren Sachinformationen des kaiserzeitlichen Autors Plutarch das neuzeitliche Bild der delphischen Prophetin massiv geprägt. Plutarchs Ziel war es allerdings nicht, eine „dichte Beschreibung“ des Amtes der Pythia zu geben, und noch viel weniger leitete ihn das Interesse an der sozialen Person der Amtsinhaberin. Als unmittelbar Beteiligter und Inhaber eines priesterlichen Amtes in Delphi beklagt er vielmehr den politischen Bedeutungsschwund des Orakels in seiner kaiserzeitlichen Gegenwart, hält aber die potentielle Kraft des Orakels für ungemindert. Grundsätzlich, und dies will er seinen Lesern vermitteln, wäre Delphi mit der Pythia als Sprachrohr Apollons nach wie vor in der Lage, Antworten auf die bedeutenden Fragen der Gegenwart zu geben. Diese Agenda beeinflusst entsprechend das Bild, das er von der delphischen Prophetin zeichnet: Diese sei persönlich völlig ungebildet. Plutarchs Aussage impliziert die Botschaft, es bestehe keine Gefahr, die Pythia könnte aus eigenständigem Vorwissen Urteilsfähigkeit entwickeln und persönliche Meinungen in ihre Antworten einfließen lassen. Vielmehr agiert sie in Xenophontischer Manier wie eine junge Tochter oder Ehefrau, die vom Ehemann geformt dessen Meinung zu ihrer 133
Vgl. Hdt., IV 150.3; IV 155.4; VII 141.2; s. COMPTON, 1994, 222.
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eigenen macht: Die Pythia wird entsprechend die Botschaft ihres Gottes unverändert weitergeben. Plutarchs Pythia ist das Kind einfacher Leute vor Ort; das heißt, sie ist einerseits authentisch, entspricht der Lokaltradition, nach der die Pythia immer aus den delphischen Frauen ausgewählt worden ist. Die Betonung der einfachen Herkunft macht außerdem die Behauptung persönlicher Unbildung für die Pythia glaubhaft, ihr sozialer Hintergrund kann ihr keine Gelegenheit zu unerwünschtem Wissenserwerb gegeben haben. Schließlich steht keine einflussreiche Elitefamilie hinter ihr, die womöglich die Orakelsprüche im eigenen Interesse beeinflussen könnte. Wenn die Kontakte von Plutarchs Pythia streng kontrolliert sind und ihre Reinheit überwacht wird, bedeutet dies zum einen, dass das Orakelritual in der Gegenwart auf gottgefällige Weise durchgeführt wird. Zum anderen aber impliziert Plutarch sexuelle und soziale Abschirmung: Sie soll mit keinem Fremden zusammen sein (und reguläre familiäre Bindungen werden zumindest nicht erwähnt). Weder ein Ehemann kann offiziell, noch ein Liebhaber heimlich auf sie einwirken. Auch die Möglichkeit von Absprachen mit Klienten des Orakels, die von auswärts anreisen, ist auf diese Weise unterbunden. Zu überlegen wäre, ob Plutarchs Behauptung, Frauen dürften nicht zum Orakel hineingehen, ebenfalls in den von ihm suggerierten Kontext sozialer Abschirmung der Pythia gehört; von geschlechtsspezifischen Netzwerken, über die Information vermittelt wird, ist auch im antiken Delphi auszugehen. Plutarch lässt also die Persönlichkeit der zu seiner Zeit agierenden Pythia völlig zurücktreten; ihren Namen nennt er nicht. Er ist vielmehr bestrebt, die Autorität des Orakels zu erhöhen indem er den menschlichen Körper der Prophetin in seiner Individualität reduziert und ihn zum bloßen Sprachrohr Apollons macht – ein Sprachrohr, aus dem entsprechend authentische Botschaften dringen. Ob persönliche Unbildung, niedrige Herkunft, langfristige sexuelle und soziale Abschirmung auch in früheren Jahrhunderten stets typisch für die delphischen Pythien waren, erscheint fraglich. Wiederholt versuchten Klienten das Orakel zu bestechen: Adressatin derartiger Versuche war jeweils die Pythia persönlich.134 Offenbar gab es Mittel und Wege, die Prophetin zu kontaktieren, und offenbar schätzte man sie als genügend weltläufig ein, um mit solchen Anliegen an sie heranzutreten. In Plutarchs Zeit mag es besonders nötig erschienen sein, die Authentizität und Neutralität delphischer Sprüche durch eine spezifische Charakterisierung der Prophetin und den Verweis auf ihre angeblich streng kontrollierte Lebensführung zu untermauern. Plutarch schärft aber ein Konzept erneut ein, 134 Heracleides Pontikos bei Diog. Laert., V 91; Hdt., V 63,1.90,1.91,2; Hdt., VI 66,2 f.; VI 75,3; VI 123,2; Thuc., V 16,2; Paus., III 4,3. Dazu COMPTON, 1994, 223; DILLON, 2002, 99; BOWDEN, 2005, 28; TRAMPEDACH, 2015, 189; JOHNSTON, 2015, 481.
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welches die Geschlechterverhältnisse in der griechischen Kultur seit jeher prägt und das vermutlich dazu beigetragen hat, jahrhundertelang eine Frau zur Trägerin der Stimme am Nabel der Welt zu machen. Wenn in der Moderne gelegentlich die Vorstellung mit anklingt, Frauen seien vielleicht als Medien besonders begabt, und sich die Frage stellt, ob womöglich schon die Griechen dies erkannt hätten, so ist dies zumindest aus den Quellen nicht zu belegen. Vielmehr liegt eine andere Antwort nahe: Die Pythia konnte die Stimme Apollons verkörpern, nicht, weil sie eigene Autorität besaß, sondern weil in den Augen der männlichen Bürger das Gegenteil der Fall war. Als Angehörige des weiblichen Geschlechts, das von der institutionalisierten Entscheidungsfindung in Griechenland ausgeschlossen war, erschien sie als neutrale Vermittlerin, auch und besonders in den Angelegenheiten der Männer. Wenn die Gesandtschaften griechischer Städte in archaischer und klassischer Zeit Apollon um Entscheidungshilfe baten, konnte eine weibliche Prophetin in dieser Kommunikation keine unerwünschten eigenständigen Interessen haben. Ihr Geschlecht machte sie zur unverdächtig Unbeteiligten, die lediglich die Botschaft Apollons weitergab. Ob dies in der historischen Realität stets der Fall gewesen ist, ist selbstverständlich zweifelhaft. Es lag aber im ureigensten Interesse der Delpher, die Pythia als bloßes Sprachrohr ihres Gottes erscheinen zu lassen. Dies gilt für die Zeit Plutarchs, aber ebenso für frühere Jahrhunderte und mag eine Erklärung sein, warum die delphischen Pythien als historische Persönlichkeiten für uns weitgehend schattenhaft bleiben.
The Pythia’s Appointment and Oracular Practice Historical, Anthropological, and Cognitive Perspectives Yulia Ustinova 1. Introduction In this essay,1 I would like to focus on the mode of the Pythia’s functioning. I will begin with a short introduction on the Pythia’s role as an ecstatic medium or Apollo’s mouthpiece. Then I will dwell on my two main points, starting with the mechanism allowing these women to enter the state of prophetic engoddedness, enthousiasmos, on set days.2 Finally, I will discuss the possible reasons for certain women of Delphi to be chosen to serve as prophetic priestesses.
2. The Pythia and Alteration of Consciousness In Socrates’ list of the blessings of madness, the Pythia’s mania holds a place of honour: madness of prophetic priestesses is mentioned first, discussed at length and praised as the noblest of arts: ‘For the prophetess at Delphi and the priestesses at Dodona when they have been mad have conferred many splendid benefits upon Greece both in private and in public affairs, but few or none when they were in their right minds.’3
A hundred years before Plato, Aeschylus has the Pythia say: ‘I prophesy in a way that the god leads me,’ clearly expressing the idea of the supremacy of
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This essay is a result of the research supported by the Israel Science Foundation (ISF1077/12). I am very grateful to the organizers of the ‘Delphi-Tagung’ and its participants for a most enjoyable and stimulating intellectual event. The essay makes use of materials from my book: USTINOVA, 2018. 2 The word ‘engodded’ was used by HOFFMANN, 1997a, 30. G. Rouget called this state ‘endieué’ (ROUGET, 1990, 346). For the term entheos see BRIAND, 2003. 3 ἥ τε γὰρ δὴ ἐν Δελφοῖς προφῆτις αἵ τ’ ἐν Δωδώνῃ ἱέρειαι µανεῖσαι µὲν πολλὰ δὴ καὶ καλὰ ἰδίᾳ τε καὶ δηµοσίᾳ τὴν Ἑλλάδα ἠργάσαντο, σωφρονοῦσαι δὲ βραχέα ἢ οὐδέν. Plat., Phaedr. 244ab, translation H. N. Fowler.
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direct communication from the gods.4 Several centuries later Plutarch compared the soul of the Pythia to a musical instrument, which produced music through interaction between its own nature and an exterior force, and emphasized the interaction between the Pythia’s soul and the external (divine) force in the process of prophecy-giving.5 Concerning the Pythia’s enthousiasmos, Plutarch gives the following definition: […] The voice is not that of the god, nor the utterance of it, nor the diction, nor the metre, but all these are the woman’s; he puts into her mind only the visions, and creates the light in her soul in regard to the future; for inspiration (enthousiasmos) is precisely this.6
Thus, Greek authors from Aeschylus to Plutarch regard the Pythia as an instrument of the gods, but this instrument contributed to the divine message, defining in particular its form. In Greek, this state was consistently described as prophetic mania. In terms of modern neuropsychology, when prophesying the Pythia experienced alteration of consciousness. From the anthropological point of view, this phenomenon is to be described as possession, as L. Maurizio has shown long ago.7 The term ‘possession’ is applied to a range of phenomena involving dissociation and similar symptoms.8 In contrast to mental disorders, possession is abnormal behaviour that is enacted in conformity with social norms.9 Recently, it has been suggested that the term ‘patterned dissociative identity’ be used, as it designates culturally patterned manifestations of temporary identity change. Patterned dissociative identity is induced by wish of the individual or community, and the alters are entities belonging to one’s cultural system, such as gods, spirits, etc.10 The anthropologist E. Cohen postulates ‘the displacement principle’ in the position of various cultures on spirit mediums and possession: ‘whatever the 4
Mαντεύοµαι γὰρ ὡς ἂν ἡγῆται θεός, Aeschyl., Eum. 33. For the superior value of divinely inspired prophecy, in comparison to divination by signs, see USTINOVA, 2013. 5 Def. or. 9.414e; 38.431b, cf. JOHNSTON, 2008, 10; JAILLARD, 2007; BROUILLETTE, 2014, 194–196. 6 οὐ γὰρ ἔστι θεοῦ ἡ γῆρυς οὐδ’ ὁ φθόγγος οὐδ’ ἡ λέξις οὐδὲ τὸ µέτρον ἀλλὰ τῆς γυναικός· ἐκεῖνος δὲ µόνας τὰς φαντασίας παρίστησι καὶ φῶς ἐν τῇ ψυχῇ ποιεῖ πρὸς τὸ µέλλον· ὁ γὰρ ἐνθουσιασµὸς τοιοῦτόν ἐστι, Pyth. or. 7.397c (translation F. C. Babbitt). 7 MAURIZIO, 1995; more recently, see GRAF, 2009b; CHALUPA, 2014; STONEMAN, 2011, 34. 8 For an anthropological overview see BOURGUIGNON, 1976; LAMBEK, 1989; STOLLER, 1995; a recent treatment: COHEN, 2007; neuroscientific perspective: MCNAMARA, 2009, 167–192; DEELEY ET AL., 2014. 9 HELMAN, 1990, 217; LAMBEK 1989, 48–49. 10 KLASS, 2003, 119; for a critical appraisal of the dichotomy between dissociation as pathology and institutionalised/accepted dissociation, see COHEN, 2007, 83–84; GEERTZ, 2004, 366–367.
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case may be, at any moment, there is only one intentional agency represented – one mind and not two.’11 Following this logic, in ancient Greece, so long as a prophetic individual was possessed by a deity, it was the deity’s – rather than the mortal’s – mind that was considered to be active. In this respect the standpoint of the Greeks is precisely that expected as a ‘default cognitive mechanism,’ making sense of the situation of prophecy-giving by a person whose mind is considered invaded by an external supernatural agent, superior to the intellectual capacity of any human. However, the human and divine components were not absolutely isolated, the human medium (in our case, the Pythia) had to be worthy of serving as an instrument of the gods, and the human interpreter (the temple officials) had to decipher divine signs, communicated by means of the prophetic priestess in the grip of the god.
3. The Pythia’s Experience12 An attempt at analysing the training process and the material framework of the cult at Delphi may allow pinpointing correlations between ritual practices, as reflected in various ancient sources, and the Pythia’s cognitive functioning. Recent research on neuropsychological and cognitive aspects of religious phenomena suggests some important insights that are relevant to the experience of the Pythia. The individual’s personality plays an important role. Studies of modern cataphatic practices, aiming at seeing, sensing, and talking to the god, demonstrate correlations between personality factors, vividness of mental imagery, and the ability to attain visions and hallucinations.13 It is important that various methods of religious priming (presentation of stimuli which are supposed to produce responses in other domains) substantially affect the behaviour of individuals who participate in rites.14 Cultivation of mental imagery is an art, and in order to succeed as a medium a person has not only to be endowed with natural predisposition, but also to be trained in the bodily and mental techniques necessary for inducing alteration of consciousness: skills of consciousness alteration can be learnt.15 Whatever particular technique is used, the emphasis on absorption training,
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COHEN, 2007, 139. The Pythia’s role has been discussed extensively, see for instance PARKE, 1939, 32; PARKE/WORMELL, 1956 I, 34–40; FLACELIÈRE, 1938, 79; ROUX, 1976, 64–69. 147; MAURIZIO, 1998; FLOWER, 2008b, 222–226; JOHNSTON, 2008, 41; DEELEY, 2019. 13 LUHRMANN, 2012. 14 SHARIFF ET AL., 2016. 15 ASPREM, 2017. Learning and repetitive practice of alteration of consciousness enhancing mystical experiences: ANDERSEN ET AL., 2014, 222. 12
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such as meditation, isolation, visualisation, etc., is common to various traditions of vision quest.16 Visions and hallucinations can be induced by several factors: in addition to sensory deprivation and intake of psychoactive substances, expectations (‘event models’), regulation of attention by means of sensory cues, and ‘designer environments,’ enhance vivid imagery.17 Furthermore, prior expectations, which are culturally conditioned, determine to a very considerable extent the contents of mental images which the mind accepts as actual reality.18 In laboratory experiments, the ‘suggestiveness of the context’ and the background of the participants influenced their ability to have mystery experiences.19 In addition, depletion of cognitive resources during rituals impairs the individual’s ability to make sense of their experience, making the impact of prior expectations and post-ritual influences more significant than the person’s own muted actual perceptions.20 Thus, thorough preparation, including knowledge of lore, sincere faith, rituals, and a unique environment are of paramount importance. The focus on the ‘core’ procedure of alteration of consciousness, while ignoring its cultural background and induction process, is misleading.21 The brain of the Pythia was embodied and encultured, that is, affected by a series of physical and social factors, which together affected her cognition.22 I suggest looking at the Pythia’s experience along these lines. There is no doubt that every woman in Delphi was well-acquainted with the local lore and the expectations from Apollo’s prophetess: the Pythia’s traditional beliefs, knowledge of the rituals and the existence of strong prior expectations can be taken for granted. The Pythia had to live in isolation, refrain from all contact with strangers, and to curb any emotion that would interfere with her function as a mouthpiece of the god:23 she underwent profound and prolonged absorption training, and all her life served as preparation for her position as the most important prophetic figure in the oecumene. Originally, one Pythia gave oracular responses once a year, on Apollo's birthday, but due to the increasing popularity of the oracle, during the Classi16
LUHRMANN 2005, 144. ASPREM, 2017. 18 ASPREM, 2017. 19 ANDERSEN ET AL., 2014, 226, 237. 20 SCHJØDT ET AL., 2013; SCHJØDT 2019, 367. 21 TART, 2011, xiv. 22 Cognition as ‘embodied and encultured’: GEERTZ, 2010, 304; MCCAULEY, 2011, 17. 23 Plut., Def. or. 51.438c. Cf. the prophet at Claros, who withdrew from human affairs, lived in an inaccessible place, and prepared for possession by the god with a day and night of fasting (Iambl., Myst. 3.11; Tac., Ann. 2.54.3; ROBERT, 1967; PARKE, 1985, 219–224). In Didyma, the prophetic priestess stayed in the innermost sanctuary for three days (Iambl. Myst. 3.11). 17
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cal period three priestesses dispensed oracles nine times a year.24 Under normal conditions, descending from her tripod, the Pythia regained her composure,25 but the strain of prophecy-giving was considerable, and the prophetess had to rest after vaticination.26 Immediately before the prophetic séance the Pythia was purified by bathing in the stream of Castalia and fumigating herself in laurel leaves and barley meal; she then drank some water from the Cassotis spring.27 The day of vaticination was probably preceded by fasting, which is attested for other major oracles of Apollo.28 Fasting leads to hypoglycaemia and is commonly used by ascetics in combination with other methods to induce an alteration of consciousness.29 These techniques are often employed in combinations that significantly amplify their effects, and are intensified when a person is culturally and cognitively prepared for the alteration of consciousness.30 In Delphi this combination was remarkably complex and comprised a set of rituals, designer environment, and probably exposure to psychoactive substances. On the day of divination an animal to be sacrificed to Apollo, usually a goat, was sprinkled with water; the animal’s trembling was considered a sign of the god’s willingness to speak.31 This procedure was an important turning point in the ritual. On the one hand, if the Pythia was unfit to enter the prophetic trance, the behaviour of the goat could be interpreted as preventing her from proceeding to the next stage, and the temple was spared the embarrassment of a prophetic séance going wrong. On the other hand, the preliminary ceremonies created a suggestive setting, pushing the Pythia towards a smooth transition to the next stage of the process of vaticination. At this stage, the Pythia descended to the holy of holies in the innermost part of the temple known as the aduton (‘space not to be entered’), manteion (‘prophetic chamber’), or chrêstêrion (‘seat of an oracle’), which was probably an artificial construction above a fissure reaching down to the bedrock.32 24
FLACELIÈRE, 1938, 72; ROUX, 1976, 70–75; PARKE, 1939, 15; AMANDRY, 1950, 81. Plut., Amat. 16.759b. 26 For exhaustion of seers after divination séances, see USTINOVA, 2009, 9. 27 For the sacred springs at Delphi and their respective roles see AMANDRY, 1950, 135– 139; ROUX, 1976, 136; PARKE/WORMELL, 1956 I, 27; fumigation; Plut., Pyth. or. 6.397a. 28 Three days of fasting at Didyma: Iambl., Myst. 3.11; a day of fasting at Claros: Iambl., Myst. 3.11; Tac., Ann. 2.54.3. The oracular practices at Didyma were to a considerable extent modelled on Delphi: PARKE, 1985, 212–218. Although there is no direct evidence of the Pythia’s fasting, given the procedure attested in other Greek oracular sanctuaries, the Pythia’s fasting ‘may be safely assumed’ (ARBESMANN, 1949, 12–14). 29 LUDWIG, 1968, 74; WULFF, 1997, 70–75. 30 LA BARRE, 1980, 39; WULFF, 1997, 76; GEELS, 1982, 44; SIIKALA, 1982, 105; MERKUR, 1985, 172; AUSTIN, 1998, 102. 494; JOSEPH, 2003, 9. 31 Plut., Def. or. 46.435bc, 49.437a; FLACELIÈRE, 1938, 76; ROUX, 1976, 83–84. 32 ROUX 1976, 134–5; for a discussion of the layout of the aduton and the Pythia’s descent there see USTINOVA, 2009, 142–146, with refs. 25
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During the oracular session, the Pythia mounted a tripod, the symbol of Delphic divination and a rather bizarre and uncomfortable seat for a priestess.33 All these factors were responsible for an intricate ’designer environment’ for prophecy-giving, and constituted the final stage of the induction process, which ensured that the Pythia was ready to abandon her mundane self, become engodded and perform her function as the god’s mouthpiece. Lucian mentions that the Pythia when seated on her tripod chewed laurel leaves, but notwithstanding the significance of the laurel in the Delphic ritual, this testimony has been disregarded after T. K. Oesterreich’s unsuccessful attempt at attaining inspiration by masticating fresh bay leaves. 34 Other prophetic figures, such as the Sibyl and Cassandra, were also attributed eating laurel leaves, and these references are regarded as metaphors.35 Alternatively, it is suggested that the Pythia chewed leaves of Mediterranean oleander (Nerium), containing grayanotoxin, which causes psychedelic effect or even delirium.36 However, although laurel and oleander leaves look similar, the whole plants do not resemble each other, and could hardly be confused. It appears that if the Pythia and other seers actually ate or chewed laurel leaves, this custom served as an additional driving factor, similar to drinking sacred water.37 Water or leaves per se obviously have no psychoactive properties, but they could work together with other elements of the ritual to alter the Pythia’s consciousness. The placebo effect was possibly involved in this mechanism. Modern brain imaging techniques have demonstrated measurable effect of placebo on the brain and its capacity to induce chemical changes affecting such conditions as pain and depression. Healing by means of chemically inactive tablets or other imagined treatments is attained due to synergetic action of various cognitive factors, most notably prior expectations and the belief in the efficacy of the therapy.38 Placebo effect appears to play a leading role in healing rituals cross-culturally, including the practices in the
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Strab., 9.3.5 p. 419.19–23 Radt; Paus., 10.8.6–32. 1; cf. FLACELIÈRE, 1938, 81–85; PARKE/WORMELL, 1956 I, 24–26; ROUX, 1976, 121–149; SUÁREZ DE LA TORRE, 2005, 23–27. M. West underscored the shamanic associations of this ‘eccentric perch’ which was symbolic of initiatory boiling of the Pythia: WEST, 1983, 147; cf. WEST, 1997, 150; USTINOVA, 2009, 152. For the association of the tripod with Dionysus’ dismemberment see DIETRICH, 1992, 53. 34 Lucian, Bis Acc. 1; OESTERREICH, 1930, 319. 35 Lycophr., 6 with Schol. Tib. 2.5.63; Ov., Pont. 2.5.65; Iuv., 7.18–19; GRAF, 2009b, 591 with a reassessment of the testimonies; CHALUPA, 2014, 34–35. 36 HOLLAND, 1933; MAYOR, 1995. 37 At Claros the prophetic priest drank sacred water after the descent to the sacred grotto (Plin., Nat. 2.232; Iambl., Myst. 3.11; Tac., Ann. II 54). On prophetic qualities of water, see USTINOVA, 2009, 131–132; sanctuaries applying inspired hydromancy: FRIESE, 2010, 86–87. 38 BENEDETTI, 2009.
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Asclepiea.39 Mutatis mutandis, I suggest that in vaticination, the role of innocent substances, such as water and bay leaves, can be compared to that of placebo treatments: they were effective in inducing alteration of consciousness in the prophetic individuals, who sincerely believed in their efficacy, anticipated the desirable results, and were appropriately primed by the preceding rites.40 After the Pythia had been asked the question, she entered an altered state of consciousness, known to the Greeks as prophetic mania.41 Her utterance, heard by the consulters present in the aduton, was articulate and could be rendered in verse or in prose, to be put in writing by male priests. More than six hundred responses, genuine and spurious, attest to the versatility of the Pythia.42 The meaning of Pythia’s words often remained obscure: the oracular Apollo was Loxias, ‘the ambiguous.’43 The style of the Pythia’s communications, often brusque, but sometimes quite sophisticated, finds its parallels in divination by possessed mediums elsewhere in the world.44 As already observed above, the prophetess normally remained serene and composed. She could be aware of her environment, and her alteration of consciousness did not prevent her from interacting with other people admitted to the aduton.45 The traditional procedure ensured the priestess that she followed the divine will; when it was violated, the Pythia believed that vaticination was unwarranted, and could be physically destroyed by the wrench of prophecy-giving. Thus, in the cases depicted by Plutarch and Lucan, the priestesses who were compelled to speak on an inauspicious day, raged in torments caused by this
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GEERTZ, 2010, 308; HUMPHREY, 2002, 255–288; on Asclepiea see PANAGIOTIDOU, 2014. 40 Cf. ANDERSEN ET AL., 2014, demonstrating that a belief in the efficacy of a certain method of induction of alteration of consciousness affected attaining these experiences and report of the nature of experiences in subsequent interviews. 41 ROHDE, 1925, 312–313; DODDS, 1951, 65–101; MAURIZIO, 1995, 76–79. 42 Strab., 9.3.5 p. 419.21–23 Radt; AMANDRY, 1950, 164; DELCOURT, 1981, 54–55; ROUX, 1976, 157; MAURIZIO, 1995, 70; for a different approach see PARKE/WORMELL 1956, Vol. I, 39. The question whether the Pythia was responsible for the rendering of her utterings in hexametre remains open; see BOWDEN, 2005,18, 34; FLOWER, 2008b, 223; STONEMAN, 2011, 38–39. 43 Plut., Pyth. or. 7.397bc; Heraclitus, DK 22 Frg. 93; cf. GRAF, 2009b, 590; PARKE, 1939, 28–31; WHITTAKER, 1965, 24–28. 44 WHITTAKER, 1965, 30–31. 45 For the spectrum of manifestations covered by the term ‘alteration of consciousness’ see SIIKALA, 1982; LEWIS-WILLIAMS, 2002, 134; HARNER 1990, 48–49; AUSTIN, 1998, 21.
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coercion, and died as a consequence.46 Only when the Pythia was forced to act was her behaviour described as frantic.47 Although the setting of the prophetic séance was of primary importance, two crucial details are still debated: the layout of the aduton and the role of psychoactive gases in inducing the Pythia’s trance. The earliest explicit accounts of the process of divination in Delphi are rather late: on the eve of the first century AD, Strabo attributed the Pythia’s oracles to the breath of inspiration (pneuma enthousiastikon) rising from beneath the prophetic cave (antron) in the temple, above which the Pythia was perched on her tripod.48 Earlier sources do not refer specifically to the pneuma as a source of prophetic inspiration, but beginning from the fifth century various authors located Apollo’s mantic chamber in a cavern or nook (stomion or muchos), and described the Pythia as physically going down there from the main space in the temple.49 It is important to note that for almost a millennium the written accounts describing the layout of the Delphic aduton and the procedure of oracle-giving contain no apparent contradictions and draw a coherent picture of the ceremony and its environment. Divine pneuma seems to be the most enigmatic element in the mysterious process of prophecy-giving at Delphi.50 Recent geological discoveries in the area of Delphi have succeeded in demonstrating that both fracturing and emissions of intoxicating gases occurred under the temple of Apollo.51 Thus, 46
Lucr., 5.147–196; Plut., Def. or. 51.438ab; DODDS, 1951, 72; BAYET, 1946; FONTEN1978, 204–212; USTINOVA, 2009, 140–141. 47 Many modern authors have attributed the frenzy, ascribed specifically to the unwilling Pythia, to all Pythias under normal circumstances, e.g. AMANDRY, 1950, 20–24; ROUX, 1976, 92, 151. 48 Strab., 9.3.5 p. 419.20–21 Radt; see also Ps.-Longin. Subl. 13.2; Plut. Def. or. 50.437cd. In 45 BC Cicero already referred to vis illa terrae ‘that force of the earth,’ which enthused the soul of the Pythia with divine inspiration (Div. 1.37–38; cf. 1.115). 49 Aeschyl., Choeph. 797, 803–805; Eum. 180; Eur., Ion 226–229; cf. Ion 220, 233, 245; Andr. 1093; Phoen. 237; IT 1245; Aristonoos’ hymn to Hestia (I Delph. III. 2. 192). The descent of the Pythia: Hdt., 5.92; Plut., Pyth. or. 6.397a; 22.405c; Def. or. 51.438b; Timol. 8.2; USTINOVA, 2009, 133–139. 50 I discuss the subject in detail in USTINOVA 2009, 121–153. 51 DE BOER/HALE, 2000; DE BOER/HALE/ CHANTON, 2001; HALE/DEBOER/SPILLER, 2002. These gases, methane, ethane and ethylene, are colourless and can produce mild narcotic effects. Ethylene in particular was used as a surgical anaesthetic till the 1970s, and in light doses it allows full control of the body, but creates a sensation of euphoria (HALE ET AL. 2003; DE BOER/ HALE/CHANTON, 2001). A different approach to the location of the geological faults and the nature of gaseous emissions is suggested by ETIOPE ET AL., 2006 and PICCARDI ET AL., 2008, who suppose that it was not ethylene but methane and carbon dioxide (G. Etiope) or hydrogen sulphide (L. Piccardi). In addition, PICCARDI (2008, 16– 17) contends that the exhalations accompanied ruptures which happened from time to time in the seismically active area of Delphi. However, the three approaches agree on two major points, that there are fissures under the temple or in its immediate vicinity, and that they ROSE,
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after a hundred years of disbelief, the ancient tradition declared ‘unsatisfactory’ has been proven to offer a fairly accurate account of the layout of the temple and ritual at Delphi, although the exact chemical composition of pneuma remains to be established.52 Archaeologically, there is no doubt that the fourth-century temple was constructed in an absolutely unique manner, leaving a part of the bedrock below it unsealed. The whole building seems to have been erected in order to enable access to a strip of prophetic ground.53 It appears now that the inner sanctum at Delphi was an artificial enclosure above an opening in the ground allowing the Pythia to be in physical contact with the soil underlying the temple.54 It is argued that the concentration of a particular gas, namely ethylene, was insufficient to induce the Pythia’s trance.55 However, two other gases detected by chemical analyses of travertine deposits from the Delphic springs, ethane and methane, can also alter human consciousness.56 The concentration of the intoxicating gas needed to alter the consciousness of a highly hypnotizable individual, especially after fasting, is much lower than that needed to
emitted gases that affect human consciousness. Recent research supports the assertion that intoxicating gases were indeed present at Delphi: STEWARD/PICCARDI, 2017. On these approaches see also Engster, below on p. 496–503. It is noteworthy that Agios Taxiarches on Euboea, the site of the oracle of Apollo Selinountios mentioned by Strabo, 10.1.3 p. 445.25–26 Radt), which was recently identified by dedications to Apollo Selinaios, features a set of geological characteristics very similar to that of Delphi. It includes a steep bedrock escarpment of an active fault zone, creating a particularly picturesque setting for a cave located at an intersection of two faults. Extensive travertine deposits within the cave attest to geological processes similar to those in Delphi, but further archaeological and geological research are needed to confirm ancient gas emissions and their connection to human activities in the cave of the Euboean site (MARIOLAKOS ET AL., 2010). A well-known example of another temple of Apollo located above a gas-emitting fracture and featuring and small underground chamber allowing access to the opening in the ground is the temple of Apollo in Hierapolis, Phrygia (SEMERARO, 2014, 17–19). 52 These studies have been questioned by D. LEHOUX (2007), whose criticism is based mainly on a return to the century-long refusal to accept ancient evidence of the existence of a chasm and gases in Delphi at its face value. Lehoux’s arguments are compromised by his prima facie antagonism to any attempt to account for ancient religious phenomena using results of modern science. In my opinion, this approach, based on the understanding of human beings as social actors disconnected from their bodies and physical environment, limits historical research and is therefore methodologically erroneous. 53 ROUX, 1976, 109. 54 USTINOVA, 2009, 150–153. 55 FOSTER/LEHOUX, 2007, 87; FLOWER, 2008b, 226; CHALUPA, 2014, 38. 56 SPILLER ET AL., 2002, 193.
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induce such changes in the consciousness of an average person.57 Most significantly, the Pythia was prepared by a series of ceremonies and expected that her state of consciousness would be altered, contrary to other participants who firmly believed that they would remain sober. The gas could therefore serve as a trigger, a driving factor that put into action the Pythia’s autosuggestion, and in this case even a low concentration would have been sufficient.58 It is noteworthy that in various cultural practices around the globe, patterned dissociative identity can be precipitated by a combination of consciousness-altering substances with one or several other methods, or even be entirely induced without any psychotropic substances.59 The Greeks seem to have been aware of the psychoactive qualities of pneuma, but they certainly did not rely on it alone.
4. The Pythia’s Recruitment The ability to attain mental concentration, intense visual imagery and altered states of consciousness differs among individuals. It defines their ‘measure of absorption proclivity,’ and may be enhanced by training. 60 People labelled as ‘hypnotic virtuosos’ consistently experience alterations of consciousness, even when unsuggested, and are in general prone to anomalous experiences.61 Individuals who report transcendent experiences usually have particular personality characteristics,62 which could hint to the community at their propensity to visions and suggest their choice as ‘mediators of the divine.’ I suppose that the community of Delphi had an excellent cue to discern women suitable to serve as the Pythia: they had ample opportunities to watch the susceptibility of their women to alteration of consciousness and their reactions to this condition. The women of Delphi practiced alteration of consciousness on a regular basis as thuiades in the service of Dionysus, and it was thus possible to see who was more apt to become ‘engodded,’ a factor
57 Which provides an explanation for the fact that the state of consciousness of the enquirers and priests remained unchanged, an argument raised by CHALUPA, 2014, 39. In any case, people who descended into the aduton perceived the smell: Plut., Def. or. 50.437c. 58 GRAF, 2009b, 602; JOHNSTON, 2008, 49–50. 59 KLASS, 2003, 121–123. 60 LUHRMANN, 2005, 142. 61 CARDEÑA, 2005, 51; correlation between hypnotic susceptibility and intense religious experiences: MCNAMARA, 2009, 139; DIEGUEZ/BLANKE, 2011, 251. Some neuroscientists contend that proclivity for alteration of consciousness involves genes relating to the brain’s dopamine and serotonin neurotransmitters (HAMER, 2004). 62 PERSINGER, 1988; HOOD, 1991.
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that could be taken into account during the selection of the prophetic priestess.63 The importance of thuiades in the Delphic ritual was emphasized symbolically by sculpturing them on one of the gables of the fourth-century temple of Apollo:64 was this a hint at the fact that the divine half-brothers shared not only the temple, but also patronised similar activities? The gable has not survived, but a crater, now at the Hermitage in St. Petersburg, features a handclasp of the divine brothers above the omphalos, with a maenad depicted close to Apollo.65 Intimate connection between Apollo and Dionysus is emphasised in tragedy: Aeschylus refers to Apollo as ‘the ivy-crowned … bacchic prophet,’ whereas Euripides addresses Bacchus as ‘laurel-loving lord.’66 The closeness of the two gods is argued at length by Macrobius, who cites Aristotle as his authority on the subject. 67 The proximity, even merging, of mania inspired by Dionysus and Apollo is encapsulated in the line by Timotheus of Miletus, active in the late fifthearly fourth century: ‘Frantic dancer, inspired by Phoebus, mad woman, raging rabidly.’68 Pausanias explains that all the women who were frenzied (mainontai) in honour of Dionysus and Apollo were called thuiades in Delphi, and in their madness they roamed on the heights of Parnassus, above the clouds.69 Plutarch attributed to thuiades genuine alteration of consciousness, in a description of their adventure which took place in the fourth century: […] female devotees of Dionysus whom they call thuiades were in a state of mania and wandering at night accidentally arrived at Amphissa. Since they were very weary and did not return to their mind […] they remained in the market place […] falling asleep […]70
The slumber of the thuiades was protected by the women of Amphissa, who ran to the market place and guarded the sleeping strangers from a possible harassment by the soldiers stationed in the city. In this anecdote the details regarding the state of mind of the thuiades are told in passing, in an explana63
On thuiades see VILLANUEVA PUIG, 1986. Paus., 10.19.4; VILLANUEVA PUIG, 1986, 38–40. 65 BEAZLEY, 1963, 1185. 7; METZGER, 1951, plate 25. 3. 66 Aeschylus, Frg. 341 TGF: ὁ κισσεὺς Ἀπόλλων ὁ βακχειόµαντις or ὁ κισσεὺς Ἀπόλλων βακχεὺς ὁ µάντις; Euripides, Frg. 477 TGF: δέσποτα φιλόδαφνε Βάκχε. 67 Sat. 1.18.1. ‘Fusing’ of the boundaries between the spheres of Dionysus and Apollo at Delphi: STRAUSS CLAY, 1996; DIETRICH, 1992. 68 θυιάδα φοιβάδα µαινάδα λυσσάδα, Frg. 2b Page. 69 Paus., 10.6.4; 10.32.7. 70 Mul. virt. 13.249e: αἱ περὶ τὸν Διόνυσον γυναῖκες, ἃς Θυιάδας ὀνοµάζουσιν, ἐκµανεῖσαι καὶ περιπλανηθεῖσαι νυκτὸς ἔλαθον ἐν Ἀµφίσσῃ γενόµεναι· κατάκοποι δ’ οὖσαι καὶ µηδέπω τοῦ φρονεῖν παρόντος αὐταῖς ἐν τῇ ἀγορᾷ προέµεναι […] ἔκειντο καθεύδουσαι. DODDS, 1944, xiv; JEANMAIRE, 1970, 178–180; VILLANUEVA PUIG, 1986. 64
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tion of their lack of orientation when in a state of trance, and the following exhaustion and deep sleep: these women were clearly experiencing mania, that is, alteration of consciousness.71 Mountain roaming (oreibasia) of the women of Delphi survived till Roman times and took place every other year (trietêris) in the winter.72 The noun thuias derives from the verb thuô, ‘to move frantically.’73 Before the mythic predecessors of the historical thuiades were depicted on the gable of Apollo’s temple at Delphi, their nocturnal frenzied dances had been mentioned by Sophocles, hence these rites must have come into existence before the Classical period.74 The antiquity of these rites is further corroborated by the existence of the month of Thyios, named for the festivals of the thuiades, in some calendars of the Peloponnesus and Thessaly.75 Thus, exclusively female ecstatic rites in Dionysus’ honour appear to have been celebrated on the Parnassus for hundreds of years, and they did not become ‘routinized’ and formal even at Plutarch’s time. These women were definitely not the ideal heroic maenads of Euripides’ Bacchae: the thuiades performed astonishing feats, being quite realistically human, affected by fatigue and far from selfsufficient.76 One may contend that Dionysiac ecstasy and the trance of the Pythia differed in many respects. As opposed to Bacchic ecstasy, the Pythia’s mania did not normally manifest itself in agitation or hyper-excitement. Although possessed by the god, the prophetic priestess was neither frenzied nor hysterical: in both painted and verbal depictions, the Pythia appears calm and concentrated.77 However, the Pythia’s mental state and bakcheia were designated in Greek by the same word, enthousiasmos, ‘engoddedness’ or divine inspiration.78 On multiple occasions the Pythia urged introduction of Bacchic rites and interfered with their performance.79 Plutarch did not hesitate to compare 71
VILLANUEVA PUIG, 2009, 45. Diod., 4.3.3; Plut., Prim. frig. 18.953d. 73 CHANTRAINE, 1968–80: s.v. θύω; HARRISON, 1960, 65. 74 Paus., 10.19.4; Soph. Ant. 1151–1152 (Θυίασιν, αἵ σε µαινόµεναι πάννυχοι χορεύουσι); cf. Aeschyl., Sept. 380, 483, 498–499 on Hippomedon, who ‘possessed by Ares, raves in Bacchic ecstasy like a thuias, his look causing terror’: ἔνθεος δ’ Ἄρει / βακχᾶι πρὸς ἀλκήν, θυιὰς ὥς, φόβον βλέπων. See also Plut., De Is. 35.365a; VILLANUEVA PUIG, 1986, 38–40; VILLANUEVA PUIG, 2013, 284–286; SOURVINOUINWOOD, 2005, 211–212. Trieteric celebrations of Bromios’ rites are mentioned in the fourth-century Aristonous’ Paean: HENRICHS, 1978, 137. 75 COLE, 2010, 329. 76 GOFF, 2004, 276. 77 Notably on the Vulci cup, manufactured in Athens in 440/430 (Berlin Mus. No. F 2538, Beazley 1963: 1269. 5). This cylix by the Codrus Painter represents Themis as Pythia seated on the tripod, with Aegeus as enquirer in front of her. 78 Strab., 9.3.5 p. 419.20 Radt; Plut., Pyth. or. 7.397c. 79 PARKE/WORMELL, 1956 II, No. 338; 1956 I, 334–335; JEANMAIRE, 1970, 197–198. 72
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the Pythia’s enthousiasmos to that of worshippers of Cybele, incited by the music of their double-flutes and tambourines.80 In addition, the prophetic aspect of the cult of Dionysus was not negligible. Euripides has the wise Tiresias observe that ‘the ecstatic and the manic (maniôdes) have mantic powers (mantikê) in large measure. When the god enters someone in force, he causes him in madness to predict the future.’81 Euripides appears to mean mania and prophecy in general, rather than Bacchic frenzy and oracular sanctuaries of Dionysus.82 However, Tiresias’ observation regarding Dionysiac prophecy remains true: in the only oracular shrine of Dionysus in Greece, at Amphicleia in Phocis, prophecy was given by a divinely-inspired priest in a state of possession (katochos); on Mt. Pangaeum in Thrace a priestess uttered prophecies, ‘like in Delphi,’ that is, in an ecstatic state.83 Furthermore, the chorus of maenads in the Bacchae foresees the future on the scene:84 prophecy and frenzy enthused by Dionysus were tightly tied together. Thus, the Greeks were aware of the overlap between the divine maniai that inspired the two sons of Zeus, Apollo and Dionysus.85 As a general rule, trance is characterized by silence, solitude, sensory deprivation, and vivid imagery, whereas ecstasy is defined by energetic movement, group practices, sensory overstimulation, and lack of vivid imagery.86 However, this difference is hardly universal, and the quiet and excited modalities of alteration of consciousness can be interconnected in the experiences of one person. Many shamans may be engaged both in soul flight, associated with quiet trance, and mediumistic activities, associated with frantic move-
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Plut., Amat. 18.763a. Percussion instruments, particularly tambourines, are usually associated with Cybele or Dionysus: BUNDRICK, 2005, 47–48. Auloi were associated with any kind of mania: MENIER, 2001, 235. For mind-altering effects of these instruments see also BREMMER, 1984, 277; BÉLIS, 1988; MENIER, 2001, 236. 81 τὸ γὰρ βακχεύσιµον / καὶ τὸ µανιῶδες µαντικὴν πολλὴν ἔχει· / ὅταν γὰρ ὁ θεὸς ἐς τὸ σῶµ’ ἔλθηι πολύς, / λέγειν τὸ µέλλον τοὺς µεµηνότας ποιεῖ, Eur., Bacch. 298–301, translation D. Kovacs. It is suggested that the word µουσόµαντις in Aeschylus’ Edonians (TGF Frg. 60) refers to Dionysus (JOUAN, 1992, 84), rather than to Orpheus (WEST, 1990, 29). 82 DODDS, 1944, 108–109; SEAFORD, 1996, 177; ROUX, 1972, 352–353. 83 Amphicleia: Paus., 10.33.11. In Thrace, the god had two prophetic sanctuaries, on Mt. Pangaeum (Hdt., 7.111.2), and in Rhodopi (PERDRIZET, 1910, 42), and he is referred to as a prophet in Thracian contexts: Eur., Hec. 1267, [Eur.], Rhes. 972. 84 Bacch. 982. Plutarch cited these verses twice and understood them as referring to liberation of inspiration and ideas that remain unperceived by the sober mind: Def. or. 40.432e and Qu. conv. 7.10.2.716b; DODDS, 1944, 108–109. 85 On Dionysus at Delphi see PARKE/WORMELL, 1956 I, 11–13. 86 ROUGET, 1990, 39–84, table on p. 52; CARDEÑA, 1996. G. Rouget prefers to use the terms ‘ecstasy’ and ‘trance’ in an opposite meaning than most researchers: his ecstasy is based on quiescence and trance on excitement.
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Yulia Ustinova
ment and wild possession.87 The Shakers of St Vincent in the Antilles still withdraw into 'secret rooms' where they undertake their spiritual journeys in isolation and immobility, while their ecstatic practices are very prominent and gave this sect their name.88 The connection between trance and ecstasy is cross-cultural, and appears to result from the neuropsychological mechanisms of these states, grounded in similar kinds of brain activity.89 These considerations are significant for the discussion of the Pythia’s recruitment. There is no direct evidence on this subject, but I suggest that the indirect evidence in our disposal can be illuminative, on the background of anthropological and neuropsychological data. The thuiades certainly observed each other’s behaviour, and were occasionally watched by male members of the community.90 There can be no doubt that the proneness of each woman of Delphi to anomalous experiences was well known, and those who were especially gifted could be singled out. We know that that the Pythia of the Classical age had to be older than fifty,91 so those in charge of the appointment had plenty of time to select a suitable person. Roaming in the mountain forests of Parnassus was a good preparation for the function of the Pythia. Anthropological evidence demonstrates that a person who experiences altered states of consciousness more frequently, in a culturally patterned institutionalized framework, will have greater control over the process.92 Thus, the connection between the Dionysiac frenzy and the Apollonian prophecy appears to be deeply rooted (and the gable of the temple emphasized that): being one of the thuiades served as an introductory course for the higher-level and extremely exclusive sequence, the service of the Pythia.
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LEWIS, 1989. ROUGET, 1990, 54. The sect is now called ‘Spiritual Baptists.’ 89 NEWBERG/YADEN, 2018, 208–209. 90 They were also observed by thuiades arriving from abroad. The pilgrimage of Athenian thuiades was sponsored by the state and involved dancing in several place along the road, described by Pausanias (10.4.3). It is not clear whether the Athenian female pilgrims were accompanied by men (DILLON, 1997, 193), but the essentials of their experience were undoubtedly known to men, and Pausanias talked to them and received a detailed account of their practices (Paus. 10.4.3). 91 Diod., 16.26.6; ‘an old woman’ (Aeschyl., Eum. 38). 92 BOURGUIGNON, 1976, 55; ELLWOOD, 1980, 119–139; AUNE, 1983, 86; WINKELMAN, 2000, 124, ROUGET, 1990, 89; SHANON, 2002, 302–303. 88
The Pythia’s Appointment and Oracular Practice
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5. Conclusions In summary, various factors of religious, psychological, and physiological nature prepared the Pythia for her duty. The personality of the Pythia was of crucial importance, and a candidate for the role of the god’s mouthpiece was chosen carefully. She was probably a woman whose propensity for alteration of consciousness was already observed by members of the community during the ecstatic Dionysiac celebrations of the thuiades. The lifestyle of the Pythia rendered her particularly responsive to the complex induction process to which she was exposed during the preliminary ceremonies leading to the prophetic trance. The accumulated interaction of all these factors enabled successful induction of the Pythia into a state of possession by Apollo – prophetic mania. Apollo’s and Dionysus’ joint tenancy in Delphi reflected the profound connection of the divine half-brothers in cult, epitomized in the Pythia’s personality and behaviour.
3. Delphi und die (griechische) Geschichte
Herakles und der Dreifußraub von Delphi Überlegungen zu den Hintergründen eines Mythos Beate Wagner-Hasel 1. Einleitung: Die Figur des panhellenischen Heros Herakles Heroen, männliche wie weibliche, sind eng mit der Genese der Polis und ihren kulturellen Errungenschaften verbunden. Wird dem panhellenischen Heros Herakles die Gründung der olympischen Spiele zugeschrieben, so fungieren andere Heroen als Stadtgründer oder versorgen die Menschen mit notwendigen Kulturtechniken. Die erste Pythia in Delphi mit dem Namen Phemonoe, eine Heroine, sang als erste den Hexameter.1 So segensreich sie auch wirken – viele Heroen oder Heroinen haben auch eine Schattenseite: Sie verstoßen gegen gesellschaftliche Normen, übertreten Gebote der Götter. Das gilt insbesondere für den stärksten aller antiken Heroen, für Herakles, den Sohn des Zeus und der Alkmene, der eine Reihe von Schandtaten vollbringt: Er erschlägt seinen Lehrer Linos, er mordet seinen Gastfreund Iphitos, er tötet im Wahnsinn die eigenen Kinder. Diese Verfehlungen verlangen Entsühnung durch Sklavendienste bei fremden Herrinnen und Herren: In der Rolle des Knechts vollbringt er seine zwölf bekanntesten Taten, athloi, die ihn an die Grenzen der bewohnten Welt führen und seinen Ruhm begründen: Im Dienst des Königs Eurystheus von Tiryns kämpft er gegen Mischwesen und mythologische Gestalten. Im Dienst der lydischen Königin Omphale zieht er gegen Wegelagerer und Tributnehmer zu Felde.2 Aufgrund seines ambivalenten Charakters ist Herakles im Zuge der Durchsetzung strukturalistischer Methoden der Mythenforschung als Grenzgänger gedeutet worden: zwischen den Polen Freiheit und Sklaverei, Tod und Leben, Natur und Kultur, Männlichkeit und Weiblichkeit. Für den britischen Religionshistoriker Geoffrey Kirk manifestiert sich die Kulturseite in Taten wie der Stiftung der Olympischen Spiele; die Naturseite sieht er in den tierischen Attributen des Helden, in Löwenfell und Keule, sowie in übermenschlicher Gefräßigkeit und sexuellem Appetit – Herakles schläft in einer Nacht mit den 50 Töchtern seines Gastgebers – sowie in Wahnsinnsanfällen zum Ausdruck 1 2
Paus., X 5,7. Zur Figur der Kulturheroine vgl. LYONS, 1997, 32–34. Vgl. den Überblick bei WÜNSCHE, 2003 und BROMMER, 1986; BROMMER, 1984.
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Beate Wagner-Hasel
gebracht. Die Gesetze des Dschungels, die Freiheit der Tiere seien in der Figur des Herakles mit denen der Gemeinschaft und mit den Beschränkungen der Gesellschaft konfrontiert. Herakles ist für Kirk eine Figur, deren Taten Wendepunkte menschlicher Erfahrung wiedergeben und bestimmen.3 Nicole Loraux wiederum charakterisiert Herakles als eine Figur, die für die Weiblichkeit im Manne stehe: männlich, das ist für sie die Kraft, weiblich dagegen der Bauch, der Sitz der Gefräßigkeit und des sexuellen Appetits, sowie das Gewand, in das er sich im Dienst bei der lydischen Herrscherin Omphale und beim Tod kleidet, ein Peplos. Ihr zufolge findet der Held sein unbeständiges Gleichgewicht darin, dass ein Zuviel an Männlichkeit durch einen Überschuss an Weiblichkeit gebändigt werden müsse. Die Verweiblichung des Helden trage dazu bei, den Helden in den Grenzen seiner andreia, seiner Männlichkeit, zu halten.4 Auch wenn die Deutungsansätze ein Spezifikum des antiken Heros, seine Grenzgängerschaft, offen legen, so bewegen sie sich im Rückgriff auf universalistische Kategorien von Kultur und Natur, Weiblichkeit und Männlichkeit, Tod und Leben doch außerhalb von Zeit und Raum und geben keinen Einblick in die Besonderheiten antiken Heldentums. Ich möchte meine Aufmerksamkeit auf die räumliche Grenzgängerschaft des Helden richten und eine Verfehlung genauer in den Blick nehmen, den Dreifußraub von Delphi. Meine These ist, dass der Heros in gesteigerter Weise die Handlungsmuster der überregionalen Kommunikation lebt und die Erzählungen von seinen Taten dazu dienten, in bildhafter Weise den Raum zu strukturieren, den die Griechen kannten, und zu erinnern. Der Heros repräsentiert demnach keine Region oder – wie früher angenommen – eine Volksgruppe;5 auch bildet das Leben der Helden keine innere Befindlichkeit ab, sondern nur eine äußere Welt sozialer und räumlicher Bezüge. Eine solche räumliche Interpretation des Mythos trägt der seit den 1980er Jahren zu beobachtenden Tendenz Rechnung, einen Zusammenhang zwischen Heroenkult, Polisbildung und der Situierung von Heiligtümern herzustellen. Allerdings erzählen die Taten des Herakles nicht von den Ansprüchen auf ein Polisterritorium, wie dies für den Heroenkult seit den Forschungen von François de Polignac zunächst angenommen wurde,6 sondern von der Kommunikation über Land (und zu See) 3
In diesem Sinne argumentiert KIRK, 1987, 169–202 trotz seiner eigenen Distanz zur strukturalistischen Mythendeutung. 4 LORAUX, 1985, 172 u. 178; 192 f. Vgl. auch WULFF ALFONSO, 1996, 103–120, der den Mythos vom Rollentausch als Ausdruck der Angst vor dem Verlust der Männlichkeit deutet. 5 Die Stilisierung zum dorischen Heros, wie sie etwa um 1900 ULRICH VON WILAMOWITZ-MOELLENDORFF (1959/1889/1895) vorgenommen hat, lässt sich heute als beredtes Zeugnis preußischer Männlichkeitsbilder entziffern. So ZELLE, 1994, 211–228. 6 Vgl. insbesondere DE POLIGNAC, 1984, 47 f.127–151; WHITLEY, 1988; PATZEK, 1992, 121–143. DE POLIGNAC (1994; auch DE POLIGNAC, 1996) hat später seine Position relati-
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über die Grenzen der Polis hinaus. Ein Großteil der zwölf kanonischen Taten und auch der Dreifußraub entfalten ihre Logik vor dem Hintergrund einer transhumanten Ökonomie. Sie zeigen Herakles in der Rolle desjenigen, der auf Wanderschaft ist: in der Rolle des gedungenen transhumanten Hirten und Jägers, in der Rolle des Söldners und schließlich in der Rolle des Kolonisten, der neue Ressourcen erschließt.7 Diese These, die auf eigenen älteren Studien zu Heraklesmythen basiert,8 wird durch neuere Forschungen bestätigt, die gerade für Heraklesheiligtümer einen solchen Bezug zur transhumanten Ökonomie aufzeigen. Das gilt vor allem für Tempel im römischen Kulturraum: für den Hercules Victor-Tempel in Tibur (heute: Tivoli), für ein Kultareal in Ostia, das den Endpunkt einer Salzhandelsroute bildete und das neben Hercules auch Apollo und Aesculap geweiht war, für das gallische Glanum.9 Auch für griechische Heiligtümer lässt sich ein solcher Zusammenhang ermitteln. Ich habe an anderer Stelle dafür plädiert, die Transhumanz als konstituierenden Faktor für die Herausbildung Delphis zum überregionalen Kultzentrum zu berücksichtigen, eine Auffassung, die inzwischen von anderen bestätigt wurde.10 Die folgenden Bemerkungen basieren auf diesen älteren Studien zur Sache, werden aber um neuere Forschungen ergänzt. Ehe ich zur Analyse des Dreifußraubes komme, möchte ich zunächst einige Bemerkungen zur Transhumanz und zu den transhumanten Bezügen im Zwölftatenkatalog vorausschicken, da immer noch kein Konsens besteht, was unter Transhumanz zu verstehen ist.
viert und die überregionalen Bezüge der frühen Heiligtümer herausgestrichen. Vgl. auch MORGAN, 1996. 7 In seiner Schützerrolle für die Wanderschaft der Herden liegt auch der Verknüpfungspunkt mit dem römischen Hercules, von dem auf den calles publicae, den öffentlichen Wanderweidewegen, zahlreiche Bronzen gefunden wurden. VAN WONTERGHEM, 1973, 36–48; TOUTAIN, 1928, 200–212; JOURDAIN-ANNEQUIN, 1983, 267–273. Die Rolle des Handels als Vermittlungsebene betont dagegen KLOFT, 1994, 30. Vgl. auch JOURDAINANNEQUIN, 1989, 472. Sie hebt bei ihrer Analyse der Heraklesmythen auf die Arbeitsverhältnisse ab und unterscheidet zwischen dem Verdingungsverhältnis (so der Dienst bei Eurystheus) und dem Sklavenstatus (so der Dienst bei Omphale). 8 WAGNER-HASEL, 1998; 2000, 282–295. 9 Tibur: SANTILLO-FRIZELL, 2009; Glanum: GROS, 1995, 311–331; ROTH CONGES, Fortune, 1997, 157–202 streicht stattdessen die therapeutische Seite heraus, die sie aus der Nähe des Helden zu den heißen Quellen ableitet, worin ich keinen Widerspruch zur Rolle als Schützer der Herden sehe. Denn diese Weidetiere benötigen, wie Barbro SantilloFrizell für den Herakles-Kult in Tivoli deutlich gemacht hat, der Bäder in warmem, schwefelhaltigem Wasser. Ostia: BOLDER-BOOS, 2015. Allgemein: GARCIA MORCILLO, 2013. 10 WAGNER-HASEL, 2000, 261–295; WAGNER-HASEL, 2002; dieselben dort aufgeführten Argumente finden sich bei HOWE, 2003, 129–146.
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2. Die Ökonomie der Transhumanz im antiken Griechenland Unter Transhumanz ist aus anthropogeographischer Sicht eine „klimaabhängige, jahreszeitliche Wanderung von zumeist Schafherden seßhafter, ackerbautreibender oder nur von der Viehzucht lebender Eigentümer zwischen Sommerweiden im Gebirge und Winterweiden im Tiefland unter Aufsicht von berufsmäßigen (gedungenen) Hirten“ zu verstehen.11 Während in der älteren anthropogeographischen und wirtschaftshistorischen Literatur von den naturräumlichen und klimatischen Gegebenheiten Griechenlands – milde, feuchte Winter in den Ebenen und gemäßigt warme Sommer in den Bergregionen – auf eine transhumante Ökonomie im Sinne einer jahreszeitlichen Wanderung der Herden von den Winterweiden in der Ebene zu den Sommerweiden in den Bergen geschlossen wurde,12 wird seit den 1980er Jahren ein regional und historisch differenziertes Bild entworfen. Ein Unterscheidungsmerkmal bildet die räumliche Reichweite. Wird in der angelsächsischen Forschung zwischen long-distance und short-distance transhumance unterschieden,13 legen historische Untersuchungen aus dem deutschsprachigen Raum eine weitergehende räumliche Differenzierung nahe. Folgt man der Studie von Dorothea Zöbl über die Verbreitung der Transhumanz (Wanderschafhaltung) im Mittelmeerraum in der Zeit des Mittelalters und der frühen Neuzeit, so lassen sich nicht nur zwei, sondern vier Formen der Transhumanz mit jeweils unterschiedlicher räumlicher Reichweite unterscheiden. So differenziert sie zum einen zwischen intra- und interlokaler Transhumanz, die auf innerdörflicher Allmendewirtschaft bzw. auf der wechselseitigen Nutzung der Allmende durch mehrere Dörfer basieren. Zum anderen unterscheidet sie zwischen intra- und interregionaler Transhumanz, bei der die Weiden in die Außenflur verlagert und die Absprache von Passagerechten durch fremdes Gebiet notwendig wird. Die Organisation der Transhumanz erfolgt hier nicht mehr auf dörflicher Basis, sondern durch größere Einheiten wie Klöster oder quasi-staatliche Einrichtungen.14 Das bekannteste Beispiel einer solchen interregionalen Form der Transhumanz bildet die Mesta. Es handelt sich um einen Zusammenschluss spanischer Herdenbesitzer, die mit Hilfe dieser Organisation den reibungslosen Verlauf der Wanderung ihrer Herden über ein weitläufiges Wegenetz bewerkstelligten und dabei eng mit der Krone zusammenarbeiteten. Deren fiskalisches Interesse an Herdensteuern und an der 11
So die Zusammenfassung der anthropogeographischen Sicht bei ZÖBL, 1982, 1. Vgl. insbes. SEMPLE, 1922, 3–38; SEMPLE, 1931, 100 und 317–324. 13 Vgl. etwa SKYDSGAARD, 1988. Der beste Kenner der antiken Weidewirtschaft ist Paul Halstead, der stark auf regionale und zeitliche Unterschiede abhebt. Vgl. nur HALSTEAD, 1988. 14 ZÖBL 1982, 56–58. Aufgegriffen wurde das Konzept in Teilen von CLEARY/DELANO SMITH 1990, 21–38, denen WALDHERR, 2001, 334 folgt. 12
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Nutzung des über Wanderweidewege ausgebauten Kommunikationsnetzes trug wiederum zur Intensivierung der Transhumanz bei, die hier in einen Konflikt zur ackerbäuerlichen Wirtschaft trat.15 Solche politischen Faktoren, das ist meine Vermutung, hatten auch Einfluss auf die Organisation der Transhumanz in Delphi. Als Alfred Philippson Ende des 19. Jahrhunderts Delphi besuchte, bildete nicht Delphi bzw. der Nachfolgeort Kastri, sondern der auf 900 Metern gelegene Ort Arachova das Stammdorf der Herdenbesitzer. Diese schickten im Sommer ihre Tiere unter der Aufsicht von gedungenen Hirten oder auch Familienmitgliedern auf die Hochebene von Levadi bzw. auf den Parnass; im Winter ließen sie ihre Tiere in der Ebene von Itea weiden, wo heute Olivenbaumkulturen das Landschaftsbild prägen. Der Weidewechsel fand im Frühjahr und Herbst statt.16 Für das antike Griechenland, konkret für die Zeit des 6. Jahrhunderts v. Chr., vermute ich, dass mit der Herrschaft der Amphiktyonen und der Ausbildung von Delphi als überregionalem Kultort ein Wechsel von einer interlokal organisierten Transhumanz (zwischen Delphi und dem in der Ebene gelegenen Krisa) oder vielleicht auch intraregionalen Transhumanz (diesseits und jenseits des Parnass) hin zur interregional organisierten Transhumanz stattfand. Eben davon handelt, so meine These, der Dreifußraub.
3. Transhumante Bezüge der Taten des Herakles Auch der Zwölftatenkatalog zeugt von eben diesem Bezug zur transhumanten Ökonomie. Herakles ist gerade hier nicht der ortsfeste, sondern der mobile Heros. Ein Großteil der Taten, die Herakles im Dienst des Königs Eurystheus von Tiryns erbringt, steht im Kontext der Weidewirtschaft.17 Mit seinen Kämpfen gegen den Löwen im Grenzgebirge zwischen Boiotien und Attika sowie gegen den Nemeischen Löwen, die Lernäische Hydra und die Stymphalischen Vögel18 besiegt er die Feinde der Herden und garantiert somit die sichere Passage zu den Weiden im Bergland von Arkadien. Als Plage der Landleute schildert Theokrit den Nemeischen Löwen, der seine Höhle an der 15 Ausführlich KLEIN, 1964. HODKINSON, 1988 zählt nur diese weiträumigen Herdenwanderungen zur Transhumanz. 16 PHILIPPSON, 1951. HÖPER, 1983; OSBORNE, 1987, 50. Ausführlich: WAGNER-HASEL, 2002, 264–276. 17 Ein evolutionäres Modell, das selbst wieder mythische Qualitäten besitzt, benutzt BADER, 1983, 55–57. Ihm zufolge repräsentiert der Kampf des Helden gegen den Nemeischen Löwen und die Stymphalischen Vögel die Steinzeit; das Geryon-, Hesperiden- und Kerberos-Abenteuer ordnet er der Bronzezeit zu; das Ausmisten der Ställe des Augias und der Raub des Gürtels der Amazone Melanippe spiegelt seiner Meinung nach den Gegensatz zwischen Bauern und Hirten im Neolithikum. 18 Apollod., Bibl. II 74–77 und 92 [= II 5,1–2 und 6]; Diod., IV 11,3 und 5–6.
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Route von Korinth und Argos nach Arkadien hat.19 Wird der Löwe in der griechischen Literatur als Schrecken der Hirten gedacht,20 die sich in den Bergen aufhalten, so ist die Lernäische Hydra laut Apollodor eine Plage der Rinderherden, die sich in der Ebene befinden. Die Hydra hält sich im Sumpfgebiet von Lerna auf und dringt von dort in die Ebene von Argolis ein, wo sie Rinderherden zerreißt und das Land verwüstet.21 Der Kampf gegen die Stymphalischen Vögel, von denen gesagt wird, dass sie die Feldfrucht (καρποί) zerstören,22 führt den Helden in ein anderes Sumpfgebiet, in die Hochebene von Stymphalos in Arkadien. Diese Fabelwesen werden in den Überlieferungen nicht nur als Feinde der Herden qualifiziert; sie befinden sich zudem an solchen Orten, die auch in jüngerer Zeit Fixpunkte der alljährlichen Wanderschaft von Herden zwischen der niederschlagsarmen Ebene von Argos und dem feuchten arkadischen Bergland darstellten. Nemea, der Ort des Löwenkampfes, bildete in den 1970er Jahren eine Station auf den jährlichen Wanderungen von Hirten aus der Argolis zu den Sommerweidegebieten bei Stymphalos am Berg Ziria in Arkadien.23 Das Ausgreifen des Helden nach Nemea, Lerna und Stymphalos bedeutet eine mythologische Verknüpfung von trockenen Talgebieten und regenreichen Gebirgsregionen. Die Trockenheit der Argolis war in der Antike sprichwörtlich. Homer nennt sie die „vieldürstende“;24 Pausanias berichtet im 2. Jahrhundert n. Chr. von ausgetrockneten Flussbetten. Er erwähnt einen Altar für Zeus und Hera, an dem für Regen gebetet wird und weiß von mehreren Dürreperioden, die das Land heimsuchten.25 Stymphalos und Nemea liegen dagegen in regenreichem Gebirgsland und gehörten in der Zeit des Pausanias zur Argolis.26 Auf das Hirtenamt verweist auch das Ausmisten der Ställe des Augias in Elis, die fünfte Tat des Helden. An diesem Ort sollte Herakles den Dung der Rinder an einem einzigen Tag hinausschaffen. Es gelingt ihm, indem er die 19
Theocr., Id. 25,168: αἰνολέοντα, κακὸν τέρας ἀγροιώταις. Soph., Trach. 1091–1094. Der Kithaironische Löwe richtete unter den Rindern des Amphitryon und Thespios Verheerungen an, weiß Apollod., Bibl. II 74 [= II 5,1]. Vgl. auch Diod., IV 11,3. 21 Apollod., Bibl. II 77 [= II 5,2]: τά τε βοσκήµατα καὶ τὴν χώραν διέφθειρεν. Das Motiv ist alt. Erste Bildmotive stammen aus geometrischer Zeit; eine boiotische Fibel aus dem 7. Jahrhundert zeigt den Kampf. Erste Vasenbilder stammen aus Korinth; im 6. Jahrhundert wird das Motiv in der attischen Vasenmalerei übernommen. BROMMER, 1986, 12– 17. 22 Diod., IV 13,2: ἐπεπόλασε γάρ, ὡς ἔοικεν, ὀρνίθων πλῆθος ἀµύθητον, καὶ τοὺς ἐν τῇ πλησίον χώρᾳ καρποὺς ἐλυµαίνετο. Vgl. auch Apollod., Bibl. II 92 [= II 5,6]. 23 KOSTER, 1976. 24 Hom., Il. IV 171. 25 Paus., II 15,5; II 25,10; II 29,7 u. 31,10. Zur Wasserarmut der Region vgl. LIENAU, 1989, 110; 264. 26 Paus., II 15,2 (Nemea); II 2,3 (phliasisches Gebiet). Zur Nordwestorientierung von Argos im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. vgl. ADSHEAD, 1986, 32–38. 20
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Flüsse Alpheios und Peneios durch die Ställe leitet.27 Herakles wird hier um seinen Lohn geprellt, der in einem Anteil an Rindern besteht.28 Von den geographisch-klimatischen Bedingungen her betrachtet muss es sich bei der Ebene von Olympia um ein ganzjährig zu nutzendes Weidegebiet handeln. Heute schlagen sarakatsanische Schafhirten aus dem Pindosgebirge ihre Wintersiedlungen im Hügelland der nördlichen Elis auf.29 Da Eurystheus die Tat nicht gelten lassen will, reflektiert die Geschichte möglicherweise den gescheiterten Versuch des Pheidon von Argos, der sein Geschlecht auf Herakles zurückführte,30 Einfluss auf die in der Elis gelegene Wettkampfstätte von Olympia zu gewinnen. Andere Taten zeigen den Helden als Jäger, Söldner, Kolonisten und Ingenieur,31 auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. In dieses räumliche Muster der Taten fügen sich auch die Verfehlungen des Helden. Wenn die Heraklesmythen vom Verstoß gegen die Normen der Gastfreundschaft und des Ehebandes erzählen, dann beziehen sie sich eben auf solche Praktiken, mittels deren noch im 5. Jahrhundert v. Chr. Austausch über weite Regionen hergestellt wurde: Attische Politiker heirateten Frauen aus dem goldreichen Thrakien oder pflegten Gastfreundschaft mit persischen oder spartanischen Feinden. Es waren vor allem die Tyrannen, die diese Praktiken pflegten.32 Vor allem aber die Verknüpfung des Helden mit den panhellenischen Spielen zeigt seine Bedeutung für die überregionale Kommunikation an. Nicht nur die Gründung einer solchen überregionalen Kultstätte, die Stiftung der Olympischen Spiele, sondern auch der Nemeischen Spiele zählte zu seinen Taten.33 Die Entsühnung führt ihn mehrfach an den Ort, wo die Konflikte in überregionalen Beziehungen geregelt werden: nach Delphi.
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Apollod., Bibl. II 88–89 [= II 5,5] und Diod., IV 13,3. Pind., O. 10,27. 29 LIENAU, 1989, 217. 30 GEHRKE, 1986, 114. 31 In der römischen Kaiserzeit gehört zu den Aufgaben des Herakles das Umleiten von Flüssen. Seneca, Hercules auf dem Oeta 79–86. Vgl. CANCIK, 1979, 73. Zur römischen Adaption des Herakles vgl. KLOFT, 1994. 32 WAGNER-HASEL, 2000, 259. 33 Apollod., Bibl. II 141 [= II 7,2]. In den Oden des Pindar, die für die Sieger der panhellenischen Spiele verfasst waren, zielen die Taten des Herakles – Herakles tötet Untiere ohne Rechtsbewusstsein und Männer, die über die Stränge schlagen – auf die Herstellung eines Friedens für Alle (vgl. Pind., N. 1,35–72; KIRK, 1987, 176) und reflektieren die Schlichtungsfunktion, die derartige zentrale Kultorte besaßen. 28
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4. Dreifußraub, Heiliger Krieg und die Verwandlung der Ebene von Krisa in eine Schafweide Der Mythos vom Dreifußraub von Delphi bildete in der Zeit zwischen 560 und 480 v. Chr. ein beliebtes Motiv der Vasenmalerei. Allein aus dieser Zeit sind 230 Vasenbilder bekannt.34 Der Raub des Dreifußes war zudem auf Weihmonumenten in Delphi selbst, dem Ort des Geschehens, zu sehen. Funde von Dreifußkessels sind zahlreich; sie bildeten Siegespreise, Weihgaben und vor allem das Symbol der Weisagekunst des Apollon.35 Eben diesen will Herakles rauben. Nach den Untersuchungen von Jean Defradas herrschen zwei Darstellungsvarianten vor: 1) Herakles trägt den Dreifuß fort, 2) Apollon und Herakles kämpfen um den Dreifuß.36 Als typisch erachtet Defradas die Szene, die Pausanias in seiner Beschreibung des Weihegeschenks der Phoker nach ihrem Sieg über die Thessaler wiedergibt. Diese Statuengruppe stand laut Herodot in Delphi vor dem Apollontempel und war von den Phokern nach ihrem Sieg über die Thessaler aufgestellt worden.37 Neben Herakles und Apollon treten nach den Aussagen des Pausanias drei weitere Gottheiten auf den Plan:38 „Herakles und Apollon fassen den Dreifuß und treten zum Kampf gegen ihn an; Leto und Apollon beruhigen Apollon, Athena den Herakles.“39 Die literarische Überlieferung vom Dreifußraub setzt im Unterschied zu den ikonographischen Befunden erst in hellenistischer Zeit ein, so dass die Rekonstruktion des Mythos, wie er im archaischen Griechenland im Umlauf war, schwierig ist.40 Bereits über den Anlass des Konfliktes liegen unterschiedliche Versionen vor. Nach den Angaben des Apollodoros, denen auch Pausanias folgt, fragt Herakles in Delphi um Heilung von seiner Krankheit 34
BROMMER, 1984, 7–10 nennt 230 Vasenbilder aus der Zeit zwischen 560 und 480 v. Chr., die dieses Motiv aufweisen. 35 PAPALEXANDROU, 2005; WAGNER-HASEL, 2015. Die Einsetzung des Apollon schildert ein homerischer Hymnos, der ins frühe 6. Jahrhundert v. Chr. datiert wird. Um in Delphi oder Pytho, wie der Ort in Hymnos und in den Epen Homers genannt wird (Hom., Il. IX 401–409), als Orakelgott wirken zu können, muss Apollon erst eine Feindin der Schafe und Menschen vernichten (Hymn. Hom. Apoll. 303– 304), die Drachin Python (von gr. πύθοµαι = faulen, verwesen). Vgl. auch Paus., X 6,5–6. 36 DEFRADAS, 1954, 124–126. Er folgt damit FURTWÄNGLER, 1886–1890, 2212–2214. Zwischen „stand-up“ und „running-fight“-Szenen unterscheiden PARKE/BOARDMAN, 1957, 279. Ähnlich VOLLKOMMER, 1988, 43. 37 Hdt., VIII 27,5; Paus., X 1,3–11. 38 Paus., X 13,7; Übers. E. Meyer. 39 BROMMER, 1984, 8, Abb. 5. Vgl. auch die Darstellung am Schatzhaus der Siphnier. Hier nimmt Zeus anstelle von Athena eine Vermittlerrolle ein. Ebd. 9. Die auffallend gewaltfreie Lösung des Konfliktes betont DEFRADAS, 1954, 133. 40 Eine Zusammenstellung der Befunde findet sich bei DEFRADAS, 1954, 125–133 und 157–159.
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nach, die ihn nach dem Mord an seinem Gastfreund Iphitos befallen hatte. „Da ihm nun die Pythia den Spruch verweigerte, wollte er das Heiligtum plündern, trug den Dreifuß weg und errichtete ein eigenes Orakel, Apollon ließ sich deswegen mit ihm in einen Kampf ein, den aber Zeus schlichtete, indem er einen Donnerkeil zwischen die Streitenden warf.“41 Nach Diodor dagegen fragte Herakles um Befreiung von der Knechtschaft des Eurystheus nach, die er erlitt, weil er im Wahnsinn seine Kinder mit Megara getötet hatte. Diese Überlieferung orientiert sich an der Praxis des Freikaufs in Delphi, wie sie in erhaltenen Sklavenbefreiungsurkunden aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. belegt ist.42 Es handelt sich dabei um einen fiktiven Kaufvertrag zwischen Apollon und dem Sklavenhalter. Einer anderen, ebenfalls bei Diodor überlieferten Version zufolge ging es dagegen um die Befreiung von den Schmerzen, die ihm das mit dem Blut des Nessos getränkte Gewand der Deianeira bereiteten.43 Dieses Giftgewand wird bereits in den Frauenkatalogen des Hesiod erwähnt, die vermutlich die Grundlage für die Heroenerzählungen im mythologischen Handbuch des Apollodor bildeten.44 In den Trachinierinnen des Sophokles aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. wird das Giftgewand als Liebeszauber eingesetzt, der jedoch eine gegenteilige Wirkung entfaltet und den Empfänger tötet.45 Hintergrund des Entsühnungs- bzw. Heilungsbegehrens bildet damit einerseits eine Missachtung des Ehebandes, andererseits ein Verstoß gegen das Gebot der Gastfreundschaft, also jener Bindungsformen, über die in archaischer Zeit weiträumige Beziehungsnetze geknüpft werden. Auf die ablehnende Haltung der Pythia reagiert Herakles mit dem Raub des Dreifußes – aus 41
Apollod., Bibl. II 130 [= II 6,2]. Von den Delphern werde erzählt, so berichtet Pausanias, „daß die Seherin Xenokleia (wörtlich: Ruhm durch Fremde) dem Herakles, dem Sohn des Amphitryon, als er zum Orakel kam, nicht weissagen wollte wegen des Mordes an Iphitos. Der habe den Dreifuß ergriffen und aus dem Tempel getragen und die Seherin habe da gesagt: ‚Ein anderer Herakles also aus Tiryns, nicht aus Kanobos‘, der aigyptische Herakles war nämlich schon vorher nach Delphoi gekommen. Da gab der Sohn des Amphitryon dem Apollon den Dreifuß zurück und erfuhr von Xenokleia, was er wünschte. Die Dichter übernahmen die Geschichte und singen daher von einem Kampf des Herakles mit Apollon um den Dreifuß“ (Paus., X 13,8). Der früheste Beleg für dieses Entsühnungsbegehren stellt das Drama des Euripides Der Wahnsinn des Herakles dar. Zu den Bildbelegen vgl. BROMMER, 1984, 7. Das Motiv der Tötung des Gastfreundes findet sich bereits im Epos: Hom., Od. XXI 27–30. 42 Diod., IV 10,7. Zum Freikauf vgl. ISMARD, 2019, 215–221. 43 Diod., IV 31,3. 44 Hes., Frg. 25,20 Merkelbach-West. Das Nessosabenteuer, das bereits auf protoattischen Gefäßen gestaltet ist (KIRK, 1987, 171) erwähnen auch Archilochos (ap. Sch. Ap. Rhod. 1,1212) und Bakchylides (Bacchyl., 16,34). In der attischen Tragödie gehört der Kampf mit dem Flussungeheuer zu den athloi des Helden: Eur., Her. 419–421; Soph., Trach. 1094. 45 Soph., Trach. 1103 f.
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Wut, wie die antiken Kommentatoren sagen, oder in der Absicht, ein eigenes Orakel zu gründen.46 In der Forschung ist der Mythos vom Dreifußraub meist in den Zusammenhang des Ersten Heiligen Krieges gestellt worden, der mit der Herauslösung Delphis aus dem Verband der Phoker und der Unterstellung des Heiligtums unter die Herrschaft der Amphiktyonen gleichgesetzt wird. Der Krieg wurde nach den Überlieferungen des 4. Jahrhunderts von den Amphiktyonen unter der Führung der Thessaler Eurylochos und Hippias mit der Unterstützung des Kleisthenes von Sikyon sowie des Alkmaion bzw. des Solon von Athen im ersten Jahrzehnt des 6. Jahrhunderts gegen Krisa bzw. Kirrha geführt. Krisa ist der alte Name von Delphi, während Kirrha im 4. Jahrhundert v. Chr. den Hafen von Delphi meint.47 In Anlehnung an die antike Benennung weiterer Kriege um Delphi als „Heilige Kriege“ haben moderne Autoren diesen Krisäischen Krieg mit dem Attribut ‘heilig’ versehen und zum Ersten Heiligen Krieg gemacht.48 Von seinem Ablauf und seinem Ergebnis ist er nicht minder undurchsichtig als der Mythos vom Dreifußraub, so dass an seiner Historizität gezweifelt worden ist.49 Erwähnt wird der Krisäische Krieg in antiken Quellen meist in Zusammenhang mit der Einrichtung der Pythischen Spiele in Delphi und Sikyon sowie im Kontext der Heiligen Kriege. Nach den Angaben des Marmor Parium, die auf einer Pythischen Siegerliste basieren, wurde nach dem Sieg der Amphiktyonen über Kirrha ein gymnischer Agon um Sachwerte (ἀγὼν ὁ γυµνικὸς [...] χρηµατίτης) eingerichtet; später folgte ein KranzAgon. Als Zeitpunkt werden das Archontat des Simon von Athen (591/90 v. Chr.) und des Damasios II von Athen (582/81 v. Chr.) genannt.50 Es ist dies 46 Scholion zu Pind., O. 9,43 (Wut); Plut., De sera 12, 557c; Apollod., Bibl. II 130 = [II 6,2] (Gründung eines eigenen Orakels). 47 Der Name Kirrha taucht erstmals in der Rede des Aischines gegen Ktesiphon (Or. 3,107 f.123) auf. Zur Diskussion vgl. PARKE/BOARDMAN, 1947, 278; ROBERTSON, 1978, 38–73; TAUSEND, 1992, 47; LEFÈVRE, 1998a; HOWE, 2003; LONDEY, 2015. 48 Zum Begriff des Heiligen Krieges, der erstmals in der Komödie des Aristophanes (Ar., Ran. 554-560) auftaucht und einem Scholion zufolge auf den Krieg der Lakedaimonier gegen die Phoker und einen Feldzug der Athener zugunsten der Phoker zu beziehen ist (Sch. Ar. Ran. 556) vgl. BRODERSEN, 1991, 7–9; s. auch den Beitrag von P. Sánchez in diesem Band, unten S. 234 f. 49 So ROBERTSON, 1978, 38–73. Dagegen LEHMANN, 1980, 242–246. Der Position von Robertson folgt LONDEY, 2015, der auch einen Überblick über die Forschung nach Lehmann bietet. 50 Marmor Parium, FGrHist 239 A 37 und 38. Zur Stiftung der Pythischen Spiele in Delphi und Sikyon vgl. Schol. Pind. Hypothesis d und Schol. Pind. Nem. 9 inscr. Eine Beteiligung Athens erwähnen Plutarch (Plut., Sol. 11,1), der sich auf eine Schrift des Aristoteles über die Pythioniken und auf delphische Urkunden beruft, sowie Pausanias (Paus., X 37,5). Zu Datierungsfragen und zu den Quellen vgl. SÁNCHEZ, 2001, 75–80 und BOUSSET, 2002, 193–205.
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zum einen der Dritte Heilige Krieg, den Philipp von Makedonien zusammen mit den Amphiktyonen von 356 bis 346 v. Chr. gegen die Phoker führte, als diese Delphi besetzt und der Tempelschätze beraubt hatten. Zum anderen handelt es sich um den Vierten Heiligen Krieg, der sich gegen die lokrische Stadt Amphissa jenseits der Krisäischen Ebene richtete, da diese Teile des dem delphischen Gott geweihten Landes zur Bebauung abgetrennt hatten.51 Aufgrund dieser Angaben hat sich eine Datierung des Krieges gegen Krisa bzw. Kirrha auf das erste Jahrzehnt des 6. Jahrhunderts v. Chr. durchgesetzt. In den in diesen Jahren entstandenen Bildzeugnissen vom Dreifußraub sieht Jean Defradas eine Erinnerung an den Sieg der Amphiktyonen bewahrt. Herakles betrachtet er als einen thessalisch-böotischen Heros, der den neuen Einfluss der Amphiktyonen in Delphi verkörpere.52 In ähnlicher Weise argumentieren Herbert Parke, John Boardman und George Forrest, die jedoch in Herakles die unterlegene Seite vertreten sehen und aus dem Mythos den Widerstand Krisas gegen die ‘Internationalisierung’ des delphischen Orakels, symbolisiert durch den Dreifuß, herauslesen.53 Diese Zuordnung des Herakles zur lokalen Macht Krisa ist, wie wir sehen werden, die wahrscheinlichere Lösung und korrespondiert auch mit den Überlieferungen zum Ausbruch des Krisäischen Krieges, wo die Aggression stets von Krisa ausgeht. Allerdings ist nicht die lokale Identität entscheidend, sondern – wie eingangs angedeutet – die Funktion des Ortes, seine Einbindung in ein Netz überregionaler Transhumanzbeziehungen. Diese Deutung legen die Kriegsgründe nahe, die in den Quellen genannt werden. Es sind insgesamt vier Vorwürfe, die gegen Krisa/Kirrha erhoben wurden. Es handelt sich um Frauenraub, um die unrechtmäßige Aneignung von Weihegaben bzw. um den Zugriff auf heiliges Land sowie um den unberechtigten Einzug von Zöllen. Ein Teil dieser Vorwürfe wie der Raub von Weihgaben ist offensichtlich den Überlieferungen zu den Kriegsgründen späterer Kriege entnommen und lässt sich als Rückprojektion lesen; ein anderer Teil wie der 51
Zu den Befunden zum Krieg mit Amphissa vgl. SÁNCHEZ, 2001, 231–235, der weder diesem Krieg noch dem sogenannten Ersten Heiligen Krieg eine besondere Bedeutung beimisst. S. auch den Beitrag von P. Sánchez in diesem Band, unten S. 254–257. 52 DEFRADAS, 1954, 135 f. mit der älteren Literatur. 53 PARKE/BOARDMAN, 1957, 278-280; FORREST, 1956, 51 f. Parke und Boardman ordnen in diesen Zusammenhang die Schaffung einer Statuengruppe ein, von der Plinius (Plin., HN XXXVI 4,9–10) berichtet. Es handelt sich um ein Ensemble von vier Göttern, Apollon, Artemis, Herakles und Athena, in dem sie die Vorlage für die am Schatzhaus der Siphnier gestalteten Szene vom Dreifußraub sehen. Sie habe die delphische Sicht der Dinge wiedergegeben. Während Parke und Boardman bereits vor dem Sieg über Krisa Delphi in der Hand der Amphiktyonen vermuten, hält Forrest Delphi für das lokale Heiligtum der Krisäer, das mit dem Heiligen Krieg den Amphiktyonen unterstellt worden sei. Diese Gleichsetzung des Dreifußräubers Herakles mit den lokalen Herren ist mit gutem Grund auch in der älteren Literatur vorgenommen worden (Belege bei SCHWENDEMANN, 1921, 175).
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Frauenraub wiederum steht in der epischen Tradition. Ich möchte nur auf einen Kriegsgrund genauer eingehen, auf den Zugriff auf heiliges Land. Die Ebene bei Kirrha ist ganz kahl, und sie wollen auf ihr keine Bäume pflanzen, sei es aufgrund eines Fluches, sei es, daß sie wissen, daß die Erde für Baumzucht ungeeignet ist (τὸ δὲ πεδίον τὸ ἀπὸ τῆς Κίρρας ψιλόν ἐστιν ἅπαν, καὶ φυτεύειν δένδρα οὐκ ἐθέλουσιν ἢ ἔκ τινος ἀρᾶς ἢ ἀχρεῖον τὴν γῆν ἐς δένδρων τροφὴν εἰδότες) […] Später vergingen sich die Leute von Kirrha auch sonst gegen Apollon und trennten ein Stück Land des Gottes ab (χρόνῳ δὲ ὕστερον οἱ ἐν τῇ Κίρρᾳ ἄλλα τε ἠσέβησαν ἐς τὸν Ἀπόλλωνα καὶ ἀπετέµνον τοῦ θεοῦ τῆς χώρας). So beschlossen die Amphiktyonen, gegen die Kirrhäer Krieg zu führen, stellten Kleisthenes, den Tyrannen von Sikyon, als Führer an die Spitze und holten Solon aus Athen als Ratgeber.54
Nach Pausanias lag der Frevel der Kirrhaier also darin, dass sie ein Stück vom Tempelland abgetrennt hätten. Allerdings kann mit dem Vorwurf des Frevels auch der Zugriff auf das Heilige Land des Apollon gemeint sein, der in den Kontext des Vierten Heiligen Krieges gehört. Ein solcher Versuch ist von den Bewohnern Amphissas überliefert, die dafür im Jahre 340 v.Chr. von den Amphiktyonen unter der Leitung des Makedonenherrschers Philipp II. mit Krieg überzogen wurden. In welcher Form sie das Land nutzten, ist nicht klar. Aischines, der über diesen Krieg berichtet, spricht von der Bearbeitung der Ebene (ἐπηργάζοντο τὸ πεδίον), erwähnt daneben aber auch den Neubau eines Hafens, die Errichtung von aulia, unter denen Pferche und Ställe, aber auch einfache Gehöfte verstanden werden können, sowie den Bau einer Töpferei.55 Dies würde sowohl auf Viehzucht als auch Ackerbau, aber auch auf die Nutzung des Hafens für den Handel bzw. für den Einzug von Zöllen verweisen. Bei Diodor ist ein Orakelspruch der Pythia überliefert, dem zufolge die Kirrhaier, die versucht hätten, das Orakel zu berauben, erst besiegt würden, wenn das Temenos des Gottes am Meer läge.56 Eben dies ist das Resultat der Amphiktyonenherrschaft in Delphi. Nach Strabon ging es im Heiligen Krieg um Zölle: Kirrha und Krisa wurden zerstört, das eine von (Lücke im Text), danach vom Thessalier Eurylochos im Krisäischen Krieg: Die Krisäer waren nämlich wegen der Zolleinnahmen (τέλη) aus Sizilien und Italien wohlhabend; sie erhoben nun hohe Zölle von den Ankömmlingen am Heiligtum, und das gegen die Anordnung der Amphiktyonen. 57
54
Paus., X 37,5; Übers. K. Brodersen. Aeschin., In Ctes. (Or. 3),113–122. 56 Diod., IX 16. Zur Lage vgl. die Karte bei BOUSSET, 2002, fig. 5. 57 Strab., IX 3,4 p. 418,29–419,2 Radt; Übers. K. Brodersen: (Αὕτη µὲν οὖν συµµένει,) ἡ δὲ Κίρρα καὶ ἡ Κρῖσα κατεσπάσθησαν, ἡ µὲν [...] ὕστερον ὑπ' Εὐρυλόχου τοῦ Θετταλοῦ κατὰ τὸν Κρισαῖον πόλεµον· εὐτυχήσαντες γὰρ οἱ Κρισαῖοι διὰ τὰ ἐκ τῆς Σικελίας καὶ τῆς Ἰταλίας τέλη, πικρῶς ἐτελώνουν τοὺς ἐπὶ τὸ ἱερὸν ἀφικνουµένους καὶ παρὰ τὰ προστάγµατα τῶν Ἀµφικτυόνων. 55
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Die Lokrer sollen sich zudem, wie zuvor die Krisäer, an Passagezöllen (tele) von Pilgern bereichert haben.58 Nach Strabon hat ein solcher Einzug von Abgaben der Besucher des Heiligtums und die tele aus Sikelia und Italia die Krisäer begünstigt und wohlhabend gemacht.59 Von daher ist nicht auszuschließen, dass in den Überlieferungen des Pausanias und Strabons projektive Elemente enthalten sind, wie dies auch Parke und Wormell annehmen.60 Den Zugriff auf die Ebene halte ich für den eigentlichen Hintergrund des Konfliktes, von dem die Überlieferung vom Ersten Heiligen Krieg und vom Dreifußraub handelt.61 Dafür spricht auch der Amphikytoneneid. Nach Aischines war die Ebene von den Amphiktyonen dem delphischen Gott geweiht und den Kirrhaiern die Bearbeitung (ἐργάζεσθαι) untersagt worden.62 Der bei ihm überlieferte Amphiktyoneneid belegte diejenigen mit einem Fluch, die gegen das Verbot verstoßen sollten. Die Fluchformel sah vor, dass das Land keine Früchte tragen, die Frauen keine Kinder gebären und die Herden keinen Nachwuchs hervorbringen sollten, dass Krieg sie auf allen Pfaden und in allen Versammlungen erwarte, so dass ihre Häuser und ihr Geschlecht ausgetilgt würden. Weder Apollon noch Artemis, weder Leto noch Athena Pronaia würden in Zukunft ihre Opfer annehmen.63 Wenn etwas über die Hintergründe der hier geschilderten Konflikte Auskunft gibt, dann ist es dieser Amphiktyoneneid. Er enthält keine Schutzklausel des delphischen Heiligtums, sondern der Ebene von Krisa oder Kirrha, die Pausanias bei seinem Besuch, wie oben erwähnt, als ganz kahl beschreibt.64 Dieser Zustand währte bereits vor dem Krieg gegen Amphissa. In seiner 58
Strab., IX 3,4 p. 419,1 Radt; Aeschin., In Ctes. (Or. 3),113–122. Vgl. auch Dem., Or. 18,154–155. 59 Strab., IX 3,3–4 p. 418,31–419,1 Radt. 60 PARKE/WORMELL, 1956 I, 103. 61 So auch HOWE, 2003. 62 Aeschines nennt zwei eidliche Vereinbarungen. Die erste sieht u.a. vor, dass die Mitglieder der Amphiktyonen einander nicht von der Wasserversorgung abschneiden (Or. 2,115); der zweite Schwur enthält die Schutzklausel für die Ebene (Or. 3,109): καὶ ἐπὶ τούτοις ὅρκον ὤµοσαν ἰσχυρόν, µήτ’ αὐτοὶ τὴν ἱερὰν γῆν ἐργάσεσθαι µήτ’ ἄλλῳ ἐπιτρέψειν, ἀλλὰ βοηθήσειν τῷ θεῷ καὶ τῇ γῇ τῇ ἱερᾷ καὶ χειρὶ καὶ ποδὶ ⟨καὶ φωνῇ⟩ καὶ πάσῃ δυνάµει. Zur Diskussion vgl. DAUX, 1953, 775–782, der zwischen einem Gründungseid (2,115) und der Weihung der Ebene von Kirrha unterscheidet (3,109–111). 63 Aeschin., In Ctes. (Or. 3),110–111: Γέγραπται γὰρ οὕτως ἐν τῇ ἀρᾷ, „εἴ τις τάδε“ φησὶ „παραβαίνοι ἢ πόλις ἢ ἰδιώτης ἢ ἔθνος, ἐναγής“ φησὶν „ἔστω τοῦ Ἀπόλλωνος καὶ τῆς Ἀρτέµιδος καὶ Λητοῦς καὶ Ἀθηνᾶς Προνοίας“. (111) Καὶ ἐπεύχεται αὐτοῖς µήτε γῆν καρποὺς φέρειν, µήτε γυναῖκας τέκνα τίκτειν γονεῦσιν ἐοικότα, ἀλλὰ τέρατα, µήτε βοσκήµατα κατὰ φύσιν γονὰς ποιεῖσθαι, ἧτταν δὲ αὐτοῖς εἶναι πολέµου καὶ δικῶν καὶ ἀγορῶν, καὶ ἐξώλεις εἶναι καὶ αὐτοὺς καὶ οἰκίας καὶ γένος τὸ ἐκείνων. „Καὶ µήποτέ“ φησιν „ὁσίως θύσειαν τῷ Ἀπόλλωνι µηδὲ τῇ Ἀρτέµιδι µηδὲ τῇ Λητοῖ µηδ' Ἀθηνᾷ Προνοίᾳ, µηδὲ δέξαιντο αὐτοῖς τὰ ἱερά.“ 64 Paus., X 37,5; Übers. E. Meyer.
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Schrift Plataikos von 374/3 v. Chr. erinnert der attische Redner Isokrates daran, dass die Thebaner am Ende des Peloponnesischen Krieges als einzige von den Bundesgenossen dafür gestimmt hätten, die Athener zu versklaven und das Land gleich der Krisäischen Ebene zu einer Schafweide zu machen.65 Die Verwandlung einer Landschaft in eine Schafweide ist eine stehende Redewendung in der Antike,66 die nicht nur auf die Verwüstung ehemals blühenden Kulturlandes verweist, sondern auch auf Konflikte um die Nutzung des Landes. Die Ebene stellt heute ein Olivenanbaugebiet dar. Vor nicht allzu langer Zeit wurde sie von den Bewohnern des Pleistostales als Winterweidegebiet genutzt.67 Eben diese Nutzung möchte ich auch für die antiken Bewohner annehmen. Der Krisäische Krieg wäre dann ein Konflikt zwischen der lokalen und der neuen überregionalen Macht um die Nutzung des Weidelandes, der aus der Einbeziehung Delphis in ein Netz überregionaler Transhumanzbeziehungen resultierte.68 Für dieses Interesse der neuen Herren an der Ebene als Weideland spricht auch die zeitliche Festlegung der Spiele in Delphi und der Orakelbefragung. Die Vertreter der Amphiktyonen, die Pylagoren und Hieromnemonen, trafen sich bezeichnenderweise im Frühjahr und im Herbst zur Zeit des Auf- und Abtriebs der Herden, um, wie Strabon berichtet, über gemeinschaftliche Angelegenheiten zu beraten und in der Sorge um die zum Heiligtum gehörigen Güter (χρήµατα) und Weihgaben (ἀναθήµατα).69 In diese Zeit fiel auch ursprünglich die Orakelbefragung, die im 5. Jahrhundert dann monatlich stattfand.70 Zu den gemeinschaftlichen Angelegenheiten gehörte die Durchführung der Pythischen Spiele, die im Spätsommer stattfanden. Das Hippodrom, wo die Wagenrennen abgehalten wurden, befand sich in der Ebene in der Nähe des heutigen Ortes Ag. Georgios, also an jenem Ort, um dessen Nut65
Isocr., Plataikos (Or. 14),31. Diese Rede wertet LEHMANN, 1980 als entscheidendes Indiz gegen die These von Robertson, dass der Krisäische Krieg eine Rückprojektion der makedonisch-thessalischen Koalition im Dritten Heiligen Krieg darstelle. 66 Vgl. u.a. Andoc., Friedensrede (Or.3) 21; Plut., Lys. 15,2; Strab., VIII 8,1 p. 388,24 Radt. Weitere Belege bei HANSON, 1983, 6. 67 Vgl. KIRSTEN, 1951, 214, der vermutete, dass die Ebene aufgrund ihres sumpfigen Charakters nie bebaut gewesen und immer als Weideland genutzt worden sei. Neuere Untersuchungen belegen allerdings einen Bewuchs mit Nussbäumen und Eichen. MAAß, 1993, 36. 68 Den Zugriff auf die Ebene hält auch LARSEN, 1968, 42 für den Kriegsgrund. In diesem Sinne argumentierte bereits BOURGUET, 1905, 154. Vgl. auch KAHRSTEDT, Delphoi, 1953, 749–757, der die Delpher ebenfalls zu den Adressaten der Verbotsklausel der Amphiktyonen zählt und in seinem Beitrag versucht, eine politische Grenze zwischen dem Heiligen Land und der Polis Delphi zu rekonstruieren. Nach BOUSSET, 2002, 183–205 umfasste das Heilige Land nicht nur die Ebene, sondern auch das unterhalb von Delphi gelegene Hügelland. 69 Strab., IX 3,7 p. 420,7–8 Radt. 70 ROUX, 1971, 71; MAAß, 1993, 6.
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zung sich die lokalen und überregionalen Herren Delphis bzw. die Lokrer von Amphissa und die Amphiktyonen stritten. Aus inschriftlichen Befunden des 2. Jahrhunderts v. Chr. wissen wir, dass die Hälfte der Ebene von den Amphiktyonen als Weideland für Rinder und Pferde genutzt wurde.71 Aus der Existenz des Amtes der poleteres für den Zehnten schloss Emile Bourguet in seiner Studie über die Einkünfte des pythischen Heiligtums im 4. Jahrhundert v. Chr. auf die regelmäßige Verpachtung von Weideland und Häusern in der Heiligen Ebene.72 Er erwähnt darüber hinaus eine Inschrift aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., in der von Abgaben für Herden die Rede ist, die die naopoioi leisten. Es handelt sich dabei um die Mitglieder der von den Amphiktyonen gewählten Tempelbaukommission, die sich ebenfalls im Frühjahr und im Herbst trafen: „Les naopes paient la garde et la nourriture des quelques agneaux, des quelques chèvres qu’on sert à leur repas pendant leur séjour à Delphes.“73
Derartige Abgaben für das Weiden der Tiere wurden auch von Festbesuchern verlangt. Eine Vorschrift in Tegea sah für Tiere, die von Fremden zu bestimmten Festtagen herbeigebracht wurden, ein freies Weiderecht für eine Nacht und einen Tag vor.74 Diese Freistellung bedeutet, dass sich Weideland im Besitz des Tempels befand und normalerweise Weidesteuern verlangt wurden. Eine solche Weidesteuer könnte sich auch hinter den tele verbergen, von denen Aischines und Strabon als Konfliktpunkt zwischen lokalen Nutzern der Ebene und den Amphiktyonen berichten. Die Vorschrift von Tegea besagt darüber hinaus, dass Besucher von Festen Weidetiere mitbringen konnten. Dabei kann es sich nicht nur um Opfertiere gehandelt haben, von denen in Xenophons Hellenika die Rede ist. Laut Xenophon ließ der thessalische Tagos, Iason von Pherai, anlässlich der Pythischen Spiele im Jahre 370 v. Chr. „in allen Städten (πόλεις) den Aufruf herumgehen, man solle Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine aussuchen und bereithalten, die zum Opfer geeignet wären. Und, so erzählte man, während der Beitrag, den er jeder Stadt auferlegte, durchaus mäßig festgesetzt war, seien doch an Rindern nicht unter 1000 zusammengekommen, an übrigen Vieh aber über zehntausend Stück.“75 Auch wenn Zahlenangaben in antiken Quellen mit Vorsicht zu genießen sind und wir der Aussage Xenophons nur entnehmen können, dass sehr viele Weidetiere nach Delphi gebracht wurden, so zeigt doch das Bei71
Nachweise bei ISAGER/SKYDSGAARD, 1992, 192 f. BOURGUET, 1905, 26 f. und 31, Anm. 1. 73 BOURGUET, 1905, 26. Zu den Naopoioi vgl. VON GAERTRINGEN, 1901, Sp. 2564 u. 2585. Vgl. auch BOUSSET, 2002, der die Inschriften gesammelt und ins Französische übersetzt hat. 74 Vgl. GEORGOUDI, 1974, 178, die die Bestimmung im Wortlaut zitiert und diskutiert. Zu weiteren Beispielen vgl. CHANDEZON, 2003. 75 Xen., Hell. VI 4,29; Übers. Gisela Strasburger. 72
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spiel, dass zur Zeit der Pythischen Spiele zumindest kurzfristig Weideland für die aus den Anrainergebieten hergebrachten Opfertiere zur Verfügung gestellt werden musste.76 Allein aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. sind EpinomieInschriften für aitolische Epimeletai überliefert. In ihnen sind die Dauer des Weiderechts und die Zahl der Tiere festgelegt, die auf fremdem Gebiet geweidet werden durften. Umstritten ist, ob die Epinomie die Befreiung von Weidesteuern oder das Nutzungsrecht gegen die Leistung von Abgaben meint.77 Aber es geht nicht nur um die Ebene als zeitweise verfügbares Weideland, sondern auch um das gesamte Parnassgebiet, das ein ausgezeichnetes Sommerweidegebiet darstellt. Von Konflikten um die Nutzung von Weideland nicht in der Ebene von Krisa, sondern auf dem Parnass handeln nämlich zwei Überlieferungen aus dem 4. und 2. Jahrhundert v. Chr. Die Kontrahenten sind hier die Phoker und Phlygonier aus Amryses sowie die opuntischen Lokrer. Sowohl Phoker als auch Lokrer pflegten ihre Herden in einem zwischen ihnen strittigen Gebiet am Parnass zu weiden, berichtet der Autor der fragmentarisch überlieferten Hellenika von Oxyrhynchos.78 Der Konflikt, der in einen Viehraub mündete, eskalierte schließlich und ging in eine überregionale Auseinandersetzung zwischen Phokern, Lokrern, Boiotern, Lakedaimoniern und anderen über, der als der Korinthische Krieg (395 v. Chr.) überliefert ist.79 Zu einer Einigung, zur Absteckung von Weidebezirken, kommt es dagegen in einem interlokalen Konflikt zwischen Delphern und Phlygoniern im 2. Jahrhundert v. Chr.80 Die genaue Kenntnis des Parnassgebietes, die den Thessalern ermöglicht, das Heer des Xerxes während des Persereinfalls im Jahre 480 v. Chr. über das Gebirge zu führen,81 erweckt den Eindruck, als ob das Gebiet nicht nur von den Phokern selbst, die beidseitig des Parnass siedelten, sondern auch von Fremden als Weideland genutzt wurde. Herodot, der von dieser Ortskundigkeit der Thessaler berichtet, hüllt sich diesbezüglich in Schweigen. Erwähnung findet bei ihm nur der tiefe Hass, den die Phoker auf die Thessaler hegten.82 Ein möglicher Grund: Die Herauslösung Delphis aus 76
Auf die Nutzung der Ebene als Weideland für Opfertiere hebt insbesondere HOWE, 2003 ab. BOUSSET, 2002, 203 und 285 geht dagegen auch von einer profanen Nutzung aus. 77 Für letzteres plädiert MAREK, 1984, 148–150. Zu den delphischen Befunden vgl. ebd. 168–174 und 232, sowie BOUSSET, 2002, 228. 78 Hell. Oxyrh. 20,3–21,5 mit BEHRWALD, 2005, 79. Dazu: DAVERIO, 1994, 103. 79 Xen., Hell. III 5,3 ff. Nach Xenophon sollen die Lokrer für die Nutzung des strittigen Gebietes Abgaben erhoben haben, was zum Raub von Gütern (χρήµατα) durch die Phoker führte. Daraufhin riefen die Lokrer die Thebaner, die Phoker aber die Lakedaimonier zur Hilfe. Bei Pausanias (Paus., III 9,9) wird der Konflikt als Beutezug der Lokrer geschildert. 80 FD III 2,136 (um 140 v. Chr.). Dazu: GEORGOUDI, 1974, 181; SARTRE, 1979, 214; OSBORNE, 1987, 47 f. 81 Hdt., VIII 31. 82 Hdt., VIII 30; vgl. auch Paus., X 1,6-7.
Herakles und der Dreifußraub von Delphi
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dem Verband der Phoker und die Unterstellung des Heiligtums unter die Aufsicht der Amphiktyonen, in deren Kreis die Thessaler eine prominente Rolle spielten,83 kann in der Frage der Nutzung der Weiden genau jene Entscheidung impliziert haben, die die Absprachen zwischen Phlygoniern und Delphern im Jahre 140 v. Chr., vorsahen: Die Nutzung von Sommerweiden im Parnassgebiet durch die Mitglieder des Amphiktyonenbündnisses. Dies eben suggeriert der Mythos vom thessalischen Heros Neoptolemos, dessen Herden in der von Euripides gestalteten Sagenfassung am Parnass weiden.84 Auch er wurde von den Delphern gehasst und von den Priestern im Tempel getötet, genoss aber später in Delphi Verehrung.85 Fasst man den Mythos vom Dreifußstreit als Ausdruck der Konflikte zwischen lokalen und überregionalen Nutzern des Heiligen Landes des delphischen Apollon, erklärt sich auch die Rolle des Herakles. Unter diesen Umständen müsste Herakles, der Räuber des Dreifußes des Apollon, als Vertreter der lokalen oder regionalen Anrainer Delphis, der Krisäer und Phoker, gedeutet werden, der unter den neuen Bedingungen der Amphiktyonenherrschaft zum Aggressor stilisiert wird. Denn der Amphiktyoneneid gibt einen klaren Hinweis auf die Zuordnung der im Dreifußstreit genannten Götter. Nicht nur Apollon, sondern auch Leto und Artemis, die Apollon im Konflikt um den Dreifuß zur Seite stehen, sowie Athena, die vermittelnd eingreift, repräsentieren das delphische Heiligtum, das unter dem Schutz der Amphiktyonen steht.86 Als panhellenischer Heros ist Herakles nicht einer bestimmten Volksgruppe, sondern einer Funktion zuzuordnen, die in der Integration der Räume liegt: die des gedungenen Hirten. Mit Herakles tritt der überregionalen Macht, für die Apollon steht, der Typus des gedungenen Hirten und Söldners entgegen, der im Dienst anderer Räume durchschreitet und Heldentaten vollbringt, die zu einem großen Teil der Wegesicherheit dienen.87 Vieldeutig wie Mythen sind, kann Herakles für die Indienstnahme durch fremde Herren ste-
83 Vgl. LEHMANN, 1983, 43, der den Gegensatz allerdings allein unter machtpolitischen Gesichtspunkten betrachtet und auf die ökonomische Interessenlage nicht eingeht. 84 Eur., Andr. 1100–1101. 85 Zur Verehrung des Neoptolemos in Delphi vgl. MAAß, 1993, 42 u. 81; ROUX, 1971, 177. 86 Vgl. oben Anm. 63. 87 Eine explizite Verbindung zwischen Wegesicherheit und den Taten des Herakles stellt Plutarch in seiner Biographie des attischen Lokalheros Theseus her (Plut., Thes. 610). Zu diesem Aspekt vgl. auch HUTTNER, 1997, 14, der den Helden deshalb als Zivilisationsbringer klassifiziert, der der griechischen Polis den Boden bereitet habe. Vgl. auch meine Argumentation in: WAGNER-HASEL, 1998, 205–228.
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hen, wie es mit der lokalen Macht in Delphi geschieht, aber auch für den Widerstand der Krisäer.88 Was aber meint der Zugriff auf den Dreifuß? Wie auch immer der Dreifuß in dem hier zu behandelnden Mythos zu deuten ist, ob als Weihgabe oder als mantisches Symbol des Apollon, immer kommt dem Dreifuß eine abstrakte Symbolik zu. Er ist Gegenstand einer überregionalen Kommunikation, sei es der überregionalen Gemeinschaft von Athleten oder Sängern, die sich in Spielen misst, sei es der überregionalen Gemeinschaft von Gesandten, die in Delphi um politischen Rat nachfragte, und damit Symbol der rituellen Konfliktregulierung. Er steht ebenso wie Apollon für das Interesse der Amphiktyonen an der Orakelstätte, während Herakles, der Aggressor für all jene einstehen kann, die auf der Gegenseite stehen: für die lokale Macht Krisa und Amphissa bzw. für die regionale Macht, die Phoker, aus deren Verband Delphi herausgelöst wurde. Mythen, die nichts anderes als bildhafte Erzählungen von Helden und Götter sind, würden schnell wirkungslos und wären vergessen, wenn sie nicht immer wieder neuen Gegebenheiten angepasst werden könnten. Von daher ist auch die Frage, ob der Mythos einen tatsächlichen Ersten Heiligen Krieg reflektiert oder nicht, von nachgeordneter Bedeutung. Entscheidend ist der strukturelle Konflikt zwischen lokalen und überregionalen Nutzern der Weidegebiete um Delphi, der sich aus der Logik der transhumanten Ökonomie ergibt.
88 Vgl. auch die Aussagen des homerischen Hermeshymnos, nach denen die lokale Macht, vertreten durch den Viehräuber Hermes, in die Stellung des gedungenen Hirten hinabgedrückt wird. WAGNER-HASEL, 2000, 233 und 292–293.
Die Goldene Bäckerin Delphi und die nichtgriechische Welt im Spiegel der Weihgeschenke Balbina Bäbler 1. Kroisos, die Pythia und die goldene Bäckerin In Buch I 50 f. gibt Herodot1 eine beeindruckende Aufzählung der Weihgeschenke, die der lydische König Kroisos nach Delphi senden ließ, nachdem er die Orakel in Libyen, von Delphi, Abai in Phokis, Dodona sowie die des Amphiaraos, des Trophonios und der Branchiden von Didyma – also die berühmtesten der antiken Welt – einem Test unterzogen hatte, aus dem das Orakel von Delphi als Sieger hervorgegangen war (Hdt. I 46,2 f.): Allein die Pythia hatte korrekt zu sagen vermocht, was der Lyderkönig an einem bestimmten Tag gemacht hatte, nämlich eine Schildkröte und ein Lamm in einem erzenen Kessel gekocht, auf den er einen erzenen Deckel gelegt hatte (Hdt. I 47 f.). Glaubwürdig erschien dem König auch das Orakel des Amphiaraos in Theben (Hdt. I 49), dem er dafür einen Schild und eine Lanze aus Gold stiftete (Hdt. I 52); Herodot weiß allerdings nicht, welche Antwort das Orakel des Amphiaraos gegeben hatte. In den Ausführungen über die Weihgeschenke, die Kroisos nach Delphi schickte, wirken die zwei kurzen Abschnitte über das Heiligtum in Theben zunächst etwas merkwürdig, zumal das dortige Orakel später keine Rolle mehr spielt. Erst der spektakuläre Fund einer Basis im dortigen Heiligtum des Apollon Ismenios zeigte, dass es auch hier Herodots Autopsie war, die diesen Ausführungen zugrunde liegt: Nach der um 500 v. Chr. auf der Basis angebrachten Inschrift hatte ein Orakelpriester sie errichten lassen, nachdem er den „glänzenden Schild“, den Kroisos geweiht hatte, nach Konsultation des Orakels (wieder) gefunden hatte.2 1
Alle Übersetzungen von Herodot-Zitaten nach NESSELRATH, 2017. THONEMANN, 2016; die textkritische Edition mit Übersetzung dort 154–157; die Verse sind in böotischer Schrift angebracht; auf der Rückseite der Basis wurde das Epigramm aus unbekannten Gründen um 400–350 v. Chr. noch einmal in ionischer Schrift aufgeschrieben; diese zweite Fassung ist stark beschädigt. THONEMANN, 2016, 161–165 glaubt, dass es sich bei dem Kroisos, der den „glänzenden Schild“ (V. 3 f.: φαενὰν | [ἀσπ]ίδα) geweiht hatte, der offensichtlich zwischenzeitlich verschwunden oder nicht mehr aufzufinden war, nicht um den lydischen König gehandelt haben kann. Seiner Meinung nach muss 2
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Für den Gott in Delphi ließ Kroisos dreitausend Stück Vieh opfern, goldund silberbeschlagene Ruhebetten, goldene Schalen, purpurne Kleider und Leibgewänder wurden ebenfalls auf einem großen Scheiterhaufen verbrannt (I 50,1). Danach ließ er Gold einschmelzen, um daraus Halbziegel zu formen, die sechs Handbreiten lang, drei breit und eine hoch waren, insgesamt 117 an der Zahl, davon vier aus lauterem Gold, jeder zweieinhalb Talente schwer, die anderen aus Weißgold, zwei Talente schwer (I 50,2); auf diesen stand ein zehn Talente schwerer Löwe ebenfalls aus lauterem Gold, der allerdings zu Herodots Zeiten infolge des Tempelbrandes sechseinhalb Talente Gewicht verloren hatte (I 50,3). Dazu schickte Kroisos zwei riesige Mischkrüge, den einen aus Gold, den anderen aus Silber, vier silberne Vorratskrüge, je ein goldenes und ein silbernes Weihbecken, silberne Gusswerke von runder Form, die Halsketten und Gürtel seiner Frau und ein goldenes, drei Ellen hohes Standbild einer Frau, von dem die Delpher sagen, es sei ein Abbild seiner Brotbäckerin (I 51,1–5). Auf dieses am Schluss der Aufzählung erwähnte kleinformatige Werk soll hier noch etwas näher eingegangen werden. Die Geschichte zu der Statue wird erst mehrere Jahrhunderte später von Plutarch in seiner Schrift De Pythiae Oraculis 16 (401e) erzählt: Die Stiefmutter des Kroisos, die sein Vater Alyattes in zweiter Ehe geheiratet und die ihm weitere Söhne geboren hatte, habe Kroisos, den Sohn aus erster Ehe, von seiner Bäckerin vergiften lassen wollen. Diese aber habe ihn heimlich gewarnt und das vergiftete Brot den Söhnen der Stiefmutter serviert; aus Dankbarkeit und als Zeugnis vor den Göttern habe Kroisos dann eine Statuette der Frau in Delphi aufgestellt. Diese Erzählung enthält Motive, die an Folklore oder Topoi der griechischen Mythologie erinnern, wie etwa die mörderisch eifersüchtige Stiefmutter oder den Giftanschlag, der auf den Täter zurückfällt.3 Die Frage ist, wann, und vor
der Stifter ein sonst unbekannter Athener aus einer der reichsten Familien der Stadt gewesen sein, womöglich ein Alkmaionide und vielleicht ein Sohn des Alkmaion, der in der Mitte des 6. Jahrhunderts Gastfreund des lydischen Königs gewesen war (Hdt., VI 125,2). Er verweist dabei auf die Formulierung des Epigramms, die Weihung sei als Andenken „seiner [scil. des Kroisos] Tugend und seines Leidens (V. 5: µνᾶµ’ ἀρετ[ᾶς τε πάθας τ’ ἀνέθεκεν)“ aufgestellt worden, was an Grabepigramme erinnere oder Weihungen, die von der Familie eines gefallenen Kriegers in einem Heiligtum aufgestellt wurden. Zu einer solchen Deutung würde auch die Weihegabe Schild und Speer passen. Die ἀρετή und πάθη, die Herodot in I 52 bei der Erwähnung dieser Weihung dem Amphiaraos zuschreibt (vgl. dazu ASHERI, 2007, 113), sei direkt von dieser Inschrift inspiriert gewesen. THONEMANN, 2016, 164 nimmt an, Herodot oder die thebanischen Fremdenführer durch das Heiligtum hätten die Weihung „in good faith“ falsch gedeutet, denn da der Name Kroisos sehr selten gewesen sei (vor dem späteren 5. Jahrhundert ist kein weiteres Beispiel bekannt), sei es naheliegend gewesen, ihn mit dem berühmten Lyderkönig in Verbindung zu bringen. 3 PARKE, 1984, 219.
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allem, weshalb sich diese Geschichte gerade an diese Statuette ‚angelagert‘ haben sollte. Bisherige Interpretationsversuche liefen erstaunlicherweise fast immer darauf hinaus, dass die von Herodot explizit als ἀρτοκόπος bezeichnete Figur keinesfalls eine Bäckerin dargestellt haben könne: Bereits Sayce postulierte 1883 in seinem Herodot-Kommentar, es habe sich wohl um eine orientalische Göttin in sitzender Position gehandelt. 4 Parke will in der Figur die Artemis von Ephesos erkennen, zu der Kroisos bekanntlich eine besondere Beziehung hatte:5 Nach der erfolgreichen Belagerung der Stadt Ephesos bald nach seinem Regierungsantritt, der früher meist um 560 v. Chr. angesetzt wurde, aber nach den neusten Forschungen von Robert Wallace wahrscheinlich schon in die 580er Jahre zu datieren ist,6 wollte Kroisos offensichtlich die Stadtgöttin Artemis versöhnen und stiftete dem Tempel, wie Hdt., I 92,1 berichtet, die meisten Säulen. 7 Fragmente dieser berühmten columnae caelatae und der daran angebrachten Reliefs sind erhalten; Inschriftenreste auf den Profilwülsten lassen sich zu der Weihinschrift βασιλεὺς Κροῖσος ἀνέθηκε zusammensetzen.8 Nun hat allerdings gerade die ephesische Artemis eine sehr charakteristische Ikonographie; sie trägt ein langes, mit Tierprotomen geschmücktes Gewand, einen hohen Polos mit Mauerkrone, überreichen Schmuck und als 4
SAYCE, 1883, 28. Allerdings hält Sayce Herodot grundsätzlich für einen völlig unzuverlässigen und sogar vorsätzlich Unwahrheiten und Erfindungen verbreitenden Geschichtenerzähler, vgl. SAYCE, 1883, xxix f. 5 Von HÖGEMANN, 1999, 858 ohne Quellenangabe oder andere Belege übernommen: „Zum Dank hat K. seiner Schutzgottheit Artemis/Magna Mater später eine goldene Statue nach Delphoi gestiftet, so ist wohl Herodot (1,51) zu deuten.“ 6 WALLACE, 2016, bes. 170–176 bezweifelt insbesondere die Angabe von 14 Regierungsjahren für Kroisos in Hdt., I 86,1: gerade Zahlen wie sieben oder zweimal sieben (vgl. Hdt., VII 114,2) „look densely formulaic“ (170); viele Angaben, die Herodot an anderen Stellen seines Werks zu Kroisos mache, brächten ihn mit Ereignissen oder Personen (insbesondere den sogenannten Sieben Weisen) in Verbindung, die zwischen 580 und 560 zu datieren sind (172); zudem gebe es keine Zeugnisse für irgendwelche Aktivitäten des Alyattes nach 585 v. Chr. (176; s. auch unten S. 161 mit Anm. 27). 7 BÄBLER, 2012, 90 f. Die Ephesier hatten sich bei der Belagerung unter den Schutz der Göttin gestellt, indem sie ihre Stadt mit einem Seil mit dem sieben Stadien entfernten Tempel verbunden hatten (Hdt., I 26,2; Polyaen., VI 59); dieses ‚Tempelasyl‘ wurde von Kroisos zwar anerkannt, er zwang aber die Einwohner, ihre bisherig befestigte Bergstadt aufzugeben und sich in der Ebene um das Artemision anzusiedeln. Zu der Beziehung der Mermnaden zu Ephesos vgl. auch GEORGES, 1994, 29–32. Die von WALLACE, 2016, 177 f. vorgeschlagene Datierung des Regierungsantritts des Kroisos bereits um 580 v. Chr. würde einige archäologische Baubefunde erklären, die mehrere Archäologen veranlassten, erste Arbeiten an dem Bauwerk noch Kroisos’ Vorgänger Alyattes zuzuschreiben, vgl. auch IMMENDÖRFER, 2017, 127–131; Wallace’ Datierung würde diese Inkonsistenz zwischen den archäologischen und literarischen Quellen beseitigen. 8 BÄBLER, 2012, 89 f. mit Abb. 2 und 3.
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auffälligstes Merkmal drei Reihen von runden Objekten zwischen den Armen, die als Brüste oder Stierhoden gedeutet wurden.9 Hinter ihrem Kopf war ein Nimbus angebracht, der ebenfalls mit Protomen von Löwen, Stieren und Greifen geschmückt war. Parke muss denn auch argumentieren, die von Herodot gesehene Statuette sei noch eine unauffällige weibliche Gewandstatue gewesen, die keine Ähnlichkeit mit der bekannten Artemis Ephesia gehabt habe. In der Tat sind die heute erhaltenen bekannten Repliken und Münzbilder der Figur erst seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. entstanden. Bereits Robert Fleischer hat aber in seiner Dissertation von 1973 gezeigt, dass es sich bei den zahlreichen „Brüsten“ der Göttin,10 deren Herkunft und Bedeutung nach wie vor unklar sind, nicht um eine späte Umbildung oder synkretistische Hinzufügung handelt, sondern um ursprüngliche Bestandteile bereits des archaischen Kultbildes.11 Auch wenn das zu Herodots Zeiten vorhandene Kultbild schlichter war und mehrere Attribute wie etwa die Hirsche und Löwen wahrscheinlich erst in der Kaiserzeit hinzugefügt wurden, so können die bekannten Repliken nicht auf eine hellenistische Neuschöpfung des Kultbildes zurückgehen, berichtet doch die antike Überlieferung nur von einem einzigen Kultbild, das trotz mehrfacher Erneuerung des Tempels stets dasselbe geblieben sei.12 Weshalb aber die Delpher nach Herodot die ephesische Artemis explizit als „Bäckerin“ bezeichnet haben sollten, bleibt dabei unerklärt. Philip Kaplan gibt zwar keine ‚Alternativ-Deutung‘ der Figur, nimmt aber an, dass die Geschichte der mörderischen Stiefmutter erst spät aus Hdt., I 51,5 und I 92,2–3 (wo Kroisos’ Halbbruder Pantaleon erwähnt wird, der ihm die Herrschaft streitig machte) extrapoliert wurde und erst in einer Zeit entstanden ist, als die Statuette bereits eingeschmolzen war.13 Die ingeniöseste Erklärung kommt von Garrett/Kurke 1994: Es habe sich bei der Statuette um das Abbild eines bedeutenden Mitglieds von Kroisos’ 9 Die Deutungen in der neueren Forschung sind zusammengestellt bei IMMENDÖRFER, 2017, 147–151. 10 Vgl. dazu auch MORRIS, 2008, 59. 11 FLEISCHER, 1973, 123 f. Vgl. dazu auch MORRIS, 2008, 57 f., die ebenfalls zeigte, dass sich Elemente der Tracht der Göttin, wie etwa der Polos oder die Bienen in den Viereckfeldern des Gewandes, auf prähistorische Vorläufer aus Anatolien zurückführen lassen. 12 Plin., Nat. XVI 213 überliefert, es sei aus Rebenholz gewesen und niemals ausgetauscht worden, obwohl der Tempel siebenmal wieder hergestellt wurde (numquam mutatum septies restituto templo); er beruft sich dabei auf Mucianus, den Konsul der Jahre 67, 70 und 72 n. Chr., der das Bild in Augenschein genommen habe. In der Apostelgeschichte wird das Kultbild der ephesischen Artemis διοπετής genannt (Apg 19, 35), eine Bezeichnung, die nur für ein altes Xoanon, nicht eine hellenistische Skulptur, verwendet wurde; vgl. FLEISCHER, 1973, 124 f.; MORRIS, 2008, 58; IMMENDÖRFER, 2017, 151. 13 KAPLAN, 2006, 142 f. Kaplan erwähnt zwar die Möglichkeit einer lokalen delphischen Tradition, hält es aber für unwahrscheinlich, dass sie ein historisches Ereignis im Zusammenhang mit der Statuette widerspiegeln könnte.
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Haushalt gehandelt, nämlich um seine Hetäre. ἀρτοκόπος sei ein ‚SlangWort‘ für diesen Beruf,14 das für Herodot noch völlig verständlich gewesen, aber zu Plutarchs Zeit außer Gebrauch gekommen sei, so dass dieser die Geschichte mit der Brotbäckerin habe erfinden müssen. Bei allen diesen Interpretationen stellt sich das gleiche methodische Problem: Warum sollte sich eine Geschichte – unabhängig davon, wann und von wem sie erfunden wurde – in der eine ἀρτοκόπος die Hauptrolle spielt, an einer Figur festmachen, die etwas ganz anderes darstellte und in ihrer äußeren Erscheinung keinerlei Ansatzpunkte für solche Folklore bot? Die Darstellung einer Göttin, auch einer fremdländischen, und nun gar einer Artemis, hätte Herodot zweifellos als solche erkannt.15 Zu der Deutung von Garrett/Kurke ist zu sagen, dass es nicht Herodots Angewohnheit war, ‚Slang-Wörter‘ zu benutzen, und es im ganzen Werk keine einzige Parallele zu einem solchen Gebrauch von ἀρτοκόπος gibt;16 im Gegenteil hat der Historiker nie die geringsten Inhibitionen, eine Hetäre auch mit eben diesem Namen zu nennen, wie etwa Rhodopis, die Geliebte des Bruders der Sappho, von der in Delphi ebenfalls Weihgeschenke zu sehen waren.17 Die ‚Umdeutung‘ der Bäckerin zu einer Hetäre ist m. E. eine nicht aus Herodot, sondern aus Plutarch (Pyth. or. 16, 401f) gezogene Deutung: Einer der 14
Begründet wird dies von GARRETT/KURKE, 1994, 82 durch die Verbindung von Hdt., I 51,5 mit der makabren Geschichte V 92η 2 f., in der dem Tyrannen Periandros der Geist seiner von ihm ermordeten Ehefrau erscheint und als Zeichen dafür, dass sie die Wahrheit sage, angibt, er habe Brote in den Backofen geschoben, als dieser kalt gewesen sei (ἐπὶ ψυχρὸν τὸν ἰπνὸν Περίανδρος τοὺς ἄρτους ἐπέβαλε). Daraufhin glaubt Periandros der Erscheinung, denn er hatte mit seiner toten Ehefrau Melissa Verkehr gehabt. τοὺς ἄρτους ἐπιβάλλειν sei also ein für Herodot und seine Zeitgenossen verständlicher kolloquialer Ausdruck für Geschlechtsverkehr gewesen. Dafür gibt es aber keinerlei Belege, vgl. HENDERSON, 1975, passim und bes. 144 und 186–189. 15 Vgl. etwa Hdt., IV 59,2, wo Herodot eine der wichtigsten skythischen Gottheiten, Tabiti, beschreibt, die auf die altiranische Göttin des Herdes (und im weiteren Sinne der Gemeinschaft und des Staates), Tapayati (von dem Verb *tap, „brennen, erhitzen“) zurückgeht. Der Historiker identifiziert sie naheliegenderweise mit der griechischen Hestia, vgl. dazu BÄBLER, 2011, 132–134; dort 126–134 allgemein zu Herodots Umgang mit fremden Göttern am Beispiel des skythischen Pantheons. 16 Bei Herodot kommt das Wort nur noch ein weiteres Mal vor (Hdt., IX 82,1), als von den „Bäckern und Köchen“ im Haushalt des Mardonios die Rede ist. Auch bei Platon (Gorg. 518b) wie bei Xenophon (Hell. VII 1,38 und An. IV 4,22) steht das Wort nur in der Bedeutung „Bäcker/in“; ansonsten ist es erst wieder bei späten, kaiserzeitlichen Autoren belegt. Gerade in der Komödie, wo am ehesten die von Garrett/Kurke angeführte Bedeutung zu erwarten wäre, kommt kein solcher Ausdruck vor, vgl. den Index bei HENDERSON, 1975. 17 Hdt., II 134,1–135,4; nach Herodot ließ Rhodopis aus dem zehnten Teil ihres Vermögens „eine Menge eiserner Bratspieße machen, so groß, um einen Ochsen daran zu braten ... und die sandte sie nach Delphi“, wo sie zu Herodots Zeiten noch zu sehen waren (Hdt., II 135,4).
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Gesprächsteilnehmer stellt dort die Statuette des Kroisos als unangemessenes Weihgeschenk in eine Reihe mit den Spießen der Rhodopis und der goldenen Statue der Hetäre Phryne, die ebenfalls in Delphi zu sehen waren.18 Die Darstellung einer einfachen ‚Handwerkerin‘ wird offenbar auch heute noch als inkongruent mit Kroisos’ übrigen Gaben befunden (ob freilich eine Hetäre aus seinem Haushalt passender wäre, bleibe dahingestellt). Entsprechende Darstellungen sowohl aus dem Orient wie auch aus Griechenland sind aber nicht unbekannt: Zahlreiche Statuetten aus ägyptischen Gräbern seit 3000 v. Chr. (aus verschiedenen Epochen) zeigen alle den Typus einer knienden Frau vor einer Steinplatte, die entweder flach ist oder sich leicht weg von der Figur neigt, die meist dicht hinter dem höheren Ende mit einem Stein in der Hand kniet, in einer Position, dass das ganze Gewicht auf diesem Stein liegt, mit dem sie das Getreide mahlt; bisweilen ist am niedrigen Ende des Steins eine Höhlung für das Endprodukt angebracht.19 Es gibt auch die Variante, dass die Figur (Frau oder Mann) vor einem Backofen kniet.20 Eine Terrakottapuppe aus Kameiros (Rhodos) aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. zeigt dasselbe Motiv. Teig knetende Frauen sind in der Regel aufrecht stehend dargestellt, vor einer Schüssel oder einem Trog.21 Was genau hinter der ἀρτοκόπος des Kroisos in Delphi steckt, ist nicht mehr zu entscheiden, doch ist m. E. nicht einzusehen, dass die Darstellung eines einfachen, aber überlebensnotwendigen Handwerks grundsätzlich ein ‚Problem‘ ist, das wegerklärt werden muss.22 Die Zuständigkeit der Frauen für Aufbereitung und Verarbeitung des Getreides ist in antiken Quellen gut belegt; bereits bei Homer ist es die ταµίη, die Verwalterin der Vorräte, die den Gästen Brot und Wein zuteilt (Hom., Od. Ι 139; ΙΙΙ 392.479; IV 55; und noch weitere Stellen).23 Welche Bedeutung dieser Rolle der Frauen zugemessen wurde, ist auch in der Schilderung des Thukydides bei der Belagerung von Plataia im Peloponnesischen Krieg zu sehen (Thuc., II 78,3): Die Plataier aber hatten Kinder, Frauen sowie die Ältesten und damit die gesamte für nichts verwendbare Bevölkerung bereits vorher nach Athen ausquartiert, von ihnen selbst 18
Auf diese Kritik antwortet ein weiterer Gesprächspartner, Kroisos habe mit dieser Weihung nicht seinen Reichtum zur Schau stellen, sondern die Verdienste einer einfachen Frau würdigen wollen; ein anderer stellt fest, weitaus schlimmer seien die aus der Beute innergriechischer Kriege finanzierten, in Delphi zahlreich vertretenen Weihgeschenke; vgl. dazu SCHRÖDER, 1990, 300–302; THUM, 2013, 123 f. 19 MORITZ, 1958, 29 f. 20 CURTIS, 2001, 121 mit Abb. 9. 21 MORITZ, 1958, 31. British Museum, Inv. B 234. Vgl. auch WAGNER-HASEL, 2006, 215 für weitere Beispiele. 22 So GARRETT/KURKE, 1994, 82 mit Anm. 16; dagegen betont CURTIS, 2001, 110 für den ägyptischen Kontext die grundlegende Bedeutung des Brotes für das Leben, die auch in Sepulkralkunst, Mythologie und Literatur deutlich wird. 23 WAGNER-HASEL, 2006, 315 f.; vgl. z. B. auch Xen., Oec. 3,15.
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waren während der Belagerung noch Vierhundert in der Stadt zurückgeblieben, dazu achtzig Mann aus Athen und hundertzehn Frauen zur Bereitung der Speisen (γυναῖκες δὲ δέκα καὶ ἑκατὸν σιτοποιοί).24
Ebenso ist es nicht grundsätzlich unmöglich, dass sich unter den Weihungen des Herrschers auch ein Zeichen persönlicher Frömmigkeit befand, das einen Bezug zu seiner Biographie hatte.25 Herodot sah die Weihgeschenke des Kroisos bereits in den Schatzhäusern der Korinther und der Klazomenier (I 50,3; 51,2), wohin sie nach dem Brand des Tempels, der auch ein Stück des goldenen Löwen hatte schmelzen lassen (siehe oben S. 156), gebracht worden waren. Das Feuer fand vermutlich 548/7 v. Chr. statt, also nur kurze Zeit vor dem Fall von Sardes, 26 und hätte auch als schlechtes Omen für Kroisos’ Feldzug gegen Kyros gedeutet werden können. Allerdings lässt sich heute nicht mehr sagen, wie lange die Weihgeschenke im Tempel standen; vielleicht trafen sie zu verschiedenen Zeiten ein. Eine erste Stiftung (mit der ἀρτοκόπος) als Dank für den Sieg in den familieninternen Rivalitäten und die erfolgreiche Thronbesteigung könnte schon sehr früh erfolgt sein. Folgt man Wallace’ Argumenten für eine Thronbesteigung des Kroisos schon in den 580er Jahren (siehe oben S. 157 mit Anm. 6), so hätte der König insgesamt über drei Jahrzehnte Zeit gehabt, die Beziehungen zu Delphi auszubauen und weitere Weihgeschenke hinzuschicken. 27 Herodot war sich solcher chronologischen Probleme aber zweifellos nicht bewusst, als er um 440 v. Chr., also mehr als hundert Jahre nach den Weihungen des Kroisos, Delphi besuchte.
24
Übersetzung: WEIßENBERGER, 2017, 417. Vgl. auch WAGNER-HASEL, 2006, 316 f.; dort auch zu Mythos der Oinotropoi und den Festen in Athen, die mit dem Saatgut und der Aufbereitung des Getreides zu tun hatten (Thesmophoria und Skira) und in weiblicher Hand waren. 25 Ähnlich KERSCHNER, 2006, 265. 26 Pausanias (X 5,13) gibt ein genaues Datum: „als Erxikleides in Athen Archon war, im ersten Jahr der 58. Olympiade, an der Diognetos aus Kroton siegte“. Umstritten ist das genaue Datum des Falles von Sardes, da das Marmor Parium und die Chronik des Eusebius nicht übereinstimmen, vgl. dazu PARKE, 1984, 213–215, FANTALKIN, 2014, 39. Meist wird er in das Jahr 547 v. Chr. gesetzt; PARKE, 1984, 215 bevorzugt 546 v. Chr., WALLACE, 2016, 178 hält 547 v. Chr. oder 546 v. Chr. für möglich. 27 WALLACE, 2016, 173 f. Vgl. bereits PARKE, 1984, 223 der annimmt, dass die Weihgeschenke zu drei oder mehr verschiedenen Anlässen während Kroisos’ gesamter Regierungszeit nach Delphi gesandt worden sein könnten; dieses Argument würde durch eine längere Regierungszeit des Königs noch plausibler.
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2. Die Weihgeschenke des Midas, des Gyges und des Alyattes Kroisos war nicht der erste orientalische Fürst, der Delphi reich beschenkte: Als erster stiftete laut Herodot I 14,3 der phrygische König Midas den Thron, auf dem er zu sitzen pflegte, wenn er Recht sprach, nach Delphi; der Historiker nennt ihn „des Anschauens wohl würdig“. Die Weihung müsste im späteren 8. oder zu Beginn des 7. Jahrhunderts stattgefunden haben, denn der in assyrischen Quellen von 718–709 v. Chr. als Mita-a bezeugte König starb laut Eusebius’ Chronik 696/5 v. Chr.28 Eine solche diplomatische Gabe wäre nicht unwahrscheinlich, und es steht außer Frage, dass Herodot einen „Thron“ orientalischer Herkunft gesehen hat: In dem 1957 ausgegrabenen Grabtumulus bei Gordion, der eine Höhe von beeindruckenden 53 m und einen Durchmesser von 30 m hat und oft mit König Midas assoziiert wird, fand man neben vielen anderen kostbaren Beigaben auch fünfzehn qualitätvolle Möbelstücke. Die äußeren Holzbalken der Anlage waren 740 v. Chr. gefällt worden, was einen Terminus post quem für die Bestattung liefert.29 Unter dem Mobiliar befanden sich drei Sessel und zwei Stühle, die vielleicht für ein zeremonielles Bankett gebraucht worden waren.30 Sie bestanden aus Holz oder Elfenbein, hatten Armlehnen und waren mit Textilien bedeckt; an den Leisten der Stühle waren Elfenbeinschnitzereien angebracht. Dieselben Objekte, die als Grabbeigaben dienten, wurden auch in anderen Ländern in die Tempel und Heiligtümer geweiht.31 Auch der Gründer der Mermnadendynastie, Gyges, ist in Delphi prominent vertreten: Nach Midas habe er „als erster von den Barbaren, von denen wir wissen, Weihgeschenke nach Delphi gestiftet“, davon sehr viele silberne und „auch unermesslich viel Gold“ (I 14,1), darunter sechs goldene Mischkrüge, die Herodot besonders erwähnenswert findet (I 14,2). Der Reichtum des Gyges, der etwa von 680–644 v. Chr. regierte, war schon zu seiner Zeit sprichwörtlich: Von seinem Zeitgenossen Archilochos, dem ersten uns be28
Hieronymus (Eus.), Chron. p. 92b,16 HELM; ASHERI, 2007, 85 f. SIMPSON, 2010, 10.130; WHITE MUSCARELLA, 2013, 533–548. Insgesamt wurden drei Tumuli mit über 641 Objekten ausgegraben, deren hohe Qualität den Reichtum des Landes und die Bedeutung Gordions als politisches und ökonomisches Zentrum im 1. Jahrtausend v. Chr. zeigen. 30 So SIMPSON, 2010, 127–130. 31 SIMPSON, 2010, 130. Angesichts des beeindruckenden erhaltenen Materials gibt es m. E. keinen Anlass für die Deutung von CRAHAY, 1956, 207 f., für den die Delpher ein vorgriechisches religiöses Symbol, das sie nicht mehr verstanden, als Thron des phrygischen Herrschers deuteten, da immer noch eine Erinnerung an eine Verbindung zum Kult der Magna Mater bestanden habe. – Auf eine phrygische Gürtelschnalle des 8./7. Jahrhunderts v. Chr. in Delphi verweist MAAß, 1993, 135. WHITE MUSCARELLA, 2013, 675 vermutet, dass in Delphi weitere Weihegaben orientalischer Könige standen, die Herodot nicht aufzählt. 29
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kannten griechischen lyrischen Dichter, ist der Vers überliefert „Ich kümmere mich nicht um alles Gold des Gyges...“ (Frg. 19 West); ein Hinweis auf Archilochos wurde von späteren Bearbeitern an den Rand des Herodot-Textes geschrieben und von dort in I 12,2 übernommen.32 Die Stiftungen des Gyges werden später auch von Diodorus Siculus und Strabon erwähnt. Sie waren noch bis in das 4. Jahrhundert v. Chr. zu sehen und wurden dann von dem phokischen Feldherrn Phayllos im 3. Heiligen Krieg (353 v. Chr.) eingeschmolzen, damit er mit dem Edelmetall seine Söldner entlohnen konnte.33 Auch Kroisos’ Vater Alyattes stiftete außergewöhnliche Kunstwerke nach Delphi, die Herodot (I 25,2) ausführlicher erwähnt: Einen großen silbernen Mischkrug, der sehenswert ist unter allen Weihgeschenken in Delphi, eine Kreation des Glaukos von Chios, der tatsächlich allein unter allen Menschen die Kunst erfunden hat, Eisen zu löten.
Dieses Werk wurde noch von Pausanias in Delphi gesehen und in seiner Struktur genau beschrieben.34 Zu dieser technischen Beschreibung kommt die Erwähnung bei Athenaios (V 210b–c) hinzu, die auf einen von Hegesander von Delphi, einem Autor des 2. Jahrhunderts n. Chr., verfassten Katalog von Votivgegenständen im delphischen Heiligtum zurückgeht, und in der die kleinen Tiere und Pflanzen beschrieben werden, die als Relief eingraviert waren.
32
Dazu NESSELRATH, 2017, 744 f. Anm. 14; KAPLAN, 2006, 130 f.; KERSCHNER, 2006, 255–257 (nach heutiger Berechnung hätte Gyges dem Heiligtum 9 bis 14 Tonnen Gold und Silber gespendet). Die erstaunlich schnelle Expansion des Lyderreiches wurde nicht zuletzt durch die Goldvorkommen in der Nähe von Sardes begünstigt. 33 Strabon, IX 3,8 (p. 420,32–421,10 RADT); vgl. auch Diod., XVI 56,6; vgl. dazu KAPLAN, 2006, 133 f.; s. zu den Ereignissen den Beitrag von P. Sánchez in diesem Band, unten S. 247–254. 34 Paus., X 16,1: „... Jedes Stück des Untersatzes ist an dem anderen nicht mit Nadeln oder Stiften befestigt, sondern nur die Verbindungsmasse hält es zusammen und ist selbst für das Eisen die Verbindung. Die Gestalt des Untersatzes ist etwa wie ein Turm, der von einer breiteren Grundfläche aus spitz zugeht; jede Seite des Untersatzes ist nicht ganz geschlossen, sondern die eisernen Querbänder sind wie die Sprossen an einer Leiter; die aufsteigenden Eisenteile biegen sich an der Spitze nach außen, und das war das Auflager für den Mischkrug“ (Übersetzung: E. Meyer). Dieser eiserne Untersatz war nach Pausanias das einzige, was von den Weihgeschenken der lydischen Könige zu seiner Zeit noch zu sehen war. Vgl. dazu auch SIMPSON, 2010, 131: „Metal vessels were also prominent votive gifts, as shown by the vast array of gold and silver examples dedicated by the Lydian kings at Delphi.“
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3. Weitere orientalische Weihegaben Obwohl es also mehrere spätere Zeugnisse gibt, die Herodot bestätigen, ist etwa Kaplan sehr skeptisch, was die frühen lydischen Weihungen anbelangt; so hält er die Nachricht bei Strabon, der Stiftungen unter anderem des Gyges in Delphi aufzählt, für einen Beleg dafür, dass sie eine spätere Hinzufügung der delphischen Priester gewesen seien; die übliche Form der Weihinschrift hätte Γύγης [µ’] ἀνέθηκεν lauten müssen, nicht aber, wie seiner Meinung nach Strabon überliefert, nur Γύγου.35 Allerdings scheint mir zweifelhaft, ob man die Stelle bei Strabon in dieser wörtlichen Weise interpretieren sollte, denn Strabon erhebt nicht den Anspruch, die Weihinschriften wiederzugeben, sondern zählt nur die zu seiner Zeit noch sichtbaren Weihungen auf, die in den Schatzhäusern aufbewahrt waren, „in denen auch die Namen der Weihenden vorkamen: Gyges, Kroisos, die Sybariten, die Spineter an der Adria ...“;36 dass dies eine verkürzte Reihung ist und die eigentlichen Inschriften ausführlicher waren, dürfte dem Leser klar gewesen sein; der entscheidende Punkt in Pausanias’ Mitteilung ist, dass es (sehr alte) Weihungen gab, deren Stiftername noch zu sehen war. Pericles Georges hält die ganze Gyges-Tradition für anachronistisch, da Delphi vor dem 6. Jahrhundert v. Chr. nur einen bescheidenen, regional begrenzten Ruf gehabt und der Einfluss des Heiligtums nicht über die Staaten der Amphiktyonie hinausgereicht habe.37 Für Kaplan besteht die Hauptschwierigkeit der Glaubwürdigkeit der königlichen lydischen Weihungen darin, dass sie kaum durch zeitgenössisches archäologisches Material unterstützt würden; zudem seien in Sardes griechische Götter nicht vor der achämenidischen Periode verehrt worden. Doch die Religion der Griechen war den Lydern aufgrund der engen geographischen
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KAPLAN, 2006, 131; CRAHAY, 1956, 205.207 f. hält die Weihgeschenke des Gyges in Delphi für fiktiv. In jüngster Zeit hat aber gerade TRAMPEDACH, 2015, 222–257 die Bedeutung der oral tradition für die Orakel hervorgehoben (siehe auch Trampedach in diesem Band, unten S. 200 f.): Es gab keine schriftliche Dokumentation und Archivierung an den Orakelstätten; die griechische Mantik war fest in die mündliche Kommunikation bzw. in Erzählungen eingebettet, was die „Authentizitätsanalysen“, die lange die Forschung beherrschten und besonders in Delphi alle Konsultationen vor der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. für unglaubwürdig oder „priesterliche Propaganda“ erklärten, methodisch sehr dubios macht. 36 Übersetzung: RADT, 2004 ([...] Γύγου γὰρ καὶ Κροίσου καὶ Συβαριτῶν καὶ Σπινητῶν, τῶν περὶ τὸν Ἀδρίαν καὶ οὕτως ἐπὶ τῶν ἄλλων, Strabon, IX 3,8 p. 421,10 RADT). 37 GEORGES, 1994, 27 weist darauf hin, dass die Pythischen Spiele 582 eingerichtet wurden, und auch in den folgenden Jahren alle bezeugten Sieger nur aus Zentralgriechenland stammten. Auf die archäologischen Funde aus dem Orient geht er allerdings nicht ein.
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Nachbarschaft seit der Frühzeit vertraut, wenn auch die einzelnen Gottheiten in unterschiedlicher Weise rezipiert wurden.38 Es gibt zudem jedenfalls Spuren der Beziehungen des Orakels zur nichtgriechischen Welt: 39 Aus Delphi sind mehr orientalische Dreifüße als aus Olympia bekannt; sie erscheinen bereits in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts; es handelt sich um Ständer, auf denen bewegliche Kessel auflagen, die meist sehr spektakulär verziert waren (Rekonstruktion nur mit Hilfe eines Exemplars aus Olympia möglich). (Ein Exemplar vom Ende des 8. Jahrhunderts hat am Rand eine Inschrift in kyprischer Silbenschrift, der einzige Fund außerhalb von Zypern.)40 Eine Silberschale von 17,2 cm Durchmesser und 6 cm Tiefe und einer Rosette in der Mitte zeigt in dem umlaufenden Reliefdekor eine Festung, die von Bogenschützen verteidigt wird; die Angreifer, die bereits eine Leiter angelegt haben, sind ebenfalls Bogenschützen; einer von ihnen sitzt zusammen mit seinem Wagenlenker in einem von einer geflügelten Sphinx mit Pharaonenkrone gezogenen Wagen. Solche Schalen, die ägyptische, phönizische und assyrische Motive und Einflüsse aufweisen, waren im 7. Jahrhundert v. Chr. vom Orient bis nach Etrurien verbreitet; nach Rolley und Chamoux wurden sie in Zypern hergestellt.41 Aus Phönizien stammt offenbar eine ganze Reihe von Scarabäoiden, die auf den ersten Blick ägyptisch aussehen, aber die ägyptischen Motive sinnlos verwenden und ebenso Hieroglyphen in beliebiger Reihenfolge aneinandersetzen.42 Der spektakulärste Fund ist sicher die Elfenbeinstatuette, die 1939 unter dem Pflaster der Heiligen Straße westlich des Korintherschatzhauses gefunden wurde und in der Literatur meist unter der Bezeichnung „Löwengott“ abgehandelt wird. Sie misst mit der Basis 24 cm und war offensichtlich auf Vorderansicht gearbeitet, denn von den Seiten her ist sie sehr schmal, auf der Rückseite außer am Kopf nicht ausgearbeitet; zudem weist sie am Rücken ein Dübelloch auf, war also offensichtlich an einem größeren Gegenstand befestigt.43 38
KERSCHNER, 2006, 264: Im lydischen Pantheon hatte Artemis eine herausragende Bedeutung, während Apollons Rolle noch unklar ist und Athena erst im Hellenismus übernommen wurde. 39 MAAß, 1993, 134–136. KERSCHNER, 2006, 271 f. hat die lydischen Elfenbeinobjekte aus dem Artemision von Ephesos sowie das lydische Kultgeschirr aus dem Artemision und dem Athenaheiligtum von Smyrna zusammengestellt; von letzterem sind auch einige wenige Fragmente aus dem Hera-Heiligtum von Samos erhalten. 40 ROLLEY/CHAMOUX, 1991, 145.152; MAAß, 1993, 135 f. 41 ROLLEY/CHAMOUX, 1991, 156. 42 BISSING, 1912, 223: „Mitte 1. Jt. v. Chr.“. 43 SCHIERING, 2003; dazu KERSCHNER, 2006, 257; zum folgenden vgl. auch GLOSKIEWICZ, 1978; AMANDRY, 1991, 199–202; DE VRIES, 2002.
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Die Figur trägt einen kurzen Chiton und ein gegürtetes Himation, das vorne geteilt ist und die Beine frei lässt. Die Haare des Mannes sind in der Mitte gescheitelt; zwei Locken fallen nach vorn und enden in zwei verzierten Scheiben; er hat auffällig große, mandelförmige Augen, in denen Pupillen aus anderem Material eingesetzt waren. In der rechten Hand hält er einen Stab oder ein Zepter, die linke liegt auf dem Kopf eines meist als Löwen gedeuteten Raubtieres. Seit dem Fund sind Datierung, Herkunft und Deutung dieser Figur umstritten: Die Datierungen reichen von Anfang bis Ende des 7. Jahrhunderts, die landschaftliche Zuordnung von griechisch,44 ionisch, rhodisch mit starkem ionischen Einfluss bis zu phrygisch-lydisch.45 Die Mehrheit der Forschung tendiert heute zu einer Herkunft der Figur aus dem ostionischen Bereich, der starken orientalischen Einflüssen ausgesetzt war;46 zu der Deutung hat sich zuletzt ausführlich Gloskiewicz geäußert, der insbesondere die Deutung des Tieres als Löwe ablehnt und dafür die Löwendarstellungen der frühkorinthischen Vasenmalerei anführt, in der Löwen natürlich eine Mähne haben und erheblich muskulöser sind. Er hält das Tier für einen Panther, das Tier des Dionysos, weshalb er denn auch den Stab in der rechten Hand des Mannes als Thyrsosstab deutet. Diese Interpretation scheint mir allerdings kaum überzeugend, zeigen doch alle Darstellungen dieses Attributs den charakteristischen Pinienzapfen am oberen Ende; hier dagegen scheint eindeutig das obere Ende einer Lanze dargestellt zu sein.47 Mehr als dass es sich um eine orientalische Gottheit handelt, die Teil eines größeren Gegenstandes war, lässt sich derzeit wohl kaum sagen. Gerade die starke Annäherung der ionischen und lydischen Kultur und Kunst seit dem späten 7. Jahrhundert macht die Herkunftsbestimmung solcher Objekte besonders schwierig.48 Da es sich bei der Elfenbeinstatuette um eine (Möbel-)Applike gehandelt haben muss (siehe oben), wurde gelegentlich vermutet, es könnte eine Applike vom Thron des Midas gewesen sein, was aber Spekulation bleiben muss.49
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Als Hauptargument für einen griechischen Ursprung wurde in der Regel das Mäander-Motiv auf der Basis der Figur angeführt, aber SCHIERING, 2003, 59 zeigte überzeugend, dass dieser phrygischen Zinnenmäandern näher steht, wie auch die darunter angebrachte Bordüre aus hängenden Dreiecken eines der beliebtesten Motive der phrygischen Vasenmalerei ist. 45 Eine Übersicht bei GLOSKIEWICZ, 1978, 19 Anm. 2, und SCHIERING, 2003, 57. 46 GLOSKIEWICZ, 1978, 25 hält den Künstler für einen Griechen; AMANDRY, 1991, 199 f. hält sowohl einen griechischen wie einen einheimischen Künstler für möglich; für SCHIERING, 2003, 63 weisen die Feinheiten des Details auf eine Herkunft aus Phrygien. 47 GLOSKIEWICZ, 1978, 25. Nach SCHIERING, 2003, 61 sind sowohl die herzförmigen Ohren als auch das Andreaskreuz auf der Schulter des Tiers typisch für orientalische Löwen. Auch er bezeichnet den Gegenstand in der Hand der Figur als Lanze. 48 KERSCHNER, 2006, 277 f.; er schlägt daher vor, solche Objekte als „Gegenstände lydischen Typs“ zu bezeichnen. 49 DE VRIES, 2002; vgl. dazu SIMPSON, 2010, 10 mit Anm. 53.
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Es gibt auch einige wenige aus Ägypten stammende Artefakte, wie etwa die sogenannten „Tridacna-Muscheln“ aus weißem, ägyptischen Alabaster, die in mehreren kleinen Vertiefungen Metallreste aufweisen; sie waren offenbar ganz oder teilweise mit Gold überzogen, das mit Bronzenieten befestigt war.50 Man kennt nichts Vergleichbares aus Griechenland, wohl aber aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. aus Naukratis und aus Ninive.51 Ein Eimer aus schwarzem Granit entspricht in Form und Technik den ägyptischen Gefäßen der Saïtenzeit (7./6. Jahrhundert), also der Epoche des Pharaos Amasis.52
4. Die Intentionen der nichtgriechischen Fürsten in Delphi Wie lässt sich die auffällige Dominanz lydischer Weihgeschenke und lydischer Präsenz in Herodots Delphi-Erzählung erklären? Klees glaubte, dass Herodot hier den Barbaren vorführen wollte, der natürlich immer alles maßlos übertreibe: Er führt einen Orakeltest durch, um restlose Gewissheit zu erlangen, ist aber anders als die Griechen nicht fähig, die Sprüche der Pythia auszulegen; er wendet sich aufdringlich dreimal hintereinander an die Pythia, schickt dann maßlose, in ihrem Umfang eben ‚barbarische‘ Opfergaben, schließlich aber, nachdem die Unternehmung, deretwegen Kroisos das Orakel konsultiert hatte, in einem eklatanten Misserfolg endete, dann auch noch einen Boten nach Delphi, um den Gott anzuklagen.53 Parke und Wormell haben aber darauf aufmerksam gemacht, dass die lydischen Könige in der delphischen Tradition gut wegkommen; sie werden nirgendwo als Barbaren abgewertet. Der von Herodot beschriebene ‚Orakeltest‘ kann allerdings kaum der genuine Grund für die Weihungen gewesen sein, denn die Liste der konsultierten Orakel stammt offensichtlich aus Herodots eigener Zeit; gerade das Amphiareion hatte seine Blüte erst in klassischer Zeit, und Herodot nennt bezeichnenderweise keinen wirklich einleuchtenden Grund, weshalb Kroisos auch diese Orakelstätte mit Geschenken bedachte, obwohl doch Delphi den Sieg in seinem Test davongetragen hatte.54 Offensichtlich musste das Orakel von Delphi auf irgendeine Weise nachträglich eine Erklärung für die Großspenden des lydischen Königs, aber dann auch für dessen unrühmliches Ende finden, das bei Herodot als unausweichli50
BISSING, 1912, 222. PERDRIZET, 1896, 605. 52 BISSING, 1912, 223. 53 KLEES, 1965, 62–68; ähnlich auch GEORGES, 1994, 168 f. über Kroisos’ Begegnung mit Solon. 54 PARKE/WORMELL, 1956 I, 126 f.130–133; THONEMANN, 2016, 152–154; dazu oben S. 155 mit Anm. 2. 51
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che Vergeltung für die Vergehen des Gyges dargestellt wird.55 Herodots Version von Kroisos’ Beziehung zu Delphi wird oft als ‚Propaganda‘ der delphischen Priesterschaft dargestellt, aber Kai Trampedach hat gezeigt, dass etwa die lange Rede in Prosa (I 91), in der die Pythia auf die Vorwürfe des Kroisos antwortet und Apollon, von dem die Pythia in der dritten Person spricht, seine eigenen, früher gegebenen Worte interpretieren muss, das Orakel gar nicht in besonders gutem Licht erscheinen lässt.56 Was also wollten die Lyder in Delphi? Und ist es wirklich unwahrscheinlich, dass schon Gyges in der ersten Hälfte oder Mitte des 7. Jahrhunderts Weihgeschenke nach Delphi schickte?57 Die Beziehungen zwischen Lydien und Griechenland waren komplex, und man sollte sich stets vor Augen halten, dass Herodot die Ereignisse aus der Perspektive des mittleren und späteren 5. Jahrhunderts v. Chr. betrachtet. Es ist daher nötig, vermehrt den zeitgenössischen Kontext der bei Herodot prominent vertretenen lydischen Könige in den Blick zu nehmen, denn offensichtlich spielte Delphi für Reich, Herrschaft und Leben von Gyges, Alyattes und Kroisos eine wichtige Rolle.58 In I 6,2 bezeichnet Herodot Kroisos explizit als den „Ersten der Barbaren“, der eine aggressive Politik gegen die Griechenstädte in Kleinasien betrieben und sie tributpflichtig gemacht habe.59 Mit den Ioniern auf den Inseln schloss
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PARKE/WORMELL, 1956 I, 135 f. TRAMPEDACH, 2015, 396 f.; PARKE, 1984, 232 nahm an, dass die ‚delphischen Autoritäten‘ nach den Perserkriegen ihre Version der Ereignisse revidierten und die Legenden über die lydischen Könige schufen, die bei Herodot bewahrt seien. Die Fragwürdigkeit der verbreiteten Auffassung, Traditionen aus oder über Delphi seien ‚Propaganda‘ der dortigen Priesterschaft, wurde aber von TRAMPEDACH, 2015, 224 f. sehr deutlich gemacht: Zum einen erfreute sich diese angebliche ‚Propagandaliteratur‘ von Herodot bis Pausanias allgemeiner Glaubwürdigkeit, zum anderen sollte in Erwägung gezogen werden, dass die Glaubwürdigkeit und das Prestige von Delphi in archaischer und klassischer Zeit gerade auf seiner Unabhängigkeit und auf der ‚Unberechenbarkeit‘ der Pythia beruht haben könnten. Siehe in diesem Band ebenfalls Trampedach, unten S. 203–207. 57 Für KAPLAN, 2006, 143 f.150 diente das lydische Engagement in griechischen Heiligtümern der Beschaffung von Informationen über Griechenland oder der Anwerbung von Söldnern; ähnlich GEORGES, 1994, 27: „If Gyges had sought to cultivate a distant shrine in central Greece it would have been to advertise for mercenaries, not for oracular responses.“ PARKE, 1984, 220 sieht in Kroisos’ Weihungen an Apollon eine ‚Ausdehnung‘ seiner Verehrung für Artemis. 58 Vgl. dazu auch KERSCHNER, 2006, 259 f. 59 Vgl. auch Hdt., I 28, wo alle Völker westlich des Halys aufgezählt werden, die Kroisos unterwarf; die Tatsache, dass Kroisos seine immensen Eroberungen in einer recht kurzen Regierungszeit vollbracht haben sollte, während von der etwa fünfzig Jahre währenden Herrschaft seines Vorgängers Alyattes nur wenig bekannt ist, veranlasste ASHERI, 2007, 97 zu dem Kommentar: „Actually they were conquered by Alyattes, not Croesus.“ WALLACE, 2016, 174 weist aber darauf hin, dass sich diese Eroberungen sehr wohl alle mit 56
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Kroisos dagegen ein Freundschaftsbündnis (Hdt., I 27,5).60 Von den Städten des Festlandes bekamen Milet und Ephesos einen Sonderstatus; an dem von ihm später (siehe oben S. 157) reich beschenkten Artemision hatte der Lyderkönig schon vor seiner Thronbesteigung besonderes Interesse gezeigt: Als Kronprinz sollte er am Feldzug seines Vaters gegen die Karer teilnehmen, vermochte aber nicht genug Mittel für die Söldneranwerbung aufzubringen. Der lydische Großhändler Sadyattes in Sardes verweigerte ihm finanzielle Hilfe, da er Anhänger von Kroisos’ Stiefbruder Pantaleon war; Kroisos gelobte daher, der Artemis von Ephesos das gesamte Vermögen des Sadyattes zu weihen, wenn er König würde.61 Obwohl oft ein eher düsteres Bild der Folgen der Unterwerfung bzw. Tributpflichtigkeit der kleinasiatischen Griechenstädte gezeichnet wird, zeigen alle zeitgenössischen archäologischen und, soweit vorhanden, literarischen Zeugnisse – man denke an Sappho62 –, dass Ionien, vor allem Milet, unter der lydischen Oberhoheit eine Blütezeit erlebte.63 Lydien und insbesondere seine Hauptstadt Sardes wurden in Griechenland in erster Linie mit Reichtum und – durchaus erstrebenswerter – luxuriöser Kultur in Verbindung gebracht. Bereits Kroisos’ Vater Alyattes hatte nach zwölf Jahren Krieg einen Friedensvertrag mit der Stadt geschlossen (I 17–22). Er war erkrankt, nachdem sein Heer den Tempel der Athena Assesia in der Umgebung von Milet in Brand gesteckt hatte; die Pythia aber hatte seinen Gesandten, die das Orakel wegen der Krankheit befragen wollten, eine Antwort verweigert, solange er nicht den Tempel wieder aufbaue (I 19,2 f.), weshalb er in Milet um einen Waffenstillstand nachsuchte. Nach einer List der Milesier waren die Lyder zu einem Friedensvertrag bereit, und Alyattes baute der Athena sogar zwei Tempel (I 22,4). 64 Bereits der Vater des Kroisos also zeigte offensichtlich Respekt vor den griechischen Göttern. Der Friedensschluss fand 612/1 v. Chr. statt65 und ermöglichte vielleicht die Gründung des griechischen Emporions von Naukratis in Ägypten, die nach der Keramik in die Jahre 615–605 v. Chr. Kroisos in Verbindung bringen lassen, wenn man die von ihm vorgeschlagene längere Regierungsdauer (siehe oben S. 157 mit Anm. 6 und 7) annimmt. 60 HÖGEMANN, 1999, 858; FANTALKIN, 2014, 42 f. 61 Überliefert ist die Geschichte bei Nikolaos von Damaskus FGrHist 90 Frg. 65; dazu BÄBLER, 2012, 89–91. Nach KERSCHNER, 2006, 262 gehörten das Heiligtum von Ephesos und wahrscheinlich auch das von Didyma zu der Fraktion der Ostgriechen, die den späteren König Kroisos unterstützten. 62 Sappho, Frg. 16.96.98 VOIGT; dazu GEORGES, 1994, 25.41; KERSCHNER, 2006, 256. 63 FANTALKIN, 2006, 203; FANTALKIN, 2014, 35 f. (dort auch zu Heiraten zwischen Angehörigen der griechischen Elite, vor allem von Ephesos, und dem lydischen Königshaus). 64 Ein Tempel in Alessos wurde 1992/3 lokalisiert, und ein Keramikdepot des 7. Jahrhunderts v. Chr. mit der Zerstörung durch Alyattes in Verbindung gebracht, vgl. dazu KERSCHNER, 2006, 258. 65 Zur Chronologie FANTALKIN, 2014, 39.
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zu datieren ist.66 Vielleicht waren die Lyder an den Profiten der milesischen Händler mit Ägypten beteiligt. Neuere archäologische Forschungen haben jedenfalls gezeigt, dass es gerade die expandierende lydische Macht war, die den Ioniern den Markt in Ägypten und die Gebiete der Kolonisation im Osten öffnete.67 Die Kooperation der Mermnaden- und der Saïtendynastie, die den ägyptischen Markt für Milet zugänglich machte, kulminierte in dem Bündnis zwischen Kroisos und dem ägyptischen Herrscher Amasis. Auch Amasis ist in Delphi präsent, wenn auch nicht, wie in zahlreichen anderen griechischen Heiligtümern,68 mit Weihgeschenken: Er leistete einen bedeutenden Beitrag, als die Delpher Mittel sammelten, um ihren abgebrannten Apollon-Tempel wieder aufzubauen (II 180,2). Herodot widmet Amasis einen ebenso ausführlichen Logos wie Kroisos und Astyages, den letzten Königen der Lyder bzw. der Meder; bei allen handelt es sich um Herrscher, deren Reiche von den Persern erobert wurden: Daher hebt der Historiker deren Taten – griechenfreundliche Aktionen, darunter prominent die Spenden für Delphi – für sein athenisches Publikum besonders hervor: „... the greater the deeds of those barbarian rulers who were actually defeated by the Persians, the more important and unique the Greek victory“.69 66
Zu diesem möglichen Zusammenhang vgl. FANTALKIN, 2014, 40. So schon FANTALKIN, 2006, 203: „... it is cooperation rather than confrontation that we are witnessing here. In the East, via Egyptian connections, Lydian imperial ambitions opened the way to Greek mercenary penetration, followed by the establishment of Naukratis. In the North, it opened the way to the Ionian colonization of the Black Sea ... The role that East Greeks played on behalf of Lydian domination is much the same as that played by the Phoenicians on behalf of the Assyrians.“ Vgl. auch FANTALKIN, 2014, 39–42. – MIKALSON, 2003, 224 Anm. 36 lässt dieses komplexe griechisch-lydische Beziehungsgeflecht außer Acht, wenn er argumentiert, die Orakel an die Lyder hätten vor allem „intrabarbarian affairs“ betroffen. 68 Herodot gibt II 182,1 eine beeindruckende Liste der Weihungen dieses philhellenischen Herrschers: „... zum einen ein vergoldetes Standbild der Athena und ein gemaltes Bild von sich selbst nach Kyrene, zum anderen für die Athena in Lindos zwei steinerne Götterbilder und einen sehenswerten Panzer aus Leinen, ferner der Hera in Samos zwei hölzerne Bildnisstatuen von sich, die noch bis zu meiner Zeit in dem großen Tempelhaus standen, hinter den Türen.“ Vgl. dazu KAPLAN, 2006, 134 f.145 f.; CRAHAY, 1956, 229– 231. 69 FANTALKIN, 2014, 33. Diese Deutung liefert zum ersten Mal eine plausible Erklärung für das seit Beginn der Ausgrabungen von Naukratis bestehende Problem, dass die frühste griechische Keramik der Stätte 615–605 v. Chr. zu datieren ist, während es Herodot in II 178,1 Amasis, dessen Herrschaft erst 570 v. Chr. begann, zuschreibt, Naukratis den Griechen als Handelskolonie überlassen zu haben. FANTALKIN, 2014, 33 f. nimmt an, dass Herodot das frühere Gründungsdatum sehr wohl kannte, da er die Geschichte der Hetäre Rhodopis von Naukratis, die von Sapphos Bruder Charaxos freigekauft wurde, überliefert (II 135). Er habe dies aber bewusst ignoriert, um für die athenischen Zuhörer oder Leser 67
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Die geographische Lage Lydiens – jenseits der direkten Kontrolle des assyrischen Reiches, aber in unmittelbarer Nachbarschaft der Griechenstädte der Westküste Kleinasiens – legt es nahe, dass die Mermnaden seit Gyges Legitimation bei den Griechen und daher in griechischen Heiligtümern suchten;70 vermutlich in möglichst vielen, sowohl in Kleinasien wie auch in Griechenland selbst, was später im Fall des Kroisos zum ‚Orakeltest‘ umgedeutet wurde. Selbst wenn Herodot im Fall des Amphiaraos von Theben wirklich eine ‚falsche‘ Kroisos-Inschrift auf den Lyder-König bezieht, sind echte Weihgeschenke lydischer Herrscher auch in diesem thebanischen Heiligtum nicht ausgeschlossen. Um eine ideologische Basis für ihre imperiale Agenda zu schaffen, wurde von diesen Herrschern von Anfang an das Wohlwollen der berühmten griechischen Heiligtümer gesucht, unabhängig davon, wie harsch die Behandlung der Ionier ausfiel.
5. Fazit Die nichtgriechischen Weihungen in Delphi stellen ‚interkulturelle Transaktionen‘ dar, die in beide Richtungen funktionierten, von denen aber fast nur die griechische Interpretation auf uns gekommen ist, die zudem zu der Zeit, in der sie fixiert wurde, weit über hundert Jahre lang als mündliche Tradition im Umlauf gewesen war.71 Die andere Seite muss daher durch die Archäologie und eine genaue Betrachtung des Kontextes des 7./6. Jahrhunderts v. Chr. und der Folgen der lydischen Expansion ergänzt werden. Man muss daher nicht annehmen, die delphische Priesterschaft hätte zu Propagandazwecken alle möglichen von irgendwoher stammenden und nun im Heiligtum herumliegenden Gold- und Silbergegenstände im 5. oder 4. Jahrhundert v. Chr. mit den Namen früher lydischer Könige versehen. Der Nutzen solcher Weihungen – auf der einen Seite Legitimation durch die griechischen Götter, auf der anderen Zugang zu Märkten in Ägypten und eine zunehmend überregionale Bedeutung und Reputation der Heiligtümer – war den Namen des Amasis sowohl mit der Gründung von Naukratis wie auch der Einrichtung des Hellenion (II 178,2) in Verbindung zu bringen und die glorreichen Taten des griechenfreundlichen Königs – der kurz vor der persischen Invasion starb, die sich eigentlich gegen ihn richtete (vgl. Hdt., III 1,2–5; 10,2; 16,1–2.5–6) – besonders hervorzuheben. Vgl. auch GEORGES, 1994, 170 f. zu Kroisos („a symbol of resistance to the Mede“). 70 Vgl. FANTALKIN, 2014, 37. 71 Vgl. dazu auch TRAMPEDACH, 2015, 254: „Generell war der historische Spielraum des Historikers umso größer, je weiter Adressatenkreis und Gegenstand seiner Geschichte auseinanderfielen. [...] Da die Orakelkonsultationen der lydischen Könige oder die Träume der persischen Könige nicht Teil einer identifikatorischen Erinnerung in Griechenland waren, konnte Herodot hier in dem kreativen Umgang mit dem mantischen Material weiter gehen und dessen narratives Potential vollends ausschöpfen.“
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für alle Beteiligten seit früher Zeit groß genug, um Herodots Bericht glaubwürdig zu machen.
What Did Delphi Have to Do with ‘Colonization’? Robin Osborne 1. Introduction: Earlier Studies on Delphi and Colonization It is peculiarly appropriate to be addressing the topic of Delphi and ‘colonization’ in 2017. For it is exactly one hundred years since Arthur Stanley Pease published his classic article ‘The Delphic Oracle and Greek Colonization’ in Classical Philology 12 (1917) 1–20. It is also exactly 60 years since George Forrest published his ‘Colonization and the Rise of Delphi’ in Historia 6 (1957) 160–75. And it is exactly 30 years since Irad Malkin published his Religion and Colonization in Ancient Greece (Leiden, 1987) the first two chapters of which are entitled respectively ‘The Founders of Colonies and Apollo’s Oracle’ and ‘Divination and Foundation’. Pease started, of course, from Cicero De Divinatione 1.3: “What colony has Greece sent into Aeolis, Ionia, Asia, Sicily, or Italy without an oracle from Pythia or Dodona or Ammon?”, drawing attention in his first footnote to oracular consultation being as staple a feature of colonies for Cicero as their coastal location (Cic., Rep. 2.9). He proceeded to note that Cicero was merely echoing Callimachus (Hymn To Apollo 55–96), and that the same observation would be made by Menander Rhetor (17, p. 442.14–21 Spengel) and by Celsus (Origen, Contra Celsum 8.45). He noted that the questions asked of the oracle are almost never preserved, and that there is a string of examples where the command to found a settlement is given to someone enquiring about something else, but that “Occasionally there are indications that the oracle was questioned after a site had been selected by the questioner” (5), citing Thucydides 3.92 on the Spartan foundation of Heraclea Trachinia. But Pease was primarily interested in the answers, surveying their range and then asking whether any answer could be considered authentic, whether the Delphic oracle did influence Greek settlement abroad, and why oracles about foundation might be invented. He announced that “We must at the outset adopt the only rational view, that barring the negligible element of chance coincidences, those oracles in which historic facts are foretold with exactness and detail are to be considered as composed after the events which they predict” (12–13 with a footnote to Hendess, 1882). He concluded that “To sum up, then, we may say that a closer examination reveals the impossibility of a large number of the oracles extant ever having been delivered before the
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events to which they relate; but nothing prevents us from supposing that the oracle was formally consulted to obtain confirmation of previously selected sites and leaders of colonies, and for directions as to the cults to be introduced” (20). Forrest wrote in reaction not to Pease, whose paper I believe he never mentions, but to Defradas’ Thèmes de la propagande Delphique of 1954. Forrest sought to show that the traditions of Delphic consultation were essentially accurate, whatever one thought of the detailed wording of the oracles given in that tradition. He did so by trying to show that the pattern of Delphic consultation that emerges from tradition made sense in terms of the events of the eighth and seventh centuries, and in particular of the pattern of interstate alliances formed in the context of the Lelantine War. That is, he argued that it could not be coincidence that Corinth and Chalkis are recorded as consulting Delphi about founding settlements abroad and that Megara and Eretria are not.1 He suggested that “It was perhaps an accident that Korinth, and through her Chalkis, began to seek the approval from an unimportant sanctuary in the territory of Kirrha”, and that initially “The Pythia’s words were no more than a divine rubber stamp set on the decisions already reached in Korinth or Chalkis”, but that since “The colonies went and prospered”, “Apollo came to be regarded as more and more indispensible for any allied colonial move” and that in consequence “no doubt he [Apollo] did learn a lot about sites and markets and so on, enough to make Delphi something of an information centre” (173–4). He maintained that “at the beginning it is surely true that colonisation was far more responsible for the success of Delphi than Delphi for the success of colonisation. Colonisation could not be anything but a success, the god who was associated with it could not but get the credit” (174). Malkin noted Pease’s “good introductory monograph” (18, a remarkable description of a 20-page article), recorded him as “on the whole sceptical about foundation oracles”, but never engaged with his work. He similarly noted Forrest’s “sensibly demonstrated” view that “colonization did more for the spread of Delphoi’s influence and prestige than Delphoi itself did for colonization” (19) before drawing attention to Forrest’s thinking Delphi not important before the eighth century. His own treatment of the Delphic oracle and foundation gradually ceases to show any interest in the distinction between what might be historical and what might be invented in foundation traditions, instead simply giving a description of the nature of the tradition – though increasingly implying that the traditions are essentially historical: “The geographical directions given to the oikist in those oracles with claims to authenticity [not further specified] provided a divine authority in topographical terms. The colonists would thus know the exact area which was 1
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But for Megara cf. the traditions about Byzantium: PARKE/WORMELL, 1956 II, no.
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granted them. It was the delegated responsibility of the oikist to find the place, and, once there, to identify it precisely” (91). He is quite happy, however, also to dismiss features as invention: “Foundation traditions sometimes emphasized the oikist less as a representative of the mother-city and more as an independent person.... this feature of colonial foundation traditions probably reflects the enhancement of local patriotism since the emphasis was shifted away from the mother-city to the colonists themselves” (91). Study of Delphi and ‘colonization’ did not stop thirty years ago with Malkin, of course. What has happened since has been nothing short of a revolution in approach. Beginning with the work of Carol Dougherty, scholars with an interest in the telling of stories (that is both scholars of literature and historians) have got interested in what Delphic oracle stories do as narratives. Rather than focusing on the historical moment at which the oracle was supposedly given, scholars have focused on what telling the story of that oracle having been given did – the things that it emphasised, and the things that it elided. Dougherty’s own work drew attention to the general ‘plot’ of crisis, Delphic consultation, and resolution by settlement in a particular place that oracle stories involved, and emphasised in particular the way that the crisis involved violence, and the way in which the intellectual work of matching the oracular statement to a particular location, sometimes involving bilingual riddles, turned the colonial foundation into an intellectual exercise and act of cultural appropriation rather than an act of violent expropriation of others’ territory.2 Politics leads the way in Dougherty’s reading of stories of settlement abroad, as it tends to do in other discussions of foundation stories as stories, most obviously in Naoíse Mac Sweeney’s work – both her 2013 monograph Foundation Myths and Politics in Ancient Ionia and her 2015 edited collection Foundation Myths in Ancient Societies: Dialogues and Discourses. But other scholars have pointed out that stories about Delphi also necessarily provide ways of thinking about fate and fortune and about the relationship between what people do and the consequences. Thus Calame has emphasised the ‘moral coherence’ of foundation stories featuring Delphi, and Kindt that fate and human agency are made to complement each other in these stories.3 In parallel with this revolution in understanding of oracle stories, the nature of the supposed colonizing phenomenon has been questioned. The questioning has taken two particular forms. On the one hand the ‘state enterprise’ model assumed by Forrest – who, breathtakingly, at one point in his 1957 article simply declares, without argument, that “The [Lelantine] war arose out of colonising activity” (turning it into a sort of proto-World War I) – has been challenged particularly in favour of taking more seriously the possibility that 2 3
DOUGHERTY, 1992, 1993b, 1993b; RAPHALS, 2013, 308. CALAME, 1990, 278; KINDT, 2016, 44.
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Archilochus’ participant observation that “the scum of all Hellenes ran down to Thasus” might have been more generally true, both for demographic and for political reasons.4 On the other hand, the invariability of Delphic consultation in settlement foundation or stories of settlement foundation – the claim going back to Callimachus from which Pease began – has been pointed out to be unwarranted by the evidence: Jonathan Hall has pointed out that, far from it being the case that “every foundation story had to have its oracle”, as John Graham claimed, or asking the blessing of Pythian Apollo being “part of the ritual of founding a colony”, as Dunbabin had maintained, of the 27 foundations in Sicily and Southern Italy only five feature Delphi in their foundation stories.5 These two revisionist traditions are importantly linked, since scholars have both taken ‘colonization’ to require states, and taken the needs of states to require Delphi: Catherine Morgan, in her 1990 discussion in Athletes and Oracles: the Transformation of Olympia and Delphi in the eighth century B.C., concluded, in large part on the back of oracles about settlement abroad, that “oracular divination at Delphi was instituted towards the end of the eighth century as a tool to help the authorities of emerging states to deal with unprecedented problems” (184).
2. Questions to Be Asked Where has this recent work left us? The big questions we need to ask are: What do stories about the consultation of the Delphic oracle by some of those establishing settlements in new locations imply about the Delphi oracle? What do stories about the consultation of the Delphic oracle by some of those establishing settlements in new locations imply about the establishment of new settlements? I take those questions to involve first answering the following: 1) Who do the stories indicate to have consulted the Delphic oracle about establishing settlements in new locations? 2) When do the stories indicate that those establishing settlements in new locations started consulting the Delphic oracle?
4
SNODGRASS, 1994, 2 for demography; OSBORNE, 1996/2009, 1998, 2016 for politics. HALL, 2008, 400 quoting GRAHAM, 1982, 144; DUNBABIN, 1948, 38. PEASE, 1917, 2– 3 already noted that there was a strong German tradition of scepticism, including Holm, Busolt, Hiller von Gaertringen and Beloch, about Delphi’s role in Greek settlement abroad, but this was based on doubting the stories that were told, rather than observing how rare those stories were. 5
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3) Why do the stories indicate that those establishing settlements in new locations consulted the Delphi oracle? 4) What effect do the stories indicate that the consultation of the Delphic oracle by those establishing settlements in new locations have?
3. Who Consulted? Forrest’s answer to who first consulted about settlement was Corinth and Chalcis.6 Certainly we have traditions of a Delphic response that sent Archias of Corinth to Syracuse (PW 2, FQ 27, Paus., 5.7.3), and separately of Archias and Myscellus consulting Delphi about founding settlements and being told where to settle after they had indicated what they hoped to achieve by settlement (wealth, in the case of Archias, health in the case of Myscellus) (PW 229, FQ 31, Strabo, 6.2.4). We also have traditions of a dekate of Chalcidians being told by Delphi to settle at Rhegium (and of Messenian exiles being told to join them) (PW 371, 370, FQ 33, 32, Diod., 8.23.2, Strabo, 6.1.6), and of Perieres and Crataemenes disputing after which of them their settlement should be named and being told after neither (PW 384, FQ 42, Callimachus, Aet. 2 fr. 43.67–78 Pf.). But it is notable about all these stories that it is the individuals involved – Archias, Perieres and Crataemenes, the Chalcidian dekate, the Messenian exiles – who are responsible for the consultation, not Chalcis or Corinth. This is the pattern in other examples too – not just the other stories about Myscellus and Croton (PW 43, 44, 45, FQ 28, 29, 30) but stories of Leucippus of Sparta (PW 454, FQ 39), Phalanthus of Sparta (PW 525, 526, 46, 47, FQ 36, 34, 35, 38), and Antiphemus and Entimus of Rhodes (PW3, FQ 40). Whatever we think about these traditions, they none of them betray ‘state consultation’. It is also worth asking who does not consult. In what is sometimes seen as the model for ‘colonization’, the establishment by Alcinous’ father of a new site for the Phaeacians, away from the nuisance of the Cyclopes, there is no suggestion of oracular consultation (Odyssey 6.4–10). Forrest made it central to his case that although Eretria, Megara and Miletus “were all colonising vigorously at the time” (167), “There is not a single story – not even a false one – to connect any of these settlements with Delphi. There is not a single story to connect any of the mother cities with Delphi” (167). Again “there is none for Sybaris or its colonies Poseidonia and Metapontion. There is no trace of any connection between Chios and Delphi. Nor is there anything certain for Erythrai” (168). Forrest wanted to see a significant pattern here. 6 In the discussion which follows PW is used to refer to the numbered evidence assembled in Volume 2 of PARKE/WORMELL, 1956; FQ refers to the numbered catalogue of questionable oracles in FONTENROSE, 1978.
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Londey in his ‘Greek Colonists and Delphi’ from 19907 listed just 15 “colonies” (Syracuse, Rhegium, Zancle, Croton, Tarentum, Gela, Thasus, Byzantium, Cyrene, Abdera, Elaeus, Alalia, Heraclea Pontica, Thracian Chersonese, Dorieus’ failed settlement) from between 750 and 500, associated with just 12 mother-cities (Corinth, Chalcis, Achaea, Sparta, Rhodes/Crete, Parus, Megara, Thera, Clazomenae, Teus, Phocaea, Athens), for which oracular traditions exist. Even those of us who do not buy Forrest’s pattern, have to take seriously that even having a story about a Delphi-sanctioned foundation was evidently not important for many settlements. But Forrest’s question arguably remains worth asking, albeit in a different form: why is it that oracle stories cluster around episodes of settlement foundation for which men from Corinth and Chalcis claimed responsibility?
4. When Did They First Consult? If we turn to the question of date, what is of interest is not the date attached to the stories, but the date at which we first find Delphi associated with settlements abroad outside the stories. Fontenrose is correct to find that in the form that they have been transmitted none of the oracles about establishing a new settlement supposedly dating to the eighth and seventh century can be genuine.8 But external evidence is scant. What has repeatedly been drawn attention to, the peculiar status of the cult of Apollo Archegetes at Naxus attested by Thucydides (6.3.1), who states that theoroi sacrifice there before leaving Sicily, is less than conclusive proof of any special link between the Delphic oracle and settlement abroad. What that cult argues for most strongly is an association between Apollo and settlement abroad, with Apollo’s epithet being exactly the term that can be used for the founder of a settlement (Ephorus, FGrHist 70 F 118, from Strabo, 8.5.5). But that Apollo’s leadership is exercised through his oracular capacity is shown neither by the title nor by the activity associated with the cult. Apollo’s role in the Greek city was not limited to his oracular activity, and we should not so limit it. What we can note, as is regularly noted, is that by the time that Herodotus comes to retell the story of Dorieus of Sparta’s failure to establish a settlement abroad, failure to consult the Delphic oracle in advance can be reckoned a significant omission. Herodotus observes that Dorieus sought to lead off a group of Spartiates to form a settlement abroad “neither having consulted the oracle at Delphi as to which land he should go to settle, nor having done any of the customary things” (Hdt., 5.42.2). Herodotus is actually not including consulting Delphi among the customary things, but it is clear from what he 7 8
LONDEY, 1990b. This observation was essentially already made by PÖHLMANN, 1914, 55, n. 4.
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says that failure to consult Delphi could be held against those who attempted to found new settlements if those settlements failed. However, it is notable that when Dorieus does consult the Delphic oracle (Hdt., 5.43) it is to check whether the advice that he has had, based on an oracle of Laius, is good advice: he asks whether he will take the land for which he is setting out, he does not ask what land he should set out for. None of this helps us give anything precise by way of a date at which consultation of Delphi became regular. That is plausibly because there was no precise date. The value of citing a Delphic oracular opinion about founding a new settlement will have increased along with the value of citing a Delphic oracular opinion on anything else. There will have been some communities – Sparta being an obvious case because we know that it had officials, the Pythioi, who had particular responsibility for Delphic oracles – in which Delphic consultations carried great weight; plausibly there were others where they did not, or not to the same extent. The absence of records of consultations of Delphi over settlement in the fourth and third centuries has been noted by Parker; plausibly the circumstances of city founding were now such that not having Delphic approval was less of a problem.9
5. Why Did They Consult? As my discussion of date has indicated, and as Pease already stressed, what Delphi above all offered was authorisation.10 Such authorisation was equally useful to claim both at the time of making a settlement abroad, and subsequently. But did Delphi offer more? As we have seen, Forrest toyed with the idea of Delphi as an information bank, and Malkin in 1987 toys with the possibility that precise geographical information may not be a sign of inauthenticity but a feature of authentic oracles, though maintaining that “the true role of geographic directions in foundation oracles” is “not so much to provide practical advice but to sanction and authorize both the route and the identification of the site itself”.11 Belief in Delphic oracles as conveying detailed geographical information goes with a particular model of how Delphi operated.12 Faced with a tradition which rarely reports questions and regularly gives elaborate answers, scholars have attempted to explain how such elaborate answers might have been given, and have invented a whole stage in oracular delivery for which the ancient 9
PARKER, 1985, 306–307. The abundant evidence for Athenian foundations where there was no Delphic consultation is ignored by BOWDEN, 2005, 119–121. 10 Cf. ROSENBERGER, 2001, 69–78. 11 MALKIN, 1987, 47 of the oracles concerned with the foundation of Croton. 12 Cf. the useful succinct discussion in BAUMGARTEN, 1998, 17–25.
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sources give no evidence.13 In fact, as scholars have variously seen but rarely articulated loudly enough, the elaboration of the answers should be attributed not to this unattested interference with the Pythia’s responses but to the careful elaboration of the question by those who were consulting. As the famous question asked by Xenophon when he intended to accompany Cyrus, about what god to pray to in order best to accomplish the enterprise he had in mind (Xenophon, Anabasis 3.1.5) or the question of Dorieus (Hdt., 5.43) shows, and as comparative evidence from oracles known to anthropologists supports, those who consult themselves determine the response by the terms of their question. Faced with a positive answer to his question of whether he will gain the land for which he is setting out, Dorieus was then in a position to report that the Pythia had told him to take Heraclea. In as far as Malkin is correct in thinking that geographical detail might sanction or authorise an act of settlement it is because it sanctions and authorises the terms which the consultant has put to the oracle.
6. What Effect Did Stories of Delphic Oracles Have on ‘Colonization’? So did Delphi have any influence on ‘colonization’? Did ‘colonization’ have any impact on Delphi? Nothing that I have said actually stands in the way of Forrest’s view that settlement abroad was a winner, and that by backing it Delphi stood to gain reputation. Settlement mobility is a striking feature of eighth-century Greece, with a series of once major settlements abandoned, and new settlements formed. We have no way of knowing how many attempts at settlement failed almost immediately, but the number may have been significant. New settlements offered potentially significant gains, but at non-trivial risk. Unlike the risks of crop failure, where there was little anyone could do, or of war, which might well be unavoidable, the risks of moving to a new settlement were entirely optional. Few individuals would have had lives so intolerable that they had no choice but to move – though political discord could indeed make life too hot to handle. For most who joined in with settlement initiatives, there had to be a weighing up of possible gains against possible losses. Anyone recruiting others to join them needed all the persuasive devices they could muster in order to show that the gains were plausible, the risks negligible. Getting divine support in such a case was a no-brainer; getting the most prestigious divine support possible came to involve getting support from Delphi. Forrest must be right that there was a virtuous circle 13 Compare MALKIN, 1987, 91: “Subsequent inquiries from the colony about the identity of the oikist [...] illustrate that Apollo did not vie for the position and that naming him oikist was a last resort for the Delphic priesthood [...]”
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here – settlements that claimed that their successful foundation had been on Delphic advice increased the standing of that advice, and the standing of Delphic advice made it easier for the next consultant to recruit to the next settlement and important for the next settlement to claim that Delphi had been consulted. But the role of stories of consultation about settlement abroad as precedents for later decisions to seek Delphic authorisation only throws into relief the discrepancy between the individuals, who consult Delphi in the case of early settlements, and poleis who are responsible for the consultations reported in the fifth century – as in the Spartan consultation over Heraclea Trachinia (Thuc., 3.92.5) or perhaps the Athenian consultation over Amphipolis (Polyaenus, Strategemata 6.53). If polis consultation was the standard classical practice, the early stories nevertheless generally resisted adaptation to that norm, though the double tradition about Cyrene (Hdt., 4.150–158) nicely reveals the temptations of a city laying claim to be mother of another settlement to tell a story in which the settlement had been their initiative, and equally the attractions to the settlement in resisting that version in favour of its own individual founder.14 Nothing suggests that, beyond perhaps making it easier to recruit settlers, Delphi had any influence on the form, pattern, or nature of Greek settlement abroad. If Delphi ever advised against settling elsewhere we do not hear of it, and there is no sign that settlements established on Delphic advice chose different locations from those established without Delphic advice. Contrary to Robert Parker’s assertion in 1985, it is ridiculous given our evidence, “to suppose that Delphi caught the mood of a colonising age, and sometimes suggested the possibility of colonisation to states that had not yet considered this particular ‘release from evils’”.15 Even more ridiculous is it to claim that “The geographical directions given to the oikist in those oracles with claims to authenticity provided a divine authority in topographical terms. The colonists would thus know the exact area which was granted them. It was the delegated responsibility of the oikist to find the place and, once there, to identify it precisely”.16 What Delphic oracle stories arguably achieve was to affect both the morality and the theology of settlement abroad. Being able to claim that Apollo had given backing to a settlement, and had even giving backing to a particular site, was potentially important if settlement met resistance. That is the lesson of Dorieus, as well as implicit in the structure of the stories, as Dougherty has emphasised. What is more, carrying out settlement under the aegis of a god 14
I have set out my own views of this widely discussed episode in OSBORNE, 1996/2009, ch. 1. 15 PARKER, 1985, 306. 16 MALKIN, 1987, 91.
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put the gods at the heart of settlement; although we do not know whether the settlement at Brea established by the Athenians in the 430s was established after consultation of Delphi, the surviving inscription certainly makes much of the need to sacrifice in advance, respect pre-existing sacred places, and establish a proper religious relationship with Athens.17 Delphic oracle stories had made it impossible to ignore the interest of the gods in any new settlement that was established.
7. Conclusions Where does this leave our big questions? As will have become apparent, there seems to me to be nothing in the stories of oracles about settlement abroad that requires detailed advice to be produced in the response that it is not plausible to think was included in the question. Equally, there is nothing in the stories that suggests that what we have in these stories of early consultations is consultation by poleis disguised as consultation by individuals. Arguably the oracles should be seen as the response to individuals who are seeking Apolline backing for decisions they have already taken to gather followers and settle in a particular new location. Despite Cicero, there were very large numbers of settlements founded without consultation of Delphi in advance. Forrest overdid the degree to which the evidence is patterned, but the distribution of consultation traditions does seem distinctly non-random, and it is entirely plausible that potential leaders of settlements from cities where others before them had consulted Delphi before going out successfully to found new settlements were particularly inclined to follow the example of their successful predecessors. What re-examination of Delphi and Greek settlement abroad emphatically does not do, is to suggest that the rise of Delphi and the rise of the Greek state were mutually implicated. Morgan’s suggestion that it was the needs of early states that effectively created the Delphic oracle rests on an uncritical adoption of the model of the foundation of settlements abroad as an act of ‘colonization’, that is acts of settlement planned and executed by political communities in the Greek heartland, and is a good demonstration of how misleading the term ‘colonization’ is. When even the stories told later put the emphasis on the individual founder, not the state, taking responsibility for oracular consultation and settlement foundation, the grounds for rejecting the Archilochean model of opportunist settlement are weak. Individuals required oracular support much more obviously than political communities, which could muster some compulsion to ensure that the community will was executed. We should think that it is the pattern of individual consultation that 17
OSBORNE/RHODES, 2017, no. 142; MALKIN, 1987, 155–160.
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forms the pattern for state consultation, not the reverse. Although it is easy to see that the decision by an individual to recruit others and go form a settlement elsewhere will have itself been a catalyst to stronger community organisation at home, and therefore that settlement abroad and state formation go together, there is no reason to give priority to state formation. Whether or not its role in answering questions about settling abroad played an important part in boosting the reputation of the Delphic oracle, Delphi did not need state formation. But did its role in answering questions about settling abroad boost Delphi’s reputation? Intriguing here are the implications of the changing relationship of cities in the Greek heartland to settlements abroad. There is no doubt that cities in the Greek heartland came to lay claim, with varying degrees of insistence, to ‘mother’ status in relation to cities in which people from their own city had settled, a relationship which those settled outside the Greek heartland often welcomed. But in claiming ‘mother city’ status, the cities of the Greek heartland acquired a back-history of Delphic consultation that arguably changed their own relationship with Delphi. We might wonder whether the pattern of formal city consultations of Delphi in the classical period, intermittent though it remains, was actually a product of cities feeling they needed to follow the example which was given by the individual consultations in earlier times. If ‘colonization’ did not see the rise of Delphi as an oracle, the process of turning those settlements abroad into colonies may have played a significant part in transforming Delphi, as far as Greek poleis were concerned, into the oracle.18
18 I am grateful to Balbina Bäbler and Heinz-Günther Nesselrath for their kind invitation to the conference in Göttingen at which an earlier version of this paper was given, and to all present on that occasion for their friendly engagement.
Die Legitimität des delphischen Orakels1 Kai Trampedach 1. Was heißt hier ‚Delphi‘? Im Rahmen der griechischen Geschichte wird das Wort ‚Delphi‘ allzu oft als Leerformel verwendet. Oswyn Murray schreibt beispielsweise in seiner immer noch lesenswerten Einführung in die Geschichte des archaischen Griechenland: Delphi was wrong about Croesus’ power to defeat Persia; thereafter she habitually counselled submission at a time when Greeks wanted to be encouraged to resist. It was perhaps this consistent betrayal of Greece which caused contemporary politicians to become more rationalist, and to manipulate the oracle to their own ends. By the close of the archaic period she had lost much of her political power, though not her religious influence over individuals.2
Einmal ganz abgesehen von der Beliebigkeit solcher Behauptungen, auf die ich noch zurückkomme: Was heißt hier eigentlich ‚Delphi‘? Das bleibt bei Murray ebenso offen wie in zahllosen anderen Beiträgen der modernen Forschungsliteratur, die sich auf die Überlieferung über das Orakel von Delphi beziehen. So behauptet Michael Scott in seiner Monographie über Delphi von 2014: „Delphi was, without a doubt, a major player in the ancient world by the mid-sixth century BC.“3 Häufig werden in diesem Zusammenhang auch „die delphischen Priester“ oder „die delphische Priesterschaft“ bemüht. Werner Dahlheim formuliert diese Annahme besonders unverblümt: „Bei der Priesterschaft in Delphi fragte man regelmäßig an, wenn es galt, Ziel und Ausstattung eines Kolonistenzuges festzusetzen“; an anderer Stelle schreibt er: „Insbesondere die einflußreichen Priester des delphischen Apoll ließen jedermann wissen, daß Widerstand gegen die persische Großmacht sinnlos sei.“ 4 Doch ist die Annahme haltlos, denn nach dem übereinstimmenden Bericht sämtlicher Quellen wurde im Apollon-Heiligtum von Delphi der Gott 1
Der folgende Beitrag beruht, streckenweise wörtlich, auf meinem Buch über die griechische Mantik und versucht, die darin unter der Überschrift „Medialität und Legitimität“ sowie „Übermittlung und Überlieferung“ angestellten Überlegungen (TRAMPEDACH, 2015, 179–257) für die hier gewählte Fragestellung fruchtbar zu machen. 2 MURRAY, 1980, 231. 3 SCOTT, 2014, 89; vgl. dens., 75.82 f. 4 DAHLHEIM, 1992, 117. 162; vgl. dens., 58.
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befragt, der wiederum durch den Mund der Pythia antwortete. Von einer „delphischen Priesterschaft“ ist in diesem Zusammenhang niemals die Rede.5 Kein einziger antiker Text legt auch nur nahe, dass irgendjemand anderes als die Pythia die Orakelantworten erteilte.6 Nun glauben moderne Altertumswissenschaftler – und hier möchte ich mich ausdrücklich einschließen – nicht an Apollon; sie müssen die Orakel anders denn als göttliche Offenbarungen erklären. Von einer ‚delphischen Politik‘ ließe sich trotzdem nur dann reden, wenn die Verlautbarungen Apollons zu bestimmten Gegenständen (wie Koloniegründungen, Fragen der Herrschaft und inneren Ordnung von Poleis oder den Beziehungen zu den Persern) einem konsistenten politischen Kalkül folgten. Irad Malkin gehört zu den relativ wenigen Autoren, die nolens volens anerkennen, dass ein solches Kalkül nicht einfach gedankenlos unterstellt werden darf. Gleichwohl kann man seinen Umgang mit dem Problem bestenfalls als ‚rhetorisch‘ bezeichnen, wie die folgende Reihe von Fragen zeigt, mit denen er seinen 1989 erschienenen Aufsatz ‚Delphoi and the Foundation of Social Order in Archaic Greece‘ einleitet: [...] how should the modern historian of the archaic period evaluate the policy or politics of the Delphic oracle? Was there a ‚policy‘ at all? Was it, in our terms, ‚opportunistic‘, ‚conservative‘, or ‚progressive‘? In other words: did Delphoi simply react to situations ad hoc trying to get the most benefit out of them? Or was it consistently trying to restrain and recommend adherence to old ways, advising against reform or even revolution? Or, conversely, did Delphoi consistently encourage change and innovation, supporting the agents of the new social order?
Zwei Seiten weiter ermahnt sich Malkin noch einmal zur Vorsicht: [...] our own ideas about what precisely ‚Delphoi‘ was are too vague and this vagueness must limit the depth of our inquiry. It was probably not the Pythia but the ‚Men of Delphoi‘ who directed its policy. However, while we cannot be certain about the personalities at the oracle and their manner of making decisions on policy, we do know how Delphoi communicated or acted in numerous cases.7
Eine bestimmte Politik Apollons haben freilich, wie gegen Malkin eingewandt werden muss, weder Zeitgenossen noch spätere antike Berichterstatter wahrgenommen. Außerdem dürfte – selbst abgesehen von der Glaubwürdig5
ROUX, 1971, 55 f., weist darauf hin, dass „die Priester des Apollon in der gesamten Literatur bis zu den Schriften des Plutarch nicht ein einziges Mal erwähnt werden“. Im Übrigen scheinen sich hinter der Rede von der delphischen Priesterschaft häufig anachronistische Vorstellungen zu verbergen; vgl. JACQUEMIN, 1995, 30: „’Le clergé delphique‘ est d’ailleurs une expression chère à tous ces travaux, quoiqu’elle soit déjà en soi peu heureuse, puisqu’il n’existe pas à Delphes de clercs séparés des laïcs par une consécration. Les prêtres y sont en effet des notables comme les autres.“ 6 MAURIZIO, 1995, bes. 69–72; MAURIZIO 1997, 314. 7 MALKIN, 1989, 129. 131.
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keit der Überlieferung und ihrer Bewertung – die Zahl der überlieferten Fälle angesichts der Länge des in Rede stehenden Zeitraums bei weitem nicht ausreichen, um, wie es Malkin versucht, ‚Delphi‘ auf den Feldern von innerstädtischer Reform, Kolonisation und Tyrannis eine konsistente Haltung zuzuschreiben.8 Während Malkin von dem Vorgang der eigentlichen Orakelerteilung vollkommen absehen zu dürfen glaubt, berücksichtigt Anne Jacquemin, den Quellen entsprechend, die zentrale Rolle der Pythia. Doch statt Sprachrohr Apollons zu sein, sei die Pythia, so Jacquemin, Sprachrohr von häufig einander bekämpfenden Honoratiorenparteien in Delphi gewesen. Die Pythia semble bien avoir été au cœur d’intrigues politiques et avoir été soumise à l’influence des puissants de la cité. […] Il faut donc admettre que la Pythie donnait caution divine à des décisions humaines et que les circonstances seules faisaient que certaines approbations paraissaient moins apolliniennes que d’autres. Au gré des humeurs des notables delphiques, elle a médisé, laconisé, atticisé, béotisé, philippisé, étolisé. Sauf cas exceptionels, on ne lui en a pas tenu rigueur.9
Für die erstaunliche Feststellung, mit der Jacquemin ihre Ausführungen beendet, gibt sie keine Erklärung. Warum nahmen die Griechen der Pythia ihre angebliche Parteilichkeit nicht übel? Warum wären sie und die anderen Klienten des Orakels so einfältig gewesen, um unter Einsatz von viel Geld und Zeit in Delphi Göttersprüche einzuholen, die in Wirklichkeit von delphischen Priestern oder Honoratioren, noch dazu womöglich aus eigennützigen Motiven, verfasst wurden? Auf diese Fragen gibt es keine befriedigende Antwort. Die Annahmen von Murray, Scott, Dahlheim, Malkin, Jacquemin und all den anderen Anhängern einer ‚delphischen Politik‘ überzeugen deswegen nicht, weil sie, zugespitzt formuliert, aus den Delphern – wie immer sie jeweils diese Gruppe fassen, ob als Notabeln oder Priester oder schlicht als Bürger – Betrüger und aus den Griechen und den anderen Klienten des Orakels Dummköpfe machen. Dass Betrug auch in Delphi vorkam, ist bekannt und wurde bereits von Zeitgenossen wahrgenommen und skandalisiert.10 Die bekannten Fälle wurde von allen 8
PARKE/WORMELL, 1956 I, 40, die in der Geschichte Delphis ebenfalls ausreichende Spuren einer konsistenten Politik finden wollen, halten Delphi dabei für „a generally conservative force“ (PARKE/WORMELL, 1956 I, 114). Dagegen glaubt MALKIN eine ‚progressive‘ Ausrichtung ‚Delphis‘ erkennen zu können (1989, 152: „consistency of the support for change“). Dass das Orakel wichtige (politische, soziale und kultische) Veränderungen sanktionierte, verweist keineswegs zwingend auf eine bewusst kalkulierende Politik, sondern entspricht einer generellen Funktion des Orakels und ergibt sich einfach aus dem Überlieferungsinteresse der Quellen; vgl. OSBORNE, 1996, 205. 9 JACQUEMIN, 1995, 36. 10 Für die Zeit vom 6. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. verzeichnen die Quellen vier tatsächliche, angebliche oder vergebliche Bestechungsfälle: 1. durch die Alkmeoniden (Hdt., V 63,1; 90,1, VI 123,2); 2. durch den Spartanerkönig Kleomenes (Hdt., VI 66,2–3); 3.
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Beteiligten demnach gerade als Ausnahmen angesehen, welche die Legitimität der Orakelkonsultation als solcher nicht beschädigten. Die – in Aussagen moderner Sekundärliteratur über das delphische Orakel meist implizite – Betrugsthese setzt dagegen voraus, dass der Betrug einer kleinen Gruppe von Betrügern wie delphischen Priestern oder mächtigen Bürgern Delphis gleichsam ‚in Fleisch und Blut‘ übergegangen war, während der Rest der Welt davon jahrhundertelang nichts bemerkt hätte. Diese Vorstellung ist nicht nur gruppenpsychologisch – mit Blick auf die delphische Priester- oder Bürgerschaft – unwahrscheinlich, sondern auch hinsichtlich der Rezipienten absurd, denn da die Griechen bekanntlich an allen Ecken und Enden Betrug witterten und eine beträchtliche institutionelle Kreativität entwickelten, um Verfahren gegen Manipulationen abzusichern, wäre ihnen ein systematischer Betrug in Delphi zweifellos irgendwann aufgefallen. Dementsprechend ist vor der Zeit der späten römischen Republik keine einzige Quellenäußerung bekannt, die die Legitimität des Orakels von Delphi grundsätzlich bezweifeln würde.11 Dieser Befund lässt die Rede von einer delphischen Politik als Phantom erscheinen, dem ich zunächst eine emische Perspektive entgegensetzen möchte: „Niemals“, so lässt Cicero seinen Bruder Quintus in De divinatione die Glaubwürdigkeit des delphischen Orakels verteidigen, „wäre jenes Orakel in Delphi so beansprucht und so angesehen gewesen, niemals vollgestopft mit so vielen Gaben von Völkern und Königen aller Länder, wenn nicht jede Generation die Wahrheit jener Orakel erfahren hätte.“ 12 Diese Aussage, die mir unabweisbar erscheint, evoziert die Fragen: Wie lässt sich das von (Quintus) Cicero angeführte Argument verstehen? Von welchen Bedingungen hängt die Selbstverständlichkeit des Legitimitätsglaubens ab, den die Griechen der archaischen und klassischen Zeit dem Orakel von Delphi entgegenbrachten? Aus welchen Elementen setzt sich die Glaubwürdigkeit des Orakels zusammen? Um Antworten zu finden, werde ich folgende Themenfelder in den Blick nehmen: die Konsultation (2), das Medium (3) und die Botschaft (4). Auf die Ergebnisse dieser Untersuchungen aufbauend, werde ich versuchen, die Mechanismen der Überlieferung zu erklären (5), um schließlich von einem eti-
–––––––––––––––––––––––– durch den exilierten Spartanerkönig Pleistoanax (Thuc., V 16,2); 4. durch den Spartaner Lysander (Diod., XIV 13,2–4; Plut., Lys. 25,3). Vgl. PRICE, 1985, 142 f.; MAURIZIO, 1995, 72. 11 Cic., Div. II 115–118 ist der früheste überlieferte Text, der die Glaubwürdigkeit des Orakels von Delphi grundsätzlich in Frage stellt. Vorläufer dieser Haltung sind in hellenistischen Philosophenschulen, vor allem unter Epikureern und Skeptikern, anzunehmen. 12 Cic., Div. I 37 (übers. v. Ch. Schäublin): numquam illud oraclum Delphis tam celebre et tam clarum fuisset neque tantis donis refertum omnium populorum atque regum, nisi omnis aetas oraclorum illorum veritatem esset experta.
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schen Standpunkt aus die Bedeutung und Funktion des Orakels in der griechischen Politik besser einschätzen zu können (6).13 Ohne nähere Untersuchung setze ich zweierlei voraus, nämlich: 1. die mantische Prämisse, dass nach dem Selbstverständnis der Beteiligten eine Kommunikation zwischen Göttern und Menschen grundsätzlich möglich ist und regelmäßig stattfindet, und 2. die delphische Prämisse, dass das ApollonHeiligtum in Delphi ein bevorzugter Ort für eine solche Kommunikation ist. Die Mantik als solche – mithin den Glauben von Menschen in verschiedenen kulturellen Kontexten, dass ihnen Götter symbolisch und sprachlich gefasste Botschaften übermitteln – und die Frühgeschichte des Orakels von Delphi – wie es dazu kam, dass ihm diese überragende Bedeutung zugemessen wurde – werde ich also nicht thematisieren.
2. Die Konsultation Über den genauen Ablauf einer Orakelkonsultation in Delphi gibt es leider keine zeitgenössischen Beschreibungen. Dafür könnte es zwei Gründe geben: Entweder besaßen die Griechen der klassischen Zeit eine selbstverständliche Kenntnis von Funktionsweise und Methoden des Orakels, die unseren Quellenautoren umständliche Ausführungen zu diesem Thema überflüssig erscheinen ließen. Oder es hinderte sie eine religiöse Scheu oder fromme Zurückhaltung, die mit einer Orakelkonsultation verbundenen Rituale auszubuchstabieren. Wie dem auch sei: Die Überlieferung vermittelt jedenfalls nur indirekte und beiläufige Informationen, die stets mit spezifischen Fällen der Orakelbefragung verbunden sind. Dabei bietet Herodot mit Abstand das reichhaltigste Material.14 Aber auch Herodot beschreibt nur außergewöhnliche Vorgänge genauer und erwähnt die gewöhnlichen Umstände einer Konsultation allenfalls mit der Formel τὰ νοµιζόµενα. Was in der Natur der Sache liegt, bestätigt diese Formel, dass nämlich die Befragung des delphischen Orakels einem regulären Verfahren folgte, dass also auch in diesem Fall ‚Legitimität durch Verfahren‘ erzeugt wurde.15 Tatsächlich stand der Gott in Delphi stets nur zu bestimmten Zeiten für eine Befragung zur Verfügung. In der spätarchaischen und klassischen Epoche ruhte der Orakelbetrieb vermutlich während der drei Wintermonate. In der übrigen Zeit konnte der Gott normalerweise einmal im Monat befragt werden, 13 Das Wort „Orakel“ verstehe ich hier gemäß seiner ursprünglichen doppelten Wortbedeutung, wonach oraculum ebenso wie seine griechischen Pendants χρηστήριον und µαντεῖον sowohl den Orakelspruch als auch die Orakelstätte bezeichnen. 14 Vgl. COMPTON, 1994; PRICE, 1985, 131–141. 15 Daher erregen außergewöhnliche Abweichungen von der Regel bei unseren Quellenautoren besondere Aufmerksamkeit: vgl. z.B. Hdt., VII 140,1–2; Plut., Def. or. 51, 438b.
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wahrscheinlich am siebten Tag jedes Monats (dem Geburtstag Apollons) und bei einer großen Besucherzahl auch am nächsten und ggf. am übernächsten Tag.16 An solchen Tagen brachten die Delpher als Betreiber des Heiligtums Apollon ein gemeinsames Tieropfer (die πρόθυσις) im Namen aller Befrager dar. Das Gelingen dieses Befragungsopfers war, wie insbesondere Plutarch am Beispiel einer gescheiterten πρόθυσις klarmacht, für eine erfolgreiche Konsultation von allergrößter Bedeutung. Dabei waren die Anforderungen an ein Gelingen höher als bei anderen Opfern.17 Vor der eigentlichen Befragung musste also geklärt werden, ob der Gott zur Kommunikation mittels der Pythia überhaupt bereit war. War dies, wie gewöhnlich, der Fall, betraten die Fragesteller in Begleitung eines delphischen proxenos und eines Kultfunktionärs (prophetes), nach einer festgelegten Reihenfolge, die in Delphi durch gewisse Vorrechte (promanteia) und das Los bestimmt wurde, den Tempel. Unmittelbar vor dem Betreten des Tempels wurde die Gebühr – der pelanos, ein Opferkuchen, der einen festgesetzten Preis kostete – von den Fragestellern auf dem Altar geopfert. Damit nicht genug, mussten sie im Tempel vor dem Hinabsteigen zur Pythia ins Adyton einen Teil eines Opfertieres oder ein ganzes Opfertier auf den heiligen Tisch legen. Diese Gaben dienten natürlich auch (und de facto vor allem) dem Unterhalt des Heiligtums und seiner Betreiber, waren aber zugleich an den Gott, von dem man eine günstige Antwort erhoffte, adressiert. Danach stiegen die Fragesteller in das Adyton des Tempels hinunter und setzten sich nieder. Die Pythia saß dort bereits auf ihrem Dreifuß. Der Konsultant stellte nun seine Frage, und die Pythia antwortete. Der Vorbereitung und Einstimmung auf die eigentliche Befragung dienten vor allem die Opfer. Mit der πρόθυσις wollten die Delpher an einem Befragungstag die Bereitschaft Apollons erwirken, mittels der Pythia auf die Anliegen der Klienten einzugehen. Weitere Opfer, die sich unter Umständen auch an Athena Pronaia und andere in Delphi verehrte Gottheiten und Heroen richteten, vollzogen die Klienten vorher jeweils für sich, wie sich aus der Abgabe von Opferfleisch vor dem Betreten des Adyton ergibt. Solche Opfer hatten vielleicht eine Sühnefunktion und sollten die Konsultanten vor der Befragung des Gottes von etwaiger Schuld reinigen, denn der Erfolg einer Konsultation war nicht nur von Apollon und der Pythia abhängig, sondern auch, wie in Texten über das Orakel immer wieder betont wird, von der richtigen Einstellung der Konsultanten, denen insbesondere ethische und intellektuelle Fähigkeiten wie Ehrfurcht, Vorsicht und Klugheit zugutekamen. Außerdem sorgten die Befragungsrituale dafür, dass die Konsultanten mit wich-
16
Vgl., auch für das Folgende, AMANDRY, 1950, 81–114; ROUX, 1971, 71–87; BOW2005, 17 f.; SUÁREZ DE LA TORRE, 2005, 18–21; SCOTT, 2014, 12–21. 17 Plut., Def. or. 435b–c.437a–b.
DEN,
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tigen Delphern in Kontakt kamen und sich institutionelle und persönliche Beziehungen anbahnen konnten.18 Die Fragen lassen sich, grob gesagt, in drei Gegenstandsbereiche einteilen: res publicae, res domesticae und res divinae. Beschränkungen im Hinblick auf Themen, die Struktur der Fragen oder die Art des Fragens gab es offenbar nicht, denn alternative Fragen: Sollen wir X oder Y tun? – oder einfache Fragen: Zu welchem Gott sollen wir beten, damit unser Unternehmen erfolgreich verläuft? – sind ebenso überliefert wie offenere Fragen: Was sollen wir tun, damit wir Erfolg haben? Wie können wir die feindliche Invasion überleben? Was muss ich tun, damit mir der ersehnte Stammhalter geboren wird?19 Die Offenheit des Fragehorizontes trug auch zur Legitimität bei, denn sie verwies auf die Allwissenheit Apollons (bzw. des Zeus, als dessen Sprachrohr und Interpret Apollon fungiert).20
3. Das Medium Die Quellen der klassischen Zeit beschreiben die mediale Funktion der Pythia in weitgehender Übereinstimmung. Demnach wurde die Pythia während der Befragung meistens als „Gott“ oder „Herr“ (anax) angesprochen, d.h. sie wurde in dem rituellen Rahmen nicht als autonome Person angesehen; der Konsultant adressierte seine Frage an Apollon, der wiederum meistens in der ersten Person antwortete und sich somit als Urheber des Orakels identifizierte. Dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend wurden die Äußerungen der Pythia daher als unverfälschte, durch das Medium nicht kontaminierte Botschaften des Gottes betrachtet. Dementsprechend behauptet die Pythia in den Eumeniden des Aischylos, bei ihrem ersten überlieferten Auftreten in der griechischen Literatur, von sich selbst: µαντεύοµαι γὰρ ὡς ἂν ἡγῆται θεός (Aeschyl. Eum. 33) – in der Übertragung von Peter Stein zutreffend interpretiert: „Denn ich spreche aus, was der Gott in mir erregt.“ Ähnlich bestimmt Euripides in der Tragödie Ion das Verhältnis der Pythia zu Apollon: „Es thront auf dem heiligen Dreifuß die delphische Frau; sie verkündet den Griechen singend die Rufe, die Apollon ertönen läßt.“21 Eine ‚funktionierende‘ Pythia bleibt daher anonym; beim eigenen Namen wird sie in den Quellen fast nur im Zusammenhang mit Skandalen oder außergewöhnlichen Ereignis18
Diesen Aspekt der Konsultation betont insbesondere JACQUEMIN, 1995, 32 f., überzeugend. 19 Vgl. FONTENROSE, 1978, 438–442. 20 Hom. Hymn. Merc. 468–472.533–540; Hom. Hymn. Apoll. 132; Aeschyl., Eum. 19; vgl. Hdt., VII 141,3. 21 Eur., Ion 91–93: θάσσει δὲ γυνὴ τρίποδα ζάθεον Δελφίς, ἀείδουσ’ Ἕλλησι βοάς, ἃς ἂν Ἀπόλλων κελαδήσῃ.
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sen genannt.22 In Zeiten erhöhter Nachfrage konnten mehrere Pythien gleichzeitig im Einsatz sein: Plutarch berichtet, dass sich in der Glanzperiode des Orakels (im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr.) zwei Pythien und eine Vertreterin die Aufgabe teilten.23 Um ihre besondere Aufgabe in der Kommunikation zwischen dem Gott und den Menschen erfüllen zu können, mussten sich die Pythien, wie andere Orakelmedien auch, einer strengen Körperdisziplin unterwerfen. Dass sie (auf eine nicht mehr näher zu ermittelnde Art und Weise) aus der weiblichen Bürgerbevölkerung Delphis ausgewählt wurden, ist klar.24 Weniger klar erscheinen Alter und Vorleben der ausgewählten Frauen.25 In jedem Fall sollten sexuelle Enthaltsamkeit, strenge Abgeschlossenheit und zahlreiche Vorschriften, etwa hinsichtlich der Nahrung und der Kleidung, die rituelle Reinheit der Pythien gewährleisten. Sie wohnten getrennt von ihren Familien in einem eigenen Haus, offenbar im Inneren des Heiligtums.26 Verschiedene Rituale bewirkten und veranschaulichten, dass die Pythia den Gott in sich aufnahm: „das Kauen von Lorbeerblättern, Trinken des heiligen Quellwassers, Berühren des Dreifußes und andere Mittel, unter denen in späterer Zeit die Dämpfe aus dem χάσµα genannt werden“.27 In der Nacht vor einer gewöhnlichen Befragung musste die Pythia anscheinend auf einer Liege schlafen, die mit Lorbeerstreu ausgelegt war.28 Ebenso wie der Lorbeer kein Rauschmittel im materiellen Sinne sein konnte, sondern als Symbol der göttlichen Inspiration (ἐπίπνοια) zu verstehen ist, hatte das in Delphi späterer Überlieferung zufolge angeblich aus der Erde quellende πνεῦµα keine physischen Auswirkungen, sondern veranschaulichte ein symbolisches wie psychologisches Geschehen, nämlich die Übertragung göttlicher Kraft von der Erde in einen
22
Hdt., VI 66,2–3 (Perialla); VII 140,1 (Aristonike); vgl. FAUTH, 1963, 518 f. Plut., Def. or. 8, 414b; vgl. PARKE/WORMELL, 1956, 35 f. 24 Bei Eur., Ion 1323 sagt die Pythia von sich: πασῶν Δελφίδων ἐξαίρετος, womit sowohl ein Wahl- als auch ein Losverfahren gemeint sein kann. Vgl. AMANDRY, 1950, 116; SUÁREZ DE LA TORRE, 2005, 30 f.; JOHNSTON, 2008, 40–44; vgl. ferner den Beitrag von Scheer im vorliegenden Band, oben S. 109–112. 25 In hellenistischer und römischer Zeit, und vielleicht auch schon früher, war die Pythia nicht notwendigerweise eine unberührte Frau, aber in jedem Fall lebte sie enthaltsam und wurde mit den Symbolen der Jungfräulichkeit ausstaffiert: PARKE/WORMELL, 1956, 35; FAUTH, 1963, 543 f. Vgl. im vorliegenden Band Scheer, oben S. 100–107. 26 Nach Plut., Def. or. 51, 438c achten die delphischen Priester darauf, „dass der Leib der Pythia rein von geschlechtlichem Verkehr und ihr Leben vom Umgang mit Außenstehenden völlig unberührt bewahrt wird“. 27 FEHRLE, 1910, 84; vgl. ROUX, 1971, 112–134. Alle genannten Mittel finden sich auch an anderen Orakelstätten; selbst für die Erdspalte gibt es im Trophonion bei Lebadeia und im Orakel von Klaros eine Parallele. 28 Call., Frg. 194, 26 f. (Pfeiffer = Asper 154); vgl. ROUX, 1971, 117; JOHNSTON, 2008, 42 f. 23
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Menschen.29 Außerdem dienten Lorbeer und Pneuma als kathartische Elemente im mantischen Ritual wie auch der Trunk des heiligen Wassers und das Bad in der kastalischen Quelle. In diese Reihe gehört schließlich der Dreifuß, den die Pythia vor der Konsultation bestieg und auf dem sie ihre Inspiration empfing – als Symbol Apollons, als Ort, an dem sich die göttliche Kraft manifestierte, weshalb das Medium eine direkte körperliche Verbindung herstellte. Im psychologischen Sinne lassen sich die genannten Gegenstände und Handlungen als ‚Erweckungsmittel‘ charakterisieren, denn sie waren überaus geeignet, die Phantasie der Pythia auf ihrem Weg in die selbstinduzierte Ekstase zu stimulieren.30 Mit der Ekstase nähern wir uns dem Kern der Sache, denn Lebenswandel und Rituale beschreiben zwar notwendige, aber noch keineswegs hinreichende Bedingungen der Legitimität eines Orakelmediums; ein besonderer Bewusstseinszustand muss hinzutreten, wenn ein Mensch glaubwürdig als Medium göttlicher Botschaften fungieren will. Einen Bewusstseinszustand dieser Art zeigte auch die Pythia während der Konsultation. In Platons Phaidros verwendet Sokrates den Begriff „Wahnsinn“ (µανία), um weibliche Medien bei der Orakelerteilung – außer der Prophetin in Delphi nennt er die Priesterinnen in Dodona und die Sibylle – zu charakterisieren;31 θεοφόρητος („von Gott getrieben“), ἔνθεος („gottvoll“), πλήρης θεοῦ („von Gott erfüllt“), ἐνθουσιαστικός („enthusiastisch“), ἐπίπνους („angehaucht“, „begeistert“), κάτοχος (im passiven Sinne „besessen“, „begeistert“) sind Attribute, mit denen der gleiche Sachverhalt in anderen Texten bezeichnet wird. Dem zeitgenössischen Verständnis gemäß stehen die Medien während der Orakelsitzung also unter der Einwirkung eines Gottes; für die Dauer der Einwirkung verlieren sie ihre menschliche Vernunft, ihre Persönlichkeit, ihre Individualität; die „Besessenheit“ oder der „Wahnsinn“ äußert sich freilich nicht durch extreme Verhaltensweisen und auffällige Körperbewegungen (wie Augenrollen oder unwillkürliche Zuckungen einzelner Glieder) oder eine durchgehend unverständliche Sprechweise (etwa Glossolalie), sondern im Aussehen und in der Sprache, und zwar sowohl in der Art des Sprechens als auch in Form und Inhalt der Mitteilung. Die berühmte Trinkschale aus Vulci zeigt Themis in der Rolle der Pythia während der Befragung körperlich ruhig und in sich gekehrt; literarische Repräsentationen entsprechen diesem Bild.32 Ihr stimmlicher Ausdruck könnte, wie fiktive Analogien nahelegen, auffällig gewesen sein, dergestalt, dass sie mit ‚fremder‘, schallender Stimme die Worte des 29
Zum πνεῦµα µαντικόν und zur ἐπίπνοια vgl. FEHRLE, 1910, 85–89; ROUX, 1971, 141–144. Vgl. im vorliegenden Band Engster, unten S. 479–504. 30 Vgl. FLOWER, 2008b, 226; FAUTH, 1963, 525–527, hier 526: „Die Vorstellung der physischen ‚Gotterfülltheit‘ bildet einen bedeutenden seelischen Reizwert, der die Ekstase auszulösen vermag.“ Vgl. im vorliegenden Band Ustinova, oben S. 124–126.131. 31 Plat., Phaedr. 244a–b; vgl. Plat., Tim. 71e. 32 Vgl. MAURIZIO, 1995, 79.
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Gottes hervorstieß.33 Mehr als über die ‚performance‘ läßt sich über die Botschaft sagen.
4. Die Botschaft 4.1. Versform Nicht wenige Forscher halten alle überlieferten Versorakel für Fälschungen.34 Wenn man von der Wahrnehmung der Zeitgenossen ausgeht, trifft paradoxerweise beinahe das Gegenteil zu: Die Versform war ein Aspekt, der zur Glaubwürdigkeit von Orakelsprüchen jedweder Art und Herkunft wesentlich beitrug. Diese Aussage gilt verstärkt für Orakel, die wie in Delphi an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit unter bestimmten Umständen (während einer Konsultation) entstanden. In der Ekstase sollten die griechischen Orakelmedien die Sprache der Götter sprechen. Diese Sprache musste sich von der gewöhnlichen Sprache der Menschen unterscheiden. Daher sprachen oder sangen die Medien ihre Botschaft meistens in Versen. Prosa-Antworten, vor allem zu Fragen des Kultes, kamen auch vor, waren aber bis weit ins 5. Jahrhundert hinein offenbar Ausnahmen. Die literarisch überlieferten Antworten in Prosa geben häufig nur Paraphrasen oder Zusammenfassungen, die die ursprüngliche Versform oft noch erkennen lassen.35 Dass den Pythien im Laufe des 4. und 3. Jahrhunderts ‚die Sprache der Götter‘ abhanden kam, wurde von Zeitgenossen als Symptom des Niedergangs verstanden.36 Noch in der römischen Kaiserzeit betrachtete der delphische Priester Plutarch die zu seiner Zeit ganz überwiegend in Prosa formulierten Orakel als schwerwiegendes Problem für das Ansehen von Delphi und rechtfertigte sie durch die Schrift ‚Warum die Pythia jetzt nicht mehr in Versen weissagt‘. Ungeachtet seiner eigenen Überlegungen brachte er damit die fortbestehende allgemeine Erwartung zum Ausdruck, dass ‚richtige‘ Orakel eigentlich in Versen verfasst sein mussten.37 Seit alters her waren daher auch Orakelsprü33
Analoge Figuren, die nach dem Muster der Pythia gestaltet wurden, sind vor allem die Sibylle (Heraklit DK 22 B 92) und Kassandra (Aeschyl., Ag. 1035–1330): vgl. MAURIZIO, 1995, 85 f.; TRAMPEDACH, 2015, 195–199. 34 Z.B. AMANDRY, 1950, 167 f.; FONTENROSE, 1978; BOWDEN, 2005, 33–38; BONNECHERE, 2013; BEERDEN, 2013. 35 Vgl. z.B. Hdt., IV 163,2–3; V 79,1; VI 34,2; VII 169,2; Thuc., V 16,2. Zwei berühmte Orakelparaphrasen Herodots erscheinen in der späteren Überlieferung in Versform: Hdt., I 53,1 bei Aristot., Rhet. III 5, 1407 a 38; Hdt., VII 178,1 bei Clem. Al., Strom. VI 3,29. 36 Vgl. Theopomp (FGrHist 115), Frg. 336; Cic., Div. II 116; Strab., IX 3,5; Plut., Pyth. or. 19 f., 403e–404b. 37 Plut., Pyth. or. 7, 397d; 17, 402b. In Delphi bemühte man sich in der Zeit nach Plutarch, diesen Erwartungen wieder unmittelbar gerecht zu werden, wie die Renaissance von Versantworten im 2. Jahrhundert n. Chr. verrät, die gleichzeitig mit den Erneuerungs-
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che, die auf einen göttlichen Ursprung außerhalb der Orakelstätten zurückgeführt und in Büchern gesammelt wurden, grundsätzlich in Versen gehalten. Mehr noch als bei den an sich schon ehrwürdigen Orakelstätten trug in diesen Fällen die Versform dazu bei, den Botschaften Autorität zu vermitteln. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren griechische Orakel im Versmaß des daktylischen Hexameters abgefasst. Der Hexameter war nicht nur als ideales Mittel dichterischer Gestaltung und Übermittlung ‚göttlich‘, sondern stammte nach zeitgenössischer Vorstellung von Gott und galt als die Form, die Götter ihrer Sprache in der Kommunikation mit den Menschen gaben. Dementsprechend war nach einer vermutlich bis in die frühe Zeit zurückgehenden Vorstellung Apollon der Urheber des Hexameters. Naheliegend ist daher die Annahme späterer Autoren, dass die Sprache der Götter zum ersten Mal von der ersten Pythia zum klanglichen Ausdruck gebracht wurde. Diese Frau, die den Namen Phemonoë („die das göttliche Wort kennt“) erhielt und auch als Tochter Apollons galt, sang demnach den ersten Hexameter.38 Die Dichter, die ihre Inspiration ebenfalls von den Göttern herleiteten, folgten sozusagen dem Legitimitätsmuster der Orakel.39 Durch den Gebrauch des Hexameters bekundeten sie ihren Anspruch, eine göttliche Perspektive auf das menschliche Treiben einzunehmen; dadurch gewannen sie eine Position über dem Geschehen, die es ihnen erlaubte, mit ihren Geschichten zwischen Menschen und Göttern zu vermitteln und ruhmvolle, erinnerungswürdige Taten mit der erwünschten désinvolture zu besingen. Durch Wortrhythmus, Versrhythmus und Sprachmelodie gab der Hexameter den Orakelbotschaften ein einheitliches Gepräge. Dazu traten spezifische Eigenheiten, bestimmte Formeln und Strukturen, um deren Erforschung sich vor allem Joseph Fontenrose verdient gemacht hat.40 Besonders typisch waren Eröffnungsklauseln mit konditionaler Aussage („wenn ... dann“: ἀλλ’ ὁπόταν [...] καὶ τότε δή), mit einem warnenden Hinweis („beachte!“, „hüte Dich!“: φράζεο, φράζευ, φράζου), mit einer den Charakter der Botschaft vorweg–––––––––––––––––––––––– versuchen des delphischen Heiligtums in der hadrianischen Epoche auftritt; vgl. FONTENROSE, 1978, 193–195. In die gleiche Richtung weisen die inschriftlich erhaltenen Ritualgesetze in metrischer Form: vgl. PETROVIĆ, 2006, 151–179, bes. 168: „The divine authority of the oracular sacred regulations has the metrical form as its vehicle and a distinct set of contextual characteristics.“ 38 Plut., Pyth. or. 17, 402d; Paus., X 5,7–9; Philostr., Ap. VI 10.11 (214.221 Kayser); Strab., IX 3,5; Plin., Nat. X 7; Schol. Eur. Or. 1094. 39 Insbesondere FERNÁNDEZ DELGADO, 1985 und 1991, hat auf die unübersehbaren Spuren hingewiesen, die die Orakelsprache in der archaischen Dichtung hinterlassen hat; namentlich Hesiod, die homerischen Hymnen, Theognis, Tyrtaios, Heraklit, Parmenides, Empedokles und natürlich Pindar offenbaren deutliche Affinitäten zum Orakelstil. Schließlich erscheinen Hexameter auch in Tragödie und Komödie, um Orakel oder orakelhafte Redeweisen zu kennzeichnen. 40 Vgl. FONTENROSE, 1978, 166–193.
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nehmenden Begrüßung („o Elende!“, „o Glückliche!“: ὦ µέλεοι, ὄλβιε, εὐδαίµων) oder mit einer Tatsachenfeststellung („es gibt“: ἔστι τις, εἰσίν). Den konventionellen Charakter dieser Eröffnungsformeln enthüllte Aristophanes, der sie in seinen Komödien immer wieder parodiert. Ebenso konventionell waren die sechs Strukturmerkmale, die Fontenrose für die griechische Orakeldichtung herausgearbeitet hat: 1. die Begrüßung des Fragestellers; 2. die Wiederholung der Frage; 3. die Versicherung der mantischen Autorität, häufig durch den Verweis auf den Gott als Orakelautor; 4. die Nennung einer unabdingbaren Voraussetzung, die gegebenenfalls die Umstände oder Anzeichen der Erfüllung anführte; 5. die eigentliche Botschaft, entweder als Weissagung oder als Anordnung, d.h. als Befehl, Empfehlung oder Verbot; 6. die Erklärung oder Verdeutlichung der Botschaft, die vor Ungehorsam warnte und gelegentlich aphoristisch oder gnomisch formuliert war. Diese Komponenten traten in beliebiger Reihenfolge, in allen möglichen Kombinationen und selten vollständig zusammen auf. Daher hatte die Orakeldichtung eine bestimmte und zugleich flexible Struktur, die sie von anderen Formen der Dichtung unterschied. 4.2. Spontaneität Die Orakelkonsultation war, ebenso wie beispielsweise die Opferschau, eine Form der provozierten Mantik. Gleichwohl konnte bei einer Orakelbefragung auch Spontaneität eine gewisse Rolle spielen. Denn nach Ausweis relevanter Quellen agierten griechische Orakelmedien trotz des rituellen Rahmens gelegentlich spontan und gaben damit vor, einem unmittelbaren Impuls des Gottes zu folgen. So bewies die Pythia während der Konsultation zur Überraschung aller Beteiligten wiederholt ihre Spontaneität, und zwar auf folgende Weise: – durch eine Verweigerung der Antwort;41 – durch eine Antwort, die der Frage zuvorkam;42 – durch eine Antwort, die die Frage ignorierte und um die der Fragesteller nicht nachgesucht hatte;43 – durch eine Antwort, die den Fragesteller gar nicht betraf, sondern einen Dritten, Abwesenden;44 – durch einen ergänzenden Aufruf ohne Bezug zur Frage, der entweder an alle Griechen oder an die Fragesteller einer bestimmten Polis gerichtet war;45 41
Hdt., I 19,3; vgl. Strab., IX 3,11 (aus Ephoros). Hdt., I 65,2–3; V 92,2; VII 140,1; vgl. Plut., Garr. 20, 512e. 43 Hdt., IV 150,3; IV 155,3; IX 33,2; vgl. Diod., VIII 17,1; Thuc., V 32,1; Isocr., Or. 6,17. 44 Hdt., VI 19,2; VI 77,2. 45 Hdt., IV 159,2–3; V 63,1–2; Thuc., V 16,2; Paus., V 21,5. 42
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– durch die Annahme oder Verweigerung eines begrenzten Dialogs mit dem Fragesteller.46 Diese Verhaltensweisen, die in den Texten häufig mit dem Adjektiv αὐτόµατος und dem Verb αὐτοµατίζειν charakterisiert wurden, mögen Ausnahmen gewesen sein, gehörten jedoch zum akzeptierten Bild der Pythia und wurden nicht nur von Herodot, sondern etwa auch von Thukydides, Isokrates und Diodor beschrieben; dass sie dem Publikum des Historikers plausibel erschienen sein müssen, zeigen auch mythische Konsultationen wie die des Ödipus. 47 Die Spontaneität steigerte unter Umständen die legitimatorische Bedeutung einer Orakelantwort und mag deshalb in einzelnen Fällen erfunden worden sein. Auf der anderen Seite lässt sich das Motiv nur erfinden, weil es mit verbreiteten Gottesvorstellungen übereinstimmt und den formalen Rahmen einer Orakelbefragung nicht sprengt.48 Nach Plutarch antizipierte die Pythia manchmal auch durch eine spontane Äußerung die Frage des Konsultanten, „denn der Gott, dem sie dient“ – so sagt ein alter Vers, der an ein bei Herodot überliefertes Orakel erinnert – „versteht den Stummen und hört den Schweigenden“.49 Indem man den menschlichen Medien die Möglichkeit einer spontanen Antwort zuschrieb, betonte man die Unberechenbarkeit und Unkontrollierbarkeit der Botschaft – als zusätzliches Merkmal göttlicher Inspiration. Deshalb ist es kein Wunder, dass das Phänomen in den durch das Befragungsritual vorgegebenen Grenzen angeblich auch bei der mantischen Kommunikation an den Orakelstätten beobachtet wurde. Wie die sprachliche und semantische Gestalt und Struktur gehörte die Spontaneität zu denjenigen Eigenschaften, die dem Orakel von Delphi Glaubwürdigkeit verliehen. 4.3. Mehrdeutigkeit Ebenso wie an der dichterischen Form haben nicht wenige Forscher an der Mehrdeutigkeit von überlieferten Orakeln Anstoß genommen. 50 Dagegen zieht das gleiche Argument wie im Fall der Verse: Wie ist zu erklären, dass 46
Hdt., IV 150,3; IV 155,4. Soph., OR 788–793. Besonders prominent ist der Fall von Kyrene, in dem in der gesamten Überlieferung die Spontaneität, mit der die Pythia den Stadtgründer designierte, hervorgehoben wird: Pind., P. 4,60; Hdt., IV 150,3; IV 155,3; MEIGGS/LEWIS, 1969, no. 5, Z. 24; Call., Frg. 671 (Pfeiffer = 439 Asper). 48 Und dies nicht nur in Delphi, denn Herodot beispielsweise schreibt ein spontanes Verhalten auch dem Orakelpriester von Didyma (I 159,3–4; vgl. Heracl. Pont., Frg. 50 Wehrli) und dem πρόµαντις des Apollon Ptoos in Boiotien (Hdt., VIII 135,2) zu. PARKE/WORMELL, 1956 I, 34 erklären die zitierten Fälle ohne stichhaltige Begründung zu „unhistoric instances“. 49 Plut., Garr. 20, 512e; vgl. Hdt., I 47,3. 50 Siehe oben Anm. 34. 47
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in der griechischen Literatur von Homer bis Plutarch und Pausanias die Mehrdeutigkeit als ein Wesensmerkmal vieler Orakelantworten erscheint,51 wenn die Pythia (ebenso wie andere Orakelmedien) in Wirklichkeit nie mehrdeutige Botschaften ausgesprochen hat? Soll man Ambiguität und Obskurität als rein diskursive Phänomene ohne jeglichen Bezug zur mantischen Praxis der Griechen verstehen? Freilich: Anders als Zeichen müssen sprachliche Götterbotschaften nicht interpretationsbedürftig sein. Tatsächlich zeigen anthropologische Vergleiche, dass sie es in den meisten Fällen nicht sind. Die israelitischen und assyrischen Propheten beispielsweise sprechen meistens eine klare Sprache. Auch in Griechenland sind viele Orakelbotschaften, besonders zu kultischen und privaten Angelegenheiten, eindeutig. Allerdings sind dort eben auch viele Antworten mehrdeutig, so dass die Mehrdeutigkeit seit frühester Zeit als ein wichtiges Charakteristikum der Orakelsprache galt. Heraklit und Theognis beschreiben die mantische Kommunikation in Delphi mit dem Verb σηµαίνειν. Für Heraklit charakterisiert das σηµαίνειν Botschaften, die in dem weiten Feld zwischen dem λέγειν und dem κρύπτειν liegen.52 Apollon deutet an, indem er sprachliche Zeichen gibt, d.h. Orakel, die wie Zeichen funktionieren und wie diese nach Deutung verlangen. Was Blitz und Donner für Zeus, das ist die Sprache der Pythia für Apollon. Auf bemerkenswert ähnliche Weise wird der mantische Vorgang in Delphi ungefähr zur gleichen Zeit im Corpus Theognideum beschrieben. Dort heißt es, dass der zum Heiligtum gesandte Mann auf der Hut sein muss, „wenn ihm die Priesterin des Gottes in Pytho weissagend die Gottesstimme aus dem prächtigen Adyton übermittelt“. 53 Dass Theognis dem σηµαίνειν mit ὀµφήν ein Objekt gibt, dass er damit die Handlung der Pythia ausdrücklich als Sprachakt kennzeichnet, bedeutet keinen gravierenden Unterschied im Vergleich zu Heraklit; die Gottesstimme redet in Hexametern und bleibt für den Menschen zeichenhaft und interpretationsbedürftig. 54 Passenderweise führte Apollon daher den Beinamen Λοξίας, von λοξός – „krumm“, „schief“, „schräg“.55 51 Zur Mehrdeutigkeit der Orakelsprache und ihrer Bedeutung: MARINATOS, 1981; MORGAN, 1990, 156–158; FLOWER, 1991, 65 f.; VOGT, 1998, bes. 37–41; GIULIANI, 2000; KINDT, 2016, bes. 159–164; FLOWER, 2008b, 233 f. 52 Heracl. (DK 22), B 93: ὁ ἄναξ οὗ τὸ µαντεῖὸν ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει ἀλλὰ σηµαίνει. 53 Theogn., 805–808: τόρνου καὶ στάθµης και γνώµονος ἄνδρα θεωρὸν / εὐθύτερον χρὴ ἔµεν, Κύρνε, φυλασσόµενον, / ὧιτινί κεν Πυθῶνι θεοῦ χρήσασ’ ἰέρεια / ὀµφὴν σηµήνηι πίονος ἐξ ἀδύτου. 54 Auch Hdt., VI 123,2 und VII 142,2 benutzt das Verb (προ-)σηµαίνειν, um die Kommunikation der Pythia zu charakterisieren. 55 Cornutus, Theol. Graec. Comp. 32,7 (67,14 f. Lang); Plut., Garr. 17, 511b; Plut., Pyth. or. 25, 407a. Die Etymologie wird zwar erst bei späteren Autoren überliefert, ist aber so naheliegend, dass ihr Bewusstsein in früherer Zeit ohne weiteres vorausgesetzt werden kann.
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Der Beiname brachte zum Ausdruck, dass die λοξότης als Wesenseigenschaft Apollons angesehen und selbstverständlich hingenommen wurde. Die Schwierigkeiten, die Orakel dem menschlichen Verständnis bereiteten, bekräftigten ihre göttliche Herkunft. Der Gott spricht zwar griechisch, ist aber gleichwohl gelegentlich schwer verständlich.56 Erst seit hellenistischer Zeit wurde Apollon für seine Dunkelheit kritisiert, und es dauerte bis in die Kaiserzeit, bevor er dafür in Schriften eines Lukian von Samosata oder Oinomaos von Gadara oder Diogenes von Oinoanda sogar der Lächerlichkeit preisgegeben wurde.57 Wie sehr die Ambiguitätserwartung zur Glaubwürdigkeit der Orakel beitrug, zeigen nicht nur Fälle, in denen sich angeblich Vorhersagen auf überraschende Weise erfüllten, sondern auch eindeutige Sprüche, die von den Adressaten metaphorisiert, allegorisiert oder sonstwie verrätselt wurden. Für diese hermeneutische Einstellung präsentiert Platon mit Sokrates in der Apologie ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Das delphische Orakel hatte Sokrates angeblich als weisesten Menschen bezeichnet und damit eine Aussage getroffen, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig ließ. Sokrates aber fragte sich vor den athenischen Geschworenen, welche Aufgabe ihm der Gott da wohl gestellt habe. Er selbst war es also, der das Orakel in ein Rätsel und eine Prüfung verwandelte und mit Hintersinn ausstattete. Mit diesem Manöver versuchte Sokrates, die vorausgesetzte Wahrheit des Orakels zu stabilisieren, denn im vordergründigen Sinne konnte es seiner Meinung nach nicht stimmen.58 Dass seine Argumentation einem geläufigen oder doch zumindest bekannten Muster folgte, zeigen zahlreiche Fälle der Orakel- und Zeichendeutung, bei denen sich in der öffentlichen Debatte die lectio difficilior gegenüber der nächstliegenden Bedeutung durchsetzte.59 Die zugrunde liegende hermeneutische Einstellung verstand Orakel grundsätzlich als Aufforderung zur Selbsterkenntnis und verlieh ihnen damit geradezu philosophische Dignität. Insofern trug auch die tatsächliche oder mögliche Mehrdeutigkeit der Sprüche zur Legitimität des Orakels bei.
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Vgl. Aeschyl., Ag. 1254 f. Vgl. Cic., Div. II 111; Plut., Pyth. or. 10, 398f–399a; Oinomaos von Gadara, Frg. 4, 32–35 (HAMMERSTAEDT, 1988, bes. 152 f.); siehe in diesem Band den Beitrag von Hammerstaedt, unten S. 421–429. 58 Plat., Apol. 20e–23b; in seiner ersten Reaktion fragt sich Sokrates: „Was meint wohl der Gott, und was deutet er dunkel an?“ (21b: τί ποτε λέγει ὁ θεὸς καὶ τί ποτε αἰνίττεται;); vgl. ROBERTS, 1984, 122. Andere Fälle bespricht MAURIZIO, 2013b, 68–70. 59 Vgl. MAURIZIO, 2013b, 73–75. 57
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5. Die Überlieferung Die meisten Orakel haben bis zu ihrer literarischen Fixierung einen langen Weg zurückgelegt. Die eigentliche Orakelkonsultation in Delphi erschöpfte sich, wie wir gesehen haben, in einer mündlichen Kommunikation: Auf die mündliche Frage der Konsultanten antwortete die Pythia mündlich. In Delphi gab es kein Archiv, in dem die Sprüche der Pythia dokumentiert wurden. Funktional betrachtet lag es nicht im Interesse der Delpher, Dokumente zu produzieren, die allenfalls zur Falsifikation des Orakels dienen konnten. Für die Fragesteller, die sich im System der griechischen Mantik bewegten und die Autorität des Orakels selbstverständlich anerkannten, erfüllten sich die Sprüche immer irgendwie, irgendwann, nicht selten auf überraschende Art und Weise.60 Die Repräsentanten des Heiligtums brauchten daher die unvermeidliche ‚Erfüllung‘ nur abzuwarten und konnten darauf vertrauen, dass die Klienten davon erzählen und so unwillkürlich zum Ruhm des Orakels beitragen würden. Den Delphern musste eine Dokumentation der Orakelantworten daher überflüssig erscheinen. Aus ihrer Sicht war die mantische Kommunikation eben nicht mit der Erteilung des Spruches, sondern mit dessen Erfüllung beendet. Für die (mündliche oder schriftliche) Überlieferung war daher die ex eventu-Perspektive konstitutiv. Erst als Bestandteil einer Geschichte wurden einzelne Antworten der Pythia in der Erinnerung aufgehoben. Daran hatte naturgemäß auch ‚Delphi‘ selbst einen Anteil, der m.E. jedoch in der Forschungsliteratur oft maßlos übertrieben wird. Bekanntlich gab es Fälle, in denen sich die delphischen Repräsentanten aus guten Gründen zur Apologie veranlasst sehen konnten. Einem Besucher des Heiligtums, der etwa die vielen prächtigen Weihgaben und Geschenke des lydischen Königs Kroisos bewunderte, musste erklärt werden, warum es mit dem König trotz seiner frommen Großzügigkeit kein gutes Ende genommen hatte. Solche Erklärungen in Form von Geschichten bekam offenbar auch der Besucher Herodot zu hören. Doch selbst in seinem lydischen Logos hat Herodot zweifellos auch Informationen anderer Herkunft verarbeitet.61 Die erstaunliche Tatsache, dass die Perser das Heiligtum von Delphi mit all seinen Schätzen verschont hatten, mochte ebenfalls einen gewissen Rechtfertigungsdruck ausgelöst haben. So erzählten die Delpher eine erbauliche Geschichte, die die Rettung Delphis mit dem unmittelbaren Ein-
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MAURIZIO, 2013b, 70, charakterisiert die hermeneutische Grundhaltung der Orakelrezipienten: „(...) all adhere to the same premise, namely that once spoken, an oracle is true. This belief or premise did not entail a slavish obedience to the divine word, but instead encouraged its opposite: namely interpretation.“ 61 JACOBY, 1913, 420–423; FLOWER, 1991, bes. 70–73. 77.
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greifen Apollons begründete.62 Andererseits zeigt aber gerade die persische Invasion Griechenlands, dass das delphische Orakel in der patriotischen Erinnerung der beteiligten Poleis von Anfang an einen hervorragenden Platz einnahm. Wie die Weihungen der siegreichen griechischen Städte jedermann vor Augen stellten,63 stand Delphi nach den Schlachten der Jahre 480 und 479 auf dem Höhepunkt seines panhellenischen Ruhmes und konnte die Traditionsbildung getrost anderen überlassen. Für die Überlieferung sorgten in der Regel vielmehr diejenigen, die die Mühen und Kosten einer Reise nach Delphi auf sich nahmen, um das Orakel zu befragen. Für sie lag, zumindest bei offiziellen Missionen, das Aufschreiben des Orakelspruchs nahe, und tatsächlich berichtet Herodot gelegentlich von einem solchen Vorgang.64 Eine effektive Kontrolle der Gesandten wurde durch dieses Verfahren kaum erreicht; diese war eher dadurch gewährleistet, dass immer mehrere Gesandte zum Orakel geschickt wurden, die der Konsultation gemeinsam beiwohnten. Das Aufschreiben sollte vielmehr die präzise Übermittlung der Gottesbotschaft sichern. 65 Der genaue Wortlaut musste umso wichtiger erscheinen, je interpretationsbedürftiger ein Orakelspruch war, wie etwa das berühmte Beispiel der „hölzernen Mauern“ und der „göttlichen Salamis“ zeigt. Die Diskussion und geradezu philologische Interpretation solcher Formeln in der athenischen Volksversammlung setzt die Annahme voraus, dass die Orakel als authentische Gottesworte betrachtet wurden. Eine schriftliche Fassung dürfte daher bei offiziellen Orakelkonsultationen mit zunehmender Häufigkeit angefertigt worden sein, auch wenn es die Quellen aus Gründen der Ökonomie selten ausdrücklich vermerken. Nach ihrer Rückkehr verkündeten die Boten das Orakel dem intendierten Adressaten – ὡς δὲ ἀπελθόντες οἱ θεοπρόποι ἀπήγγελλον ἐς τὸν δῆµον, wie es in dem gerade zitierten athenischen Fall bei Herodot heißt.66 Die schriftliche Fassung, die die Boten aus Delphi mitbrachten, diente dabei nur als Hilfsmittel für den endgültigen Sprechakt vor den eigentlichen Adressaten. 67 Aus diesem Grund 62
Hdt., VIII 36–39; vgl. TRAMPEDACH, 2019, 157–162. Vgl. ferner im vorliegenden Band Nesselrath, unten S. 372–374. 63 Hdt. VII 132,2; VIII 121–122; IX 81,1; vgl. GAUER, 1968, bes. 127; JACQUEMIN, 1999, 250–254. 64 Hdt., I 47,1; I 48,1; VII 142,1; VIII 133–135. 65 Dass es auch bei mündlicher Übermittlung auf die Vergegenwärtigung des genauen Wortlauts ankommt, bezeugt im Hinblick auf delphische Orakel bereits Theogn., I 805– 810: Im Fall von Hinzufügungen oder Auslassungen sei das Orakel kein Heilmittel, sondern stifte Verwirrung; vgl. LABARBE, 1994, bes. 227–230; RUTHERFORD, 2013, 93–95. 106–109. 66 Hdt., VII 142,1. 67 NAGY, 2003, 33, hat auf die Bedeutung der öffentlichen Verkündung für die Orakelkommunikation hingewiesen: „[...] the force of an oracular statement is not activated, the words do not become a completed speech-act, until they are performed before the audience for whom it was intended“.
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haben Herodots athenische Boten das erste Orakel, das sie von der Pythia erhielten, gar nicht erst aufgeschrieben. Dieses Orakel bot ihrer Meinung nach nämlich keinen akzeptablen Ausweg aus der kritischen Situation an. Deshalb entschieden sie sich auf Rat des Delphers Timon, die Pythia ein zweites Mal, jetzt als Schutzflehende, um einen Spruch zu bitten; erst diesen zweiten Spruch, der ihnen, wie Herodot sagt, milder zu sein schien, schrieben sie auf, um ihn dem versammelten Volk von Athen zu verkünden und dadurch in Kraft zu setzen. Da Herodot beide Orakelsprüche vollständig in Versform zitiert, kann er seine Informationen nicht aus der schriftlichen Fassung der athenischen θεοπρόποι bezogen haben. Nichts deutet in diesem wie in anderen Fällen des 6. und frühen 5. Jahrhunderts v. Chr. darauf hin, dass Antworten aus Delphi in schriftlicher Form offiziell aufbewahrt wurden.68 Da die Verschriftlichung der Orakelantwort, die die Boten in Delphi nach der Konsultation eventuell vornahmen, ein bloßes Mittel zum Zweck gewesen ist, bestand nach der Verkündigung auch kein Grund zur Aufbewahrung.69 Nach der Verkündigung waren Orakel nicht nur vielfältiger Deutung zugänglich, sondern im Zuge der mündlichen Überlieferung mit der Zeit auch gegen inhaltliche Veränderungen nicht gefeit. Natürlich ist dabei der Wortlaut eines Orakels häufig vom Ausgang des Ereignisses, auf das sich der Spruch bezog, beeinflusst worden. Schließlich verlangte die narrative Konvention in jedem Aggregatzustand nach der Erfüllung des Orakels. Ein Orakel, das sich nicht erfüllt hatte, wurde nicht erzählt. Die delphischen Orakelsprüche waren integraler Bestandteil von Orakelgeschichten, die in den Gemeinden entstanden und konstruiert wurden, auf die sie sich bezogen, und nicht in Delphi.70 Ein markantes Beispiel sind die delphischen Orakelsprüche, die Herodot zur Vor- und Frühgeschichte von Kyrene zitiert. Sie verraten Spuren dorischen Dialekts und können daher in dieser Form in Delphi kaum gesprochen worden sein. 71 Dieser sprachliche Befund deutet darauf hin, dass selbst die eigentlichen Orakelsprüche und nicht nur die sie umgebenden Geschichten häufig aus der lokalen Tradition in die Geschichtsschreibung gewandert sind. Dies liegt auch deshalb nahe, weil die Sprüche ja meistens unmittelbar mit den Geschichten verbunden waren. Dabei begünstigte die gebundene Sprache der meisten Orakel ihre mündliche 68
Kultvorschriften, die von Orakeln sanktioniert wurden, erscheinen seit der Mitte des 5. Jahrhunderts auf (vornehmlich attischen) Inschriften. Eine regelrechte Archivierung hat wohl frühestens mit dem Anfang des Archivwesens überhaupt eingesetzt, d.h. in Athen seit dem Ende des 5. Jahrhunderts, in anderen Poleis wohl eher noch später: vgl. TRAMPEDACH, 2015, 443–447. 69 Zumal auch die Kraft und die Wirksamkeit eines Orakels anders als bei Eiden, Verfluchungen oder Weihungen nicht von einer materiellen Dokumentation oder einem gegenständlichen Beleg abhängig waren: vgl. STEINER, 1994, 81 f.; THOMAS, 1992, 78–88. 70 Vgl. MALKIN, 1987, 6 f.; GIANGIULIO, 2001; GIANGIULIO, 2010. 71 Hdt., IV 155,3; IV 157,2; IV 159,3; vgl. GIANGIULIO, 2001, 130.
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Bewahrung im Gedächtnis der betroffenen Gruppe,72 ohne dass nicht mehr fassbare schriftliche Formen der Überlieferung gänzlich auszuschließen sind. Eine offizielle Archivierung fand anscheinend jedoch bei den Kyrenaiern ebensowenig statt wie bei den anderen Gemeinden, die delphische Botschaften empfingen. Zu betonen, dass die Überlieferung von (delphischen) Orakelsprüchen im Wesentlichen auf lokaler mündlicher Überlieferung basierte, heißt nicht, den Autoren Gestaltungsmöglichkeiten bei der Darstellung abzusprechen. Im Gegenteil: Gerade Orakel (und andere mantische Phänomene) haben, wie sich immer wieder zeigt, eine hohe Funktionalität in literarischen Kontexten; deshalb sind Orakel- und Zeichengeschichten in der erzählenden Literatur der Antike so populär. In literarischen Kontexten können Orakel beispielsweise zur Lesersteuerung, zur Charakterisierung wichtiger Handlungsfiguren, zur Erklärung außergewöhnlicher Ereignisse, zur Illustration ethischer Überzeugungen oder in aitiologischer Funktion eingesetzt werden.73 Doch wichtiger als diese Beobachtung erscheint mir im Hinblick auf die Legitimitäts-problematik folgendes: Zwar sind delphische Orakelgeschichten eingebettet in die literarischen Strategien der Autoren, aber entkleidet man diese Geschichten von allem narrativen Ornament, bleibt nahezu immer die gleiche Handlungsfolge übrig. Lisa Maurizio beschreibt sie so: Es gibt ein Problem oder eine Krise; man schickt Gesandte nach Delphi, um den Gott zu befragen; die Gesandten übermitteln das Orakel dem oder den Adressaten, die es interpretieren und dementsprechend handeln – das Orakel erfüllt sich, sei es zum Wohl oder zum Schaden des Fragestellers.74 Der ewig gleiche Plot und der stereotype Gebrauch der einzelnen Elemente lassen sich nur als Ergebnis der Strukturierung in der mündlichen Kommunikation erklären.
6. Die Unmöglichkeit einer ‚delphischen Politik‘ Wie die nähere Betrachtung der Umstände der Orakelerteilung und Orakelüberlieferung gezeigt hat, sind Aussagen, die ‚Delphi‘ oder die delphische ‚Priesterschaft‘ mittels des Orakels explizit oder implizit zum politischen Akteur im archaischen oder klassischen Griechenland erheben, oberflächlich und irreführend. Die vermeintliche Gegenannahme, die das Orakel allein auf die Funktion reduziert, bereits getroffene Entscheidungen zu sanktionieren, widerspricht allerdings ebenso dem Quellenbefund, wonach das Orakel zahlreiche darüber hinausgehende Weissagungen aussprach. Außerdem wird 72
Die mnemotechnische Funktion der Versform bei Orakeln betont etwa Plut., Pyth. or. 27, 407f; vgl. auch schon Plat., Phaedr. 267 a; Aristot., Rhet. III 9, 1409 b 6 f. 73 Vgl. ROBERTS, 1984, 32 f. 122; TRAMPEDACH, 2015, 254–257; KINDT, 2016. 74 MAURIZIO, 1998, 137.
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diese Annahme den dargelegten Phänomenen der dichterischen Form und der Mehrdeutigkeit nicht gerecht. Wenn man einerseits die Quellen ernst nimmt, andererseits aber nicht an Apollon glaubt, dann bleibt, wie schon Plutarch erkannt hat, nichts anderes, als die delphischen Orakel auf die Pythia zurückzuführen.75 Während der Konsultation sprach oder sang die Pythia in deutlicher Artikulation häufig mehrdeutige Verse. Wie ist das möglich gewesen? Musste eine solche Aufgabe die Pythia nicht überfordern? Die Frage ist zu verneinen, wie auch anthropologische Vergleiche nahelegen.76 Gerade die Formelhaftigkeit der Orakelsprache versetzte ein Medium wie die Pythia in die Lage, selbständig in metrischer Form zu weissagen, und ermöglichte ihr gleichzeitig, spontan und flexibel auf die situationsbedingten Erfordernisse der Orakelkonsultation zu reagieren. Selbstverständlich muss man dabei voraussetzen, dass die Pythien, die ja möglichst unbedarft und unverbildet sein sollten, vor Beginn ihrer Orakeltätigkeit von ihren Vorgängerinnen mit dem Rhythmus und Wortschatz der Göttersprache vertraut gemacht wurden. Die Vermutung von Parke und Wormell, die zukünftige Pythia sei in den Reihen einer Art Seherinnengilde mit verteilten Funktionen und graduellen Abstufungen auf ihre Tätigkeit vorbereitet worden, erscheint daher nicht abwegig.77 Freilich waren nicht alle Pythien in gleicher Weise poetisch begabt, und so erklärt sich, dass manche Orakelsprüche als ausgesprochen schlechte Dichtung gelten müssen. Schon der Philosoph Diogenianos bemerkte in Plutarchs Dialog De Pythiae oraculis, er habe sich oft über die Dürftigkeit der Verse gewundert, die die Orakel übermittelt haben; obwohl doch der Gott als Führer der Musen Homer und Hesiod bei weitem übertreffen müsse, seien viele Orakel voller Fehler und Geschmacklosigkeiten.78 Was für den antiken ‚Gläubigen‘ ein Problem darstellte, erlaubt uns, die überlieferten Sprüche als zuverlässige Abbilder der Orakelkommunikation zu verstehen. Die Qualität der Verse war eben auch von dem poetischen Talent und der Tagesform der Pythien abhängig. Dass es dabei zu großen Leistungsschwankungen und -unterschieden kam, kann nicht verwundern. Relativ oft – so dürfen wir unterstellen, denn anders wäre der Ruhm des Orakels nicht zu erklären – haben die Pythien allerdings mit ihrer performance und ihren Sprüchen die Bedürfnisse und Erwartungen ihrer Klienten erfüllt. Gelegentlich haben sie sich sogar, wie erwähnt, zu Beginn oder während der mantischen Sitzung spontan geäußert. Dies konnten sie sinnvoller75
Plut., Pyth. or. 21–23, 404c–406b; Plut., Def. or. 9, 414e; vgl. TRAMPEDACH, 2020, bes. 120–122. 76 Vgl. MAURIZIO, 1995, 72–76. 77 PARKE/WORMELL, 1956 I, 35 f.; vgl. FAUTH, 1963, 524. 78 Plut., Pyth. or. 5, 396d: τοὺς δὲ πολλοὺς τῶν χρησµῶν ὁρῶµεν καὶ τοῖς µέτροις καὶ τοῖς ὀνόµασι πληµµελείας καὶ φαυλότητος ἀναπεπλησµένους. Vgl. FLOWER, 2008b, 235–239.
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weise nur dann tun, wenn sie Informationen über die Fragesteller und ihre Anliegen hatten. Solche Informationen konnten vermutlich in den abgeschirmten Bereich der Pythia durchsickern, weil die meisten Klienten mehrere Tage vor der Befragung in Delphi eintrafen; außerdem benötigten die Fragesteller einen delphischen proxenos und kamen infolge ihrer kultischen Verpflichtungen auch zwangsläufig in einen näheren Kontakt mit den Delphern.79 Durch diesen Kontakt, so ist anzunehmen, erlangte die Pythia zumindest ungefähre Kenntnisse, die ihr halfen, während einer ‚mantic session‘ in Ekstase eine angemessene und treffende Botschaft zu formulieren. Über eine mögliche Zugänglichkeit der Pythia erfahren wir nur im Kontext mit den vergleichsweise wenigen Fällen, in denen die Quellen eine irreguläre Orakelkonsultation beschreiben. Daran ist zunächst einmal bemerkenswert, dass sich die Bestechungsversuche, von denen die Überlieferung berichtet, ausnahmslos an die Pythia richteten. Sie musste bestochen werden, nicht irgendwelche delphischen Funktionäre, was ebenfalls beweist, dass allein sie die Orakel sprach.80 Doch ohne einheimische Hilfe konnte kein Fragesteller zu der Pythia vordringen. Herodot erzählt zwei Episoden, die in diesem Zusammenhang besonders instruktiv sind. In dem einen Fall gelang es dem Spartanerkönig Kleomenes, die Pythia mit Hilfe eines sehr einflussreichen Delphers namens Kobon, Sohn des Aristophantos – Herodot nennt ihn ἄνδρα ἐν Δελφοῖσι δυναστεύοντα µέγιστον – zu bestechen und auf diese Weise das gewünschte Orakel zu erhalten. Als die Delpher später von der Manipulation erfuhren, schickten sie Kobon in die Verbannung und entfernten die beteiligte Pythia aus ihrem Amt.81 In dem anderen Fall war es der sehr angesehene Delpher Timon, Sohn des Androbulos – Herodot verwendet eine ähnliche Formulierung wie im ersten Fall: τῶν Δελφῶν ἀνὴρ δόκιµος ὅµοια τῷ µάλιστα –, der den Athenern, die wegen der bevorstehenden persischen Invasion das Orakel konsultierten, nach der deprimierenden ersten Botschaft riet, nicht in Verzweiflung zu verharren, sondern das Orakel ein zweites Mal als Schutzflehende zu befragen.82 Eine Einflussnahme durch delphische Honoratioren war also grundsätzlich möglich, wurde aber als große Ausnahme verstanden. Während sich die Einflussnahme im zweiten Fall lediglich auf das Verfahren bezog und durch die außergewöhnlichen Umstände gerechtfertigt erscheinen konnte, zielte sie im ersten Fall auf die Pythia und den Orakelspruch und wurde daher als illegitim betrachtet und behandelt. Wäre diese Art der Beeinflussung die Regel gewesen, hätte sich die delphische Elite einen permanenten Kampf um das ‚Ohr‘ der Pythia geliefert. Dass dies keine Weiterungen über Delphi hinaus gehabt hätte und außerhalb Delphis nicht 79
Siehe oben Anm. 16. Siehe oben Anm. 10. 81 Hdt., VI 66,3. 82 Hdt., VII 140,2. 80
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bekannt geworden wäre, ist nach allem, was wir über griechische Konflikte dieser Art wissen, undenkbar. Ich schließe daraus, dass die Pythia vor einer mantischen Sitzung zwar über diskrete Kanäle Informationen über die Klienten erhielt, nicht aber von einflussreichen Delphern oder irgendwelchen ‚Priestern‘ im Sinne einer ‚delphischen Politik‘ instruiert wurde. Dafür spricht schließlich noch eine grundsätzliche Überlegung: Eine konsistente und aktive Politik, eine Parteinahme zu Gunsten dieser oder jener Macht hätte sich für die Delpher angesichts der Vielzahl der politischen Akteure in Griechenland langfristig nicht ausgezahlt, sondern die Glaubwürdigkeit des Orakels beeinträchtigt und das Ansehen des Heiligtums beschädigt. Vielmehr hatten die Delpher ein naheliegendes Interesse an der Unabhängigkeit (und Zugänglichkeit) ihres Heiligtums, und daher bemühten sie sich in der Regel, jeden Anschein von Parteilichkeit zu vermeiden.83 Dementsprechend galten die komplizierten Bestimmungen, die den Zugang zum Orakel regelten, für alle Klienten. Zwar konnten die Delpher besonders wichtigen oder hilfreichen und großzügigen Staaten oder Herrschern das Privileg der promanteia erteilen, das diesen erlaubte, das Orakel vorrangig (d.h. zu gleichen Bedingungen wie sie selbst) zu konsultieren. Damit besaßen die Delpher ein flexibles Instrument, um den jeweils herrschenden Machtverhältnissen oder ihrer Dankbarkeit symbolischen Ausdruck zu verleihen, ohne jedoch die Orakelbefragung selbst zu tangieren.84 Folglich ist es sinnlos, eine Frage wie die nach der Haltung ‚Delphis‘ zur archaischen Tyrannis zu stellen. Selbstverständlich hat man in Delphi die Orakelboten der Tyrannen im 7. und 6. Jahrhundert genauso bedient wie alle anderen wichtigen Fragesteller auch. Die überlieferten Antworten der Pythia aber lassen weder eine prinzipielle Tyrannenfeindschaft noch ein übermäßiges Wohlwollen erkennen; gegenteilige Annahmen werden dem widersprüchlichen Befund nicht gerecht und ignorieren die Voraussetzungen der Orakelerteilung. 85 Ebenso beruht die Behauptung eines angeblich regelmäßigen 83
Vgl. PARKER, 1985, 300 f.303 f.324–326; PRICE, 1985, 131. Neben anderen erhielten Spartaner und Athener (Mitte des 5. Jahrhunderts), Thebaner (um 360) und Philipp II. von Makedonien (346) zur Zeit ihrer jeweiligen Vorherrschaft das Recht der Promantie: vgl. POUILLOUX, 1952, bes. die Liste 484–492; ROUX, 1976, 76 f.; SÁNCHEZ, 2001, 106 f. 166 f. 239 f.; BOWDEN, 2005, 17. 85 Daher geht DE LIBERO, 2001, 20, die ‚Delphi‘ ein „kooperatives Verhalten“ gegenüber den archaischen Tyrannen zuschreibt, ebenso fehl wie die These von der prinzipiellen Tyrannenfeindschaft Delphis (vgl. z.B. PARKE/WORMELL, 1956 I, 114–124), die sie kritisiert. Ferner bleibt unklar, auf welche Weise sich Funktionszuschreibungen wie die von SNODGRASS, 1986, 53, mit der Orakelprozedur vereinbaren lassen: „Delphi was evidently acting as the main central clearing house for information of a geographical and political kind which was of potential value to many different cities and their governments; it was also being used as an instrument of persuasion by pressure groups“; vgl. dagegen MORGAN, 1990, 172–180; OSBORNE, 1996, 202–207; BOWDEN, 2005, 26–28. 84
Die Legitimität des delphischen Orakels
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„Medisierens“, „Lakonisierens“, „Philippisierens“ etc. der Pythia auf anachronistischen Konstruktionen, die über die Bedingung ihrer Möglichkeit keine Rechenschaft abgelegt haben. Die von Herodot überlieferten Orakelsprüche, die nach einer immer wieder geäußerten Forschungsmeinung Delphis medismós belegen,86 müssen aus den dargelegten grundsätzlichen Erwägungen im Kontext der lokalen Geschichten verstanden werden, in die sie eingebettet waren; diese Geschichten wiederum verraten ein leicht durchschaubares Kalkül, in dem das Orakel im Nachhinein, auch von den Delphern selbst, zu apologetischen oder aitiologischen Zwecken instrumentalisiert wurde. Außerdem bemerkten die Mitglieder des Hellenenbundes ein „Medisieren“ der Delpher oder der Pythia oder des Gottes offenkundig nicht, denn sonst hätten sie nicht (und noch dazu anscheinend ohne jede Diskussion) einen beträchtlichen Teil der Perserkriegsbeute in das Apollon-Heiligtum von Delphi geweiht. 87 Ebenso wäre unter der Prämisse einer lakonisierenden Pythia schwer verständlich, warum den Athenern im Peloponnesischen Krieg die Erreichbarkeit und Unabhängigkeit der Orakelstätte so sehr am Herzen lag, dass sie sich beides im Nikias-Frieden sogar an erster Stelle garantieren ließen.88 Dagegen ist der Vorwurf des „Philippisierens“ ernster zu nehmen, denn er ist immerhin schon von dem Zeitgenossen Demosthenes erhoben worden, stammt aber aus einem polemischen Kontext, der keinesfalls außer Acht gelassen werden darf.89 Seit dem 6. Jahrhundert war in der griechischen Welt allgemein anerkannt, dass das delphische Heiligtum über eine Quelle göttlicher Weisheit verfügte. Das Erfolgsrezept, dem die Delpher folgen sollten, legt schon der Dichter des homerischen Apollon-Hymnos dem Gott als „einfaches Wort“ (ῥηΐδιον ἔπος) in den Mund: „Jeder nehme ein Messer zur Hand, um je nach Bedarf ein Schaf zu schlachten. Es wird mir ja Schlachtvieh in riesigen Mengen
86
Einige Beispiel: PARKE/WORMELL, 1956 I, 165–179.188 f.233–243; BURKERT, 2011, 182; MURRAY, 1980, 231 (siehe oben Anm. 2); GEORGES, 1986 hält Themistokles für den eigentlichen Urheber der Orakel, die Athen vor der persischen Invasion 480 erhielt. KIENAST, 1995, bes. 126.129 f., bezweifelt zwar die „medische Gesinnung“ der Pythia 481/80, führt die angeblich defätistischen Orakel aber wie selbstverständlich auf taktische Erwägungen und Motive (wie Verzweiflung) „der delphischen Priesterschaft“ zurück. GIULIANI, 2001, 55–77, erklärt die angebliche Parteinahme Delphis für die Perser mit dem Einfluss der Thessaler, „detentori della maggioranza anfizionica e dunque del controllo sul santuario: sostenitori ed alleati dei Persiani“ (77). 87 Siehe oben Anm. 63. Vgl. außerdem PARKER, 1985, 317 f.; PRICE, 1985, 153; VOGT, 1998, 35–f. 88 Thuc., V 18,2; vgl. IV 118,1–2; Ar., Av. 188 f.; PARKER, 1985, 325 f.; BOWDEN, 2005, 26–28. 38. 89 Vgl. Aeschin., Or. 3,130; Plut., Dem. 20,1; Analyse des Kontextes bei TRAMPEDACH, 2015, 281–293.
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dargebracht werden von allen berühmten Völkern der Menschen. Haltet mir sonst den Tempel in Ordnung, empfangt alle Menschen, welche sich bald hier einfinden werden – so wie ich es wünsche (…).“ 90
Die Delpher brauchten sich also nur um den reibungslosen Ablauf des ‚alltäglichen‘ Betriebs zu kümmern, dann würden Ansehen und Güter („Hekatomben“) von allein kommen.91 Hätten sie versucht, mit Hilfe der Pythia große Politik zu betreiben, hätten sie nicht nur die Akzeptanz des Orakels und die allgemeine Zugänglichkeit des Heiligtums aufs Spiel gesetzt, sondern auch die eigene Unabhängigkeit und Selbständigkeit gefährdet. Doch die Delpher kannten die Bedingungen ihres Erfolges: Sie wussten, dass das delphische ‚Geschäftsmodell‘ verlangte, auf politische Ambitionen, die über die eigenen Angelegenheiten hinausgingen, zu verzichten.
90 Hom. Hymn. Apollon 534–539 (übers. v. L. Bernays): ῥηΐδιον ἔπος ὔµµ’ ἐρέω καὶ ἐπὶ φρεσὶ θήσω. / δεξιτερῇ µάλ’ ἕκαστος ἔχων ἐν χειρὶ µάχαιραν / σφάζειν αἰεὶ µῆλα· τὰ δ' ἄφθονα πάντα παρέσται, / ὅσσα ἐµοί κ’ ἀγάγωσι περικλυτὰ φῦλ’ ἀνθρώπων· / νηὸν δὲ προφύλαχθε, δέδεχθε δὲ φῦλ’ ἀνθρώπων / ἐνθάδ’ ἀγειροµένων καὶ ἐµὴν ἰθύν τε µάλιστα. Vgl. vv. 246–253.285–293. 91 Der Tafelluxus und die Schlemmerei der Delpher war schon im 5. Jahrhundert geradezu sprichwörtlich: vgl. Athen., IV 373c–e (mit Bezug auf Aristophanes und das Satyrspiel Alkmaion des Tragikers Achaios von Eretria).
„Sprache des Temenos“ Weihungen als politische Machtdemonstration Winfried Schmitz 1. Delphi – das kataphýgion des Stefan Andres „Die Bildung ist im Glück ein Schmuck, im Unglück eine Zufluchtsstätte“ – mit diesem Zitat Demokrits von Abdera1 leitet der Schriftsteller Stefan Andres seine unter dem Titel „Sprache des Temenos“ veröffentlichten Auszüge aus seinem griechischen Reisebuch ein, publiziert 1935 in „Die Neue Rundschau. XLVI. Jahrgang der Freien Bühne“.2 Der Autor bereiste im Frühjahr 1934 Mykene, Sparta, Athen und schließlich Delphi.3 Bildung – klassische Bildung – als Zufluchtsstätte in Zeiten des Unglücks, als kataphýgion, das wollte indes nicht recht gelingen.4 Mykene, „die Burg der homerischen Hirten“, wird von Stefan Andres als nationalsozialistischer Führerstaat beschrieben: der König ist alles […] das Volk sieht sogar seine Erfüllung und seinen Sinn in der Aufopferung für den Ersten.“ „Wir stehen auf dem Platze, wo der Volksrat zusammenkam. Sein Rat bestand darin, dem König sein Ja zu geben. Im Kreise ziehen sich die Schachtgräber um den Platz, wachsen in einer Steinbrüstung aus der Erde, in der die Toten dem Rate beiwohnen. Und auch sie sprachen Ja, denn sie waren im Dienste des Herrschers gestor5 ben.
1
Demokrit, DK 68 B 180 (Stob., Ecl. II 31,56; II p. 211 Wachsmuth; Frg. 40 Mansfeld): ἡ παιδεία εὐτυχοῦσι µέν ἐστι κόσµος, ἀτυχοῦσι δὲ καταφύγιον. 2 ANDRES, 1935. Zu weiteren publizierten Texten über seine Griechenlandreise siehe MEID, 2012, 299 Anm. 198. Zum Reisebericht von Stefan Andres in der Neuen Rundschau LOSEMANN, 2013, 834 ff. Vgl. BRAUN, 2006, 49 f. 3 Zu Stefan Andres: KLAPPER, 1995; BRAUN, 2006; vgl. LOSEMANN, 2013, 833 f. 4 Zu Andres’ Griechenlandreise als Flucht in klassische Bildungswelten LOSEMANN, 2013, 838. 5 ANDRES, 1935, 70. Diese Betonung des „Ja“ wird auf die Kampagne der NSDAP zur Volksabstimmung vom 19. August 1934 zurückgehen. Kritisch stellte sich dazu auch der Klassische Philologe Bruno Snell in seinem Aufsatz „Das I-Ah des Goldenen Esels“ (1935), in dem er als Ergebnis formulierte, „daß das einzige wirkliche Wort, das ein griechischer Esel sprechen konnte, das Wort für ‚nein‘ [όχι] war, während kurioserweise die deutschen Esel gerade umgekehrt immer nur ‚ja‘ sagen“. Zum Kontext ZIESKE, 2010.
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NS-Propagandaplakat zur Volksabstimmung über die Vereinigung der Ämter von Reichskanzler und -präsident am 19. August 1934. Reichspropagandaleitung der NSDAP, Deutschland, 1934 © Deutsches Historisches Museum, Berlin Inv. Nr.: P 62/1593 / S. Ahlers
Stefan Andres wendet sich ab von Mykene, „der Blick schweift hinunter in das schon mittägliche Licht, und wo überall die Steinbrocken im zaghaften Gras flimmern, entstehen noch einmal die armseligen Häuser dieses Volkes, wie Lämmer an den Berg geschmiegt, um die Wohnung des großen Hirten, ihres sichtbaren Gottes“.6 Auch Sparta bietet dem Bildungshungrigen kein tröstliches Bild: Der Sinn, auf einer Griechenlandreise Sparta aufzusuchen, besteht nicht darin, von diesem Ort etwas finden zu wollen, sondern vielmehr in der Feststellung, daß dort nichts mehr zu 7 finden ist.
Stefan Andres imaginiert Sparta als einen militärischen Staat, der streng hierarchisch in Herren, Bauern und Sklaven geteilt ist, starr verharrend, da er keine Initiative des Einzelnen zuließ. „Und so wurde der Einzelne ausgeschaltet.“8 Zu engstirnig waren die Spartaner und verkannten, dass sie mit Athen zusammen die Einheit Griechenlands hätten herbeiführen können, doch dies ließ der beschränkte Horizont von „ewigen Junkern“ und „für den Hoplitenberuf gezüchtete(n) Jünglingen“ nicht zu.9 Die Spartaner zeigten eine „unwiderkehrliche, stolze Selbstgenügsamkeit“, „ein imposantes Volk“, das
6
ANDRES, 1935, 70. MEID, 2012, 302–304: „Der mykenische Herrscher erscheint letztlich als die Perversion des guten Hirten.“ 7 ANDRES, 1935, 71. 8 ANDRES, 1935, 72. 9 ANDRES, 1935, 72. MEID, 2012, 302: „Die ‚ewigen Junker‘ sind [für Stefan Andres] die Verkörperung eines letztlich lächerlichen Militarismus und Rassenstolzes.“
„Sprache des Temenos“
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schier unnütz seine geschichtliche Zeit vertue. Sparta, dem jede Geistigkeit abgehe, fröne einer „Hybris aus völkischer Selbstgefälligkeit“.10
Stefan Andres, Unkel 1951 © Archiv der Stefan-Andres-Gesellschaft, Schweich
Und Athen – die „Hochstadt“? Noch in Mykene weilend hatte Stefan Andres vorausgeschaut von der „von den Toten behüteten Ratsmitte“ des Schachtgräberrunds auf den Areopag jenes späten Athen, wo der Pöbel seine Souveränitätsgelüste austobte gegen die 11 besten Griechen und sie der Verbannung und dem Tode überlieferte.
Es habe Anaxagoras, Aspasia, Phidias und Sokrates getroffen, ebenso wie Miltiades, Themistokles und Perikles: Wie diese Männer alle so unsicher lebten, wie sie die Gunst der Menge brauchten, wohl um ihre Unbeständigkeit wissend, wie sie an einem guten Tag alles vollendeten und dann wie Kehricht vom Pöbel beseitigt wurden. … Wie ihre unsterblichen Namen auf die Scherben geschrieben wurden, hoffnungslos der immer urteilshungrigen Spießermoral überliefert, das ist die noch geheimnisvollere Akropolis, die unsichtbare über jedem Volke, und auch in ihr steht als Kern und letzte Lösung das Bild irgendeines Gottes, der das Vergebli12 che segnet.
10
ANDRES, 1935, 73. Zu der im Text liegenden Kritik von Stefan Andres am zeitgenössischen Sparta-Kult LOSEMANN, 2013, 834–838; MEID, 2012, 301: die Auseinandersetzung mit Sparta gerate ihm „zu einer Abrechnung mit Engstirnigkeit und Dummheit, aber auch zur Demaskierung des nationalsozialistischen Spartakults“. Zur Spartakritik in Der Mann von Asteri KLAPPER, 1995, 36f., 109f.; LOSEMANN, 2013, 840–847. Die Kritik an Sparta in Der Mann von Asteri wurde im Vorabdruck in der Frankfurter Zeitung (Mai-August 1937) von der Zensur gestrichen (BRAUN, 2006, 101 f.; KLAPPER, 1995, 109f.). 11 ANDRES, 1935, 70. 12 ANDRES, 1935, 77 f.
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Athen und seine „fadenscheinige Demokratie“13 – ein Volk von Spießern, ein hungriges Untier von Moral, das nur nach dem Taglohn für die Geschworenen giert. Das Ziel der Reise ist, so wie Franz Gratian in dem 1939 erschienenen Roman Der Mann von Asteri über Sparta und Korinth kommt, das Apollonheiligtum in Delphi. Im Mann von Asteri heißt es: „Immerhin, ich weiß [so Franz Gratian zu seinem Sohn Bleicher], diese Reise nach Delphi ist für mich genau so eine Wallfahrt wie für die Menschen der damaligen Zeit. Man kam hierher aus aller Welt mit allen Anliegen und trug sie dem Richterspruch des Gottes vor.“
Und: „Weißt du, was das ist, ein Orakel? Wenn man etwas darauf ankommen läßt.“14 Delphi, als „Mitte und Nabel der Welt“,15 wo für den aus Trier stammenden Katholiken Stefan Andres „die unsichtbare Verbindung mit den Überirdischen wirkt“,16 Delphi als der Ort, an dem sich die beiden von den Weltenenden von Zeus losgeschickten Adler trafen, ein Mythos, den sich der Autor fiktiv von Pythagoras, einem „ebenso frommen wie aufgeklärten Herr(n)“, erklären lässt. „Aber denke, Fremdling [so Pythagoras zum Autor], was die Adler unterwegs alles sehen! Die ganze Welt verlockte sie, und Hellas verlockte mit tausend Orten, aber die scharfäugigen Segler hielten sich nirgends auf, sie landeten mit gleichem Flügelschlag auf den Schul17 tern des Zeus, links und rechts, und der Gott war zufrieden!“
Die Anknüpfung bei den Überirdischen rufe eine Scheu hervor, die aus der Erkenntnis kommt, daß dort Verwandlung, Atem des Lebens, ja, Schicksal gegenwärtig ist, ehe der Mensch 18 beginnt, eine Landschaft in seine Geschichte und sein Schicksal einzubeziehen.
Nachdem sich Stefan Andres abgewendet hat von Mykene, Sparta und Athen, findet er im luftdurchfluteten Tal des Pleistos und auf den Vorbergen des Parnass, dem von Göttern geschaffenen Profil der Landschaft mit kühlen Winden, klaren Quellen, summenden Bienen und weidenden Schafen seine ‚Zuflucht‘, sein kataphýgion. Unnahbare Erhabenheit, gelassene Bereitschaft zum Idyll am Rande seines Wesens, mittägliche Verzücktheit, das milde Abendlicht, die in die Nacht hineinwachsenden Berge, die in den Ring der Schatten hinübergehen, „wie versteinte Götter“ – das ist für Stefan Andres die „Sprache des Temenos“.19 13
ANDRES, 1935, 75. ANDRES, 1939 [1967], 310. Siehe dazu BRAUN, 2006, 63.99–102. 15 ANDRES, 1935, 79 16 ANDRES, 1935, 78. 17 ANDRES, 1935, 78. 18 ANDRES, 1935, 79. 19 ANDRES, 1935, 79. Zur griechischen Landschaft als Rückzugsraum für Stefan Andres siehe MEID, 2012, 299 f. 14
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Griechenland, ja, die ganze antike Welt hörte auf Delphi und sein Orakel und bedankte sich mit Weihgeschenken, die wie ein wunderbarer Wald standen die heilige Straße entlang, an der Südseite des Tempels über dem Abgrund. Welch ein Antrieb für den Bildner, für den pythischen Apoll zu arbeiten, wo das Werk Eigentum des Gottes wurde, und welch eine Möglichkeit für den um Aufträge wie zu jeder Zeit verlegenen Künstler, wenn die 20 hellenische Geistigkeit an dieser Stätte sein Werk sah. Es war die Pracht der Götter, ein herabgefallenes Stück Himmel oder ein in die Höhe entwickeltes Stück Erde. Verwirrung gab es nicht im Wald der Weihgeschenke, sie standen unter freiem Himmel oder in marmornen Lauben, und kein Museumsgeist ordnete sie nach Leitgründen gefälliger Betrachtung, sie wuchsen nach und nach an und waren Teile der Geschichte ihres stolz geliebten Gottes, zu dem die ganze Welt sich hinrichtete. Sein Wind wehte aus der Felsspalte wie ein Wort des Wohlgefallens, und die Griechen waren an dieser Stelle so fromm, daß sie sich selber nicht wiedererkannten. Es war darin diese nationale Frömmigkeit, die einen Gott auf seinem ewigen Boden weiß und ihn zugleich der Welt schenkt mit jenem Stolz der Gebenden, die eben einen Gott und seinen Rat zu ver21 schenken haben.
2. Die antike „Sprache des Temenos“: Delphi als politisches Heiligtum Delphi als Ort in idyllischer Natur, mit der spürbaren Nähe des Göttlichen, an dem die Griechen so fromm waren, dass sie sich selber nicht wiedererkannten – dies ist die Sicht des aus der inneren Emigration schreibenden Stefan Andres, der sein Schicksal in göttliche Hand legt.22 Dass der Wald von Weihgeschenken vor allem aus Kriegsdenkmälern bestand, die in Delphi so dicht wie an keinem anderen Orten Griechenlands versammelt waren, rief sich Stefan Andres nicht ins Bewusstsein. Ist dem heutigen Altertumswissenschaftler diese „Sprache des Temenos“ nicht vernehmlicher, und müssten diese Denkmäler nicht vielmehr als laute, bisweilen aggressive politische Siegespropaganda erscheinen statt als Ausdruck frommer Gesinnung? So sah es jedenfalls auch schon Plutarch, der zu der Statuenweihung der ob ihrer Schönheit gerühmten Hetäre Phryne bemerkt, diese Weihung sei gewiss weniger anstößig als die Denkmäler gegenseitigen Blutvergießens der Griechen: „… so scheinst auch du mir auf gleiche Weise ein Weib, das einen freilich nicht anständigen Gebrauch von seiner Schönheit machte, von dem Heiligtum auszuschließen, während du ohne Unwillen Apollon ringsherum von den Erstlingen und dem Zehnten von Mord, Krieg und Beute umgeben siehst und sein Tempel mit erbeuteten Waffen und Rüstungen der Griechen angefüllt ist. Auch hast du gar kein Mitleid mit den Griechen, wenn du auf den schönen Weihgeschenken die schmählichsten Inschriften liesest: Brasidas und die 20
ANDRES, 1935, 80. ANDRES, 1935, 80. 22 Zu Stefan Andres als Autor der inneren Emigration KLAPPER, 1995, 107–123; ROTERMUND/EHRKE-ROTERMUND, 1999; KLAPPER, 2007; WAGENER, 2007. 21
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Acanthier von den Athenern, die Athener von den Corinthern, die Phocenser von den 23 Thessaliern, die Orneaten von den Sicyoniern, die Amphictyonen von den Phocensern.“
Nach der groß angelegten Neugestaltung des delphischen Apollonheiligtums, die nach dem Tempelbrand von 548/47 v. Chr. erforderlich geworden war24 und bei der eine neue Temenosmauer, die gewaltige polygonale Stützmauer der Tempelterrasse sowie der neue Tempel selbst angelegt wurden,25 füllten sich bis zur und nach der Jahrhundertwende die Areale östlich und südlich der Stützmauer mit Schatzhäusern und Weihungen, unter denen die Weihungen aus Kriegsbeute dominierten. Sie machten Delphi, so formuliert es Anne Jacquemin, zu einem monumentalen Geschichtsbuch der Griechen;26 die „Ruhmesstraße“ gebe Zeugnis von einem „politischen Heiligtum“ Delphi. 27 Noch deutlicher wurde Jakob Burckhardt, der in seiner Griechischen Kulturgeschichte von Olympia und Delphi als „Museen des nationalen Hasses“ spricht.28
3. Weihungen als Spiegel der Perserkriege und ihrer Folgen Pausanias nennt bei seiner ‚Anabasis‘, bei seinem Aufgang zu Tempel und Theater und schließlich zum höher gelegenen Stadion einige Weihungen, die zeitlich den Perserkriegen vorangehen und den Tempelbrand überstanden hatten, so z.B. die kostbaren Kratere, gestiftet vom lydischen König Kroisos.29 Ein Ort des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses wurde Del23
Plut., Pyth. or. 15, 401cd (Übersetzung Chr. N. v. Osiander, G. Schwab). Vgl. Athen., XIII 591b. 24 Hdt., I 50,3; II 180; Paus., X 5,13. Zur Neueinrichtung Ende des 6. und Anfang des 5. Jahrhunderts MAAß, 1993, 89–92.104–106; JACQUEMIN, 1994, 189; SCOTT, 2014, 93–111. Eine ausführliche Darstellung der Geschichte Delphis und seiner Orakelstätte vom 7. Jahrhundert v. Chr. bis in die Spätantike bietet SCOTT, 2014. 25 Zur Beteiligung der Alkmaioniden am Tempelbau Hdt., V 62,2 f. JACQUEMIN, 1994, 189; MAAß, 2007, 50–53; MAAß, 2010, 65; SCOTT, 2014, 98–101. Zur baulichen Ausgestaltung des Apollonheiligtums in der Zeit zwischen 550 und 500 v. Chr. SCOTT, 2010, 56– 72 mit Abb. 3.4; SCOTT, 2014, 94–98. 26 JACQUEMIN, 1999, 78.84–86; dies., 1994, 198: „Delphi war also der Ort einer in Marmor und in Bronze geschriebenen Geschichte.“ 27 FELTEN, 1982, 95. 28 BURCKHARDT, 1956/57, 284. Tonio HÖLSCHER spricht von einem „Denkmälerkrieg“ (1989, 9: „Die Denkmäler in den Heiligtümern bildeten ein dichtes Netz politischer Konkurrenz, in dem die Konstellationen der griechischen Staaten sich spiegelten. Man war sich durchaus bewußt, daß solche Votivdenkmäler immer weniger zur Ehre der Gottheit als zum Ruhm der Menschen dienten“). Nach MAAß, 2010, 63. 29 Nach Paus., X 16,1 f. war von diesen Weihgeschenken nichts mehr übrig als der eiserne Untersatz des Kraters des Alyattes. Nach Hdt., I 14,1–3 befanden sich die goldenen Kratere, nach I 50,3 ein goldener Löwe zu seiner Zeit im Schatzhaus der Korinther; vgl.
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phi aber dann vor allem durch die Weihungen, die die verbündeten Griechen in der Zeit der Perserkriege und unmittelbar danach weihten.30 Pausanias gibt an, dass das Schatzhaus der Athener, das vermutlich über einem Vorgängerbau errichtet und – erstmals außerhalb Attikas – in pentelischem Marmor an einer für den Besucher gut sichtbaren, exponierten Stelle im Heiligtum ausgeführt wurde, aus der Beute der Athener aus ihrem Sieg über die Perser in Marathon errichtet worden sei;31 Pausanias folgerte dies aus einer noch heute erhaltenen Inschrift, die bei der Weihung der Beutestücke kurz nach 490 v. Chr. an dem Schatzhaus angebracht worden war.32 Nach dieser Inschrift wurde das Anathem als Erstlingsgabe (ἀπαρχή) von dem Sieg „über die Meder bei der Schlacht von Marathon“ gestiftet.33 Die mit der Inschrift versehene Basis trug wahrscheinlich zehn Statuen, vermutlich die namengebenden (eponymen) Heroen der athenischen Phylen.34 Indem die Athener im Metopenschmuck den delphischen Herakles mit dem athenischen Heros Theseus verbanden, schufen sie einen besonderen Bezug zwischen ihrem Schatzhaus und dem Apollontempel selbst.35 Einen prominenten Platz hatte die Weihung von goldenen Waffen an den Metopen des Apollontempels selbst erhalten, die aus der Beute der Schlacht von Marathon stammten, möglicherweise aber erst deutlich später dort angebracht wurden.36 Eine 12 Ellen, also etwa 6 m, hohe bronzene Apollonstatue, einen Schiffsschnabel in der Hand haltend, weihten die verbündeten Griechen, die gegen Hdt., I 51,1 f.; zu weiteren kostbaren Weihungen I 51,3–5; Theopomp FGrHist 115 F 193. Dazu MAAß, 1993, 138 f.; JACQUEMIN, 1999, 72 f.; KERSCHNER, 2006, bes. 256–261; SCOTT, 2014, 84; vgl. THONEMANN, 2016. Zu den möglichen Motiven der Weihungen fremder Herrscher KAPLAN, 2006 (zu den lydischen Königen 130–134.141–152). 30 SCOTT, 2010, 77–88 mit Abb. 4.1. 31 JACQUEMIN, 1994, 191 nimmt die Siege in den ionischen Feldzügen als Anlass an. Ihr folgt MAAß, 2010, 71 f. 32 Paus., X 11,5. Zur vieldiskutierten Datierung des Athenerschatzhauses GAUER, 1968, 45–65; MAAß, 1993, 191 mit Anm. 24; SCOTT, 2010, 78 mit Anm. 15; ders., 2014, 112 f. 33 Syll.3 23.A–B; ML 19; HGIÜ I 32. Nach der Inschrift auf der Kalksteinbasis der leicht geänderten Wiederaufzeichnung aus nachklassischer Zeit: „von den Medern dies als Erstlingsgaben der Schlacht bei Marathon“. Zu den diesbezüglichen Inschriftenformularen JACQUEMIN, 1999, 92-94. 34 Dies weil die Basis nach der Vergrößerung um 246 v. Chr. zwölf Statuen trug (JACQUEMIN, 1994, 191; dies., 1999, 186 f.; SCOTT, 2010, 81). 35 SCOTT, 2010, 80: „The Athenian treasury was a carefully constructed dedication designed to impose Athens’ dominance, both within and through Delphic space“. 36 Paus., X 19,4; die Inschrift überliefert Aischines in Gegen Ktesiphon (Or. 3,116): „Weihgeschenk der Athener aus der Beute der Meder und Thebaner, als diese gegen die Hellenen fochten“. Aischines trat dem Ansinnen entgegen, den Athenern eine Strafe aufzuerlegen, weil sie angeblich die goldenen Schilde an dem neuen Tempel vor dessen Einweihung aufgehängt und die Inschrift angebracht hätten. Siehe auch den Kommentar von MEYER, 1989 zu Paus., X 19,4, MAAß, 1993, 137 und SCOTT, 2010, 77 f. zur Dominanz Athens in dieser Phase der baulichen Ausgestaltung des Heiligtums.
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den persischen Großkönig Krieg führten, aus der Beute der Seeschlachten beim Artemision und bei Salamis (480 v. Chr.). Sie stand machtvoll und alles überragend genau dem Tempeleingang gegenüber.37 Michael Scott, der die panhellenischen Heiligtümer in Delphi und in Olympia unter dem Aspekt der räumlichen Bezüge und der inneren Korrespondenzen untersucht hat, hebt hervor, dass der die Tempelterrasse dominierende Apollon der verbündeten Sieger über die Perser nicht nur die jüngste Weihung der Amphiktyonen, sondern auch den samischen Apollon, dessen Stifter auf persischer Seite gekämpft hatten, in den Schatten stellte.38 Dieser kolossale Apollon, in späteren delphischen Inschriften als mégas andriás bezeichnet, hob sich auch von den anderen Weihegaben, die in Olympia, am Isthmos, in Salamis und in Sunion aufgestellt wurden, deutlich ab und begründete Delphi als das für Kriegsbeute und Siegesweihungen herausragende Heiligtum.39 Auch die Peparethier weihten eine Apollonstatue, nach der erhaltenen Inschrift aus Anlass der Eroberung von zwei karischen Schiffen, die vermutlich während der Schlacht von Salamis oder beim Rückzug der persischen Flotte gekapert worden waren; sie wollten sich mit dieser Weihung in den Kreis der ruhmreichen Sieger einschreiben.40 Als eine gemeinsame Weihung der Griechen aus der Beute der Schlacht von Plataiai (479 v. Chr.) stifteten die Griechen einen goldenen Dreifuß auf einer dreifach ineinander gewundenen Schlangensäule in das Heiligtum, ein insgesamt etwa neun Meter hohes Monument, das rechts des Aufstiegs zur Tempelterrasse, gegenüber der Ostseite des Apollontempels, „ganz in der Nähe des Altars“,41 also in unmittelbarer Nähe der großen Apollonstatue aufgestellt wurde.42 Fortan dominierten diese beiden hoch aufragenden Wei37
Paus., X 14,5; Hdt., VIII 121,2. GAUER, 1968, 71 f. Nach JACQUEMIN, 1994, 192, war Delphi allerdings das einzige Heiligtum, in das die Griechen nach dem Sieg von Salamis Weihgeschenke als Kriegsbeute stifteten; vgl. SCOTT, 2010, 81: „The battles of Salamis and Plataia were commemorated at many sanctuaries, but the Delphic celebration was more insistent and developed than elsewhere.“ Vgl. SCOTT, 2014, 119–122: gegenüber der Tempelfront sei eine „Persian Wars zone“ entstanden (121). 38 SCOTT, 2010, 83 mit einer Karte der nach den Perserkriegen aufgestellten Weihungen. Zur politischen Konkurrenz von Votivdenkmälern auch HÖLSCHER, 1974, 72–84. 39 FdD III 5, 22 Z. 30. SCOTT, 2010, 83 f. 40 JACQUEMIN, 1994, 192; dies., 1999, 171; GAUER, 1994, 176: „Die Peparethier … weihten aus der Beute dieser fragwürdigen Heldentat eine Apollonstatue, die sie demonstrativ neben den kolossalen salaminischen Apollon der Hellenensymmachie aufstellten.“ 41 Hdt., IX 81,1; vgl. II 135,4. GAUER, 1968, 75–96; MAAß, 2010, 74. 42 Paus., X 13,9; Hdt., IX 81,1 (ein Zehnter in Form einer kolossalen Zeusstatue [Paus., V 23,1] wurde auch nach Olympia und in Form einer Poseidonstatue dem Gott auf dem Isthmos geweiht). Die Inschrift auf der „Schlangensäule“ Syll.3 31; ML 27; HGIÜ I 42 mit Nennung der Lakedaimonier, Athener, Korinther, Tegeaten, Sikyonier, Aigineten, Megarer, Epidaurier, Erchomenier, Phleiasier, Troizenier, Hermioneer, Tirynthier, Plataier, Thespier, Mykener, Keer, Melier, Tenier, Naxier, Eretrier, Calkidier, Styrier, Eleer, Potei-
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hungen den Platz vor der Tempelfront. Die an die Stützmauer des Apollontempels angelehnte „Athenerhalle“ hatte Beutestücke aufgenommen, Teile der von Xerxes errichteten Brücke über den Hellespont, die die Athener 478 erbeutet hatten.43 Hinzu kamen Beutestücke von Einzelpersonen: der Athener Kallias stiftete ein Weihgeschenk aus eigenen Geldern „aus dem Krieg gegen die Perser“. 44 Themistokles habe dem delphischen Apollon Teile aus der Mederbeute weihen wollen, sei aber abgewiesen worden, als er fragte, ob er sie innerhalb des Tempels aufstellen dürfe.45 Einen Stier weihten die Epidaurier aus der Beute „von den Medern“; ebenso die Plataier, nachdem sie den persischen Feldherrn Mardonios zusammen mit den anderen Griechen abgewehrt hatten.46 Zu Ehren des Skyllis aus Skione und seiner Tochter Hydna weihten die Amphiktyonen Statuen in Delphi, da sie als Taucher die Anker und Sicherungen der Kriegsschiffe der Xerxesflotte am Pelion gelöst hatten.47 Der Altar, dem Apollontempel im Osten vorgelagert, war von den Chiern „bald nach den
daiaten, Leukadier, Anaktorier, Kythnier, Siphnier, Ambrakioten, Lepreaten. Zu der angeblich vorher angebrachten Inschrift des selbstherrlichen spartanischen Königs Pausanias Thuc., I 132,2 f.; vgl. Diod., XI 33,2. Zum Aufstellungsort und zum zugehörenden Sockel MAAß, 1993, 189 f. mit weiterer Literatur; SCOTT, 2014, 121 f. 43 Paus., X 11,6. GAUER, 1968, 101 f. Zur Inschrift Syll.3 29; ML 25; HGIÜ I 25. SCOTT, 2010, 96: „The stoa, coupled with the Athenian treasury, offered the Athenians substantial domination of the Apollo sanctuary’s central zone“. Später kamen weitere Beutestücke aus den ersten Jahren des Peloponnesischen Krieges hinzu, Bugzierat und Schilde vor allem aus dem Seesieg des Phormion über Korinth und dessen Bundesgenossen bei Naupaktos (429 v. Chr.). Die Beutestücke stammten nach der Inschrift, auf die Pausanias verweist, von den verbündeten Peloponnesiern: Elis und Lakedaimon, Sikyon, Megara, Pellene in Achaia, Ambrakia, Leukas und Korinth. JACQUEMIN, 1999, 85, 119, 152; MAAß, 2010, 72. 44 Paus., X 18,1. SCOTT, 2010, 96 f. 45 Paus., X 14,5 f. (εἰ ἐντὸς ἀναθήσει τοῦ ναοῦ). Dazu GAUER, 1994, 173. 46 Paus., X 15,1. SCOTT, 2010, 84. Zu den vom delphischen Apollon von den Aigineten geforderten Beutestücken aus der Seeschlacht bei Salamis Hdt., VIII 121 f.; JACQUEMIN, 1994, 192; dies., 1999, 251; MAAß, 2010, 64; SCOTT, 2010, 84 f.: „Yet it has also been argued that the Aeginetans had been accused of Medisation by the Athenians and so were forced into dedicating at Delphi in order to display monumentally their pro-Greek credentials“. Nach Paus., X 16,6 hätten auch die Karystier aus Euboia einen bronzenen Stier „aus der medischen Beute“ geweiht. Das passt allerdings nicht mit dem Bericht Herodots zusammen, dass Karystos 490 von Dareios unterworfen wurde und dann auf persischer Seite kämpfte; nach den Perserkriegen kauften sie sich von einer Strafe frei, wurden aber dennoch von den Griechen geplündert. 472 gewannen die Athener die Stadt (Hdt., VI 99,2; VIII 112,2 f. und 121,1). SCOTT, 2010, 86 f. 47 Paus., X 19,1.
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Perserkriegen“ geweiht worden – ob auch aus Anlass des Siegs über die Perser lässt sich allerdings nicht sichern.48 Die Perserkriege fanden also einen vielfältigen Niederschlag in der baulichen und statuarischen Ausgestaltung des Heiligtums, geweiht zunächst von den bei Marathon siegreichen Athenern, dann aber auch von den verbündeten Griechen bei den Seeschlachten am Artemision und bei Salamis und schließlich von denjenigen Verbündeten, die den persischen Feldherrn Mardonios bei Plataiai zum Rückzug gezwungen hatten.49 Verfolgt man die von Pausanias für Delphi genannten und durch Inschriften belegten Kriegsweihungen durch das 5. Jahrhundert hindurch, so zeichnet sich eine Entwicklung ab, die stufenweise von eher neutralen Weihungen zu ‚martialischeren‘, den Gegner offen benennenden, ‚national‘ aufgeladenen Denkmälern führt. Schilde und militärische Ausrüstung waren auch bereits vor 490 in das delphische Heiligtum geweiht worden; einige davon befanden sich beim angeblichen Perserzug gegen Delphi 480 als „heilige Waffen“ (ὅπλα ἱρά) im Innern des Tempels.50 Die Perserkriege kommen indes einer Initialzündung gleich; sie gaben den Anstoß für monumentale statuarische Weihungen, die späteren Siegern Vorbilder lieferten. Noch aber blieben die Weihungen auf den verehrten Gott bezogen, waren in ihren Bildern neutral: Es waren Apollonstatuen, Dreifüße, bei dem frühen Anathem der Phoker der Kampf zwischen Apollon und Herakles um den Dreifuß,51 Kratere, Stiere und andere Opfertiere.52 Bereits in das 6. Jahrhundert gehören erste großformatige 48
Nach Ausweis der Inschrift und Hdt., II 135,4. In Hdt., IX 81,1 und Paus., X 14,7 ist der Altar nur kurz genannt. Die Unsicherheit beim Anlass betont auch JACQUEMIN, 1994, 189. 49 Einige der siegreichen Verbündeten sind allerdings nicht mit Weihungen in Delphi vertreten (SCOTT, 2010, 85). Zu den Weihungen, die nach den Perserkriegen in Delphi erfolgten, insgesamt: GAUER, 1968; JACQUEMIN, 1999, 84 f.250–252; SCOTT, 2010, 77– 88. GAUER, 1968, 22, hebt hervor, dass für den Sieg bei Marathon Weihegaben nach Delphi und in athenische Heiligtümer gestiftet wurden, kein monumentales Beuteanathem hingegen ins Heiligtum in Olympia; die Weihung des Zeus sei eine Weihung der Symmachoi nach dem Sieg von Plataiai. 50 Hdt., VIII 37,1: im megaron des naos. Zu Waffenweihungen MAAß, 1993, 132, 137 f.; SCOTT, 2010, 75; ders., 2014, 67–69. 51 Es war eine Weihung aus der Beute eines Krieges gegen die Thessaler (Paus., X 13,7; Hdt., VIII 27,4 f.). JACQUEMIN, 1999, 84; SCOTT, 2010, 75. Zur Weihung von Apollonstatuen, Dreifüßen, Tieren und anderen Objekten JACQUEMIN, 1999, 170–180. 52 Zu Dreifüßen als Weihungen in Delphi MAAß, 1993, 127 f. Dass in Delphi Dreifüße nicht mehr nur als individuelle Statussymbole galten, sondern auch als Zeichen militärischer Siege verwandt wurden, betont SCOTT, 2010, 77. Die Veränderung der Weihegaben hat schon Theopomp konstatiert (FGrHist 115 F 193; vgl. Athen., VI 231f–232b). Zu den für Siege geweihten Dreifüßen im lakonischen Amyklai Paus., IV 14,1–3: Das von den Spartanern geweihte Denkmal aus der Beute des siegreich beendeten (ersten) Messenischen Kriegs bestand aus bronzenen Dreifüßen, einer mit einem Aphroditebild unter dem ersten, einem Artemisbild unter dem zweiten und einem der Kore und Demeter unter dem
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Statuenweihungen wie die Sphinx der Naxier, und es wurden von verschiedenen Städten Schatzhäuser in beide Heiligtümer nach Delphi und Olympia geweiht.53 Doch mit den Perserkriegen setzt eine Veränderung ein: Wurde anfangs auf den Anathemen nur vermerkt, dass es sich um aparchai oder eine dekatē aus Kriegsbeute handelt – so wie es in Olympia üblich blieb –, finden wir in den Inschriften der delphischen Siegesdenkmäler seit den Perserkriegen „die Meder“ explizit als Kriegsgegner benannt.54 Auf den frühen Denkmälern sind es noch die ‚Barbaren‘, doch sollten kurze Zeit später auch Siegesdenkmäler von Kriegen zwischen griechischen Poleis mit expliziter Nennung des griechischen Feindes folgen,55 ja sogar Siegesdenkmäler, bei denen der siegreiche Feldherr mit in das Figurenprogramm aufgenommen und schließlich auch der gefallene, sterbende Gegner dargestellt wurde.56 dritten. Die Dreifüße stellten sie dem Amyklaios auf. Die dabei stehenden, noch größeren Dreifüße waren aus der Beute des Sieges bei Aigos Potamoi geweiht (Paus., III 18,8). 53 FELTEN, 1982, 80f.; MAAß, 2010, 68–74; SCOTT, 2010, 41–69 mit Abb. 3.2. So wie in Delphi Apollonstatuen geweiht wurden, so waren es in Olympia Zeusstatuen; hinzu traten Weihungen von Heraklesstatuen. 54 Möglicherweise gilt dies auch schon für das Anathem der Phoker, für dessen Weihung gemäß Herodot und Pausanias der Sieg in einem Krieg gegen die Thessaler der Anlass war (s. oben Anm. 51; JACQUEMIN, 1999, 52 f.). In das erste Viertel des 5. Jahrhunderts gehört die frühere Weihung der Tarentiner aus einem Sieg über die Messapier: sie zeigte bronzene Pferde und gefangene Frauen (Paus., X 10,6–8; FdD III 1, Nr. 129 f.: [Ταραντ]ῖνο[ι Ἀπόλλωνι ἀπὸ Μεσσαπ]ίων ἑλόντες δεκάταν). Nach FELTEN, 1982, 93 ist für Olympia typisch, dass der Anlass bei den Siegesweihungen nur neutral genannt wird: „als Zehnter von vielen Städten“, „nach einem Erfolg im Krieg“, „aus Feindesbeute“. Ausdrücklich sagt Pausanias (V 26,6) für die Nike der Mantineer, „… doch nennen sie den Krieg in der Inschrift nicht“. Von diesem Usus gibt es in Olympia nur wenige Ausnahmen. 55 Die wenigen Siegesweihungen in Olympia, für die die Inschriften den Anlass angeben, sind ausnahmslos solche über Barbaren (FELTEN, 1982, 94). 56 Diese Veränderung hat auch FELTEN, 1982, 82.88 f. konstatiert: In Olympia nennen die Inschriften nur die Herkunft der Weihung, in Delphi zusätzlich den Anlass der Weihung: die Apollines der Lipareer für den Sieg über die Tyrrhener, der Massalioten-Apoll für einen Sieg über die Karthager, die Orneatenweihung für einen Sieg über die Sikyonier (Plut,. Pyth. or. 15, 401d; vgl. oben Anm. 23). Bei den nach Olympia gestifteten Beutewaffen fehlten hingegen solche definierenden Angaben, die dann im 5. Jahrhundert fast regelmäßig verzeichnet werden, allerdings nur bei den Waffenweihungen (FELTEN a.a.O. mit den Belegen in Anm. 18 und 19 und 93). Ähnlich ebd. 87: „Viel häufiger als in Olympia wird neben das ‚Ziel‘ der Weihung – den Gott – der Weihende gestellt, der sich in der Weihgabe schriftlich oder inhaltlich definiert. Dieses Moment des nachdrücklichen Hinweises auf den Weihenden und den Anlaß der Weihung – das sich in Delphi im Lauf der Zeit so stark ausprägt, daß das einfache Bild des Gottes dadurch abgelöst wird – äußert sich ganz unverhüllt bei einer Gattung von Weihgeschenken, die die in Frage stehende Zeit vor allen anderen charakterisiert: den Gruppenanathemen“. – In die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts wird das von den Tarentinern geweihte Denkmal datiert, das aus Anlass eines Sieges der Tarentiner gegen die Peuketier aufgestellt wurde. Der Iapygenkönig Opis, den Peuketiern zu Hilfe kommend, sei „als in der Schlacht gefallen“ dargestellt; der Stadtheros
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Auch andere Poleis und griechische Mächte versuchten in Delphi präsent zu sein, angesichts der vielfältigen Kriegsweihungen derjenigen Griechen, die einen Anteil am Sieg für sich beanspruchten. Die Korkyraier weihten dem Apollon einen Stier, weil ein Stier – als Bote der Meeresgöttin – die Fischer auf einen wunderbaren Thunfischfang gewiesen hatte. Die Korkyraier hätten am Kampf gegen die Perser teilnehmen wollen, doch Stürme am Kap Malea hätten sie daran gehindert.57 Auf die Tempelterrasse weihten auch die Karystier einen bronzenen Stier und kaschierten damit ihre vorsichtige Haltung in den Perserkriegen.58 Ähnliches gilt für die Weihung des Makedonenkönigs Alexander I., der neben dem Apollon von Salamis eine goldene Statue aufstellte; er hatte eine für Makedonien geschickte Politik zwischen Persern und Griechen verfolgt, präsentierte sich aber in Delphi mit der Weihung als Freund der Griechen inmitten ihrer Siegesweihungen.59 Alles in allem gewann ein Besucher Delphis den Eindruck gemeinschaftlicher Siege der Griechen gegen die Perser, und viele griechische Städte, auch die wankelmütigen, konnten sich in den Kreis der Weihenden einreihen. Das gilt auch für das Heiligtum in Delphi selbst, das sich gegen eine kriegerische Auseinandersetzung mit den übermächtigen Persern ausgesprochen hatte. Durch die nach den siegreichen Kriegen so zahlreich aufgestellten Weihegaben aus der Kriegsbeute konnte sich auch Delphi im Licht der Befreier Griechenlands sonnen.60 Der Sieg hat viele Väter. Offen kollaborierende Mächte wie Thessalien oder Theben fehlen freilich unter den Dedikanten in Delphi. Präsent ist in Delphi seit den 480er Jahren insbesondere Athen und vor allem die Familie der Philaiden, die mit Miltiades den führenden Feldherrn der Schlacht bei Marathon gestellt hatte und mit Kimon als Sieger der Doppelschlacht am Eurymedon denjenigen, der die Perser schließlich auch in KleinTaras und der Gründerheros Phalantos symbolisieren die Sieger. Es ist offenbar das erste Denkmal, das einen gefallenen, toten bzw. sterbenden Gegner zeigt (Paus., X 13,10; MAAß, 1993, 195 f.; JACQUEMIN, 1999, 192 f.). 57 Hdt., VII 168. Die Inschriften bestätigen die Angaben des Pausanias in X 9,3 (HABICHT, 1985, 77). 58 S. oben Anm. 46. Reste der Basis mit zwei Weihinschriften sowie dem Wappen der Stadt – einer Kuh mit einem säugenden Kalb – sind erhalten. JACQUEMIN, 1994, 192 f. 59 Hdt., VIII 121,2; Paus., X 11,5. JACQUEMIN, 1994, 192 f. Ähnlich beurteilt dies GAUER, 1994, 176: „Ein schlechtes Gewissen läßt sich immer durch eine fromme Stiftung beruhigen.“ SCOTT, 2010, 87. Die sizilisch-unteritalischen Griechen haben sich später als Retter griechischer Freiheit im Westen in das Vergangenheitsbild der Griechen eingeschrieben, mit Denkmälern, die bewusst Vorlagen der Perserkriegsdenkmäler aufgenommen haben (JACQUEMIN, ebd.; dies., 1999, 84 f.252–254; SCOTT, 2010, 88–91). In ähnlicher Weise haben sich im 3. Jahrhundert die Aitoler mit ihrem Sieg über die Galater ebenfalls in die Tradition der Perserkriege gestellt (JACQUEMIN, 1999, 254–256). 60 Zu dem angeblichen Angriff der Perser auf Delphi siehe Hdt., VIII 35–39. JACQUEMIN, 1999, 251 f.: „Ainsi Apollon avait conquis une image de défenseur de la Grèce et de combattant de la liberté qui avait été à l’origine de nouvelles consecrations“.
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asien zurückgedrängt hatte. Aus diesem Anlass stifteten um 465 v. Chr. die Athener eine vergoldete Athenastatue auf einer bronzenen Palme als Trägersockel.61 Athen dehnte in dieser Zeit seine Macht in der Ägäis aus und konnte mit diesem Denkmal die erfolgreiche endgültige Zurückdrängung der Perser ins Bild setzen. Die Anatheme der Athener kündigen indes mit der Weihung dieser Athenastatue und mit den Bildnissen der neben dem Schatzhaus aufgestellten Phylenheroen eine neue Richtung an, bei welcher der Sieger und dessen Selbstdarstellung vor den delphischen Apollon rückt. Gesteigert ist dies in einer Weihung, die die Athener – vermutlich gut 30 Jahre nach dem Ereignis – nach Delphi stifteten, finanziert aus dem Zehnten der Schlacht von Marathon, dessen Statuen Phidias schuf. Da Phidias der schaffende Künstler war, wird die Weihung um 465/460 datiert. Zu dieser Zeit war Miltiades bereits verstorben, sein Sohn Kimon in innenpolitische Kämpfe gegen Ephialtes und Perikles und in außenpolitische um die Frage des Verhältnisses Athens zu Sparta verstrickt. Das Anathem zeigte Statuen der Athena und des Apollon, Miltiades als Strategen und sieben eponyme Phylenheroen, dazu Kodros, Theseus und Philaios.62 Es war vermutlich das erste Mal, dass für einen Sterblichen als siegreicher Feldherr eine Statue in Delphi errichtet wurde.63 Die deutlich spätere Anfertigung der Weihung deutet auf eine neue Ausrichtung und Zielsetzung der Denkmäler hin, die jetzt auch Mittel des aktuellen innen- und außenpolitischen Kampfs oder innergriechischer Auseinanderset61
Paus., X 15,4 f.; Plut., Nic. 13,3. Wie die Schlangensäule war der Palmbaum nur der Träger der eigentlichen Votivgabe. Der Palmbaum ist Sinnbild des Sieges und dem Apollon heilig (GAUER, 1968, 105–107; JACQUEMIN, 1994, 193; vgl. MAAß, 1993, 191; SCOTT, 2010, 96 f.). Bei der Niederlage der Athener in Sizilien sollen die goldenen Früchte vom Palmbaum abgefallen sein (Plut., Pyth. or. 8, 397f). 62 Paus., X 10,1 f. Phidias’ Schaffenszeit reichte von ca. 460 bis 430 v. Chr., wobei das „Miltiadesdenkmal“ in die frühe Zeit fallen wird (GAUER, 1968, 65–70; NEUDECKER, 2000, 761: „aus historischen Gründen“ kurz vor 465). Anne JACQUEMIN schließt eine Datierung in die 480er Jahre aus und setzt es entweder zwischen den Sieg am Eurymedon und dem Ostrakismos Kimons oder zwischen Kimons Rückkehr und seinem Tod. Vgl. MAAß, 2010, 68. 63 JACQUEMIN, 1994, 193: „Die Anwesenheit des sterblichen Siegers inmitten der Heroen und Götter war eine kühne Neuheit, die einen großen Einfluss ausgeübt hat.“ MAAß, 1994, 190 f.: „Wahrscheinlich hat Kimon mit dem Monument, etwa nach dem Sieg vom Eurymedon (um 465 v. Chr.), den Sieg des Vaters gefeiert.“ In der athenischen Stoa Poikile waren in dem Gemälde mit der Darstellung der Schlacht von Marathon der Stratege Miltiades und der Polemarch Kallimachos neben dem Heros Echetlos dargestellt (Paus., I 15,3). Auch zu der Figurengruppe, die von den Phokern aus Anlass eines Siegs gegen die Thessaler geweiht wurde, gehörten Statuen der siegreichen Feldherren, die im Kreis von Göttern und lokalen bzw. eponymen Heroen dargestellt waren (Paus., X 1,10; vgl. X 13,6). Zu der umstrittenen Datierung und Zuordnung der phokischen Weihungen JACQUEMIN, 1994, 191; dies., 1999, 52 f.; SCOTT, 2010, 124 f. Zu den Statuen eponymer Heroen JACQUEMIN, 1999, 185–187.
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zungen wurden. Denn in diesen Jahren brach Athen mit Sparta und ging ein Bündnis mit Argos ein.
4. Weihungen als Spiegel innergriechischer Auseinandersetzungen In diesen 460er oder 450er Jahren folgten zwei weitere Siegesdenkmäler, die diese Konfrontation zwischen Athen und Argos einerseits und Sparta andererseits ins Bild setzten. Es sind dies das argivische Monument mit der Darstellung der „Sieben gegen Theben“ und das sogenannte Epigonenmonument. Nach Pausanias stammte das Weihgeschenk mit den „Sieben“ aus der Beute des Sieges der Argiver über die Lakedaimonier bei Oinoë in der Argolis, den sie mit athenischer Hilfe um 460 v. Chr. errungen hatten. Die Inschrift des Anathems ist hingegen neutral: Ἀργεῖοι ἀνέθεν τἀπόλλονι.64 Pausanias vermutet, dass aus derselben Beute das argivische ‚Epigonendenkmal‘ gestiftet wurde.65 Da Pausanias dies ausdrücklich als ‚Vermutung‘ äußert, ist davon auszugehen, dass auch bei dieser Weihinschrift nicht ausdrücklich vermerkt war, dass es sich um Beute aus dem Krieg gegen Sparta bei Oinoë handelt. Ein bedeutender Sieg muss es indes gewesen sein: Denn auch die Athener feierten ihn in einem Gemälde in der um 457 v. Chr. erbauten Stoa Poikile, auf dem nach Pausanias zu sehen war, wie die Athener bei Oinoë an der argivisch-spartanischen Grenze den Spartanern gegenüberstehen.66 Die Athener und die Argiver scheuten sich also nicht, auch innergriechische Kriege öffentlich in Szene zu setzen, wenn auch in Delphi in ein mythologisierendes Gewand gekleidet.67 Die Antwort der Spartaner folgte 30 Jahre später. Bis zu dieser Zeit waren die Spartaner ‚nur‘ als Erstgenannte auf der Schlangensäule auf monumenta64
SEG 38,314; FdD III 1, Nr. 90. Paus., X 10,4: „wie mir scheint“. Ob das Epigonendenkmal auch auf den Sieg von Oinoë zu beziehen ist, bleibt also unsicher; nach FdD III 1, Nr. 90 ist eine Datierung in die Zeit um 460 v. Chr. möglich; vgl. MAAß, 1993, 197–199; JACQUEMIN, 1994, 196; dies, 1999, 55. In welche Zeit die von den Lakedaimoniern geweihte Statue der Hermione gehört, ist unbekannt (Paus., X 16,4). Der Bildhauer Kalamis könnte in das 5. oder das spätere 4. Jahrhundert gehören. Vgl. SCOTT, 2010, 100. 66 Paus., I 15,1. 67 SCOTT, 2010, 101 spricht von „increasingly aggressive spatial politics in the sanctuary at this time by poleis like Argos, Thessaly and Sparta, which made offerings either in polarised groups or else in direct spatial opposition with their rivals“. Gegen Athen gerichtet war die Weihung der Megarer, die einen Apollon mit Speer errichten ließen, weil sich die Athener nach den Perserkriegen ihrer Stadt bemächtigt hätten; sie hätten gegen die Athener gesiegt und sie aus der Stadt vertrieben: Plut., Pyth. or. 16, 402a. Dies wird sich auf Ereignisse des Jahres 446 v. Chr. beziehen (Thuc. I 114–115,1). SCOTT, 2010, 103. 65
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len Siegesdenkmälern in Delphi präsent, ein Rang, der der Stadt aufgrund ihrer Hegemonie im Perserkrieg zustand.68 Nachdem der spartanische Feldherr Brasidas 424 v. Chr. die verbündete Stadt Akanthos Athen abspenstig gemacht hatte, stifteten Akanthos und Brasidas (offenbar aus der Beute) ein Schatzhaus nach Delphi. An dem Bau wurde die Inschrift angebracht: „Brasidas und die Akanthier von den Athenern.“69 Es wäre dies das erste gesicherte Denkmal, das einen innergriechischen unterlegenen Gegner explizit nennt. Man mag einwenden, dass dies keine offizielle Weihung der Stadt Sparta war, sondern zunächst der Bürger der Stadt Akanthos und von Brasidas als Einzelperson, und dass Brasidas möglicherweise für seinen politischen Kurs und diese Form der Selbstdarstellung wenig Unterstützung in Sparta fand – denn er durchbrach damit das Selbstbild der spartanischen homoioi mit seiner Zurücknahme des Einzelnen.70 Doch am Ende des Peloponnesischen Kriegs ließ Sparta solche Hemmungen fallen. Nach dem Sieg über die Athener bei Aigos Potamoi (405 v. Chr.), der in die Belagerung Athens und dessen endgültige Kapitulation mündete, weihte Sparta das figurenreichste Monument innerhalb des gesamten delphischen Temenos, das unmittelbar hinter dem Eingang zum heiligen Bezirk und direkt neben dem athenischen „Miltiades-
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Sparta, Tegea und Korinth weihten keine eigenen Denkmäler nach Delphi. Auch dies macht noch einmal die propagandistischen Ziele der Weihungen auf einer gesamtgriechischen Bühne deutlich. Zu spartanischen Weihungen von einzelnen Statuen in Delphi JACQUEMIN, 1999, 57; SCOTT, 2010, 100; zu Weihungen der Spartaner in Olympia FELTEN, 1982, 83. 69 Plut., Pyth. or. 14, 400f. Inschrift: ebd. 15, 401c und Lys. 1,1. Zum historischen Kontext Thuc., 4,84–88. Neben dem Eingang habe innerhalb des Schatzhauses eine Marmorstatue des Lysandros gestanden. Viele indes glaubten, es sei eine Statue des Brasidas (Plut. Lys. 1,1). Außerdem befand sich in dem Schatzhaus eine aus Gold und Elfenbein hergestellte, zwei Ellen lange Triëre, die Kyros dem Lysandros als Siegesgabe geschickt hatte, sowie ein Depot Lysanders in Höhe von eineinhalb Talenten Silber (Lys. 18,2). SCOTT, 2010, 104 f. Anne JACQUEMIN indes zweifelt daran, dass die Inschrift das Schatzhaus als das des „Brasidas und der Akanthier“ ausgab. Wahrscheinlicher sei, dass es sich um eine Weihung der Akanthier handelte, aus Dank für ihre Befreiung durch Brasidas. 70 Brasidas hatte sich dafür stark gemacht, das Hilfeersuchen Perdikkas’ II. anzunehmen, und wurde von Sparta mit dem Unternehmen beauftragt, allerdings nur mit 700 als Hopliten ausgerüsteten Heloten, die er durch 1000 Söldner verstärkte. Nachdem er Akanthos auf die Seite Spartas gebracht hatte, zwang er auch Amphipolis zur Kapitulation. Die für weitere Erfolge nötigen Verstärkungen verweigerte Sparta allerdings, da politische Gegner des Brasidas eine Verständigung mit Athen anstrebten, um die Freigabe der auf der Insel Sphakteria eingeschlossenen Spartiaten zu erreichen (Thuc., IV 108,7; 117,1 f.). Bei dem 423 vereinbarten einjährigen Waffenstillstand weigerte sich Brasidas, das gerade gewonnene Skione zu räumen (Thuc., IV 120–123). Brasidas stand also durchaus in Konflikt mit anderen politischen Kräften, die in seiner energischen Außenpolitik eine Gefahr für die innere Ordnung Spartas sahen. In Amphipolis wurde Brasidas als Stadtgründer (oikistes) geehrt.
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denkmal“ aufgestellt wurde.71 Wie dort Miltiades ist bei dem spartanischen Denkmal Lysandros, der führende spartanische Feldherr, umgeben von Göttern (den Dioskuren, Zeus, Apollon, Artemis und Poseidon) dargestellt, wie er von Poseidon (nicht Apollon!) bekränzt wird. Neben ihm befinden sich Statuen von Agias, dem Seher des Lysandros, und Hermon, der das Admiralsschiff des Lysandros steuerte. Unter den dahinter angeordneten Nauarchen befinden sich einige Lakedaimonier, aber auch Feldherren der peloponnesischen Bundesgenossen, darunter solchen aus Chios, Rhodos, Knidos, Ephesos und Milet – insgesamt 37 Bildnisse von Göttern und Feldherren sowie ein nicht von Pausanias genannter Herold –, so als wollten die Lakedaimonier demonstrieren, dass am Ende sich ganz Griechenland gegen den ‚Tyrannen‘ Athen vereint hätte, mehr ein Sieg der Griechen als das allein Athen verherrlichende Miltiadesdenkmal gleich nebenan.72 In den Inschriften sind die dargestellten Götter und Nauarchen namentlich genannt, dazu eine Elegie des Ion von Samos: Sein Bildnis hat geweiht [auf] diesem Monument, als er siegreich mit schnellen Schiffen zerstörte der Ke[k]ropiden Macht, Lysandros, und krönte so das unzerstörbare Lakedaimon, Hellas’ Akropolis, die schön umtanzte Heimat. Ion aus Samos, dem meerumspülten, 73 schuf die Elegie.
Die Weihungen, die in Sparta selbst aufgestellt wurden, waren zurückhaltender: Dort stiftete Lysandros in der Halle auf der Akropolis zwei auf Adlern stehende Nikestatuen, eine für seinen Sieg über den Steuermann des Alkibiades bei Ephesos, eine für den Sieg bei Aigos Potamoi, und in Amyklai drei Dreifüße mit Statuen der Aphrodite, der Artemis und der Kore ebenfalls für den Sieg bei Aigos Potamoi.74 Waren personifizierte Bildnisse erfolgreicher Feldherren in den Heimatstädten verpönt, weil sie die Konkurrenz innerhalb der führenden Schicht empfindlich störten, schien dies auf der gesamtgriechischen Bühne in Delphi durchsetzbar zu sein. Michael Maaß urteilt zu Recht über die Korrespondenz der Denkmäler: „Dieses Propagandamonument hob in anstößiger Weise die Trennung zwischen göttlichen und menschlichen 71
Paus., X 9,7–10. Plut., Pyth. Or. 2, 395b. Die Blöcke mit den fragmentarischen Inschriften sind erhalten. MAAß, 1993, 199 f.; SCOTT, 2010, 105: „the most aggressive opposition to Athens and its dedications“. Eine ungefähre Vorstellung von dem martialischen Erscheinungsbild des Heiligtums vermittelt die 3D-Rekonstruktion bei SCOTT, 2010, 104 Abb. 4.9; vgl. dens., 2014, 137. Voraus ging vermutlich das Siegesdenkmal der lakedaimonischen κώµα der [P]yritai, ein Stier als Fünfzigster aus dem Kampf gegen Oianthaia 426 v. Chr. (FdD III 1, Nr. 68; Thuc., III 101,2). 72 Syll.3 115; ML 95 (FdD III 1, Nr. 50–69). SCOTT, 2010, 105-107. Als Folge der sizilischen Katastrophe hatten die Syrakusaner aus der Beute bereits ein Schatzhaus in Delphi gestiftet (Paus., X 11,5). 73 Frg. 87 Diehl. Übersetzung HGIÜ I 151. 74 Paus., III 17,4. In Amyklai standen außerdem ältere (kleinere) Dreifüße, die aus dem Zehnten der messenischen Kriege geweiht worden sein sollen (Paus., III 18,7 f.).
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Sphären, Mythos und Realität, auf und deklassierte die Siegesmonumente der Athener, die der Besucher dann im weiteren Aufstieg abschreiten konnte.“ 75 Fünfunddreißig Jahre später hatte sich das Blatt erneut gewendet. Nachdem zunächst Sparta seine Hegemonie ausgebaut, mit persischer Hilfe gefestigt und Tendenzen bundesstaatlicher Zusammenschlüsse wie im Falle Olynths unterbunden hatte, brachte die Schlacht von Leuktra 371 v. Chr. die Wende. Der Thebaner Epameinondas nutzte den Sieg, griff unmittelbar danach auf die Peloponnes über, befreite das von Sparta beherrschte Messenien, rief die außerhalb der Heimat lebenden Messenier dorthin zurück und entließ das mittelbar abhängige Arkadien aus dem spartanischen Zugriff. Auch diese gerade für Sparta epochale Wende findet ihren Niederschlag, nicht nur in einer neu auflebenden Münzprägung Messeniens und verschiedener arkadischer Städte, sondern auch in mehreren Siegesdenkmälern in Delphi, die die Niederlage Spartas feierten und die provokativ den spartanischen Denkmälern entgegengesetzt wurden. Aus der Kriegsbeute der Schlacht bei Leuktra finanzierten die Thebaner ein Schatzhaus, das sich im Südwesten des Heiligen Bezirks unmittelbar an die südliche Temenosmauer anlehnt.76 Es ist das erste Mal, dass Theben mit einer Weihung in Delphi präsent ist. Direkt gegenüber dem großen LysanderAnathem am Eingang zum Temenos weihten die arkadischen Tegeaten eine Basis mit Statuen, der Stoa der Spartaner oberhalb der Heiligen Straße unmittelbar vorgelagert: Apollon und Nike und die einheimischen Heroen, unter anderem Arkas als namengebender Heros der Arkader und Triphylos als Eponym der Triphylier, welche sich direkt im Jahre 369 an den arkadischen Bund angeschlossen hatten. Damit demonstrierten sie, dass Arkadien eine neue Selbständigkeit erlangt hatte, dass sie anknüpften an ihre mythische Vergangenheit und die Vorstellung ihrer Autonomie und Autochthonie, dass sie also seit jeher im Innern der Peloponnes beheimatet waren. Finanziert wurde das Denkmal durch Mittel, die die Tegeaten durch gefangen genommene Lakedaimonier errungen hatten, denn die Arkader hatten sich an dem Einfall des Epameinondas in die Peloponnes im Winter 370/69 beteiligt.77
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MAAß, 2010, 67. Zum Unterschied der Weihungen in Delphi und den Heimatstädten GAUER, 1968, 126 f. 76 Paus., X 11,5. Nach Theopomp FGrHist 115 F 247 (bei Athen. XIII 604f–605a) hat der Geliebte des Epameinondas, Asopichos, in seinen Schild das Siegeszeichen von Leuktra eingraviert und ihn nach Delphi „in die Stoa“ geweiht. Zum Schatzhaus der Thebaner SCOTT, 2010, 114 f. 77 Paus., X 9,5 f. Inschriftlich sind die „Arkader aus Tegea“ (Τεγεᾶται Ἀρκάδες) auf dem Monument nachgewiesen (HABICHT, 1985, 75; vgl. JACQUEMIN, 1999, 62; MAAß, 2010, 68; SCOTT, 2010, 117; ders., 2014, 146f.). Die Weihung eines bronzenen Apoll durch die arkadische Stadt Mantineia (Paus., X 13,6) kann von Zeit und Anlass nicht bestimmt werden.
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An dem Denkmal wirkte Antiphanes von Argos mit, der auch das bronzene Pferd fertigte, das die Argiver für ihren Sieg gegen die Lakedaimonier im Kampf um die Landschaft Thyreatis gestiftet hatten, also zeitlich ebenfalls in diesen Zusammenhang der ‚Befreiung‘ der Peloponnes gehören wird.78 Anlässlich der Neugründung der Stadt Messene weihten die Argiver weitere Statuen nach Delphi: Danaos als mythischer argivischer König mit seiner Tochter Hypermestra und ihrem Mann Lynkeus „und ihr ganzes weiteres Geschlecht“ bis hinauf zu Herakles und zu Perseus reichend. Dieses Siegesdenkmal fand auf dem gegenüber dem ‚Epigonendenkmal‘ nördlich der Heiligen Straße errichteten Monument seinen Platz.79 Die fragmentarisch erhaltene Weihinschrift zeigt wenig Zurückhaltung: Aufgestellt haben das µνῆµα „die Arkader, die Lakedaimon vernichtet haben, den Nachfahren zur Erinnerung“.80 Ob auch die befreiten und die in ihre alte Heimat zurückgekehrten Messenier selbst ein Denkmal nach Delphi stifteten, muss unsicher bleiben, denn Datierung und Anlass der Weihung sind nicht gesichert. Eine ältere Basis mit einer im 2. Jahrhundert erneuerten Dedikationsinschrift wird aufgrund charakteristischer technischer Besonderheiten an das Ende des 6. oder in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts datiert und mit dem Aufstand der Messenier um 490 oder in den 460er Jahren in Verbindung gebracht. Nicht ausgeschlossen wird, dass dieses ältere Denkmal nach der Neugründung von Messene neu angelegt wurde.81 Das zweite Weihgeschenk wird in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts datiert, doch die Fragmente der Weihinschrift lassen nicht erkennen, welcher Sieg von den „Messeniern und Naupaktiern“ gefeiert wurde, ein Sieg in der Mitte des 5. Jahrhunderts, in der Zeit des Archidamischen Kriegs oder nach der Schlacht von Leuktra, als auch Naupaktos durch Epameinondas von achaischer Herrschaft befreit wurde.82 Aufgestellt war das 78
Paus., X 9,12. Nach MEYER, 1989 und JACQUEMIN, 1994, 197 sowie dies., 1999, 55 bezieht sich das Denkmal allerdings auf einen Beutezug in die Thyreatis 414 v. Chr. (Thuc. VI 95,1). Die Inschrift lautet: [Ἀργεῖοι τἀπόλλονι] ἀπὸ Λακεδαίµονος δεκάταν (FdD III 1, S. 384–387 Nr. 573 [Nachtrag zu Nr. 91]). Nach der Buchstabenform sei die Inschrift zwischen 420 und 400 angefertigt worden. 79 Paus., X 10,5. JACQUEMIN, 1999, 55; SCOTT, 2014, 146. 80 Basen mit den von rechts nach links laufenden Inschriften sind erhalten: FdD III 1, Nr. 3: Πύθι᾿ Ἄπολλον [ἄ]ναξ, τάδ᾿[ἀγάλµατ᾿ ἔ]δ[ωκεν ἀπαρχὰς] αὐτόχθων ἱερᾶς λαὸς [ἀπ᾿ Ἀρκαδί]ας· Νίκηγ… … Ἔρα[σος]. τῶνδε σοὶ ἐκγενέται Λακεδαίµονα δη[ιώσαντες] Ἀρκάδες ἔστησαν µνῆµ᾿ ἐπιγινοµένοις. Auf den vernichtenden Sieg gegen die Lakedaimonier verweist auch Nr. 6: „Arkas hat sie gezeugt. Die Nachfahren haben das Land der Lakedaimonier vernichtet und [dieses Denkmal] aufgestellt.“ 81 JACQUEMIN, 1999, 63: „on ne doit pas écarter la possibilité d’un monument construit après la refondation de Messène avec des traits archaïsants dans un souci de propaganda, à une époque où s’elaborait la légende nationale de la Messénie”. 82 Weihinschrift an der Nike der Messenier in Olympia „Die Messenier und die Naupaktier haben (dies) dem olympischen Zeus als Zehnten von den Feinden geweiht“
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Anathem auf der Terrasse über der Polygonalmauer. Ein genaues Gegenstück weihten die Messenier und Naupaktier in Olympia, ein 9 m hohes Weihgeschenk in Form eines dreikantigen Marmorpfeilers, der als Bekrönung eine 2,90 m hohe Nikestatue trug, ein Werk des Bildhauers Paionios.83 Der Pfeiler stand 30 m vor der Ostfront des Zeustempels, und damit in unmittelbarer Nähe der von den Spartanern gestifteten zwölf Fuß hohen Zeusstatue, die sie nach Pausanias für den Sieg gegen die abgefallenen Messenier, als sie zum zweiten Mal in Krieg geraten waren, aufgestellt hatten.84 Aufgenommen wurde die Erinnerung an den Messenischen Krieg und an die Befreiung Messeniens später dadurch, dass in republikanischer Zeit ein Schiedsspruch des römischen Senats, der einen Streit um den ager Dentheliatis mit dem Heiligtum der Artemis Limnatis zugunsten Messeniens entschieden hatte, im Wortlaut und mit genauem Abstimmungsergebnis inschriftlich an dem Pfeiler der Mes(Μεσσάνιοι καὶ Ναυπάκτιοι ἀνέθεν Διὶ / Ὀλυµπίωι δεκάταν ἀπὸ τῶµ πολεµίων); Inschrift auf der Basis des Messenierdenkmals in Delphi (gemäß der vermuteten Rekonstruktion der Inschrift FdD III 4, Nr. 1; Syll.3 81; SEG 19,392): „Die Messenier und die Naupaktier haben (dies) als Zehnten von Leukas und Ambrakia dem pythischen Apollon geweiht“ ([Μεσ]σάνιο[ι καὶ Ναυπάκτιοι] ἀνέθ[εν δεκάταν ἀπ]/[ὸ Λε]οκάδ[ος καὶ Ἀµπρακίας τῶ]ι Ἀπ[όλλωνι τῶι Πυ]/[θίωι]). JACQUEMIN, 1994, 196 bezieht die Weihung auf den Sieg der in Naupaktos angesiedelten Messenier gegen die Kalydonier. Auch SCOTT, 2010, 98 f. setzt die Weihung ins 5. Jahrhundert: „dedication of the Messenian and Naupactian triangular column and tripod dedication in the middle of the fifth century. It commemorated their victory (with Athenian help) over the Spartans“ (vgl. ebd. 326 Nr. 147; HÖLSCHER, 1974, 76–82, der das Denkmal etwa gleichzeitig mit dem olympischen Denkmal ansetzt; MAAß, 1993, 196 f.). 83 Paus., V 26,1: „Die dorischen Messenier, die einst (ποτε) Naupaktos von den Athenern erhielten, stellten in Olympia das Standbild (ἄγαλµα) der Nike auf dem Pfeiler auf. Das ist ein Werk des Paionios aus Mende und wurde aus Feindesbeute (ἀπὸ ἀνδρῶν πολεµίων) hergestellt, als sie mit den Akarnanen und Oiniadern, wie ich meine, Krieg führten [455 v. Chr.]. Die Messenier selbst behaupten, das Weihgeschenk (τὸ ἀνάθηµα) gehe auf ihren Kampf mit den Athenern zusammen auf der Insel Sphakteria [425 v. Chr.] zurück und sie hätten den Namen der Feinde aus Furcht vor den Lakedaimoniern nicht geschrieben, während sie doch vor Oiniadern und Akarnanen keine Angst hätten“ (Übersetzung E. Meyer). Da die Messenier in Naupaktos an der Besetzung von Sphakteria nicht teilgenommen hatten und die Beute für ein solches Denkmal dafür zu gering gewesen wäre, sind wohl beide Deutungen unzutreffend (siehe MEYER, 1978, 262; ders., 1989, 259 f.; HÖLSCHER, 1974, 72–84). MEYER geht davon aus, „daß dieses große Weihgeschenk für alle gemeinsamen Unternehmungen der Naupaktier und Messenier in Naupaktos in den ersten Jahren des Peloponnesischen Krieges, vor allem in den Jahren 429, 427 und 426 gestiftet wurde“ (1978, 262; ähnlich HÖLSCHER, 1974, 74 f.: „Spätestens um 420 v. Chr. muß das Denkmal ausgeführt worden sein“; ders., 1989, 9). Auf dem delphischen Pfeiler habe eine vergoldete Nike aus Bronze gestanden, die der marmornen Ausführung in Olympia entsprochen hätte (vgl. FELTEN, 1982, 86). 84 Paus., V 24,3 mit dem Epigramm: „Nimm, Herr, Kronide, olympischer Zeus, dieses schöne Bild gnädigen Sinns von den Lakedaimoniern an“. Das Epigramm ist inschriftlich erhalten: I. v. Olympia 252; ML 22; HGIÜ I 33 (490/80 oder 460).
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senier angebracht wurde.85 Die epochale Wende in der Geschichte Spartas von dem Höhepunkt nach der Schlacht von Aigos Potamoi zur Niederlage von Leuktra und dem Verlust Messeniens fand seinen Niederschlag auch in späteren Anekdoten: In dem von Sparta gestifteten Siegesdenkmal aus Anlass der gewonnenen Seeschlacht von Aigos Potamoi sollen die goldenen Sterne, Symbol der Dioskuren, verschwunden sein und das Gesicht der marmornen Lysanderstatue soll von Gestrüpp überwuchert worden sein.86
5. Die Weihungen in Delphi als Selbstbildnis des klassischen Griechenland Das Apollonheiligtum in Delphi hat sich im Laufe des 5. Jahrhunderts, beginnend mit den Perserkriegen, zu dem Ort entwickelt, an dem auf engem Raum die meisten Siegesdenkmäler aufgestellt wurden.87 Dort, in der ‚Mitte der Welt‘, reihte sich ein Denkmal an das andere, in unmittelbarem Bezug auf Denkmäler militärischer Gegner, in einer Zahl, die die Siegesdenkmäler, die uns Pausanias für andere Städte und Landschaften benennt, weit übertraf.88 In seiner Gesamtheit betrachtet, geben sie ein Selbstbildnis des klassischen Griechenland ganz eigener Art ab. Deutlich ablesbar sind – aus der weit größeren Anzahl von Kriegszügen insgesamt – die wichtigsten Zäsuren: die Siege über die Perser, Schlachten im Zuge des sog. Ersten Peloponnesischen Kriegs der späten 460er und 450er Jahre, der Peloponnesische Krieg und die
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I. v. Olympia 52; SACHS, 2006, 121–126. Augustus gab das Gebiet nach der Schlacht von Actium an Sparta; durch Tiberius ging es dann endgültig an Messenien (Tac., Ann. IV 43). In Messene wurde auch ein Fest zu Ehren des (Zeus) Ithomatas eingerichtet, möglicherweise aus Anlass der Befreiung (Paus., IV 33,2). 86 Plut., Pyth. or. 8, 397e–f; vgl. Plut., Lys. 18,1; vgl. 12,1; Cic., Div. I 75; MAAß, 1994, 149. 87 Wer darüber entschied, wo welche Siegesdenkmäler im Heiligtum aufgestellt werden durften, lässt sich nicht sicher beantworten (SCOTT, 2010, 29–40). M. SCOTT geht davon aus, dass die Amphiktyonie und die Polis Delphi in dieser „balance of power“ sich gegenüber den mächtigen Dedikanten kaum durchsetzen konnten (ebd. 38 f.; vgl. 226). 88 Z.B. nennt Pausanias für die Landschaft Lakonien ein Siegesdenkmal in der Nähe des Heiligtums des Zeus Skotitas (angeblich von Herakles errichtet aus Anlass der Tötung von Hippokoon und seinen Söhnen; III 10,6). Das wichtigste Bauwerk an der Agora in Sparta sei die „persische“ Stoa, die aus der Beute der Perserkriege gebaut sei. Auf den Säulen (zwischen Säulen und Gebälk) stünden Perser aus Marmor, darunter auch Mardonios, des weiteren Artemisia, die Königin von Halikarnass, die sich dem Feldzug gegen die Perser angeschlossen habe (Paus., III 11,3; Vitruv, I 1,6). An dem ‚Dromos‘ genannten Laufplatz in Sparta stehe ein Siegesdenkmal, das Polydeukes für den Sieg gegen Lynkeus aufgerichtet haben soll (Paus., III 14,7). Zu Lysanders Siegesdenkmälern s. oben S. 224 mit Anm. 74.
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Schlacht von Leuktra mit der Befreiung Messeniens.89 Es folgen die Siege der Aitoler gegen die Galater, die in den Siegesdenkmälern als zweiter Perserkrieg imaginiert werden. Und auch die Siege der unteritalischen und sizilischen Griechen gegen Karthager und Etrusker wurden den Perserkriegen an die Seite gestellt. Beides verdeutlicht, wie nachhaltig die ungeheuer große Zahl an Siegesweihungen wirkte, die aus Anlass der Siege gegen den schier übermächtigen Gegner nach Delphi geweiht worden waren. Michael Scott wertet Delphi aufgrund der vielen, aufeinander Bezug nehmenden, sich in aggressiver Konkurrenz gegenüberstehenden Siegesdenkmäler nicht als eine Stätte panhellenischer Bekundungen, sondern als eine weitere Bühne, auf der die Konflikte in der griechischen Welt in einem Bilderstreit ausgetragen wurden.90 Die ‚Sprache des Temenos‘ ist direkter, offener, ja bisweilen aggressiver als die Sprache der Siegesdenkmäler in den Heimatstädten. Auffällig ist auch, dass Pausanias für viele Landschaften sehr viel häufiger Gräber von Heroen nennt als Siegesdenkmäler. Heroengräber waren für die Städte selbst offensichtlich wichtigere Kristallisationspunkte einer gemeinsamen Identität.91 Dass gerade Delphi zu dem Ort wurde, an dem wichtige Siege vor einem gesamtgriechischen Publikum gefeiert werden konnten, hat seinen Grund sicherlich auch darin, dass nicht selten vor dem Kriegszug ein Orakel in Delphi eingeholt worden war, um zu erfahren, ob der Kriegszug günstig oder mit einer Niederlage ausgehen werde. Für einen vorhergesagten und dann eingetroffenen Sieg dankte der Sieger mit einem Anathem, finanziert durch den Zehnten aus der Kriegsbeute.92 Doch dies kann nicht der einzige Grund für die vielen Siegesweihungen und die unterschiedliche Sprache im Temenos
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Ähnlich zeichnen sich die Einschnitte in Sparta ab: zum einen waren es Siegesdenkmäler heroischer Zeit, zum anderen die Perserkriege und der Sieg von Aigospotamoi. Die von Lysandros in Sparta gestifteten Siegesdenkmäler waren in der Ikonographie wesentlich zurückhaltender als das Siegesdenkmal in Delphi. 90 SCOTT, 2010, 110. Zur weiteren Entwicklung MAAß, 1993, 148: „Die Weihungen von Statuen in hellenistischer Zeit haben meist nicht mehr den Charakter von Kriegsdenkmälern. Sie sind Ausdruck der Herrscherverehrung, der diplomatischen Beziehungen, teils dabei auch Dank der Stadt, der Amphiktyonen oder des Aitolischen Bundes für die dem Heiligtum erwiesenen Wohltaten“ (vgl. 207). Ebenso FELTEN, 1982, 83: „Im Vordergrund stehen in beiden Heiligtümern seit der Alexanderzeit – natürlich immer neben den Siegerstatuen – die Ehrenstatuen einzelner Individuen, Staatsmänner, Strategen, verdienter Bürger, hellenistischer Herrscher, römischer Kaiser u.a.“. 91 Gräber als Orte der Identifikation sind schon bei Hdt., I 67,2 f. genannt. 92 Nach Auskunft des Pausanias hätten die Thebaner vor der Schlacht bei Leuktra bei verschiedenen Orakeln angefragt, unter anderem in Delphi (Paus., IV 32,5 f.; vgl. X 1,4 und X 1,10).
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von Delphi gewesen sein,93 denn viele Sieger weihten einen Teil nach Delphi, einen ebenso großen nach Olympia und in andere Heiligtümer wie das am Isthmos oder in Abai. In Olympia waren Weihungen von Beutewaffen im 6. Jahrhundert noch beliebt, wurden aber im Verlauf des 5. Jahrhunderts seltener; aus dem späten 5. Jahrhundert gibt es nur noch ein einziges Tropaion, das der Eleier für ihren Sieg über die Spartaner.94 In Delphi hingegen nahmen Waffenweihungen im 5. und 4. Jahrhundert enorm zu, ebenso die großen Siegesdreifüße, die in Olympia völlig fehlen.95 Florens Felten sieht in der unterschiedlichen Entwicklung von Olympia und Delphi eine bewusste Haltung der Verwalter Olympias, die einen panhellenischen Gedanken mit einer Vorstellung von der Einheit der Griechen und ihrer Absetzung von den Barbaren vertraten; die Verwalter Olympias hätten verhindert, dass innergriechische Kriege inschriftlich und ikonographisch in jener Offenheit propagiert wurden wie in Delphi. Felten glaubt für Olympia in den Monumenten eine panhellenische Einstellung dokumentiert, die sich in der Realpolitik der griechischen Poleis nicht habe durchsetzen können. In Delphi habe sich hingegen jeder Weihende „nach Belieben“ äußern können.96 Nach dem Sieg über die Perser wurde in Olympia allein die kolossale Statue des Zeus als Zeichen des Siegs der Symmachie aufgestellt, „während Delphi vor Weihungen aus diesem Anlass geradezu überfloß“.97 Anders als die Verwalter des Heiligtums in Olympia ließ die Administration in Delphi die Sieger gewähren, auf ihren Sieg – und sei es ein Sieg von Griechen über Griechen – nicht nur in ‚gezähmtem Stolz‘ hinzuweisen und in der Inschrift nicht nur kundzutun, dass die Weihung aus dem Zehnten der Beute „von den Feinden“ war,98 sondern offen auszusprechen, dass der namentlich benannte Kriegsgegner vernichtet worden war. 93
So besonders FELTEN, 1982. Ebd. 80: „in der Zeit von etwa 490/80 bis 340/30 v. Chr. (gehen) die beiden Heiligtümer so konsequent unterschiedliche Wege, daß mehr als ein Zufall dahinter stecken muß“. 94 Paus., V 27,11. 95 FELTEN, 1982, 91–93. 96 FELTEN, 1982, 96. Ganz ähnlich ist die Bewertung bei SCOTT, 2010, 38 f. Zum Vergleich der beiden überregionalen Heiligtümer ebd. 218–240 (218: „Delphi has been characterised as the sanctuary of ‚disunity‘, Olympia as the sanctuary of ‚unity‘.“). 97 FELTEN, 1982, 96 f. Zurückgeführt wurde dieser Reichtum an Weihungen, die die Weihungen der Symmachie (den Apollon und die Schlangensäule) fast untergehen ließ, auf die „unbestrittene Autorität des pythischen Apollon und seines Orakels“, das Delphi „die selbstverständliche Anwartschaft auf die vornehmsten Beuteanatheme“ gab, die gerade in diesem Fall auf Grund der Haltung Delphis während der Perserkriege nicht so alles überragend gewesen sein kann (nach GAUER, 1968, 127; ders., 1994, 170–174). 98 FdD I Nr. 137, 289. – Vgl. Aristot., Ath. pol. 8,4, wonach der Areopag Gesetzesbrecher zur Rechenschaft ziehen und Bußen und Strafen verhängen konnte; die Zahlungen ließ er auf die Akropolis bringen, ohne aber den Grund aufzuschreiben, aus dem jemand verurteilt wurde.
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Die Unterschiede, die sich zwischen den Weihungen in Delphi, denen in Olympia und denen in den einzelnen Städten zeigen, verweisen zum einen darauf, wie die griechischen Städte im 5. und 4. Jahrhundert ihren gesteigerten Patriotismus und damit ihre Abgrenzung nach außen zum Ausdruck bringen und ins Bild setzen, durch Personifikationen wie Arkas oder Triphylos, durch mythisch begründete Phylenheroen, durch ihre Stadtgöttin Athena – obwohl es sich um ein Apollonheiligtum handelt. Ich sehe darin auch eine Reaktion auf die innenpolitischen und die verfassungspolitischen Veränderungen dieser Zeit: Waren Adelige der archaischen Zeit über ihre eigene Stadt hinaus vielfach vernetzt und gingen mit auswärtigen Adelsfamilien Heiratsund Gastfreundschaftsbeziehungen ein, so benötigte eine demokratische Ordnung neue Identifikationsangebote. Im 5. Jahrhundert wurden, wie die attischen Tragödien zeigen, die Heroen des Mythos – ein Orest, ein Kreon, ein Neoptolemos, ein Menelaos – als brüchige Helden wahrgenommen. So verwundert es nicht, dass für eine Identifikation mit der eigenen Polis neue, unbelastete Heroen geeigneter waren, ein Aitolos, ein Arkas oder neue Phylenheroen. Insbesondere in Athen zeigt sich, dass Verbindungen der Oberschicht nach außen gekappt und auch die führenden Familien ganz auf die eigene Polis eingeschworen werden sollten. Perikles hat eine athenische Identität auch durch eine Einschränkung des Bürgerrechts stärken wollen. Elitäre Exklusivität ist in klassischer Zeit nicht mehr die eines gesamtgriechischen Adels, sondern die einer elitären Polisbürgerschaft. Das konnte in den Siegesdenkmälern in Delphi ins Bild gesetzt werden. Gleichzeitig dokumentieren die Siegesdenkmäler eine gegenläufige Entwicklung: Schon aristokratisch geprägte Gesellschaften in archaischer Zeit waren bestrebt, eine adelige Gleichheit zu wahren, auch wenn das gegen Tyrannisaspiranten oft genug fehlschlug. Zu dieser angestrebten und gewünschten Gleichheit unter den Adeligen gehörte auch, dass keinem gestattet wurde, sein eigenes Bildnis in öffentlichem Raum und an einem zentralen Platz aufzustellen – mit wenigen bezeichnenden Ausnahmen wie dem der Tyrannenmörder oder dem von Siegern in sportlichen Wettkämpfen in Olympia oder Delphi. In Athen wurde ein eigenes Bildnis erst Konon gestattet, der Athen nach der vollständigen Kapitulation von 404/3 im Jahre 395 wieder ein außenpolitisches Gewicht verlieh. Diese Zurückhaltung innerhalb der eigenen Stadt konnte auf gesamtgriechischer Bühne überschritten werden, wie die Beispiele Miltiades, Brasidas und Lysandros zeigen. Für den inneren Frieden und die Stärkung einer Identität innerhalb der Stadt selbst waren hingegen Heroengräber und Phylendenkmäler wesentlich geeigneter als die in Delphi verwandte aggressive ‚Sprache des Temenos‘. [Nachtrag: Im Text nicht mehr berücksichtigt werden konnten folgende Publikationen: Birgit BERGMANN, Jenseits von Sieg und Niederlage. Zur Kommemoration militärischer Konflikte durch griechische Poleis in archaischer und klassischer Zeit (Habi-
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litationsschrift Regensburg 2018; im Druck); dies., Beyond Victory and Defeat. Commemorating Battles Prior to the Persian Wars, in: Maurizio GIANGIULIO, Elena FRANCHI, Giorgia PROIETTI (Hg.), Commemorating War and War Dead, Ancient and Modern, Stuttgart 2019, 111–129; James ROY, Memorials of War in Pausanias, in: ebd. 147-156; Janett SCHRÖDER, Die Polis als Sieger. Kriegsdenkmäler im archaischklassischen Griechenland (Klio Beih. N.F. 32), Berlin 2020.]
Zwischen Heiligen und Amphiktyonischen Kriegen Die regionalen Konflikte um das Heiligtum von Delphi und die Kämpfe um die Hegemonie in Zentralgriechenland Pierre Sánchez 1. Einführung Die Mehrheit der modernen Forscher nimmt an, dass das Heiligtum des Apollon in Delphi im Lauf seiner Geschichte vier Heilige Kriege erlebte: Der erste habe zur Zerstörung der Stadt Krisa/Kirrha1 und zur Weihung ihres Gebiets an den Gott zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. geführt; im zweiten (Mitte des 5. Jahrhunderts) griffen die Spartaner und die Athener nacheinander in Delphi ein, erstere zugunsten der Delpher, letztere zugunsten der Phoker; der dritte, in den Jahren 350–340, war gekennzeichnet durch eine neue Besetzung des Heiligtums durch die Phoker und wurde durch die Zulassung Philipps von Makedonien zum Rat der Amphiktyonen beendet; der vierte führte 340/339 zur Vertreibung der Amphisseer von dem dem Gott geweihten Land. Dieses System der Bezeichung und Zählung ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in Gebrauch.2 Es ist sehr bequem, da es erlaubt, die verschiedenen bewaffneten Konflikte, die die Geschichte von Delphi geprägt haben, schnell zu identifizieren. Allerdings entspricht es nicht den Nachrichten der antiken Autoren und hat den Nachteil, Ereignisse verschiedener Art auf die gleiche Stufe zu stellen, wie sich im Rahmen dieser Bestandsaufnahme zeigen wird.
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Die Toponyme Krisa und Kirrha erscheinen in unseren Quellen als austauschbar. Diese doppelte Benennung hat noch keine befriedigende Erklärung erfahren. Cf. ROBERTSON, 1978, 40–48; CÀSSOLA, 1980, 424–435. 2 Diese Einteilung geht auf H. Pomtow zurück. Cf. POWNALL, 1998, 43–44; LEFÈVRE, 1998, Amphictionie, 169–171.
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2. Der Heilige Krieg nach den antiken Quellen In der Antike kannte man in der Tat nur zwei Heilige Kriege. Der Krieg gegen Krisa/Kirrha wurde immer mit seinem geographischen Namen genannt: Man findet bald Κρισαι(κ)ὸς πόλεµος („der Krisaische Krieg“), bald πόλεµος πρὸς Κίρρᾳ („der Krieg gegen Kirrha“).3 Ebenso ist es mit dem kurzen Feldzug gegen Amphissa,4 der bald ὁ ἐν ᾿Αµφίσσῃ πόλεµος („der Krieg in Amphissa“), bald πόλεµος Ἀµφικτυονικός („der Amphiktyonische Krieg“) genannt wird, eine Bezeichnung, die nicht mit „Heiligem Krieg“ synonym ist, wie wir sehen werden.5 Nur die beiden Kriege, deren Ausgangspunkt ein Konflikt zwischen den Delphern und den Phokern um die Kontrolle des pythischen Heiligtums im 5. und 4. Jahrhundert war, werden mit dem Ausdruck ἱερὸς πόλεµος bezeichnet, in Übereinstimmung mit einem Scholiasten des Euripides: „man nennt ihn heiligen (Krieg) da er um das Heiligtum von Delphi stattfand“.6 Der Begriff des „Heiligen Krieges“ könnte in der Mitte des 5. Jahrhunderts von den Spartanern gebildet worden sein, um ihr Eingreifen zugunsten der Delpher als Krieg darzustellen, der zur Verteidigung des Heiligtums geführt wurde, das zu dieser Zeit von den Phokern besetzt war. Er könnte auch von den Delphern selbst geprägt und anschließend von der vox populi verbreitet worden sein. Man kann zwischen den beiden Hypothesen nicht entscheiden, aber sowohl die eine wie die andere erlaubt es, die Formulierung des Thukydides zu erklären, der es vorzieht, bei dieser Episode vom „sogenannten“ Heiligen Krieg (ἱερὸς καλούµενος πόλεµος), zu sprechen.7 Seiner historischen Methode getreu, die darin bestand, den Unterschied zwischen den vorgeschobenen Gründen und den wahren Ursachen der Konflikte darzustellen, war er vielleicht der Ansicht, dass dieser Kampf um das Heiligtum in Delphi den Titel „Heiliger Krieg“ nicht verdiente, da andere, weniger redliche Interessen im Spiel waren, sowohl auf der spartanischen wie auf der athenischen Seite.8 Im 4. Jahrhundert scheint Kallisthenes, gefolgt von Aristoteles, der erste gewesen zu sein, der den Titel ἱερὸς πόλεµος dem Krieg gegen die Phoker gegeben hat, der Philipp II. die Gelegenheit bot, seine Hegemonie im Süden 3
Callisth., FGrHist 124 T 25 und F 1; Hypoth. Pind. Nem. 9; Strab., 9,3,4.10. Cf. POWNALL, 1998, 49–53. 4 Dem., 18,143; Plut., Dem. 18,1. Cf. POWNALL, 1998, 53–54. 5 Dem., 18,143. 6 Schol. Eur. Troad. 9: καλεῖται δὲ ἱερὸς ὅτι περὶ τοῦ ἱεροῦ τοῦ ἐν Δελφοῖς ἐγένετο. Vgl. auch Hesych., ι 317 (s.v. ἱερὸν πόλεµον); Suda ι 191 (s.v. ἱερὸς πόλεµος). 7 Thuc., I 112,5. Cf. POWNALL, 1998, 37–38; MARI, 2006, 255–256 und Anm. 63 f. Für eine andere, weniger überzeugende Deutung dieser Bezeichnung cf. BRODERSEN, 1991, 7– 9. 8 Thuc., I 23,5–6.
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der Thermopylen zu festigen. Das überrascht nicht: Als Erzieher des jungen Alexander am makedonischen Hof hat Kallisthenes offensichtlich die offizielle Version des Königs Philipp übernommen, der sein Eingreifen in Zentralgriechenland als Krieg zur Befreiung des pythischen Heiligtums legitimierte, wie dies vor ihm auch die Spartaner getan hatten.9 Umgekehrt benutzen die attischen Redner, die mehr oder weniger offen die phokische Sache unterstützten, niemals das Adjektiv ἱερός für dieses Ereignis, das in ihren Reden immer Φωκικὸς πόλεµος („der phokische Krieg“) genannt wird.10 Je nach den Quellen, die sie benutzten, gebrauchten die späteren Autoren, vor allem Diodor, Strabon und Pausanias bald den einen, bald den anderen Ausdruck, mit denselben Differenzierungen und Vorbehalten wie Thukydides hinsichtlich der Formulierung.11
3. Der amphiktyonische Krieg und der Schutz des dem Gott geweihten Landes Zu den üblichen Aufgaben, die dem amphiktyonischen Rat zufielen, gehörten insbesondere die Verwaltung und der Schutz der beweglichen und unbeweglichen Güter des pythischen Heiligtums.12 Apollons Grund und Boden war in zwei Kategorien eingeteilt: Der Gott besaß urbare Parzellen von verschiedener Größe, die mitten unter dem privaten und öffentlichen Land der Delpher verstreut waren; sie waren aufgrund eines Gelübdes oder einer Konfiskation geweiht und an Privatpersonen vermietet. Er war auch Eigentümer des ihm geweihten Landes von Krisa / Kirrha, ein zusammenhängendes Gebiet, das von den Amphiktyonen in der archaischen Zeit geweiht und mit verschiede9
Callisth., FGrHist 124 F 1; Arist., Pol. V 4,1304a10–13. Cf. auch CID IV 10 (amphiktyonisches Dekret zu Ehren des Aristoteles und des Kallisthenes, die mit der Abfassung der Siegerliste der Pythischen Spiele seit den Anfängen beauftragt waren); POWNALL, 1998, 39–40, 44–49. 10 Dem., Or. 2,7; 10,47; 18,18; 19,83; Isocr., Or. 5,74; Aeschin., Or. 3,148. Cf. POWNALL, 1998, 38–39. 11 Duris, FGrHist 76 F 2; Diod., XVI 14,3; 23,1; 34,2; 38,6; 40,1; 59,1.4; 64,3; Strab., IX 3,8; 3,16; 4,11; Paus., V 24,2; VIII 27,9; IX 6,4; X 3,1.6; 13,6. Cf. POWNALL, 1998, 40–43. 12 Zur Zusammensetzung, den üblichen Aufgaben und der historischen Rolle der Amphiktyonie, cf. LEFÈVRE, Amphictionie, 1998, passim; SÁNCHEZ, 2001, passim, vor allem 466–485. Für eine andere Auffassung der Rolle dieser Einrichtung vor 346 cf. BOWDEN, 2003. Über die Anfänge der Amphiktyonie und ihre mögliche Rolle bei der Verbreitung des Begriffs von Hellas, cf. HALL, 2002, 134–154. Für eine Übersicht über die neueren Untersuchungen zur Amphiktyonie bis 2010 cf. LEFÈVRE, 2004, 105–110; LEFÈVRE, 2011, passim. Für die knappsten Darstellungen dieser Einrichtung, cf. DOUKELLIS, 2005; FUNKE, 2013, 453–458; SÁNCHEZ, 2013.
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nen Verboten belegt worden war.13 Insbesondere war es verboten, es zu bestellen, landwirtschaftliche Gebäude und Ziegelbrennereien zu errichten, die vom Vieh zurückgelassenen Ausscheidungen zu entfernen und, vielleicht, ein Feuer darauf zu entzünden.14 Dieses weite, fruchtbare Gebiet durfte ausschließlich als Weide für das Vieh verwendet werden, das dem Gott oder Privatpersonen gehörte; im 2. Jahrhundert v. Chr. wurde darin ein Raum abgegrenzt und den Herden vorbehalten, die Apollon heilig waren.15 Der Hafen von Kirrha, der den Pilgern als Landestelle diente, war von einer kleinen Gemeinde belegt: Den Einwohnern war verboten, Hafensteuern von den offiziellen Gesandtschaften zu kassieren, die sich nach Delphi oder zu den Thermopylen begaben.16 Die Unterkunft in den Säulenhallen wurde offensichtlich geduldet, aber nur für eine begrenzte Zeit, und es war nicht erlaubt, dort Bäckereien einzurichten; zudem hatten die Einwohner der Gegend nicht das Recht, von den Besuchern eine Miete zu verlangen.17 Die Regelung von 380 lehrt uns, dass die Hieromnemonen die Verpflichtung hatten, regelmäßig das dem Gott geweihte Land zu kontrollieren und schuldigen Landbebauer ein Bußgeld aufzuerlegen. Wenn sie ihre Pflichten vernachlässigten, wurden sie selbst mit einer Geldstrafe belegt, da sie sich zu Komplizen des Sakrilegs machten. Falls sie die Buße nicht bezahlten, musste der amphiktyonische Rat die Schuldigen vom Heiligtum ausschließen und gegen sie Krieg führen.18 Π[— — — — — — — — — αἴ τις τὰν γᾶν ἐπιερ]γάζ̣[ο]ιτο̣ ἃν Ἀµφικτίονες ἱάρωσαν, ἐπεί κ̣[α] ἁ π̣έ̣[ρο]δ̣ο̣ς̣ γ̣ί̣ν̣[η]τ̣α̣ι̣, ἀ̣ποτ[εισάτω — — —] στατῆρ̣α̣ς αἰγιναίος κὰτ τ[ὸ] πέλεθρον ἕ̣[κασ]τον. τ̣ο̣ὶ̣ δ̣ὲ̣ ἱ̣[εροµνάµονες περιιόντων ἀεὶ τὰν ἱερὰν γᾶν] καὶ π̣ρ̣[ασ]σόντων τὸν ἐπιεργαζόµενον· αἰ δὲ µὴ περιιεῖεν ἢ µ̣[ὴ πράσσοιεν, ἀποτεισάτω ὁ µὴ περιιὼν] µηδ’ ἐ̣[κπ]ράσσων τριάκοντα στατῆρας· αἰ δέ κα µὴ ἀποτίνηι Θ[— — ἁ πόλις ἐξ ἇς κ’ εἶ ὁ ἱαροµνάµων?] εἰλέσ[θω] τοῦ ἱαροῦ καὶ στρατευόντων ἐπ’ αὐτὸ̄ς Ἀµφικτύονες [— — — — — — — — — — —].
13 Zum Territorium der Stadt der Delpher und den Apollon geweihten Grundstücken, cf. ROUSSET, 2002, passim. 14 CID I 10 = CID IV 1, l. 15–21; CID IV 51, l. 12–17; FD III 4,280 C, l. 31.36; Aeschin., Or. 3,113.119.123; Dem., Or. 18,150; Diod., XVI 23,3. Cf. ROUSSET, 2002, 188– 192.213–215. 15 SOPH. El. 180–181; ISOCR. 14,31; CID IV 108, l. 19–31. Cf. ROUSSET, 2002, 192– 205. 16 CID IV 2, l. 7–11. Cf. ROUSSET, 2002, 190–191. Aischines behauptet zu Unrecht, die Bauten am heiligen Hafen seien gesetzwidrig gewesen (3,119). 17 CID I 10 = CID IV 1, l. 21–26. Cf. ROUSSET, 2002, 190. 18 CID I 10 = CID IV 1, l. 15–20.
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[Wenn jemand] [die Erde] kultiviert, die die Amphiktyonen geweiht haben, wird er, wenn die Kontrolle stattfindet, [— — —] äginetische Statere bezahlen für jedes bebaute Plethron. Die Hi[eronmnemonen werden den dem Gott geweihten Boden kontrollieren] und die Bußgelder von denen einziehen, die ihn bebaut haben. Wenn sie ihn nicht kontrollieren oder [wenn sie die Bußgelder nicht einziehen, wird derjenige, der die Kontrolle nicht durchgeführt hat] und auch nicht die Einziehung, dreißig Statere bezahlen. Wenn er nicht bezahlt, wird [— — — die Stadt des Hieromnemon?] vom Heiligtum ausgeschlossen und die Amphiktyonen werden gegen sie in den Krieg ziehen [— — —].
Die Lücke am Ende von Zeile 19 hindert uns daran zu wissen, auf wen der Ausschluss vom Heiligtum und der amphiktyonische Krieg zielte. In der Tat steht das Verb εἴλω am Beginn von Zeile 20 im Imperativ Singular, aber das Pronomen, das dem Verb στρατεύω folgt, steht im Akkusativ Plural (αὐτὸ̄ς). In Analogie zu der am besten erhaltenen Klausel der Zeilen 39–40 kann man annehmen, dass der Ausschluss vom Heiligtum auf die Stadt des nachlässigen Hieromnemon zielt.19 Was den amphiktyonischen Krieg betrifft, so folgte ich früher der Hypothese von Georges Roux, nach der nur die schuldigen Landbebauer bedroht waren.20 Heute bin ich versucht, mich der Deutung von Georges Rougemont und François Lefèvre anzuschließen, die die Erzählungen des Aischines und Demosthenes anders interpretieren. Tatsächlich zielte nach diesen beiden Autoren die von den Amphiktyonen ausgesprochene Verwünschung anlässlich der Weihung des Territoriums von Krisa / Kirrha auf alle, die auf die eine oder andere Art an dem Frevel teilhatten. Der amphiktyonische Rat hatte also theoretisch die Möglichkeit, nicht nur der Gemeinschaft der Schuldigen den Krieg zu erklären, sondern auch den Städten und Völkern, die es versäumt hatten, sie zu bestrafen.21 Die Regelung von 380 zeigt, dass der amphiktyonische Krieg eine Maßnahme war, zu der man nur im äußersten Fall griff, wenn die finanziellen Sanktionen ohne Wirkung geblieben waren. Offensichtlich mussten die Bußgelder spätestens anlässlich der folgenden Sitzung – oder Pylaia – des amphiktyonischen Rats ausbezahlt werden, der sich zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst, versammelte.22 Wurden die Bußen nicht bezahlt, so konnten die Hieromnemonen die Schuldigen mit strengsten Strafen bedrohen, aber sie hatten nicht die Befugnis, sofort einen amphiktyonischen Krieg zu erklären.23 Es scheint in der Tat, dass die Hieromnemonen nach Hause gehen und 19
CID I 10 = CID IV 1, l. 39 f.: αἴ κα µὴ ἀποτίνηι τ[οῖ]ς̣ ἱεροµναµόνεσσι το̣[ῖς Ἀµφικτιονικοῖς εἰλέσθω τοῦ ἱ]/αροῦ ἁ πόλις ἐξ ἇς κ’ εἶ ὁ ἱαροµνάµων ἔντε κα ἀποτείσηι. 20 ROUX, 1982, 228–229 und Anm. 5; SÁNCHEZ, 2001, 158–160 und 225 n. 4. 21 Aeschin., Or. 3,109–111.117.121 f.; Dem., Or. 5,14.18 f.; 18,143; ROUGEMONT, in: CID I, 97 und 108–110; LEFÈVRE, in: CID IV, 42–45 und 466; ROUSSET, 2002, 189, Anm. 712. 22 Zum Kalender der Versammlungen des amphiktyonischen Rats, cf. LEFÈVRE, 1991, passim; LEFÈVRE, 1998, Amphictionie, 197–204. 23 Diod., XVI 23,3.
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die Behörden ihrer Gemeinschaft konsultieren mussten, bevor sie eine so schwerwiegende Entscheidung trafen. Sie versammelten sich erneut anlässlich einer ordentlichen oder außerordentlichen Pylaia, jeder mit einem Beschluss versehen, der die offizielle Ansicht der Städte und Völker enthielt, die Mitglieder der Amphiktyonie waren. Die Entscheidung, in den Krieg einzutreten, wurde dann von der Mehrheit der im Rat anwesenden Hieromnemomen getroffen.24 Mangels Quellen wissen wir nicht, wie die Städte, die nur im Turnus im amphiktyonischen Rat saßen, ihre Meinung kundtaten.25
4. Der Krieg gegen Krisa / Kirrha Der Krieg gegen die Stadt Krisa / Kirrha hinterließ keine Spuren in den Werken von Herodot und Thukydides. Die Existenz einer den Viehherden vorbehaltenen Ebene von Krisa ist zum ersten Mal bei Sophokles belegt.26 Die Rolle der Amphiktyonen ist in der Weihung des Territoriums in der Regelung von 380 ausdrücklich genannt.27 Schließlich erinnert sich Isokrates in dem 373 verfassten Plataikos, dass die Thebaner beim Ausgang des Peloponnesischen Krieges 404 „die Meinung geäußert hatten, man müsse Athen versklaven und sein Territorium den Viehherden überlassen wie die Ebene von Krisa“.28 Hingegen sind alle Erzählungen, die über den militärischen Feldzug selbst erhalten sind, der von unseren Quellen in die ersten Jahre des 6. Jahrhunderts datiert wird, später als der Heilige Krieg gegen die Phoker Mitte des 4. Jahrhunderts und als die Zulassung Philipps von Makedonien zum amphiktyonischen Rat im Jahre 346, ein Ereignis, das einen Wendepunkt in der Geschichte und der Geschichtsschreibung der Delpher und der Amphiktyonie darstellte.29
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Aeschin., Or. 3,124.128; Diod., XVI 28,4. Zu den Verfahren der Inkraftsetzung der Entscheidungen des amphiktyonischen Rats s. LEFÈVRE, 1998, Amphictionie, 218–220.241–256, vor allem 250–254; SÁNCHEZ, 2001, 233 f.510–515. 26 Soph., El. 180 f. 27 CID I 10 = CID IV 1, l. 15–16, angeführt oben S. 236 Anm. 18. 28 Isocr. Or. 14,31: ἔθεντο τὴν ψῆφον, ὡς χρὴ τήν τε πόλιν ἐξανδραποδίσασθαι καὶ τὴν χώραν ἀνεῖναι µηλόβοτον ὥσπερ τὸ Κρισαῖον πεδίον. 29 Cf. Speus., Epist. ad Phil. 8 = Antipat., FGrHist 69 F 2. Zur antiken historiographischen Tradition über die Amphiktyonie und zur Bedeutung des Jahres 346, cf. ROBERTSON, 1978, 39–40.51–54; LEFÈVRE, 1995, 19–22; SÁNCHEZ, 2001, 16–30, besonders 26– 30. 25
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Abgesehen von Varianten im Detail unterscheidet man in der literarischen Tradition vier Hauptversionen dieser Episode.30 Nach Kallisthenes handelte es sich um einen Krieg zwischen Krisa / Kirrha und den Phokern, der durch die Entführung mehrerer Frauen provoziert worden war.31 Die drei anderen Versionen stellen die Angelegenheit als Konflikt zwischen Krisa / Kirrha und den Amphiktyonen dar: Die erste weist die Kriegsführung Alkmeon von Athen zu, auf Anraten von Solon.32 Die zweite gibt die Hauptrolle dem Tyrannen Kleisthenes von Sikyon, bisweilen ebenfalls beraten von Solon.33 In der dritten wird die Leitung der Operation von dem Thessaler Eurylochos wahrgenommen, mit Hilfe der Asklepiaden von Kos.34 Außerdem variieren die Verbrechen, die den Einwohnern von Krisa / Kirrha zugeschrieben werden, um ihre Bestrafung zu rechtfertigen, je nach den Quellen beträchtlich: Plünderung des Tempels, versuchter Diebstahl des Dreifußes, Besetzung des Landes, das dem Gott gehört, Verbrechen gegen die Amphiktyonen, Versklavung der Delpher, Wegelagerei und Gewalt auf den Straßen, die zum Heiligtum führen, oder auch Erhebung von Steuern von den Pilgern. Mehrere Autoren bringen diesen Krieg auch mit der Neuordnung der Pythischen Spiele in den 580er Jahren in Verbindung. Die Mehrzahl der neuzeitlichen Historiker akzeptiert die Historizität dieses angeblichen „ersten Heiligen Krieges“, der oft als ein größeres Ereignis der griechischen archaischen Geschichte betrachtet wird. Es herrscht allerdings völlige Uneinigkeit, was den Wert, den man den verschiedenen Varianten der Tradition beimessen soll, und die Bedeutung des Konflikts anbelangt. Die einen sehen in ihm einen Handelskrieg zwischen Krisa / Kirrha und Sikyon; die anderen einen Konflikt zwischen Krisa / Kirrha und dem koinon der Phoker, in den sich die Thessaler eingemischt hätten. Einige deuten den Krieg im Kontext der Expansion der Thessaler nach Süden: Er sei durch die Ankunft der Amphiktyonen in Delphi am Ende des 7. Jahrhunderts ausgelöst worden. Die Mehrheit nimmt dagegen an – im Widerspruch zu den antiken Quellen –, dass das Eingreifen des amphiktyonischen Rats in die Angelegenheiten des 30 Zu den Varianten und Widersprüchen der Überlieferung s. ROBERTSON, 1978, passim, vor allem 64–68; SÁNCHEZ, 2001, 67–73; HALL, 2007/20142, 276–281/312–317; LONDEY, 2015, 222–225. 31 Callisth., FGrHist 124 T 25 und F 1. 32 Aeschin., Or. 3,107–112; Diod., IX 16; Plut., Sol. 11,1 f., der die Siegerliste der Pythischen Spiele zitiert, die von Aristoteles und Kallisthenes ausgearbeitet worden war. Zu dieser Liste und ihrer historischen Einführung in den Krieg gegen Krisa vgl. CID IV 10; CID II 97, l. 42–43; 98, l. 5–7; 99A, l. 9–10; 102, col. I, l. 42–45; Arist., Frg. 637 Rose3; Diog. Laert., V 26, n° 20–23; Hesych., β 893; Hesych., Vit. Arist., n° 123–125; ROBERTSON, 1978, 54–60. 33 Paus., II 9,6; X 37,5–8; Schol. Pind. N. 9 inscr.; Suda, σ 777 (s.v. Σόλων); Polyaen., Strat. III 5; Front., Strat. III 7,5. 34 [Thessal.], Presbeut. = Hippocr., Epist. 27, vol. IX, 404–415 Littré; Strab., IX 3,4.10; Polyaen., Strat. VI 13; Hypoth. Pind. P. a–d; Hypoth. Pind. O.
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Heiligtums eine Folge des Konflikts war, und zwar am Beginn des 6. Jahrhunderts: Einige wollten die Auffälligkeiten, die man in den Listen der Hieromnemonen im 4. Jahrhundert feststellen kann, mit einer hypothetischen Neuordnung des Amphiktyonen-Rats kurz nach dem Ende des Krieges gegen Krisa / Kirrha in Verbindung bringen, die zu einer Zulassung neuer Mitglieder geführt habe.35 Außerdem sahen mehrere Historiker eine Anspielung auf diese Episode in den letzten Versen des homerischen Apollon-Hymnos, wo die Ankunft neuer Herren in Delphi behandelt wird, ferner in dem Gedicht, das den Kampf zwischen Herakles und Kyknos um den Dreifuß erzählt, oder auch in der sehr beliebten Legende des Kampfes um den Dreifuß zwischen Herakles und Apollon, die bereits auf dem Bein eines Dreifußes aus Olympia aus dem 8. Jahrhundert dargestellt ist. Es herrscht aber keine wirkliche Einigkeit hinsichtlich der Bedeutung, die man diesen legendenhaften Überlieferungen zuschreiben sollte.36 Schließlich haben Noel Robertson und Peter Londey die Historizität dieses Krieges mit Argumenten abgelehnt, die Beachtung verdienen: das Schweigen Herodots, der sich doch für Kleisthenes von Sikyon, Solon und die Alkmeoniden interessierte; die Inkohärenzen und Widersprüche der literarischen Tradition; der Name des Eurylochos, der auch von einem Strategen und Hieromnemon des Königs Philipp getragen wird; das Fehlen jeglicher archäologischer Spuren einer mächtigen Stadt, die zu Beginn des 6. Jahrhunderts zerstört worden wäre.37 Nach ihnen ist der „Krieg von Krisa“ eine Fiktion, die im 5. oder 4. Jahrhundert geschaffen wurde, um einen Präzedenzfall für den
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Für die verschiedenen modernen Hypothesen und weiterführende bibliographische Hinweise vgl. DAVIES, 1994, 195–197; LEFÈVRE, 1998a, 14–16.349–350; JACQUEMIN, 1999, 12–14; MCINERNEY, 1999, 65.105.135.156.162–178.309–312; SÁNCHEZ, 2001, 58– 80; ROUSSET, 2002, 283–286; MORGAN, 2003, 123–131; SCOTT, 2010, 51–56; SCOTT, 2014, 71–82.144–145; MARI, 2014, 115–119; LONDEY, 2015, 226–233. Zur Entwicklung und Zusammensetzung des amphikyonischen Rats im Lauf seiner Geschichte s. LEFÈVRE, 1998a, 14–139; HALL, 2002, 136–139. 36 Hom. Hymn. Apoll., 538–543; [Hes.], Scut. 478–480; Apollod., Bibl. II 130 [= II 6,2]; Paus., III 21,8; 10,37,7–8; Plut., De E 6, 387d; De sera 12, 557c; 17, 560d. Für bibliographische Hinweise s. ROBERTSON, 1978, 48–51; CLAY, 1989, 85–94; DAVIES, 1994, 203; SÁNCHEZ, 2001, 63–66. S. jetzt WAGNER-HASEL, 2000, 282–295; HOWE, 2003, 138–139; CHAPPELL, 2006; KYRIAKIDIS, 2011, 81–85, mit weiteren Hinweisen; LONDEY, 2015, 234–235. Siehe in diesem Band auch den Beitrag von von Alvensleben, unten S. 267–295, und den von Wagner-Hasel, oben S. 137–154. 37 Die neuen Forschungen haben nur ein kleines Heiligtum des 7. Jahrhunderts in Agia Varvara identifiziert, das noch im 6. Jahrhundert in Betrieb war. S. MCINERNEY, 1999, 309–312; ROUSSET, 2002, 43 f.; LONDEY, 2015, 229.
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einen oder anderen der Konflikte zu schaffen, die die Geschichte des Heiligtums in den Jahren 450–440 oder in den Jahren 350–340 kennzeichneten.38 Ich glaube außerdem, dass weder die späte historiographische Tradition über die Zerstörung von Krisa / Kirrha noch die archaischen Legenden noch die Amphiktyonenlisten der klassischen Zeit vertrauenswürdige und verwertbare Quellen sind, wenn man versuchen will zu verstehen, was sich in Delphi am Ende des 7. Jahrhunderts und am Anfang des 6. Jahrhunderts abgespielt hat.39 Ich habe im Jahr 2011 dennoch die Historizität dieses Krieges akzeptiert, wobei ich auf eine genaue Interpretation verzichtet habe, aber ich habe heute vermehrt Zweifel und werde mich nur an die tragfähigen Elemente halten, die uns zur Verfügung stehen. Zunächst einmal wissen wir, dass die Amphiktyonen, wahrscheinlich im Jahre 582/1, die Pythischen Spiele endgültig in panhellenische penteterische (alle fünf Jahre stattfindende) Wettkämpfe umwandelten, an denen Siegeskränze verliehen wurde (stephanitai).40 Wir wissen auch, dass im gleichen Zeitraum im Heiligtum wichtige Arbeiten unternommen wurden: Das Temenos wurde um 585–575 vergrößert und mit einer neuen Umfassungsmauer umgeben; der archaische Tempel wurde um 580 neugebaut oder restauriert.41 Außerdem ist die Weihung eines weiten Gebiets im Süden Delphis, das den Viehherden überlassen wurde, durch die Amphiktyonen eine unbestreitbare historische Tatsache, die durch Sophokles, durch die Regelung von 380 und durch den Plataikos des Isokrates dokumentiert ist. Der genaue Zeitpunkt dieser Weihung ist unbekannt, aber es scheint sinnvoll, sie mit der Neugestaltung des Heiligtums und der Wettkämpfe in den 580er Jahren in Beziehung zu setzen, wie es übrigens bestimmte späte Quellen tun.42 Man kann daher die ersten Jahrzehnte des 6. Jahrhunderts als einen Wendepunkt in der Geschichte von Delphi betrachten, das offiziell in den Rang 38
ROBERTSON, 1978 (mit den Entgegnungen von LEHMANN, 1980 und CÀSSOLA, 1980); LONDEY, 2015. 39 SÁNCHEZ, 2001, 58–74. Cf. auch DAVIES, 1994, passim, vor allem 205–206; BOWDEN, 2003, 75. 40 Arist., Frg. 637 Rose3; Hypoth. Pind. P. a–b–d; SCHOL. Pind., P. 4,198; Marmor Par., FGrHist 239 A37–38; [Thessal.], Presbeut. 21; Paus., VI 4,10; X 7,4–6; X 33,8; Strab., IX 3,10; Plut., Sol. 11,2. Die Quellen machen widersprüchliche Angaben, was die ersten Reformen des Wettkampfes betrifft, die in die Jahre 591/0 oder 586/5 datiert werden, aber das Datum 582/1 für die erste Abhaltung der penteterischen Wettkämpfe mit Siegeskränzen ist heute nicht mehr umstritten. Für eine Bestandsaufnahme und weiterführende bibliographische Hinweise vgl. ROBERTSON, 1978, 60–63; LEFÈVRE, 1998a, 237– 239; SÁNCHEZ, 2001, 75–77. Vgl. jetzt DAVIES, 2007, 49–52; PERROT, 2009; WEIR, 2004, 10–14. 41 Vgl. JACQUEMIN 1993, 222 f.; JACQUEMIN, 1999, 30 und Anm. 184; LEFÈVRE, 1998a, 15; SÁNCHEZ, 2001, 78 und Anm. 93–95; DAVIES, 2007, 52–56; SCOTT, 2010, 48–51. 42 Nach LONDEY, 2015, 229–235 könnte die Ankunft der Amphiktyonen in Delphi und die offizielle Weihung des Geländes auf das Ende des 6. Jahrhunderts zu datieren sein.
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eines panhellenischen Heiligtums erhoben und mit einem großen dem Gott geweihten Gebiet ausgestattet wurde. Die Vertreibung allfälliger Landwirte von diesem fruchtbaren Boden spielte sich vermutlich nicht ohne Einsatz von Gewalt und Widerstand ihrerseits ab, aber diese Maßnahme war nicht notwendigerweise die Folge eines regelrechten militärischen Feldzugs, der gegen eine Stadt gerichtet war und der die Bezeichnung „erster Heiliger Krieg“ rechtfertigen würde.43 Die wirklichen Gründe, die die Amphiktyonen dazu veranlassten, Apollon das Territorium von Krisa / Kirrha zu weihen, können vielfältig gewesen sein: Die Maßnahme erlaubt es, ein dem Gott vorbehaltenes „no man’s land“ zu schaffen, wie man es auch anderorts in Griechenland kennt. Sie erleichtert den Zugang zum Heiligtum und für die Pilger und die Gesandtschaften, die vom Meer herkommen, indem sie Delphi mit dem Hafen von Kirrha verbindet. Sie stellt zudem dem Heiligtum eine ausgedehnte Weidefläche zur Aufzucht der Tiere zur Verfügung, die für die Opfer vorgesehen waren, für die Überwinterung der Herden, die den Bevölkerungen gehören, die Mitglieder der Amphiktyonie sind, und für die Abhaltung von Viehmärkten anlässlich der verschiedenen Festlichkeiten, die im Heiligtum veranstaltet werden. Schließlich wurden in der heiligen Ebene auch die Wagen- und Pferderennen während der Pythischen Spiele abgehalten.44
5. Der „sogenannte Heilige“ Krieg des 5. Jahrhunderts Dieser Krieg ist aus einem kurzen Abschnitt bei Thukydides bekannt, der ihn nach dem Tod des Kimon in Zypern (450) aber vor der Niederlage der Athener gegen die Böoter bei Koroneia (447/6) einordnet, entweder 449/8 oder 448/7. Die Lakedaimonier führten danach den sogenannten Heiligen Krieg und übergaben das delphische Heiligtum, nachdem sie sich seiner bemächtigt hatten, den Delphern; später dann wieder, nachdem die Spartaner abgezogen waren, rückten die Athener heran, bemächtigten sich des Heiligtums und übergaben es den Phokern.45
43
Vgl. SÁNCHEZ, 2001, 77–80; BOWDEN, 2002, 75; HALL, 2007/20142, 281/317; MARI, 2014, 117–119. 44 Schaffung eines „no man’s land“: DAVERIO ROCCHI, 1988, 122; SÁNCHEZ, 2001, 77 f.; ROUSSET, 2002, 285; BOWDEN, 2003, 75; HORSTER, 2004, 120–122. Schaffung von Weideflächen: MCINERNEY, 1999, 100–108; WAGNER-HASEL, 2000, 286–288; HOWE, 2003; MCINERNEY, 2010, 149–153; HALL, 2007/20142, 281/317; LONDEY, 2015, 229–231. Siehe auch den Beitrag von B. WAGNER-HASEL in diesem Band, S. 147–152. 45 Übersetzung Weißenberger 2017, 251. Thuc., I 112,5: Λακεδαιµόνιοι δὲ µετὰ ταῦτα τὸν ἱερὸν καλούµενον πόλεµον ἐστράτευσαν, καὶ κρατήσαντες τοῦ ἐν Δελφοῖς ἱεροῦ παρέδοσαν Δελφοῖς· καὶ αὖθις ὕστερον Ἀθηναῖοι ἀποχωρησάντων αὐτῶν στρα-
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Aus diesem kurzen Hinweis kann man folgende Informationen ableiten: Zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt, der aber in den 450er Jahren liegen könnte, haben sich die Phoker des Heiligtums von Delphi bemächtigt; die Spartaner griffen bewaffnet ein, um seine Leitung den Delphern zurückzugeben – so ist das Verb παραδίδωµι zu verstehen. Dank des Einsatzes der Athener einige Zeit später konnten die Phoker erneut für eine unbestimmte Zeit die Kontrolle über das Heiligtum zurückerlangen. Der Ursprung dieser Angelegenheit war also ein hauptsächlich lokaler Konflikt zwischen dem koinon der Phoker und der Stadt der Delpher, die sich um das Recht stritten, die Angelegenheiten und die finanziellen Mittel des pythischen Heiligtums zu verwalten. Zur Unterstützung ihrer Ansprüche gaben die ersten vielleicht vor, Delphi sei eine Stadt phokischen Ursprungs und müsse sich daher ihrem koinon anschließen, das wahrscheinlich am Ende des 6. Jahrhunderts geschaffen worden war. Demgegenüber stritten die Delpher, die an ihrer Unabhängigkeit festhielten, alle Zugehörigkeit zum phokischen ethnos ab.46 Die griechische Geschichte ist von Konflikten dieser Art gekennzeichnet, aber in diesem Fall war das Streitobjekt die Verwaltung eines panhellenischen Heiligtums, Sitz der Pythischen Spiele und des wichtigsten Orakels der griechischen Welt. Zudem erfolgte die Besetzung von Delphi durch die Phoker zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Spartaner und die Athener seit mehreren Jahren um die Vorherrschaft in Zentralgriechenland stritten. 451/0 war ein Waffenstillstand zwischen ihnen geschlossen worden, aber die beiden rivalisierenden Mächte verfolgten ihre Auseinandersetzung weiter mit indirekten Mitteln: Dies ist sicher der Grund, weshalb Thukydides es nützlich fand, in seiner langen Einleitung über das Wachsen des athenischen Imperialismus diesen „Heiligen Krieg“ zu erwähnen, obwohl er Vorbehalte gegen die Richtigkeit dieser Bezeichnung äußerte. Offiziell griffen die Spartaner ein, um die Unabhängigkeit der Delpher und des Heiligtums zu bewahren, aber sie wünschten auch, die Ausdehnung des phokischen koinon zu verhindern, τεύσαντες καὶ κρατήσαντες παρέδοσαν Φωκεῦσιν. Man findet dieselbe Version bei Plut., Per. 21,2 f., mit zusätzlichen Einzelheiten, wie auch bei Hesych., ι 317 (s.v. ἱερὸν πόλεµον); Schol. Eur. Troad. 9. In Schol. Ar. Av. 556, das auf Thukydides (I 112,5) verweist, bei Theopomp (FGrHist 115 F 156), Philochoros (FGrHist 328 F 34a–b) und Eratosthenes (FGrHist 241 F 38) findet man drei andere Versionen dieses Ereignisses, darunter eine, in der von zwei verschiedenen Heiligen Kriegen die Rede ist, in den Jahren 458–457 und 449–447. Die Mehrheit der modernen Historiker hat sie zugunsten der Erzählung des Thukydides beiseite geschoben. Vgl. LEFÈVRE, 1998a, 31.54.72; SÁNCHEZ, 2001, 106–108 und Anm. 140 f.; MARI, 2006, 233 f. 248–252. Vgl. aber MCINERNEY, 1999, 188; BOWDEN, 2003, 75 Anm. 68. 46 Strab., IX 3,15; Paus., IV 34,11; Schol. Eur. Troad. 9. Zu den Beziehungen von Delphi und dem koinon der Phoker vgl. MCINERNEY, 1999, passim, vor allem 65.120– 157.205–208; ROUSSET, 2002, 29, 118 f.; KYRIAKIDIS, 2011; LONDEY, 2015, 231f.
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das nach der Schlacht von Oinophyta (457) zum Eintritt in den Athenischen Seebund gezwungen worden war. Die Athener ihrerseits unterstützten die Ansprüche ihrer neuen phokischen Verbündeten, selbst wenn sie damit ihre eigenen Interessen in Zentralgriechenland vor diejenigen des pythischen Heiligtums stellten, wie sie es erneut im 4. Jahrhundert tun würden.47 Diese indirekte Konkurrenz um die Führungsposition in Zentralgriechenland zwischen Athen und Sparta wird von einer Anekdote beleuchtet, die Plutarch berichtet: Nach der Vertreibung der Phoker hätten die Spartaner die promanteia der Delpher bekommen, und sie hätten sie auf die Stirn eines Bronzewolfes eingravieren lassen. Nach ihrem Eingreifen in Delphi hätten die Athener dieses Privileg ebenfalls bekommen und es aus reiner Provokation auf die Seite desselben Wolfes schreiben lassen.48 Man weiß nicht, ob die Phoker die Leitung des Heiligtums ununterbrochen bis zur Zeit des Peloponnesischen Krieges behielten, oder ob sie sich gezwungen sahen, es nach der Vereinbarung des Dreißigjährigen Friedens im Jahr 446/5 erneut zu räumen.49 Auf jeden Fall wurde die Frage beim Abschluss des Waffenstillstands von 423 und beim Nikiasfrieden 421 erneut diskutiert. Diese zwei Verträge beginnen in der Tat mit Sätzen, die sich auf das pythische Heiligtum beziehen; der zweite enthält auch eine Passage hinsichtlich der Stadt der Delpher:50 Das Heiligtum und die Orakelstätte des Pythischen Apollon betreffend sind wir der Auffassung, dass jeder, der will, sie befragen darf ohne böse Absicht und Gefahr gemäß den Bräuchen aus alter Zeit. (2) Dies ist die Auffassung der Lakedaimonier und der anwesenden Verbündeten; die Boioter und Phoker versprechen sie durch Gesandte nach Kräften für diese Position gewinnen zu wollen. (3) Den Schatz des Gottes betreffend soll dafür gesorgt werden, die Übeltäter ausfindig zu machen und in korrekter und rechtlicher Weise und Anwendung der Bräuche aus alter Zeit – von euch und von uns und von allen anderen, die wollen, wobei alle sich an die Bräuche aus alter Zeit halten.51
47
Thuc., I 108,3; Diod., XI 83,3. Vgl. MCINERNEY, 1999, 188–194; SÁNCHEZ, 2001, 111–113; MARI, 2006, 249 und Anm. 49. 48 Plut., Per. 21,3. 49 Vgl. ROUX, 1979, 45; MCINERNEY, 1999, 190.193; JACQUEMIN, 1999, 15.47; ROUSSET, 2002, 118–119; SCOTT, 2014, 131 f. Letzterer erwähnt vor allem die Statue des Apollon Sitalkas, die von den Amphiktyonen mit dem Geld einer den Phokern auferlegten Busse errichtet wurde (Diod., XVI 33,1; Paus., X 15,1 f.), und die bereits im 5. Jahrhundert, nach dem Heiligen Krieg, hätte geweiht sein können. 50 Vgl. HORNBLOWER, 1996, 363–365.471–473; MCINERNEY, 1999, 192 f.; JACQUEMIN, 1999, 14 f.; SÁNCHEZ, 2001, 115–117; MARI, 2006, 236–239.253 f. 51 Übersetzung Weißenberger 2017, 777. Thuc., IV 118,1–3: περὶ µὲν τοῦ ἱεροῦ καὶ τοῦ µαντείου τοῦ Ἀπόλλωνος τοῦ Πυθίου δοκεῖ ἡµῖν χρῆσθαι τὸν βουλόµενον ἀδόλως καὶ ἀδεῶς κατὰ τοὺς πατρίους νόµους. τοῖς µὲν Λακεδαιµονίοις ταῦτα δοκεῖ καὶ τοῖς ξυµµάχοις τοῖς παροῦσιν· Βοιωτοὺς δὲ καὶ Φωκέας πείσειν φασὶν ἐς δύναµιν προσκηρυκευόµενοι. περὶ δὲ τῶν χρηµάτων τῶν τοῦ θεοῦ ἐπιµέλεσθαι ὅπως τοὺς
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Was die gemeinsamen heiligen Stätten angeht, so soll jedem, der will, freistehen, dort zu opfern, das Orakel zu befragen und sich als Besucher einzufinden nach den Bräuchen der alten Zeit, und zwar auf dem Land wie auf dem Seeweg, in völliger Sicherheit. Der heilige Bezirk und der Tempel des Apollon in Delphi und die Bewohner Delphis sollen nach eigenen Gesetzen, mit eigener Besteuerung und eigener Gerichtsbarkeit leben, für sie selbst und für ihr Gebiet, gemäß den Bräuchen aus alter Zeit.52
Im Jahr 423 begannen die Spartaner, die damals Zentralgriechenland kontrollierten, den sicheren Zugang zum Heiligtum für alle kriegführenden Parteien zu gewährleisten. Die Maßnahme betraf in erster Linie die Athener und ihre Verbündeten, die die feindlichen Gebiete der Böoter und der Phoker durchqueren mussten, um sich nach Delphi zu begeben.53 Insbesondere die Böoter waren gegen jegliche Verhandlungen mit Athen und beteiligten sich nicht an den Absprachen. Deshalb begannen die Spartaner, ihnen wie auch den Phokern Boten zu schicken, um sie zu überzeugen, diesen Absatz des Vertrags zu respektieren. Sie schlugen außerdem den Athenern und jeder Person guten Willens vor, Ermittlungen anzustellen, um die Personen zu finden, die die heiligen Schätze geplündert hatten. Dieses Problem stellte sich Delphi wiederholt: Im 3. Jahrhundert ehrte der damals von den Ätoliern beherrschte amphiktyonische Rat gewisse Privatpersonen, die es ermöglicht hatten, gestohlene heilige Güter zurückzubekommen. Im 2. Jahrhundert ließ er dreizehn Delpher verurteilen, die Unterschlagungen in der Verwaltung der Einkünfte des Gottes begangen hatten; in der Kaiserzeit musste sich Kaiser Hadrian persönlich um ähnliche Vergehen kümmern.54 Im Jahr 421 wurden die zwei Jahre zuvor ergriffenen Maßnahmen bezüglich des Zugangs zu Delphi bestätigt und auf alle panhellenischen Heiligtümer ausgedehnt. Die zweite Klausel stellt eine Neuigkeit dar: Die Spartaner verkündeten die Unabhängigkeit des eigentlichen Heiligtums und der Stadt der Delpher, die zwei getrennte Einheiten darstellten. Diese Maßnahme zielte hauptsächlich auf die Phoker, die darauf bestanden, die Kontrolle des Heiligtums zu beanspruchen und die vielleicht auch danach strebten, die Stadt der Delpher in ihr koinon einzugliedern.
ἀδικοῦντας ἐξευρήσοµεν, ὀρθῶς καὶ δικαίως τοῖς πατρίοις νόµοις χρώµενοι καὶ ὑµεῖς καὶ ἡµεῖς καὶ τῶν ἄλλων οἱ βουλόµενοι, τοῖς πατρίοις νόµοις χρώµενοι πάντες. 52 Übersetzung Weißenberger 2017, 833. Thuc., V 18,2: περὶ µὲν τῶν ἱερῶν τῶν κοινῶν, θύειν καὶ ἰέναι καὶ µαντεύεσθαι καὶ θεωρεῖν κατὰ τὰ πάτρια τὸν βουλόµενον καὶ κατὰ γῆν καὶ κατὰ θάλασσαν ἀδεῶς. τὸ δ' ἱερὸν καὶ τὸν νεὼν τὸν ἐν Δελφοῖς τοῦ Ἀπόλλωνος καὶ Δελφοὺς αὐτονόµους εἶναι καὶ αὐτοτελεῖς καὶ αὐτοδίκους καὶ αὑτῶν καὶ τῆς γῆς τῆς ἑαυτῶν κατὰ τὰ πάτρια. 53 Vgl. Ar., Av. 188 f.: Im Jahr 414 verlangten die Böoter ein Wegerecht von den Athenern, die auf dem Weg nach Delphi waren. 54 CID IV, 14, 20–23, 25, 41, 118, 119D und F–I, 152, col. II, l. 8–16. Vgl. LEFÈVRE, 1998a, 50–51.230 f.252 f.; SÁNCHEZ, 2001, 312–314.411 f. 446 f.
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Die Amphiktyonie wird im Bericht des Thukydides nirgendwo erwähnt, obwohl ihr die Aufgabe oblag, die Angelegenheiten des Heiligtums zu überwachen und seine Belange – insbesondere die finanziellen – zu verteidigen. 55 Dies lässt sich durch die Kürze der Notiz bei Thukydides erklären, aber diese Erklärung taugt nicht mehr für die beiden Verträge, denn bei ihnen handelt es sich um offizielle Dokumente, von denen der Historiker den vollständigen Text wiedergibt.56 Man sollte daraus nicht schließen, dass die Amphiktyonie in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts aufgehört hatte zu bestehen, denn die athenischen Komödiendichter spielen mehrfach auf die Tätigkeiten der Hieromnemonen bei den Thermopylen während des Peloponnesischen Krieges an.57 Hingegen ist es möglich, dass die Amphiktyonen regelmäßig daran gehindert wurden, sich in Delphi zu versammeln, wegen des Krieges in Zentralgriechenland und insbesondere der Anwesenheit der Phoker in Delphi, wie dies erneut in der Mitte des 4. und zu Beginn des 3. Jahrhunderts der Fall war.58 Im Übrigen benötigten die Spartaner die Autorität des amphiktyonischen Rates nicht, um den politischen und rechtlichen Status der Stadt der Delpher und des Heiligtums zu regeln, insofern als diese Fragen über den normalen Kompetenzbereich der Amphiktyonie hinausgingen. Die Spartaner könnten also der Ansicht gewesen sein, dass es angesichts der Umstände weder nötig, geschweige denn möglich war, diese Institution an der Ausarbeitung der Verträge von 423 und 421 zu beteiligen.59 Abgesehen davon könnte der Amphiktyonen-Rat nach dem Friedensschluss eingeladen worden sein, die Klauseln zu ratifizieren, die den Status von Delphi und des Heiligtums 55 Dagegen: BOWDEN, 2003, 75 f. Nach ihm kümmerte sich die Amphiktyonie vor 346 ausschließlich um die Organisation der Pythischen Spiele, den Unterhalt der Gebäude und den Schutz des dem Gott geweihten Landes. Die leider sehr verstümmelten Dekrete CID IV, 2–5, die aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts datieren, zeigen dagegen, dass der Rat sich schon zu dieser Zeit mit Problemen im Zusammenhang mit dem Zugang zum Heiligtum, der Erhebung unrechtmäßiger Steuern von den Besuchern und der Verwaltung der heiligen Güter befasste. 56 Die Gründe für das Schweigen des Thukydides sind umstritten: Cf. HORNBLOWER, 1991, 181–183; HORNBLOWER, 1992/2011; HORNBLOWER, 2009/2011, 49–51/54–58; SÁNCHEZ, 2001, 113 f. 117 f.; LEFÈVRE, in: CID IV, 436–443; BOWDEN, 2003, 76; MARI, 2006, passim, vor allem 248–255.259–261. 57 Cratin., Frg. 180–196 Kassel-Austin; Telecl., Frg. 1–10 Kassel-Austin; Ar., Nub. 623 f.; Lys. 1129–1131; Frg. 335 Kassel-Austin. Cf. LEFÈVRE, 1998a, 64 Anm. 286; SÁNCHEZ, 2001, 113. 58 Vgl. SÁNCHEZ, 2001, 190–195 (4. Jahrhundert); LEFÈVRE, 1998b, passim, vor allem 123 f. = SEG 48, 588 + SEG 52, 523, l. 21–23; SÁNCHEZ, 2001, 274–278; MARI, 2006, 238: Der im Jahre 289 geschlossene Friedensvertrag zwischen Demetrios Poliorketes und den Ätolern, die zu diesem Zeitpunkt das pythische Heiligtum kontrollierten, enthielt eine Klausel, die den Amphiktyonen den Zugang zu Delphi garantierten, um die Pythischen Spiele zu feiern, die im vorangehenden Jahr in Athen hatten organisiert werden müssen. 59 Vgl. HORNBLOWER, 1996, 471–473; SÁNCHEZ, 2001, 111–118; BOWDEN, 2003, 76; MARI, 2006, 237 f. 253–255.259–261.
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betrafen. Es könnte ebenfalls sein, dass die Delpher ihre beiden eigenen Stimmen im Amphiktyonen-Rat bei dieser Gelegenheit erhielten, falls sie sie nicht schon früher bekommen hatten.60
6. Der „heilige Krieg“ des 4. Jahrhunderts Der heilige Krieg schlechthin war in den antiken Quellen derjenige, der die Phoker in Auseinandersetzung mit den Böotern und den Thessalern um die Kontrolle des pythischen Heiligtums in den Jahren 350–340 brachte. Nach Diodor wurden die Phoker im Jahr 357 zu einer schweren Strafe verurteilt, weil sie weite Teile des dem Gott beweihten Bodens bebaut hatten. Als sie sich weigerten, eine Summe zu bezahlen, die sie für unverhältnismäßig hinsichtlich der bebauten Fläche hielten, drohte der Amphiktyonen-Rat damit, die Ländereien der frevlerischen Bebauer zu beschlagnahmen. Um dieser Bestrafung zu entgehen, erbaten die Phoker politische und finanzielle Unterstützung von den Spartanern, die selbst ebenfalls auf Antrag der Thebaner von der Amphiktyonie verurteilt worden waren, da sie während einer Panegyris im Jahre 382 die Kadmeia von Theben besetzt hatten. Dank ihrer Unterstützung bemächtigten sie sich mit Waffengewalt der Stadt und des Heiligtums von Delphi, wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des Jahres 356.61 Immer noch laut Diodor hätten sie dieses Unternehmen mit den berühmten Versen aus der Ilias gerechtfertigt, in denen Pytho (= Delphi) unter den phokischen Städten aufgeführt ist.62 Unsere anderen, weniger detaillierten Quellen erklären die Anfänge des Krieges bald mit einem offenen Konflikt zwischen den Phokern einerseits und den Thebanern und / oder den Thessalern andererseits63, bald mit Spannungen innerhalb des phokischen koinon.64 Die Mehrheit der modernen Historiker sind der Ansicht, dass der Krieg von den Thebanern provoziert wurde, die einige Jahre zuvor die promanteia der Delpher erhalten hatten und einen Vorwand suchten, um ihre Vorherr-
60 Zu den zwei Sitzen der Delpher in der Amphiktyonie vgl. LEFÈVRE, 1998a, 34–51; JACQUEMIN, 1999, 11 f.; SÁNCHEZ, 2001, 118–120. 61 Diod., XVI 23,1–24,3; 29,2–4. Vgl. auch Paus., X 2,1–3; 15,1. Zu den Quellen Diodors cf. MARKLE, 1994, 43–69. Zur Datierung der Besetzung des Heiligtums vgl. zuletzt HAMMOND, 2003, 373–377 (Herbst–Winter 356) und BUCKLER/BECK, 2008, 219 (Sommer 356), sowie DELTENRE, 2010, 97–116 („entre la pylée d’automne et la pylée de printemps de l’archontat d’Aristoxenos“). Vgl. unten Appendix 2. 62 Diod., XVI 23,5; Hom., Il. II 517 und 519. 63 Duris, FGrHist 76 F 2; Ephor., FGrHist 70 F 93; Iust., VIII 1,4–7; Paus., III 10,3; X 2,1.4; Polyaen., Strat. V 45; Hypoth. 2,1 in Dem. Or. 19; Schol. Dem. 7,42 = 47 Dilts. 64 Arist., Pol. V 4, 1304a10.
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schaft in Zentralgriechenland auf Kosten der Phoker zu bekräftigen.65 John Buckler hat nun behauptet, die Thebaner seien nicht die wahren Anstifter des gegen die Phoker gerichteten Prozesses gewesen: Ihre Ankläger blieben bei Diodor anonym, und die Initiative könnte von den Delphern gekommen sein, die um die Unabhängigkeit ihrer Stadt und ihres Heiligtums fürchteten.66 Kürzlich hat Peter Londey die Meinung verteidigt, nicht die Phoker insgesamt, sondern Philomelos, Onomarchos und ihre Parteigänger hätte die Initiative ergriffen, sich des Heiligtums zu bemächtigen, um den Strafen zu entgehen, die ihnen persönlich auferlegt worden waren.67 Schließlich hat Hugh Bowden hervorgehoben, dass das Gebiet der Phoker nicht an die bebaubaren Teile des dem Gott geweihten Landes angrenzte und sie daher nicht – zu Recht oder Unrecht – angeklagt werden konnten, auf die Ländereien des Gottes übergegriffen zu haben. Nach ihm hätte Diodor die Gründe für den phokischen Krieg mit denjenigen der Affäre von Amphissa im Jahre 340–339 verwechselt; die Phoker hätten sich ohne Provokation des Heiligtums bemächtigt, wie sie es im 5. Jahrhundert getan hätten, und der amphiktyonische Rat hätte beim Ausbruch des Konflikts keine Rolle gespielt.68 Hier soll sich auf das Wesentliche beschränkt werden: Wenn man sich auf die Kommentare der zeitgenössischen Schriftsteller stützt, vor allem Xenophon und Aischines und verschiedene Abschnitte bei Diodor, so scheint in der Tat der wirkliche Streitgegenstand – von Anfang an und wie im 5. Jahrhundert – die Kontrolle über das pythische Heiligtum gewesen zu sein, dessen Leitung die Phoker beanspruchten.69 Das bedeutet aber nicht, dass die Amphiktyonie in dieser Angelegenheit keine Rolle gespielt hätte. Wir haben gesehen, dass Diodor sagte, der Amphiktyonen-Rat habe auch die Spartaner kurz vor dieser Epoche verurteilt, danach den Betrag der unbezahlt gebliebenen Strafe gefordert, und sogar die Bezahlung von Seiten der Phoker verlangt: Wir haben keinen Grund, die Historizität dieses anderen Prozesses in Zweifel zu ziehen, und demzufolge die Historizität des Prozesses gegen die Phoker anzuzweifeln.70 65
Promanteia der Thebaner: SIG3 176; FD III 4,375 (von 362 oder 360/59). Zu früherer Sekundärliteratur vgl. SÁNCHEZ, 2001, 153 Anm. 3 und 173 Anm. 113. Zu den neuen Diskussionen über den Ursprung des Krieges vgl. MCINERNEY, 1999, 205–208; LEFÈVRE, 2004, 110–112; SÁNCHEZ, 2001, 166–185; HORNBLOWER 2009, 46–49, sowie die drei folgenden Anmerkungen. 66 BUCKLER, 1985, 237–246; BUCKLER, 1989, 14–21; BUCKLER/BECK, 2008, 215–223. 67 LONDEY, 2010, 29–38. 68 BOWDEN, 2003, 76–79. 69 Xen., Vect. 5,8–10; Aeschin., Or. 2,117; Dem., Or. 19; Diod., XVI 23,5 f.; 16,24,2; 27,3–5; 29,4. Vgl. SÁNCHEZ, 2001, 179–181.187–190. 70 H. Bowden hat sich mit diesem Punkt in seiner Studie nicht befasst. Zum Prozess gegen die Spartaner vgl. BUCKLER, 1985, 242–245; BUCKLER, 1989, 15–21; SÁNCHEZ, 2001, 181–185; BUCKLER/BECK, 2008, 220–221; HORNBLOWER, 2009, 43–45.
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Im Übrigen wissen wir, dass die Amphiktyonen während der Jahre, die der Einnahme des Heiligtums durch die Phoker vorangingen, mehrfach Gesetze zum Schutz der Pilger, des Heiligtums und des dem Gott geweihten Bodens – darin offenbar eingeschlossen gegen bewaffnete Bedrohungen – erließen.71 Die Amphiktyonie griff ebenso im Jahr 363 in einen Streit zwischen zwei delphischen Gruppen ein: Auf Initiative des thessalischen Hieromnemon Andronikos verurteilte sie den Delpher Astykrates und seine Parteigänger zum Exil und zur Beschlagnahmung ihrer Güter; sie fanden Zuflucht in Athen. Der offizielle Anlass ihrer Verurteilung ist nicht bekannt; das attische Dekret zu ihren Gunsten spielt nur auf „Ungerechtigkeiten“ an, die angeblich gegenüber den Delphern und ihrer Stadt begangen wurden.72 Wir wissen jedoch, dass mindestens drei der Exilierten während der phokischen Besetzung nach Delphi zurückkehrten, wo sie wichtige öffentliche Ämter ausübten.73 Wir wissen überdies, dass in den Jahren 330–320 die Güter der sieben Exilierten immer noch zugunsten des Tempelschatzes des Apollon verpachtet waren.74 Man kann also annehmen, dass diese Personen die Anführer einer delphischen Partei waren, die eine Annäherung zwischen der Stadt und dem koinon der Phoker begünstigte, was in den Augen ihrer Gegner die im Vertrag von 421 garantierte Unabhängigkeit der Stadt und des Heiligtums gefährdete. Nach dem attischen Dekret griffen die Amphiktyonen in die inneren Angelegenheiten von Delphi auf Initiative des thessalischen Hieromnemons ein, und sie taten dies ohne Zweifel, um den Status quo in Delphi und im Heiligtum zu verteidigen. Was die Athener betrifft, die stets bereit waren, die phokische Sache zu unterstützen, so gaben sie vor, das vom Amphiktyonen-Rat gesprochene Urteil sei „gegen die Gesetze von Delphi und der Amphiktyonen“ und erklärten es für null und nichtig.75 Nach der Besetzung des Heiligtums ergriffen die Lokrer und die Thebaner spontan die Waffen, um zu versuchen, die Phoker zu vertreiben. Sodann – nach Abschluss einiger diplomatischer Missionen in der griechischen Welt, in deren Verlauf die Phoker versuchten, ihre Rechte auf das Heiligtum anerkennen zu lassen, während die Thebaner dafür plädierten, zu den Waffen zu greifen – wurde der Amphiktyonen-Rat im Herbst 356 oder, wahrscheinli71
CID IV 2–5 (die Texte sind nicht genau zu datieren und leider sehr verstümmelt). Vgl. BUCKLER/BECK, 2008, 213–215: Nach ihnen zielten diese Maßnahmen implizit auf die Phoker. 72 SIG3 175 = IG II2 109A, vor allem Z. 25–27. 73 CID II 31, l. 4.8.31.34.41.51.48.63 f. 74 CID II 67–73. 75 SIG3 175 = IG II2 109A, l. 17 f. Zu dieser Episode vgl. BUCKLER, 1985, 237–242; BUCKLER, 1989, 9–15 und 196–204; BOUSQUET in: CID II, 131; MCINERNEY, 1999, 206– 209; SÁNCHEZ, 2001, 168–173, mit älterer Literatur; LEFÈVRE, in: CID IV, 466; BUCKLER/BECK, 2008, 215; HORNBLOWER 2009, 45 f.
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cher, im Herbst 355, aufgefordert, eine offizielle Kriegserklärung zu unterzeichnen. Bei dieser Gelegenheit ergriffen die Athener, die Spartaner und einige Städte der Peloponnes offen Partei für die Phoker.76 Die militärischen Aktionen interessieren uns hier nicht als solche. Sie zogen sich acht oder neun Jahre hin, denn die Phoker konnten dadurch, dass sie die Schatzkammern des Gottes plünderten, sich Jahr für Jahr die Dienste zahlreicher Söldner leisten. Zunächst auf Zentralgriechenland (Phokis, Böotien, Lokris, Doris) beschränkt, breiteten sich die Kampfhandlungen rasch nach Thessalien und später in die Peloponnes aus. In Nordgriechenland waren es die Tyrannen von Pherai, die im Kampf gegen die anderen thessalischen Städte im Jahre 354 oder 353 die phokischen Armeen um Hilfe baten. In der Peloponnes griffen die Phoker 352–351 oder 351–350 auf Bitte der Spartaner ein, die sich im Krieg mit Messene und Megalopolis befanden, die von den Thebanern unterstützt wurden. Während der letzten Jahre (349–347) spielten sich die Kämpfe erneut hauptsächlich in Phokis und in Böotien ab und führten die beiden Hauptgegner in die Erschöpfung und den Ruin.77 Während einiger Jahre versuchte der phokische Stratege Onomarchos den Wiederaufbau des Apollontempels mit Hilfe der ihm wohlgesinnten Städte der Peloponnes fortzusetzen, um zu zeigen, dass die Anwesenheit der Phoker in Delphi legitim und sogar vorteilhaft für das Heiligtum sei, aber langfristig war dies ein Fehlschlag.78 Der Eintritt des Königs Philipp von Makedonien ins Geschehen stellte einen regelrechten Wendepunkt in der Geschichte von Delphi, der Amphiktyonie und Zentralgriechenlands dar. Es waren die Thessaler, die ihm die Gelegenheit boten, direkt in die Angelegenheiten des pythischen Heiligtums einzugreifen, indem sie ihn gegen die Tyrannen von Pherai zu Hilfe riefen, die von den Phokern unterstützt wurden. Im Jahre 354 oder 353 bereitete Philipp dem phokischen Strategen Phayllos eine Niederlage in Thessalien, aber er wurde später im Jahr zweimal von Onomarchos schwer geschlagen.79 Im folgenden Jahr, sei es 353 oder 352, kam er nach Thessalien zurück, um diese 76
Diod., XVI 24,4–25,3; 27,5; 28,3 (militärische Initiativen der Lokrer und der Thebaner); 28,3–29,1 (Befragung der Völker und Städte, die Mitglieder der Amphiktyonie waren, durch die Thebaner und Ratifizierung der Kriegserklärung durch die Mehrheit unter ihnen). Vgl. BUCKLER, 1989, 21–29; SÁNCHEZ, 2001, 185–190. Vgl. unten Appendix 2 für die Chronologie. Die Historizität der amphiktyonischen Kriegserklärung wird von BOWDEN, 2003, 78 f. bestritten. 77 Vgl. vor allem BUCKLER, 1989, 30–113. Für eine mehr einen Überblick bietende Darstellung vgl. MCINERNEY, 1999, 209–215; SÁNCHEZ, 2001, 190–199. 78 CID II 31, l. 33–70 (Zusammenkünfte von Naopoioi [„Tempelbauer“] „des Krieges“ während drei Jahren). Vgl. SÁNCHEZ, 2001, 192–195. 79 Diod., XVI 35,1 f. Zum militärischen Eingreifen Philipps in Thessalien und gegen die Phoker vgl. BUCKLER, 1989, 58–84; HAMMOND, 1994, 45–48; SÁNCHEZ, 2001, 195–197; BUCKLER/BECK, 2008, 262–265.
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Scharte wieder auszuwetzen, und fügte den phokischen Armeen eine schwere Niederlage an einem „Krokusfeld“ genannten Ort zu.80 Bei dieser Gelegenheit beschloss Philipp, einen Vorteil aus dem „phokischen Krieg“ zu ziehen, um seine Hegemonie zuerst in Thessalien und dann in ganz Zentralgriechenland zu etablieren: Diodor berichtet, er habe frevlerisch den Leichnam des Onomarchos kreuzigen und die phokischen Gefangenen ertränken lassen, und Justin behauptet, er habe seinen Soldaten befohlen, während der Schlacht Lorbeerkränze zu tragen.81 Offensichtlich hatte der König die Absicht, seinen Feldzug – und seinen Sieg – gegen die phokischen Armeen in Thessalien als Krieg für die Befreiung des Apollon-Heiligtums in Delphi darzustellen. Diese Propaganda-Maßnahme war ein Erfolg: Sie trug ihm die Unterstützung der Griechen ein, die von der Plünderung der Schatzkammern des Gottes in Delphi aufrichtig schockiert waren; sie brachte Schande über die Athener, mit denen er in der Nordägäis im Konflikt lag und die offen die Phoker unterstützten, und sie lieferte ihm ein ehrenwertes Motiv, um zum gegebenen Zeitpunkt südlich der Thermopylen einzugreifen.82 Wahrscheinlich war es von diesem Zeitpunkt an, dass zeitgenössische Autoren, die Anhänger Makedoniens waren, begannen, den Begriff des „Heiligen Krieges“ zu benutzen, um den Konflikt zu bezeichnen, der in Zentralgriechenland im Gang war. Während einiger Jahre konzentrierte Philipp seine Anstrengungen auf die Chalkidike und Thrakien, trotz der Versprechen, die er den Thessalern gemacht hatte, den Heiligen Krieg zu ihren Gunsten zu beenden.83 In gleicher Weise ließ er die Böoter und die Phoker sich gegenseitig auf den Schlachtfeldern Zentralgriechenlands aufreiben und beschränkte sich darauf, den ersteren ein kleines Kontingent zu schicken, als diese ihn im Jahr 347 darum baten.84 Aber seit dem Winter 347/6 ging er in meisterhafter Weise daran, den Heiligen Krieg zu beenden, zu seinem Vorteil und ohne einen Schlag zu führen. Insbesondere handelte er – nachdem er ein Militärbündnis mit den Thebanern geschlossen hatte – ein Abkommen mit dem phokischen Strategen Phalaikos aus, der ihm ohne Widerstand den Thermopylen-Pass auslieferte im Austausch für sein eigenes Leben und das seiner Söldner, und er nahm die Kapitulation der phokischen Städte an, ohne seine thebanischen oder thessalischen Verbündeten einzubeziehen. Ebenso gelang es ihm, den Athenern einen Friedensvertrag aufzuzwingen, der dem „Krieg um Amphipolis“ ein Ende bereitete, während er ihre phokischen Verbündeten vom endgültigen Abkommen ausschloss: Es handelt sich um den berühmten Frieden des Philokra80
Diod., XVI 35,4–6. Diod., XVI 35,6; Iust., VIII 2,3. 82 Diod., XVI 38,2; Iust., VIII 2,5–12. Vgl. BUCKLER, 1989, 76 f.; HAMMOND, 1994, 48; SÁNCHEZ, 2001, 196 f. 83 Dem., Or. 1,22; 2,7–11; 19,318; Vgl. BUCKLER, 1989, 105 f.; SÁNCHEZ, 2001, 199. 84 Diod., XVI 58,1–3. Vgl. BUCKLER, 1989, 51 f. und 112 f.; MCINERNEY, 1999, 215– 217; SÁNCHEZ, 2001, 200. 81
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tes von 346, der unterschieden werden muss von den etwas später im Jahr getroffenen Entscheidungen, um dem Heiligen Krieg ein Ende zu setzen.85 Im Einvernehmen mit den Thebanern und den Thessalern beschloss Philipp nämlich, den Amphiktyonen-Rat zu einer außerordentlichen Versammlung in Delphi einzuberufen und ihm offiziell die Beilegung des Konflikts mit den Phokern zu übertragen.86 Die Maßnahmen, die bei dieser Gelegenheit beschlossen wurden, sind durch das Zeugnis Diodors gut bekannt:87 Das Ethnos der Phoker wurde als frevlerisches Volk von der Amphiktyonie ausgeschlossen, und die im Heiligtum aufgestellten Statuen der phokischen Strategen wurden umgestürzt.88 Allerdings verzichtete man darauf, die ganz männliche Bevölkerung ohne Urteil hinzurichten, wie es die antiken Bräuche, und vielleicht die amphiktyonischen Vorschriften, gestatteten: Man beschränkte sich darauf, ihre Waffen in einen Abgrund hinabzuwerfen und ihre Pferde zu verkaufen, und man verkündete das Verbot, den flüchtigen Tempelschändern Asyl zu gewähren; sie sollten festgenommen und wahrscheinlich vor die Amphiktyonie für eine Gerichtsverhandlung zurückgeschickt werden. Man schleifte die phokischen Städte und zwang ihre Einwohner, in kleinen Dörfern zu wohnen, die entfernt voneinander lagen, ohne das Recht zu haben, Waffen oder Pferde zu besitzen. Schließlich erlegte man ihnen die Rückzahlung der im Tempel gestohlenen Geldbeträge und Gegenstände auf, zu 60 Talenten pro Jahr, für eine Gesamtsumme von 10,000 Talente.89 Philipp und seine Nachkommen bekamen die zwei Sitze der Phoker im Amphiktyonen-
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Diod., XVI 59,1–3; Dem., Or. 19, passim; Aeschin., Or. 2, passim. Für die Analyse der beiden einander widersprechenden Reden des Aischines und des Demosthenes und für die moderne Debatte bezüglich der Chronologie und der Themen der Verhandlungen vgl. BUCKLER, 1989, 119–139; HAMMOND, 1994, 90–92; BUCKLER, 1996, 380–382; MCINERNEY, 1999, 217–226; SÁNCHEZ, 2001, 200–203. 86 Diod., XVI 59,4; Dem.. Or. 19,63 f. Zu den Verfahren der Amphiktyonen und zur Chronologie, vgl. ROUX, 1979, 165 f.; LEFÈVRE, 1998a, 164–167; MARI, 1999, 97–109; MARI, 2002, 99–106. 87 Diod., XVI 60,1–3, zu ergänzen mit Aeschin., Or. 2,142 f.; Dem., Or. 5,19.22; Dem., Or. 9,32; Paus., X 3,1–3; 8,2; 15,1; Plut., Pyth. or. 16, 401f; CID II 34, col. II, l. 56–62. Für eine detaillierte Untersuchung der Klauseln des amphiktyonischen Friedens von 346 vgl. BUCKLER, 1989, 139–142; HAMMOND, 1994, 92–97; LEFÈVRE, 1999, 184–188; SÁNCHEZ, 2001, 203–213; MARI, 2002, 118; LEFÈVRE, 2004, 112–119; BUCKLER/ BECK, 2008, 266–269. 88 Nach Paus., X 8,2, wären die Spartaner als Komplizen des Frevels auch vom Rat ausgeschlossen gewesen, aber diese Auskunft wird von den inschriftlichen Abrechnungen widerlegt: CID II 31, l. 75–76 (345/4); CID II 32, l. 43 (325/4). 89 CID II 36–42. Die Phoker hätten 167 Jahre gebraucht, um diese Summe zurückzuzahlen. In Wirklichkeit zahlten sie zwischen 343 und 318 nur ungefähr 400 Talente zurück. Vgl. BOUSQUET, 1988, 155–165; BOUSQUET in: CID II, 146–149; SÁNCHEZ, 2001, 138– 140.
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Rat und der König erhielt zudem das Recht, die Pythien im Herbst 346 zu leiten, gemeinsam mit den Thessalern und den Böotern.90 Philipp und seine thessalischen Alliierten waren die Hauptnutznießer dieser Maßnahmen. Die Thessaler, die ihren Kampf gegen die Phoker rasch aufgegeben hatten, erlangten ohne Mühe ihre Vorrechte in Delphi und in der Amphiktyonie zurück. Auf Entscheidung der Amphiktyonen erhielten sie außerdem die Aufsicht über die Zitadelle von Nikaia, die im Territorium der Lokrer den Südeingang der Thermopylen bewachte.91 Philipp bot die Tatsache, dass er als Belohnung für seine Frömmigkeit gegenüber Apollon und seine Maßnahmen zugunsten des Heiligtums im Amphiktyonen-Rat saß und die Pythischen Spiele leitete, die Gelegenheit, seine legitime Zugehörigkeit zum griechischen Volk zu bekräftigen und sich als Befreier und wohlwollender hegemon darzustellen anstatt als Eroberer Zentralgriechenlands. Er vermehrte sein Ansehen ebenfalls, indem er die Amphiktyonen davon überzeugte, das jährlich von den Phokern ausbezahlte Geld zu verwenden, um die Wiederherstellung des Tempels fertigzustellen und weitere Verschönerungsarbeiten in Delphi und bei den Thermopylen zu unternehmen.92 Die Athener hatten die Sache der Phoker unterstützt und fürchteten Vergeltungsmaßnahmen von Seiten Philipps und der anderen Amphiktyonen, aber nichts dergleichen geschah: Sie wurden eingeladen, an der außerordentlichen Versammlung vom Sommer 346 teilzunehmen, an der Aischines sich damit begnügte, als Beobachter dabei zu sein.93 Um ihre Missbilligung hinsichtlich der bei dieser Gelegenheit beschlossenen Maßnahmen deutlich zu machen, boykottierten sie die von Philipp geleiteten Pythischen Spiele im Herbst. Letzterer schickte ihnen als beschwichtigende Geste etwas später eine aus Makedonen und Thessalern zusammengesetzte Gesandtschaft, um sie zu bitten, offiziell seine Zulassung zum Amphiktyonen-Rat zu bestätigen. In seiner Rede Über den Frieden riet Demosthenes seinen Mitbürgern widerwillig, diesem Ansu-
90 Nach Diod., XVI 60,2 verloren die Korinther bei dieser Gelegenheit das Recht, die Pythischen Spiele zu leiten, aber man weiß nicht, was man mit dieser isolierten Nachricht anfangen soll. Nach LONDEY 1994, 25–29, wurde das gesamte makedonische ethnos, nicht nur der König Makedoniens, in die Amphiktyonie aufgenommen. 91 Die Zitadelle wurde anschließend von einer makedonischen Garnison besetzt: Aeschin., Or. 3,140; Dem., Or. 6,22; [Dem.], Or. 11,4 = Anaxim., FGrHist 72 F 11b; Philoch., FGrHist 328 F 56b. Cf. SÁNCHEZ, 2001, 213–218. 92 Dem., Or. 5,22; 9,32; Diod., XVI 60,4. Zu der Wiederaufnahme der Arbeiten und dem Platz der Amphiktyonie in der Politik Philipps vgl. LEFÈVRE, 1998a, 95 f.; SÁNCHEZ, 2001, 133–152 und 258–268. Zur Bedeutung der großen panhellenischen Heiligtümer in der Propaganda Philipps und Alexanders vgl. MILLER, 2000, 266–274; MARI, 2002, 127– 157.205–230. 93 Aeschin., Or. 2,94 f.138–143.162 f.; Dem., Or. 19,121–131. Vgl. BUCKLER, 1989, 139–142; SÁNCHEZ, 2001, 203–205.
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chen stattzugeben, um nicht unnötige Bedrohungen auf der Stadt lasten zu lassen.94 Abgesehen von den Phokern waren die großen Verlierer der Übereinkommen von 346 die Thebaner: Nachdem sie die Mühe des Krieges während acht oder neun Jahren nahezu allein getragen hatten, hofften sie, vom Sieg profitieren zu können, um ihre Stellung in Delphi und in Zentralgriechenland zu stärken, aber daraus wurde nichts: Aufgrund von Philipps Auftritt waren sie nicht in der Lage, den Einfluss wieder zu erlangen, den sie in Delphi vor dem Krieg genossen hatten, und vor allem wurden sie daran gehindert, neue Gebiete auf Kosten der Phoker zu erwerben, und zwar infolge einer Entscheidung des Amphiktyonen-Rats, der sich – höchstwahrscheinlich auf Bitte Philipps – geweigert hatte, das phokische Ethnos auszulöschen, eben gerade um zu vermeiden, Begehrlichkeiten der Böoter oder der Lokrer zu erregen.95 Alles in allem trug der althergebrachte Konflikt zwischen den Phokern und der Stadt der Delpher um die Kontrolle des pythischen Heiligtums im 4. Jahrhundert dazu bei, die Rolle der Amphiktyonie in der Leitung des Heiligtums, das unter ihrer Autorität stand, hervorzuheben und zu bestätigen. Er veränderte in entscheidender Weise die Kräfteverhältnisse in Zentralgriechenland, indem er Philipp die Gelegenheit bot, seine Vorherrschaft südlich der Thermopylen sicherzustellen.
7. Der amphiktyonische Krieg gegen Amphissa Einige Jahre später, im Jahr 339, war Philipp gezwungen, in einen neuen Konflikt um Delphi einzugreifen, der die Mehrheit der Amphiktyonen in Auseinandersetzung mit den Lokrern von Amphissa brachte. Diese Episode, von den modernen Historikern unpassenderweise „vierter Heiliger Krieg“ genannt, kommt in der fortlaufenden Erzählung Diodors nicht vor und ist von ganz anderer Natur als der phokische Krieg, von dem eben die Rede war. Man muss es gleich sagen: Der Konflikt mit Amphissa war von Philipp nicht – wie Demosthenes behauptet – bewusst mit der Beihilfe des Aischines provoziert worden, um eine Amphiktyonen-Kampagne gegen die Athener zu starten, mit denen er in der Bosporos-Region erneut im Kampf war. Der König hatte keinen wie immer gearteten amphiktyonischen Vorwand nötig, um die Thermopylen zu überschreiten, und vor allem hatte er keinerlei Interesse, 94 Dem., Or. 5, passim; Liban., Argum. Demosth. 5. Vgl. SÁNCHEZ, 2001, 222–227; MARI, 2002, 118–122. Ich war seinerzeit der Ansicht, dass die Athener sich nicht einem amphiktyonischen Krieg aussetzten, weil sie die Phoker unterstützt hatten, aber ich bin heute weniger sicher. Vgl. oben Abschnitt 3 und die Anmerkungen 21 f. 95 Zu den im Jahr 346 den Thebanern zugeschriebenen Ambitionen, vgl. Isocr., Or. 5,54–55; SÁNCHEZ, 2001, 220–222.
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neue Unruhen mit unvorhersehbarem Ausgang in Zentralgriechenland zu erregen.96 Ausgangspunkt war ein Grenzproblem zwischen dem Apollon geweihten Land und der lokrischen Stadt Amphissa.97 Auf Anregung des Aischines, der als Pylagoros (amphiktyonischer Bundesgesandter) der Athener an die Frühjahrssitzung der Amphiktyonen von 341/0 geschickt worden war98, unternahmen die Hieromnemonen eine Inspektion des dem Gott geweihten Landes.99 Bei dieser Gelegenheit stellte sie fest, dass die Bauern von Amphissa Teile des verbotenen Gebiets bebaut und dort landwirtschaftliche Gebäude errichtet hatten; sie nutzten außerdem den Hafen zu ihrem Gewinn. Während sich die Amphiktyonen-Gesandtschaft daran machte, die unerlaubten Gebäude abzureißen, wurde sie von den Einwohnern von Amphissa angegriffen, die behaupteten, dieser Boden würde ihnen gehören: Einige Hieromnemonen wurden als Geiseln genommen, einige vielleicht getötet, die übrigen flohen nach Delphi. Der Hieromnemon Kottyphos berief daraufhin eine außerordentliche Ekklesia der Amphiktyonen ein – das einzige Zeugnis für diese Organisation –, in deren Verlauf beschlossen wurde, zunächst die Amtsträger der Städte und der Stämme, die Mitglieder der Amphiktyonie waren, zu befragen und dann den Amphiktyonen-Rat zu einer außerordentlichen Pylaia (Sitzung) bei den Thermopylen einzuberufen. Die Hieromnemomen sollten sich dort versehen mit einem Beschluss ihrer Stadt einfinden, das die angemessene Strafe für die Amphisseer festlegte. Anlässlich dieser Versammlung bei den Thermopylen wurde der Thessaler Kottyphos zum Befehlshaber eines kleinen amphiktyonischen Kontingents ernannt: Seine Mission bestand darin, die Frevler von dem Apollon geweihten Land zu vertreiben und die Hieromnemonen, die beauftragt waren, den schuldigen Bebauern Bußgelder aufzuerlegen und Verbannungsstrafen gegen sie auszusprechen, vor einem weiteren bewaffneten Angriff zu beschützen. Dieser amphiktyonische Feldzug war mittelfristig ein Fehlschlag: Gleich nach dem Abzug der Truppen riefen die Amphisser ihre Verbannten zurück und weigerten sich, die Bußgelder zu 96 Aeschin., Or. 3,128; Dem., Or. 18,143.145–147.151, dem viele moderne Wissenschaftler folgen: vgl. SÁNCHEZ, 2001, 227 und Anm. 29 f. für die ältere Literatur. Zu der hier verteidigten Meinung vgl. LONDEY, 1990a, 241–243; HAMMOND, 1990, 141 f.; LEFÈVRE, 1998a, 96.170; SÁNCHEZ, 2001, 227 (und Anm. 31).235–239; BOWDEN, 2003, 81. 97 Vgl. LONDEY, 1990a, 254 f.; BOWDEN, 2003, 80 f. 98 Zu der Chronologie der Jahre 346/5–337/6, siehe jetzt LEFÈVRE, 1998a, 267 f. (Frühjahr 340); MARCHETTI, 1998, 167–172; SÁNCHEZ, 2001, 134–138 und 228; MARCHETTI 2002, 59–72. 99 Aischines versichert (Or. 3,116), er habe diese Initiative ergriffen, um die Amphisseer, – die nach ihm im Auftrag der Thebaner handelten – daran zu hindern, gegen die Athener zu prozessieren, denen man vorwarf, Schilde am Apollontempel geweiht zu haben, ohne die vorangehenden Reinigungsriten durchgeführt zu haben. Demosthenes antwortet (Or. 18,150), die Amphisseer hätten keinerlei Klage gegen die Athener angestrengt.
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begleichen. Daher appellierten die Amphiktyonen an Philipp, der von seinem Feldzug gegen die Skythen zurückgekehrt war, und er wurde zum Strategen des amphiktyonischen Kontingents ernannt, vielleicht in der Herbstsession 339.100 Alle Maßnahmen, die von den Amphiktyonen getroffen worden waren, von der Inspektion des dem Gott geweihten Landes bis zum Beschluss des Amphiktyonen-Feldzugs waren in völliger Übereinstimmung mit dem Reglement von 380 über den Schutz des dem Gott geweihten Landes, das wir oben betrachtet haben.101 Es handelt sich daher um einen im Wesentlichen lokalen Konflikt, der aber a posteriori / im Rückblick von den attischen Rednern mit den Vorstufen des verhängnisvollen Feldzugs von Chaironeia in Verbindung gebracht wurde. Diese Vermischung wurde möglich durch eine Reihe von Entscheidungen, die eher von den Griechen selbst, weniger von Philipp, getroffen wurden. Zunächst weigerten sich die Thebaner und die Athener auf Anraten des Demosthenes, an der außerordentlichen Pylaia der Thermopylen teilzunehmen und sich an der Bestrafung der Amphisseer zu beteiligen, zweifellos aus Misstrauen gegen die – tatsächlichen oder vermuteten – Absichten der Thessaler in Bezug auf Delphi und Zentralgriechenland.102 Danach, im Herbst 340, erklärten die Athener Philipp offiziell den Krieg als Antwort auf Angriffe des Königs gegen Perinth und Byzanz und seine Erbeutung einiger athenischer Versorgungsschiffe im Bosporos.103 Schließlich vertrieben die Thebaner im Lauf des Jahres 339 die makedonische Garnison der Zitadelle von Nikaia, deren Besitz sie seit 346 für sich beanspruchten.104 Bei seiner Rückkehr aus dem Skythenland im Herbst 339 sah sich Philipp daher gleichzeitig mit drei Problemen verschiedenen Ursprungs konfrontiert: mit der Affäre von Amphissa, wegen der ihn die Thessaler um Hilfe batn, einem aschwelenden Konflikt mit Theben um den Besitz der Zitadelle von Nikaia und einem offenen Krieg mit Athen. Philipp musste schnell reagieren, wollte er vermeiden, dass sich eine Koalition gegen ihn bildete: Er begann, indem er sich überraschend Elateias bemächtigte; dann, im Lauf des 100
Aeschin., Or. 3,115–129; Dem., Or. 18,149–151; Strab., IX 3,4; [Plut.], Vit. dec. or. 6, 840b–c. Die Berichte der beiden athenischen Redner sind widersprüchlich, was die Interpretation gewisser strittiger Punkte angeht, stimmen aber hinsichtlich der wesentlichen Fakten überein. Vgl. LONDEY, 1990a, 243–254; SÁNCHEZ, 2001, 228–235. 101 Vgl. oben Abschnitt 3. 102 Aeschin., Or. 3,125–129. Zu den verschiedenen Hypothesen über die Motivationen der in die Affäre involvierten Parteien (Kottyphos, die Thessaler, Aischines und Demosthenes, die Amphisseer und die Thebaner) vgl. LONDEY, 1990a, 255–258; CROISSANT, 1996, 127–139, vor allem 133–135; SÁNCHEZ, 2001, 239–243. 103 Dem., Or. 18,87–94; Theopomp., FGrHist 115 F 292; Philoch., FGrHist 328 F 53– 55; Diod., XVI 75,2–76,4; 77,2; Plut., Phoc. 14,3–8. 104 Aeschin., Or. 3,140 (Nikaia wird im Jahr 346 von den Thebanern beansprucht); Philoch., FGrHist 328 F 56b (die Zitadelle ist in den Händen der Thebaner).
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Winters 339/8, versuchte er den Bruch mit den Thebanern zu vermeiden, durch entgegenkommende Schritte und ohne jemals den Frevel der Amphisser in den Verhandlungen zu erwähnen. Er schlug ihnen vor, Nikaia den Lokrern zurückzugeben, und bat sie, einen Feldzug mit ihm gegen Athen zu unternehmen oder ihm wenigstens freien Durchzug durch ihr Territorium zu gewähren.105 Bekanntlich war dies ein Misserfolg: Die Athener und die Thebaner verbündeten sich gegen Philipp und beschlossen bei dieser Gelegenheit, Kontingente zur Verteidigung Amphissas zu schicken und zu versuchen, den Durchzug der makedonischen Armeen durch Böotien zu verhindern.106 Philipp bemächtigte sich ohne Schwierigkeiten der lokrischen Stadt,107 dann besiegte er die Athener und Thebaner in Chaironeia im Jahr 338. Erst in diesem Moment erschienen der Amphiktyonen-Krieg gegen Amphissa und der Feldzug von Chaironeia eng verbunden, jedenfalls in der Vorstellung des Aischines und des Demosthenes, die sich gegenseitig vorwarfen, die Niederlage Athens in Chaironeia herbeigeführt zu haben, indem sie während der Affäre um Amphissa die schlechte Sache unterstützten. Nach der Schlacht behandelten Philipp und die Amphiktyonen die Amphisseer maßvoll. Strabon behauptet, ihre Stadt sei als Vergeltung für den begangenen Frevel zerstört worden, aber das ist zweifellos ein Irrtum oder eine Übertreibung.108 Sie wurde nicht vernichtet und noch nicht einmal vom Heiligtum ausgeschlossen, denn ein Hieromnemon von Amphissa war bereits 337/6 wieder in Delphi anwesend.109 Wir wissen allerdings durch eine Inschrift des 2. Jahrhunderts v. Chr., dass die Amphiktyonen im Jahr 335/4 eine neue Grenzziehung des dem Gott geweihten Landes zu Ungunsten der Amphissseer durchführten. Schließlich sagt Diodor, dass die Amphisseer, die sich des Frevels schuldig gemacht hatten, im Jahr 318 immer noch im Exil waren.110
105 Diod., XVI 84,2 (Einnahme von Elateia); Dem., Or., 18,211–213; Aeschin., Or. 3,148–151; Dion. Hal., Amm. 11; Plut., Dem. 18,2 f. (Verhandlungen in Theben). 106 Aeschin., Or. 3,146 f.; Dinarch., Dem. 74; Polyaen., Strat. IV 2,8 (athenische und böotische Kontingente in Amphissa). 107 Polyaen., Strat. IV 2,8; Plut., Dem. 18,1 (Einnahme von Amphissa). Vgl. LONDEY, 1990a, 258. 108 Strab., IX 4,8. 109 CID II 74, col. I, l. 37 f. Zum Schicksal von Amphissa vgl. SÁNCHEZ, 2001, 232 und 238–239. 110 CID IV 119E, col. B, l. 29–32; Diod., XVIII 56,5. Vgl. ROUSSET, 2002, 120 f. (amphiktyonische Grenzziehung).
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8. Fazit: Art und Themen der Konflikte um das pythische Heiligtum Letztlich erscheint der „Heilige Krieg“ in den antiken Texten als ein subjektiver Begriff, der von den griechischen Mächten verbreitet und ausgenutzt wurde, die Anspruch auf Vorherrschaft in Zentralgriechenland erhoben, und die den Phokern entgegentraten, um ihnen die Kontrolle über das pythische Heiligtum zu entreißen, dessen sie sich gewaltsam bemächtigt hatten und dessen Leitung sie beanspruchten. Die Bezeichnung zielte darauf ab, ihr Eingreifen in Delphi und in Zentralgriechenland als Kampagne zur Verteidigung des Gottes darzustellen, der Opfer der Gottlosigkeit der Phoker geworden war. Es erscheint daher nicht berechtigt, den Titel „Heiliger Krieg“ den gegen Krisa / Kirrha und gegen Amphissa gerichteten Feldzügen zu geben, die als Ausgangspunkt keinen Konflikt zwischen den Delphern und den Phokern bezüglich der Verwaltung und Kontrolle des Heiligtums hatten.111 Hinsichtlich der Affäre von Amphissa, die eine Grenzstreitigkeit zwischen den Lokrern und dem Apollon geweihten Land betraf, scheint es angemessener, von „Amphiktyonischem Krieg“ zu reden, wie es Demosthenes tut. Was den „ersten Heiligen Krieg“ der modernen Historiker betrifft, von dem sogar die Historizität umstritten ist, so passt er in Wirklichkeit in keine dieser beiden Kategorien, sondern ist eher einem Amphiktyonen-Feldzug ähnlich, der darauf abzielt, die Achtung der Vorschriften zum Schutz des Heiligtums, der Pilger und der offiziellen Gesandtschaften durchzusetzen, als einem heiligen Krieg, der um die Kontrolle des Heiligtums selbst geführt wird. Auf den vorangehenden Seiten haben wir uns vor allem damit befasst, die Art der Konflikte zu bestimmen, die sich um Delphi abgespielt haben, und es empfiehlt sich nun, kurz deren Themen zu rekapitulieren.112 Auf lokaler Ebene waren diese vor allem ökonomischer Natur: Das dem Gott geweihte Land, fruchtbar, aber für Anbau verboten, erregte die Begehrlichkeit der Bürger von Delphi und der Angehörigen der benachbarten Städte von Lokris und Phokis. Außerdem war das Kommen zahlreicher Pilger und offizieller Gesandter, anlässlich der verschiedenen Ereignisse – zweimal im Jahr stattfindende Versammlungen des Amphiktyonen-Rats, große Konsultation des Orakels, Feier der Pythischen Spiele alle vier Jahre, Handelsmessen – die das delphische Jahr markierten, eine Quelle beachtlicher Einkünfte, die in Form von Steuern oder kostenpflichtiger Dienstleistungen an die Besucher eingenommen wurden.
111 112
Dagegen: POWNALL, 1998, 53–55. Für weitere Einzelheiten vgl. LEFÈVRE, 1998a, 271 f.; SÁNCHEZ, 2001, 485–493.
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Auf regionaler Ebene lag den Völkerschaften und Städten, die Mitglieder der Amphiktyonie waren, vor allem am Herzen, allen Griechen den Zugang zum Orakelheiligtum zu gewährleisten, in Zeiten des Krieges wie des Friedens, und zu vermeiden, dass dieser unter die Kontrolle eines einzigen unter ihnen fiel. Es ging auch darum zu verhindern, dass die Geldschätze und Weihegaben aus Edelmetall, die sich im Heiligtum angehäuft hatten, geplündert oder von dem einen oder anderen unten ihnen – insbesondere den Phokern – zu politischen oder militärischen Zwecken missbraucht wurden. Auf gesamtgriechischer Stufe schließlich griffen die Mächte, die hegemoniale Ambitionen in Zentralgriechenland hegten – die Thessaler, die Athener, die Spartaner, die Thebaner und die makedonischen Könige – in die lokalen und regionalen Konflikte ein, einerseits, um sich die Kontrolle der Hauptverkehrswege der Region zu sichern, und andererseits, um in Delphi die Führungsposition zu bekommen und sich als Verteidiger der Interessen des Gottes und des Heiligtums darzustellen.113 Für die einen ging es darum, die Unterstützung des Orakels zu erhalten, die anderen beanspruchten das Privileg, dem Amphiktyonen-Rat vorzustehen, und einige beschränkten sich darauf, ihren Reichtum oder ihre politische und militärische Macht durch Weihegaben und Denkmäler bekannt zu machen. In Philipps Fall erlaubte ihm sein Eingreifen zugunsten des Heiligtums, die Anerkennung seiner Zugehörigkeit zur griechischen Gemeinschaft durchzusetzen. Diese Untersuchung hat sich auf die archaische und klassische Epoche beschränkt, aber man muss sich in Erinnerung rufen, dass die Konflikte auch in hellenistischer Zeit mit der Besetzung Delphis durch die Ätoler weitergingen. Das Eingreifen Roms setzte den bewaffneten Auseinandersetzungen um die Kontrolle Delphis ein Ende, aber es unterdrückte die lokalen und regionalen Rivalitäten um das Apollon geweihte Land, die im Heiligtum angehäuften Reichtümer und den Vorsitz der Pythischen Spiele nicht.
Appendix 1: Eine Amphiktyonen-Symmachie in der Mitte des 5. Jahrhunderts? Als ich den „sogenannten Heiligen Krieg“ des 5. Jahrhunderts zur Sprache brachte, habe ich die Probleme weggelassen, die sich aus dem Fragment eines attischen Dekrets ergeben, das durch Schrift und Formular in die Mitte des 5. Jahrhunderts zu datieren ist und in dem von einem militärischen Bündnis (χσυνµαχία), dem Heiligtun von Pylaia bei den Thermopylen oder einer amphiktyonischen Sitzung (Pylaia), sowie auch einem Eid bei Apollon, Leto
113
Mit der bemerkenswerten Ausnahme der Athener, die stets ihren persönlichen Interessen und denjenigen ihrer phokischen Verbündeten Prioriät einräumten.
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und Artemis die Rede ist. Hier der Text, wie er hergestellt und in der dritte Auflage der Inscriptiones Graecae publiziert wurde.114 1
[ἔδοχσεν τε͂ι βο]λε̣͂ι καὶ το͂[ι δέµ][οι· . . . ντὶς ἐπρ]υτάνευε, Αἰ̣[. . .] [. . . . ἐγραµµάτ]ευε, Μένυλλ[ος ἐ][πεστάτε, . . 5 . . ]ίες εἶπε· χσ[υνθ][έσθαι µὲν τὲν χ]συνµαχίαν [καθ][άπερ hοι ἐκ τε͂ς] Πυλαίας ἀπ[αγγ][έλλοσιν hάπασ]ι τοῖς Ἀµφι[κτί][οσι hοῖσπερ µέ]τεσστιν το͂ h[ιε][ρο͂, ἐµµενε͂ν τε ὀ]µόσαντας ἐν [τε͂][ι χσυνµαχίαι νὲ τ]ὸν Ἀπόλλο [κα][ὶ τὲν Λετὸ καὶ τὲν] Ἄρτεµιν ἐ[χσ][όλειάν τε καὶ hα]υ̣τοῖς ἐπαρ̣[οµ][ένος ἐὰν παραβαί]νοµεν· φσε̣[φί][ζεσθαι δὲ κατὰ τὸ πά]τριον π̣[ερ][ὶ hαπάντον hὰ hοι ἐκ τ]ε͂ς Πυλ[αί][ας ἀπαγγέλλοσιν hεφσε]φισ[µέ][να — — — — — — — — —]
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Es gefiel dem Rat und dem Volk; [die Phyle – –ntis] hatte den Vorsitz inne; Ai[– – –] war Sekretär; Menyllos leitete die Sitzung; [– – –]ies machte den Vorschlag: das Bündnis zu akzeptieren [so, wie es von denen, die zurückkommen, verkündet wird] von Pylaia (oder von der Pylaia), für alle Amphi[ktyonen?] die am Heiligtum teilhaben; [dem Bündnis treu zu bleiben] in dem sie bei Apollon, [bei Leto] und bei Artemis schwören und indem wir [den Untergang auf uns selbst] herabrufen, wenn wir es überschreiten; gemäß der Tradition zu unterzeichnen [alles was diejenigen] die von Pylaia (oder von der Pylaia) zurückkommen [ankündigen, dass sie unterzeichnet haben].
Die ersten Herausgeber deuteten dieses Dokument als Bündnis zwischen Athen und den Phokern, das nach dem heiligen Krieg geschlossen worden war.115 Im Gefolge von B. Meritt und A. Wilhelm, denen die oben wiedergegebenen Wiederherstellungen zu verdanken sind, erkannten viele Gelehrte darin eine Allianz, die zwischen Athen und verschiedenen Völkern, die Mitglieder der Amphiktyonie waren, nach der Schlacht von Oinophyta (457) geschlossen worden war.116 M. Mari nun sieht in dem ungewöhnlichen Ausdruck [hοῖσπερ µέ]τεσστιν το͂ h[ιε/ρο͂] („diejenigen, die am Heiligtum teilhaben“) den Beleg dafür, dass das athenische Eingreifen in Zentralgriechenland zu einer Spaltung im Herzen der Amphiktyonie führte, also zu einem Ausschluss oder einer freiwilligen Enthaltung von gewissen Mitgliedern des Rates, die sich der Politik der Athener in Delphi und in Zentralgriechenland widersetzten.117 Heute erkennen die Spezialisten für die Amphiktyonie in 114 115 116 117
IG I3 9. IG I2 26; GHI I 39. Vgl. SÁNCHEZ, 2001, 110 Anm. 150–152 für die ältere Literatur. MARI, 2006, 234, 250–252 (Datierung und Ziele der Allianz sind unbekannt).
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diesem Dokument die Ratifizierung durch die Athener einer zwischen verschiedenen Völkerschaften der Amphiktyonie (darunter den Athenern selbst) geschlossenen Symmachie, an einem unbestimmten Datum in der Mitte des Jahrhunderts.118 Diese letztere Deutung stimmt sicher mit den Verfahren überein, die anderweitig für die Ratifizierung der amphiktyonischen Entscheidungen bezeugt sind, die von den Hieromnemonen in Delphi oder bei den Thermopylen getroffen wurden, wie wir anlässlich der Affäre von Amphissa gesehen haben. Trotzdem ist sie nicht die einzig mögliche: Die Griechen nutzten die Feste in den großen panhellenischen Heiligtümern, um diplomatische Beziehungen anzuknüpfen, und es könnte sich hier um ein Bündnis handeln, das anlässlich einer Versammlung in Delphi oder Pylaia geschlossen wurde, aber ohne einen direkten Bezug zur Rolle der Amphiktyonie für den Schutz des Heiligtums oder des dem Gott geweihten Landes.119 In der Tat ist die Wiederherstellung Ἀµφι[κτί]/οσι in den Zeilen 7–8, die selbstverständlich zu sein scheint, nicht gesichert, wie G. Roux festgestellt hat: Dem Iota folgt auf dem Stein ein leerer Raum, wo man die vertikale Haste des Kappa erwarten würde.120 Man muss auch feststellen, dass die Gesandten, die den Text des Bündnisses in Athen berichten, nicht mit ihren offiziellen Titeln Hieromnemonen und Pylagoren bezeichnet sind, sondern mit einer Umschreibung: [hοι ἐκ τε͂ς] Πυλαίας („diejenigen, die von Pylaia zurückkommen“): Diese Formulierung könnte ebenso gut auf andere Botschafter als die amphiktyonischen Gesandten angewendet werden. Welche Lösung man auch beibehält, es scheint heute unmöglich, dieses Dokument mit den Ereignissen zu verbinden, die in den literarischen Quellen berichtet werden, und die Frage muss offen bleiben.
Appendix 2: Die Chronologie des phokischen Krieges Die Chronologie des phokischen Krieges des 4. Jahrhunderts ist seit mehr als einem Jahrhundert Gegenstand der Diskussion. Ohne auf die einzelnen Nuancen, die von jedem Beteiligten eingebracht wurden, einzugehen, ist darauf hinzuweisen, dass die Anhänger einer „hohen“ Chronologie der Ansicht sind,
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ROUX, 1979, 44–46 (Allianz zum Schutz des Heiligtums); LEFÈVRE, 1998a, 31 Anm. 123; 66 Anm. 303; 219.275; LEFÈVRE in: CID IV, 457 Anm. 89; 463 (er schwankt zwischen den Jahren 462/1–458/7 und den Jahren 457–447). 119 SÁNCHEZ, 2001, 110 f. 120 ROUX, 1979, 239–241. Für ein hervorragendes Foto des Fragments vgl. das Sara B. Aleshire Center for the Study of Greek Epigraphy: http://aleshire.berkeley.edu/holdings/ photos/7163.
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die Erzählung Diodors enthalte eine gewisse Anzahl von Dubletten,121 während die Verteidiger der „tiefen“ Chronologie annehmen, der Bericht Diodors sei fortlaufend.122 Alle sind sich einig, die erste und die zweite Verurteilung der Phoker in die amphiktyonische Herbst- bzw. Frühjahrssitzung des Jahres 357/6 zu legen. Die Mehrheit ordnet auch die Eroberung des Heiligtums durch die Phoker in den Lauf des Jahres 356 ein, aber der genaue Zeitpunkt ist umstritten (im Frühjahr, mitten im Sommer oder eher im Herbst/Winter).123 Die Diskrepanzen betreffen im Wesentlichen das Datum der Kriegserklärung an die Phoker durch den Amphiktyonen-Rat. Nach den Verfechtern der hohen Chronologie ereignete sich diese Erklärung schon im Herbst oder Winter 356/5, nach den Anhängern der tiefen Chronologie erst im Herbst 355, nach einem Jahr der Kämpfe rund um Delphi und diplomatischen Verhandlungen in der griechischen Welt. Daraus folgt, dass die hauptsächlichen Schlachten, die den Konflikt markieren, ebenfalls – je nach System, das übernommen wird – von einem Jahr zum anderen verschoben sind: Ereignisse Erste Verurteilung der Phoker Zweite Verurteilung der Phoker Besetzung des Heiligtums durch die Phoker
Hohe Chronologie Herbst 357 Frühling 356 Frühling oder Sommer 356
Tiefe Chronologie Herbst 357 Frühling 356 Herbst / Winter 356/5
Erklärung des amphiktyonischen Kriegs
Herbst / Winter 356/5
Herbst 355
355
354
354
353
353
352
Schlacht von Neon Niederlagen von Philipp in Thessalien Schlacht in der Krokos-Ebene
Die einen wie die anderen stützen sich auf die Chronologie der Abrechnungen und der Archonten von Delphi, wie sie zuletzt von Jean Bousquet herge-
121 Diod., XVI 23,1–5 = XVI 29,2 f.; Diod., XVI 24,1 f. = XVI 29,4; Diod., XVI 24,3 = XVI 28,2; Diod., XVI 27,3–5 = XVI 28,4–29,1; XVI 25,1–3 = XVI 30,1–3. Vgl. z.B. CLOCHÉ, 1915; CLOCHÉ, 1939; BUCKLER, 1989, 148–195; BUCKLER, 1996, 380–382; BUCKLER-BECK, 2008, 219.225.229.262. 122 Vgl. z. B. HAMMOND, 1937/1973; SORDI, 1958, 135–154; HAMMOND 1994, 200 Anm. 2. Für andere Hinweise vgl. LEFÈVRE, 1999, 192; SÁNCHEZ, 2001, 173 Anm. 109, 522 f.; DELTENRE, 2010, 107–109. 123 Für die Datierung der Einnahme des Heiligtums durch die Phoker siehe zuletzt BOUSQUET, 1988, 7 (März 356); BUCKLER, 1996, 382 (Sommer 356); BUCKLER-BECK, 2008, 219 (Sommer 356); HAMMOND, 2003, 373–377 (Ende Herbst–Anfang Winter 356/5).
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stellt wurde.124 Diese Chronologie begründet sich jedoch auf die Erzählung Diodors und nimmt eine Identität zwischen dem in den Abrechnungen genannten delphischen Archon Herakleios und dem Prytanen Herakleidas (sic) an, mit dem Pausanias die Besetzung des Heiligtums datiert, unter dem Archontat des Agathokles in Athen.125 Kürzlich wurde die Diskussion von François-Dominique Deltenre wieder aufgenommen, der die Gesamtheit der bislang vorgebrachten Hypothesen wieder in Frage stellt. Er zeigt deutlich die Inkohärenz der von Diodor gelieferten chronologischen Angaben für den Anfang des Krieges und schiebt das Zeugnis des Pausanias völlig beiseite, der das Ende des Krieges zu Unrecht in das Jahr 348/7 datiert und der sich auch hinsichtlich des Beginns des Konflikts getäuscht haben könnte.126 Er vertritt heute die Meinung, dass die Eroberung des Heiligtums nicht unter dem Archontat des Herakleios stattgefunden hat, sondern zwischen der amphiktyonischen Herbst- und Frühjahrs-Sitzung unter dem Archontat des Aristoxenos in Delphi, der Nachfolger des Herakleios war.127 Da eine sichere chronologische Verankerung fehlt, verzichtet er zur Zeit darauf, eine absolute Chronologie vorzuschlagen.128
124
BOUSQUET, 1988, 15–37; BOUSQUET in: CID II, 6–7, der seinerseits die am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem von Th. Homolle vertretenen Ansichten wieder aufnimmt. 125 CID II 10A, l. 1–3; CID II 31, l. 3; Paus., X 2,3: τὴν δὲ τῶν Δελφῶν κατάληψιν ἐποιήσαντο οἱ Φωκεῖς Ἡρακλείδου µὲν πρυτανεύοντος ἐν Δελφοῖς καὶ Ἀγαθοκλέους Ἀθήνῃσιν ἄρχοντος (357/6), τετάρτῳ δὲ ἔτει πέµπτης ὀλυµπιάδος ἐπὶ ταῖς ἑκατόν („Die Phoker bemächtigten sich Delphis unter der Prytanie des Herakleidas in Delphi, unter dem Archontat des Agathokles in Athen (357/6), im vierten Jahr der hundertfünften Olympiade“). 126 DELTENRE, 2010, 99–102.107–110. 127 CID II 31, l. 4, 8–9 und 31. Vgl. DELTENRE, 2010, 102–107.110–115: Die mit der finanziellen Verwaltung der Wiederaufbau-Arbeiten des Tempels beauftragten Naopoioi [Tempelbauer] sind an der Herbstsitzung anwesend, aber abwesend an der Frühjahrssitzung dieses Archontats, was sich nur mit der Ankunft der phokischen Armeen in Delphi erklären lässt. 128 DELTENRE, 2010, 115 f.
4. Delphi in der archaischen und klassischen griechischen Literatur
Die triadische Struktur des Homerischen Apollonhymnos∗ Leonie von Alvensleben 1. Einführung Das älteste literarische Zeugnis für die Gründung des Apollonorakels in Delphi ist der sogenannte ‚Homerische Apollonhymnos‘. Viele der aus späteren Quellen bekannten typisch delphischen Elemente sucht man in diesem Hymnos allerdings vergebens, etwa ein Vorgängerorakel der Gaia oder der Themis,1 einen Omphalos, unter dem eine (männliche) Schlange namens Python begraben liegt;2 auch eine Sühne Apollons wegen der Schlangentötung gibt es nicht,3 und ebenso keine auf dem Dreifuß kauernde, Dämpfe einatmende Priesterin Pythia.4 Vielmehr wird Apollon besungen als Gründer eines eigenen, neuen Orakels, das den Menschen die Pläne des Göttervaters Zeus näherbringen wird. Apollon orakelt ἐκ δάφνης („aus einem Lorbeerbaum“, 396), und seine Weissagungen werden nicht von einer Frau verkündet, sondern von kretischen Priestern, die Apollon selbst anwirbt (394).5
∗ Die Ausarbeitung dieses Beitrags wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft durch meine Anstellung im Sonderforschungsbereich 1136 „Bildung und Religion“ (Projektbereich A03 „Pagane Religion und Philosophie in ‚virtuellen Bibliotheken‘: spätantike Kompendien und Enzyklopädien“). Ich danke Balbina Bäbler und HeinzGünther Nesselrath für ihre freundliche Einladung zur Tagung und allen Beitragenden, vor allem Sabine Vogt, für hilfreiche Kommentare zu meinem Vortrag. Ilinca TanaseanuDöbler und Jörg v. Alvensleben danke ich für zahlreiche wertvolle Hinweise während der Ausarbeitung dieses Beitrags. 1 Aeschyl., Eum. 1–4. 2 Varro, Ling. lat. VII 17 Kent. 3 Plut., Qu. Gr. 12, 293c. 4 Für die Rolle der Pythia siehe den Beitrag von T. Scheer in diesem Band (oben S. 91– 117, für Frage nach der Existenz von Erdspalten und Dämpfen in Delphi siehe den Beitrag von D. Engster in diesem Band (unten S. 479–504). 5 Textbelege aus dem Apollonhymnos werden im Folgenden (im Fließtext und in den Fußnoten) mit einfachen Verszahlen angegeben, welche der Ausgabe von WEST, 2003 folgen. Die Übersetzungen stammen, sofern nicht anders angegeben, von WEIHER, 1990. Stellenweise habe ich geringfügige Veränderungen vorgenommen, die sich zum Teil auch an der neueren Übersetzung von BERNAYS, 2017 orientieren.
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Allerdings sind damit nur die letzten zwei Drittel des Hymnos grob umrissen: Zuvor erzählt der Sänger des Hymnos, wie der Gott auf der Insel Delos von Leto geboren wird und dort seinen Kult etabliert (sog. ‚delischer Teil‘).6 Erst ab Vers 179 geht es darum, wie Apollon seinen Platz in der olympischen Göttergemeinschaft einnimmt und in Pytho, dem späteren Delphi, sein Orakel gründet und kretische Handelsleute als Orakelpriester einsetzt (sog. ‚pythischer Teil‘). Diese besondere Struktur des Apollonhymnos wird traditionell als Zweiteilung beschrieben. Der vorliegende Beitrag möchte allerdings nicht für eine ursprüngliche Ein- oder Zweiheit des Hymnos argumentieren, sondern vielmehr soll Dreiheit als das grundlegende Strukturprinzip im Homerischen Apollonhymnos untersucht werden. Um die drei auffälligsten Dreiheiten des Hymnos zu nennen: Drei τιµαί (Ehrenwürden) beansprucht der Gott für sich (Lyra, Bogen und Weissagung), drei geographische Kataloge bestimmen die Handlung des Hymnos (durch die Ägäis, das Festland und um die Peloponnes) und drei Beinamen werden Apollon im Hymnos zugesprochen (Pythios, Telphusios und Delphinios).
2. Eins, zwei oder drei? Die Gesamtstruktur des Hymnos Die Frage nach der Struktur des Homerischen Apollonhymnos sorgt in der Forschung seit Jahrhunderten für kontroverse Diskussionen, sodass um den Hymnos gar eine Art ‚Apollonhymnische Frage‘ zwischen Analytikern und Unitariern entbrannt ist: Waren der delische und der pythische Teil einst zwei separate Hymnen, und wenn ja, welcher ist der ältere? Wurde einer der Teile als Weiterführung des anderen gedichtet, und wenn ja, welcher? „In the course of time, almost every position on this question has been occupied ... At the moment, no one side can claim clear victory, and a certain fatigue has set in during the lull“,7 bemerkte Clay schon vor rund dreißig Jahren. Nach ihrer sozialkritischen Interpretation, derzufolge die Hymnen als panhellenisch orientiertes, eigenes literarisches Genre von der Bedrohung und Stabilisierung eines männlich dominierten olympischen Regimes erzählen,8 nehmen 6 Im Folgenden übernehme ich die beiden standardmäßigen, von David Ruhnken im ausgehenden 18. Jahrhundert geprägten Bezeichnungen (‚delischer Teil‘ für 1–178 und ‚pythischer Teil‘ für 179–546), auch wenn ich, mit Richardson, für eine dreigliedrige Struktur des Hymnos plädieren werde (d.h. für eine Zweigliedrigkeit des pythischen Teils, siehe unten Kap. 3.2). Vgl. auch MILLER, 1979, 173 f. 7 CLAY, 1989, 18. 8 Vgl. CLAY, 1989, 17–94 (vor allem 38 und 56–78). Grundlegende Kritik an Clays Interpretation formuliert CHAPPELL, 2011, 66 f. und 80 f.; vgl. auch RICHARDSON, 2015, 29 f. FAULKNER, 2011, 19 f., unterstreicht Clays Verdienst, die Homerischen Hymnen in ihrer Einheit (als einzelne Hymnen sowie als Corpus) verständlich gemacht zu haben. Bezüglich des Apollonhymnos betont er (20): „Even if Apollo is a composite of originally separate
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jüngere Publikationen zunehmend die narrativen Strukturen der Homerischen Hymnen in den Blick und betrachten sie dabei in ihrer uns heute vorliegenden Einheitlichkeit.9 Die Frage nach der Genese des Hymnos ist dabei, ähnlich wie bei den Homerischen Epen, etwas in den Hintergrund gerückt.10 Bereits seit der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts (als die Debatte um die ursprüngliche Ein- oder Zweiheit des Hymnos noch in vollem Gange war) wurden dabei Stimmen laut, die die besondere Bedeutung der Dreiheit für den Hymnos verteidigten. Ich nenne hier drei mir bekannte dieser Stimmen: Johannes Kakridis hat auf kompositionelle (inhaltliche und versifikatorische) Dreiheitselemente hingewiesen und sie in einen engen Zusammenhang mit dem wohl wichtigsten inhaltlichen Dreiheitselement des Hymnos gebracht, nämlich den drei τιµαί Apollons (Lyra, Bogen, Prophetie). 11 Andrew Miller hat diese drei ‚Ehren(ämter)‘ in reizvoller Weise verbunden mit der von ihm festgestellten dreigeteilten „kosmologischen Hierarchie“ von göttlichem Bereich (repräsentiert durch die Lyra), menschlichem Bereich (repräsentiert durch die Prophetie) und dämonischem Bereich (repräsentiert durch den Bogen).12 Nicolas Richardson schließlich hat in Bezug auf die Struktur des hymns, the poem as we have it has clearly been arranged to be read as a unity and benefits from being understood in this way.“ Eine ähnliche Position ist auch schon bei MILLER, 1986, xi–xii, zu finden. Vgl. auch CLAY, 1997, 498 f. 9 Vgl. vor allem die Beiträge in den drei SAGN-Bänden (NÜNLIST, 2004; NÜNLIST, 2007; DE JONG, 2012) sowie in Faulkners und Hodkinsons Band zur Narratologie griechischer Hymnen (RICHARDSON, 2015; FAULKNER, 2015). 10 Vgl. etwa RICHARDSON, 2010, 15, und FAULKNER, 2011, 20. Eine neuere (‚separatistische‘) Stellungnahme liefert allerdings CHAPPELL, 2011. – Eine ähnliche Frage, die seit Jahrhunderten Gegenstand der Forschung zum Homerischen Apollonhymnos ist, beschäftigt sich mit der Datierung des Hymnos (bzw. mit der Einzeldatierung seiner beiden ursprünglichen Teile): Will man aus den vielen Vorschlägen, die sich vor allem zwischen dem 8. Jahrhundert (vgl. etwa POMTOW, 1901, 2528) und dem 6. Jahrhundert bewegen (vgl. WEST, 1975), eine communis opinio herauslesen, so bewegt sich diese zwischen dem späteren 7. und dem früheren 6. Jahrhundert, vgl. etwa FAULKNER, 2011, 11 f. Bisherige Datierungsversuche basieren u.a. auf linguistischen Untersuchungen (vgl. JANKO, 1982) sowie auf Bemühungen, im Hymnos (mehr oder weniger eindeutige) historische Bezüge zu erkennen – beides führt mitunter zu Schwierigkeiten, die größtenteils nicht aufzulösen sind. So gibt es keinen Vorschlag zu historischen Bezügen, der nicht angefochten wurde. Häufig erwogen (und auch häufig zurückgewiesen) wird etwa eine Anspielung auf den sog. ‚Ersten Heiligen Krieg‘ – dessen Historizität mitunter angezweifelt wird (vgl. ROBERTSON, 1978, und BOWDEN, 2003, 72–75) –, und zwar in der Schlusspassage des Hymnos, in der Apollon vor einer Machtübernahme in Delphi im Falle eines Fehlverhaltens der Priester warnt: Die Zeit um 590, als Ende des ‚Ersten Heiligen Krieges‘, wurde als terminus post (und auch ante) quem diskutiert. Vgl. etwa V. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, 1917, 441. Dagegen ROBERTSON, 1978, 48. Eine ausführlichere bibliographische Zusammenstellung bei CLAY, 1989, 87. 11 Vgl. KAKRIDIS, 1937, 107 f. 12 MILLER, 1986, 118–121 (= Appendix 2).
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Apollonhymnos einer Dreiteilung den Vorzug vor der traditionellen Zweiteilung des Hymnos gegeben.13 Richardson begründet seine Gliederung vor allem mit den drei geographischen Katalogen, die dem Hymnos als Strukturelemente zugrundeliegen und, so Richardson, die gesamte griechische Welt als universales (panhellenisches) Herrschaftsgebiet Apollons abbilden, nämlich die Inseln, das Festland und die Peloponnes.14 In diesen drei referierten Forschungspositionen klingt also bereits eine mögliche übergeordnete Bedeutungsebene des triadischen Strukturprinzips an: Dreiheit als Symbol für Ganzheit. Eine solche Symbolik ist allerdings nicht als allgemeingültig zu verstehen, sondern vielmehr als vager Ausgangspunkt, von dem aus konkrete Dreiheiten zu untersuchen sind. 15 Es ist unschwer zu erkennen, dass Dreiheit in zahlreichen Bereichen der Menschheitsgeschichte ein wichtiges Kernelement, eine Art anthropologische Konstante darstellt. Die frühesten Beispiele für die hohe Bedeutung von Dreizahlen in der griechischen Antike stammen aus der Literatur und dem Kult;16 ein prominentes Beispiel aus dem homerischen Epos ist etwa Poseidons verärgerte Rede (Hom. Il. XV 185–199), in welcher er seinen Anspruch auf eine gleichberechtigte Machtverteilung zwischen ihm und seinen Brüdern Zeus und Hades damit begründet, dass unter ihnen dreien einst alles gleichmäßig aufgeteilt worden sei (Hom. Il. XV 189: τριχθὰ δὲ πάντα δέδασται); er, Poseidon, habe das Meer, Hades die Unterwelt und Zeus den Himmel bekommen (Erde und Olymp hingegen gehöre allen gemeinsam). Spätestens seit den Pythagoreern sind triadische Strukturen ein philosophischer Kerngedanke (Dreiheit von Anfang, Mitte und Ende einer Ganzheit)17 und werden besonders im Neuplatonismus zum vorherrschenden Gliede13
Vgl. RICHARDSON, 2010, 9–13. Diese Dreiheit wird im Hymnos selbst formuliert, nämlich wenn Apollon den globalen ‚Einzugsbereich‘ seiner Orakelstätte beschreibt: οἵ τέ µοι αἰεί / πολλοὶ ἀγινήσουσι τεληέσσας ἑκατόµβας, / ἠµὲν ὅσοι Πελοπόννησον πίειραν ἔχουσιν / ἠδ’ ὅσοι Εὐρώπην τε καὶ ἀµφιρύτας κατὰ νήσους, / χρησόµενοι, „sie sollen mir allzeit / Hierher treiben vollendete Hekatomben, so viele / Heimat haben im fetten Gefilde der Insel des Pelops, / Alle auch in Europa und rund auf den Inseln des Meeres“ (248–252, und vgl. 288–292). Vgl. auch CLAY, 1989, 57. 15 Zu Vorsicht vor einer allgemeingültigen Symbolik der Dreizahl im Sinne von ‚Ganzheit‘ oder ‚Vollkommenheit‘ hat bereits USENER, 1903, 348 gemahnt. Zudem sei neben dieser Bedeutung die Dreizahl auch „absolute[r] Ausdruck der Vielheit“ (357). Damit einher geht die Tatsache, dass das Präfix τρι- etwa in adjektivischen Komposita häufig einfach „sehr“ bedeutet (z.B. τρισ-ευδαίµων: „dreimal / sehr glücklich“), vgl. Arist., Cael. I 1, 268a10. 16 Eine Fülle an Belegen von Dreiheiten im griechischen Kult (etwa in Schwur- und Opferriten) bietet (noch immer) USENER, 1903. In den Homerischen Epen sind Dreiheiten sowohl inhaltlich als auch formal-erzählerisch ein wichtiges Strukturelement, vgl. dazu etwa GÖBEL, 1935, 3–15. 17 Vgl. Arist., Cael. I 1, 268a9–15. 14
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rungsprinzip (vor allem bei Plotin und Proklos). Einige christliche Autoren stellen schließlich eine Verbindung her zwischen heidnischen triadischen Götterlehren und dem Trinitätsgedanken des Christentums (z.B. Marius Victorinus).18 Auch wenn traditionell vor allem der Siebenzahl eine große Bedeutung für Apollon zugewiesen wird (wegen Apollons Geburtstages am siebten Tag des Delphischen Monats Bysios), erscheint auch die Dreizahl in enger Verbindung mit dem Gott.19 Es gibt mehrere sogenannte Göttertriaden, an denen Apollon beteiligt ist, allen voran die ‚Apollinische Trias‘ (Leto – Apollon – Artemis), die auch im Homerischen Apollonhymnos prominent ist.20 Laut einer attischen Inschrift wurde der Eid des für Delphi wichtigen Amphiktyonenbundes auf die Apollinische Trias geschworen.21 Weitere Beispiele von Dreiheit, die im Zusammenhang mit Apollon stehen, sind die drei Θριαί, welche der versöhnte Apollon seinem Bruder Hermes anvertraut,22 sowie der berühmte Dreifuß, der schon früh mit dem delphischen Apollon verbunden ist.23 Im Homerischen Apollonhymnos erscheint Dreiheit zunächst als rein inhaltliches Zahlelement, also als ‚numerische‘ Dreiheit in Form von Zahlwörtern bzw. Dreiergruppierungen (Kap. 2). Für die vorliegende Analyse wichtiger ist jedoch Dreiheit als formales Strukturelement, also ‚strukturelle‘ Dreiheit (Kap. 3). Zu triadischen Strukturelementen zählen etwa die klassische Dreierstruktur eines Hymnos (mit invocatio, narratio und petitio) oder in Bezug auf den vorliegenden Hymnos die drei bereits erwähnten, den Text 18
Vgl. HAGER, 1998, 1480. Vgl. LUDWICH, 1908, 159 f. Zur Bedeutung der Siebenzahl für den Apollonkult vgl. ROSCHER, 1904, 4–19 (auch wenn dessen hieratische Zahlenspekulation und religiösmystische Zahlensymbolik häufig mit Vorsicht zu genießen sind). 20 Göttinnen und Götter sind unterschiedlich eng, in unterschiedlichen Kontexten und zu unterschiedlichen Zwecken miteinander zu Triaden verbunden. Zudem sind die verschiedenen Konstellationen durch archäologische, inschriftliche und literarische Belege unterschiedlich gut überliefert. USENERs Listen von Göttertriaden (USENER, 1903, 13–28) vereinen sowohl kultisch relativ fest verankerte Konstellationen wie die Apollinische Trias (USENER, 1903, 24 f.; vgl. auch MEHRLEIN, 1959, 274–276) als auch flexible, wohl eher temporäre Momentaufnahmen göttlicher Dreiergruppierungen wie etwa die Heilgottgruppe Apollon – Dionysos – Asklepios (USENER, 1903, 15). 21 CIA II 1 n. 545, vgl. USENER, 1903, 20. Generell werden Schwüre tendenziell an Göttertriaden gerichtet (vgl. USENER, 1903, 17), so auch in Letos Schwur an Gaia, Uranos und die Styx (84–88, siehe unten). Zur pylaisch-delphischen Amphiktyonie siehe in diesem Band den Beitrag von P. Sánchez, oben S. 238–242. 22 Vgl. Hom. Hymn. Merc. (4) 550–566. Die Θριαί sind Losgöttinnen, die als Nymphen / Bienen den Parnass bewohnen. 23 Dreifüße spielen auch im Homerischen Apollonhymnos eine Rolle: Sie schmücken Apollons Tempel in Krisa / Pytho (443). Zum Dreifuß (und seinem Raub durch Herakles) siehe in diesem Band den Beitrag von B. Wagner-Hasel, oben S. 137–154. 19
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Leonie von Alvensleben
gliedernden geographischen Kataloge.24 Beide Formen der Dreiheit, die numerische und die strukturelle, sollen im Folgenden untersucht werden.
3. Lyra, Bogen, Orakel: Numerische Dreiheiten im Apollonhymnos An zahlreichen Stellen im Apollonhymnos lassen sich Dreiheiten finden, die den Hymnos als numerische Elemente inhaltlich bestimmen. Dies mag nicht weiter verwundern, da solche „irgendwie mit Dreiheit zusammenhängenden Ausdrucksformen“25 ein weithin bekanntes Element der homerischen Epik sind, an die die hexametrischen Homerischen Hymnen stilistisch unmittelbar anknüpfen. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, sind solche Dreizahlen im Apollonhymnos allerdings nicht nur schmückendes Beiwerk oder Zeichen homerischer ‚Stilsicherheit‘, sondern stellen ein wesentliches – vielleicht sogar das wichtigste – Gliederungsprinzip im Homerischen Apollonhymnos dar. Das wohl wichtigste inhaltliche Dreiheitselement des Hymnos wird im ersten Ausspruch des neugeborenen Apollon benannt, in welchem er mit drei göttlichen ‚Ehren(-ämtern)‘ (τιµαί) seinen dreifachen Machtbereich kennzeichnet: Musik, Bogenkunst und Prophetie. 131 132
„εἴη µοι κίθαρίς τε φίλη καὶ καµπύλα τόξα, χρήσω τ’ ἀνθρώποισι Διὸς νηµερτέα βουλήν.“
131 132
„Mein sei die liebe Leier und mein der gekrümmte Bogen! Künden doch werd’ ich den Menschen des Zeus untrüglichen Ratschluss.“
Die τιµαί sind in ein Trikolon gefasst, in welchem die Prophetie eindeutig herausgehoben ist: Sie stellt das klimaktische Schlusselement der Dreierkette dar,26 zudem ist auch der Ausspruch selbst als Prophezeiung formuliert. Jede der drei τιµαί findet im Hymnos ihre Umsetzung:27 1) Bei seinem zweiten, friedvollen Olympbesuch überzeugt Apollon die Göttergemeinschaft augenblicklich mit seinem Leierspiel und Gesang (188); die Prozession seiner kretischen Priestergemeinschaft führt er Leier spielend bis nach Pytho hinauf 24
Natürlich enthalten die drei Kataloge theoretisch auch das Zahlelement Drei – allerdings nicht im Hymnos, sondern nur hier in der Analyse. Der Hymnos spricht an keiner Stelle von „drei Wanderungen / Reisen“ bzw. er behandelt sie nicht als triadische Menge (wie etwa die drei im folgenden erwähnten Wettkampfarten oder die Göttertriaden, die jeweils auf engem Raum genannt werden), sondern er enthält drei Kataloge. In diesem Sinne sind die drei Kataloge also strukturelles, nicht numerisches Element im Apollonhymnos. 25 GÖBEL, 1935, 1. 26 Vgl. MILLER, 1986, 54. 27 Vgl. DE JONG, 2012, 42.
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(515). 2) Neben diesem anmutigen Attribut zeichnet ihn gleichzeitig auch der selbst bei Göttern Schrecken hervorrufende Bogen aus, so in der ersten olympischen Szene (2–4) und bei der Schlangentötung (300f., 357). 3) Die lange, schon im ersten delischen Teil angedeutete Suche nach einer Orakelstätte sowie die ‚Anwerbung‘ der kretischen Priester sind Gegenstand des zweiten und dritten Hymnenteils. An welchen weiteren Stellen greift der Hymnos das inhaltliche Motiv der Dreiheit auf? Es liegt nahe, zunächst das Vorkommen von Zahlwörtern im Apollonhymnos zu betrachten: Im gesamten Hymnos lässt sich ausschließlich die Neunzahl finden, die als ‚triadisches‘ Zahlwort (Dreierpotenzierung) betrachtet werden kann.28 Neun Tage und Nächte liegt Leto in Wehen, ohne gebären zu können (91), und eine neun Ellen lange Halskette versprechen Letos Geburtshelferinnen Eileithyia dafür, dass sie, Hera zum Trotz, Letos Geburt einleitet (103 f.).29 Ansonsten kommen im Hymnos zwei mit dem Präfix τρι- gebildete Komposita vor, nämlich der Phorbas-Vater Triopas (211: Τριόπεω, 213: Τρίοπος)30 sowie der Dreifuß (443: τριπόδων).31 Neben den triadischen Zahlwörtern kommen triadische Aufzählungen vor, also Wortgruppen aus drei Elementen, die als abgeschlossene triadische Gruppen zu erkennen sind:32 Die Festspiele auf Delos zu Ehren Apollons werden in drei Disziplinen ausgetragen (Faustkampf, (Reigen-)Tanz und Gesang);33 drei kleinasiatische Gegenden / Städte nennt der Hymnode zu Beginn des zweiten
28 So etwa LAROCHE, 1995, 571. (Roscher hingegen behandelt in seinen ‚Enneadischen Studien‘ die Neunzahl als eigenständige hieratische Größe, die i.d.R. nicht aus der Potenzierung der Drei hervorgehe, vgl. ROSCHER, 1907, 33 und 38 f. Zur Bedeutung der Neunzahl im apollinischen Kult vgl. ROSCHER, 1904, 54–56.) 29 Im Homerischen Apollonhymnos erscheint Hera zwar bereits als eifersüchtige Widersacherin der Leto, aber sie hindert die verschiedenen Orte noch nicht mit Drohungen daran, die schwangere Leto aufzunehmen – diese Rolle erhält sie erst in Kallimachos’ Deloshymnos und in Ovids Metamorphosen, vgl. dazu auch GRAF, 1985, 101. Im vorliegenden Hymnos hält sie ‚lediglich‘ die Geburtsgöttin Eileithyia auf dem Olymp unter Arrest (96– 101), sodass Eileithyia erst mit einer List nach Delos gelockt werden muss. Der Grund, warum die im ersten geographischen Katalog (= Letos Wanderung, 30–48) genannten Orte davor zurückschrecken, Apollon als Geburtsstätte zu dienen, liegt vielmehr darin, dass sie den neuen Gott noch nicht kennen und daher fürchten müssen, dass er sich theoretisch als brutaler Usurpator seines Vaters Zeus erweisen könnte (vgl. die Verse 66–69). 30 Zu der unsicheren Quellenlage dieser mythischen Gestalt vgl. WÜST, 1939. Triopios ist auch ein Beiname des Apollon (Hdt., I 144,2). 31 Neben dem Präfix τρι- sei der Vollständigkeit halber auch das Präfix ἑκατο- genannt, das in unserem Hymnos in den fünfmal erwähnten ‚Hekatomben‘ vorkommt. 32 Anders als die Zahlwörter sind die Gruppierungen im Apollonhymnos nicht auf die Dreizahl beschränkt, sondern es kommen am Rande auch nicht-triadische Gruppierungen vor, etwa die fünf göttlichen ‚Geburtshelferinnen‘ der Leto (93 f.). 33 149: πυγµαχίηι τε καὶ ὀρχηστυῖ καὶ ἀοιδῆι. Vgl. LUDWICH, 1908, 160.
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Hymnenteils als apollinischen Besitz,34 bevor er sodann Apollons dreigeteilten Weg von Delos über Pytho zum Olymp beschreibt.35 Während sich solche einzelnen Textstellen zwar vage, aber hinreichend mit der erwähnten generellen Vorliebe homerischer Epik für triadische (und andere!) Zahlenverhältnisse erklären ließen, erscheinen die häufigen Göttertriaden im Apollonhymnos durchaus von größerer Bedeutung: An mehreren Stellen lässt der Apollonhymnos Götter in verschiedenen Dreierkonstellationen auftreten.36 Die bereits genannte Apollinische Trias (Leto – Apollon – Artemis) ist vor allem zu Beginn des Hymnos sehr präsent: Hier steht Leto als souveräne, von Stolz erfüllte Mutter des Geschwisterpaares im Vordergrund. Besonders geschlossen erscheint die Familientriade in der ‚eingebetteten‘ invocatio der Leto (14–18), in welcher sie ihre Kinder ringkompositorisch ‚umarmt‘. 14 15 16 17 18
χαῖρε µάκαιρ’ ὦ Λητοῖ, ἐπεὶ τέκες ἀγλαὰ τέκνα, Ἀπόλλωνά τ’ ἄνακτα καὶ Ἄρτεµιν ἰοχέαιραν, τὴν µὲν ἐν Ὀρτυγίηι, τὸν δὲ κραναῆι ἐνὶ Δήλωι, κεκλιµένη πρὸς µακρὸν ὄρος καὶ Κύνθιον ὄχθον, ἀγχοτάτω φοίνικος, ὑπ’ Ἰνωποῖο ῤεέθροις.
14 15 16 17 18
Heil dir, selige Leto! Gebarst du doch strahlende Kinder – Denn Apollon ist Herrscher und Artemis fröhliche Schützin – Diese dort in Ortygia, ihn auf der steinigen Delos, Hingelehnt an das lange Gebirg’ und den kynthischen Hügel, Allernächst einem Palmbaum neben der Flut des Inópos.
34
Leto Apollon – Artemis Artemis – Apollon Leto
179 f.: ὦ ἄνα, καὶ Λυκίην καὶ Μηιονίην ἐρατεινήν / καὶ Μίλητον ἔχεις ἔναλον πόλιν ἱµερόεσσαν („Herrscher! Lykien ist dein, dein ist Maioniens Anmut, / Dein ist auch Milet, jene liebesselige Seestadt“). Vgl. KAKRIDIS, 1937, 107. 35 181–188: αὐτὸς δ’ αὖ Δήλοιο περικλύστου µέγ’ ἀνάσσεις. / εἶσι δὲ φορµίζων Λητοῦς ἐρικυδέος υἱὸς / φόρµιγγι γλαφυρῇ πρὸς Πυθὼ πετρήεσσαν, / ἄµβροτα εἵµατ’ ἔχων τεθυωµένα· τοῖο δὲ φόρµιγξ / χρυσέου ὑπὸ πλήκτρου καναχὴν ἔχει ἱµερόεσσαν. / ἔνθεν δὲ πρὸς Ὄλυµπον ἀπὸ χθονὸς ὥς τε νόηµα / εἶσι Διὸς πρὸς δῶµα θεῶν µεθ’ ὁµήγυριν ἄλλων· / αὐτίκα δ’ ἀθανάτοισι µέλει κίθαρις καὶ ἀοιδή („Selbst aber herrschst du gewaltig auf Delos, der rings umwogten. / Wandelnd beim Klang der gewölbten Leier gelangt er nach Pythos / Felsengetürm, der Sohn der rumvollen Leto; Gewänder / Trägt er, die duften und niemals verschleißen; da gibt von dem goldnen / Plektron geschlagen die Leier ein liebesseliges Schallen. / Nun verlässt er die Erde und wandelt hinauf zum Olympos, / Wie ein Gedanke, zum Hause des Zeus in die Kreise der andern, / Und die Unsterblichen wünschen sogleich, dass er spiele und singe“). Vgl. KAKRIDIS, 1937, 107. 36 Ich verwende die Begriffe ‚triadisch‘ und ‚Göttertriade‘ im Folgenden in einem weiten Sinne sowohl für feste, gut überlieferte Dreierkonstellationen wie die Apollinische Trias als auch für losere Konstellationen (sozusagen ‚literarische Momentaufnahmen‘) wie die im Folgenden dargelegten Gruppierungen aus dem Apollonhymnos (z. B. Zeus – Leto – Apollon oder die Dreiergruppierungen der Olympischen Szene, z.B. Ares – Hermes – Apollon). Vgl. auch Anm. 20.
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Während Artemis im restlichen Hymnos keine tragende Rolle mehr spielen wird (im Gegensatz zu Leto und natürlich Apollon), nimmt sie in den vorliegenden fünf Versen die zentrale Position der chiastischen Struktur ein. Damit wird die Apollinische Trias gleich zu Beginn des Hymnos in besonderer Weise betont und die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf Göttertriaden gelenkt (und womöglich auch generell auf triadische Strukturen). Bei der Beschreibung des Delosfestes (im Übergang also vom delischen zum pythischen Teil) greift der Hymnendichter37 die Apollinische Trias noch einmal auf: Die delischen Mädchen (und Apollondienerinnen, 157: κοῦραι Δηλιάδες Ἑκατηβελέταο θεράπναι) besingen, so heißt es, zuerst Apollon und dann Leto und Artemis (und schließlich die „damaligen“ Menschen, 158–161). Mit dieser Rückkehr am Ende des delischen Teils zur Apollinischen Trias, der ‚Ausgangstriade‘ des Hymnos, schafft der Hymnendichter einen selbstreferentiellen Zirkel, der die delischen Mädchen als hier Singende und Besungene zugleich zum Objekt wie zum Subjekt des Hymnos werden lässt (ein Phänomen, das als mise en abyme beschrieben werden könnte).38 Eine weitere göttliche Dreierkonstellation, die ebenfalls zu Beginn des Hymnos noch vor der Apollinischen Trias die Bühne betritt, ist die Gruppe Leto, Zeus und Apollon: Sie sind die Hauptakteure und einzigen namentlich genannten Götter der ersten olympischen Eröffnungsszene, in welcher Apollon die Götterfamilie mit seinem gespannten Bogen erschreckt (1–13). An zwei weiteren prominenten Stellen des Hymnos, nämlich in der Mitte und zum Abschluss, wird diese Konstellation wieder aufgegriffen: am Ende der zweiten olympischen Szene (204–206) und in der Abschlussformel (545 f.): 204 205 206
οἳ δ’ ἐπιτέρπονται θυµὸν µέγαν εἰσορόωντες Λητώ τε χρυσοπλόκαµος καὶ µητίετα Ζεύς υἷα φίλον παίζοντα µετ’ ἀθανάτοισι θεοῖσιν.
204 205 206
Helle Freude empfinden in ihrem großen Gemüte Leto mit Gold in den Haaren und Zeus, der Berater, beim Anblick Ihres geliebten Sohns, wie er spielt mit unsterblichen Göttern.
545 546
καὶ σὺ µὲν οὕτω χαῖρε, Διὸς καὶ Λητοῦς υἱέ· αὐτὰρ ἐγὼ καὶ σεῖο καὶ ἄλλης µνήσοµ’ ἀοιδῆς.
37
Mit dem Begriff ‚Hymnendichter‘ meine ich den Verfasser (bzw. den Kompilator) des gesamten Hymnos, wie er uns heute vorliegt, ohne damit auf ein spezielles Entstehungsszenario des Hymnos anspielen zu wollen. 38 Andere Lesarten dieser Textstelle trägt RICHARDSON, 2010, 107 zusammen; er selbst rechnet die Szene aber zu den selbstreferentiellen im Hymnos, vgl. RICHARDSON, 2010, 8. Anders CLAY, 1997, 500 (dort Anm. 44). Zur mise en abyme als literarischem Phänomen vgl. DÄLLENBACH, 1977 (zur ‚trinitarischen‘ Natur der mise en abyme: 51 f.) und WOLF, 1993, 295–305. Für eine ähnliche Lesart einer mise en abyme in früher griechischer Dichtung (nämlich in der iliadischen Schildbeschreibung) vgl. DE JONG, 2011, 9 f.
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Leonie von Alvensleben Heil also ruf ich auch dir, du Sohn des Zeus und der Leto! Ich aber werde deiner und anderen Sanges gedenken.
Außerhalb des Apollonhymnos erscheinen Zeus, Apollon und Leto meines Wissens nach nicht als Göttertriade der griechischen Antike.39 In den vorliegenden Stellen des Hymnos ist die ‚Vater-Mutter-Kind‘-Konstellation offenbar eine eigenständige, rein literarische Dreiheit, die ganz der Absicht folgt, Apollon in seinem Hymnos als legitimen und loyalen Sohn des höchsten Gottes zu kennzeichnen. Als solcher festigt er, in der Interpretation von Clay, die olympische Ordnung und bestätigt den Herrschaftsanspruch seines Vaters.40 Gemeinsam mit der traditionellen Göttertriade Leto – Apollon – Artemis trägt die triadische Gruppierung von Zeus, Apollon und Leto dazu bei, gleich zu Beginn des Hymnos den Blick auf triadische Elemente zu schärfen: An zwei weiteren Stellen werden im Hymnos Göttertriaden angerufen, und zwar jeweils von weiblichen Göttern, die eine (im Positiven wie im Negativen) maßgebliche Rolle bei der Etablierung apollinischer Macht auf Delos und in Pytho / Delphi spielen: Zunächst schwört Leto bei Gaia, Uranos und der Styx,41 dass ihr Sohn auf Delos ein Heiligtum errichten und beibehalten sowie seine Geburtsinsel in höchsten Ehren halten wird – unter diesen Bedingungen ist die personifizierte Insel bereit, Geburtsstätte des jungen Gottes zu werden. Der von Delos eingeforderte Schwur der Leto lautet: 84 85 86 87 88
„ἴστω νῦν τάδε Γαῖα καὶ Οὐρανὸς εὐρὺς ὕπερθεν καὶ τὸ κατειβόµενον Στυγὸς ὕδωρ, ὅς τε µέγιστος ὅρκος δεινότατός τε πέλει µακάρεσσι θεοῖσιν· ἦ µὴν Φοίβου τῆιδε θυώδης ἔσσεται αἰεί βωµὸς καὶ τέµενος, τίσει δέ σέ γ’ ἔξοχα πάντων.“
Anrufung
84 85 86 87 88
„Wisse die Erde denn jetzt und der breite Himmel darüber, Wisse das drunten strömende Wasser der Styx, was den größten, Was auch den furchtbarsten Eid für die seligen Götter bedeutet: Wahrlich! hier wird des Phoibos Grund und sein duftender Altar Allzeit sein; doch dich wird er ehren weit über alle!“
Schwurinhalt
Später, in einem Exkurs des pythischen Teils, wendet sich Hera an Gaia, Uranos und die Titanen, da sie aus Rache an Zeus (für dessen geschlechtslose Zeugung der Athene) allein einen Sohn zeugen will: Typhaon, den sie dann 39 Zwar werden Zeus und Apollon vor allem als Schwurgötter häufig gemeinsam genannt (mit Athene, Artemis, Demeter, Themis oder Poseidon), jedoch nicht mit Leto, vgl. USENER, 1903, 13–28. MEHRLEIN, 1959, 274, betont, dass ‚Vater-Mutter-Kind‘-Konstellationen in der griechisch-römischen Antike generell keine Bedeutung für die Zusammensetzung von Göttertriaden zukommt. 40 Vgl. CLAY, 1989, 17–94. 41 84–86 ≈ Hom., Il. XV 36–38 (Heras Schwur gegenüber Zeus) = Hom., Od. V 184– 186 (Kalypsos Schwur gegenüber Odysseus).
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der in Pytho hausenden Schlange übergeben wird, welche Apollon vor seiner dortigen Orakelgründung beseitigen muss. Wie der Versschluss in 334 zeigt, knüpft die invocatio des Gebets an Letos Schwur an. Αuch formal enthalten Schwur und Gebet ein gemeinsames triadisches Element: Die beiden Anrufungen erstrecken sich über je drei Zeilen; danach folgt der Schwurinhalt bzw. die petitio des Gebets.42 334 335 336 337 338 339
„κέκλυτε νῦν µοι, Γαῖα καὶ Οὐρανὸς εὐρὺς ὕπερθεν Τιτῆνές τε θεοί, τοὶ ὑπὸ χθονὶ ναιετάουσιν Τάρταρον ἀµφὶ µέγαν, τῶν ἔξ ἄνδρές τε θεοί τε· αὐτοὶ νῦν µεο πάντες ἀκούσατε, καὶ δότε παῖδα νόσφι Διός, µηδέν τι βίην ἐπιδευέα κείνου, ἀλλ’ ὅ γε φέρτερος εἴη, ὅσον Κρόνου εὐρύοπα Ζεύς.“
invocatio
334 335 336 337 338 339
„Erde und breiter Himmel darüber, jetzt hört mich, und ihr auch, Götter Titanen, dort in der Wohnstatt neben dem großen Tartaros unter der Erde, ihr Ursprung der Götter und Menschen! Hört jetzt alle mich an und gebt mir einen Sohn, dessen Vater Zeus nicht ist, der an Kraft ihm nicht weicht, der an Macht aber so weit Über ihm steht, wie der weithinblickende Zeus über Kronos!“
petitio
Schließlich möchte ich den Blick noch auf die sicherlich am kunstvollsten arrangierte triadische Götterkomposition im Apollonhymnos lenken, durch die die zweite olympische Szene bestimmt wird (186–206, Beginn des pythischen Teils): 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196
ἔνθεν δὲ πρὸς Ὄλυµπον ἀπὸ χθονὸς ὥς τε νόηµα εἶσι Διὸς πρὸς δῶµα θεῶν µεθ’ ὁµήγυριν ἄλλων· αὐτίκα δ’ ἀθανάτοισι µέλει κίθαρις καὶ ἀοιδή. Μοῦσαι µέν θ’ ἅµα πᾶσαι ἀµειβόµεναι ὀπὶ καλῆι ὑµνέουσίν ῥα θεῶν δῶρ’ ἄµβροτα ἠδ’ ἀνθρώπων τληµοσύνας, ὅσ’ ἔχοντες ὑπ’ ἀθανάτοισι θεοῖσιν ζώουσ’ ἀφραδέες καὶ ἀµήχανοι, οὐδὲ δύνανται εὑρέµεναι θανάτοιό τ’ ἄκος καὶ γήραος ἄλκαρ. αὐτὰρ ἐϋπλόκαµοι Χάριτες καὶ ἐΰφρονες Ὧραι Ἁρµονίη θ’ Ἥβη τε Διὸς θυγάτηρ τ’ Ἀφροδίτη ὀρχέοντ’ ἀλλήλων ἐπὶ καρπῶι χεῖρας ἔχουσαι·
9 singende Musen
3 x 3 tanzende Göttinnen
42 Während Heras Gebet symmetrisch-triadisch gegliedert ist (drei Verse invocatio und drei Verse petitio), endet Letos Schwur asymmetrisch und etwas abrupt (zwei Verse Schwurinhalt nach drei Versen Anrufung der Schwurgötter). Diese Asymmetrie könnte sich daraus erklären, dass Leto der Bitte der Insel Delos genau genommen nicht vollständig nachkommt, der Bitte nämlich, zu schwören, dass Apollon auf Delos einen Tempel erbauen werde, der den Menschen als Orakelstätte diene (τεύξειν περικαλλέα νηόν / ἔµµεναι ἀνθρώπων χρηστήριον) – tatsächlich bleibt Delos ohne Orakel, und Delphi wird zur wichtigsten Orakelstätte des Gottes. Vgl. auch CLAY, 1989, 39 (dort Anm. 66) und GRAF, 2009a, 27. Anders jedoch RICHARDSON, 2010, 94: „The fact that Leto does not mention the oracular temple is not significant. She has already offered a temple (51–60), and s does not need to be repeated, since Apollo is by nature an oracular god.“
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197 τῆισι µὲν οὔτ’ αἰσχρὴ µεταµέλπεται οὔτ’ ἐλάχεια, Artemis 198 ἀλλὰ µάλα µεγάλη τε ἰδεῖν καὶ εἶδος ἀγητή 199 Ἄρτεµις ἰοχέαιρα ὁµότροφος Ἀπόλλωνι· 200 ἐν δ’ αὖ τῆισιν Ἄρης καὶ ἐΰσκοπος Ἀργειφόντης 3 Götter 201 παίζουσ’· αὐτὰρ ὅ Φοῖβος Ἀπόλλων ἐγκιθαρίζει 202 καλὰ καὶ ὕψι βιβάς, αἴγλη δέ µιν ἀµφιφαείνει 203 µαρµαρυγαί τε ποδῶν καὶ ἐϋκλώστοιο χιτῶνος. 204 οἳ δ’ ἐπιτέρπονται θυµὸν µέγαν εἰσορόωντες Leto – Zeus – Apollon 205 Λητώ τε χρυσοπλόκαµος καὶ µητίετα Ζεύς 206 υἷα φίλον παίζοντα µετ’ ἀθανάτοισι θεοῖσιν. 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206
Nun verlässt er die Erde und wandelt hinauf zum Olympos, Wie ein Gedanke, zum Hause des Zeus in die Kreise der andern, Und die Unsterblichen wünschen sogleich, dass er spiele und singe. Alle Musen zusammen erwidern mit herrlicher Stimme, Preisen der Götter unsterbliche Gaben und preisen der Menschen Dulden und Leiden; sie haben die Gunst der unsterblichen Götter, Aber sie wollen nicht denken, verbringen hilflos ihr Leben, Können kein Kraut für den Tod, für das Alter nichts Helfendes finden. Aber die schöngelockten Chariten, die heiteren Horen, Harmonia und Hebe, und Tochter des Zeus: Aphrodite, Tanzen und reichen einander die Hände und fassen die Knöchel. Da gesellt sich zum Reigen noch eine, nicht hässlich und dürftig, mächtig groß, eine Wundererscheinung fürs Auge – Apollons leibliche Schwester, die fröhliche Schützin Artemis ist es. Unter ihnen auch Ares und spähend der Argostöter, aber Phoibos Apollon spielt dazu auf der Leier, Schreitet herrlich und hoch einher, ein Glänzen umstrahlt ihn, Leuchtend funkeln die Füße, der trefflich gewobene Leibrock. Helle Freude empfinden in ihrem großen Gemüte Leto mit Gold in den Haaren und Zeus, der Berater, beim Anblick Ihres geliebten Sohns, wie er spielt mit unsterblichen Göttern.
Ähnlich wie schon in der ersten olympischen Szene (15 f.) übernimmt Apollons Schwester, die „Pfeile schüttelnde“ Artemis, hier sowohl in der sprachlichen Syntax als auch im Arrangement der Szene eine herausgehobene, zentrale Position:43 Sie tanzt (und singt gleichzeitig?) inmitten der Chariten, Horen (194) sowie der Triade Harmonia – Hebe – Aphrodite (195). Den somit insgesamt neun tanzenden Göttinnen sind die von den bemitleidenswerten
43
Vgl. ALLEN/HALLIDAY/SIKES, 1936, 229, die auf das Artemisgleichnis in Hom., Od. VI 102–108 verweisen (Nausikaa sticht unter ihren Gefährtinnen hervor wie Artemis unter den Nymphen). Im (längeren) Homerischen Artemishymnos wird die Göttin als eine Art Choreographin und Anführerin der Musen- und Charitentänze beschrieben (Μουσῶν καὶ Χαρίτων καλὸν χορὸν ἀρτυνέουσα ... ἐξάρχουσα χορούς: „Sie rüstet Chariten und Musen zu schönen Tänzen ... und leitet und führt dann die Reigen“, Hom. Hymn. Dian. (27) 15–18).
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Menschen singenden neun Musen vorangestellt.44 Zu Artemis und ihren zwei (je neun Göttinnen umfassenden) anmutigen Chören gesellen sich die drei Zeussöhne Ares, Hermes (der Argostöter) und Apollon; Ares und Hermes tanzend-springend und Apollon Kithara spielend und „herrlich und hoch einherschreitend“ (202: καλὰ καὶ ὕψι βιβάς).45 An dieser großartigen, ganz auf Artemis und vor allem Apollon ausgerichteten triadischen Götterkomposition erfreuen sich schließlich Zeus und Leto, „auf ihren Sohn schauend“ (204–206: εἰσορόωντες ... υἷα φίλον) – womit der Hymnode zur ursprünglichen Dreierkonstellation (Zeus – Leto – Apollon) aus der ersten Szene zurückkehrt. Die bisher betrachteten Textstellen zeigen zunächst einmal, dass sich Göttertriaden im Homerischen Apollonhymnos häufen. Ein ähnlicher Befund würde sich allerdings beispielsweise auch für die Hesiodeische Theogonie mit ihrer Tendenz zur triadischen Organisation des Götterapparats ergeben. Dass triadische Göttergruppierungen für den Homerischen Apollonhymnos von besonderer Bedeutung sind, legt vor allem ihre Einbettung in eine größere Varietät verschiedener Dreiheitselemente nahe sowie der zu Anfang des Kapitels besprochene programmatische Ausspruch des jungen Gottes (drei τιµαί). Nachdem die bisherige Betrachtung die hohe Bedeutung der inhaltlichen Dreiheitselemente im Homerischen Apollonhymnos aufgezeigt hat, schließt sich im Folgenden die Frage nach der Bedeutung der formalstrukturellen Dreiheitselemente an: Inwiefern folgt der Hymnos – und das heißt, die Einheit der ‚delisch‘ und ‚pythisch‘ genannten Teile – einer triadischen Gesamtkonzeption?
44
Ich gehe bei den Chariten und Horen jeweils von der hesiodischen Dreizahl aus und, im Sinne eines symmetrischen Szenenarrangements, bei den Musen von der hesiodischen Neunzahl. So auch etwa LUDWICH, 1908, 186; MILLER, 1986, 67 f. und RICHARDSON, 2010, 112. Zu einer ursprünglichen Zweizahl der Chariten und Horen sowie möglicherweise auch ursprünglichen Dreizahl der Musen vgl. USENER, 1903, 10 und 323 f.; MEHRLEIN, 1959, 272 f.; und SCHINDLER, 2013, 186. 45 Es ließe sich auch dafür argumentieren, dass Ares, Hermes und Apollon hier weniger eine Dreier- als vielmehr eine 2+1-Konstellation bilden (Apollon als separates Schlussglied, ähnlich wie Artemis nach den zweimal neun Göttinnen). Dagegen spricht allerdings das (in der Übersetzung nicht realisierte) Enjambement (200–201: παίζουσ’), welches Apollon enger an Ares und Hermes bindet. Zudem lässt sich eine formale Parallele zu den drei τιµαί (131 f.) ziehen, welche ebenfalls asymmetrisch als Klimax und Trikolon geformt sind: Während dort die Prophetie den wichtigen Abschluss bildet, ist es hier Apollon, der das Zentrum (bzw. eher: den entscheidenden Endpunkt) der musischen Darbietung darstellt.
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4. Ägäis, Festland, Peloponnes: Strukturelle Dreiheiten im Apollonhymnos Bei der Untersuchung spezifischer Dreiheitsstrukturen in einem Einzeltext wie dem Homerischen Apollonhymnos liegt zunächst einmal der Gedanke an die triadische Grundstruktur des klassischen Hymnos nahe. Diese besteht bekanntlich aus drei Teilen – der Anrufung (invocatio), einem Mittelteil (narratio) und dem Schluss (petitio)46 – und man könnte sagen, dass sie den Hymnos per se schon zu einer literarischen Gattung mit einer Prädisposition zum Triadischen macht. 4.1 invocatio, narratio, petitio: Hymnische Grundstruktur Maßgeblich durch die hymnische Grundstruktur erklärt sich die traditionelle Auffassung von der Zweigeteiltheit des Homerischen Apollonhymnos – lassen sich doch die drei hymnischen Bausteine invocatio, narratio und petitio jeweils für den delischen und für den pythischen Teil wiederfinden, wenn auch nur mehr oder weniger zufriedenstellend. Wo das Ergebnis dieser Suche nicht überzeugt, hat dies meist zu den eingangs erwähnten Spekulationen zu möglichen Entstehungsszenarien des Apollonhymnos geführt. Bei einer Gliederung des Gesamthymnos in drei Teile hingegen (Richardsons Vorschlag) lässt sich die hymnische Triaden-Grundstruktur nicht für alle drei Teile nachweisen. Vielmehr sind es, wie ich später zeigen werde, mehrere andere Strukturelemente, die für diese Einteilung des Homerischen Apollonhymnos sprechen (Kap. 3.2–3).47 Nach einer mehr oder weniger typischen invocatio48 und der narratio mit dem delischen Geburtsmythos geht der erste Hymnenteil zum (kunstvoll mit 46
Die Bezeichnungen für diese drei Teile variieren; die von mir in Klammern gesetzten lateinischen Begriffe sind nicht für alle Hymnenarten gleich gut geeignet: Die kürzeren der Homerischen Hymnen etwa elaborieren keine eigenständige narratio im Mittelteil; der Begriff petitio passt vielleicht eher zu philosophischen Hymnen wie denen des Proklos als zu den Homerischen, die meist nur mit einer kurzen Formel abschließen (Überleitung zum epischen Vortrag). Vgl. auch BREMER, 1981, 196; JANKO, 1981; MILLER, 1986, 1–4; FURLEY, 1993, 25 f. 47 MILLER, 1986, 8, schreibt dem gesamten Apollonhymnos eine einzige hymnische Struktur zu (allerdings keine drei-, sondern eine fünfgliedrige, welche von Elementen enkomiastischer Rhetorik inspiriert ist). 48 Der Einstieg mit µνήσοµαι οὐδὲ λάθωµαι Ἀπόλλωνος ἑκάτοιο („Denken will ich und nimmer vergessen Apollons, des Schützen“) ist einzigartig im Corpus der Homerischen Hymnen. An die Stelle der typischen, vielfältigen Namensanrufung und Attribuierung des besungenen Gottes (z.B. 27,1–3; 28,1–4) tritt, sozusagen in medias res, die erste olympische Szene (2–13): Apollon wird in unserem Hymnos also nicht durch Zuschreibungen, sondern durch sein eigenes Handeln charakterisiert. Das erste Zusammentreffen eines neuen Gottes mit der Göttergemeinschaft auf dem Olymp ist eine typische epische
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einer τις-Rede beschriebenen) delischen Apollonfest über (147–164), wonach eine zunächst recht typisch anmutende petitio an Apollon (und Artemis) folgt (ἀλλ’ ἄγεθ’ ἱλήκοι µὲν Ἀπόλλων Ἀρτέµιδι ξύν: „Aber wohlan! Apollon mit Artemis bleibe uns gnädig!“, 165). Im darauffolgenden Vers allerdings entpuppt sich diese petitio als eine ‚Antäuschung‘: Der Hymnode schwenkt zu den delischen Mädchen um, den Hauptakteurinnen des zuvor beschriebenen Delosfestes. Es folgt also eine völlig untypische, im Homerischen Hymnencorpus einzigartige petitio an einen menschlichen Adressaten, die delischen Mädchen.49 In diese petitio des Hymnoden (nämlich seinen Gesang zu loben, 172 f.) fügt sich die Sphragis des Hymnendichters ein, der offensichtlich mit Homer identifiziert werden wollte. Die sich anschließenden zwei Verse erwecken durch ihren Einstieg mit αὐτὰρ ἐγών zunächst den Eindruck einer typischen Schlussformel.50 Tatsächlich aber sind die beiden Verse einzigartig im Homerischen Hymnencorpus: αὐτὰρ ἐγὼν οὐ λήξω ἑκηβόλον Ἀπόλλωνα / ὑµνέων ἀργυρότοξον, ὃν ἠΰκοµος τέκε Λητώ („Ich aber preise den Schützen ins Weite mit silbernem Bogen, / Unaufhörlich; die lockige Leto gebar ihn, Apollon“, 177 f.). Sie lassen sich wohl am ehesten als ‚Überleitungsverse‘ hin zum zweiten (pythischen) Hymnenteil bezeichnen.51 Dem pythischen Teil wird eine ‚echte‘ invocatio mehrheitlich abgesprochen.52 Ein starkes Argument jedoch dafür, dass in Vers 179 ein zweiter (ursprünglich möglicherweise eigenständiger) Hymnenteil einsetzt, mag darin liegen, dass sich einige Merkmale vom Beginn des delischen Teils wiederho-
Szene (und hat eine hymnische Parallele im Athenehymnos: 28,9–16, dort aber später). Im vorliegenden Fall könnte die olympische Szene noch zu einer (ausgedehnten) invocatio gerechnet werden, bzw. zu einem „Proöm“ (MILLER, 1986, 11) oder einem „Vorspiel“ (RICHARDSON, 2010, 81, zu den Versen 1–18: „These lines form a self-contained prelude, and could easily stand on their own as a hymn to Apollo [...]“). Dieses Vorspiel schließt mit einer zweiten, ‚eingebetteten‘ invocatio (der Leto, 14–18), die dann endgültig zur narratio des delischen Teils überleitet. Vgl. auch CLAY, 1997, 493 f., und RICHARDSON, 2015, 21 f. 49 MILLER, 1979, 180 f. weist darauf hin, dass die petitio dem dreiteiligen Bittschema Gruß – Bitte – Gegenleistung entspricht. 50 αὐτὰρ ἐγὼ καὶ σεῖο καὶ ἄλλης µνήσοµ’ ἀοιδῆς („Ich aber werde deiner und anderen Sanges gedenken“) lautet die Abschlussformel in einem Drittel der 33 Homerischen Hymnen: in H. 2 (Demeter), 4 (Hermes), 6 (Aphrodite), 10 (Aphrodite), 19 (Pan), 28 (Athene), 30 (Allmutter Erde), leicht variiert (pluralisch αὐτὰρ ἐγὼν ὑµέων τε ...) in H. 25 (Musen und Apollon), 27 (Artemis), 29 (Hestia) und 33 (Dioskuren); H. 9 (Artemis) beginnt ebenso mit αὐτὰρ ἐγώ. 51 Vgl. MILLER, 1979. Miller sieht in dem Ausdruck οὐ λήξω gerade das Gegenteil eines Abschlusses. Wir hätten hier also eine angedeutete, aber zurückgewiesene Form der typischen Abschlussformel. 52 Der Teil beginnt untypisch mit ὦ ἄνα (179). WEST, 1975, 162 zufolge ist der Beginn des zweiten Hymnenteils (den er für älter als den delischen Teil hält) verloren.
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len:53 Wieder wird eine olympische Szene geschildert (allerdings von entgegengesetztem Charakter, 186–206); wörtlich wird die sich anschließende, den Mittelteil einleitende rhetorische Frage des Hymnoden wiederholt, wie er Apoll besingen solle (πῶς τάρ σ’ ὑµνήσω, πάντως εὔυµνον ἐόντα; „Wie soll ich dich nur preisen, du ganzer, herrlicher Lobpreis?“, 207 = 19), und wieder schließt sich dann nach einer priamelhaften Sequenz (208–215, vgl. 20–28)54 ein geographischer Katalog an, welcher die Wanderung einer Gottheit auf der Suche nach einer geeigneten (Kult-) Stätte abbildet (216–299, vgl. 30–46). Es folgen die Schlangentötung (300–374, inkl. Typhaon-Exkurs), Apollons Rache an Telphusa (375–387), seine Priestersuche und die Ankunft der kretischen Priester in Krisa (388–544, inkl. dem dritten geographischen Katalog und der Prozession von Krisa nach Pytho) und schließlich die kurze Abschlussformel des pythischen Teils: καὶ σὺ µὲν οὕτω χαῖρε, Διὸς καὶ Λητοῦς υἱέ· / αὐταρ ἐγὼ καὶ σεῖο καὶ ἄλλης µνήσοµ’ ἀοιδῆς („Heil also ruf ich auch dir, du Sohn des Zeus und der Leto! / Ich aber werde deiner und anderen Sanges gedenken.“, 545 f.). Bei dieser traditionellen Zweigliederung des Hymnos (1–178 und 179– 546) lässt sich also mit mehreren Zugeständnissen eine hymnisch-triadische Grundstruktur mit invocatio, narratio und petitio sowohl für den delischen als auch für den pythischen Teil ermitteln. Inwiefern kann aber beim Apollonhymnos jenseits der drei hymnischen Strukturelemente von einer triadischen Gesamtstruktur des Apollonhymnos die Rede sein und durch welche formal-strukturellen Elemente konstituiert sich diese auf der Ebene der Narration? Dieser Frage möchte ich im Folgenden nachgehen. 4.2 Triadische Gesamtstruktur des Homerischen Apollonhymnos: Die drei Kataloge In Richardsons Einführung zum Homerischen Apollonhymnos heißt es: „The hymn tells the story of the birth of Apollo, the god’s foundation of his temple and oracle at Delphi, and his choice of Cretan merchants as his first priests there.“55 Entsprechend dieser inhaltlichen Gesamtstruktur teilt Richardson den Hymnos in drei ähnlich lange „movements“: Apollons Geburt (1–178), die Orakelgründung (179–387) und die Priestersuche (388–544).56 Wie bereits erwähnt, benennt Richardson als strukturierendes Element den geogra-
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Auf die verschiedenen Parallelstellen und motivischen Wiederholungen im Apollonhymnos wurde in der Vergangenheit in vielen Publikationen hingewiesen, vgl. etwa WEST, 1975, 162; CLAY, 1997, 502; RICHARDSON, 2010, 81 f. 54 MILLER, 1979, 184–186, bietet eine überzeugende Deutung der ersten Priamelsequenz. 55 RICHARDSON, 2010, 9. 56 Vgl. RICHARDSON, 2010, 10–12.
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phischen Katalog in seiner dreifachen Wiederkehr im Hymnos.57 Auf den ersten Blick sind die drei Kataloge allerdings recht unterschiedlich. Durch besondere Eigenheiten und Äquivalenzen jedoch sind die Kataloge eng miteinander verbunden und dienen dem Hymnos auf diese Weise als grundlegendes triadisches Strukturmerkmal. Die Bezeichnung ‚Katalog‘ im engeren Sinne trifft eigentlich nur auf den ersten Katalog zu (Letos Wanderung, 30–44), denn nur dieser hat eine klar listenartige, nicht-narrative Form.58 Sammons formuliert in seiner Studie zu den homerischen (d.h. episch-homerischen) Katalogen zudem das typische Merkmal, dass einzelne Elemente eines Katalogs ohne expliziten Bezug zueinander und ohne Hierarchie angeordnet sind (dass also die Reihenfolge nicht entscheidend ist).59 Interessanterweise erscheint der erste Katalog tatsächlich zunächst ohne Hierarchie und Ordnung, denn erst nachträglich entpuppt sich die Aufzählung geographischer Elemente als Reise der schwangeren Leto (von Kreta nach Norden bis Samothrake und an der kleinasiatischen Küste wieder nach Süden). Zunächst präsentiert sich der Katalog als ruhmvolle Liste von Orten, deren Einwohner Apollon in besonderer Weise verehren: 29 30
ἔνθεν ἀπορνύµενος πᾶσι θνητοῖσιν ἀνάσσεις60 ὅσσους Κρήτη ‹τ’› ἐντὸς ἔχει καὶ δῆµος Ἀθηνέων [...].
29 30
Dorther bist du gekommen, beherrschst nun die sterblichen Menschen, welche beherbergt Kreta sowie die Stadt der Athener [...].61 57
Wie auch schon andere vor ihm, vgl. etwa CLAY, 1979, 502. Apollons Suche nach einer Orakelstätte sowie die Schifffahrt der Kreter nach Krisa / Pytho enthalten zwar katalogartige Elemente, jedoch (vor allem Apollons Wanderung) auch viele narrative Anteile. Zu den formalen Eigenheiten homerischer Kataloge vgl. SAMMONS, 2010, 8–22. 59 Vgl. SAMMONS, 2010, 9 und 15. Dieses Merkmal ist eng verbunden mit dem Merkmal der Nicht-Narrativität (denn eine Beziehung der einzelnen Elemente zueinander würde aus ihnen eine Geschichte machen). 60 Ich folge hier nicht Wests Interpunktion (Punkt nach ἀνάσσεις), da ὅσσους vom (zuhörenden) Rezipienten zunächst auf πᾶσι θνητοῖσιν bezogen werden wird. Die Stationen des Katalogs werden also zunächst als Orte der Apollonverehrung verstanden; erst mit τόσσον (45) ergibt sich dann durch Reinterpretation die zweite Lesart, dass nämlich der Katalog die Orte aufzählt, welche die schwangere Leto wegschicken, vgl. etwa GRAF, 2009a, 27. Das Nebeneinander (bzw. Nacheinander) dieser beiden Lesarten ist also beabsichtigt (und muss nicht durch eine Sprechpause aufgehoben werden, wie BALTES, 1981, 26, vorschlägt). Gerade auch die Inkongruenz von ὅσσους und τόσσον zeigt diese Doppelbödigkeit an. Dazu DE JONG, 2012, 48: „The double function of the catalogue is highly effective: the same places who first fear to receive Apollo will later all become part of his dominion.“ 61 Übersetzung der Verfasserin. Es folgen in gleichbleibender grammatischer Struktur alle weiteren Orte des Katalogs. 58
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Erst nach Ende des Katalogs wird diese Suggestion aufgelöst und durch eine andere Aussage ersetzt: All diese Orte bat Leto, sie aufzunehmen, doch kein Ort wagte es, dem ungeborenen und somit unbekannten und unberechenbaren Gott als Geburtsstätte zu dienen.62 45 46 47 48
τόσσον ἔπ’ ὠδίνουσα Ἑκηβόλον ἵκετο Λητώ, εἴ τίς οἱ γαιέων υἱεῖ θέλοι οἰκία θέσθαι αἳ δὲ µάλ’ ἐτρόµεον καὶ ἐδείδισαν, οὐδέ τις ἔτλη Φοῖβον δέξασθαι καὶ πιοτέρη περ ἐοῦσα [...]
45 46 47 48
So viel umher ging die schwangere Leto, im Bauche den Schützen, Ob nicht wohl eines der Länder den Sohn bei sich aufnehmen wolle; Die aber zitterten sehr und erbebten vor Furcht, und nicht eines Wagte, so fruchtbar es war, den Phoibos bei sich zu empfangen.
In 45 muss der Katalog also re-interpretiert werden als Narrativ von Letos Wanderung. Dies zeigt, dass der Hymnendichter mit seiner ersten geographischen Liste zwar unmissverständlich an die typisch homerische Katalogform anknüpft, sie aber dann sogleich modifiziert, indem er die üblicherweise nicht-narrative Form ‚narrativiert‘. Diese Modifikation wird er in den beiden folgenden Katalogen noch deutlich intensivieren: Vor allem der zweite Katalog, Apollons Wanderung auf der Suche nach einer Orakelstätte, hat stark narrative Anteile. Nur in einem weiten Sinne können also alle drei Wanderungen als geographische Kataloge bezeichnet werden. Zu den weiteren Unterschieden zwischen den Katalogen zählt der Umfang: Der zweite Katalog (Apollons Reise) ist der weitaus längste;63 der dritte Katalog (Schifffahrt der Kreter) schließlich ist mit dreißig Versen doppelt so lang wie Letos Wanderung. Sodann haben die drei Kataloge ein sehr unterschiedliches (sowohl narratives als auch ‚fahrtechnisches‘) ‚Reisetempo‘, sozusagen 62
Zu der besonderen Zeitlichkeit der Homerischen Hymnen (‚Überzeitlichkeit‘, Nebeneinander verschiedener zeitlicher Ebenen) vgl. NÜNLIST, 2007. 63 Es ist nicht ganz leicht zu entscheiden, an welcher Stelle der zweite Katalog endet: Das letzte geographische Element ist Krisa, sodass das Ende in jedem Falle nach Vers 282 angesetzt werden muss. Traditionell wird denn auch 286 als Ende des Katalogs betrachtet (so etwa BALTES, 1981, 31, und RICHARDSON, 2010, 115). Die Tatsache, dass sich auch an vorherigen Stationen Erzählungen in den Katalog ‚hineinzwängen‘ (Onchestos-Episode und Telphusa-Episode), könnte allerdings dafür sprechen, auch an der ‚Endstation‘ die (gesamte?) Krisa-Episode als Teil des Katalogs zu begreifen (zumal sie wörtliche Wiederholungen aus der Telphusa-Episode enthält): Man könnte den zweiten Katalog also in 299 (vor der Schlangentötung), in 304 (vor der Typhaon-Episode), in 374 (nach der Schlangentötung) oder spätestens in 387 (nach Apollons Rache an Telphusa) enden lassen. Auch wenn das zunächst einmal etwas zu weit gefasst wirken mag, erscheint mir die letzte Variante wegen der strukturellen Bezüge der einzelnen Abschnitte untereinander am sinnvollsten. – Für den dritten Katalog gilt zwar ebenso, dass man die Episode am Zielpunkt Krisa / Pytho noch zum Katalog zählen könnte (beginnt sie doch, ähnlich wie im zweiten Katalog (286), mit ἔνθα). Dagegen spricht allerdings, dass der Duktus des dritten Katalogs viel bündiger ist als der des zweiten.
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von ugualmente über ritardando bis accelerando: Der erste Katalog enthält keine narrative Digression, sondern pflegt einen gleichbleibend zügigen ‚Katalogstil‘.64 Demgegenüber reduziert sich das narrative Tempo im zweiten Katalog immer mehr durch eingefügte Erzählungen (zu Onchestos, Telphusa und Krisa / Pytho).65 Im dritten Katalog schließlich wird die Fahrgeschwindigkeit selbst zum Thema und steigert sich zum Ende hin: Nach den ersten drei Stationen (Maleia auf Kreta, Lakonien und Tainaron, 409–413), die in mittlerer narrativer Geschwindigkeit (eine Station pro 1–2 Verse) an den erstaunten und handlungsunfähigen Kretern vorbeiziehen, versuchen diese, das Schiff abzubremsen bzw. zu stoppen, was ihnen jedoch nicht gelingt (414–421). In schnellerem Erzähltempo setzt sich die Reise fort (421–429: 1– 3 Stationen pro Vers), und Krisa gelangt in Sichtweite (430–432). Da thematisiert der Erzähler die Fahrgeschwindigkeit noch einmal: Durch einen starken, von Zeus geschickten Westwind gelangt das Schiff in einem Endspurt zum Hafen von Krisa (433–439).66 Soweit zu den Unterschieden; bei näherer Betrachtung enthalten die drei Kataloge jedoch viele formale und inhaltliche Äquivalenzen.67 Ein inhaltliches Merkmal, das allen drei Katalogen gleichermaßen eignet, sind die problematischen Bedingungen, unter denen die jeweilige Reise stattfindet: 1) Der 64
Auffällig im ersten Katalog ist Vers 38, welcher allein Chios gewidmet ist und die Insel mit einem ganzen Relativsatz (inkl. finitem Verb) sowie einem Superlativ würdigt (καὶ Χίος, ἣ νήσων λιπαρωτάτη εἰν ἁλὶ κεῖται: „Chios auch, die fetteste unter den Inseln im Meere“). (Ansonsten gibt es nur adjektivische und appositionelle Attribuierungen im Katalog.) Dies darf gewertet werden als Vorverweis auf die Sphragis des Hymnoden, der sich als Homer inszeniert (172). DE JONG, 2012, 47, nennt den Katalog „static“ und „presented from a panoramic narratological standpoint“. Vgl. dazu überzeugend BALTES, 1981, 41. Zur narratologischen Perspektive des zweiten und dritten Katalogs vgl. DE JONG, 2012, 48. 65 Zu diesem Ergebnis kommt auch BALTES, 1981, 34. 66 Zum Unterschied von Erzähl- und Fahrgeschwindigkeit (also von ‚erzählender‘ und ‚erzählter‘ Geschwindigkeit) im dritten Katalog: Zu einem Teil bildet die narrative Geschwindigkeit des Hymnoden die Schiffsgeschwindigkeit ab, nämlich in den beiden listenartigen Abschnitten 409–413 (mittleres Erzähl- und Fahrtempo) und 422–429 (hohes Erzähl- und Fahrtempo). Zum anderen Teil wird das Erzähltempo vom Fahrtempo überholt, nämlich in den beiden Abschnitten 414–421 (Kreter versuchen, das Schiff zu stoppen: niedrigeres Erzähltempo bei gleichbleibend schneller Fahrgeschwindigkeit) und 430–439 (hinter Zakynthos wird das Schiff vom Zephyr erfasst und erreicht Krisa mit hoher Geschwindigkeit: geringeres Erzähltempo bei hohem Fahrtempo). Diese letzte Etappe im Golf von Patras / Korinth wird dabei als Rückwärtsbewegung beschrieben (ἄψορρον δἤπειτα πρὸς ἠῶ τ’ ἠέλιόν τε: „Umgekehrt fuhren sie nun, dem Morgen, der Sonne entgegen“, 436): Die Kreter fuhren zuvor nur nach Norden und Westen, jetzt aber „wieder zurück“ nach Osten. Ebenso enthält Apollons Reise (zweiter Katalog), der ebenso in Krisa endet, am Ende eine Rückwärtsbewegung, nämlich zurück zu Telphusa, um sich an ihr zu rächen. Diese Strukturäquivalenz ist ein weiteres Argument dafür, Apollons wiederholten Gang nach Telphusa zum zweiten Katalog dazuzurechnen. 67 Vgl. etwa RICHARDSON, 2010, 10–13.
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als Wanderung der schwangeren Leto re-interpretierte erste Katalog beschreibt ihre vergebliche Suche nach einer Geburtsstätte. Bis sie nach Delos kommt, wurde die Göttin überall abgewiesen, und mit Delos muss sie in einem Konfliktgespräch erst die Bedingungen aushandeln, unter denen sie auf der Insel gebären darf. 2) Im zweiten Katalog ist es zwar Apollon, der zum Teil wählerisch an den ersten Stationen vorbeizieht (vgl. 220 f.), jedoch wird er am ersten Ort Telphusa, den er zu seiner Orakelstätte erwählt (244 f.), Opfer der dort ansässigen Quellnymphe Telphusa, die ihn mit heimtückischer List von ihrem Quellbezirk vertreibt: Sie schickt ihn nach Krisa / Pytho, wo eine gefährliche δράκαινα (Schlange) haust.68 Später muss Apollon einsehen, dass er überlistet wurde, und nimmt Rache an Telphusa (375–387). 3) Die Kreter schließlich erdulden den παράπλους („Umschiffung“, 409–439) um die Peloponnes bis nach Pytho nur mit Widerwillen. Mitten im Katalog beschreibt der Hymnode sogar, wie sie die Schifffahrt zu unterbrechen versuchen (414–418). Schließlich müssen sie sich dem mächtigen Willen des Apollon und Zeus ergeben – der Unwille der Kreter klingt jedoch in den späteren Dialogen zwischen Apollon und dem kretischen Anführer noch mehrmals an (473 und 526–530). Zurückweisung und Widerwillen gehören also zu den inhaltlichen Motiven, die alle drei Kataloge teilen. Formal sind die Kataloge meines Erachtens über ein Merkmal verbunden, welches Minton als typisches Katalogelement homerischer und hesiodeischer Epik herausgestellt hat, nämlich die dem Katalog vorangehende, an die Musen gerichtete Frage. In der Bitte um Informationen als der ursprünglichen Funktion der (aus dem Hymnos stammenden) invocatio liegt die Ursache für die enge Verbindung von invocatio und Katalog.69 Die an die Musen gerichtete direkte oder (häufiger) indirekte Frage kurz vor einem Katalog wird häufig zu Beginn des Katalogs echo-artig (durch die Satzstruktur sowie durch ein wiederholtes πρῶτος / πρῶτον) wiederaufgegriffen. Wie im Folgenden deutlich werden wird, verarbeitet der Hymnendichter diese epischen Katalogmerkmale (Frage-Antwort-Struktur und πρῶτος / πρῶτον als Signalwort) in allen drei Katalogen, indem er sie in der einen oder anderen Weise aufgreift und in den Hymnentext einfügt. Die beiden gleichlautenden (rhetorisch anmutenden) Fragen aus 19 und 207 (πῶς τάρ σ’ ὑµνήσω, πάντως εὔυµνον ἐόντα; – „Wie soll ich dich nun preisen, du ganzer, herrlicher Lobpreis?“) wurden vor allem mit Blick auf das rhetorische ἀπορία- (und εὐπορία-) Motiv betrachtet sowie als Einleitungen 68
Apollons Rolle in dieser Szene ist von einer gewissen Naivität geprägt und kontrastiert mit seiner Rolle als Gott der Prophetie. Darin ist die Telphusa-Szene vergleichbar mit dem Apollonbild in einer anderen Begegnung des Gottes mit einer Nymphe, nämlich mit Kyrene in Pind., P. 9, wo Apollons Unwissenheit bzw. Naivität sogar direkt thematisiert wird (Cheiron amüsiert sich darüber, dass der sonst allwissende Apollon die schöne Kyrene nicht (er-)kennt). 69 Vgl. MINTON, 1962, 188–191 (dort Anm. 6 mit weiterer Literatur).
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von sich anfügenden Priameln:70 Da Apollon schon in jeglicher Hinsicht gut besungen ist (πάντως εὔυµνον), weiß der Hymnode gar nicht, wie er nun den Gott preisen soll. Er zieht ein Thema in Betracht (kultische Verbreitung bzw. Liebschaften des Gottes), verwirft es dann aber zugunsten eines anderen Themas (Geburt bzw. Orakelgründung).71 Womöglich lassen sich die beiden priamelartigen Abschnitte aber auch als Anspielung auf das soeben vorgestellte Motiv des Musenanrufs betrachten: Beide Abschnitte enthalten direkte Fragen (die gleichlautende in 19 bzw. 207 sowie die mit ἠέ / ἦ(ε) eingeleitete Ergänzungsfrage in 208 und 214) sowie das Adverb πρῶτον (25 bzw. 214). Der zweite Katalog übernimmt sowohl das πρῶτον (216) als auch das satzstrukturierende Prinzip des Verbs in der 2. Person Singular (ἔβης, κατῆλθες, etc.). In einer gewissen Form knüpft der Hymnendichter also in beiden Katalogen, seien sie formal auch sehr unterschiedlich, an strukturelle Merkmale der hesiodeisch-homerischen Kataloge an. Gilt dies auch für den dritten Katalog? Tatsächlich beginnt der Katalog selbst mit πρῶτον δέ (409) und der Abschnitt vor dem Katalogbeginn (388–409) enthält auch ein Frageelement, nämlich eine indirekte Frage: 388 389 390
καὶ τότε δὴ κατὰ θυµὸν ἐφράζετο Φοῖβος Ἀπόλλων, οὕς τινας ἀνθρώπους ὀργήονας εἰσαγάγοιτο, οἳ θεραπεύσονται Πυθοῖ ἔνι πετρηέσσηι.
388 389 390
Jetzt nun endlich besann im Gemüte sich Phoibos Apollon, Welche Menschen als Walter der Opferfeiern er hole, Dass sie ihm Diener würden in Pythos felsigen Höhen.
Es ließe sich einwenden, dass dies eigentlich keine Frage des Erzählers, sondern der Figur Apollon ist. Einiges spricht aber dafür, die Frage dennoch eher der Erzählerrede zuzuordnen: Zum einen handelt es sich bei der indirekten Frage um wiedergegebene Gedankenrede Apollons, von der der Erzähler weiß, weil er (seit dem Ende der Typhaon-Episode in 355) aus der Perspektive Apollons erzählt (aktoriale Fokalisierung). Zum anderen scheint diese indirekte Frage eine ähnliche (extradiegetische bzw. erzählerorientierte) 70
Vgl. etwa MILLER, 1986, 21. Eine Priamel liegt genau genommen nur im zweiten Hymnosteil vor (207–215). Im ersten Hymnosteil setzt der Hymnode nach seiner Frage πῶς τάρ σ’ ὑµνήσω [...] zunächst an, die universelle Verbreitung der Apollonverehrung zu beschreiben (20–24), und wirft dann in einer Anschlussfrage das Geburtsthema auf (25–28). Der Katalog scheint dann vom Geburtsmythos zurück zum Thema der kultischen Verbreitung zu führen (Katalogbeginn mit ὅσσους, 30) und entpuppt sich erst in 45 als Beginn des Geburtsmythos (Letos Suche nach einer Geburtsstätte). Statt einer Priamelstruktur (als einfacher Verwerfung eines Themas zugunsten eines anderen) liegt hier also vielmehr eine komplizierte, hin- und herschwankende Struktur vor: Kultausbreitung, Geburtsmythos, Kultausbreitung, Geburtsmythos. (WEST, 1975, 164, wertet diese Struktur als schlechtes Imitat der echten Priamel im zweiten Hymnenteil. U.a. deswegen definiert er den pythischen Teil als den früheren, den delischen Teil als die spätere Nachdichtung.) 71
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Funktion zu erfüllen wie die erwähnten zwei rhetorischen Fragen (19/207), nämlich einen Szenenwechsel bzw. Handlungsumschwung einzuläuten, von Pytho und Telphusa (Orakelgründung, 2. Hymnenteil) nach Kreta (Priesteranwerbung, 3. Hymnenteil).72 Die formale Betrachtung der Kataloge im Apollonhymnos zeigt also, dass alle drei Kataloge, trotz ihrer Unterschiede in der jeweiligen Ausgestaltung, typische Elemente der epischen Katalogform zumindest aufgreifen und anklingen lassen. Dies erklärt ihre untereinander vergleichbare Form und ihre Funktion als triadisches Strukturelement im Homerischen Apollonhymnos. Zudem besitzen interessanterweise alle drei Kataloge selbst ein triadisches Element und bilden dabei jeweils ein sich nach dem (Behaghelschen) ‚Gesetz der wachsenden Glieder‘ steigerndes Trikolon: Der erste Katalog enthält drei Verse, die jeweils drei Orte nennen (32, 35 und 44), und zwar jeweils vor einer wachsenden Anzahl von Versen, die nur ein oder zwei Orte nennen. 29 30 31 32 33 34 3673 37 35 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47
ἔνθεν ἀπορνύµενος πᾶσι θνητοῖσιν ἀνάσσεις ὅ σ σ ο υ ς Κρήτη ‹τ’› ἐντὸς ἔχει καὶ δῆµος Ἀθηνέων νῆσός τ’ Αἰγίνη ναυσικλειτή τ’ Εὔβοια Αἰγαί τ’ Εἰρεσίαι τε καὶ ἀγχιάλη Πεπάρηθος Θρηΐκιός τ’ Ἀθ‹ό›ως καὶ Πηλίου ἄκρα κάρηνα Θρηϊκίη τε Σάµος Ἴδης τ’ ὄρεα σκιόεντα, Ἴµβρος ἐϋκτιµένη καὶ Λῆµνος ἀµιχθαλόεσσα Λέσβος τ’ ἠγαθέη, Μάκαρος ἕδος Αἰολίωνος, Σκῦρος καὶ Φώκαια καὶ Αὐτοκάνης ὄρος αἰπύ καὶ Χίος, ἣ νήσων λιπαρωτάτη εἰν ἁλὶ κεῖται, παιπαλόεις τε Μίµας καὶ Κωρύκου ἄκρα κάρηνα καὶ Κλάρος αἰγλήεσσα καὶ Αἰσαγέης ὄρος αἰπύ καὶ Σάµος ὑδρηλὴ Μυκάλης τ’ αἰπεινὰ κάρηνα Μίλητός τε Κόως τε, πόλις Μερόπων ἀνθρώπων, καὶ Κνίδος αἰπεινὴ καὶ Κάρπαθος ἠνεµόεσσα Νάξος τ’ ἠδὲ Πάρος Ῥήναιά τε πετρήεσσα· τ ό σ σ ο ν ἔπ’ ὠδίνουσα Ἑκηβόλον ἵκετο Λητώ, εἴ τίς οἱ γαιέων υἱεῖ θέλοι οἰκία θέσθαι αἳ δὲ µάλ’ ἐτρόµεον καὶ ἐδείδισαν, οὐδέ τις ἔτλη
2 2 3 2 2 2 1 3 1 2 2 2 2 2 3
72 Diese Funktion des Umschwungs kommt auch dem Musenanruf mit der darin enthaltenen typischen Frage des Erzählers an die Muse zu (z. B. Hom. Il. II 761 f.: Wechsel vom Schiffskatalog zur Frage nach dem ‚Besten‘ der griechischen Kämpfer und Pferde, und so auch Rückkehr zur Handlung, nämlich zum Groll des Achill und zum Aufmarsch der Griechen). Zusätzlich erfüllen die iliadischen Musenanrufe natürlich noch weitere Funktionen (vor allem inszenierte Nähe des Erzählers zu den göttlichen Musen), genauso wie auch die rhetorischen Fragen im vorliegenden Apollonhymnos (Priamelfunktionen, vgl. auch die vorangehende Anm.). 73 West folgt Humbert darin, Vers 35 zugunsten der Geographie nach hinten zu versetzen. Dadurch bekommt der Katalog eher den Charakter eines Routenplans – als welcher er sich dem Rezipienten eigentlich erst in 45 offenbart (vgl. oben Anm. 60).
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Φοῖβον δέξασθαι καὶ πιοτέρη περ ἐοῦσα, πρίν γ’ ὅτε δή ῥ’ ἐπὶ Δήλου ἐβήσετο πότνια Λητώ, ...
29 30 31 32 33 34 36 37 35 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Dorther bist du gekommen, bist du nun Herr aller Menschen: ebenso der in Kreta Lebenden wie der Athener, jener von Aigne und vom schiffberühmten Euboia, derer von Aigai und Eiresiai und der Stadt Peparethos, derer vom thrakischen Athos und jener vom pelischen Bergland, derer vom thrakischen Samos und jener vom Idagebirge, von der schönen Stadt Imbros, von Lemnos, der nebligen Insel, vom geheiligten Lesbos, dem Sitz der äolischen Herrscher, von Skyros und Phokaia, vom hohen Autokanesberg, von Chios, der reichsten von allen den Inseln des Meeres; derer vom felsigen Mimas sowie von des Korykos Höhen, derer vom sonnigen Klaros und jener vom Aisageesberg, derer vom feuchten Samos und Mykales luftigen Höhen, auch von Milet und von Kos, der berühmten Stadt der Meropier, derer von Knidos, der Bergstadt, und Karpathos – dort wo der Wind braust, derer von Naxos und Paros sowie von Rhenaia, dem Felsnest. All diese Orte hatte für ihre Niederkunft Leto aufgesucht, um dort ihrem Sohn eine Heimstatt zu bieten. Überall aber hatte man Angst; man wagte es nirgends, Phoibos aufzunehmen, auch nicht in den reicheren Städten, bis dann schließlich nach Delos gelangte die göttliche Leto [...].74
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Auf diese Weise durch die Anzahl der Stationen pro Vers gegliedert, besteht der erste Katalog (in der Textgestalt von Wests Ausgabe) also aus folgenden drei Teilen: 30–32, 33–35 (einschließlich der transponierten Verse 36–37), 38–44.75 Auch der zweite Katalog lässt sich sinnvoll durch ein triadisches Element gliedern, nämlich durch die drei Erzählungen, die der Hymnode an einzelnen Stationen (Onchestos, Telphusa und Krisa / Pytho) einfügt.76 In der ersten und kürzesten Erzählung (230–238) berichtet der Hymnode von einem Poseidonritual in Onchestos, bei dem ein Wagen von einem Fohlen gezogen und schließlich dem Gott geopfert wird. Die nächste, längere Erzählung steht in direktem Zusammenhang mit Apollons Orakelstättensuche und behandelt Telphusas List gegen Apollon, mit welcher sie ihn aus ihrem heiligen Bezirk vertreibt und weiter nach Krisa schickt (244–276). Die letzte und längste Erzählung schließlich handelt von Apollons Orakelgründung in Pytho (282– 74 Übersetzung von BERNAYS, 2017 (mit Versumstellungen gemäß der Ausgabe WEST, 2003). 75 Auch BALTES, 1981, 26–28 hat sich um eine Strukturanalyse des Katalogs bemüht und konzentriert sich dabei auf den Nachweis von Symmetrien im Katalog. Seine Analyse basiert allerdings auf der überlieferten Reihenfolge der Verse (die Umstellung, die West zugunsten der Geographie vornimmt, lehnt Baltes ab). 76 Zur Geographie und praktischen ‚Durchführbarkeit‘ dieser Reise Apollons vgl. etwa BALTES, 1981, 32; zu ihrer religiösen Bedeutung RICHARDSON, 2010, 115.
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378); sie enthält den Tempelbau (285–299), die Schlangentötung (300–362, einschließlich des Typhaon-Exkurses 305–354), die Aitiologie des apollinischen Beinamens Pythios (362–374) und die Rache an Telphusa (375–387, einschließlich der Aitiologie des apollinischen Beinamens Telphusios).77 Der dritte Katalog hingegen enthält ein triadisches Element, das vor allem inhaltlich von besonderer Bedeutung ist: Dreimal erwähnt der Hymnode in diesem Katalog Zeus (427, 433, 437).78 Diese prominente Rolle des Zeus überrascht kaum, wenn man bedenkt, dass es im dritten Katalog (bzw. im dritten Hymnenteil) um nicht weniger als die Einsetzung der Orakelpriester geht, durch welche Apollon den Menschen „des Zeus untrüglichen Ratschluss“ weissagen wird (132: χρήσω τ’ ἀνθρώποισι Διὸς νηµερτέα βουλήν).79 An diesen ersten Ausspruch Apollons wörtlich anknüpfend, nennen alle drei Verse Zeus’ Namen im Genitiv (Διός) und jeweils pointiert in der zweite Vershälfte: 427 427
77
εὖτε Φεὰς ἐπέβαλλεν ἀγαλλοµένη Διὸς οὔρωι Als mit von Zeus gesendetem Wind nun Pheia erreicht war
Im Ganzen ist der Katalog also in folgende Abschnitte zu gliedern: 216–238 (22 Verse), 239–280 (41 Verse), 281–387 (106 Verse). Auch BALTES, 1981, 34, gliedert den Katalog in drei Teile, allerdings auf andere Weise (er lässt den Katalog ja in 286 enden): Als Gliederungsprinzip bestimmt er den zweimaligen Vers τεύξασθαι νηόν τε καὶ ἄλσεα δενδρήεντα (221 = 245). Der erste Katalogteil bestehe aus den Versen vor 221, der zweite aus den Versen zwischen 221 und 245 und der dritte Teil aus den Versen nach 245. Auch wenn sich der Vers vielleicht gemeinsam mit der dritten Wiederaufnahme in 287 (ἐνθάδε δὴ φρονέω τεῦξαι περικαλλέα νηόν) als Strukturprinzip eignen würde, ist Baltes’ Gliederung m.E. ungünstig angelegt: In einem Hymnos, welcher einer mündlichen Tradition zumindest in seinem poetologischen Programm in irgendeiner Weise verpflichtet ist, kann ein Vers nicht sowohl vorwärts als auch rückwärts zugleich gliedern. Wenn der Vers Gliederungsprinzip ist, dann muss er in jedem Teil vorkommen (vorzugsweise am Anfang, oder am Ende). 78 Auf die Bedeutung dieses Umstands wird mehrfach verwiesen, vgl. etwa CLAY, 1989, 82. Man bedenke, dass die dreifache namentliche Nennung des Zeus zwar ein triadisches Element des Katalogs ist, nicht aber als sein Gliederungsprinzip dienen kann (alle drei Erwähnungen kommen in den letzten 13 von 31 Versen vor). Ich würde allerdings auch diesen Katalog in drei Teile wie folgt gliedern: 1.) die ersten fünf listenartigen Verse (409– 413), 2.) der Versuch der Kreter, das Schiff zu stoppen, welcher von Apollon (bzw. vom Erzähler) mit einer Temposteigerung vereitelt wird (414–429) und 3.) der ‚Endspurt‘ nach Krisa mit der abermaligen Temposteigerung (430–439). Auch wieder in drei (allerdings wieder drei andere) Teile gliedert den Katalog BALTES, 1981, 36. Baltes bespricht auch die Odyssee- und Ilias-Zitate des Katalogs, vgl. BALTES, 1981, 37–39. 79 Zuvor heißt es über die Kreter (393–396): οἵ ῥά τ’ ἄνακτι / ἱερά τε ῥέζουσι καὶ ἀγγέλλουσι θέµιστας / Φοίβου Ἀπόλλωνος χρυσαόρου, ὅττί κεν εἴπηι / χρείων ἐκ δάφνης γυάλων ὕπο Παρνησσοῖο („Sie bringen / Opfer dem Herrscher und künden die Sprüche des golden bewehrten / Phoibos Apollon, so oft aus dem Lorbeer redend er weissagt / Unter den Höhn des Parnassos.“).
Die triadische Struktur des Homerischen Apollonhymnos 433 (434) 433 (434)
ἦλθ’ ἄνεµος Ζέφυρος µέγας αἴθριος ἐκ Διὸς αἴσης ([...] ἐξ αἰθέρος) da erhob sich der Zephyrwind heftig, welcher von Zeus war ([...] aus dem Äther gesendet)
437 437
ἔπλεον, ἡγεµόνευε δ’ ἄναξ Διὸς υἱὸς Ἀπόλλων segelten sie, vom Herrscher gelenkt, dem Zeussohn Apollon 80
291
Eine gewisse Steigerung (im Sinne eines klimaktischen Trikolons) kann darin gesehen werden, dass die drei Wortgruppen mit Διός sowohl quantitativ als auch qualitativ an Bedeutung zunehmen: Zunächst ist von „Zeus’ Wind“ (Διὸς οὔρωι) die Rede, der das Schiff der Kreter vorantreibt, sodann vom Zephyr, der sich „auf Zeus’ Geheiß“ (ἐκ Διὸς αἴσης) heftig erhebt, und schließlich vom „Zeussohn, dem Herrscher Apollon“ (ἄναξ Διὸς υἱὸς Ἀπόλλων). Vor allem die letzten beiden Erwähnungen enthalten subtile Verweise auf das neu gegründete Apollonorakel: αἶσα (433) ist neben µοῖρα der wohl wichtigste homerische Begriff für das Schicksal (dessen Richtung Zeus bekanntlich mittels seiner Waage ermitteln kann). Apollon schließlich (437) gründet das Orakel in Delphi, durch welches die Beschlüsse des Zeus geweissagt werden sollen, vor allem in seiner Funktion als loyaler Zeussohn. Es wird deutlich, dass die drei Kataloge des Apollonhymnos signifikant strukturell, nämlich durch typische Katalogelemente sowie durch triadische Strukturelemente, miteinander verbunden sind. Dies stützt die These, dass der Katalog das entscheidende triadische Strukturmerkmal des Hymnos darstellt. In formal-struktureller Hinsicht erscheint damit auch die von Richardson vorgeschlagene Dreiteilung des Hymnos besonders einleuchtend. Zudem unterstützt die enge formale Verbindung der drei Kataloge die Deutung von Jenny Strauss Clay, derzufolge die drei Kataloge den gesamtgriechischen (‚panhellenischen‘) Raum als Einflussbereich des neuen Orakelgottes markieren.81 4.3 Pythios, Telphusios, Delphinios: Weitere triadische Strukturelemente Innerhalb der von Richardson vorgeschlagenen Dreiteilung des Apollonhymnos enthält der Hymnentext neben den drei Katalogen ein weiteres wichtiges Triadenelement, welches unmittelbar mit den Katalogen zusammenhängt, nämlich die drei Orte, die Apollon im Hymnos zu seinen Kultstätten erkürt: Delos, Telphusa und Krisa / Pytho. Dass neben Delos und Delphi auch der Quellort Telphusa trotz der List, mit der ihn die Quellnymphe zunächst erfolgreich vertreibt, eine für Apollon wichtige Kultstätte darstellt, zeigt die Rache-Episode (375–387), in der Apollon seinen Anspruch auf Verehrung an der Quelle aggressiv markiert und dabei eine Aitiologie seines Beinamens 80 81
Übersetzungen von BERNAYS, 2017 (mit geringfügiger Anpassung). Vgl. CLAY, 1989, 57.
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Telphusios liefert. Zudem sind alle drei Orte sprachlich miteinander verknüpft über die gleichlautende Prophezeiung ihrer künftigen Blüte als vielbesuchte Kultstätten Apollons: dass nämlich die Menschen Hundertopfer zu Apollons Ehren herantreiben werden (ἀγινήσουσ’ ἑκατόµβας).82 Weiterhin sind die drei Orte durch je zwei Dialogpartner gekennzeichnet, die jeweils miteinander (in mehr oder weniger antagonistischer Weise) über Bedingungen der Errichtung einer apollinischen Kultstätte verhandeln (Leto – Delos: 51–88; Apollon – Telphusa: 247–275; Apollon – Kreter: 452–501 und 526– 544). Ein zusätzliches Triadenelement, das je einmal in allen drei Hymnenteilen auftaucht, ist die ‚chorlyrische‘ Darbietung mit Tanz und Gesang: die bereits besprochenen Darbietungen der delischen Mädchen beim Apollonfest auf Delos (156–164) sowie der Göttinnen und Götter auf dem Olymp (189– 203)83 und die Prozession der kretischen Priester und Apollons von Krisa hinauf nach Pytho (513–519). All diese triadischen Strukturelemente stützen, neben den drei besprochenen Katalogen, die triadische Gesamtstruktur des Apollonhymnos. Schließlich ragen innerhalb des letzten Hymnenteils zwei auffällige triadische Elemente hervor, nämlich die bereits einleitend erwähnten Aitiologien dreier Beinamen Apollons sowie die Epiphanien des Gottes in drei verschiedenen Gestalten. Apollon wird der Pythische genannt (wegen der besiegten Schlange, der er zuruft: πύθε’ – „Verrotte!“, 363),84 der Telphusische (wegen seiner Rache an der Quellnymphe Telphusa: 386 f.)85 und der Delphinische 82
Delos (57 f.): ἄνθρωποί τοι πάντες ἀγινήσουσ’ ἑκατόµβας / ἐνθάδ’ ἀγειρόµενοι; Telphusa (248 f.): οἵ τέ µοι αἰεί / πολλοὶ ἀγινήσουσι τεληέσσας ἑκατόµβας; Krisa (289): ἐνθάδ’ ἀγινήσουσι τεληέσσας ἑκατόµβας; Pytho (366): ἐνθάδ’ ἀγινήσουσι τεληέσσας ἑκατόµβας. 83 KAKRIDIS, 1937, 104–106, verweist auf die Ähnlichkeiten und Bezüge zwischen dem delischen und dem olympischen Fest. Zum olympischen Fest als chorlyrischer Darbietung vgl. FURLEY, 1993, 36. 84 Nach Apollons scharfzüngigen Worten gegenüber dem besiegten Ungeheuer liefert der Hymnode die aitiologische Erklärung, warum Krisa den Namen Pytho und Apollon den Beinamen Pythios bekommen hat (wobei er einen expliziten Bezug zu seiner eigenen Zeit herstellt): τὴν δ’ αὐτοῦ κατέπυσ’ ἱερὸν µένος Ἠελίοιο· / ἐξ οὗ νῦν Πυθὼ κικλήσκεται, οἳ δὲ ἄνακτα / Πύθιον ‹αὖ› καλέουσιν ἐπώνυµον, οὕνεκα κεῖθι / αὐτοῦ πῦσε πέλωρ µένος ὀξέος Ἠελίοιο (371–374: „Dort nun ließ sie verfaulen des Helios heilige Stärke; / Seitdem heißt es jetzt Pytho, und Pythios ruft man den Herrscher, / Gibt ihm den ehrenden Namen, weil Helios’ beißende Stärke / Dort auf der Stelle zur Fäulnis brachte das riesige Untier“). 85 Apollon erklärt die List der Quelle, mit der sie ihn von ihrem Heiligtum fernhalten wollte, für gescheitert, bestraft sie mit einem Steinschlag und errichtet sich selbst einen Altar „ganz in der Nähe der herrlich flutenden Quelle“ (ἄγχι µάλα κρήνης καλλιρρόου, 385). Die sich anschließende Aitiologie lautet: ἔνθα δ’ ἄνακτι / πάντες ἐπίκλησιν Τελφουσίωι εὐχετόωνται, / οὕνεκα Τελφούσης ἱερῆς ἤισχυνε ῥέεθρα (385–387: „Seitdem nun / Nennen alle den Herrscher Telphusier, wenn sie ihn betend / Rufen; er hat ja das Wasser der hehren Telphusa geschändet“).
Die triadische Struktur des Homerischen Apollonhymnos
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(weil er sich den Kretern zuerst als Delphin zeigte: 495 f.).86 Mit dieser letztgenannten Aitiologie werden die beiden triadischen Elemente, Beinamen und Epiphanien, enggeführt: Die letzte Aitiologie bezieht sich auf die erste Epiphanie, bei der Apollon in Gestalt eines Delphins auf das kretische Schiff springt und dessen Kontrolle übernimmt: 400 401
ἐν πόντωι δ’ ἐπόρουσε δέµας δελφῖνι ἐοικώς νηῒ θοῆι, καὶ κεῖτο πέλωρ µέγα τε δεινόν τε.
(399) 400 401
Er sprang in Gestalt eines Delphins Mitten im Meer auf das eilende Schiff. Da lag er, ein Untier Ungeheuerlich groß und schrecklich.
In Krisa angekommen, springt Apollon als funkelnder Stern an Land und entzündet das Feuer in seinem Tempel:87 440 441 442 443 444 445
ἔνθ’ ἐκ νηὸς ὄρουσεν ἄναξ ἑκάεργος Ἀπόλλων ἀστέρι εἰδόµενος µέσωι ἤµατι· τοῦ δ’ ἀπὸ πολλαί σπινθαρίδες πωτώντο, σέλας δ’ εἰς οὐρανὸν ἷκεν· ἐς δ’ ἄδυτον κατέδυσε διὰ τριπόδων ἐριτίµων. ἔνθ’ ἄρ’ ὅ γε φλόγα δαῖε πιφαυσκόµενος τὰ ἃ κῆλα, πᾶσαν δὲ Κρίσην κάτεχεν σέλας· [...]
440 441 442 443 444 445
Fort aus dem Schiffe nun stürmte der Herrscher Apollon, der Schirmherr; Gleich einem Stern, der am Mittag erstrahlt, entsprühten ihm zahllos Funken; sein Glänzen erreichte den Himmel. Was nie noch betreten, Das nun betrat er; am Wege stand Dreifuß bei kostbarem Dreifuß. Hier nun entbrennt er die Flamme, gibt Zeichen mit seinen Geschossen – Glanz umflutet ganz Krisa.
Von den Krisaischen Frauen jauchzend empfangen, springt er wieder zurück aufs Schiff in der Gestalt eines Jünglings: 448 449 450
ἔνθεν δ’ αὖτ’ ἐπὶ νῆα νόηµ’ ὣς ἄλτο πέτεσθαι, ἀνέρι εἰδόµενος αἰζηῶι τε κρατερῶι τε πρωθήβηι, χαίτηις εἰλυµένος εὐρέας ὤµους
86 Die aitiologische Erklärung für seinen Beinamen Delphinios bringt Apollon selbst in seiner Rede an die Kreter: ὡς µὲν ἐγὼ τὸ πρῶτον ἐν ἠεροειδέϊ πόντωι / εἰδόµενος δελφῖνι θοῆς ἐπὶ νηὸς ὄρουσα / ὣς ἐµοὶ εὔχεσθαι Δελφινίωι· αὐτὰρ ὁ βωµός / αὐτὸς Δέλφειος καὶ ἐπόψιος ἔσσεται αἰεί (492/3–496: „Denn wie ich am Anfang / Draußen im luftigen Meer in Gestalt eines Delphins hinaufsprang / Auf euer eilendes Schiff, so sollt ihr in euren Gebeten / Mich den Delphinier heißen. Doch wird der Altar auch selber / Alle Zeit der Delphinische sein und ein künftiges Schaustück“). 87 MALKIN, 2000, 76 f., argumentiert dafür, dass im Apollonhymnos zwei Gründungsgeschichten enthalten sind, nämlich zum einen die Orakelgründung durch Apollon selbst, angezeigt durch die Feuerentzündung in seinem Tempel (444), und zum anderen die Koloniegründung durch die Kreter, angezeigt durch die Feuerentzündung am Altar im Hafen von Krisa (509). Zum Einfluss, den Delphi historisch bei Koloniegründungen ausgeübt, vgl. allerdings die kritische Einschätzung von OSBORNE, 1996, 205–207 sowie in diesem Band den Beitrag von R. Osborne, oben S. 173–183.
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Leonie von Alvensleben Er aber sprang darauf im Flug wie ein rascher Gedanke Wieder zum Schiff in Gestalt eines Jünglings in frühesten Jahren, Kräftig und frisch, um die breiten Schultern flattern die Haare.
Beide miteinander enggeführte Triaden betonen die Bedeutung der Dreiheit für den Gott Apollon: Die drei Epiphanien betonen die unmittelbare Erfahrbarkeit des delphischen Gottes für die internen Rezipienten, d.h. die Kreter und die Krisaer; die drei Namensaitiologien hingegen betonen die rituelle Erfahrbarkeit des Gottes für die externen Rezipienten, nämlich wenn sie Apollon künftig als Pythios, Telphusios oder Delphinios anbeten.88 Dreiheit kann demnach im vorliegenden Hymnos als wichtiges Steuerelement für die Interaktion Apollons mit den Menschen bezeichnet werden. Dass diese Interaktion eine bedeutende Aufgabe des neuen olympischen Gottes darstellt, ist bereits bei der Betrachtung der drei τιµαί (131 f.) deutlich geworden, deren Hauptelement die Prophetie ist. Sie bildet das Vermittlungsorgan zwischen den olympischen Göttern (vor allem Zeus) und den Menschen und ist unmittelbar mit dem wichtigsten inhaltlichen Element des Hymnos verknüpft, der Orakelgründung.
5. Fazit Die vorliegende Untersuchung hat ergeben, dass der Homerische Apollonhymnos auf ganz unterschiedlichen Ebenen maßgeblich von Dreiheit bestimmt ist. Als wichtigster inhaltlicher Hinweis auf die entscheidende Rolle von Dreiheit im Hymnos dient Apollons erster, auf sich selbst bezogener Ausspruch, in welchem er Lyra, Bogen und Weissagekunst als seine drei persönlichen τιµαί (‚Ehrenämter‘) beansprucht. Ebenso zeigt sich die Tendenz des Apollonhymnos zum Triadischen in der Häufung von Göttertriaden (v.a. beim olympischen Götterfest zu Anfang des zweiten Hymnenteils). Das Hauptaugenmerk der Untersuchung lag jedoch auf strukturellen Dreiheiten im Hymnos: Überzeugender als der Versuch, die hymnische Grundstruktur von invocatio, narratio und petitio jeweils für den delischen und den pythischen Teil nachzuweisen, erscheint eine dreiteilige Gliederung des Hymnos, wie sie Richardson vorschlägt. Das wichtigste Argument für eine dreiteilige Gliederung liegt in den drei geographischen Katalogen, die dem Hymnos als triadisches Strukturelement dienen. Bei einer näheren Betrachtung der Kataloge erweisen sich diese trotz äußerer Verschiedenheit als höchst strukturverwandt und zudem als je in sich triadisch arrangiert. Gestützt wird die Dreiteilung des Hymnos schließlich auch durch die Orte Delos, Telphusa und Krisa / Pytho: Alle drei ernennt Apollon im Hymnos zu 88
Zur Erfahrbarkeit des Delphischen Orakels siehe in diesem Band den Beitrag von H. Bowden, oben S. 77–89.
Die triadische Struktur des Homerischen Apollonhymnos
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seinen künftigen Kultstätten und errichtet Altäre bzw. Tempel an ihnen. Erzählerisch werden die drei Hymnenteile jeweils durch ein musisches Fest (Delosfest, Götterfest und Pythoprozession) sowie durch Zwiegespräche zwischen zwei Dialogpartnern strukturiert. Im letzten Hymnenteil schließlich wird der triadische Charakter des Hymnos ‚gekrönt‘ durch die drei (aitiologisch hergeleiteten) Epiklesen des Gottes (Pythios, Telphusios und Delphinios) sowie durch die drei Epiphanien des Gottes (als Delphin, Stern und Jüngling). Zwei Kernaussagen haben sich im Laufe der Untersuchung als übergeordnete Deutungen des triadischen Strukturprinzips im vorliegenden Hymnos herausgestellt: zum einen der enge Bezug von Dreiheit und Interaktion zwischen Gott und Mensch (drei Beinamen, drei Epiphanien und Weissagung als dritte τιµή) und zum anderen Ganzheitlichkeit als Symbolbedeutung der Dreizahl (drei Kataloge als Abbild der gesamtgriechischen Welt). Zudem wurde an mehreren Stellen der vorliegenden Analyse die harmonisierende Bedeutung von Dreiheit deutlich: Beim olympischen Götterfest treten Göttinnen und Götter gemeinsam in Harmonie auf, arrangiert zu triadischen Gruppierungen; durch die friedliche Kooperation mit Zeus erweist sich Apollon als dessen loyaler Sohn, der die olympische Ordnung unter der Herrschaft seines Vaters sichert, indem er die Göttergemeinschaft durch Musik harmonisiert und die Menschen durch sein neues Orakel an Zeus’ Macht bindet (so auch Clays Gesamtdeutung des Hymnos). Dreiheiten im Apollonhymnos weisen also auf den ganzheitlichen, ‚panhellenischen‘ Einfluss, welcher dem jungen Gott Apollon als Vermittler zukommt, Vermittler sowohl zwischen den Göttern durch harmoniestiftende Musik als auch zwischen Menschen und Göttern durch Prophetie.
Die Pythischen Spiele bei Pindar Historischer Kontext und kulturelle Bedeutung Claas Lattmann 1. Einleitung Untrennbar mit Delphi verbunden waren die Pythischen Spiele, eines der wichtigsten Kultfeste im antiken Griechenland von der Archaik bis weit in die Spätantike.1 Zu ihnen kam alle vier Jahre die gesamte griechische Welt zu Ehren Apollons zusammen, um sich miteinander im Wettkampf zu messen.2 Nach einem wohl lokalen Beginn als rein musischer, möglicherweise alle acht Jahre abgehaltener Agon in der frühen Archaik – in der mythischen Tradition wurde der Ursprung auf Leichenspiele für die Schlange Pytho zurückgeführt3 – wurden sie allem Anschein nach in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts nach dem Muster der Olympien reorganisiert. So wurde das Festprogramm bei den Pythien der Jahre 586 und 582 durch weitere musische, aber auch athletische und Pferde-Wettbewerbe erweitert, und die anfangs traditionell materiellen Wertpreise wurden durch einen Siegerkranz aus (Lorbeer-) Laub ersetzt.4 1
Für einen Einblick in die spätere Entwicklung vgl. knapp SPAWFORTH, 2007; für die frühe Entwicklung siehe unten, insbesondere Anm. 4. Die griechische Bezeichnung für das Fest ist Πυθιάς (‚Pythias‘) oder Πύθια (‚Pythien‘), beides belegt bei Pindar; siehe unten Anm. 19. Pindar ist im Folgenden nach der Ausgabe von SNELL/MAEHLER, 1987 zitiert (mitunter mit leichten Modifikationen in Hinsicht auf die Interpunktion), die Scholien zu Pindar nach DRACHMANN, 1903–1927; die Übersetzungen lehnen sich, soweit nicht weiter gekennzeichnet, an BREMER, 1992 an; die Übersetzungen zu Pythie 4 folgen LATTMANN, 2010. 2 Zum komplexen Phänomen des ‚Agonistischen‘ in der griechischen Kultur vgl. die jüngere Diskussion bei ULF, 2008 sowie aus einer mehr wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive ULF, 2011. 3 Vgl. etwa Schol. Pind. P., hyp. a.c (dort auch hyp. c die hierauf anspielende etymologisierende Herleitung des Ortsnamens Πυθώ von πύθεσθαι, d.i. „become rotten, decay, moulder“ [LSJ s.v. πύθω]); Schol. Pind. I., hyp. d. Zu dieser Frage vgl. kritisch DAVIES, 2007, 55 f. (man beachte freilich, dass Neoptolemos als in Delphi kultisch verehrtem Heros eine wichtige Rolle in dieser Hinsicht zuzukommen scheint: siehe unten S. 309 mit Anm. 31). 4 Die konkreten Details sind notorisch ungewiss, aber mit BRODERSEN, 1990 ist die his-
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Claas Lattmann
Neben späteren literarischen Zeugnissen wie Pausanias ist für die frühe Geschichte der Pythischen Spiele vor allem der Dichter Pindar ein wichtiger Zeuge, speziell für die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts. Von ihm sind zahlreiche Lieder überliefert, mit denen Sieger bei den Wettspielen gepriesen wurden, die sogenannten Epinikien. Diese Lieder waren für eine öffentliche Aufführung gedichtet, in der Regel durch einen Chor im Rahmen einer Feier der Heimat-Polis zum Anlass der Rückkehr des Siegers und der mit den Athleten entsandten Gesandtschaften (θεωρίαι) von den Festorten.5 Aus diesen Zeugtorische Entwicklung wie folgt (vgl. PARKER, 1997): in die Archaik zurückreichende musische Agone alle acht Jahre; außergewöhnlicher gymnischer (und nicht-musischer) Agon mit Wertpreisen anlässlich des Sieges über die Kirrhaier im Ersten Heiligen Krieg im Jahr 591/0; unter Rückgriff auf die ältere Tradition des musischen Agons erste Pythien im VierJahres-Rhythmus im Jahr 586/5 mit Wertpreisen und unter Erweiterung des Programms auf gymnische Wettkämpfe; Umstellung auf Kranzspiele ab dem Jahr 582/1. Quellen für die Rekonstruktion der politisch-historischen Zusammenhänge sind im Wesentlichen Schol. Pind. P., hyp. b.d (Verbindung mit dem ‚Ersten Heiligen Krieg‘: vgl. PARKER, 1997; auch BRODERSEN, 1990) sowie (mit leicht anderem Akzent) Pausanias, X 7,2–8 (vgl. hier auch den Beitrag von Sánchez, oben S. 241 f.). Zu der (hiermit verbundenen, aber nicht identischen) Frage, welche Pythien als die ‚ersten‘ Pythien in Hinsicht auf die Zählung der Pythien zu gelten haben (586/5 oder 582/1), und damit auch zur Frage der Datierung von Pindars Pythien vgl. BENNETT, 1957, MILLER, 1978, MOSSHAMMER, 1982 und FINGLASS, 2007a, 19–27. Grundlegende Skepsis gegenüber der Verlässlichkeit der Informationen zur frühen Zeit zeigt im Übrigen prägnant DAVIES, 2007, 52. An der angeführten PausaniasStelle finden sich auch Angaben zur Entwicklung des Wettkampfprogramms der Pythien (die mit der obigen Rekonstruktion des Gesamtrahmens kompatibel sind), konkret für die vorpindarische Zeit: vor 586/5 nur ein einzelner musischer Wettbewerb, das Verfassen und Singen eines Hymnos auf Apollon unter Kitharabegleitung; im Jahr 586/5 (‚erste‘ Pythien) Erweiterung um zwei weitere musische (vgl. Schol. Pind. P., hyp. d) sowie andere ‚sportliche‘ Wettbewerbe (aber noch mit materiellen Wertpreisen: vgl. Schol. Pind. P., hyp. b.d), konkret einerseits das Aulos-Spiel und das Singen unter Aulos-Begleitung, andererseits alle damaligen olympischen Wettkampfdisziplinen außer dem Rennen mit dem Pferdeviergespann (also in der Altersklasse der Männer: Stadion, Diaulos, Dolichos, Pentathlon, Ringen, Boxen, Pankration, einfaches Pferderennen; in der Altersklasse der Jungen: Stadion, Ringen, Pentathlon und Boxen) sowie zusätzlich in der Altersklasse der Jungen Diaulos und Dolichos. Während bei der nächsten Feier (den ersten ‚Kranz‘-Pythien) im Jahr 582/1 das Singen unter Aulos-Begleitung wieder abgeschafft wurde, wurde das (zuerst einzig nicht von Olympia übernommene – möglicherweise wegen noch fehlender baulicher Voraussetzungen in Hinsicht auf den Hippodrom?) Rennen mit dem Pferdeviergespann eingeführt; später wurden im Jahr 558/7 das Kithara-Spiel (ohne Singen) und im Jahr 498/7 der Hoplitodromos (Diaulos in stilisierter Hopliten-Rüstung) hinzugefügt. In der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts findet nur wenige Jahre später die (Neu-) Begründung der Isthmien (582/1) und Nemeen (573/2) als panhellenische Kranzspiele statt, ebenfalls nach dem Muster der Olympien: vgl. insgesamt DAVIES, 2007 (wie ja auch die Reorganisation der Panathenäen im Jahr 566 in diese Zeit fällt, wenn auch nicht als Kranzspiele: vgl. NEILS, 2007). Die Reihenfolge der Gründungen spiegelt sich in der relativen Wertigkeit der Kranzspiele der sogenannten Periodos: siehe unten S. 299 f. 5 Vgl. LATTMANN, 2012 und LATTMANN, 2017 (beides mit weiterer Literatur). Der
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nissen lassen sich wichtige Einblicke nicht nur zu den Pythien selbst, sondern auch zu Delphi im Weiteren gewinnen: Pindars Epinikien können sowohl die historische Dimension der Spiele als Teil der delphischen und allgemeingriechischen Kultpraxis der damaligen Zeit erhellen als auch ihre kulturelle und speziell politisch-soziale Bedeutung, und dies nicht zuletzt aus einer nicht-Athen-zentrierten, ‚panhellenischen‘ Perspektive. Im Folgenden stehen vor allem zwei Aspekte im Mittelpunkt: Zum einen soll überblickshaft in der Breite aufgezeigt werden, welche Einsichten zu einzelnen Aspekten der Pythischen Spiele und hierüber von Delphi sich aus Pindars Epinikien gewinnen lassen, insbesondere in Hinsicht auf die historischen, nicht-literarischen Gegebenheiten. Zum anderen soll dieses Bild aus der Außenperspektive anhand zweier Fallstudien exemplarisch in der Tiefe ausgelotet werden, konkret anhand von Pythie 8 in der religiösen und, hierauf aufbauend, anhand von Pythie 4 in der politisch-sozialen Dimension. Gefragt werden soll speziell danach, welche Bedeutung der Pythischen Spiele sich auf der Grundlage von Pindars Epinikien für die griechische Kultur aus der Binnenperspektive erschließen lässt.
2. Historische Kontexte: Die Pythischen Spiele in Pindars Epinikien Aus Pindars Epinikien lassen sich zahlreiche Einsichten zu den Pythischen Spielen und mithin Delphi gewinnen, auf der einen Seite zuerst einmal in historischer Hinsicht zu den außertextlichen Gegebenheiten und Zusammenhängen. Erste Aufschlüsse ergeben sich aus der Beschaffenheit des Materials selbst, insbesondere in Hinsicht auf das besondere Profil der Spiele im Vergleich mit den anderen vergleichbaren panhellenischen Kultfesten. Insgesamt verfügen wir über 45 vollständig überlieferte Epinikien von Pindar, von etwa 10 bis ca. 300 Versen Länge. Diese 45 Lieder sind allerdings nicht nur pythischen Siegern gewidmet, sondern den vier Wettspielen der ‚Periodos‘ zugeordnet, konkret den Olympien, Pythien, Isthmien und Nemeen, den sogenannten Kranzspielen, die in einem insgesamt vierjährigen Turnus sorgfältig aufeinander abgestimmt abgehalten wurden;6 dieser ZuordAufführungskontext gehört zu den meistdiskutierten Fragen zum Epinikion, insbesondere deshalb, weil wir als Zeugnisse für die außertextlichen Gegebenheiten letztlich nur über die Lieder selbst verfügen: vgl. die ausführlichen Zusammenstellungen und Analysen bei NEUMANN-HARTMANN, 2007 und NEUMANN-HARTMANN, 2009; für einen Einblick in die Problematik vgl. NEUMANN-HARTMANN, 2009, 1–9. Zu derartigen Gesandtschaften der gesamten Polis im Allgemeinen vgl. RUTHERFORD, 2004 und RUTHERFORD, 2013. 6 Vgl. DAVIES, 2007, 69: Olympien alle vier Jahre im Sommer (August); Pythien alle vier Jahre im dritten Jahr der Olympien (August/September); Isthmien alle zwei Jahre im Jahr der Olympien (Juli oder später Juni); Nemeen alle zwei Jahre jeweils in den Jahren
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nung entspricht die alexandrinische Bucheinteilung, dem auch die modernen Ausgaben noch immer folgen.7 Für die Pythischen Spiele im Besonderen verfügen wir über insgesamt zwölf Lieder; zu ihnen gehören sowohl das früheste als auch das älteste erhaltene pindarische Epinikion, Pythie 10 für einen Sieg im Jahr 498 bzw. Pythie 8 für einen Sieg im Jahr 446;8 Pindars Epinikien und speziell die Pythien decken also die gesamte erste Hälfte des 5. Jahrhunderts ab. Die meisten dieser Lieder wurden für Sieger mit dem Pferdeviergespann verfasst, nämlich Pythien 1 bis 7. An schwerathletischen Disziplinen ist mit Pythie 8 nur das Ringen vertreten, hier in der Altersklasse der Jungen; es folgen die Laufdisziplinen, speziell Pythie 9 für den Waffenlauf, Pythie 10 für den Diaulos, das heißt den doppelten Stadionlauf mit Wende, abermals in der Altersklasse der Jungen, und Pythie 11 mit dem einfachen Stadionlauf; exzeptionell für das gesamte Epinikiencorpus ist Pythie 12, ein Lied für einen Sieg im Aulos-Spiel.9 Die gefeierten Sieger kommen aus der gesamten griechischen Welt: Drei Lieder sind Hieron von Aitnai bzw. Syrakus gewidmet (P. 1–3), zwei Arkesilaos von Kyrene (P. 4–5), eines Xenokranach Olympien und Pythien im Sommer (August). Die Bedeutung (wenn auch nicht der Name) der Periodos ist in jedem Fall schon für die Zeiten Pindars belegt: vgl. Olympie 9. 7 Vgl. die tabellarische Übersicht mit weiteren Informationen in LATTMANN, 2010, 318 f.; vgl. NEUMANN-HARTMANN, 2009, 20–22 und 282–295. Im Einzelnen besitzen wir die folgenden Lieder: Olympien (im Folgenden „O.“) 1–14; Pythien (im Folgenden „P.“) 1–12; Nemeen (im Folgenden „N.“) 1–11; Isthmien (im Folgenden „I.“) 1–9 (I. 9 nur fragmentarisch; I. 3 und I. 4 sind hier als zwei Lieder gezählt; vgl. zur Forschungsdiskussion NEUMANN-HARTMANN, 2009, 21 f. Anm. 30 [mit weiterer Literatur]). Hinzuweisen ist auf eine Besonderheit der Überlieferung, die die letzten Nemeen betrifft: In der ursprünglichen Buchzusammenstellung waren die Nemeen entsprechend der relativen Relevanz des Festes das letzte Buch; sie haben später ihren Platz mit den Isthmien getauscht (weil der hintere Teil des Isthmien-Buches in der Überlieferung verloren ging, liegt I. 9 nur fragmentarisch vor, und alle Fragmente aus den Epinikien entstammen diesem Buch; hinsichtlich der Pythien ergibt sich hieraus im Übrigen, dass unser Corpus dem Umfang der alexandrinischen Ausgabe entsprechen dürfte). Genuine Nemeen sind allerdings nur die ersten acht Lieder, denn es haben sich drei Lieder außer der Reihe an das Ende der alexandrinischen Ausgabe angehängt (und wurden aufgrund ihrer Position sachlich falsch als ‚Nemeen‘ klassifiziert): N. 9 als Epinikion für einen Sieg bei einem lokalen Fest für Apollon in Sikyon; N. 10 für einen Sieg bei den Heraia in Argos; N. 11 anlässlich einer Prytanenwahl (mit sportlichen Aspekten des Lobs des Gewählten). 8 Die Daten beruhen hauptsächlich auf den Scholia vetera zu Pindars Epinikien, denen im Großen und Ganzen die Angaben in der Ausgabe von SNELL/MAEHLER, 1987 in Verbindung mit BOWRA, 1964, 406–413 und NEUMANN-HARTMANN, 2009, 282 f. entsprechen (die teils umfangreiche und kontroverse Diskussion zu den einzelnen Datierungen kann hier nicht im Detail referiert werden). Die übrigen Daten sind: P. 1: 470; P. 2: 476 (?); P. 3: 474 (?); P. 4 und 5: 462; P. 6: 490; P. 7: 486; P. 9: 474; P. 11: 474; P. 12: 490. 9 Zur besonderen musikalisch-poetisch ästhetischen Dimension des Liedes vgl. STEINER, 2013, zum äußeren und inneren Zusammenhang mit Delphi und den Pythien auch KÄPPEL, 2015.
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tes von Akragas (P. 6), eines Megakles aus Athen (P. 7) – diese sieben Lieder sind diejenigen für Sieger im Pferdeviergespann – sowie die restlichen Lieder Aristomenes aus Aigina (P. 8), Telesikrates aus Kyrene (P. 9), Hippokles aus Thessalien (P. 10), Thrasydaios aus Theben (P. 11) und Midas aus Akragas (P. 12). Vertreten ist also neben Festlandgriechenland (und für das gesamte Corpus singulär Athen) und den Inseln auch Italien und speziell Sizilien sowie (ebenfalls singulär für das Corpus) Nordafrika. Nicht nur in Bezug auf diese äußeren Merkmale erweisen sich Pindars Lieder auf Pythiensieger als repräsentativ für sein gesamtes Epinikienwerk, sondern auch in Bezug auf ihren allgemeinen Inhalt: Wie alle Epinikien bestehen sie aus (wenn auch zumeist knappen) Anmerkungen zum errungenen Sieg, Spruchweisheit, quasi-poetologischen Reflexionen zum Lob und, oftmals der Hauptbestandteil der Lieder, mythischen Partien.10 Hierin eingeflochten finden sich nun auch mehr oder weniger umfangreiche direkte Bezüge auf die Pythischen Spiele, dies aber vor allem konzentriert in den Pythien selbst. Das Bild, das wir hieraus gewinnen können, birgt freilich im Wesentlichen keine großen Überraschungen: Verwiesen wird nur auf wenige ausgewählte und hoch charakteristische Aspekte, es erfolgt in der Regel auch keine nähere Beschreibung oder Ausführung. Oftmals handelt es sich um bloße Verweise zur reinen Identifikation bereits bekannter, im Text selbst nicht weiter ausgeführter Sachverhalte. In diesem Sinne umreißen die folgenden vier Punkte aus komplementären Perspektiven, was sich anhand der Lieder für Pindar – und angesichts der historischen Rezeptionssituation, die auf die prinzipielle Möglichkeit des Verstehens der zugrundeliegenden und/oder angesprochenen Sachverhalte in der öffentlichen Aufführungssituation angewiesen war, für den gesamtkulturellen Rahmen – als äußerer und innerer Kern der Pythischen Spiele zeigt und/oder welche Rückschlüsse sich auf die mit ihnen verbundenen historischen Gegebenheiten ziehen lassen: (1) Im Großen und Ganzen bestätigen sich die oben in der Einleitung angeführten, wenn auch in den Details umstrittenen antiken Nachrichten zu Entwicklung und Gestalt der Pythischen Spiele in der frühen, archaischen Zeit, insbesondere in Hinblick auf ihren mutmaßlich musischen Charakter zu Beginn. Nur für die Pythien verfügen wir schließlich mit Pythie 12 über ein Epinikion aus diesem Bereich; und nur in den Pythien findet sich mit Pythie 1 ein Lied, das am Beginn so prominent die Phorminx als Mitstreiter von Apollon und den Musen und hierüber insgesamt die Allgewalt des Apollon im Musischen preist (1–12).11 Zu dem aus den späteren Zeugnissen gewonnenen Bild von den frühen Pythien passt auch das Spektrum der Disziplinen, in 10 Zur Form des pindarischen Epinikions vgl. SCHADEWALDT, 1928 und HAMILTON, 1974; vgl. auch die systematische Analyse THUMMERs, 1968/9, 1, 19–158. 11 Zur Stelle im Kontext vgl. ATHANASSAKI, 2009b.
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denen die anderen von Pindar in den Pythien geehrten Sieger gepriesen werden (Pferdeviergespann, Ringen, Waffen-, Stadion- und Diaulos-Lauf, auch in Hinsicht auf die jeweiligen Altersklassen); dasselbe gilt für diejenigen Disziplinen, die in Pindars Epinikien für Sieger bei den anderen panhellenischen Spielen für die Pythien erwähnt werden (unter anderem die Kampfsportarten Ringen und Boxen sowie wohl auch das Pankration, aber auch Laufdisziplinen wie das Stadion).12 Nur selten erfahren wir allerdings sporthistorisch relevante Nachrichten, die auf die technischen Details der jeweiligen Disziplinen verweisen, zumindest in Hinsicht auf ihre Abhaltung bei den Pythien; zu nennen wäre hier vor allem der Umstand, dass ein Rennen mit dem Pferdegespann in zwölf Runden absolviert wurde; oder zur Anzahl der Gegner und mithin der von einem einzelnen Ringer zu absolvierenden Kämpfe im Ringen.13 Hervorzuheben ist, dass wir über vergleichsweise viele Epinikien für hippische Sieger verfügen; sieben von zwölf Liedern sind Siegern im Rennen mit dem Pferdeviergespann gewidmet (P. 1–7).14 Dies könnte natürlich den Zufällen der Überlieferung geschuldet sein, lässt sich andererseits aber auch als Indiz für die Bedeutung der Pythischen Spiele selbst deuten: In den hippischen Disziplinen konkurrierten die reichsten und mächtigsten Männer der griechischen Welt miteinander, und für sie war es (wie sich unten noch im konkreten Detail zeigen wird) besonders wichtig, den Sieg auch in literari12 Das Ringen (wohl der Männer) in O. 9,16–18; das Boxen in O. 7,15–17 und N. 6,34– 38 (wohl der Jungen); das Pankration in N. 2,9 f.; das Stadion und der Diaulos in O. 13,37 (und wohl 43). Ansonsten finden sich Verweise auf Pythiensiege an den folgenden Stellen: O. 7,10 (unklar, wohl Boxen); O. 12,18 f. (wohl Laufdisziplin); P. 7,13/14–18 (wohl Pferdeviergespann); N. 10,25 (wohl Ringen); N. 11,24–26 (angesichts von 21 und 26 wohl Ringen oder Pankration, aber beides im Lied selbst kontrafaktisch-hypothetisch angeführt); I. 2,18 f. (wohl Pferdeviergespann); I. 7,49–51 (wohl Pankration, freilich als Wunsch). 13 Vgl. für den ersten Punkt P. 5,32 f.; ähnlich ist die Information, dass es in demselben Lied heißt, der siegreiche Wagenlenker Karrhotos habe vierzig andere Wagenlenker besiegt (P. 5,49–51; vgl. allerdings EBERT, 1991, der eine Textverderbnis annimmt und eine Konjektur vorschlägt, die vier Wettbewerber implizierte). Für den zweiten Punkt vgl. P. 8,81 f. (und hierzu LATTMANN, 2010, 104 f. mit Anm. 85). 14 Dies ist bemerkenswert insbesondere angesichts der vergleichsweise geringen Anzahl von hippischen Disziplinen bei den Pythien, wo es nur das Rennen mit dem Pferd und mit dem Pferdeviergespann gab (siehe oben mit Anm. 4); für Pindars Zeiten sind für die Olympien neben diesen beiden Disziplinen auch Rennen mit dem Maultiergespann und mit Stuten zu verzeichnen. Bei den Olympien sind 6 von 14 Epinikien hippischen Siegern gewidmet (O. 1–6); bei den Nemeen 1 (bzw. 2) von 8 (bzw. 11) (N. 1 bzw. N. 9); bei den Isthmien 3 von 8 (I. 1–3; wenn I. 3 und I. 4 als zwei Lieder gezählt werden). Der Status von Pythie 3 als Epinikion wurde mitunter bezweifelt; gemäß Scholien und angesichts der entsprechenden inneren Indizien ist aber die Annahme plausibel (auch wenn hier nicht im Detail weiter begründbar), dass es sich in der Tat um ein gewöhnliches Epinikion handelt (vgl. LATTMANN, 2012, 55, zur Forschungssituation auch NEUMANN-HARTMANN, 2007, 69–71).
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scher Form öffentlich dargestellt zu sehen. Dies galt speziell für einen Pythien- oder Olympiensieg. Entsprechend begegnen uns in den Pythien gerade in den hippischen Disziplinen – in denen man ja weniger mit der Körperkraft denn in Hinsicht auf seinen Reichtum miteinander im Wettbewerb stand15 – als Sieger äußerst hochgestellte und mächtige Wettbewerber, konkret Alleinherrscher wie Hieron von Syrakus / Aitnai und Arkesilaos von Kyrene oder einflussreiche Männer wie Xenokrates von Akragas und Megakles von Athen, mithin eine ähnliche Gruppe wie in den Olympien, konkret abermals Hieron (O. 1) und neben Psaumis aus Kamarina (O. 4 und O. 5) und Hagesias aus Syrakus (O. 6) vor allem auch Theron von Akragas (O. 2 und O. 3). Bei den Isthmien und Nemeen sind die Teilnehmer in den hippischen Disziplinen im Großen und Ganzen deutlich weniger prominent und mächtig: Chromios von Syrakus (N. 1 und 9: Hierons General), Herodotos von Theben (I. 1) und Melissos von Theben (I. 3 und I. 4), wenn auch einmal erneut Xenokrates von Akragas (I. 2). (2) Die soeben festgestellte Abstufung in der Wertigkeit der Spiele mit der relativ hohen Bedeutung der Pythien korrespondiert mit der inneren Perspektive der Epinikien. Durchgängig werden hier die Pythien, zusammen mit den anderen Spielen der Periodos, kategorisch von den lokalen Wettspielen getrennt, bei denen materielle Wertpreise und nicht Siegerkränze vergeben wurden.16 Zugleich gilt in den Epinikien ein Pythiensieg zwar als einem Olympiensieg im Prinzip nachrangig, aber erscheint diesem dennoch oftmals als fast gleichwertig, steht im Wert in jedem Fall aber klar über einem Sieg bei den anderen beiden Kranzspielen, den Isthmien und Nemeen.17 In diesem 15
Vgl. LATTMANN, 2010, 244 f. (mit weiterer Literatur) sowie speziell Xen., Ages. 9,6; Plut., Ages. 20,1. 16 Vgl. THUMMER, 1968/9, 1, 26–28. Zum Kranz als Siegespreis vgl. P. 3,73 (durch Sieg errungene Kränze); P. 8,18–20 (der Sieger wurde von Apollon von Kirrha kommend empfangen ‚bekränzt mit Laub vom Parnassos‘: ἐστεφανωµένον […] ποίᾳ Παρνασσίδι); P. 5,31 (‚als Gast bei der Kastalia legte‘ der Wagenlenker ‚ein Geschenk um das Haar des Siegers‘, d.h. verschaffte ihm den Siegerkranz); P. 10,25 f. (der Sieger empfängt ‚pythische Kränze‘: στεφάνων Πυθίων); P. 12,5 f. (‚Bekränzung aus Pytho‘: στεφάνωµα τόδ’ ἐκ Πυθῶνος, dies freilich metaphorisch für das Lied, aber unter Aufnahme des regulären Siegerkranzes); I. 7,49–51 (Wunsch an Apollon, auch in Pytho in seinen Wettspielen einen Kranz zu verleihen: ἄµµι […] πόρε […] τεαῖσιν ἁµίλλαισιν […] εὐανθέα καὶ Πυθόϊ στέφανον). 17 O. 7,10 sowie 15–17 (Delphi als Wettkampfort, der mit Olympia gleichwertig ist; Erwähnung von Isthmien und Nemeen nur getrennt im späteren Siegeskatalog zusammen mit den lokalen Wettspielen, wohlgemerkt ohne Wiederholung von Olympien und Pythien: 80–87); O. 9,1–20 (zweimal; in 82–99 Einreihung der Isthmien und Nemeen getrennt unter die lokalen Wettspiele) und N. 11,20–29 (zweimal Gleichsetzung, ohne Nennung der anderen beiden Kranzspiele, beide Male in der Reihenfolge Pythien, Olympien). Vgl. daneben O. 2,48–51 (Olympien, Pythien, Isthmien); O. 12,17–19 (Olympien, Pythien, Isthmien); N. 2,19–25 (Pythien, Isthmien, Nemeen, lokale Wettspiele); N. 10,25–48 (Py-
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Zusammenhang ist auch relevant, dass die Pythien in den Epinikien, auch im Gegensatz zu Isthmien und Nemeen, explizit als panhellenische Spiele charakterisiert werden:18 Hier konkurrierten die Besten der Besten der Griechen miteinander. (3) Über die realen örtlichen Gegebenheiten erfahren wir in Pindars Epinikien relativ wenig. Im Großen und Ganzen handelt es sich um sehr knappe Bezüge, die sich auf eine Handvoll bekannter Charakteristika beschränken. Offenkundig sind sie nicht dazu gedacht, den Ort um seiner selbst willen zu beschreiben und neue Informationen zu vermitteln, sondern sie dienen vornehmlich dem Zweck, den Sieg in eindeutiger Weise den Pythien zuzuweisen. So wird häufig als Wettkampfort Pytho angeführt, in der Regel aber ohne weitere Details.19 In diesem Sinn ist (oft alternativ, aber auch in Kombinatithien, Isthmien, Nemeen, umfangreicher Katalog panhellenischer Spiele mit Wertpreisen und lokaler Wettspiele); I. 1,64–67 (Bitte um Pythien- und Olympiensieg nach jetzigem Isthmiensieg); I. 7,49–51 (Bitte um Pythiensieg nach jetzigem Isthmiensieg); auch O. 13,29–46 (Sieger: Olympien, Isthmien, Nemeen; Vater: Olympien, Pythien, Panathenäen, Hellotien; andere Verwandte: Isthmien; gesamte Familie: Pythien); man beachte aber auch P. 7,13/14–18 (Isthmien, Olympien, Pythien). Aufschlussreich ist der Umstand, dass sich von den insgesamt sieben expliziten Wünschen für einen weiteren Sieg in Pindars Epinikien zwar nicht überraschend die meisten auf die Olympien beziehen (man beachte freilich, dass drei der folgenden Epinikien für Olympien- und Pythiensiege geschrieben sind), auf prinzipiell gleicher Stufe mit den Olympien aber eigentlich nur die Pythien stehen (die einmalige Nennung der Isthmien ist transparente Ausnahme): O. 1,106–111 (Olympien); O. 13,101–106 (Olympien); P. 5,122–124 (Olympien); N. 2,6–10 (Isthmien und Pythien); N. 10,29–33 (Olympien); I. 1,64–67 (Pythien und Olympien); I. 6,3–9 (Olympien); I. 7,49– 51 (Pythien). Für eine eingehende Diskussion derartiger Wünsche in den Epinikien vgl. HUBBARD, 1995. Die Ausnahmestellung der Olympien zeigt sich prominent in O. 1,1–7 (dies aber natürlich in einer Olympie), aber auch an Stellen wie N. 10,31–33. 18 P. 11,49 f. (die Sieger besiegten die Versammlung der Griechen: ἤλεγξαν Ἑλλανίδα στρατιάν); P. 12,6 (der Sieger habe Hellas besiegt: Ἑλλάδα νικάσαντα); N. 10,25 (der Sieger habe die Versammlung der Griechen in Pytho besiegt: ἐκράτησε […] Ἕλλανα στρατὸν Πυθῶνι). Der Unterschied liegt gewiss auch darin begründet, dass Isthmia und Nemea letztlich Polis-Heiligtümer unter der engen Kontrolle von Korinth bzw. Argos waren: vgl. knapp NEER, 2007, 226. 19 In den Pythien: P. 3,73 (Herkunft der Siegerkränze); P. 4,3 (Siegesort) und 66 f. (Siegesort; κῦδος ‚aus dem Wagenrennen der Amphiktyonen‘: ἐξ ἀµφικτιόνων […] ἱπποδροµίας); P. 5,105 (Siegesort); P. 9,71; P. 10,4 (Siegesort) und 26 (Herkunft der Siegerkränze); P. 12,5 (Bekränzung aus Pytho); auch in den anderen Epinikien: O. 2,49; O. 12,18; O, 13,37 (Siegesort); N. 2,9; N. 6,34 f.; N. 10,25 (Pytho als panhellenischer Wettkampfort); N. 11,23; I. 1,65; I. 7,51. Der Name Pytho wird im Übrigen oftmals auch dazu verwendet, auf Delphi als Orakelort zu verweisen: O. 2,39 f.; O. 6,37 f. und 47 f.; P. 3,27 f.; P. 4,53–55; N. 7,34 f.; I. 7,15. Schließlich ist Pytho auch einfach der Ort des Sängers Apollon (O. 9,11 f.; O. 14,10 f.) oder des Gottes Apollon in nicht weiter spezifizierter Hinsicht (P. 7,10–11/12; P. 8,61–63; N. 3,70; N. 9,5). Das Fest trägt den von Pytho abgeleiteten Namen ‚Pythias‘ (Πυθιάς: P. 1,32; P. 5,21; P. 8,84) oder ‚Pythien‘ (Πύθια: N. 2,9); der reguläre Name für den Sieger bei den Pythien ist ‚Pythiensieger‘ (Πυθιόνικος
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on) mitunter die Quelle Kastalia genannt,20 aber auch der Parnassos,21 der Omphalos,22 (selten) Delphi,23 die Amphiktyonen24 oder (vor allem in Bezug oder Πυθιονίκης): P. 6,5; P. 8,5; P. 9,1. In der Regel erfolgt die Identifikation des Sieges durch eine bloße in Metrik und Syntax des Satzes eingepasste Nennung des Namens Pytho (oftmals inhaltlich mit reinem Bezug auf das Erringen des Sieges), zumeist in den Formen Πυθοῖ (Πυθόϊ), (ἐν) Πυθῶνι, Πυθωνόθεν, ἐκ Πυθῶνος und Πυθώ. Nur selten ist der Ortsname näher qualifiziert, etwa durch Adjektive: P. 3,27 (‚schafempfangend‘: ἐν […] µηλοδόκῳ Πυθῶνι); P. 7,11/12 (‚göttlich‘: Πυθῶνι δίᾳ); P. 9,71 (‚hochheilig‘: ἐν Πυθῶνι […] ἀγαθέᾳ); N. 9,5 (‚steil‘: Πυθῶνος αἰπεινᾶς); oder es wird auf charakteristische Eigenschaften des Ortes verwiesen: P. 8,63 (‚in den Schluchten von Pytho‘: Πυθῶνος ἐν γυάλοις). Ganz entsprechend qualifiziert das Adjektiv Πύθιος in der Regel lediglich elementar-charakteristische Aspekte von Delphi: O. 14,11 (‚pythischer Apollon‘: Πύθιον Ἀπόλλωνα); P. 3,73 (‚pythische Wettkämpfe‘: ἀέθλων Πυθίων); P. 4,55 (‚pythischer Tempel‘: Πύθιον ναόν); P. 10,26 (‚pythische Kränze‘: στεφάνων Πυθίων); Ν. 3,70 (‚Pythischer‘, sc. Gott: Πυθίου); N. 7,34 (‚pythischer Boden‘: ἐν Πυθίοισι […] δαπέδοις); I. 7,15 (‚pythische Weissagungen‘: µαντεύµασι Πυθίοις). 20 O. 7,15–17 (Sieger ‚bekränzt an der Kastalia‘: στεφανωσάµενον […] παρὰ Κασταλίᾳ); O. 9,16–20 (Anrede der Kastalia als Ort, von dem neben Olympia Kränze kommen); P. 1,39 (Apollon als Herr über Delos, der die Quelle Kastalia auf dem Parnassos liebe, im Zusammenhang mit Siegen mit dem Pferdeviergespann: Παρνασσοῦ τε κράναν Κασταλίαν φιλέων); P. 5,30 f. (der Sieger als Gast beim Wasser der Kastalia: ὕδατι Κασταλίας ξενωθείς); N. 6,38 f. (Erglänzen des Siegers an der Kastalia); N. 11,24 (Wettkämpfe bei der Kastalia: παρὰ Κασταλίᾳ). Vgl. ECKERMAN, 2014, 35–42 für eine eingehende Diskussion des Materials im Kontext; exemplarisch zeigt sich, dass es sich nicht notwendig um bloße Umschreibungen für Delphi handelt, sondern durch die Variation des Ausdrucks Aspekte hervorgehoben werden, die in ihrer jeweiligen Umgebung semantisch signifikant und sinnerzeugend sind. 21 O. 13,106 f. (‚diejenigen [sc. Siege] unter der Braue des Parnassos sind sechs‘: τὰ δ’ ὑπ’ ὀφρύι Παρνασσίᾳ ἕξ); P. 1,39 (siehe oben Anm. 20); P. 5,41 (Standbild bei Apollons Haus am Parnassos, mit indirektem Bezug zum Platz des Siegs); P. 10,8 f. (der ‚parnassische Winkel‘ habe den Sieger Hippokles der Menge der Amphiktyonen als Sieger verkündigt: ὁ Παρνάσσιος […] µυχός); N. 2,19 (vier Siege ‚am hochherrschenden Parnassos‘: παρὰ […] ὑψιµέδοντι Παρνασσῷ). 22 Verweise auf den Omphalos finden sich an mehreren Stellen, sind aber in der Regel weniger verbunden mit dem Charakter von Delphi als Wettkampfort, sondern mit seinem mantischen Charakter: P. 4,73 f. (Ort der Weissagung); P. 6,3 f. (der ‚Tempel-Nabel der Erde‘: ὀµφαλὸν […] χθονὸς ἐς νάϊον); P. 8,58–60 (der Sprecher begegnete Alkmaion auf dem Weg zum ‚besungenen Nabel der Erde‘ und erhielt eine Weissagung: γᾶς ὀµφαλὸν παρ’ ἀοίδιµον); P. 11,9 f. (der ‚gerecht richtende Nabel der Erde‘, ohne expliziten mantischen Bezug: ὀρθοδίκαν γᾶς ὀµφαλόν); N. 7,33 f. (der Sprecher sei ‚zum großen Nabel der Erde‘ gekommen, in indirekter Vorbereitung eines Mythos mit auch mantischer Dimension: παρὰ µέγαν ὀµφαλὸν […] χθονός). 23 O. 13,43 (Siegesort: ἐν Δελφοῖσιν); P. 9,75 (Siegesort: ἀπὸ Δελφῶν); ansonsten zweimal das Adjektiv ‚delphisch‘ in P. 4,60 (Biene, sc. die Pythia); N. 7,43 (Delpher). 24 P. 4,66 f.; P. 10,8 f.; beide Nennungen charakterisieren die Amphiktyonen als Ausrichter der Spiele, in expliziter Verbindung mit dem Ort (Pytho bzw. ‚parnassischer Winkel‘).
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auf die Pferderennen, aber auch bei Lauf- und Kampfdisziplinen) Krisa / Kirrha.25 Eine wichtige und als solche oftmals in vielen Liedern explizit angeführte Eigenschaft des Ortes Pytho ist dabei, gemeinsam mit Apollon den Kranz und speziell das κῦδος aus dem Sieg zu verleihen.26 Nur sehr vereinzelt finden sich Verweise auf die baulichen etc. Gegebenheiten in Delphi, und auch dann nur ohne Details. Dies ist anscheinend nur dann der Fall, wenn Pindar mit der Bezugnahme nicht nur den Sieg bei den Pythischen Spielen verortet, sondern es eine weitere, spezielle Motivation für diese gibt. Dies ist fast ausnahmslos in den Pythien gegeben, aber auch hier nur in ausgewählten Liedern. So wird zum Beispiel in Pythie 7 auf den archaischen Apollon-Tempel in Delphi verwiesen, mit der Intention, den jetzt gefeierten Alkmaioniden Megakles als Mitglied derjenigen Familie zu preisen, die einen hervorragenden Anteil am Bau des Tempels hatte.27 Ein umfangrei25
Die Wettkämpfe scheinen also in dieser Hinsicht nicht im eigentlichen Heiligtum verortet zu werden, sondern in der Ebene unterhalb bei Kirrha: Kirrha als Ort der Pferdewettkämpfe (P. 3,74; P. 5,35–39: ‚am Hügel von Krisa vorbei in die ebene Niederung des Gottes‘ unterhalb von Delphi [Κρισαῖον λόφον ἄµειψεν ἐν κοιλόπεδον νάπος θεοῦ]; siehe unten; P. 6,18: ‚in den Schluchten von Krisa‘ [Κρισαίαις ἐνὶ πτυχαῖς]; P. 7,16; I. 2,18), aber auch der anderen Disziplinen: Ringen (P. 8,19), Laufdisziplinen (P. 10,15 f.: ‚der tiefwiesige Kampfplatz unterhalb der Felsen von Kirrha‘, wohl für eine Laufdisziplin [βαθυλείµων ὑπὸ Κίρρας πετρᾶν]; P. 11,49: die Sieger seien in Pytho zum Nacktstadion hinabgestiegen [Πυθοῖ τε γυµνὸν ἐπὶ στάδιον καταβάντες]; wohl auch P. 11,12: als Ort der Festspiele allgemein ist Kirrha genannt [ἀγῶνί τε Κίρρας], freilich ebenso für einen Sieger in einer Laufdisziplin). Die Variation des Namens bei Pindar ist metrisch bedingt; Krisa ist die ältere Form (vgl. den Homerischen Hymnos auf Apollon), von der ausgehend über (erschlossenes) Kirsa schließlich im fünften Jahrhundert Kirrha die ansonsten allein gebräuchliche Form geworden war: vgl. allgemein PARKER, 1997, 18–20 (insbesondere 18 Anm. 9 für weitere Literatur zum sprachgeschichtlichen Aspekt): bei Pindar findet sich Kirrha in P. 3,74; P. 7,16; P. 8,19; P. 10,15; P. 11,12; und Krisa in P. 5,37; P. 6,18; I. 2,18 (jeweils unter Einschluss abgeleiteter Formen). 26 Vgl. etwa P. 4,66 f. (Pytho verleiht mit Apollon κῦδος aus den Wettspielen) sowie P. 2,52. 89 (generelle Eigenschaft Apollons, κῦδος zu verleihen); vgl. die Stellen oben in Anm. 19. 27 P. 7,9–13/14: ‚Mit allen Städten nämlich vertraut ist die Kunde von Erechtheus’ Bürgern, die dein wundervolles Haus, Apollon, im göttlichen Pytho erbauten‘ (πάσαισι γὰρ πολίεσι λόγος ὁµιλεῖ / Ἐρεχθέος ἀστῶν, Ἄπολλον, οἳ τεόν / δόµον Πυθῶνι δίᾳ θαητὸν ἔτευξαν). Der Verweis auf den archaischen Tempel erfolgt zu Ehren der Alkmaioniden, die eine wichtige Rolle bei dessen Bau hatten (vgl. Hdt., V 62,2 f.; zur Pracht vgl. Aeschyl., Eum. 1–19 und Eur., Ion 184–218) und dessen (gerade ostrakisierter) Vertreter Megakles jetzt im Jahr 486 im Pferdeviergespann bei den Pythien gesiegt hatte (zu den historischen Zusammenhängen vgl. insbesondere NEER, 2004, 86–88, zu Megakles auch ATHANASSAKI, 2013). Das Prooimion nimmt den Tempelbau metaphorisch auf, indem Athen als der schönste Beginn bezeichnet wird, den man einem Preisgesang für Pferde als Fundament unterlegen könne (1–3/4: κάλλιστον αἱ µεγαλοπόλιες Ἀθᾶναι / προοίµιον Ἀλκµανιδᾶν εὐρυσθενεῖ / γενεᾷ κρηπῖδ’ ἀοιδᾶν ἵπποισι βαλέσθαι); zu den verschiedenen Deutungen dieser Stelle vgl. ECKERMAN, 2014, 48–51. Man beachte zu den vorange-
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cheres und deutlich komplexeres Beispiel präsentiert Pythie 6: In deren Prooimion (1–18) wird das gesamte Lied metaphorisch mit einem Schatzhaus (θησαυρός) gleichgesetzt, das für alle Zukunft die Taten der Emmeniden und insbesondere den jetzigen Wagensieg des Xenokrates preisen werde. Diese Beschreibung nimmt explizit und implizit die örtlichen Gegebenheiten im Heiligtum von Delphi auf, insbesondere durch Verweise auf das Schatzhaus der Siphnier, den Omphalos und den Apollon-Tempel – mit der Pointe, dass ein solches, derartigen architektonischen Glanzstücken nachempfundenes Preislied seinem realen Vorbild weit überlegen, da prinzipiell unzerstörbar ist:28 Ἀκούσατ’· ἦ γὰρ ἑλικώπιδος Ἀφροδίτας ἄρουραν ἢ Χαρίτων ἀναπολίζοµεν, ὀµφαλὸν ἐριβρόµου χθονὸς ἐς νάιον προσοιχόµενοι, Πυθιόνικος ἔνθ’ ὀλβίοισιν Ἐµµενίδαις ποταµίᾳ τ’ Ἀκράγαντι καὶ µὰν Ξενοκράτει ἑτοῖµος ὕµνων θησαυρὸς ἐν πολυχρύσῳ Ἀπολλωνίᾳ τετείχισται νάπᾳ, τὸν οὔτε χειµέριος ὄµβρος, ἐπακτὸς ἐλθὼν ἐριβρόµου νεφέλας στρατὸς ἀµείλιχος, οὔτ’ ἄνεµος ἐς µυχούς ἁλὸς ἄξοισι παµφόρῳ χεράδει τυπτόµενον. φάει δὲ πρόσωπον ἐν καθαρῷ πατρὶ τεῷ, Θρασύβουλε, κοινάν τε γενεᾷ λόγοισι θνατῶν εὔδοξον ἅρµατι νίκαν Κρισαίαις ἐνὶ πτυχαῖς ἀπαγγελεῖ. Hört! Denn fürwahr, der wirbeläugigen Aphrodite Feld oder das der Chariten pflügen wir zum erneuten Male, zum Nabel der starkbrausenden Erde mit dem Tempel gehend, wo wegen des Pythiensieges den gesegneten Emmeniden, dem Fluss-Akragas und gewiss Xenokrates ein Hymnen-Schatzhaus bereitsteht, erbaut im vielgoldenen apollinischen Tal, welches weder ein Unwettersturm, ein aus der Fremde herangekommenes starkbrausender Wolke erbarmungsloses Heer, noch Wind in die innersten Winkel des Meeres, von hin- und hertreibendem Geröll geschlagen, zerbrechen könnte. In reinem Licht wird die Fassade den deinem Vater, Thrasybulos, und Geschlecht gemeinsamen henden Tempeln Pae. VIII mit ECKERMAN, 2014, 43–47. 28 Es handelt sich um „Pindar’s most extensive depiction of Delphi in the epinician odes“ (ECKERMAN, 2014, 23; man beachte die gesamte eingehende Diskussion der Passage in 23–35). Vgl. zum Tempel auch N. 7,46 (‚zum wohlgebauten Haus des Gottes‘ [θεοῦ παρ’ εὐτειχέα δόµον]) und ebenso die Erwähnungen in P. 3,27; P. 4,55; P. 8,61–63.
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wohlberühmten Sieg mit dem Wagen mit Worten von Sterblichen in den Schluchten von Krisa verkünden.
Die metaphorische Darstellung des Liedes als Schatzhaus erfolgt dergestalt, dass der Zuhörer in Form einer imaginierten Prozession auf den Weg zum Apollon-Tempel mitgenommen wird und schließlich am Höhepunkt der Beschreibung den im Inhalt auf Thrasybulos fokussierten Fries des poetischen Schatzhauses sieht – der implizit über den etwas später erzählten Mythos (28–43 zusammen mit der Anwendung auf den jetzigen Sieger in 44–54) in Verbindung und Juxtaposition mit dem prominenten, dem Publikum offenbar vertrauten Fries am Siphnier-Schatzhaus mit entsprechender, freilich auf den mythischen Helden Antilochos konzentrierter Motivik den jetzigen Erfolg von Xenokrates’ Sohn Thrasybulos mit der im Epinikion beschriebenen Glanztat des Antilochos gleichsetzt; dabei werden aber zugleich die in der als Subtext benutzten Ilias so prominent thematisierten Pferdelenkerkünste des Antilochos als Mittel der Rettung des Vaters Nestor im Epinikion implizitmetaphorisch gedeutet als Rettung des jetzt siegreichen Vaters Xenokrates durch seinen Sohn Thrasybulos mittels der Organisation der Siegesfeier mit Epinikien-Preisgesang und/oder möglicherweise sogar mittels des Führens des siegreichen Wagens bei den Pythien, in jedem Fall aber mittels einer Tat, die ihn wie Antilochos als Exempel an Tugend ausweist – und anders als jener hat er diese große Tat auch noch überlebt, erweist sich also als noch weitaus besser als das Vorbild Antilochos.29 Der Zweck der ausführlichen Beschreibung der Gegebenheiten in Delphi am Liedanfang ist folglich auch hier offenkundig nicht, diese um ihrer selbst willen zu beschreiben, sondern einzig, sie im Rahmen und zum Zweck des Lobpreises zielgerichtet aufzunehmen und pointiert sinnstiftend zu nutzen: Der Sieger und sein Sohn werden mit den großen Heroen der mythischen Vergangenheit parallelisiert, ja: in
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Zur Stelle insgesamt vgl. ECKERMAN, 2011, insbesondere zum Verständnis von πρόσωπον im Sinne von ‚Fries‘ und zum imaginativen Charakter der Passage (konkret gegen eine Aufführung in Delphi, stattdessen vielmehr in der Heimat Akragas); zum Gesamtverständnis ist erhellend auch SHAPIRO, 1988 in Verbindung mit ATHANASSAKI, 2012. Die hier referierte Deutung ist im Großen und Ganzen diejenige CURRIEs, 2016, 250 (dort auch 247–253 zur Gesamtthematik, insbesondere zum Motiv der Rettung des Nestor durch seinen Sohn Antilochos in Homers Ilias und in der Aithiopis als Vorbild für sowohl Pindar als auch gegebenenfalls das Siphnier-Schatzhaus); vgl. im Übrigen das Wagenrennen in Ilias XXIII 262–652 zu Antilochos als Wagenlenker; hauptsächlich Homer als Referenzpunkt der Passage bestimmt KELLY, 2006. Dass die von Pindar angeführte Großtat des Thrasybulos im Lenken des siegreichen Wagens bestanden haben könnte, wurde schon in der Antike diskutiert: vgl. Schol. Pind. P. 6,15 (freilich mit Blick auf I. 2,22 mit ablehnendem Urteil, doch ist dies nicht nur angesichts des großen zeitlichen Abstands der Siege kaum zwingend); vgl. für die Forschungsdiskussion NEUMANN-HARTMANN, 2009, 111 f.
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der indirekt-impliziten Parallelisierung erscheint ihr Schicksal als noch großartiger als das jener. Schließlich sind zwei weitere Stellen anzuführen: Einerseits wird in Pythie 5 die Weihung des siegreichen Geschirrs des Wagenlenkers Karrhotos und eines Standbilds in Delphi erwähnt (P. 5,34–42): Karrhotos habe nicht die Tochter des Epimetheus „Ausrede“ (28: Prophasis) zu des Siegers Arkesilaos Haus heimgeführt, sondern das Rennen durchlaufen, ohne Wagen und Geschirr zu Schaden kommen zu lassen (27–34); so seien diese Instrumente des Sieges jetzt ‚aufgehängt im Bergtal des Gottes‘ (κρέµαται [34], nachdem man am Hügel von Krisa ins Tal des Gottes gekommen sei: ἐν κοιλόπεδον νάπος θεοῦ [38 f.]), geborgen ‚im Zypressen-Melathron ganz in der Nähe der Statue, die die bogenführenden Kreter im Haus am Parnassos gebaut hatten aus einem einzigen Stück‘ (39–42: τό σφ’ ἔχει κυπαρίσσινον / µέλαθρον ἀµφ’ ἀνδριάντι σχεδόν, / Κρῆτες ὃν τοξοφόροι τέγεϊ Παρνασσίῳ / καθέσσαντο µονόδροπον φυτόν), bei aller Problematik der Identifikation dieses Gebäudes möglicherweise der Apollon-Tempel selbst.30 Zweitens wird in Nemee 7 in einer längeren mythischen Passage ein NeoptolemosMythos erzählt; hier dient dessen Tötung als Kult-Aitiologie, und es finden der Omphalos, der Tempel und die Opferfeste Erwähnung.31 In beiden Fällen dient die Beschreibung der örtlichen Gegebenheiten jedoch primär dem Zweck, den Sieg bei den Pythischen Spielen bzw. das mythische Ereignis in Delphi zu verorten. Auch hier lassen sich nur wenige Informationen zu Delphi gewinnen, die über die bloße Evokation des Ortes hinausgehen. (4) Zuletzt ist der Blick auf die religiös-kultische Dimension zu richten. Anzuführen ist erneut die Kultaitiologie in Nemee 7 (34–47); mit Hinsicht auf das gesamte Corpus wichtiger ist aber der häufige Verweis auf Apollon als Schutzgott von Delphi und der Spiele im Besonderen, mitunter in Kombination mit Leto und/oder Artemis.32 In diesem Sinne erklärt sich auch, dass Apollon in einigen Pythien mehr oder weniger umfänglich direkt angesprochen oder von ihm in dritter Person gesprochen wird, oftmals unter Hervorhebung 30
So der Vorschlag von ROUX, 1962; vgl. für eine Übersicht über die Vorschläge ECKERMAN, 2014, 54 f. 31 N. 7,34–47 (Pytho als Ort, wo Neoptolemos begraben ist; Nabel der Erde; Tötung des Neoptolemos dort nach Troiazug bei Weihung erbeuteter Stücke während des Opferfestes, Trauer der delphischen Gastgeber, aber Erfüllung des Schicksals; Verweis auf ApollonTempel und Opferfeste mit Neoptolemos als ‚Satzungshüter‘). Es handelt sich um einen der wenigen Mythen, die sich bei Pindar direkt mit Delphi verbinden; vgl. zur Stelle aus jüngerer Zeit TEFFETELLER, 2005 (mit weiterer Literatur zur kontroversen Debatte). 32 N. 9,4 f. (Leto, Artemis und Apollon als gleichberechtigte Schutzgötter von Pytho); auch P. 2,9 (Artemis; und Hermes Enagonios in 10); P. 4,1–3 (Apollo, Artemis und Leto); O. 14,11 (pythischer Apoll, nur indirekter Bezug zu den Spielen); I. 7,49–51 (Pythien als Wettkämpfe des Apollon: πόρε, Λοξία, τεαῖσιν ἁµίλλαισιν εὐανθέα καὶ Πυθόι στέφανον).
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von im narrativen und/oder pragmatischen Kontext sinntragenden Eigenschaften.33 So wird Apollon oftmals als Herr des Tempels erwähnt, und in dieser Funktion erscheint er zugleich auch häufig als untrüglicher Seher;34 dem entspricht die nicht seltene Charakterisierung des Ortes Pytho als Ort der Weissagung.35 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang schließlich, dass auch fast alle mythischen Passagen in den Pythien (wenn vorhanden) oftmals (und anders als in der Regel in den Olympien, Isthmien und Nemeen) um Apollon kreisen, ihm zumindest eine wichtige Rolle im mythischen Geschehen zuweisen oder in anderer Hinsicht prominent auf ihn bezogen sind.36
33 Vgl. exempli gratia P. 1,39–42 (Apollon als Herrscher über Delphi als Verleiher des Sieges für Vortrefflichkeit der Sieger); P. 5,79 f. (Apollon Karneios, allerdings für Fest in Kyrene); P. 7,10 (Apollon als Herr des gepriesenen Tempels in Delphi); P. 10,10 (Apollon als Initiator und Vollender des Angenehm-Schönen). 34 P. 8,61–69 (Apollo als Herr des Tempels in Delphi); P. 3,24–30 (Apollon im opferreichen Pytho als König des Tempels und untrüglicher, nicht-lügender Seher); P. 5,68 f. (Apollon als Verwalter des Seherwinkels: µυχόν τ’ ἀµφέπει µαντήιον). Insgesamt zu Apollon als Seher in Pindars Epinikien vgl. ATHANASSAKI, 2009a. 35 O. 2,39 (Pytho als Ort der Weissagung); O. 6,38 (–52: Pytho als Ort der Weissagung); auch an anderer Stelle, etwa prominent in Pythie 4 (4–63. 70–78. 163–168, letztere Stelle mit Bezug auf die Kastalia; siehe insgesamt unten) und Pythie 5 (68 f.). Siehe oben neben der vorangehenden Anmerkung auch Anm. 22 zum Omphalos. 36 P. 1 (Bestrafung des Typhos durch Zeus, weil er die Kunst des Apollon, den Gesang und die Musik, nicht achtete; nur wer Apollon zum Freund hat, habe Erfolg: P. 1,1–40, insbesondere 1–12 und 39 f.; zum Zusammenhang vgl. ATHANASSAKI, 2009b); P. 2 (15– 17: Apollon als Freund des Aphrodite-Priesters Kinyras); P. 3 (1–67: Philyra als Geliebte des Apollon und Geburt des Asklepios); P. 4 (5–66: Apollon als Orakelgott, der die Besiedlung von Kyrene in Gang setzt; 70–78 mit 163–168: Apollon als Orakelgott, der die Argonautenfahrt in Gang setzt); P. 5 (60–81: Apollo als Orakel- und Schutzgott, der für die Kolonisation Kyrenes verantwortlich war); P. 6 (1–18: Prooimion mit imaginierter Prozession durch Heiligtum; siehe oben); P. 7 (9–11/12: Beteiligung der Alkmaioniden am Bau des Apollon-Tempels in Delphi); P. 8 (15–20: Apollon als Bestrafer der Hybris, insbesondere von Typhos und Porphyrion); P. 9 (5–70: die Nymphe Kyrene als Geliebte des Apollon und mithin Verursacher der Kolonisation der Stadt Kyrene); P. 10,31–43 (Glückseligkeit der Hyperboreer verursacht durch Apollon). Einreihen ließe sich gegebenenfalls auch P. 1 (52–55: Abholen des Philoktet zur Zerstörung von Troia, weil es vorherbestimmt war; nicht explizit genannt: Helenos’/Kalchas’ Weissagung und hierüber Verbindung zu Apollon); P. 11 (Rettung des Orestes nach Mord des Vaters in Strophios’ Heimat am Parnassos = Ort des Sieges des im Epinikion gefeierten Thrasydaios, also der Pythischen Spiele [15 f. und 34–36]).
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3. Aspekte der kulturellen Bedeutung der Pythischen Spiele: Zwei Fallstudien Der vorangehende Abschnitt hat diejenigen Informationen zusammengetragen, die wir auf direktem Weg aus Pindars Pythien und allgemein aus seinen Epinikien zu den Pythischen Spielen gewinnen können. Diese Informationen vereint, dass sie in der Regel allgemeiner Natur sind und vor allem nicht der objektiven Beschreibung der Gegebenheiten dienen. Vielmehr ist die primäre Funktion dieser Verweise, dass sie den Sieg als Sieg speziell bei den Pythischen Spielen ausweisen sollen. Insofern sind sie im Großen und Ganzen unergiebig für die Rekonstruktion der außertextlichen historischen Realität an sich; ihre Funktion bedingt, dass sie sich auf allseits bekannte Grundcharakteristika des Ortes und der Spiele beziehen müssen: Die Verweise sollen gerade nicht überraschen, sondern für jeden Zuhörer transparent den Bezug zu Delphi und den Pythischen Spielen evozieren.37 Gleichwohl lässt sich feststellen, dass in und mit diesen Verweisen der Sieg nicht nur zeitlich und örtlich in der historischen Realität des bloß Sportlichen verankert wird, sondern zugleich im hiermit indirekt gegebenen großen Zusammenhang der Welt deutend verortet wird. Das heißt, im und durch das Epinikion wird in ihm ein höherer, speziell mit der Bedeutung von Delphi verbundener Sinn greifbar. Dies aufzuweisen ist das Ziel der beiden folgenden Fallstudien. Unter Rückgriff auf die soeben aus einer systematischen Perspektive festgestellten allgemeinen Charakteristika der Pythischen Spiele aus der Perspektive des Gesamt-Corpus wenden sie sich zu diesem Zweck mit Pythie 8 und Pythie 4 zwei einzelnen Liedern zu und zeigen am konkreten Beispiel, welche Bedeutung Pindar einem Sieg bei den Pythischen Spielen zuweist. Konkret erhellt sich auf diesem Weg zum einen die religiöse Dimension der Pythischen Spiele, zum anderen und eng hiermit verbunden ihre politisch-soziale Dimension in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts. 3.1 Fallstudie 1: Aspekte der kulturell-religiösen Bedeutung der Pythischen Spiele (Pythie 8) Pythie 8 ist ein Epinikion für den Ringer Aristomenes aus Aigina. Das Lied feiert einen Sieg, der bei den Pythien des Jahres 446 in der Altersklasse der Jungen errungen wurde; es handelt sich um das chronologisch letzte sicher datierbare Epinikion Pindars, das überliefert ist.38 Die im gegebenen Rahmen relevante Passage am Ende des Liedes (61–97) beginnt mit einem Dank an
37 Entsprechend der prinzipiell oralen Aufführungssituation der Lieder: vgl. KURKE, 1991, 1–12 sowie allgemein KANNICHT, 1996, 68–99 und KÄPPEL, 1992, 17–21. 38 Vgl. Schol. P. 8 inscr.; zur Altersklasse des Aristomenes vgl. PFEIJFFER, 1998.
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Apollon für die Verleihung des Siegs, unter Verweis auf seine Eigenschaft als Herr des Tempels und auf den Ort Pytho (61–66): τὺ δ’, Ἑκαταβόλε, πάνδοκον ναὸν εὐκλέα διανέµων Πυθῶνος ἐν γυάλοις, τὸ µὲν µέγιστον τόθι χαρµάτων ὤπασας, οἴκοι δὲ πρόσθεν ἁρπαλέαν δόσιν πενταεθλίου σὺν ἑορταῖς ὑµαῖς ἐπάγαγες· ... Du, Ferntreffender, der du über den allaufnehmenden, berühmten Tempel herrschst in den Tälern von Pytho, hast das Objekt der größten Freude dort verliehen; und zu Hause hast du zuvor das ersehnte Geschenk aus dem Pentathlon bei euren Festen herbeigeführt.
Entsprechend der oben festgestellten Rangfolge der Kranzspiele wird der Pythiensieg des Aristomenes als der größte Sieg überhaupt charakterisiert, mithin implizit als gleichwertig mit einem Olympiensieg, in jedem Fall aber angesichts der expliziten Kontrastierung als deutlich wertvoller als ein Sieg bei den lokalen Wettkämpfen auf Aigina. Trotz der großen Freude über diesen Sieg ermahnt sich der Sprecher des Epinikions jedoch in der Form eines Gebetes zu Apollon, dass er im Loben das richtige Maß von Freude und hieraus folgend Lob bewahren wolle; nur so lasse sich gewährleisten, dass die Götter dem Sieger nicht zürnen und in der Folge bestrafen (67–72): ὦναξ, ἑκόντι δ’ εὔχοµαι νόῳ κατά τιν’ ἁρµονίαν βλέπειν ἀµφ’ ἕκαστον, ὅσα νέοµαι. κώµῳ µὲν ἁδυµελεῖ Δίκα παρέστακε· θεῶν δ’ ὄπιν ἄφθονον αἰτέω, Ξέναρκες, ὑµετέραις τύχαις. Herr, ich erbitte mit bereitwilligem Sinn, dass ich gemäß einer gewissen Harmonie auf alles blicke, worauf ich komme. Dem Festumzug mit schönem Lied steht Dike [‚Gerechtigkeit‘] bei; der Götter Blick ohne Missgunst erbitte ich, Xenarkes, für euer Schicksal.
Wenn der Sprecher das richtige Maß des Lobes wahrt, trifft den Sieger nicht der ‚neidvolle Blick der Götter‘, denn dann liegt keine Hybris vor, die von den Göttern bestraft wird, sondern ‚Gerechtigkeit‘, die im Gegenzug von den Göttern belohnt wird. Damit dies tatsächlich geschieht – und es geschieht, steht doch Dike jetzt dem Festumzug und also dem dabei gesungenen Epinikion bei, wendet sich also nicht ab –, erbittet der Sprecher die richtige Haltung beim Loben mittels eines Gebets an Apollon, mit der Folge des zukünf-
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tigen Segens für die Familie des Siegers.39 So transparent der gesamte Zusammenhang auf den ersten Blick ist und sich in die Grundparameter der archaischen griechischen Religion fügt,40 überrascht dennoch, warum der Sprecher es überhaupt in Hinsicht auf sein Lob eines ‚Sport‘-Siegs vorbringt: Warum denn, so lässt sich fragen, sollte den Pythiensieger schließlich der ‚Neid der Götter‘ treffen, ja: treffen können? Welches Lob wäre denn denkbar, dass die Götter sich genötigt fühlten, den für seinen Sieg in einem sportlichen Wettkampf Gepriesenen mitsamt seiner gesamten Familie zu bestrafen, zumal ein Kind wie Aristomenes? Worum es dem Sprecher des Epinikions geht, zeigt die Fortführung des Gedankens. Zuerst insofern, als ausgeführt wird, dass die Grundlage des richtigen Lobes darin bestehe anzuerkennen, dass der Erfolg im Prinzip nicht in der Macht des Menschen liegt und nicht auf seiner Planung beruht, sondern auf die Götter zurückgeht, hier speziell Apollon, entsprechend der oben festgestellten grundlegenden Eigenschaft dieses Gottes als des Schutzherrn der Pythischen Spiele (73–78): εἰ γάρ τις ἐσλὰ πέπαται µὴ σὺν µακρῷ πόνῳ, πολλοῖς σοφὸς δοκεῖ πεδ’ ἀφρόνων βίον κορυσσέµεν ὀρθοβούλοισι µαχαναῖς· τὰ δ’ οὐκ ἐπ’ ἀνδράσι κεῖται· δαίµων δὲ παρίσχει· ἄλλοτ’ ἄλλον ὕπερθε βάλλων, ἄλλον δ’ ὑπὸ χειρῶν µέτρῳ καταβαίνει· ... Denn wenn einer etwas Gutes erreicht hat ohne lange Mühe, scheint er vielen klug unter Unverständigen das Leben zu rüsten mit rechtplanenden Mitteln. Das aber liegt nicht in der Gewalt der Menschen. Ein Gott gewährt es, der einmal den einen in die Höhe wirft. Und im Maß lässt er einen anderen unter den Händen niedergehen.
Diese allgemeinen Gedanken begründen (73: γάρ), warum die Götter mit neidlosem Blick auf den Sieger schauen können: Der Sprecher des Epinikions erkennt in seinem Namen an, dass der Sieg auf sie zurückgeht. Im Gegenzug ist freilich impliziert, dass es sich bei einem solchen Sieg tatsächlich um 39 Zum ‚Neid‘ bei Pindar vgl. allgemein BULMAN, 1992. Diese Passage gehört zu den meistdiskutierten in Pindars Epinikien. Das hier zugrundeliegende Verständnis von Syntax und Inhalt folgt im Großen und Ganzen HUBBARD, 1983 (mit weiterer Literatur; pace VERDENIUS, 1983); die ‚Harmonie‘ ist in diesem Sinn das Prinzip der ‚kosmischen Proportionalität‘. Man beachte auch, dass der Anfang des Liedes (1–20) exakt zu dieser Passage passt, wenn auch gewendet auf die Klasse der eigentlichen (Wett-) Kämpfer (und eben nicht den Lobenden); dies spricht im Übrigen gegen eine primär politische Deutung des Liedes, wie sie etwa PFEIJFFER, 1995 unter Rückgriff auf die antiken Scholien vertritt (vgl. dagegen auch LEFKOWITZ, 1991, 72–88). Xenarkes ist laut Schol. P. 8,99b der Vater des Siegers. 40 Vgl. FRÄNKEL, 1962, 567–572.
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einen großen Erfolg handelt, etwas ‚Gutes‘, ‚Edles‘ (73: ἐσλά), errungen ohne große Mühe, das heißt in evidenter Überlegenheit über die Konkurrenten. Das Wohlwollen des Göttlichen hat nun konkret den Pythiensieger Aristomenes getroffen; er hat insbesondere durch die Hilfe Apollons viele Siege erringen dürfen, sowohl in lokalen Wettspielen in Megara, Marathon und Argos als auch bei den Pythien, und zwar aufgrund seiner naturgegebenen Kunstfertigkeit und körperlichen Gewalt als Ringer (78–87): {ἐν} Μεγάροις δ’ ἔχεις γέρας, µυχῷ τ’ ἐν Μαραθῶνος, Ἥρας τ’ ἀγῶν’ ἐπιχώριον νίκαις τρισσαῖς, ὦ Ἀριστόµενες, δάµασσας ἔργῳ· τέτρασι δ’ ἔµπετες ὑψόθεν σωµάτεσσι κακὰ φρονέων, τοῖς οὔτε νόστος ὁµῶς ἔπαλπνος ἐν Πυθιάδι κρίθη, οὐδὲ µολόντων πὰρ µατέρ’ ἀµφὶ γέλως γλυκύς ὦρσεν χάριν· κατὰ λαύρας δ’ ἐχθρῶν ἀπάοροι πτώσσοντι, συµφορᾷ δεδαγµένοι. In Megara hast du Ehre und im Winkel von Marathon, und du hast Heras einheimische Versammlung mit drei Siegen, Aristomenes, bezwungen durch die Tat. Du hast dich auf vier Körper von oben herabgeworfen, Übles im Sinn, welchen weder die Rückkehr als in der gleichen Weise fröhlich bei den Pythien beschieden wurde, noch hat, als sie zur Mutter kamen, süßes Lachen rundherum Freude erregt. Die Wege entlang, entfernt von den Feinden, schleichen sie, von Unglück gebissen.
Der Sieg bei den Pythien erscheint nicht nur als etwas ‚Gutes‘, sondern er kommt in der konkreten Beschreibung durch den Sprecher des Epinikions – nicht ohne Grund ist das Wort νόστος verwendet – auch einem bedeutenden kriegerischen Erfolg gleich.41 Insofern zeigt sich in einer ersten Annäherung ein Grund dafür, warum den Sieger der Neid der Götter treffen könnte und warum der Sprecher sein entsprechendes Gebet an Apollon richtet: Aus der Perspektive des Lobenden (die angesichts des rhetorischen Zwecks der Lieder die allgemeine griechische Perspektive gewesen sein musste) kommt dem sportlichen Sieg der Stellenwert des höchsten Erfolges zu, und dieser ist durchaus gleichwertig mit einem kriegerischen Erfolg;42 und angesichts der 41
Diese Parallelisierung findet sich öfter bei Pindar: vgl. LATTMANN, 2010, 89 f. und 141 f. (mit weiteren Stellen). Man beachte hier auch κακὰ φρονέων (82), welche Junktur auf die Charakterisierung des Kriegers bei Homer verweist (vgl. etwa Il. XVI 372 f. und XVI 783 mit Bezug auf Patroklos). Vgl. im Übrigen O. 8,65–73 (hierzu LATTMANN, 2010, 104 f.). 42 Dazu, dass dieser Lobende als der Sprecher des Epinikions nicht mit dem historischen Autor Pindar gleichgesetzt werden kann, vgl. LATTMANN, 2017 (mit weiterer Litera-
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Rangfolge der griechischen Sportfeste ist der jetzige Pythiensieg des Aristomenes folglich sogar einer der höchstmöglichen Erfolge eines Menschen überhaupt. Dem entspricht die bei Pindar hier so pointiert dargestellte Reaktion auf Erfolg und Misserfolg des Athleten: entweder feierlicher Empfang bei der Rückkehr oder schamvolles Nach-Hause-Schleichen ohne Freude, nicht einmal bei der Mutter (beides nimmt konkret das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein einer feierlichen Begrüßung durch die Polis mitsamt der Aufführung eines Epinikions wie Pythie 8 auf).43 Glücklicherweise wurde Aristomenes also von Apollon bei den Pythien mit dem Sieg beschenkt, ganz in Entsprechung zu seinen Hoffnungen vor der Teilnahme an den Wettspielen (88–92): ὁ δὲ καλόν τι νέον λαχών ἁβρότατος ἔπι µεγάλας ἐξ ἐλπίδος πέταται ὑποπτέροις ἀνορέαις, ἔχων κρέσσονα πλούτου µέριµναν. Der Empfänger von etwas neuem Schönen fliegt auf zu großer Herrlichkeit aus Hoffnung mittels geflügelter Männlichkeit, mit einem Streben mächtiger als Reichtum.
Die eigentliche Grundlage des sportlichen Erfolgs (und zugleich das, was man als tatsächlich vorhanden im Sieg demonstriert) ist die ‚Männlichkeit‘, mithin (wie im Krieg) die körperliche Gewalt, die es jemandem erlaubt, den Gegner ‚mit der Tat zu überwältigen‘ (80: δάµασσας ἔργῳ); so lasse sich die Hoffnung in die Realität überführen, und diese Realität ist durch den Sieg in einen Zustand der Herrlichkeit verwandelt. Dieser Zusammenhang offenbart eine Grundkonstante des Lobs bei Pindar: Der Sieg wird von den Göttern nicht grundlos geschenkt, sondern deshalb, weil der Sieger über eine gottgegebene vollkommene Natur (φυά) als Sportler und mithin Mann verfügt, mithin durch Geburt die notwendige Voraussetzung dafür besitzt, aktuale Exzellenz und Erfolg (ἀρετά) gegenüber den Besten der Besten der Griechen zu beweisen.44 Den Menschen kennzeichnet aber nun im Allgemeinen, dass jeder Segen eigentlich nicht aus sich selbst heraus beständig sein kann. Schließlich ist der tur zum vieldiskutierten Problemkomplex). Folglich müssen die hier herausgearbeiteten Perspektiven angesichts der grundsätzlichen Aufführungssituation (siehe oben Anm. 5) als repräsentativ für das intendierte Publikum gelten, also (angesichts der Bandbreite von Poleis, denen die in Pindars Epinikien gefeierten Sieger entstammen) mehr oder weniger für die gewöhnliche griechische Öffentlichkeit der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts. 43 Vgl. LATTMANN, 2012. 44 Zum Zusammenhang vgl. O. 9,100–102; N. 7,54 f.; I. 7,22. Zur ‚Männlichkeit‘ vgl. O. 8,67–69 und N. 3,19–21 in Verbindung mit I. 8,24–26.
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Mensch kein Gott, ein Gedanke, der eng mit der delphischen Religiosität verbunden war und sich nicht ohne Grund allem Anschein nach oft gerade in den Pythien ausgedrückt findet, insbesondere im Sinne des Erkenne-dichselbst.45 Ganz entsprechend folgen bei Pindar die berühmten Worte, die die45 Vgl. zum Beispiel die einschlägige Parallele Pythie 2: Nicht nur thematisiert der Ixion-Mythos (21–48) das Maß-Halten als Mensch, insofern es notwendig sei, den gottgegebenen Segen zu genießen, hieraus aber nicht zu folgern, man dürfe etwa die Gattin des Zeus vergewaltigen, sich also aus eigener Kraft wie ein Gott verhalten (man beachte hierzu in 34 die Gnome χρὴ δὲ κατ’ αὐτὸν αἰεὶ παντὸς ὁρᾶν µέτρον [‚es ist notwendig, in jeder Angelegenheit immer das Maß einer jeden Sache zu beachten‘]); darüber hinaus wird die Lehre aus diesem Mythos später im Lied direkt auf den geehrten Sieger Hieron angewendet, insofern er aufgefordert wird, ‚er solle werden, wie er ist, als jemand, der es gelernt hat‘, sc. weiß (72: γένοι’, οἷος ἐσσὶ µαθών; zwar kann hier nicht weiter erörtert werden, wie diese vieldiskutierte Formulierung im Detail syntaktisch und inhaltlich zu interpretieren ist, doch ist der Zusammenhang zu der mit der delphischen Maxime verbundenen Selbsterkenntnis offenkundig; zur Stelle in ihrem Kontext vgl. HUBBARD, 1990, insbesondere 80–82 [mit weiterer Literatur]; zum Verständnis von µανθάνειν vgl. LATTMANN, 2010, 229 [mit weiterer Literatur]). Daneben lässt sich für die weiteren Pythien etwa der Asklepios-Mythos in Pythie 3 nennen (38–60: Asklepios entreißt jemanden dem Tod und wird dafür von Zeus getötet, mit ähnlicher zusammenfassender Gnome in 59 f. wie soeben für Pythie 2 angeführt: χρὴ τὰ ἐοικότα πὰρ δαιµόνων µαστευέµεν θναταῖς φρασὶν γνόντα τὸ πὰρ ποδός, οἵας εἰµὲν αἴσας [‚es ist notwendig, dass man dasjenige von den Göttern ersucht, was sterblichen Sinnen angemessen ist, im Wissen um dasjenige, was vor dem Fuß liegt, nämlich welchen Schicksals wir sind‘]; zu αἶσα vgl. FRÄNKEL, 1962, 168; zum gedanklichen Aufbau der gesamten Partie 1–80, ausgehend vom initialen Wunsch in 1–3, vgl. PELLICCIA, 1987; vgl. in diesem Zusammenhang auch den Schluss des Liedes [103–115]). Ebenso ist der Gedanke des Maßes und der Proportionalität in vielen Pythien prominent: vgl. neben den oben angeführten Stellen aus Pythie 8 (sowie P. 8,7) auch P. 1,57.81 (im Sieges- bzw. Lobeskontext); P. 4,286 f. (ὁ γὰρ καιρὸς πρὸς ἀνθρώπων βραχὺ µέτρον ἔχει. εὖ νιν ἔγνωκεν [‚denn das Angemessene hat in den Augen der Menschen ein kurzes Maß [d.h. ist leicht zu verfehlen]. Er [sc. Damophilos] kennt es gut‘]); P. 9,78 f. (ὁ δὲ καιρὸς ὁµοίως παντὸς ἔχει κορυφάν [‚Das rechte Maß hat in gleicher Weise den Gipfel einer jeden Sache inne‘], auch im Lobeszusammenhang; zur vieldiskutierten Stelle vgl. LATTMANN, 2010, 302 f. mit Anm. 146 [mit weiterer Literatur]); P. 10,4 (‚Was prahle ich am Angemessenen vorbei?‘ [τί κοµπέω παρὰ καιρόν;]) in Verbindung mit P. 10,17–21 (Umschlag des Schicksals bei großem Glück wegen neidischer Götter). Der καιρός ist „what is proper, appropriate, just right“ (BARRETT, 1964, 231; vgl. FRÄNKEL, 1962, 509– 511 und WILSON, 1980, insbesondere 180–187 [Grundbedeutung: „due measure“]), mehr oder weniger äquivalent mit der delphischen Maxime des µηδὲν ἄγαν (vgl. CAREY, 1981, 89). Der in den Pythien durch καιρός ausgedrückte Gedanke des ‚Angemessenen‘ ist außerhalb dieser Gruppe von Epinikien zwar nicht nicht-präsent, gerade im Lobeskontext, zeigt sich aber insgesamt deutlich weniger häufig und prominent: O. 2,53–57b (freilich signifikanterweise mit anderer Pointe); O. 8,23–25 (im Lobeskontext); O. 9,37–39 (im Lobeskontext); O. 13,48 (im Lobeskontext); N. 1,18 (im Lobeskontext); N. 7,58 f. (im Siegeskontext); N. 8,4 f. (allgemeine Gnome, mit impliziter Definition des καιρός als Vermögen, die übermäßigen Begierden zu beherrschen [τῶν ἀρειόνων ἐρώτων ἐπικρατεῖν δύνασθαι]); I. 2,22 (Beschreibung des Sieges, mithin mit anderer Pointe). Vgl. die ent-
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ser Sicht auf die condicio humana einen pointierten Ausdruck verleihen (92– 96): ἐν δ’ ὀλίγῳ βροτῶν τὸ τερπνὸν αὔξεται· οὕτω δὲ καὶ πίτνει χαµαί, ἀποτρόπῳ γνώµᾳ σεσεισµένον. ἐπάµεροι· τί δέ τις; τί δ’ οὔ τις; σκιᾶς ὄναρ ἄνθρωπος. In Kurzem wird das Angenehme der Sterblichen vermehrt. So aber auch fällt es zu Boden, durch abgewandte Wertschätzung erschüttert. Tageswesen. Was ist man? Was ist man nicht? Eines Schattens Traum ist der Mensch.
Nichts ist beständig; eines jeden Menschen Schicksal kann sich mit einem einzigen Tag ändern:46 „Ein Sterblicher ist mit Leib und Seele jedem beliebigen Tage preisgegeben“, unterworfen dem Willen der Götter, ganz so, wie es dem archaischen Lebensgefühl entspricht und dann seinen ästhetischen Ausdruck etwa in der Tragödie gefunden hat.47 Aber – und dies ist die entscheidende Pointe der Stelle, die oftmals übersehen wird – schenkt ein Gott so etwas wie einen Sieg bei den Pythischen Spielen, wird man aus dieser Grundgegebenheit des menschlichen Daseins befreit.48 Zwar wird man nicht zu einem Gott schlechthin – dies wäre ja nicht möglich, und Derartiges zu denken wäre in der Tat ein Akt der Hybris –, aber man wird aus abgeleitetem Recht eben doch so weit göttlich, wie es einem Menschen überhaupt möglich ist (96 f.):
sprechenden Verweise auf das µέτρον (‚Maß‘), wo sich gleichfalls eine Häufung in den Pythien zeigt: O. 13,47 f. (mit καιρός); P. 2,34; P. 4,286 (Zusammenhang mit καιρός); P. 8,77 f. (s.o.); N. 11,47; I. 1,60–63 (bezeichnenderweise gerade im gegenteiligen Sinn verwendet); I. 6,71 f. Zu Reflexen dieser Konzepte schon in der soeben diskutierten Passage vgl. MILLER, 1989. Die religiösen Zusammenhänge sind eindrücklich auch in der Begegnung von Solon und Kroisos bei Herodot thematisiert: vgl. Hdt., I 29–33 und hierzu im Zusammenhang einer Diskussion der Pindar-Stelle knapp FRÄNKEL, 1960, 27. 46 Zur antithetischen Form der Frage vgl. FOGELMARK, 2008; sie sei primär formalen Gründen geschuldet, insofern solches Nutzen von polaren Strukturen im griechischen Denken verankert sei, insbesondere weil es eine Vollständigkeit des behandelten Bereichs impliziere (was aber andererseits im gegebenen Kontext dann wieder doch nicht ganz ohne sachliche Pointe wäre). 47 Vgl. FRÄNKEL, 1960, 23–39, das Zitat 35; zur Stelle auch FRÄNKEL, 1962, 567–572; vgl. THEUNISSEN, 2000. 48 TOOHEY, 1987, betont zwar zu Recht die positive Wendung des Gedankens, doch verbleibt der aus dem ‚Glanz‘ erlangte Segen ganz im Diesseitig-Menschlichen: „As a consequence Aristomenes now enjoys a meilichos aiōn. How is it meilichos? Through the praise, the esteem, the renown attendant upon a victory in such celebrated games as the Pythian“ (74).
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ἀλλ’ ὅταν αἴγλα διόσδοτος ἔλθῃ, λαµπρὸν φέγγος ἔπεστιν ἀνδρῶν καὶ µείλιχος αἰών. Aber wenn gottgegebener Glanz kommt, liegt strahlender Sonnenschein auf den Menschen und ein angenehmes Leben.
Mit dem Sieg liegt Segen auf dem Menschen, und dieser Segen ist nicht nur transitorisch auf den Moment des Sieges, das heißt den kurzen Akt des Verleihens des Glanzes beschränkt, sondern er überdauert das gesamte restliche „Leben“ (αἰών):49 Mit dem Erhalt des göttlichen Glanzes ist der Schatten verschwunden; das Leben hängt jetzt nicht mehr vom Tag ab, der Sieger ist kein ἐπάµερος mehr. Vielmehr ist das Leben von nun an bis auf Weiteres für immer angenehm und süß: Der Sieger ist ‚glückselig‘ wie ein Gott. Dies bleibt freilich nur dann der Fall, wenn sowohl er selbst als auch der für ihn sprechende Lobende – und hiermit schließt sich der Bogen zurück zum Anfang der betrachteten Passage – das delphische Maß wahrt, konkret im Anerkennen der Tatsache, dass man auch als Sieger von seiner Natur her noch immer ‚ein Mensch‘ ist und die eigene Quasi-Göttlichkeit nicht selbst erschaffen hat, sondern nur von einer tatsächlichen Gottheit geschenkt bekommen hat, wenn auch mit der notwendigen faktischen Voraussetzung der eigenen (wiederum qua Geburt gottgegebenen) überragenden Natur und Leistung.50 Die Göttlichkeit wird dem Sieger von der Gottheit in der Form von κῦδος verliehen, „special power bestowed by a god that makes a hero invincible“.51 49 Pindar verwendet nicht ohne Grund das Wort αἰών: vgl. LSJ s.v. (mit der Grundbedeutung: ‚period of existence‘, sei es dann konkret zu verstehen als ‚lifetime, life‘ oder als ‚long space of time, age‘); symptomatisch ist, dass etwa FRÄNKEL, 1960, 26 Anm. 2 das Wort im Sinne des archaischen Ephemeros-Konzepts als ‚Tag‘ auffasst („der ‚Tag auf‘ den ἐπάµεροι ist dann ein freundlicher“). SEGAL, 1976 identifiziert die Stelle als MimnermosZitat und -Kommentar, der „challenges and inverts this gloomy pronouncement“ (72) des archaischen Lebensgefühls in Vers 95 f., und zwar durch den Austausch der bei Mimnermos direkt hierauf folgenden Beschreibung des schrecklichen Alters durch den pointiertgegenteiligen Verweis auf den gottgegebenen Glanz des Erfolgs bei Pindar; gleichwohl führt Segal diesen Gedanken nicht im hier ausgeführten, die Archaik transzendierenden Sinn fort. 50 In diesem Sinn ist die direkt auf die implizite Beschreibung des Siegers als quasigöttlich folgende und das gesamte Lied nach diesem inhaltlichen Höhepunkt pointiert beschließende Bitte um göttlichen Beistand auch in Zukunft zu verstehen (98–100), nämlich als Anerkennen des Umstands, dass der Segen so, wie er von der Gottheit gegeben wurde, eben auch in jedem Moment wieder genommen werden kann – das heißt dann, wenn man sich der Gottheit gegenüber nicht dankbar und bescheiden genug verhält. Vgl. die in diesem Sinne präsentierte Pointe des Schicksals des Sisyphos im Pelops-Mythos in Olympie 1 (25–89, hier 59–66); diese Zusammenhänge können angesichts ihrer Komplexität hier freilich nicht weiter erörtert werden. 51 Vgl. KURKE, 1993, das Zitat S. 132; „die traditionelle Wiedergabe mit ‚Ruhm‘ ist falsch“, wie schon FRÄNKEL, 1962, 88 Anm. 14 betont, doch seine eigene Wiedergabe des
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Durch dieses κῦδος, konkret materialisiert im Siegerkranz, wird der Sieger entsprechend zu einem Heros und besitzt nicht nur über den Tod hinaus realen Segen und Macht, sondern auch im Diesseits immense Kräfte, nicht zuletzt im Kriegerischen.52 So überrascht nicht, dass der Sprecher des Epinikions eine heikle Gratwanderung vollführen muss: die neu erworbene Göttlichkeit des Siegers zu beschreiben, ohne zugleich den Neid der Götter auf den Gepriesenen zu lenken.53 Auch in diesem Sinn erklärt sich schließlich die Bitte des Sprechers an Apollon um das richtige Maß des Lobes, also an denjenigen Gott, der eben dieses richtige Maß als Schutzgott von Delphi wie kein anderer verkörperte – und der mit Delphi über eben jenen Ort wachte, an dem nicht nur der Mensch mit den göttlichen Mächten in Verbindung zu treten und im Beweisen seiner gottgegebenen Kräfte gegenüber allen anderen Griechen übermenschliche, heroische Macht und Gewalt zu erwerben vermochte, sondern an dem dies in der gesamten griechischen Welt, abgesehen vielleicht von Olympia, in keinem höheren Maße möglich war. 3.2 Fallstudie 2: Aspekte der politischen Bedeutung der Pythischen Spiele (Pythie 4) Pythie 8 unterliegt einerseits die traditionelle, archaische Grundüberzeugung vom unbeständigen Platz des sterblichen Menschen im Gefüge der Welt, wie sie insbesondere von Delphi aus in der griechischen Welt Verbreitung fand. Doch zeigt dieses Lied als repräsentatives Beispiel andererseits, dass diese Sicht auf die condicio humana bei Pindar in einer den spezifischen kulturellreligiösen Gegebenheiten der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts entsprechenWortes mit „die ‚Ehre‘ des Erfolgs, das Prestige, die Autorität, die Würde und den Rang“ verbleibt im Sozialen unter Aussparung der darunterliegenden und sachlich legitimierenden religiösen Dimension. 52 Zu Heroisierungen, speziell im 6. und 5. Jahrhundert, vgl. insbesondere FONTENROSE, 1968 sowie CURRIE, 2002 und BOEHRINGER, 1996; vgl. ansonsten CURRIE, 2005, speziell 120–157. Vgl. zur Stelle NAGY, 1990, 195 f. mit einer Deutung der Verse, die eben diesen Gehalt des Heroischen unter Herausarbeitung der in Pythie 8 vorliegenden semantischen Bezüge plastisch-bildlich vor Augen führt, auch und gerade kompatibel mit dem hier explizierten Sinn; vgl. NAGY, 2000, insbesondere 110–112. Instruktiv für den Aspekt des Kriegerischen ist Milon von Kroton, der seine Mitbürger insbesondere mit seinen Siegerkränzen bekleidet in eine Schlacht gegen die Sybariten geführt haben soll: vgl. Diod., XII 9,5 f.; allgemein zu Milon vgl. DECKER, 1995, 131–133 und MANN, 2001, 175–177. 53 Ein wichtiges in Pindars Epinikien verwendetes poetisches Mittel ist, den jetzt errungenen Sieg und damit auch den aktuellen Sieger in den Taten eines Gottes oder Heros (insbesondere über eine Metaphorik des Sports) in den mythischen Passagen zu spiegeln und beide Taten als grundsätzlich gleichwertig auszuweisen – oder sogar die jetzige Tat als noch weitaus großartiger: vgl. LATTMANN, 2010 mit fünf Fallstudien (N. 8, O. 8, N. 4, P. 4 und P. 9) sowie LATTMANN, 2017 zur persona des Sprechers, die diese Gratwanderung vollführen muss.
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den Weise signifikant modifiziert entgegentritt, angesichts der konkreten historischen Rezeptionssituation allem Anschein nach in grundsätzlicher Kompatibilität mit den Ansichten des zeitgenössischen Publikums:54 Mit göttlicher Hilfe – deren man sich aufgrund von göttlicher Abstammung in Verbindung mit eigener, diese Anlagen beweisender Anstrengung (φυά in Kombination mit ἀρετά) als würdig erweist – kann man seiner Menschlichkeit entkommen und so göttlich werden, wie es einem Menschen überhaupt nur möglich ist; ein Sieg bei den Kranz- und insbesondere den Pythischen Spielen vermag es, aus einem Menschen einen Heros zu machen, der auch nach seinem Tod wirkt und der Verehrung würdig ist.55 Wodurch und wie das Göttliche, hier also speziell Apollon, diesen beständigen Segen aus einem Pythiensieg spendet und welche immense Bedeutung einem solchen Sieg nicht nur im religiös-kultischen Bereich im Sinne der ersten Fallstudie, sondern hiermit eng verbunden und sachlich abgeleitet auch im politisch-sozialen Bereich zuerkannt wurde, beleuchtet Pythie 4. Dieses Lied, wohl das komplexeste und schwierigste von Pindars Epinikien überhaupt, mit 299 Versen in jedem Fall aber das mit Abstand längste, wurde gedichtet für den Sieg des kyrenischen Königs Arkesilaos IV. mit dem Pferdeviergespann im Jahr 462.56 Eine Untersuchung dieses Liedes macht transparent, warum und mit welchen Zwecken die Elite Griechenlands sich bis weit ins 5. Jahrhundert hinein (und noch darüber hinaus) darum bemühte, 54 Für das traditionelle Pindarbild vgl. FRÄNKEL, 1962, 583: Im Gegensatz zu den „Wegbereitern der Klassik“ „blieb Pindar, der bis 446 v. Chr. tätig war, bis zuletzt dem archaischen Wesen ohne Konzessionen treu“. 55 Vgl. z.B. O. 1,90–100 mit Bezug auf Pelops in Verbindung mit dem die Motive des Liedes aufnehmenden Ende 106–116 (insbesondere der Wunsch in 115, dass es Hieron vergönnt sei, ‚hoch oben zu wandeln‘, was die Erhöhung von sowohl Ganymedes als auch Pelops zu den Göttern in 40–45 aufnimmt). Vgl. CURRIE, 2005 zur historischen Einbettung von Pindars Epinikien in dieser Hinsicht. Diese Entwicklung scheint erst spät in der Archaik eingesetzt zu haben, möglicherweise parallel zur Einrichtung der Kranzspiele? Gewöhnlich wird in der Pindarforschung nur das in die Archaik zurückreichende mahnende Moment beachtet, nicht hingegen die (wenn auch aus transparenten, eben gerade auch in der noch gegebenen Präsenz des traditionell-archaischen Menschenbildes liegenden Gründen subtil aufgezeigte) Möglichkeit, dass der Mensch (mit göttlicher Hilfe) seine Menschlichkeit transzendieren kann: vgl. z.B. FRÄNKEL, 1962, 543, insgesamt 537–549; ähnlich STANFORD, 1942. 56 Pythie 4 ist für denselben Sieg wie Pythie 5 komponiert; beide Lieder waren zwar wie grundsätzlich alle Epinikien für eine öffentliche Aufführung am Heimatort bestimmt, das erste aber wohl für eine Feier zum Anlass des Eintreffens der Nachricht vom Sieg, das andere wohl für eine (dann etwas später stattfindende) Feier zum Anlass der Rückkehr der Festgesandtschaft von den Pythien: vgl. LATTMANN, 2012, 50–52 (mit weiterer Literatur). Die Datierung des Sieges ergibt sich aus Schol. P. 4 inscr. a und Schol. P. 5 inscr. Vgl. die ausführliche Behandlung des Liedes in LATTMANN, 2010, 164–258; die hier angesprochenen Punkte folgen weitestgehend den dort erzielten Ergebnissen, so dass im Regelfall auf die Herleitung im Detail verzichtet wird.
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einen Sieg bei den Pythien zu erlangen, und zwar insbesondere in den hippischen Disziplinen, also denjenigen Disziplinen, die nicht nur das höchste Prestige genossen, sondern bei denen sich auch das größte κῦδος erwerben ließ.57 Zugleich nimmt das in Pythie 4 prominente Motiv des Mantischen in Verbindung mit demjenigen der Kolonisation die besonderen Eigenschaften des Ortes Delphi als Sitzes des Sehergottes Apollon auf und zeigt, dass ein Pythiensieg nicht nur wie die anderen Kranzspiele κῦδος verhieß, sondern oftmals auch ein ganz charakteristisches, einzigartiges Profil aufwies. Pythie 4 beginnt mit einem komprimierten Verweis auf Arkesilaos’ Pythiensieg, der alle relevanten Eckdaten benennt, konkret Sieger, Heimat, Disziplin, Ort und siegverleihende Gottheiten (1–3): Σάµερον µὲν χρή σε παρ’ ἀνδρὶ φίλῳ στᾶµεν, εὐίππου βασιλῆι Κυράνας, ὄφρα κωµάζοντι σὺν Ἀρκεσίλᾳ, Μοῖσα, Λατοίδαισιν ὀφειλόµενον Πυθῶνί τ’ αὔξῃς οὖρον ὕµνων, […] Heute musst du neben dem befreundeten Mann stehen, dem König des pferdeberühmten Kyrene, damit du zusammen mit dem im Festzug feiernden Arkesilaos, Muse, den Hymnenwind stärkst, geschuldet den Lato-Kindern und Pytho, […]
Dieser Beginn (neben 64–67 die einzige Passage, die direkt auf den Sieg Bezug nimmt)58 gibt den Anlass für einen Verweis auf ein Orakel, das Apollon in Delphi über die Pythia einst dem Gründer von Kyrene, Battos, gegeben hatte (4–12): Es seien – so die Einleitung des dann im Folgenden direkt wiedergegebenen Orakels selbst – Pytho und mithin Delphi gewesen, ἔνθα ποτὲ χρυσέων Διὸς αἰετῶν πάρεδρος ὐκ ἀποδάµου Ἀπόλλωνος τυχόντος ἱέρεα 57
Vgl. KURKE, 1991, 1–12 für eine Skizze der zugrundeliegenden Ideologie. Gerade in der frühen Zeit entstammte das Bewerberfeld nicht ohne Grund der hohen und höchsten politischen Elite; so stammen etwa die bei Pindar gefeierten Sieger oftmals explizit aus Großfamilien (γένη), die sich auf einen Heros zurückführten, also göttliche Abstammung und einen hieraus resultierenden Machtanspruch für sich reklamierten: vgl. LATTMANN, 2010, 75–77 (mit weiterer Literatur); siehe auch oben S. 302 f. zu den Siegern in den hippischen Disziplinen. Eine ‚Amateurisierung‘ und (Ent-‚Aristokratisierung‘) ist erst für die spätere Zeit festzustellen; vgl. zur kontroversen Debatte YOUNG, 1988 und PLEKET, 2001. Einschlägig ist das Beispiel des Alkibiades mit seiner (sogar mehrfachen) Teilnahme an den Olympien des Jahres 416: vgl. Isocr., Or. 16,33 und hierzu GRIBBLE, 2012; man beachte im Übrigen, dass einer der Gründe für die Ostrakisierung des in Pythie 7 gefeierten Megakles laut einigen Ostraka gerade die Pferdezucht war (vgl. ATHANASSAKI, 2013, 101). 58 Zu diesem für das Gesamtverständnis des Liedes wichtigen interpretatorischen Problem vgl. LATTMANN, 2010, 184–186 (mit weiterer Literatur).
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χρῆσεν οἰκιστῆρα Βάττον καρποφόρου Λιβύας, ἱεράν νᾶσον ὡς ἤδη λιπὼν κτίσσειεν εὐάρµατον πόλιν ἐν ἀργεννόεντι µαστῷ, καὶ τὸ Μηδείας ἔπος ἀγκοµίσαι ἑβδόµᾳ καὶ σὺν δεκάτᾳ γενεᾷ Θήραιον, Αἰήτα τό ποτε ζαµενής παῖς ἀπέπνευσ’ ἀθανάτου στόµατος, δέσποινα Κόλχων· εἶπε δ’ οὕτως ἡµιθέοισιν Ἰάσονος αἰχµατᾶο ναύταις· wo einst die Beisitzerin der goldenen Adler des Zeus, ohne dass Apollo gerade fern des Landes war, die Priesterin, in einer Weissagung Battos als Kolonisten des fruchttragenden Libyen verkündete, damit er, der die heilige Insel schon verlassen hatte, gründe die schönwagige Stadt auf der leuchtenden Brust und das Wort der Medea zurückbringe im siebzehnten Geschlecht, das theraiische Wort, das einst des Aietes mächtiges Kind fortgeblasen hat aus unsterblichem Mund, die Herrin der Kolcher. So sprach sie zu den Halbgöttern, des Kriegers Iason Seeleuten:
Die Pythia verkündete Battos, schon zu einem Zeitpunkt nach seinem Aufbruch aus Thera, dass er in Libyen Kyrene gründen und hierdurch eine frühere Prophezeiung der Medea bei Thera im Rahmen der Argonautenfahrt vollenden werde, welche nun eingebettet in diese Prophezeiung der Pythia selbst wiedergegeben wird.59 Sie betrifft gleichfalls die Gründung von Kyrene und nimmt Battos’ spätere Gründung vorweg, nämlich als Vollendung der aufgrund eines Missgeschicks während der Fahrt noch nicht früher erfolgten Kolonisation (13–56): Nach der Zusicherung, dass Kyrene später einmal von Thera aus besiedelt werde, gibt Medea den Argonauten mit Bezug darauf, dass die Argonauten kurz zuvor im Bereich des späteren Kyrene von einer einheimischen Gottheit einen Erdklumpen als spontanes Gastgeschenk erhalten hatten, nachdem sie zwölf Tage lang einen beschwerlichen Weg durch die Wüste zurückgelegt hatten, kund, dass dieser Klumpen das Unterpfand dafür sei, dass die Nachfahren der Argonauten (und das meint den Theraier Battos mitsamt den von ihm angeführten Kolonisten) später einmal die Stadt Kyrene gründen würden. Diese Prophezeiung betrifft speziell den Argonauten Euphamos, der den Erdklumpen stellvertretend für alle Argonauten entgegennahm, denn von diesem Euphamos werde der Stadtgründer Battos in direkter Linie abstammen; die Argonauten zeugten nämlich, so Medea weiter, auf ihrer Rückreise nach Iolkos auf Lemnos eine Nachkommenschaft, die über Lake59
Zur Verschachtelung der Prophezeiungen vgl. LATTMANN, 2010, 186 (mit weiterer Literatur).
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daimon nach Thera gelange, von wo aus Battos dann ja später mit den Kolonisten die Stadt Kyrene gründe. Die zweifache, komplex verschachtelte, in poetischer Form präsentierte Prophezeiung der Pythia / Medea nimmt nicht nur die historischen Berichte zur Gründung Kyrenes auf,60 sondern verbindet sie auch in einer die semantische Komplexität um eine weitere Dimension erhöhenden Weise konzeptuell – und dies ist eine der entscheidenden Pointen dieser mythischen Passage im Rahmen dieses Epinikions – mit dem gefeierten Wagensieg des Arkesilaos: Pindar beschreibt nämlich die Durchquerung der Wüste durch die Argonauten metaphorisch als Sieg im Wagenrennen, mithin als einen solchen Erfolg, wie ihn Arkesilaos jetzt bei den Pythien errungen hat;61 und dieser metaphorischsportliche Wagensieg der Argonauten wurde wie der Pythiensieg durch den Siegerkranz durch einen symbolisch-magischen Siegpreis belohnt, nämlich den von der einheimischen libyschen Gottheit überreichten Erdklumpen, also das materialisierte Symbol des späteren Besitzes von und der Herrschaft über Libyen und speziell Kyrene durch Battos und seine Nachfahren unter Einschluss des Arkesilaos. Aus dem ‚Sportsieg‘ der Argonauten erwuchs also 60
Vgl. neben Menekles, FGrHist 270 Frg. 6 vor allem Hdt., IV 144–158, das chronologisch nächste Zeugnis für die Gründung Kyrenes; von den zwei dort erzählten Varianten aus kyrenischer (IV 154–158) und theraiischer Sicht (IV 150–153) entspricht Pindars Darstellung im Großen und Ganzen der ersten (trotz des inzwischen erfolgten Sturzes der Königsherrschaft in Kyrene): vgl. OSBORNE, 1996, 8–17, MALKIN, 2003 und CALAME, 2003. Relevant ist (auch in Hinsicht auf Delphi als Orakelort) ebenfalls diejenige Passage in Pythie 4, die nach der Erzählung der Prophezeiung der Pythia Battos’ Begegnung mit der Priesterin in Delphi schildert, und zwar in der Form einer direkten Anrede des Sprechers des Epinikions an ihn (59–67): ὦ µάκαρ υἱὲ Πολυµνάστου, σὲ δ’ ἐν τούτῳ λόγῳ / χρησµὸς ὤρθωσεν µελίσσας Δελφίδος αὐτοµάτῳ κελάδῳ, / ἅ σε χαίρειν ἐστρὶς αὐδάσαισα πεπρωµένον / βασιλέ’ ἄµφανεν Κυράνᾳ, / δυσθρόου φωνᾶς ἀνακρινόµενον ποινὰ τίς ἔσται πρὸς θεῶν. / ἦ µάλα δὴ µετὰ καὶ νῦν, ὥτε φοινικανθέµου ἦρος ἀκµᾷ, / παισὶ τούτοις ὄγδοον θάλλει µέρος Ἀρκεσίλας, / τῷ µὲν Ἀπόλλων ἅ τε Πυθὼ κῦδος ἐξ ἀµφικτιόνων ἔπορεν / ἱπποδροµίας („Glückseliger Sohn des Polymnastos, dich hat in dieser Rede das Orakel der delphischen Biene aufgerichtet mit von selbst kommendem Laut, die dich dreimal willkommen hieß und als den vorherbestimmten König für Kyrene aufzeigte, als du fragtest, welche Wiedergutmachung für die übelklingende Stimme es geben werde von den Göttern. Gewiss danach und auch jetzt, wie in der Blüte des rotblumigen Frühlings, sprießt diesen Kindern als achter Teil Arkesilaos, dem Apollon und Pytho κῦδος verliehen haben aus dem Pferderennen der Amphiktyonen“). 61 Dies wird narrativ insbesondere durch eine metaphorische Aufnahme der Rundenzahl des Wagenrennens geleistet (P. 4,25–27), aber auch durch eine entsprechende metaphorische Aufnahme in der Zwölfzahl der Argonauten (sowie in der komplexen Semantisierung der Zählung der Generationen zwischen Euphamos und Battos; vgl. insgesamt LATTMANN, 2010, 202–204); außerdem wird die Schifffahrt (der Argonauten) insgesamt mit dem Fahren von Wagen (in der Generation des Arkesilaos) gleichgesetzt (vgl. P. 4,17 f. und hierzu LATTMANN, 2010, 187–190).
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gemäß dieser mythologisch-historischen ‚Rekonstruktion‘ der Vergangenheit durch Pindar reale politische Macht, und zwar nicht nur in der mythischen Dimension, sondern angesichts der im Mythos explizit angesprochenen genealogischen Verhältnisse mit ihrer durchgängigen Verbindung zur Gegenwart pointiert auch im Hier-und-Jetzt der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts: Insofern sich Arkesilaos über Battos in direkter Linie auf den Argonauten Euphamos zurückführt, wird seine Herrschaft über Kyrene göttlich legitimiert, und zwar durch einen in mythischer Zeit errungenen ‚sportlichen‘ Sieg; und insofern dieser mythische ‚Wagen‘-Sieg weiter in seiner ‚wahren‘ Natur exakt dem jetzigen Pythiensieg entspricht, wird Arkesilaos’ Herrschaft mit dem jetzigen Pythiensieg zugleich als dessen Quasi-Wiederholung in der Gegenwart erneut legitimiert. Die komplexe narrative Verschachtelung der Prophezeiungen in Verbindung mit der darin aufgenommenen Tiefenrekonstruktion der mythisch-historischen Zusammenhänge repräsentiert und erschafft zugleich eine doppelte Legitimation von Arkesilaos’ Herrschaft über Kyrene – und zwar konzeptuell und sachlich ausgehend vom gerade jetzt errungenen Pythiensieg. Allein diese Zusammenhänge erweisen in Verbindung mit der öffentlichen Aufführungssituation des Epinikions, dass ein Pythiensieg in der Tat eine immense politische Bedeutung hatte; aus ihm leitete sich, vermittelt über das im Siegerkranz materialisierte κῦδος, in der Tat (der Anspruch auf) Einfluss und Macht im Politischen ab. Doch die Gleichsetzung von mythischmetaphorischem Wagensieg und sportlich-realem Wagensieg in Pythie 4 hat in ihrem spezifischen historischen Kontext noch eine über die bloße Legitimation von Arkesilaos’ Herrschaft über Kyrene selbst hinausgehende Bedeutung. Den Schlüssel für diese Einsicht liefert ein Testimonium aus der Schrift Über Kyrene (Περὶ Κυρήνης) des Historikers Theotimos, das in den Scholien zu der für denselben Sieg verfassten Pythie 5 überliefert ist und von einer Neugründung von (Eu-)Hesperides (dem heutigen Bengasi) im kyrenischen Herrschaftsgebiet im Kontext (ansonsten nicht weiter bestimmbarer) politischer oder militärischer Probleme handelt: διαπίπτουσαν δὲ τὴν πρᾶξιν αἰσθόµενος Ἀρκεσίλαος καὶ βουλόµενος δι’ αὑτοῦ τὰς Ἑσπερίδας οἰκίσαι πέµπει µὲν εἰς τὰς πανηγύρεις ἵππους ἀθλήσοντας Εὔφηµον ἄγοντα, νικήσας δὲ τὰ Πύθια καὶ τὴν ἑαυτοῦ πατρίδα ἐστεφάνωσε καὶ ἐποίκους εἰς τὰς Ἑσπερίδας συνέλεγεν. Εὔφηµος µὲν οὖν ἐτελεύτα· Κάρρωτος δὲ τῆς Ἀρκεσιλάου γυναικὸς ἀδελφὸς διεδέξατο τὴν τῶν ἐποίκων ἡγεµονίαν. Als Arkesilaos bemerkte, dass es schlecht um die Angelegenheit stand, und im Willen, dass durch ihn selbst Hesperides gegründet werde, entsandte er zum einen Euphamos mit Pferden, die im Wettkampf konkurrieren sollten, zu den Festversammlungen, und zum anderen bekränzte er nach seinem Pythiensieg seine Heimat und sammelte mit seiner Hilfe
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Siedler für Hesperides. Als Euphamos dann starb, übernahm Karrhotos, der Bruder von Arkesilaos’ Frau, die Führung der Siedler. 62
Nicht nur ist dieser Karrhotos direkt fassbar in dem anderen für den vorliegenden Pythiensieg gedichteten, wohl etwas später nach der endgültigen Rückkehr der Festgesandtschaft aufgeführten Epinikion, Pythie 5; konkret ist er hier als der siegreiche Wagenlenker beschrieben, der Arkesilaos’ Gespann zum Sieg führte und dieses mitsamt Geschirr in Delphi weihte (siehe oben S. 309).63 Sondern aus dieser Perspektive erhält auch der so prominent am Ende von Pythie 5 geäußerte Wunsch nach einem auf den Pythiensieg folgenden Olympiensieg eine pointierte Relevanz, und es wird möglich zu erkennen, dass die sportlichen Anstrengungen des Arkesilaos bei den Pythien nicht nur dem Zeugnis des Theotimos zufolge ein Teil einer großangelegten politischen Unternehmung waren, sondern dass sich dies auch direkt in Pindars Pythie 4 spiegelt.64 Das Lied endet nämlich nicht nach ungefähr sechzig Versen mit der auf die Legitimation von Arkesilaos’ Herrschaft ausgerichteten Prophezeiung der Pythia (und Medea), sondern erzählt in noch über zweihundert weiteren Versen65 die gesamte Argonautenfahrt, in deren Rahmen die in der Prophezeiung angesprochene Wüstendurchquerung stattgefunden hatte – und zwar von deren Anfang aufgrund politischer Probleme in Iolkos bis zum Ende der Wiederherstellung der Ordnung dort durch die Tötung von Pelias und die Übernahme der Macht durch Iason. Der erzählerische Höhepunkt ist jedoch zweifellos die Gewinnung des Goldenen Vlieses in Kolchis mittels einer gefährlichen Pflugprobe, die Iason besteht. Diese Pflugprobe wird aber ebenso wie die Wüstendurchquerung mittels einer sportlichen Metaphorik als Wagensieg gedeutet und so in struktureller Entsprechung mit dem in Pythie 5 (und gemäß dem Theotimos-Zeugnis) erhofften und hierdurch in Pythie 4 verheißenen (und dann zwei Jahre später im Jahr 460 tatsächlich errungenen) Olympiensieg gleichgesetzt, deren symbolischem Siegerkranz auf der Seite des Mythos folglich das Goldene Vlies entspricht – also dasjenige Objekt, um dessentwillen nicht nur die gesamte Argonautenfahrt stattfand, sondern des62
Schol. P. 5,34 = Theotimos, FGrHist 470 Frg. 1; zur Unabhängigkeit des Zeugnisses von Pindar vgl. HORNBLOWER, 2004, 245–247; anders etwa LEFKOWITZ, 1991, 175. Zur möglichen Art der politischen Probleme vgl. LATTMANN, 2010, 246. 63 P. 5,34–42; die Stelle ist oben diskutiert. Zum Verhältnis von Pythie 4 und Pythie 5 siehe oben Anm. 56. 64 P. 5,122–124: ‚Des Zeus großer Sinn steuert das Schicksal der befreundeten Männer. Ich bete, dass er in Olympia dieses Geschenk dem Geschlecht des Battos noch zusätzlich gibt‘ (Διός τοι νόος µέγας κυβερνᾷ / δαίµον’ ἀνδρῶν φίλων. / εὔχοµαί νιν Ὀλυµπίᾳ τοῦτο δόµεν γέρας ἔπι Βάττου γένει). Siehe auch oben S. 303 mit Anm. 17. 65 Welche in der Forschung oftmals als bloße mythologische Ausschmückung angesehen wurden und also nicht als eigentlicher Teil des Epinikions als Preislied für Arkesilaos, zumindest nicht hinsichtlich des Sportlichen: vgl. den knappen Überblick bei LATTMANN, 2010, 184–186.
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sen In-Besitznahme das notwendige, aber auch hinreichende Mittel zur Wiederherstellung der Ordnung in Iolkos war.66 Im Ergebnis parallelisiert Pythie 4 die Argonautenfahrt im Spiegel des Mythos mit der politischen Unternehmung des Arkesilaos in Bezug auf Euhesperides, in deren Rahmen er dem Theotimos-Zeugnis zufolge überhaupt erst an den Pythien und Olympien teilgenommen hatte. Grundlage und zugleich Garant des Erfolgs der Argonautenfahrt war aus dieser Perspektive der Erfolg in der Wüstendurchquerung, für die der Argonaut Euphamos mit dem Erdklumpen belohnt wurde, welcher ja seinerseits die spätere Herrschaft der Battiaden über Kyrene legitimierte. Diesem Erfolg des Argonauten entspricht in der historischen Realität Arkesilaos’ jetziger Sieg bei den Pythien, stellvertretend errungen von einem seiner Gesandten, der dem Theotimos-Zeugnis zufolge ebenfalls den Namen Euphamos trug: Dieser Euphamos hat jetzt für Arkesilaos das erhoffte und benötigte κῦδος erworben, das seine Herrschaft über die Tochterstadt Euhesperides legitimieren und zugleich den Erfolg von deren Neubesiedlung sichern sollte, und zwar insbesondere dadurch, dass Arkesilaos als in seinem Sieg gottgeehrter Anführer von Apollon selbst das Plazet für seine Pläne erhält. Dieses Plazet materialisierte sich konkret im pythischen Kranz, dessen Rückkehr in der Aufführung von Pythie 4 (man beachte den Liedanfang in 1–3 in Verbindung mit dem Liedende in 277–299 zum Boten Damophilos) angekündigt wurde und dann zur Aufführung von Pythie 5 auch tatsächlich stattfand, begleitet nicht nur von Karrhotos und der zurückkehrenden kyrenischen Festgesandtschaft, sondern anscheinend auch von den am Wettkampfort angeworbenen Siedlern für Euhesperides, die sich durch diesen Erfolg dazu begeistern und zugleich überzeugen ließen, Arkesilaos’ Führung bereitwillig zu folgen. Schließlich hatte Apollon selbst in Delphi durch die Gewährung des Sieges der gesamten griechischen Welt offenbart, dass die Unternehmung von Erfolg gekrönt sein wird – ganz in Entsprechung zu der schon zweimaligen prophetischen Verkündigung des Segens und Erfolges des Hauses des Battos in Pythie 4 aus dem Mund der Medea und der Pythia in der Vergangenheit. Angesichts dieser komplexen Verknüpfung von Sport, Heroentum, Kolonisation und Mantik in Pythien 4 und 5 in der poetischen Dimension und, als sachlichem Gegenstück hierzu, in Arkesilaos’ politischer Unternehmung in der historischen Dimension wird am Ende dieser Fallstudie nicht nur Delphi als Ort der Pythischen Spiele allgemein als eines beliebigen griechischen Sportfestes greifbar, sondern die Pythischen Spiele erweisen sich dezidiert als panhellenische Wettspiele, die trotz aller Ähnlichkeit zu den anderen Kranzspielen ihrer Zeit ein ganz besonderes, spürbar ‚apollinisches‘ Profil innehatten. 66
Arkesilaos’ Olympiensieg im Jahr 460 (also bei den nächsten Olympien) bezeugt Schol. P. 4, inscr. a.
Die Pythischen Spiele bei Pindar
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4. Zusammenfassung Ziel der vorangehenden Ausführungen war, Licht auf die Pythischen Spiele zu werfen, und zwar nicht nur als einen integralen Bestandteil der delphischen Kultpraxis, sondern auch als eines der wichtigsten panhellenischen religiösen Feste überhaupt. Zu diesem Zweck wurden Pindars Epinikien und speziell seine Pythien – öffentliche Preislieder für die Sieger aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts – einer näheren Untersuchung unterzogen, und zwar einerseits in Hinblick auf die Erschließung der historischen Gegebenheiten selbst, andererseits in Hinblick darauf, welche weiteren Aufschlüsse sie zur kulturellen Bedeutung der Pythischen Spiele im spezifischen Kontext ihrer Zeit erlauben. Hierzu wurde in einem ersten Schritt ein allgemeiner systematischer Überblick über diejenigen Informationen zu den Pythischen Spielen erarbeitet, die sich explizit in Pindars Epinikien selbst finden oder sich aus ihnen direkt ergeben. Speziell wurden Bezüge auf sporthistorische Aspekte, die relative Bedeutung der Pythischen Spiele als Sportfest sowie lokale und schließlich kultische Gegebenheiten aufgezeigt. Als gemeinsames Merkmal all dieser in den Liedern gegebenen Informationen hat sich allerdings herausgestellt, dass sie selten überraschende Sachverhalte implizieren, sondern dass ihr Zweck im Großen und Ganzen zumeist darin bestand, in einer oralen Rezeptionssituation in möglichst knapper Form bereits bekannte Bezüge zu Delphi und den Pythischen Spielen zu evozieren, die der bloßen Identifikation dienten und den errungenen Erfolg des Siegers transparent an dieses Fest banden. Vor diesem Hintergrund wurde in einem zweiten, hierauf aufbauenden Schritt versucht, die kulturelle Bedeutung der Pythischen Spiele zu Pindars Zeiten anhand von zwei eingehenden Fallstudien in der Tiefe auszuloten. Zum einen hat eine Untersuchung von Pythie 8 die religiöse Dimension der Pythien erhellt und gezeigt, dass ein Sieg dort als eine der größten Gaben des Göttlichen für einen Menschen galt, insbesondere im Angesicht und vor dem Hintergrund der noch immer und gerade in Pindars Pythien fassbaren pessimistischen archaischen Sicht auf die condicio humana: Der Sieger wurde im Sieg direkt vom Göttlichen mit einer übermenschlichen Kraft beschenkt, die ihn seine eigentlich von Natur aus und unhintergehbar vergängliche Menschlichkeit transzendieren und ihn prinzipiell zu einem potentiell noch über seinen Tod hinaus wirkenden gottgleichen Heros werden ließ – ein Umstand, der allerdings insbesondere in Entsprechung zur delphischen Maxime des Maßhaltens in den Epinikien nur angedeutet werden konnte und vor allem nicht stolz und selbstüberheblich explizit verkündet werden durfte. Zum anderen hat Pythie 4 in Ergänzung und Erweiterung hierzu die politisch-soziale Dimension der Pythischen Spiele beleuchtet und am konkreten Beispiel des Sieges des Arkesilaos von Kyrene demonstriert, welche immense Bedeutung
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einem solchen ‚heroischen‘ Erfolg jenseits, aber zugleich eben auch auf der Basis des rein Kultisch-Religiösen zugemessen wurde, sowohl von den Teilnehmern am Wettkampf selbst als auch von der Öffentlichkeit in der Heimatpolis des Siegers ebenso wie in Gesamtgriechenland, die nicht nur den Sieger als neuen Besitzer von heroischer Macht bereitwillig pries, sondern sich auch gern seiner Führung anvertraute – und zwar gerade in seiner Eigenschaft als überragender Sieger in Delphi, hat doch, wie Pindar es pointiert in poetischer Form transparent macht, der Gott selbst mit der Gewährung des Sieges als gewissermaßen praktisches Orakel in der panhellenischen Öffentlichkeit seinen Segen für dessen politische Pläne erteilt. Gerade in der in Pythie 4 fassbaren komplexen Verwebung von Musik, Mantik, Kolonisation, Politik und Sport sind in diesem Sinne zentrale Aspekte des spezifischen Charakters der Pythischen Spiele als eines ganz besonderen agonistischen Festes zu Tage getreten, das in Delphi unter der Schirmherrschaft des Gottes Apollon stattfand.
Das Orakel von Delphi in der attischen Tragödie Heinz-Günther Nesselrath 1. Vorbemerkungen Da die attische Tragödie – von ganz wenigen Ausnahmen1 abgesehen – Stoffe aus dem großen Fundus der griechischen Mythologie auf die Bühne gebracht hat, liegt es nahe, dass in Stücken, in deren Stoff das delphische ApollonOrakel eine Rolle spielt, dieses Orakel auch im Gang der Handlung (in verschiedener Weise) thematisiert wird. In den erhaltenen Tragödien ist dies in zwei bedeutenden Stoffen der Fall: in Stücken, in denen es um den Muttermord des Orest geht, denn dieser wurde (jedenfalls in den gängigen Mythenversionen) vom delphischen Apollon angeordnet; und in Stücken, die die mehrere Generationen (von Laios über Ödipus bis zu dessen Kindern Eteokles, Polyneikes, Antigone und Ismene) umfassende tragische Geschichte des thebanischen Königshauses der Labdakiden dramatisieren, denn hier spielen gleich mehrere delphische Orakel eine wichtige Rolle. Beide Stoffkomplexe sollen im Folgenden nacheinander und als Drittes dann noch der besondere Fall eines Stücks behandelt werden, in dem die Orakelstätte von Delphi sogar durchgehender Handlungsort ist.
2. Das delphische Orakel und der Muttermord des Orestes In der einzigen aus der griechischen Literatur erhaltenen tragischen Trilogie, Aischylos’ im Jahr 458 v. Chr. aufgeführter Orestie, spielt Delphi im zweiten Stück (den Choephoren) und auch im dritten (den Eumeniden) keine unwichtige Rolle, denn dort erhält Orest sowohl den Auftrag2 als auch die Legitimation, aus Rache für die Ermordung seines Vaters (dem Hauptthema des ersten Stücks der Trilogie) seine Mutter Klytaimestra zu töten. Noch während der ersten Wiederbegegnung mit seiner Schwester Elektra – am Grab des Vaters Agamemnon – berichtet der nach Argos zurückgekehrte 1
Phrynichos, Μιλήτου ἅλωσις (vgl. Hdt., VI 21,2); Aischylos, Perser; Agathon, Ἄνθος (vgl. Arist., Poet. 9, 1451b21). 2 Dass Orest gerade in Delphi den Auftrag zum Muttermord erhält, ist vor Aischylos nicht belegt, also wohl aischyleische Erfindung (vgl. VOGT, 1994, 97 mit Anm. 3).
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Orest, Apollons Orakel habe ihm schwere körperliche Strafen angedroht, wenn er seinen Vater nicht räche (Choeph. 269–304),3 und beruft sich später in der gleichen Szene noch einmal auf den „untrüglichen Seher“ (µάντις ἀψευδής, 559) Apollon für sein weiteres Vorgehen. Als er dann später tatsächlich vor seiner Mutter steht und nun in der Tat doch zögert, die tödliche Rache an ihr zu vollziehen, ist es sein sonst während des ganzen Stückes völlig schweigsamer Begleiter und Freund Pylades, der ihn eindringlich die in Delphi erhaltene Weisung (Λοξίου µαντεύµατα / τὰ πυθόχρηστα, 900 f.) erinnert, die den Mord gebietet; dadurch gewinnt Orest seine Entschlossenheit zurück und führt den Muttermord wenig später aus. Nach der Tat lassen die durch diese Tat auf den Plan gerufenen Erinnyen nicht lange auf sich warten; aber kurz bevor Orest durch ihr Nahen in Angst und Sinnesverwirrung versetzt wird, beruft er sich noch einmal auf den delphischen Apollon und sein ebenso eindeutiges wie eindringliches Gebot, um die Gerechtigkeit und Notwendigkeit des Muttermordes zu betonen,4 und kündigt an, er werde auf der Flucht vor den Erinnyen erneut in Delphi Zuflucht suchen, wie es ihm Apollon auch geboten habe.5 Daran knüpft der Beginn des folgenden Stücks, der Eumeniden, unmittelbar an, denn hier befinden wir uns tatsächlich in Delphi selbst, direkt vor dem Apollontempel.6 Es ist früher Morgen, und die Pythia (die den Prolog spricht) ist gerade dabei, in den Tempel zu gehen und ihren Dienst aufzunehmen (vgl. Eum. 1–33). Sie geht hinein, kommt aber sogleich wieder zurück, auf allen Vieren kriechend (vgl. 37) und völlig verstört von dem Anblick, den sie gerade im Inneren des Tempels erlebt hat (beschrieben in 40–59): Drinnen sitzt ein Mann mit blutbefleckten Händen, die ein Schwert und einen Olivenzweig halten, und um ihn herum befindet sich, schlafend, eine Schar von schrecklich anzusehenden Frauen; Gorgonen oder eher noch Harpyien-ähnlich, aber ohne Flügel, schwarz, lassen sie noch im Schlaf aus ihren Mündern ein furchterregendes Schnauben vernehmen, und aus ihren Augen tropft Blut. 3
BROWN, 2018, 237 hebt die ungewöhnliche Länge dieses Orakels hervor: „The responses of the Delphic Oracle were generally brief and notoriously enigmatic [...]; this one must have been the longest and most brutally explicit on record.“ 4 Choeph. 1027–1032: κτανεῖν τέ φηµι µητέρ' οὐκ ἄνευ δίκης, [...] / καὶ φίλτρα τόλµης τῆσδε πλειστηρίζοµαι / (1030) τὸν πυθόµαντιν Λοξίαν, χρήσαντ' ἐµοὶ / πράξαντα µὲν ταῦτ' ἐκτὸς αἰτίας κακῆς / εἶναι, παρέντα δ' – οὐκ ἐρῶ τὴν ζηµίαν. Bereits in 940f. hat der Chor auf den durch den delphischen Gott energisch ins Werk gesetzten Antrieb des aus dem Exil heimkehrenden Rächers Orest hingewiesen. 5 Choeph. 1035–1039: [...] προσίξοµαι / µεσόµφαλόν θ’ ἵδρυµα, Λοξίου πέδον, / [...] / φεύγων τόδ’ αἷµα κοινόν· οὐδ' ἐφ’ ἑστίαν / ἄλλην τραπέσθαι Λοξίας ἐφίετο. In 1059 f. verleiht auch der Chor der Hoffnung Ausdruck, dass der Gang nach Delphi Orest helfen wird. 6 Mit Ausnahme des noch zu besprechenden Ion des Euripides (vgl. unten S. 347) sind die Eumeniden damit die einzige uns bekannte attische Tragödie, in der das delphische Orakelheiligtum Handlungsschauplatz ist.
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Auf Orests Hilferuf hin – denn er ist der von der Pythia beschriebene Mann – tritt nun Apollon selber auf und teilt Orest mit, dass er die ihn umgebenden Erinnyen eingeschläfert hat; Orest soll diesen Schlaf nutzen und zur Akropolis von Athen in den Schutz der Göttin Athena fliehen (64–80).7 Noch bevor die Szene dorthin wechselt – der einzige Szenenwechsel solcher Art in einer uns bekannten attischen Tragödie –, wachen die Erinnyen auf und beginnen, empört über Orests Flucht und Apollons Intervention, ein Streitgespräch mit diesem, in dessen Verlauf sich Apollon noch einmal dazu bekennt, Orest die Rache explizit befohlen und ihn in seinem Tempel aufgenommen zu haben (203–205), und macht deutlich, dass er sich gegenüber Orest als seinem Schutzflehenden verpflichtet fühlt (232). Nachdem die Szene nach Athen gewechselt ist, treffen wir Orest dabei an, wie er im Heiligtum der Göttin Athena und vor ihrem Standbild um Beistand fleht, wobei er sich ausdrücklich auf Apollons Befehl (Λοξίου κελεύµασιν / ἥκω, 235 f.) beruft, und als ihn die ihn verfolgende Schar der Erinnyen an diesem Ort stellt, macht er die an ihm vollzogenen Purifikationsriten am heiligen Herd Apollons in Delphi (πρὸς ἑστίᾳ θεοῦ / Φοίβου, 282 f.) geltend.8 Nachdem die Göttin Athena auf Orests Hilferuf hin selbst erschienen ist, beruft sich Orest auch ihr gegenüber nochmals auf Apollons Befehl, der ihm schwere Strafen bei Zuwiderhandlung angedroht habe (465–467). Als es dann zur entscheidenden Gerichtsverhandlung gegen Orest kommt, ist auch Apollon bemerkenswerterweise anwesend:9 Er tritt als Advokat zugunsten Orests auf (579: ξυνδικήσων αὐτός) und bestätigt ausdrücklich nicht nur, dass er Orest gereinigt hat (578: φόνου δὲ τῷδ’ ἐγὼ καθάρσιος), sondern auch, dass er ihn zuvor zur Ermordung seiner Mutter veranlasste (579 f.: αἰτίαν δ’ ἔχω / τῆς τοῦδε µητρὸς τοῦ φόνου). Im dann stattfindenden Kreuzverhör der Erinnyen beruft sich Orest ebenfalls auf Apollons Befehl (594: τοῖς τοῦδε θεσφάτοισι) und bittet Apollon, ihm mit seinem Zeugnis beizustehen (609 f.). Im Anschluss daran hält Apollon eine ausführliche Verteidigungsrede (625– 673);10 doch beschuldigen die Erinnyen Apollon anschließend, blutbefleckte Orakel zu geben (715 f.). Nachdem dann das Abstimmungsergebnis der Juroren zum Freispruch des Orest geführt hat, weist Athena die Erinnyen noch einmal darauf hin, dass Apollon nicht wollte, dass Orest für seine Tat büßen 7
Die Entsendung Orests nach Athen scheint eine Neuerung des Aischylos zu sein; „vor seiner Orestie war Athen in keiner Weise mit den Ereignissen um Orestes verbunden“ (VOGT, 1998, 42 mit Anm. 44). Dazu, dass „auch die Rolle von Delphi im Orestes-Mythos erst von Aischylos ihre Ausprägung erhielt“, vgl. VOGT, 1998, 44 mit Anm. 51 f. 8 Zu der teilweise widersprüchlich wirkenden Darstellung der an Orest vollzogenen Purifikationen in diesem Stück vgl. COURT, 1994, 281–289. 9 Zur Frage, wann genau er aufgetreten ist (und wann er dann auch wieder abtreten wird), vgl. COURT, 1994, 290–295. 10 Vgl. VOGT, 1994, 103 („eher in der Rolle eines Angeklagten als der eines Verteidigers“).
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muss (798 f.: αὐτός θ’ ὁ χρήσας αὐτὸς ἦν ὁ µαρτυρῶν, / ὡς ταῦτ’ Ὀρέστην δρῶντα µὴ βλάβας ἔχειν). Im zweiten und dritten Stück der aischyleischen Orestie ordnet der delphische Orakelgott Apollon also nicht nur Orests Muttermord ausdrücklich und emphatisch an, sondern steht Orest auch tatkräftig bei, als er nach Vollzug dieses Mordes ein Opfer der auf den Plan gerufenen Erinnyen zu werden droht. In dem erhaltenen Sophokles-Stück, das sich ebenfalls mit dieser Problematik – der von Orest geplanten und an Aigisth wie auch an seiner Mutter Klytaimestra durchgeführten Rache für die Ermordung seines Vaters – beschäftigt, nämlich der Elektra,11 ist Apollons Rolle erheblich geringer:12 Orest berichtet lediglich im Prologteil des Stücks kurz von seinem Gang zu Apollons delphischem Orakel, um sich Rat für die Rache wegen der Ermordung seines Vaters zu holen (32–37).13 Ganz anders dagegen – und viel problematischer – wird dieses Orakel bei Euripides dargestellt. 11
Zum Verhältnis dieses Stücks zu Euripides’ Elektra vgl. unten Anm. 14. Vgl. VOGT, 1994, 103: „Sophokles [...] weist Apollon im Vergleich zu den anderen Orestes-Tragödien die schwächste Bedeutung für das Drama zu.“ 13 Immerhin ist Sophokles der einzige, bei dem Orest eine konkrete Frage an das Orakel stellt (33 f.: ὅτῳ τρόπῳ πατρὶ / δίκας ἀροίµην τῶν φονευσάντων πάρα) und auch eine konkrete Anweisung erhält (36 f.: ἄσκευον αὐτὸν ἀσπίδων τε καὶ στρατοῦ / δόλοισι κλέψαι χειρὸς ἐνδίκου σφαγάς); VOGT, 1994, 98 („Aischylos und Euripides lassen die genauen Umstände der Erteilung des Auftrages – wie ich zeigen möchte: absichtlich – völlig im Dunkeln“). Mit der Bezeichnung der geplanten σφαγαί als Werk „einer im Recht befindlichen Hand“ legitimiert das Orakel Orests tödlichen Anschlag auf die Mörder seines Vaters, wie es das auch bei Aischylos tut (vgl. VOGT, 1994, 101; der von SCHMITZ, 2016, 53 zitierte Einwand, dass χειρὸς ἐνδίκου σφαγάς „auch eine Formulierung Orests sein“ könnte, mithin nichts über die Beurteilung der Tat durch das Orakel aussage, scheint mir nicht zwingend, denn der Zuschauer kam während der Aufführung nicht dazu, solche spitzfindigen Überlegungen anzustellen). VOGT nimmt an, dass Aischylos und Euripides eine Orakelkonsultation des Orest in Delphi deswegen nicht explizit erwähnen, weil Orest schon bei dieser die Problematik des Muttermordes in ihrer vollen Größe hätte aufgehen müssen. Dies scheint mir nicht zwingend: Es ist psychologisch durchaus nachvollziehbar, dass Orest das Entsetzliche des Muttermordes erst dann in voller Wucht trifft, als er seiner Mutter direkt gegenübersteht (Aischylos) oder kurz davor ist (Euripides). Es ist umgekehrt umso bemerkenswerter, dass dem sophokleischen Orest der Muttermord überhaupt keine solchen Schwierigkeiten zu machen scheint. ROISMAN/LUSCHNIG, 2011, 250.255 f. weisen gut darauf hin, dass Orest in Sophokles’ Elektra das Orakel nicht fragte, ob, sondern wie er den Tod seines Vaters rächen solle (dazu gut FINGLASS, 2007b, 103: „a desire to punish the killer of one’s father would be taken for granted in contemporary Greek thought [...] A man needed no oracle to inform him of that duty“). „Although we can assume that the command was given [...], the vengeance does not come across as the divine imperative it is in Aeschylus’ play“ (ROISMAN/LUSCHNIG, 2011, 256; SCHMITZ, 2016, 51/53 neigt eher den Interpreten zu, die meinen, dass der sophokleische Orest das erhaltene Orakel vielleicht falsch versteht, dies aber nicht erkennt). In V. 1425 sieht sich Orest offenbar in völliger Übereinstimmung mit Apollons Willen (dazu FINGLASS, 2007b, 521; einen leisen Zweifel an dieser Gewissheit glaubt SCHMITZ, 2016, 225 zu entdecken). MARCH 2001, 137 12
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Im Anfangsteil von Euripides’ Elektra (Aufführungsdatum: vielleicht um 415 v. Chr.14) kommt Orest, wie er selbst sagt, „vom geheimnisvollen Schrein des Gottes“ (ἐκ θεοῦ µυστηρίων,15 87) zurück nach Argos, um seinen Vater zu rächen. Etwas später betont der noch unerkannte Orest gegenüber seiner Schwester Elektra und ihrem Ehemann, dass auf Apollons Orakel Verlass sei (399 f.: Λοξίου γὰρ ἔµπεδοι / χρησµοί). Doch ändert sich diese Einstellung deutlich, nachdem Aigisthos von Orest und Pylades getötet wurde, und nunmehr die Ermordung Klytaimestras ansteht: Da beginnt Orest, massiv die Sinnhaftigkeit von Apollons Orakel zu bezweifeln, das ihm diesen Muttermord befahl (971–973: ὦ Φοῖβε, πολλήν γ’ ἀµαθίαν ἐθέσπισας / [...] / ὅστις µ’ ἔχρησας µητέρ’, ἣν οὐ χρῆν, κτανεῖν); er vermutet sogar, ein böser Geist in der Gestalt Apollons habe ihm den Befehl zum Muttermord gegeben (979: ἆρ’ αὔτ’ ἀλάστωρ εἶπ’ ἀπεικασθεὶς θεῶι;) und wiederholt, dass ihm des Orakels Anweisung nicht mehr gut erscheint (981: οὔ τἂν πιθοίµην εὖ µεµαντεῦσθαι τάδε). Dass der Muttermord angesichts dieser schweren Bedenken Orests überhaupt stattfindet, ist wesentlich der Entschlossenheit seiner Schwester Elektra zu danken, die eisern am Racheplan festhält und gegenüber ihrem Bruder auch die Untadeligkeit des Orakelspruchs verteidigt – schließlich sei er vom „heiligen Dreifuß“ gekommen (980). Nach der Tat brechen dann freilich beide Geschwister unter der Last ihrer Schuld zusammen; Orest kritisiert Apollon erneut für sein Orakel: Es habe eine höchst obskure Gerechtigkeit besungen (1190 f.: ἀνύµνησας δίκαι’ / ἄφαντα) und nur allzu klares Leid bewirkt (1191 f.: φανερὰ δ’ ἐξέπρα- / ξας ἄχεα), dazu wegen des Mordes Verbannung aus der Heimat f. (zu V. 33 f. und 36 f.) weist frühere Versuche, den bei Sophokles dargestellten Apollon von jeder Verantwortung für den Mutternord freizusprechen, zu Recht zurück. 14 Sowohl das absolute Aufführungsdatum der euripideischen Elektra als auch ihr Verhältnis zur sophokleischen sind bis heute völlig umstritten. ROISMAN/LUSCHNIG, 2011, 28–32 geben einen guten Überblick über den Status quaestionis und begründen – im Rahmen des Möglichen – plausibel, warum sie ein Aufführungsdatum um 415 befürworten und glauben, dass die euripideische Elektra nicht nur auf die aischyleischen Choephoren, sondern auch auf die sophokleische Elektra reagiert (sie machen Letzteres vor allem an der Charakterisierung der Titelfigur fest); MARCH 2001, 21 f. argumentiert jedoch – freilich mit Gründen, die nicht alle überzeugen dürften – dafür, dass die sophokleische Elektra die späteste ist. FINGLASS, 2007b, 2–4 sieht keine Möglichkeit, die Priorität eines der beiden Stücke zu entscheiden. Ähnlich SCHMITZ 2016, 16–19: Er vertritt die Ansicht, dass beide Stücke in großer Nähe zueinander entstanden sind, die Feststellung der Priorität aber nicht möglich ist. Dagegen präsentiert RIEMER, 2014 neue Argumente für die Annahme, dass Sophokles’ Elektra früher war, indem er drei Elemente identifiziert, die für Sophokles’ Elektra charakteristisch seien und die Euripides’ in seinem Stück aufgegriffen habe: „die Figur des Pädagogen, die allzu späte Anagnorisis und die Tötung Aigisths am Hausaltar“ (RIEMER, 2014, 179). 15 Mit diesem etwas rätselhaften Ausdruck muss eine Konsultation in Delphi gemeint sein, vgl. CROPP, 1988, 105 und ROISMAN/LUSCHNIG, 2011, 105.
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(1192 f.: φόνια δ’ ὤπασας / λάχε’ ἀπὸ γᾶς Ἑλλανίδος). Als wenig später der Dioskure Kastor zusammen mit seinem Bruder Polydeukes als deus ex machina erscheint,16 um den völlig verzweifelten Geschwistern einen Ausweg aus ihrer Lage zu weisen, kritisiert auch er Apollons Orakel, das sie in diese Lage gebracht hat (1246: σοφὸς δ’ ὢν οὐκ ἔχρησέ σοι σοφά);17 aber etwas später verkündet er auch, dass Orest auf dem Areopag18 durch Stimmengleichheit freigesprochen werden wird, weil Apollon die Schuld für sein böses Orakel auf sich nehmen wird (1265–1267: ἴσαι δέ σ’ ἐκσώσουσι µὴ θανεῖν δίκηι / ψῆφοι τεθεῖσαι· Λοξίας γὰρ αἰτίαν / ἐς αὑτὸν οἴσει, µητέρος χρήσας φόνον). Dadurch – könnte man sagen – wird die Reputation des Gottes noch so gerade eben gerettet, denn sonst wäre sein Orakel schuld nicht nur am Tod der von Orest getöteten Klytaimestra, sondern auch an dem Orests, dem für seinen Muttermord die Todesstrafe drohte. So gerät dieses Orakel, dessen Inhalt bei Aischylos noch völlig über jede Kritik erhaben war (es wird dort von keinem Menschen und von keinem Gott – auch nicht von den Erinnyen – in Frage gestellt), bei Euripides unter schärfsten Beschuss.19 Der Muttermord an Klytaimestra bildet auch die Vorgeschichte von Euripides’ Stück Orestes (aufgeführt 408 v. Chr.). Hier wird das verhängnisvolle Orakel, mit dem Orest in Delphi den Befehl erhielt, seine Mutter zu töten, in ähnlicher Weise als Auslöser großen Unheils herausgestellt: zum einen von Elektra, als sie sich um ihren von Wahnsinn und Erschöpfung gezeichneten Bruder bemüht (161–165: φεῦ µόχθων. / ἄδικος ἄδικα τότ’ ἄρ’ ἔλακεν ἔλακεν, ἀπό- / φονον ὅτ’ ἐπὶ τρίποδι Θέµιδος ἄρ’ ἐδίκασε / φόνον ὁ Λοξίας ἐµᾶς µατέρος), zum anderen vom Chor in seinem Auftrittslied (327–331: φεῦ µόχθων οἵων, ὦ τάλας, / ὀρεχθεὶς ἔρρεις, / τρίποδος ἄπο φάτιν ἃν ὁ Φοῖ- / βος ἔλακεν ἔλακε δεξάµενος ἀνὰ δάπεδον / ἵνα µεσόµφαλοι λέγονται µυχοί). In V. 276 sagt auch der halluzinierende Orest zu den von ihm imaginierten Erinnyen, sie sollten den Gott, der das Orakel gab, für seine, Orests, Tat verantwortlich machen (τὰ Φοίβου δ’ αἰτιᾶσθε θέσφατα); luzider geworden, gibt er auch gegenüber seiner Schwester die 16
Man kann sich fragen, warum hier nicht Apollon – als durch sein Orakel sehr stark in den Muttermord involvierter – erscheint, so wie er es im Orestes tut (vgl. unten). Dazu CROPP, 1988, 182: „It is significant that Apollo does not appear himself and is thus left open to criticism.“ 17 Kastor wiederholt seine Kritik am Orakel in V. 1302 (Φοίβου [...] ἄσοφοι γλώσσης ἐνοπαί); in 1296 f. schreibt er Apollon die direkte Verantwortung für den Muttermord zu (Φοίβωι τήνδ’ ἀναθήσω / πρᾶξιν φονίαν). 18 Nach Kastors Anweisungen soll Orest Argos verlassen und sich nach Athen begeben (1250–1255); Delphi als Zwischenstation (vgl. Aischylos’ Choephoren und Eumeniden) kommt hier überhaupt nicht mehr vor (vgl. ROISMAN/LUSCHNIG, 2011, 252). 19 Vgl. ROISMAN/LUSCHNIG, 2011, 250: In den drei Stücken, in denen Orests Muttermord dargestellt wird, sei der euripideische Apollon „the only one to be declared wrong“.
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Schuld für die Anstiftung zum Muttermord Apollon (285–287: Λοξίαι δὲ µέµφοµαι, / ὅστις µ’ ἐπάρας ἔργον ἀνοσιώτατον / τοῖς µὲν λόγοις ηὔφρανε τοῖς δ’ ἔργοισιν οὔ), und er beruft sich auf den Befehl des Gottes auch gegenüber Menelaos, der daraufhin dieses Handeln des Gottes sehr tadelt (416 f.: ΟΡ. Φοῖβος, κελεύσας µητρὸς ἐκπρᾶξαι φόνον. / ΜΕ. ἀµαθέστερός γ’ ὢν τοῦ καλοῦ καὶ τῆς δίκης). Das Orakel spielt ferner eine wichtige Rolle, als sich Orest gegen die wütende Anklagerede, die Tyndareos, der Vater der von ihm ermordeten Klytaimestra, gegen ihn hält (491–541), verteidigen muss (544–601): Seine Berufung auf Apollon und sein Gebot, Orests Vater zu rächen (591–599), bildet Orests letztes (und vielleicht auch wichtigstes) Argument; es macht freilich Apollon zum eigentlichen Angeklagten. Am Ende des Stücks, in völlig verfahrener Situation – Orest und Pylades haben nach ihrem erfolglosen Versuch, Helena zu töten, ihre Tochter Hermione als Geisel genommen und drohen nun, sie umzubringen, während ihr Vater Menelaos sich anschickt, mit Waffengewalt gegen das Freundespaar vorzugehen – erscheint dann bemerkenswerterweise ausgerechnet Apollon als deus ex machina (1625–1679), um die Handlung zu einem Ende zu bringen. Dabei schickt er nun aber Orest zuerst für ein Jahr zu einer arkadischen Lokalität und anschließend nach Athen; d.h. auch hier20 spielt Delphi nicht mehr die Rolle der wichtigen Zwischenstation, die es am Beginn von Aischylos’ Eumeniden hatte, bevor Orest dann in Athen von seiner Blutschuld freigesprochen wurde. Ganz ohne weitere Bedeutung ist Delphi aber auch hier nicht: Dort wird nämlich Neoptolemos getötet werden, als dieser von Apollon Kompensation für die Mitwirkung an der Tötung seines Vaters Achill einfordern will (1656 f.), und damit wird Menelaos’ Tochter Hermione frei, um die Frau Orests werden zu können. Diese Geschichte spielt – in etwas abgewandelter Form – eine größere Rolle in einem anderen Euripides-Stück, nämlich der Andromache von etwa 425 v. Chr.:21 Hier berichtet die Titelheldin Andromache in ihrem Prolog, Neoptolemos sei nach Delphi gegangen, um von Apollon Verzeihung für einen früheren Fauxpas zu erlangen;22 er hatte nämlich bei einem früheren Besuch des Orakels von dem Gott Genugtuung für den Tod seines Vaters Achill gefordert (Andr. 49–55). Am Ende des Stücks stellt sich heraus, dass dieser Besuch fatale Folgen hat, denn der nun auftretende Orest kündigt an, er habe Neoptolemos in Delphi eine tödliche Falle gestellt (995–1005), indem er
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Vgl. bereits oben Anm. 18 zu Euripides’ Elektra, wo Delphi ebenfalls ausgelassen ist. Vgl. STEVENS, 1971, 19; LLOYD, 1994, 12. 22 Andr. 1161–1165: τοιαῦθ’ ὁ τοῖς ἄλλοισι θεσπίζων ἄναξ, / ὁ τῶν δικαίων πᾶσιν ἀνθρώποις κριτής, / δίκας διδόντα παῖδ’ ἔδρασ’ Ἀχιλλέως. / ἐµνηµόνευσε δ’ ὥσπερ ἄνθρωπος κακὸς / παλαιὰ νείκη· πῶς ἂν οὖν εἴη σοφός; Dieser zweite Besuch des Neoptolemos in Delphi könnte eine euripideische Neuerung sein; vgl. LLOYD, 1994, 2. 21
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dort bewaffnete Verbündete auf ihn angesetzt habe (999).23 Als der Chor dem Großvater des Neoptolemos, Peleus, diese Falle enthüllt (1063–1065), ist es bereits zu spät, denn kurz darauf meldet ein Bote den erfolgreich vollzogenen Anschlag (1073–1075) und berichtet anschließend den genaueren Hergang (1085–1165): Neoptolemos wurde angegriffen (und schließlich getötet), während er dem Gott Opfer darbrachte und zu ihm betete!24 Am Schluss äußert der Bote deutliche und bittere Kritik am Verhalten Apollons: Wie kann ein Gott, der allen ein „Richter des Gerechten“ sein will, nachtragend wie ein schlechter Mensch sein und ein solches Verbrechen in seinem Heiligtum zulassen?25 Am Schluss ordnet die als dea ex machina erscheinende Göttin Thetis – Peleus’ einstige Gemahlin und Neoptolemos’ Großmutter – an, dass Neoptolemos in Delphi direkt im Zentrum des Heiligtums bestattet werden 26 und damit eine beständige Erinnerung für das dort vollzogene Gewaltverbrechen sein soll (1239–1242). In diesem Stück wird Delphis Heiligtum also sogar zum Ort eines kaltblütig durchgeführten Verbrechens. Das Orakel spielt eine wichtige Rolle auch noch in einer Fortsetzung der Orest-Geschichte, die in Euripides’ Iphigenie bei den Taurern (aufgeführt im Zeitraum 414–412 v. Chr.27) dargestellt wird: Hier erzählt Orest, nachdem er seine Schwester wiedergefunden hat, wie er, nach dem Muttermord von den Erinnyen verfolgt, sich hilfesuchend an das delphische Orakel wandte und von dort – wie in Aischylos’ Eumeniden – nach Athen und zum Prozess auf dem Areopag geschickt wurde (IT 940– 944), und wie dieser Prozess – nicht zuletzt dank der Zeugenaussage Apollons (965) – durch Stimmengleichheit der Jury mit seinem Freispruch endete (965–967). Nun aber weicht Orests Bericht vom Hergang der Eumeniden ab: Nur ein Teil der Eumeniden akzeptierte das Urteil, ein anderer dagegen tat dies nicht, sondern setzte die Drangsalierung Orests fort (968–971). Daraufhin floh Orest noch einmal nach Delphi und setzte hier nun den Orakelgott massiv unter Druck, indem er ihm androhte, sich im Heiligtum durch einen 23
Auch diese Rolle Orests in der Tötung des Neoptolemos könnte eine Hinzufügung des Euripides sein; vgl. LLOYD, 1994, 2. Es ist umstritten, ob Orest bei dieser Tötung selbst anwesend war und mitwirkte (so LLOYD, 1994, 152) oder ausschließlich andere die Tat durchführen ließ (so z.B. LESKY, 1947; in jedem Fall hatten die Delpher bei dieser Tötung die Hauptrolle. 24 Zur möglichen Verortung der hier beschriebenen Vorgänge im delphischen Apollontempel bzw. seiner unmittelbaren Umgebung vgl. STEVENS, 1971, 225 f.; LLOYD, 1994, 156. 25 Zur Frage, wieweit man die hier an Apollon geäußerte Kritik auf Euripides übertragen kann, vgl. STEVENS, 1971, 235: „Euripides [...] has chosen to present, if not originate, the version of N[eoptolemus’] death that is most [...] discreditable to Apollo and Delphi.“ Vgl. auch LLOYD, 1994, 159: „the god’s vindictiveness is emphasized by the mythological innovation of N[eoptolemus] being killed while trying to apologize.“ 26 Zur Grabstätte des Neoptolemos in der Nähe des Apollontempels vgl. Paus., X 24,6. 27 Vgl. KYRIAKOU, 2006, 40.
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Hungerstreik das Leben zu nehmen, sollte Apollon ihm nicht helfen (972– 975). Dies veranlasste den Gott dann zu einem weiteren Orakelspruch (977: αὐδὴν τρίποδος ἐκ χρυσοῦ λακών), mit dem er Orest ins ferne Taurerland (die heutige Halbinsel Krim am Nordufer des Schwarzen Meeres) schickte, um dort eine Artemis-Statue zu stehlen (!), sie nach Athen zu bringen und dadurch die ihn peinigenden Erinnyen loszuwerden (977–981);28 damit wird die Handlung des ganzen Stückes durch diesen Orakelspruch (der eine euripideische Erfindung sein dürfte29) ausgelöst. Als dann im Mittelteil der gefangene Orest kurz davor steht, geopfert zu werden (noch dazu von seiner eigenen Schwester), äußert er sehr bittere Worte über den Gott, der ihn mit seinen Orakeln in diese Lage gebracht hat;30 doch wird die weitere Entwicklung der Handlung erweisen, dass Apollons Orakel Orest nicht in den Untergang, sondern zur schließlichen Rettung führte.
3. Das delphische Orakel und das Schicksal des Labdakidenhauses In den Tragödien, die das Schicksal des Labdakidenhauses (namentlich das des Königs Laios, seines Sohnes Ödipus und seiner Mutter Iokaste sowie ihrer beider Söhne Eteokles und Polyneikes) behandeln, spielt Delphi und sein Orakel ebenfalls oft eine prominente Rolle. Dies ist zum ersten Mal in der thebanischen Trilogie des Aischylos (aufgeführt 467 v. Chr.) der Fall, von der nur das letzte Stück, die Sieben gegen Theben, erhalten ist; doch ist die Handlung der beiden vorangehenden zumindest in den Hauptzügen klar: Im Laios wurde die Titelfigur von einem delphischen Orakel 31 eindringlich davor gewarnt, Nachkommenschaft zu 28
Eine erste Fassung dieser Vorgeschichte gibt Orest bereits im Anfangsteil des Stücks (77–92), wo er jedoch die ganze „athenische Phase“ (mit Areopag-Prozess) auslässt, so dass man meinen könnte, das delphische Orakel hätte Orest direkt ins Taurerland (ohne die Zwischenstation Athen) geschickt; vgl. KYRIAKOU, 2006, 74. Auch in ihrem Auftritt als dea ex machina kommt Athena noch einmal kurz auf das Apollon-Orakel zu sprechen, das Orest ins Taurerland geführt hat. 29 Vgl. VOGT, 1998, 39. 30 IT 711–715: „Mich aber hat Apoll, der weise Seher, / Betrogen. Listig hat er’s eingerichtet, / Mich weit, recht weit von Hellas wegzusenden, / Weil er sich seiner früher’n Sprüche schämte. / Ihm gab ich ganz mich hin; ich ward zum Mörder / Der Mutter aus Gehorsam gegen ihn, / Und dafür büss’ ich jetzt mit meinem Leben“ (ἡµᾶς δ’ ὁ Φοῖβος µάντις ὢν ἐψεύσατο· / τέχνην δὲ θέµενος ὡς προσώταθ’ Ἑλλάδος / ἀπήλασ’, αἰδοῖ τῶν πάρος µαντευµάτων. / ὧι πάντ’ ἐγὼ δοὺς τἀµὰ καὶ πεισθεὶς λόγοις, / µητέρα κατακτὰς αὐτὸς ἀνταπόλλυµαι); Übersetzung: FINSLER 1998, 27 [hier V. 771–777]. 31 Vgl. den Rückblick auf das Orakel in Sept. 745–749: Ἀπόλλωνος [...] / τρὶς εἰπόντος ἐν / µεσοµφάλοις Πυθικοῖς / χρηστηρίοις θνῄσκοντα [scil. Λάιον] γέν- / νας ἄτερ σῴζειν πόλιν. Erstmals belegt ist das Laios-Orakel in Pindars 2. Olympischer Ode
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zeugen;32 er tat es trotzdem und brachte dadurch Ödipus hervor, der zu seinem Mörder wurde.33 Das Stück endete wahrscheinlich mit Laios’ Tod, doch blieb der Täter zunächst unerkannt.34 Seine Aufdeckung erfolgte im zweiten Stück, dem Oidipus, wie auch die Enthüllung, dass Ödipus nach der Überwindung der Sphinx unwissentlich eine eheliche Verbindung mit seiner eigenen Mutter eingegangen war und unter anderem die zwei Söhne Eteokles und Polyneikes gezeugt hatte; mit deren wechselseitiger Tötung in den Sieben gegen Theben sollte dann der seit Laios auf dem Labdakidenhaus liegende Fluch an sein Ende gelangen, indem der Untergang dieses Geschlechts - der nach dem Willen des Orakels eigentlich schon durch die Kinderlosigkeit des Laios (als Strafe für dessen Verbrechen an Chrysippos) eintreten sollte – durch den Ungehorsam des Laios zwei Generationen später „nachgeholt wurde“.35 Während das die gesamte aischyleische Trilogie überschattende LaiosOrakel aus einigen kurzen (mehr andeutenden) Rückblicken in den Sieben gegen Theben rekonstruiert werden muss,36 erweist sich Delphis Orakel in (V. 38–40) von 476 v. Chr., wobei hier nichts dazu gesagt wird, weshalb Laios die Prophezeiung, er werde von der Hand seines Sohnes sterben, erhält (vgl. MANUWALD, 2012, 10). 32 Wie eng dieses Orakel in Aischylos’ Trilogie mit Laios’ Vergehen an Pelops’ Sohn Chrysippos zusammenhing, ist nicht mehr feststellbar (vgl. HUTCHINSON, 1985, xxiii), doch ist die Vermutung eines solchen Zusammenhangs zumindest sehr attraktiv (vgl. LLOYD-JONES, 1983, 120f.; dagegen WEST, 1999, 37–42, worauf LLOYD-JONES, 2005, 31 f. und 33 f. wiederum antwortet), und er findet sich bereits im sogenannten PeisanderScholion (= Schol. Eur. Phoen. 1760, ausführlich dargestellt und kommentiert bei LLOYDJONES, 2005, 20–30). Die Rekonstruktion der aischyleischen Tetralogie bei SOMMERSTEIN, 2010, 84–90 erörtert nicht, weshalb Laios (und zwar sogar dreimal: Sept. 745–749) das Orakel erhielt, das ihn davor warnte, Nachkommenschaft zu zeugen (vgl. auch SOMMERSTEIN, 2015, 473: „There is no trace of the Laius-Chrysippus story before Euripides“; ähnlich GAGNÉ, 2013, 360 Anm. 67). FINGLASS, 2018, 31 weist darauf hin, dass eine Verbindung zwischen Laios’ Chrysippos-Frevel und der Vorhersage von Laios’ Tod durch seinen Sohn möglicherweise in Euripides’ verlorenem Chrysippos behandelt wurde. 33 Vgl. wiederum den Rückblick in Sept. 750–752: κρατηθεὶς δ' ἐκ φιλᾶν ἀβουλιᾶν / ἐγείνατο µὲν µόρον αὑτῷ, / πατροκτόνον Οἰδιπόδαν. 34 Vgl. HUTCHINSON, 1985, xxiii f. 35 Dazu, dass in den Sieben mit dem Bruderkampf das Ende des Königsgeschlechts herbeigeführt wird, auch wenn es in anderen Mythenversionen Nachkommen des Eteokles (Laodamas) und des Polyneikes (Thersandros) gibt, vgl. HUTCHINSON, 1985, xxviii. 167.175. In Sept. 800–802 weist der Bote, der Eteokles’ und Polyneikes’ Tod verkündet, darauf hin, dass Apollon mit diesem Tod „für das Geschlecht des Oidipus die alte Unvernunft des Laios zur Erfüllung bringt“ (801f.: ἄναξ Ἀπόλλων [...] Οἰδίπου γένει / κραίνων παλαιὰς Λαΐου δυσβουλίας); in 691 nennt Eteokles selbst „von Phoibos gehasst das ganze Geschlecht des Laios“ (Φοίβῳ στυγηθὲν πᾶν τὸ Λαΐου γένος). 36 HUTCHINSON, 1985, xxviii f. weist darauf hin, dass dieses Orakel Laios vielleicht umfangreicher auf die Folgen seines Ungehorsams aufmerksam machte, als dies die genannten Rückblicke erkennen lassen.
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Sophokles’ König Ödipus, der wahrscheinlich in den späteren 430er Jahren v. Chr.37 auf die Bühne gebracht wurde, von Anfang an und durchgehend sehr präsent. Schon in seinem einleitenden Gespräch mit dem Priester berichtet Ödipus, dass er angesichts der großen Notlage der unter der Seuche leidenden Stadt seinen Schwager Kreon nach Delphi geschickt hat, um beim Orakel Rat und Hilfe gegen das gegenwärtige Unheil zu erhalten (OR 69–72). Als Kreon kurz darauf zurückkommt, hat er in der Tat eine klare Weisung des Orakels zu vermitteln (96–98):38 „eine Befleckung des Landes, die auf diesem Boden genährt sei, aus ihm zu vertreiben und nicht weiter zu nähren, so dass sie unheilbar wird“; sodann identifiziert Kreon mit dieser „Befleckung“ die Ermordung des früheren Königs Laios (100–107). Bei Kreons weiteren Erläuterungen stellt sich heraus, dass Laios diesem Verbrechen zum Opfer fiel, als er seinerseits unterwegs zum delphischen Orakel 39 war (114). Jedenfalls ist Ödipus nunmehr entschlossen, durch neue Aufklärungsbemühungen zu diesem Fall der delphischen Weisung – die der Chor bald darauf (151 f.) als Wort des Zeus selbst bezeichnet – Folge zu leisten (135–137. 145 f.). Auch bei seiner folgenden Proklamation, die alle Bürger auffordert, zur Aufdeckung des Laios-Mörders beizutragen, nennt er sich einen „Mitstreiter“ des Gottes (und des Toten; 244 f.), und vor dem dann herbeigeholten Seher Teiresias wiederholt Ödipus ebenfalls noch einmal Apollons Weisung (305– 309). Als dieses Gespräch sich dann jedoch zu einem bitteren Streit zwischen dem Seher und dem immer aufgebrachteren Ödipus entwickelt, weist Teiresias darauf hin, dass Ödipus nicht durch ihn (Teiresias), sondern durch Apollon fallen werde (376 f.). Mitten in diesem Streit erinnert der Chor noch einmal daran, dass man sich doch darauf konzentrieren möge „dass wir die Weissagung / des Gottes möglichst gut erfüllen“ (406 f.), und auch das folgende Chorlied stellt die Frage, auf wen sich Apollons Weisung bezieht, in den Mittelpunkt (463–482). Im Zentrum des folgenden Epeisodion steht zunächst die Auseinandersetzung zwischen dem nunmehr eine breit angelegte Verschwörung witternden Ödipus und Kreon (den Ödipus als Kopf dieser Verschwörung ansieht). Im Verlauf dieser Auseinandersetzung bittet Kreon Ödipus, doch selbst nach Delphi zu gehen und die Wahrheit seines Berichts über das gegebene Orakel zu überprüfen (603 f.).
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Zu dieser Datierung vgl. MANUWALD, 2012, 6 f. FINGLASS, 2018, 3 tendiert ebenfalls zu dieser Dekade, hält aber auch eine Erstaufführung in den 440er oder 420er Jahren für möglich. 38 Die Übersetzung dieser und weiterer Verse aus dem Stück stammt von MANUWALD, 2012. 39 Das hier mit den Worten θεωρός [...] ἐκδηµῶν aber nur sehr implizit bezeichnet ist. Das Ziel von Laios’ theoria wird hier nicht genannt.
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Mit dem Auftreten von Ödipus’ Gemahlin (und Mutter) Iokaste (ab 634) – und nach dem Abgang Kreons (nach 677) – tritt nun aber erstmals ein anderes Orakel in den Fokus der Diskussion: Als Ödipus Iokaste davon in Kenntnis setzt, dass Teiresias ihn des Mordes an Laios beschuldigt habe, berichtet sie – um diese Behauptung des Sehers zu entwerten – ihrerseits Ödipus von dem Orakel, das Laios einst von Dienern Apollons40 erhalten habe: Es sei sein Schicksal,41 von der Hand seines (und ihres) eigenen Sohnes zu sterben (711– 714). Dies aber – fährt Iokaste fort (715–719) – sei mitnichten eingetreten, da Laios’ Sohn schon bald nach seiner Geburt im Gebirge ausgesetzt und Laios selber später von Räubern an einem Dreiweg erschlagen worden sei. Mit diesen Hinweisen löst sie jedoch bei Ödipus nun gerade Unruhe aus: Er fühlt sich durch bestimmte von Iokaste genannte Details (namentlich den Dreiweg) an eine eigene Begegnung erinnert, bei der er tödliche Gewalt ausübte. 42 Als er dann weitere Details von Iokaste erfährt, wird ihm immer klarer, dass wirklich er selbst derjenige gewesen sein könnte, der Laios erschlug (742– 754). Als nun Iokaste ihrerseits Ödipus nach dem Grund seiner immer größeren Beunruhigung befragt, berichtet er von dem Orakel, das er selber in Delphi erhielt, als er sich an das Heiligtum gewandt hatte, um Klarheit über seine eigene Herkunft zu erhalten (787 f.):43 Es sei ihm bestimmt (χρείη, 791), 40
Da Iokaste auch dieses Orakel entwerten will – weil es sich ihrer Meinung nach als falsch erwiesen hat –, achtet sie sorgfältig darauf, es nicht Apollon selbst zuzuweisen: χρησµὸς γὰρ ἦλθε Λαΐῳ ποτ’, οὐκ ἐρῶ / Φοίβου γ’ ἀπ’ αὐτοῦ, τῶν δ’ ὑπηρετῶν ἄπο (711 f.). 41 Damit erhält das Orakel eine deutlich andere Ausrichtung als bei Aischylos (vgl. oben Anm. 31) und bei Euripides (vgl. unten Anm. 53 sowie MANUWALD, 2012, 167 und FINGLASS, 2018, 31 f.): Während dort Laios alles Unheil hätte vermeiden können, wenn er keinen Sohn mit Iokaste gezeugt hätte, skizziert das Laios-Orakel in der Formulierung der sophokleischen Iokaste ein feststehendes Schicksal (µοῖρα, 713), dem Laios schlicht nicht entgehen kann. Dagegen vertritt KOVACS, 2009, 366 (wie auch LLOYD-JONES, 1983, 119 f.) die These, dass es keinen wirklichen Unterschied zwischen den Orakelfassungen bei Aischylos und Sophokles gibt; vgl. aber neben den zitierten Hinweisen aus MANUWALD, 2012 und FINGLASS, 2018 etwa KULLMANN, 1994, 108: „Jedoch ist bei Sophokles offensichtlich bewußt der Alternativcharakter des Orakels [...] ausgeblendet: Bei Aischylos war Apollons Spruch ausdrücklich als Verbotsorakel gekennzeichnet, das Laios die Freiheit ließ, sich gegen eine Zeugung zu entscheiden.“ 42 Vgl. MANUWALD, 2012, 171, der auch darauf hinweist, dass Sophokles den geographischen Ort des Zusammentreffens gegenüber Aischylos so verändert hat, dass an ihm der von Delphi kommende Ödipus und der auf dem Weg nach Delphi befindliche Laios aufeinandertreffen konnten: „Offenbar wollte Sophokles in seiner Version die Rolle des delphischen Orakels verstärkt hervortreten lassen.“ Vgl. dazu bereits RUSTEN, 1996, 101 sowie FINGLASS, 2018, 34 f. und 393 f. 43 SOMMERSTEIN, 2015, 478 hält dieses Orakel, das Ödipus in Delphi erhielt, für eine Erfindung des Sophokles (vgl. auch bereits MANUWALD, 1992, 9–11 und MANUWALD, 2012, 13); FINGLASS, 2018, 34 weist darauf hin, dass es jedenfalls vor Sophokles’ König
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seine Mutter zu heiraten, mit ihr Kinder zu zeugen und seinen Vater zu töten (790–793). Danach erzählt er von der schon erwähnten Begegnung, die für die meisten der ihm Begegnenden tödlich ausging (798–813), und rechnet nunmehr deutlich damit, dass er in der Tat der Mörder des Laios sein könnte und deshalb jetzt – wie in seiner eigenen früheren Proklamation festgelegt – in Verbannung gehen müsste (813–824). Er rechnet ferner aber damit, dass ihm das vom Orakel Vorhergesagte (Inzest mit der Mutter und Tötung des Vaters) immer noch bevorsteht und äußert nun auch erstmals Kritik an der „grausamen Gottheit“ (ὠµὸς δαίµων, 828), die ihn mit einem solchen Schicksal geschlagen hat (825–829). Iokaste versucht nun, ihn (und auch sich selbst) durch den Hinweis zu beruhigen, dass bereits die Laios gegebene Weissagung sich als manifest falsch erwiesen habe – denn der, der ihr zufolge Laios erschlagen musste, nämlich sein leiblicher Sohn, sei bereits wenige Tage nach seiner Geburt selbst umgekommen (852–856) –, und deswegen sei generell auf Sehersprüche (auch auf den, den Ödipus in Delphi bekommen habe) nichts zu geben (857 f.). In seinem folgenden Lied lässt sich der Chor von dieser Argumentation wenn nicht überzeugen, so doch zumindest stark beeindrucken: Er werde nicht mehr die großen Orakelstätten – allen voran Delphi – aufsuchen, wenn sich die Orakelstätten nicht mehr als verlässlich erwiesen (899–902); und als Beispiel für diese beunruhigende Entwicklung nennt er gerade das Laios-Orakel (906– 908), das Iokaste als eben nicht erfüllt und damit unzutreffend dargestellt hatte. Nun aber löst der im folgenden Epeisodion unvermittelt auftretende Mann aus Korinth einen verhängnisvollen „Erkenntnisschub“ aus, der zuerst Iokaste und im nächsten Epeisodion auch Ödipus die tragische Wahrheit ihrer Existenz vor Augen führt: Als der Korinther Iokaste mitteilt, der korinthische König Polybos sei tot (941), sieht diese sich sogleich in ihrer Ablehnung falscher Orakel bestätigt, denn Ödipus könne nun ja nicht mehr seinen Vater Polybos töten, obwohl das Orakel dies vorausgesagt hatte (946–949); und auch der nun hinzutretende Ödipus glaubt daraufhin für einen kurzen Moment, Delphis Orakel hätte sich geirrt, und seine Sprüche seien nichts wert (966–972). Doch dann holt ihn die Furcht wieder ein, der andere Teil des ihm zuteilgewordenen Orakels, nämlich der drohende Inzest mit seiner Mutter, könnte doch noch wahr werden (976. 985 f. 988). Der Korinther erkundigt sich nun, wovor genau Ödipus Angst hat, erfährt den doppelten Inhalt des Orakels und sieht sich daraufhin veranlasst, Ödipus darüber aufzuklären, dass Ödipus nicht belegt ist. Aufgrund dieses Orakels kehrt Ödipus nicht nach Korinth zurück – um eben nicht in die Gefahr zu geraten, seinen „Vater“ Polybos zu töten –, sondern zieht Richtung Theben und begegnet dann Laios – mit den bekannten fatalen Konsequenzen. Doch heißt dies nicht, dass Apollon damit für die Tötung des Laios durch Ödipus verantwortlich ist; sein Orakel sagt einfach das voraus, was in Sophokles’ Stück unweigerlich kommen muss (vgl. die nächste Anm.).
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der verstorbene Herrscher von Korinth und seine Frau gar nicht seine leiblichen Eltern sind (1002–1020); als der Korinther dann noch erläutert, er selber habe einst den kleinen Ödipus mit durchbohrten Füßen im Kithairongebirge von einem Untergebenen des Königs Laios übernommen und nach Korinth zum dortigen Herrscherpaar gebracht (1022–1044), wird Iokaste – die dies alles ebenfalls hört – klar, dass Ödipus ihr eigener seinerzeit ausgesetzter Sohn ist. Sie versucht noch, Ödipus von weiteren Nachforschungen abzuhalten; als ihr dies nicht gelingt, geht sie nach ihren letzten Worten (1071 f.) in den Palast, um sich das Leben zu nehmen. Bei Ödipus’ Verhör des alten Laios-Dieners im nächsten Epeisodion ergibt sich, dass Iokaste den kleinen Ödipus dem Diener zur Aussetzung gab, weil sie sich vor schlimmen Göttersprüchen fürchtete (1175: Θεσφάτων γ’ ὄκνῳ κακῶν), womit das LaiosOrakel gemeint ist, wie der nächste Vers bestätigt; gleich danach stürzt Ödipus, dem nunmehr klar ist, dass das ihm gegebene Orakel sich in allen Punkten als richtig erwiesen hat, ins Haus, um sich zu blenden. Wenn der blinde Ödipus schließlich behauptet, es sei Apollon gewesen, der ihn dazu gebracht habe, sich die Augen auszustechen (1330 f.), so könnte „Apollon“ eine Umschreibung für die grausigen Orakelsprüche sein,44 die die furchtbaren Taten 44 MANUWALD, 2012, 267 spricht in diesem Zusammenhang vom „Wirken Apollons“ (vgl. auch FINGLASS, 2018, 576). Apollon hat im Wesentlichen zwei Dinge getan: Er hat zum einen die Handlung des Stücks dadurch ausgelöst, dass er die Seuche über Theben gebracht hat und dann auf Kreons Anfrage in Delphi verkündete, was nun in Theben zu tun sei (vgl. MANUWALD, 1992, 11 und 2018, 14; KULLMANNN, 1994, 108 bezeichnet beides explizit als „sophokleisch“, d.h. als Neuerung), und er hat zum anderen – schon erheblich früher – verkündet, was in der Darstellung des Sophokles als vorherbestimmtes Schicksal unweigerlich eintreten musste. Dass dieses Schicksal ein vorausgehendes Verbrechen des Laios sühnt – wie Aischylos in seiner thebanischen Trilogie dargestellt hat –, wird in Sophokles’ Stück nirgends thematisiert. Vgl. FINGLASS, 2018, 74: „in Oedipus the King there is no indication that Oedipus is being punished for any hereditary fault, or that his family is somehow hated by the gods [...] Sophocles has deliberately made it difficult to explain why Oedipus endures the appalling misery inflicted upon him“; ähnlich bereits MANUWALD, 2012, 13. Im Folgenden schließt sich FINGLASS weitgehend an CAIRNS, 2013 an, für den Apollon eine größere Rolle hat als nur die, Ödipus’ unausweichliches Schicksal zu verkünden: „it is Oedipus’ moira to fall at the hands of Apollo, and Apollo is seeing to it that this will in fact happen“ (CAIRNS, 2013, 128). Dies würde jedoch zu folgendem paradoxen Resultat führen (FINGLASS, 2018, 75): „This is a play where the gods, particularly Apollo, are actively involved in punishing a man who has committed no crime and is not paying for any offence of an ancestor.“ Vielleicht ist es da besser, statt der „apparently motiveless malignity [scil. of the gods] that lies behind their hostility to Oedipus“ (FINGLASS, 2018, 76) doch eher so etwas wie ein unergründliches Schicksal zu postulieren, gegenüber dem auch Götter wie Apollon letztlich nur die Funktion eines Handlangers erfüllen. KOVACS, 2009 hat sogar erweisen wollen, „that it is Apollo who induces him [= Oedipus] to commit parricide and incest“ (359): „because Apollo knows more than Oedipus and because he can withhold information from him when he wants and supply it where it will
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ankündigten, denen weder Laios noch Ödipus trotz allen Bemühens zu entgehen vermochten. Im letzten Dialog des Stücks zwischen Ödipus und Kreon teilt dieser mit, er habe noch einmal nach Delphi geschickt,45 um vom Orakel zu erfahren, was mit Ödipus nun weiter geschehen solle (1438–1443). So steht das gesamte Stück von Anfang bis Ende unter der Ägide der Orakel Delphis. Delphische Orakel spielen auch in der mehrere Jahrzehnte später von Sophokles kurz vor seinem Lebensende geschaffenen „Fortsetzung“ der ÖdipusGeschichte, dem Ödipus auf Kolonos, eine Rolle. Im Eingangsteil gelangt Ödipus – nach langen Wanderungen – in die Nähe Athens, und nachdem er von einem Ortsansässigen erfahren hat, dass der Platz, auf dem er sich niedergelassen hat, zu einem heiligen Hain der Eumeniden/Erinnyen gehört (wo sich eigentlich kein Mensch aufhalten dürfte), enthüllt er kurz darauf seiner ihn begleitenden Tochter Antigone, dass ihm damit klar geworden ist, dass er sich an dem Ort befindet, wo er laut einem Orakel Apollons ans Ende seines Lebens gelangen soll. Dieses Orakel ist bemerkenswerterweise das gleiche, das ihm – wie er im König Ödipus (vgl. oben) erzählt – so viel Unheil vorhersagte, als er sich in Delphi nach seinen wahren Eltern erkundigte (87: τὰ πόλλ’ ἐκεῖν’ [...] ἐξέχρη κακά), doch enthüllt er jetzt zum ersten Mal,46 dass dieses Orakel nicht nur diese Unheilsankündigungen, sondern auch noch Informationen über sein weiteres Leben und Lebensende enthalten habe (88– 95):47 be most misleading, he easily engineers the result“ (360). Aber zu sagen „The meeting at the crossroads is [...] engineered by Apollo“ (361) geht zu weit, denn auch der Weg zurück nach Korinth (statt neu nach Theben) wäre für Ödipus wohl zunächst derselbe gewesen. Neu – und verhängnisvoll – dagegen ist, dass Laios ausgerechnet jetzt nach Delphi will und so Ödipus begegnen muss; dies aber ist augenscheinlich nicht von Apollon verursacht. KOVACS muss auch zugeben (366), dass im König Ödipus nirgendwo gesagt wird, aus welchem Grund Apollon Ödipus ins Unglück stürzen wollte: „Sophocles may have felt that Apollo’s hostility was already sufficiently familiar and that he needn’t spell out the background“ (367). Das ist reine Spekulation. 45 Dazu gut FINGLASS, 2018, 39: „Creon’s choice of consulting the oracle again before making a final decision [...] signifies how the revelation of Oedipus’ offences has undermined any confidence that human beings can make good decisions or that they can truly interpret what appear to be clear instructions from the gods.“ 46 Vgl. KAMERBEEK, 1984, 35. Die Weissagung, dass Ödipus auf dem athenischen Kolonos-Hügel sterben werde, findet sich bereits einige Jahre früher (erstmals in uns erhaltenen Texten, vgl. MASTRONARDE, 1994, 626) in Euripides’ Phoinissen (vgl. unten); aber die direkte Verknüpfung dieser Weissagung mit dem Orakel, das Ödipus die Tötung des Vaters und den Inzest mit der Mutter ankündigt, könnte eine eigene Ergänzung bzw. Erfindung des Sophokles sein. 47 Soph., OC 87–95: ὅς µοι, τὰ πόλλ' ἐκεῖν' ὅτ' ἐξέχρη κακά, / ταύτην ἔλεξε παῦλαν ἐν χρόνῳ µακρῷ / ἐλθόντι χώραν τερµίαν, ὅπου θεῶν / σεµνῶν ἕδραν λάβοιµι καὶ ξενόστασιν, / ἐνταῦθα κάµψειν τὸν ταλαίπωρον βίον, / κέρδη µὲν οἰκήσαντα τοῖς δεδεγµένοις, / ἄτην δὲ τοῖς πέµψασιν οἵ µ’ ἀπήλασαν. / σηµεῖα δ’ ἥξειν τῶνδέ µοι
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„[Apollon ...], der mir, als er mir jene vielen schlimmen Dinge weissagte, diese Ruhestatt nach langer Zeit verhieß: daß ich, zuletzt gekommen in ein Land, wo ich bei den Erhabenen Göttinnen Sitz sowie Zuflucht fände – daß ich dort mein jammervolles Leben enden würde: Siedelnd zum Segen denen, die mich aufgenommen, zum Fluch für die, die mich hinweggeschickt und ausgestoßen. Als ein Zeichen dafür, verhieß er mir, werde ein Beben kommen oder ein Donner oder Wetterstrahl des Zeus.“
Anders als im König Ödipus, wo Ödipus vor dem in diesem Orakel Angekündigten regelrecht davonlief, um seine Erfüllung zu vermeiden (und sie gerade dadurch erst ermöglichte), fügt sich Ödipus im Ödipus auf Kolonos in das Angekündigte: Er bleibt, um hier im letzten Teil des Stücks die Beendigung seiner irdischen Existenz zu erleben.48 Als im Fortgang des Stücks Ödipus’ Tochter Ismene zu ihm und ihrer Schwester Antigone kommt, hat sie noch von einem weiteren delphischen Orakelspruch, zu berichten, den die Thebaner inzwischen eingeholt haben (413–415): Das Grab des Ödipus werde für die, in deren Land es liege, eine Quelle der Kraft sein, für deren Feinde dagegen ein Ort des Untergangs (389 f.409–411).49 Dieses Orakel bestimmt dann auch wesentliche Elemente der weiteren Handlung, denn aufgrund seiner Kenntnis werden sowohl der jetzt in Theben die Macht habende Kreon als auch der von seinem Bruder Eteokles vertriebene Ödipus-Sohn Polyneikes zu Ödipus kommen und versuchen, ihn von seinem jetzigen Ort weg- und in ihre Machtsphäre hineinzubewegen. Demgegenüber appelliert Ödipus beim Chor der alten Athener um Hilfe und verweist auf die Vorteile, die er gemäß den genannten Orakeln Attika bringen werde (457–460). Ödipus wiederholt dieses Orakel dann auch gegenüber dem athenischen König Theseus (603–623), und dieser sagt ihm Hilfe und Aufnahme in Attika zu. Weder dem dann kommenden Kreon (728– παρηγγύα, / ἢ σεισµὸν ἢ βροντήν τιν’ ἢ Διὸς σέλας. Übersetzung: SCHADEWALDT, 1996, 15. 48 BERNARD, 2001, 102 will dagegen erweisen, dass Ödipus den Ort sehr wohl wieder hätte verlassen können und sogar sollen, um seiner Heimatstadt Theben den schlimmen Kampf zwischen seinen Söhnen und diesen den daraus resultierenden Tod zu ersparen. Man kann sich jedoch fragen, ob eine solche „alternate history“ wirklich im Horizont des Stücks (und seines Autors) lag. Gerade die heroisierende Entrückung am Ende spricht dafür, dass Ödipus in diesem Fall das Orakel richtig gedeutet und sich durch sein Bleiben ein würdiges Ende verschafft hat. 49 Der Inhalt dieses neuerlichen Orakels ist damit im wesentlichen eine Bestätigung des früheren Orakels, das von Ödipus im Eingangsteil des Stücks referiert wird (vgl. oben). Ödipus selbst verbindet in 452–454 beide Orakel miteinander.
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1043) noch dem danach auftretenden Polyneikes (1249–1446) gelingt es, Ödipus auf ihre Seite zu ziehen. Gegenüber Kreon kommt Ödipus noch einmal auf das Laios-Orakel zu sprechen, das diesem den Tod durch den Sohn voraussagte, und weist darauf hin, dass er selber gerade aufgrund dieser Vorherbestimmung schuldlos ist (969–973); zu dieser Tat wie auch zum Inzest mit der Mutter hätten ihn gegen sein Wissen und gegen seinen Willen Götter geführt (θεῶν ἀγόντων, 998). Der mit seinem Bruder im Streit liegende Polyneikes begründet sein Hilfegesuch an Ödipus mit Orakelsprüchen,50 die demjenigen den Sieg zusagen, auf dessen Seite Ödipus steht (1331 f.); doch Ödipus hat für ihn nur die Erneuerung des Fluches übrig, den er schon einmal gegen ihn und Eteokles aussprach (1375 f.). Nach Polyneikes’ Abgang beginnt der letzte Teil des Stücks, der zu Ödipus’ Tod oder besser: zu seiner Entrückung führt. Einige Jahre vor dem Ödipus auf Kolonos, wahrscheinlich zwischen 411 und 409 v. Chr.,51 hat auch Euripides den Stoff des Labdakidenmythos aufgegriffen: in den Phoinissen,52 die – ähnlich wie Aischylos’ Sieben gegen Theben – die letzte Phase dieses Mythos, nämlich den Bruderkampf zwischen Eteokles und Polyneikes um die Herrschaft in Theben darstellen, aber im Anfangsteil auch weit zurückblicken; und zwar geschieht dies in der langen Prologrede der Königin(mutter) Iokaste. Darin berichtet sie auch von dem Orakel, das Laios in Delphi erhielt, als er dort wegen der Kinderlosigkeit seiner Ehe das Orakel konsultierte (Phoen. 13–20). Dabei erhielt er – wie bei Aischylos (vgl. oben) – eine deutliche Warnung davor, einen Sohn zu zeugen:53 „Säe nicht Kinder in die Furche gegen den Willen der Götter! Denn zeugst du einen Sohn, so wird dich der Gezeugte töten, und dein ganzes Haus wird im Blut waten!“
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Es ist nicht ganz klar, ob damit das Orakel gemeint ist, von dem bereits Ismene in 413–415 spricht (so KAMERBEEK, 1984, 184), oder ein anderes speziell auf den Bruderkampf bezogenes (so JEBB, 1885, 205 f.) 51 Vgl. MASTRONARDE, 1994, 14. Dagegen optiert CRAIK, 1988, 40 für 409 oder 408. 52 Das Stück ist nach seinem Chor benannt: jungen Phönizierinnen, die sich eigentlich auf dem Weg nach Delphi (!) befinden, um im dortigen Heiligtum Dienst zu tun, aber auf ihrer Reise durch die kriegerischen Ereignisse in Theben (Belagerung durch die „Sieben“) festgehalten werden (vgl. V. 202–242). 53 Eur., Phoen. 18–20: µὴ σπεῖρε τέκνων ἄλοκα δαιµόνων βίαι· / εἰ γὰρ τεκνώσεις παῖδ’, ἀποκτενεῖ σ’ ὁ φύς, / καὶ πᾶς σὸς οἶκος βήσεται δι’ αἵµατος (eigene Übersetzung). Wie bei Aischylos (vgl. oben Anm. 31) – und anders als bei Sophokles (vgl. oben Anm. 41) – hätte Laios also auch in dieser euripideischen Version alles weitere Unheil vermeiden können, wenn er keinen Sohn gezeugt hätte.
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Des weiteren erzählt Iokaste, wie Ödipus und Laios, als sie beide auf dem Weg zum delphischen Orakel waren,54 an einer Weggabelung in Phokis zusammentrafen und es zur Tötung des Vaters durch den Sohn kam (33–45). In 1043–1045 erinnert ebenfalls der Chor daran, dass Ödipus aufgrund einer „von Delphi ausgehenden Sendung“ (Πυθίαις ἀποστολαῖσιν, 1043) auch nach Theben kam.55 In seinem Auftritt am Ende des Stücks – und dem dort gegebenen Rückblick auf sein von tragischen Ereignissen überschattetes Leben56 – erinnert sich auch der blinde Ödipus an das Orakel, mit dem Apollon Laios den Tod durch seinen Sohn voraussagte (1597–1599). In dem anschließenden Dialog mit Antigone, in dem Ödipus von den Leichnamen seiner Mutter/Gemahlin Iokaste und seiner Söhne Eteokles und Polyneikes Abschied nimmt, kommt er bemerkenswerterweise auf das Apollon-Orakel zu sprechen, von dem einige Jahre später Sophokles’ Ödipus auf Kolonos seinen Ausgang nimmt: Nach langen Wanderungen werde Ödipus in Athen, und zwar auf dem heiligen Kolonos-Hügel, sterben (1703–1707). 57 Das Stück enthält aber auch noch Hinweise auf weitere Apollon-Weissagungen: In 409– 14 berichtet Polyneikes seiner Mutter von dem Orakel, das sein Schwiegervater Adrastos für seine Töchter erhielt; und in 638–644 erzählt der Chor, wie bereits Kadmos’ Gründung Thebens aufgrund eines Orakelspruchs erfolgte. So ergibt sich der Eindruck, dass Delphi hier überall in der Geschichte der Labdakiden – von Kadmos über Laios und Ödipus bis zur Schaffung der Voraussetzungen von Polyneikes’ Zug gegen Theben und Ödipus’ Ende – eine bedeutende Rolle spielt.
54 Auch in Sophokles’ König Ödipus treffen beide zusammen, weil sie beide wegen einer Anfrage an das Orakel unterwegs sind (vgl. oben); allerdings scheint Laios’ Wagen in der Beschreibung der euripideischen Iokaste Ödipus zu überholen, was zeigt, dass beide auf dem Weg nach Delphi sind (MASTRONARDE, 1994, 155), während bei Sophokles Ödipus von Delphi kommt – wo er gerade die Prophezeiung, er werde seinen Vater töten, erhalten hat – und dementsprechend Laios begegnet. Hier scheint Euripides die Version des König Ödipus zugleich zu rezipieren und zu variieren (vgl. FINGLASS, 2018, 35 Anm. 106). 55 Hier scheint kein spezifisches Orakel gemeint zu sein, das Ödipus nach Theben schickte, sondern die allgemeine „Steuerung“ von Ödipus’ Geschick durch die Orakel, die er und Laios jeweils in Delphi erhielten (vgl. CRAIK, 1988, 229; MASTRONARDE, 1994, 443). 56 Dazu, dass dieser Rückblick keine spätere Hinzufügung zum Text ist, vgl. MASTRONARDE, 1994, 598. 57 Nach dem Wortlaut dieser Verse könnte dies ein separater Orakelspruch sein, den Ödipus zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt erhielt, während es sich bei Sophokles um einen weiteren (zuvor allerdings nirgends erwähnten, vgl. oben Anm. 46) Teil des berühmten Spruchs handelt, der Ödipus die Tötung seines Vaters und den Inzest mit seiner Mutter ankündigte.
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4. Ein ganz besonderer Fall: Delphi und Euripides’ Ion Der Ion des Euripides, aufgeführt 413 v. Chr.58 oder in den Jahren danach,59 ist die einzige (jedenfalls erhaltene) attische Tragödie, die zur Gänze in Delphi spielt. Ihr Thema ist ein für den delphischen Gott Apollon recht delikates: Der Titelheld wurde von ihm mit der athenischen Königstochter Kreusa gegen deren Willen60 gezeugt; nachdem Kreusa das neugeborene Kind in der gleichen Höhle ausgesetzt hatte, in der Apollon sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte, beauftragte letzterer seinen Bruder Hermes damit, das Kind zu retten (wovon Kreusa aber nichts erfuhr) und nach Delphi zu bringen, wo sich die Pythia seiner annahm und es aufzog, bis es alt genug war, Funktionen als Tempeldiener zu übernehmen. Dies alles wird im Prolog des Stücks von Hermes erzählt, der auch enthüllt, wie es nunmehr weitergehen soll (Ion 57– 73): Kreusa hat inzwischen den Achaier Xuthos geheiratet, der Athen in einem Krieg wichtige Unterstützung leistete und jetzt Regent der Stadt ist; ihre Ehe aber ist kinderlos geblieben, weshalb jetzt beide nach Delphi kommen, um sich beim Orakel Hilfe gegen die Kinderlosigkeit zu erbitten. Da wird nun – erzählt Hermes – Apollon dem Xuthos das Orakel geben, dass der erste, dem er beim Verlassen des Tempels begegnet, sein Sohn sei61 – und das wird der junge Tempeldiener sein, der bei dieser Gelegenheit auch den Namen „Ion“ erhält. Kreusa soll seine wahre Identität bekannt gemacht werden, sobald er nach Athen gekommen ist;62 zugleich aber soll die wahre Vaterschaft 58
So LEE, 1997, 40. Vgl. PELLEGRINO, 2004, 29 f. (mit Anm. 25); MARTIN, 2018, 32. HOSE, 1995, 15–18 hat für das Jahr 412 und eine Aufführung zusammen mit den Stücken Helena und Iphigenie bei den Taurern plädiert. 60 Darauf weist schon das Wort βίαι im Prolog (11) hin; später im Stück schildert Kreusa selbst die für sie traumatische Erfahrung, die sich als „Vergewaltigung“ bezeichnen lässt (887–895). 61 V. 69–71: δώσει [...] / Ξούθωι τὸν αὑτοῦ παῖδα καὶ πεφυκέναι / κείνου σφε φήσει. NEITZEL, 1988, 274 glaubt, dass das Pronomen κείνου in V. 71 sich sowohl auf Xuthos wie auf das Subjekt Apollon beziehen lässt, aber die von ihm angeführten Parallelen (Eur., Alc. 17 und IA 129) für einen solchen Subjektsbezug von κείνου sind anders gelagert (sie greifen über eine Nebensatzgrenze hinweg, was in Ion 71 nicht der Fall ist); wenn NEITZEL eine Seite später (275) sogar behauptet, eigentlich könne sich das κείνου in 71 nur auf Apollon beziehen, fragt man sich, warum dann alle griechischen native speaker im Stück es anders verstehen (nämlich auf Xuthos bezogen). GIBERT, 2019, 137 liefert einen noch schlagenderen Grund, weshalb κείνου sich nur auf Xuthos beziehen kann: Der Subjektsakkusativ σφε greift τὸν αὑτοῦ παῖδα aus dem vorangehenden Vers wieder auf, und die Aussage τὸν αὑτοῦ παῖδα κείνου πεφυκέναι ist nur dann sinnvoll, wenn αὑτοῦ (= Apollon) und κείνου (= Xuthos) verschiedene Personen bezeichnen. 62 Dieses Detail wird am Ende von der dea ex machina Athena ausdrücklich bestätigt (1566–1568: ἔµελλε δ’ αὐτὰ διασιωπήσας ἄναξ / ἐν ταῖς Ἀθήναις γνωριεῖν ταύτην τε σοὶ / σέ θ’ ὡς πέφυκας τῆσδε καὶ Φοίβου πατρός). 59
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Apollons (vor anderen) weiter verborgen bleiben (71–73: ὡς [...] / γάµοι τε Λοξίου / κρυπτοὶ γένωνται), d.h. namentlich vor Xuthos. Apollon will Xuthos also ein Orakel geben, das die Unwahrheit sagt.63 So schön dieser göttliche Plan ist – der Fortgang des Stückes zeigt, dass er nicht aufgeht, nicht aufgehen kann: Zwar begrüßt Xuthos tatsächlich, nachdem er im Tempel das Orakel bekommen hat, den jungen Ion, der ihm als erster beim Verlassen des Tempels begegnet, als seinen Sohn (517), und Ion – der seine Herkunft nicht kennt – lässt sich auch (nach einigen Nachfragen, die sein „Vater“ nicht wirklich beantworten kann: 539–555) dazu bewegen, Xuthos als seinen Vater zu begrüßen (561.588.618.633. 645); doch will Xuthos diese „wahre“ Identität vor seiner Frau zunächst verschleiern, um ihr keinen Kummer zu bereiten (654–658), und er befiehlt ihrem weiblichen Gefolge – das den Chor dieses Stückes darstellt –, Ions Identität geheimzuhalten. Genau dies aber tut der Chor aus Loyalität gegenüber seiner Herrin nicht (760–795), und die sich daraufhin ebenso von ihrem Ehemann wie von Apollon verraten und hinters Licht geführt fühlende Kreusa lässt sich von ihrem alten Diener dazu überreden, einen Mordanschlag gegen Ion zu planen (978–1038); doch fliegt der Anschlag auf, und nun ist Kreusa die Gejagte, die mit dem Tod durch Steinigung bedroht wird (1111 f.).64 Die Dinge spitzen sich zu, als Kreusa in ihrer Flucht auf die Bühne stürzt, sich auf den Rat des Chores hin auf den dort befindlichen Altar (Apollons!) setzt, um vor Zugriffen geschützt zu sein, und gleich darauf ihr Verfolger Ion mit Helfern ebenfalls auf die Bühne eilt. In dieser Situation führt der unerwartete Auftritt der Pythia, die direkt von ihrem Dreifuß kommt (1320 f.: τρίποδα [...] χρηστήριον / λιποῦσα), dazu, dass Mutter und Sohn einander noch rechtzeitig erkennen, bevor Schlimmeres geschehen kann; denn die Pythia hat den Korb mit den Beigaben mitgebracht, in dem der kleine Ion ausgesetzt wurde, und mit Hilfe dieser Accessoires erkennt Kreusa, dass Ion ihr Sohn ist, und kann auch Ion überzeugen, dass sie seine Mutter ist. Nun aber erfährt er auch erst, dass Apollon sein Vater ist 63
Vgl. MARTIN, 2018, 145: „Apollo’s ‘white lie’ is exceptional.“ Noch etwas drastischer ZACHARIA, 2003, 134 f.: „this oracle is false, or at least misleading. It has been contrived by Apollo himself to serve his purpose [...]“ 64 Das Handlungsdetail, das Ion daran hindert, das von Kreusa für ihn bestimmte Gift zu trinken (1187–1194), wird im Bericht des Boten nicht explizit mit einer göttlichen Intervention in Verbindung gebracht (vgl. MARTIN, 2018, 443; vgl. auch bereits LLOYD, 1986, 42: „Euripides seems careful to leave it unclear where the responsibility for Ion’s rescue lies“), ebenso wenig das wenig später folgende Detail, das zeigt, dass hier ein Giftanschlag geplant war (1196–1208; dazu MARTIN, 2018, 444). Doch sagt der Bote bereits in seiner vorwegnehmenden Ankündigung seines Berichts, der Gott (also Apollon) habe dies ans Licht gebracht, weil er nicht befleckt werden wollte (1118: ἐξηῦρεν ὁ θεός, οὐ µιανθῆναι θέλων), und dies wird am Ende von der dea ex machina Athena bestätigt (1564f.: θανεῖν σε δείσας µητρὸς ἐκ βουλευµάτων / καὶ τήνδε πρὸς σοῦ, µηχαναῖς ἐρρύσατο).
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(1468–1488); zuvor hatte die Pythia – offenbar im Auftrag Apollons oder von ihm inspiriert 65 – an der Fiktion (die Apollons ursprünglichem Plan entspricht) festgehalten, dass der Gott ihm seinen Vater genannt habe und ihn nunmehr außer Landes sende (1345: πατέρα κατειπὼν τῆσδέ σ’ ἐκπέµπει χθονός 66). Gegenüber Ions sich wieder meldenden Zweifeln (1522–1525) beteuert Kreusa (1528–1531), dass Apollon wirklich sein Vater ist; dies aber weckt bei Ion die immer drängender werdende Frage, warum Apollon Xuthos mit einem falschen Orakel zu seinem Vater erklärt hat (1532 f.1537 f.). Kreusas beschwichtigenden Erklärungsversuch (1539–1545) akzeptiert er nicht, sondern ist drauf und dran, selbst in den Tempel zu gehen und den Gott direkt mit der Frage zu konfrontieren, ob er Sohn eines sterblichen Vaters oder des Gottes ist (1547 f.). In diesem Augenblick – und offensichtlich, um Ions impulsiven Vorstoß zu verhindern – erscheint Athena als dea ex machina. Sie bestätigt ausdrücklich (1560), dass Apollon Ions Vater ist (und beantwortet damit die Frage, die Ion zuletzt so umtrieb); zugleich erläutert sie noch einmal (1561 f.) seinen ursprünglichen Plan, Ion als Sohn des Xuthos auszugeben (und bestätigt damit die zuvor von Kreusa gegebene Erklärung); sodann versichert sie (1566– 1568), Apollon habe wirklich vorgehabt, in Athen Kreusa und Ion über ihr Mutter-Sohn-Verhältnis aufzuklären. Nach einem Ausblick (1575–1594) auf die glorreiche Zukunft, die nicht nur Ion und seine Nachkommen, sondern auch die Söhne haben werden, die Kreusa und Xuthos noch geboren werden, schaltet Athena noch einmal in den Modus „Verteidigung Apollons“ (1595– 1600): Er habe doch wirklich alles schön geregelt (καλῶς δ’ Ἀπόλλων πάντ’ ἔπραξε, 1595) – die Rettung des kleinen Ion und sein Aufwachsen im delphischen Heiligtum. Ein „Pferdefuß“ aber bleibt: Damit der erreichte „schöne Schein“ gewahrt bleibt, soll Xuthos weiter in dem Glauben gelassen werden, dass Ion sein Sohn sei – das sei doch das beste für alle (1601– 1603).67 Ion und Kreusa geben sich mit diesen Bescheiden zufrieden, doch hat das Bild, das Apollon und sein Orakel am Ende hinterlassen, in manchen Teilen
65 Dazu, dass die Pythia hier in der Tat durch einen Impuls Apollons auftritt und dieser Auftritt ein Teil seines Plans ist (was sich daran zeigt, dass sie die Gegenstände mitbringt, an denen sich Mutter und Sohn erkennen werden, und dass sie Ion auch wiederholt in seinem Zorn gegen die noch nicht erkannte Kreusa zu beschwichtigen versucht), vgl. MÜLLER, 1983, 37; MARTIN, 2018, 480. Etwas skeptischer ist dagegen LLOYD, 1986, 43: „Creusa is saved, but it is not clear whether the main reason for this was the opportune intervention of the Pythia or Ion’s piety in not violating Creusa’s sanctuary.“ 66 NEITZEL, 1988, 278 hält auch diesen Satz für „doppeldeutig“ und glaubt, man könne unter πατέρα auch Apollon verstehen; dem würde ich nicht zustimmen. 67 Dazu, warum Xuthos wohl in der Tat im Dunkeln gelassen werden muss, vgl. ERBSE, 1975, 45.
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der Forschung eine zumindest ambivalente Beurteilung erfahren;68 man könnte ihn als einen „Gott mit Grautönen“ bezeichnen.69 Auch wenn man – in Übereinstimmung mit der dea ex machina Athena – durchaus betonen kann, dass Apollon auf Krisen im Handlungsverlauf schnell und flexibel reagiert70 und am Ende alles (oder fast alles) mehr oder weniger ins Lot bringt, kann man ihm den Vorwurf nicht ersparen, dass er diese Krisen, die gerade sein (am Anfang des Stücks von Hermes skizzierter) Plan hervorgerufen hat, schlicht nicht voraussah;71 dies aber könnte man gerade bei einem Orakelgott als ein ziemliches Armutszeugnis ansehen.
5. Ergebnisse Die Art und Weise, in der das Orakel von Delphi und sein Gott in den hier behandelten elf Tragödien dargestellt werden, lässt deutliche Unterschiede zwischen den drei großen attischen Tragikern erkennen. Bei Aischylos übt das Orakel sowohl im Atriden- als auch im LabdakidenMythos klare göttliche Steuerungsfunktionen aus. Orest erhält bei seiner Konsultation in Delphi eindeutige und eindringliche Anweisungen, seinen Vater durch die Tötung seiner Mutter zu rächen, und als ihm daraufhin schlimme Konsequenzen von seiten der durch den Muttermord auf den Plan gerufenen Erinnyen drohen, leistet der Orakelgott nicht nur in Delphi weitere Hilfestellung, sondern tritt als Fürsprecher Orests sogar vor dem athenischen Areopag auf. In der aischyleischen Darstellung des Labdakiden-Mythos wirkt Apollon durch seine im Orakel dem Laios gegebene massive Warnung, einen Sohn zu zeugen, an der göttlichen Vergeltung für Laios’ Verbrechen an Chrysippos mit, und als Laios diese Warnung missachtet, treten nicht nur die vorhergesagte Tötung des Laios durch seinen eigenen Sohn und dessen Inzest mit der Mutter ein, sondern es erfüllt sich in der nächsten Generation auch das, was durch die gegenüber Laios ausgesprochene Warnung eigentlich 68
Vgl. LLOYD, 1986, 33 f.; KINDT, 2007, 23 f. Anm. 99. Vgl. LLOYD, 1986, 36: „Apollo is neither as fallible as he seemed in Athens nor as august as he seems in Delphi.“ Ein abgewogenes Urteil auch bei LEFKOWITZ, 2016, 103: „Apollo protects Creusa and their son Ion with ingenuity and efficiency, but without any display of empathy.“ 70 Vgl. ERBSE, 1975, 42 f.53. 71 Vgl. LLOYD, 1986, 33 und ZACHARIA, 2003, 137: „Apollo did not anticipate that Kreousa would attempt to kill Ion nor that Ion would launch a pursuit to seize Kreousa and punish her with death. Nor did he anticipate Ion’s questioning of the law that gives asylum to those who seek help at the god’s altar (1312–19), and his related threat to commit sacrilege and drag Kreousa away from the altar to kill her. Finally, Apollo, did not anticipate Ion’s persistent doubting of his divine parentage (1522–27; 1546–48) and his determination to extract an answer from the oracle.“ 69
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schon für ihn intendiert war: das Ende seines Geschlechts durch die gegenseitige Tötung der Ödipus-Söhne Eteokles und Polyneikes. Das Orakel von Delphi – dessen Verlautbarungen bei Aischylos in keiner Weise in Frage gestellt werden – ist hier ein gut funktionierender Bestandteil der unerbittlichen göttlichen Weltordnung. Bei Sophokles spielt das delphische Orakel vor allem in den Stücken, die sich mit dem Labdakiden-Mythos beschäftigen, eine wichtige Rolle. Im König Ödipus erweisen sich die Orakel, die sowohl Laios als auch Ödipus in Delphi erhalten, nicht als Warnungen vor Unheil, das sich vielleicht noch vermeiden ließe, sondern als Konstatierungen des Unausweichlichen,72 und die Menschen, die das Unausweichliche dennoch zu vermeiden versuchen, führen es gerade dadurch herbei. Anders als bei Aischylos äußern Menschen bei Sophokles erstmals die Ansicht (oder Hoffnung?), dass solche Zukunftsvorhersagen unzuverlässig und falsch sind; sie werden jedoch durch den Gang der Handlung vollständig widerlegt, und dadurch wird nicht zuletzt auch das Orakel von Delphi glänzend vindiziert. Kurz vor seinem Lebensende bekräftigt Sophokles diese Auffassung im Ödipus auf Kolonos, wo der Titelheld die Vorhersage des Orakels nicht mehr zu vermeiden, sondern im Gegenteil zur Vollendung zu bringen sucht, indem er sich von dem Eumeniden-Hain, der ihm als Ort der Beendigung seines irdischen Daseins vorhergesagt wurde, nicht mehr vertreiben lässt. In diesen Sophokles-Stücken ist Delphi mithin Verkünder eines Schicksals, das in jedem Fall eintritt und somit die seherischen Fähigkeiten des Orakels gegen alle geäußerten Zweifel ohne Wenn und Aber bestätigt. Bei Euripides hingegen gerät das Orakel in den beiden MythenKomplexen, zu denen er ebenfalls Stücke geschrieben hat, zunehmend in die Kritik (jedenfalls in Äußerungen wichtiger Figuren dieser Stücke, die natürlich nicht ohne weiteres mit dem Dichter gleichzusetzen sind). In den euripideischen Behandlungen des Atriden-Mythos erhält Orest zwar ebenfalls in Delphi den Auftrag, seine Mutter zu töten, wird aber durch die Ausführung dieser Tat so traumatisiert, dass nicht nur er, sondern auch andere die Sinnhaftigkeit dieser Orakel-Anweisung ernsthaft in Frage stellen; ferner gerät Delphi durch den Mord, den der gleiche Orest in Euripides’ Andromache mitten im Heiligtum an seinem Rivalen Neoptolemos durchführen lässt, beträchtlich ins Zwielicht. Bei der Darstellung der Rolle des Orakels in seiner Behandlung des Labdakiden-Mythos schließt sich Euripides tendenziell eher an Aischylos als an Sophokles an (das Laios-Orakel ist auch hier als Warnung konzipiert, durch deren Beachtung dem Labdakiden-Haus viel Unheil erspart geblieben wäre, es andererseits freilich bereits mit Laios sein Ende 72 Vgl. VOGT, 1998, 38, wobei aber nicht in den Blick genommen wird, dass diese Warnung zumindest bei Aischylos wohl bereits eine Art Vergeltung/Bestrafung für ein früheres Vergehen des Laios darstellt (vgl. oben Anm. 32).
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gefunden hätte). Im Ion schließlich spielt Euripides den beunruhigenden Fall durch, dass der Orakelgott selber73 mit voller Absicht eine Falschaussage machen74 könnte und dass er offenbar nicht in der Lage ist – obwohl er doch in die Zukunft sehen können soll –, die Folgen seiner Falschaussage richtig abzuschätzen.75 Damit lässt Euripides kritische Einstellungen zu Wort kommen, die er selber vielleicht nicht unbedingt teilt, die aber zum Teil weiter gehen als die distanzierte Haltung gegenüber dem delphischen Orakel, die man z. B. bei Thukydides zu entdecken geglaubt hat.76 73 Und nicht nur Menschen, wie dies bei Herodot mehrfach dargestellt ist (vgl. den folgenden Beitrag in diesem Band). 74 ERBSE, 1975, 45 spricht von „Unaufrichtigkeit“ und „irreführender Verwendung des berühmten Orakels“, hält es aber auch für möglich, dass Apollon – unter Einbeziehung von „Xuthos’ Einfältigkeit“ – „dem Spruch eine Formulierung gegeben haben [könnte], die den Ratsuchenden verführte, den vom Gott gewünschten Sinn herauszuhören“ (46). MÜLLER, 1983, 36 bestreitet, dass das Orakel eine „glatte Lüge“ sei, spricht aber eine Seite später (37) von einem „berechtigten Betrug“. VOGT, 1998, 40 Anm. 36 akzeptiert Neitzels Argumentation (vgl. oben Anm. 61) und hält das Orakel für „doppeldeutig“ (46); sie weist zugleich zu Recht darauf hin, dass Xuthos der einzige im Stück ist, der den genauen Wortlaut des Orakels gehört hat (ebd.), und er hat in ihm keinerlei Zweideutigkeit wahrgenommen. KINDT, 2007 und 2016 spricht ebenfalls wiederholt von „Apollo’s ambiguous oracle to Xuthus“, aber man sollte festhalten, dass dieses Orakel für keinen der menschlichen Akteure im Stück zweideutig ist – mit einer bemerkenswerten (aber auch nur kurzfristigen) Ausnahme: In V. 537 fragt Ion, ob „Sohn“ im biologischen oder übertragenen Sinn (als „Geschenk“) gemeint sei (σὸν γεγῶτ’ ἢ δῶρον ἄλλων;), lässt sich aber bald dahingehend beschwichtigen, dass „Sohn“ biologisch gemeint sei. Bemerkenswerterweise möchte Kreusas alter Diener die falsche Aussage über Xuthos’ Vaterschaft an Ion nicht dem Orakelgott anhängen, sondern Xuthos selbst (825: ὁ θεὸς οὐκ ἐψεύσαθ’, ὅδε δ’ ἐψεύσατο), was aber sowohl von Hermes am Anfang als auch von Athena am Ende des Stücks als unzutreffend erwiesen wird. Zwar wird auch die „Geschenk“-Deutung noch einmal aufgegriffen – von Kreusa in V. 1534 f.: πεφυκέναι µὲν οὐχί, δωρεῖται δέ σε / αὑτοῦ γεγῶτα) –, sie kann aber Ion an diesem Punkt der Handlung nicht mehr zufriedenstellen. Vgl. auch MARTIN, 2018, 145: „Attempts to construct an ambiguity in Hermes’ words [in 69–71] (and thus the oracle) are counter-intuitive, and it makes good sense that Apollo should be lying.“ Zuletzt hat GIBERT, 2019, 51–54 der „Wahrhaftigkeit“ von Apollons Orakel an Xuthos eine sehr überzeugende Diskussion gewidmet, in der er auch die These erwägt, „that the usual categories of truth and falsity do not apply to oracles or [...] that mortals fail to grasp (some part of) the truth of oracles because of our limited perspective, our need or habit of committing to a single, reductive meaning“ (54), schließlich aber – vor allem aufgrund der Tatsache, dass die dea ex machina Athena die von Hermes im Prolog geäußerte Erwartung vollauf und „without evident ambiguity“ bestätigt, „that Apollo’s oracle ‘is giving’ Ion to Xuthus“ (ebd.) und dass hier eine „deliberate deception“ vorliegt, mit der alle (menschlichen) Beteiligten fertigwerden müssen. 75 ERBSE, 1975, 47 formuliert prägnant, dass „der angeblich allwissende Gott naheliegende menschliche Reaktionen nicht vorausgesehen hat“. Vgl. auch oben Anm. 71. 76 Zu Thukydides hat MARINATOS, 1981 recht überzeugend gezeigt, dass er nicht die Orakel als solche kritisiert, sondern vielmehr ihre menschlichen Interpreten.
Das Orakel von Delphi bei Herodot Heinz-Günther Nesselrath 1. Einleitung Anders als sein großer Nachfolger Thukydides hat Herodot der Möglichkeit, dass überirdische Mächte Einfluss auf das menschliche Geschehen nehmen, große Aufmerksamkeit geschenkt und in diesem Zusammenhang nicht zuletzt der Frage, ob diese Mächte auch mit den Menschen kommunizieren.1 Dies zeigt sich schon daran, dass immer wieder in seinem Werk Menschen den Willen von Göttern mit der Hilfe von Orakeln zu erfahren suchen, die man in Herodots Welt an einer ganzen Reihe von Stätten einholen kann; unter diesen Stätten aber ist in seinem Werk keine so prominent wie das Orakel des Gottes Apollon in Delphi.2 In der Tat kommt das Orakel von Delphi in jedem von Herodots neun Büchern vor,3 wenn auch zum Teil in sehr unterschiedlicher Frequenz: Die Bücher, in denen es die geringste Rolle spielt, sind das Buch zwei (drei kurze Erwähnungen) und drei (sogar nur zwei kurze Erwähnungen). Dass sich gerade in diesen Büchern so wenig über Delphi findet, ist aber auch nicht weiter verwunderlich: Buch zwei ist zur Gänze dem Land Ägypten und seiner Geschichte gewidmet; Delphi taucht hier nur in Zusammenhang mit einer Erzählung über die griechische Hetäre Rhodopis auf, die – als Zeitgenossin der Dichterin Sappho im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. – in Ägypten zu Ruhm und Reichtum kam und den Zehnten von diesem Reichtum in Form einer beeindruckenden Zahl von eisernen Bratspießen nach Delphi stiftete;4 offenbar war 1
Vgl. KINDT, 2016, 53: „Oracles help Herodotus to retain a divine element in human history.“ 2 Vgl. BOWDEN, 2005, 69. 3 Laut KINDT, 2016, 18 finden sich bei Herodot insgesamt 57 „prophecies claiming Delphic origins“; Zusammenstellung im Register bei FONTENROSE, 1978, 453 f. 4 Hdt., II 135,3 f.: Ἐπεθύµησε γὰρ Ῥοδῶπις µνηµήιον ἑωυτῆς ἐν τῇ Ἑλλάδι καταλιπέσθαι, ποίηµα ποιησαµένη τοῦτο τὸ µὴ τυγχάνοι ἄλλῳ ἐξευρηµένον καὶ ἀνακείµενον ἐν ἱρῷ [...]. Τῆς ὦν δεκάτης τῶν χρηµάτων ποιησαµένη ὀβελοὺς βουπόρους πολλοὺς σιδηρέους, ὅσον ἐνεχώρεε ἡ δεκάτη οἱ, ἀπέπεµπε ἐς Δελφούς· οἳ καὶ νῦν ἔτι συννενέαται ὄπισθε µὲν τοῦ βωµοῦ τὸν Χῖοι ἀνέθεσαν, ἀντίον δὲ αὐτοῦ τοῦ νηοῦ („Rhodopis wollte ein Denkmal ihrer selbst in Griechenland hinterlassen, indem sie etwas derartiges anfertigen ließ, was noch von keinem anderen ausgedacht und in einem Heiligtum als Weihgeschenk aufgestellt worden sei [...]. Sie ließ also vom zehnten Teil ihres
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Delphi schon damals der geeignete Ort, um durch eine solche Stiftung die Stifterin in ganz Griechenland bekannt zu machen. Eine weitere Erwähnung Delphis findet sich ganz am Ende des zweiten Buchs, wo Herodot auf die finanzielle Unterstützung hinweist, die der ägyptische Pharao Amasis (er regierte 570–526 v. Chr.) und die damals in Ägypten lebenden Griechen dem Neubau des niedergebrannten Apollon-Tempels in Delphi zukommen ließen;5 offenbar wusste auch dieser ägyptische Pharao, mit welchem Sponsoring man sich in Griechenland die meiste Aufmerksamkeit sichern konnte. Dass dann im dritten Buch Herodots sogar noch etwas weniger von Delphi die Rede ist als im zweiten, liegt daran, dass dieses Buch (abgesehen von zwei Exkursen, die sich mit der Insel Samos beschäftigen) vor allem der persischen Geschichte gewidmet ist; dementsprechend taucht Delphi lediglich einmal kurz auf, als Herodot – aus Gründen, die hier nicht genauer dargelegt zu werden brauchen – auf die Bewohner der Insel Siphnos und ihr bemerkenswertes Schatzhaus in Delphi zu sprechen kommt, mit dem sie ihren damaligen – wir befinden uns in den 520er Jahren v. Chr. – Wohlstand an einem zentralen Ort der griechischen Öffentlichkeit präsentieren wollten.6 Während die Siphnier nun dieses Schatzhaus errichteten – so erzählt Herodot weiter7 –, fragten sie das Orakel, ob ihnen denn dieser wunderbare Wohlstand erhalten bleiben werde, und erhielten daraufhin eines der berühmten rätselhaften delphischen Orakel: „Wenn jedoch weiß in Siphnos das Prytaneion geworden, weiß umsäumt auch der Markt, dann ist ein Kluger vonnöten, sich zu hüten vor hölzerner Schar und dem Herold, dem roten.“8 Vermögens eine Menge eiserner Bratspieße machen, so groß, um einen Ochsen daran zu braten, und zwar so viele, wie der zehnte Teil ihres Vermögens hergab, und die sandte sie nach Delphi. Sie liegen auch jetzt noch aufgeschichtet da, hinter dem Altar, den die Chier gestiftet haben, und dem Tempel gerade gegenüber“). Alle hier verwendeten Herodotübersetzungen stammen aus NESSELRATH, 2017. 5 Hdt., II 180,2. 6 Hdt., III 57,2: τὰ δὲ τῶν Σιφνίων πρήγµατα ἤκµαζε τοῦτον τὸν χρόνον [...], ἅτε ἐόντων αὐτοῖσι ἐν τῇ νήσῳ χρυσέων καὶ ἀργυρέων µετάλλων, οὕτω ὥστε ἀπὸ τῆς δεκάτης τῶν γινοµένων αὐτόθεν χρηµάτων θησαυρὸς ἐν Δελφοῖσι ἀνάκειται ὅµοια τοῖσι πλουσιωτάτοισι („Die Siphnier [...] lebten damals in blühendem Wohlstand [...], weil es auf ihrer Insel Gold- und Silberminen von solcher Ergiebigkeit gab, dass vom Zehnten der daraus erzielten Erträge ein Schatzhaus in Delphi in ähnlicher Weise ausgestattet ist wie die reichsten Schatzhäuser dort“). 7 Hdt., III 57,3: Ὅτε ὦν ἐποιεῦντο τὸν θησαυρόν, ἐχρέωντο τῷ χρηστηρίῳ εἰ αὐτοῖσι τὰ παρεόντα ἀγαθὰ οἷά τέ ἐστι πολλὸν χρόνον παραµένειν („Als sie nun das Schatzhaus erbauten, fragten sie beim Orakel an, ob ihnen der gegenwärtige Wohlstand lange erhalten bleiben könne“). 8 Hdt., III 57,4: Ἀλλ' ὅταν ἐν Σίφνῳ πρυτανήια λευκὰ γένηται / λεύκοφρύς τ’ ἀγορή, τότε δὴ δεῖ φράδµονος ἀνδρὸς / φράσσασθαι ξύλινόν τε λόχον κήρυκά τ’ ἐρυθρόν. Vgl. zu diesem Orakel KINDT, 2016, 29 f.
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Die Siphnier verstanden dieses Orakel zunächst nicht – und auch dann noch nicht, als die „hölzerne Schar“ und der „rote Herold“ tatsächlich eingetroffen waren, nämlich eine Flotte der Samier, die – nachdem die Siphnier ihnen kein Geld leihen wollten – zur Plünderung der siphnischen Äcker überging und die Siphnier dann auch noch in einer Schlacht besiegte und ihnen anschließend hundert Talente Kriegsbeute abnahm (III 58). Mit diesen kurzen Erwähnungen Delphis im zweiten und dritten Buch sind bereits zwei wesentliche Themen skizziert, mit denen Delphi in Herodots Werk immer wieder präsent ist: zum einen Delphi als ein zentraler Ort der griechischen Öffentlichkeit, an dem man etwas für seine eigene Reputation tun kann, und zwar sowohl Privatleute (Rhodopis) als auch griechische Poleis (Siphnos) und sogar nicht-griechische Herrscher (Amasis); zum anderen die Orakelsprüche Delphis, mit deren Verständnis sich die Menschen immer wieder schwertun.
2. Kroisos und Delphi Beide gerade genannten Themen kommen schon im ersten Buch bei einer sehr prominenten Gestalt zusammen, nämlich bei dem Lyderkönig Kroisos,9 denn nicht nur stellt dieser seine Macht und seinen Reichtum in Delphi in einer Weise zur Schau, die jedenfalls in Herodots Werk von keinem anderen übertroffen wird, sondern er geht auch in seiner Deutung delphischer Orakel – nicht nur eines, sondern mehrerer – in einer so spektakulären – und wiederum von keiner anderen Figur in Herodots Werk übertroffenen – Weise fehl, dass ihn dies am Ende Herrschaft und Reich und beinahe auch das Leben kostet. Kroisos ist freilich in Herodots Darstellung nicht der erste Lyderkönig, der Beziehungen zum delphischen Orakel unterhielt; dies tat bereits der erste seiner Dynastie, der Usurpator Gyges.10 Als dieser auf moralisch recht zweifelhafte Weise auf den Thron gelangt war, benötigte er – so jedenfalls stellt Herodot dies dar – geradezu die Bestätigung durch das Orakel von Delphi,
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Im Kroisos-Logos kommen insgesamt zwölf Orakel vor (KINDT, 2016, 21). FLOWER, 1991, 61 bezeichnet Delphi als die wichtigste Quelle für Herodots Darstellung des Kroisos und seiner königlichen Ahnen: „Herodotus ties the history of Croesus’ whole dynasty to the gifts they gave to Apollo and the oracles they received from him [...] the dedications at Delphi and the traditions Herodotus heard in conjunction with them form the central part of his narrative.“ Vgl. auch FLOWER, 1991, 63: „many of the most important features of the Croesus ‘logos’ seem to be based on a Delphic source, although there are a number of other sources used to supplement this.“ 10 In I 14,2 wird Gyges als „der erste der Barbaren“ bezeichnet, die Weihgeschenke nach Delphi stifteten.
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um Widerstände gegen ihn zu überwinden;11 doch kam diese Bestätigung nicht ohne einen Pferdefuß: Das von Gyges gestürzte Geschlecht, sagt die Pythia bei Herodot, werde „am fünften Nachkommen des Gyges gerächt werden“.12 Es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass es sich bei diesem Zusatz – und vielleicht sogar bei der ganzen Bestätigungsgeschichte – um ein vaticinium ex eventu handelt, zumal Herodot sogleich hinzufügt: „Diesem Spruch schenkten sowohl die Lyder als auch ihre Könige keine Beachtung, bis er sich eben erfüllte“;13 darauf wird noch einmal zurückzukommen sein. Auf jeden Fall zeigte man noch zu Herodots Zeit in Delphi umfangreiche Weihgeschenke des Gyges, zu denen Herodot zum Teil auch genau angibt, wo sie aufgestellt gewesen seien.14 Auch Kroisos’ Vater Alyattes ließ in Delphi Weihgeschenke aufstellen (I 25,2); zuvor hatte Alyattes bereits wegen einer über ihn gekommenen Krankheit eine Anfrage an das Orakel geschickt, auf die ihm aber eine Antwort verweigert wurde, bis ein von ihm niedergebrannter Tempel im Gebiet von Milet wiederaufgebaut sei (I 19,2 f.), und diese Wendung der Dinge führte dann mittelbar sogar zu einem Friedensschluss des Alyattes mit Milet (I 22,4). Als Alyattes sich im Anschluss an diese positive Entwicklung von der erwähnten Krankheit erholte, ließ er die gerade erwähnten Weihgeschenke nach Delphi stiften. Sein Sohn Kroisos durchläuft in mancher Hinsicht eine analoge Entwicklung: In seinen ersten Regierungsjahren unterwirft er mehr oder weniger alle Griechenstädte der kleinasiatischen Küste, wird aber dann auf dem Höhepunkt seiner Macht zu einem Anziehungspunkt für bedeutende griechische Intellektuelle (darunter auch Solon) und beginnt in der Folgezeit seine Aufmerksamkeit gen Osten zu richten, wo das junge Achämenidenreich unter seinem ersten Herrscher Kyros immer stärker wird. Kroisos möchte diese Bedrohung im Keim ersticken (I 46,1), und um sich dazu kompetenten Rat zu holen, initiiert er eine Probe aller ihm offenbar bekannten Orakelstätten (so11
Hdt., I 13,1: Ἔσχε δὲ τὴν βασιληίην καὶ ἐκρατύνθη ἐκ τοῦ ἐν Δελφοῖσι χρηστηρίου („So erlangte er die Königsherrschaft und wurde durch das Orakel in Delphi bestätigt“) . 12 Hdt., I 13,2: Τοσόνδε µέντοι εἶπε ἡ Πυθίη, ὡς Ἡρακλείδῃσι τίσις ἥξει ἐς τὸν πέµπτον ἀπόγονον Γύγεω („So viel jedoch sagte die Pythia (ferner): Die Herakliden würden am fünften Nachkommen des Gyges gerächt werden“). 13 Hdt., I 13,2: Τούτου τοῦ ἔπεος Λυδοί τε καὶ οἱ βασιλέες αὐτῶν λόγον οὐδένα ἐποιεῦντο, πρὶν δὴ ἐπετελέσθη. 14 Hdt., I 14,1 f.: Γύγης δὲ τυραννεύσας ἀπέπεµψε ἀναθήµατα ἐς Δελφοὺς οὐκ ὀλίγα, [...] καὶ τοῦ µάλιστα µνήµην ἄξιον ἔχειν ἐστί, κρητῆρές οἱ ἀριθµὸν ἓξ χρύσεοι ἀνακέαται. Ἑστᾶσι δὲ οὗτοι ἐν τῷ Κορινθίων θησαυρῷ σταθµὸν ἔχοντες τριήκοντα τάλαντα („Gyges aber sandte, nachdem er zum Herrscher geworden war, viele Weihgeschenke nach Delphi: [...] darunter – was am meisten der Erwähnung wert ist – befinden sich auch sechs goldene Mischkrüge als Weihgaben. Diese stehen im Schatzhaus der Korinther und haben ein Gewicht von dreißig Talenten“).
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wohl bei den Griechen wie auch bei dem Orakel in der Oase Siwa), die der deutschen „Stiftung Warentest“ alle Ehre gemacht hätte (I 46,2).15 Das Ergebnis dieses Tests ist, dass Delphi (neben dem Orakel des Amphiaraos, dem Herodot in der Folge jedoch erheblich geringere Aufmerksamkeit widmet16) mit Bravur aus diesem Test hervorgeht (I 47,2–48,217) und von Kroisos nunmehr mit Weihgeschenken geradezu überhäuft wird (I 50 f.18). Mit der Überbringung dieser Geschenke verbindet Kroisos dann auch die für ihn entscheidende Doppelfrage, „ob er gegen die Perser zu Felde ziehen 15 PARKE, 1984, 212 hält die Geschichte vom „Orakel-Test“ für eine delphische Erfindung; FLOWER, 1991, 61 hebt die „Delphic connections“ bei dieser Geschichte hervor. Vgl. THONEMANN, 2016, 153: „there are no historical parallels for this kind of experimental vetting of a Greek oracle’s reliability.“ 16 Immerhin heißt es in I 52, dass Kroisos auch dem Orakel des Amphiaraos Weihgeschenke (freilich erheblich weniger als Delphi) gesandt, und in I 53,2, dass er diesem Orakel die gleiche Frage wie Delphi gestellt habe; ferner habe das Orakel des Amphiaraos auch die gleiche Antwort gegeben wie das in Delphi. (KINDT, 2016, 22 Anm. 22 nennt irrtümlicherweise anstelle des Amphiaraos-Orakels das Zeus-Orakel von Dodona.) Später jedoch macht Kroisos das Amphiaraos-Orakel nicht ebenso wie Delphi für seine Niederlage gegen Kyros verantwortlich, und das Amphiaraos-Orakel erscheint auch nur noch zweimal kurz in Herodots weiterem Werk: in I 92,2 bei einer nochmaligen Erwähnung der von Kroisos dorthin gestifteten Weihgeschenke und in VIII 134 bei der „Orakelreise“ des Karers Mys im Auftrag des persischen Feldherrn Mardonios. THONEMANN, 2016, 153 f. weist auf den Widerspruch hin, dass Herodot Delphi zunächst (in I 48,1) als das „einzige“ Wahres verkündende Orakel bezeichnet, kurz darauf (I 53,2) aber sowohl Delphi als auch das Amphiaraos-Orakel als die „einzigen“ wahren Weissagungsstätten auf der Welt: „the awkward shift from singular to plural [...] clearly indicates that Herodotus was trying to reconcile two incompatible traditions“ (zur Harmonisierung dieses Widerspruchs vgl. bereits FLOWER, 1991, 64) Im Anschluss daran (S. 161–165) macht Thonemann in überzeugender Weise wahrscheinlich, dass Herodot durch die Weihung eines „Kroisos“ (der aber ziemlich sicher nicht der Lyderkönig war) an Amphiaraos, die er im Tempel des Apollon Ismenios zu Theben sah, zu der Annahme veranlasst wurde, dass diese Weihung zustande kam, weil (der Lyderkönig) Kroisos Amphiaraos für ein zuverlässiges Orakel habe danken wollen. 17 KIRCHBERG, 1965, 17 vermutet, dass Herodot das in I 47,3 zitierte (von KIRCHBERG als „nicht echt“ erachtete) Orakel selbst hörte; das ist gut denkbar, da es eine publikumswirksame „Selbstpreisung“ des umfassenden Wissens des delphischen Gottes enthält. 18 Zu den Weihgeschenken vgl. PARKE, 1984, 209–212.216 f.222 f. (Auf S. 222 f. äußert PARKE die Vermutung, dass diese Weihgeschenke nicht alle gleichzeitig, sondern bei mehreren verschiedenen Gelegenheiten von Kroisos gestiftet wurden); FLOWER, 1989, 66– 68 („Croesus, if anyone, must have believed in the power of Apollo and probably also in the veracity of his oracle“, 68); MILLS, 2014. FLOWER, 1989, 68 äußert sogar die These, dass es die Vielzahl und der Reichtum der Kroisos-Weihgeschenke in Delphi waren, die Herodot dazu inspirierten, sich näher mit der Geschichte dieses Königs zu beschäftigen („The core of this narrative is the gifts and the oral traditions which are associated with them“). Zur Statue von Kroisos’ „goldener Bäckerin“ vgl. ebenfalls PARKE, 1984, 219 f. sowie in diesem Band den Beitrag von Bäbler, oben S. 156–161.
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und welches Heer von Menschen er als Bundesgenossen gewinnen soll“,19 und er erhält bekanntlich zur Antwort, „dass er, wenn er gegen die Perser zu Felde ziehe, ein großes Reich zerstören werde“.20 Da Kroisos dies als Zusicherung versteht, dass er das Reich des Kyros zerstören werde, schickt er den Delphern neuerliche Geschenke (I 54,1) und stellt eine weitere Frage, nämlich „ob seine Monarchie von langer Dauer sein werde“;21 daraufhin bekommt er das berühmte „Maultier-Orakel“: „Dann aber, wenn ein Maultier wird zum König der Meder, ja dann, Lyder mit zartem Fuß, längs dem steinigen Hermos flieh und zögere nicht und sei ohne Scham ein Feigling!“22
Auch dieses Orakel kann er nur in seinem Sinn – d.h. als Zusicherung einer langen Herrschaft – verstehen. Freilich hatte Delphi für Kroisos nicht nur solche zumindest vordergründig positiven Sprüche parat: An einer etwas späteren Stelle erfahren wir noch, dass Kroisos auch einmal – die genaueren Umstände werden dabei nicht genannt – das Orakel wegen seines zweiten taubstummen Sohnes befragte und dabei zur Antwort erhielt: „Lyder von Herkunft, König von vielen, großer Narr Kroisos! Wolle nicht hören die viel ersehnte Stimme im Hause, wenn dein Sohn einmal spricht; für dich ist viel besser, dass ferne dies ist; denn er wird sprechen am ersten glücklosen Tage.“23
Diese Warnung – dass es auch einmal glücklose Tage für Kroisos geben könnte – bleibt bekanntlich folgenlos; Kroisos zieht gegen Kyros, verliert den
19 Hdt., I 53,2: εἰ στρατεύηται ἐπὶ Πέρσας καὶ τίνα ⟨ἂν⟩ στρατὸν ἀνδρῶν προσθέοιτο σύµµαχον. Der zweite Teil dieser Doppelfrage zeigt, dass Kroisos offenbar bereits fest mit der Bejahung des ersten Teils rechnet und deshalb auch die berühmte zweideutige Antwort des Orakels nur eindeutig in seinem Sinn verstehen kann. 20 Hdt., I 53,3: ἢν στρατεύηται ἐπὶ Πέρσας, µεγάλην ἀρχήν µιν καταλύσειν. CRAHAY, 1956, 198 hat dieses Orakel als „équivoque puérile“ bezeichnet; ähnlich kritisch PARKE/WORMELL I 135 („absurd simplicity“). Dagegen wendet KIRCHBERG, 1965, 19 Anm. 3 die große Bekanntheit dieses Orakels ein, die u.a. aus seiner Erwähnung durch Aristoteles (Rhet., III 5, 1407a37) hervorgeht. 21 Hdt., I 55,1: εἴ οἱ πολυχρόνιος ἔσται ἡ µουναρχίη. 22 Hdt., I 55,2: Ἀλλ’ ὅταν ἡµίονος βασιλεὺς Μήδοισι γένηται, / καὶ τότε, Λυδὲ ποδαβρέ, πολυψήφιδα παρ’ Ἕρµον / φεύγειν µηδὲ µένειν, µηδ’ αἰδεῖσθαι κακὸς εἶναι. 23 Hdt., I 85,2: Λυδὲ γένος, πολλῶν βασιλεῦ, µέγα νήπιε Κροῖσε, / µὴ βούλευ πολύευκτον ἰὴν ἀνὰ δώµατ’ ἀκούειν / παιδὸς φθεγγοµένου. Τὸ δέ σοι πολὺ λώιον ἀµφὶς / ἔµµεναι· αὐδήσει γὰρ ἐν ἤµατι πρῶτον ἀνόλβῳ. Von diesem Orakel nimmt KIRCHBERG, 1965, 25 an, es sei „früher ... als die Einholung der Orakel, die den Kyros-Zug betreffen“ erfragt worden; aber wieso hätte Kroisos dieses Orakel noch vor dem „Orakel-Test“ einholen sollen, nachdem er doch erst seine anderen Anfragen stellte?
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Krieg, seine Hauptstadt wird ein- und er selber gefangengenommen24 und auf einen Scheiterhaufen gestellt, von dem ihn nur ein plötzlich einsetzendes Gewitter rettet, nachdem er den Gott Apollon – unter Verweis auf die vielen ihm gestifteten Opfer und Weihgeschenke – um Hilfe angerufen hat (I 87,1 f.). Auch diese göttliche Hilfe hält Kroisos in der Folge aber nicht davon ab, dem Orakelgott von Delphi durch Gesandte bittere Vorwürfe überbringen zu lassen: sie sollten die Fesseln [die Kyros dem besiegten Kroisos hatte anlegen lassen] auf die Schwelle des Tempels legen und fragen, ob er [scil. der Gott] sich nicht schäme, Kroisos durch seine Orakelsprüche angestachelt zu haben, gegen die Perser zu Felde zu ziehen [...] Dies sollten sie fragen und dazu, ob es bei den griechischen Göttern Sitte sei, undankbar zu sein.25
Diese massive Anklage ruft dann eines der bemerkenswertesten Kapitel im ersten Buch – und vielleicht im ganzen Werk Herodots – hervor, nämlich eine ausführliche und detaillierte Verteidigungsrede der Pythia (I 91): Sie beginnt mit dem Hinweis, dass selbst ein Gott wie Apollon nicht – oder jedenfalls nur in geringem Umfang – etwas gegen das Schicksal ausrichten könne, das über Kroisos verhängt gewesen sei,26 seit sein Vorfahr Gyges durch ein Verbrechen den lydischen Königsthron erlangt habe; immerhin habe der Gott ihn ja wenigstens vom Scheiterhaufen und damit vor dem Tod gerettet. Ferner habe Kroisos die Orakelsprüche, die seinen geplanten Krieg gegen die Perser und die D