Defizite bei der Umsetzung der EMRK im deutschen Strafverfahren: V-Leute, Lockspitzel, Telefonüberwachung von Rechtsanwälten [1 ed.] 9783428516469, 9783428116461

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Defizite bei der Umsetzung der EMRK im deutschen Strafverfahren: V-Leute, Lockspitzel, Telefonüberwachung von Rechtsanwälten [1 ed.]
 9783428516469, 9783428116461

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 167

Defizite bei der Umsetzung der EMRK im deutschen Strafverfahren V-Leute, Lockspitzel, Telefonüberwachung von Rechtsanwälten

Von

Dörthe Korn

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

DÖRTHE KORN

Defizite bei der Umsetzung der EMRK im deutschen Strafverfahren

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 167

Defizite bei der Umsetzung der EMRK im deutschen Strafverfahren V-Leute, Lockspitzel, Telefonüberwachung von Rechtsanwälten

Von Dörthe Korn

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Otto Lagodny, Salzburg Gedruckt mit Unterstützung der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg sowie der Evers-Marcic-Stiftung an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Salzburg Die Juridische Fakultät der Technischen Universität Dresden hat diese Arbeit im Jahre 2003 / 2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-11646-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorstehende Untersuchung wurde im Wintersemester 2003/2004 von der Juridischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertationsschrift angenommen. Literatur und Rechtsprechung befinden sich auf dem Stand 1. Oktober 2003. Ich möchte mich sehr herzlich bei allen bedanken, die zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben: Das gilt zunächst für meinen Mentor, Herrn Univ.-Prof. Dr. Otto Lagodny, der mir gemeinsam mit seinen österreichischen Kollegen einen beruflichen Wechsel an die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Salzburg ermöglichte und damit den Grundstein für das Entstehen einer übernationalen Arbeit legte. Herrn Univ.-Prof. Dr. Kurt Schmoller und Herrn Prof. Dr. Knut Amelung danke ich herzlich für ihre gutachterliche Tätigkeit. Ebenso herzlich danke ich meinen Kollegen Dr. Christian Rosbaud und Prof. Dr. Hubert Hinterhofer, die mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite standen, sich für fachliche Diskussionen Zeit nahmen und in der Überarbeitungsphase wertvolle Anregungen und Hinweise gaben, die zum Gelingen dieser Arbeit beitrugen. Meine Danksagung richtet sich in besonderer Weise auch an meine Familie. Sie alle kennen die Höhen und Tiefen um das Entstehen dieser Arbeit und gaben mir in jeder Phase den notwendigen persönlichen und moralischen Rückhalt. Frau Doris Korn danke ich an dieser Stelle außerdem herzlich für die sehr arbeitsaufwändigen Korrekturarbeiten. Zu innigem Dank verbunden bin ich meinem Ehemann. Ohne seine beständigen Ermunterungen wäre diese Arbeit nie entstanden. Ihm ist dieses Buch gewidmet. Salzburg, im Februar 2005

Dörthe Korn

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Teil 1 Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

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A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen und die nationalen Reaktionen im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erfolgreiche Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kostovski gegen die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Windisch gegen Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Lüdi gegen die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Saïdi gegen Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Van Mechelen u. a. gegen die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Visser gegen die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erfolglose Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) J. O. and T. T. gegen die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Liefveld gegen die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Baegen gegen die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Doorson gegen die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) S. E. gegen die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Kok gegen die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die für zulässig befundene Beschwerde Birutis u. a. gegen Litauen . . . II. Reaktionen der betroffenen Staaten auf die Urteile des EGMR . . . . . . . . . . 1. Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24 24 25 25 28 30 32 34 37 39 39 40 41 43 44 46 48 49 50 51 54 58

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung und ihrer Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Analyse der Straßburger Judikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 60

8

Inhaltsverzeichnis 1. Allgemeine Probleme im Umgang mit der konventionsrechtlichen Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zu Inhalt und Umfang des Rechts auf Konfrontation mit Belastungszeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK – einfaches Fragerecht oder Recht auf Konfrontation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK als Prüfungsmaßstab c) Die Auslegung des Begriffs „Belastungszeuge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zeitpunkt des Rechts auf Konfrontation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Adressaten des Rechts auf Konfrontation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Einschränkbarkeit des Konfrontationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Zulässigkeit der Anonymisierung und Geheimhaltung von Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) „Relevante und ausreichende Gründe“ für die Anonymisierung von Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Notwendigkeit wirksamer Verbrechensbekämpfung allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gefährdung hochwertiger Rechtsgüter des Zeugen oder ihm nahe stehender Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Aufrechterhaltung von Informantennetzen . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Maßstab eines „Counterbalancing Procedure“ . . . . . . . . . . . (1) Kontradiktorische Einvernahme unter Geheimhaltung der Identität des Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kontradiktorische Einvernahme unter räumlicher Trennung und Tarnung des Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Einführung des Wissens von Zeugen unter Rückgriff auf Beweissurrogate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die kontradiktorische Einvernahme unter Geheimhaltung der Identität des Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Derzeitige Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die kontradiktorische Einvernahme unter räumlicher Trennung und Tarnung des Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Derzeitige Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausschluss des Angeklagten von der Hauptverhandlung . . . . . bb) Die Geheimhaltung des äußeren Erscheinungsbildes des Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kommissarische Vernehmung des Zeugen unter Ausschluss des Angeklagten und ohne Benachrichtigung des Verteidigers b) Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausschluss des Angeklagten von der Hauptverhandlung . . . . .

60 61 61 62 63 64 66 67 67 68 69 69 69 71 72 73 75 77 80 82 82 82 83 84 84 84 85 87 88 88

Inhaltsverzeichnis

9

bb) Geheimhaltung des äußeren Erscheinungsbildes des Zeugen . . cc) Kommissarische Vernehmung des Zeugen unter Ausschluss des Angeklagten und ohne Benachrichtigung des Verteidigers 3. Die Einführung des Wissens von gesperrten Zeugen unter Verwendung von Beweissurrogaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Derzeitige Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Sperrung des Zeugen durch die Exekutive . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Heranziehung von Ersatzbeweisen im gerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die gerichtliche Überprüfung der Sperrerklärung . . . . . . . . (2) Ausgleich der fehlenden Gewährung der Verteidigungsrechte über den Grundsatz der freien Beweiswürdigung . . b) Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Rückgriff auf Beweissurrogate bei rechtswidrigen Sperrerklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Beweiswürdigungslösung im Falle des behördlich gesperrten Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Lösungsweg: Erweiterte Zulassung alternativer Vernehmungsmethoden . .

89 90 90 91 91 92 93 94 96 96 97 99

D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Teil 2 Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

102

A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zur Zulässigkeit sog. Lockspitzeleinsätze und die nationalen Reaktionen im Überblick . . . . . . . . . . . . . I. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erfolgreiche Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lüdi gegen die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Einwand fehlender Beschwer nach Art. 25 EMRK a. F. . . bb) Die Rüge im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . b) Teixeira de Castro gegen Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erfolglose Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) A. B. gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Radermacher und Pferrer gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritsch gegen Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) R. Müller gegen Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Myrdal gegen Norwegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Speckmann gegen Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) M. H. Shahzad und K. L. gegen Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . h) S. E. gegen die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105 106 106 107 107 108 110 113 113 114 115 116 116 117 117 118

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Inhaltsverzeichnis i) Kempter gegen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Calabro gegen Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Für zulässig befundene Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lewis gegen Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Edwards gegen Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Reaktionen einzelner Staaten auf die Urteile des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . 1. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung und ihrer Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Analyse der Straßburger Judikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Lockspitzeleinsatz als gesetzlich zu regelnde Eingriffsmaßnahme nach Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 8 Abs. 1 EMRK als Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Einsatz heimlicher Ermittler als „Nichteingriff“ . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zulässigkeit und Grenzen einer polizeilichen Tatprovokation nach Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 6 Abs. 1 EMRK als Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung zulässiger Ermittlungstätigkeit von unzulässiger Tatprovokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Darlegungspflicht des Beschwerdeführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beurteilungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Anstoß zur Begehung der strafbaren Handlung (Anstiftungshandlung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Provokation eines „zur Tat geneigten Verdächtigen“ . . . . . (a) Das Kriterium des Tatverdachts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Das Kriterium der gerichtlichen Anordnung und Überwachung von Lockspitzeleinsätzen . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folgen einer gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßenden Tatprovokation a) Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Strafmilderung als ausreichende Wiedergutmachungsmaßnahme i. S. d. Art. 41 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Feststellung einer „von Beginn an“ fehlenden Fairness des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Festsetzung einer hohen Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Ausführungen des EGMR zu Art. 25 a. F. im Fall Lüdi . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Lockspitzeleinsatz ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage . . . . a) Derzeitige Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK

119 119 120 120 121 122 122 124 126 126 126 127 128 130 131 131 132 132 133 133 133 134 136 136 137 137 138 139 140 140 141 141 142 142 143

Inhaltsverzeichnis

11

2. Zulässigkeit und Grenzen einer polizeilichen Tatprovokation . . . . . . . . a) Derzeitige Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folgen einer gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßenden Tatprovokation a) Derzeitige Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 und 41 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Lösungsweg: Straffreiheit für den rechtswidrig Provozierten bei fehlender materieller Rechtsgutverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Staatliche Provokation als Verfahrenshindernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Straffreiheit bei materieller Rechtsgutsverletzung . . . . . . . . . . . . .

144 144 145 146 146 147 150 150 152

D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Teil 3 Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten als Vertrauenspersonen und Berufsgeheimnisträger

154

A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zur Fernmeldeüberwachung von Rechtsanwälten und nationale Reaktionen im Überblick . . . . . . . . . . . . I. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erfolglose Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mulders gegen die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Remmers and Hamer gegen die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Beschwerde Kopp gegen die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Reaktionen einzelner Staaten auf die Urteile des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtslage in anderen europäischen Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung und ihrer Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Analyse der Straßburger Judikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Telefonüberwachung von Rechtsanwälten als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Eingriffsmaßnahme“ . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Verhältnismäßigkeit von Telefonüberwachungsmaßnahmen unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Telefonüberwachung von Rechtsanwälten als „gesetzlich vorgesehene Eingriffsmaßnahme“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157 157 157 157 159 161 163 164 166 167 167 167 168 168 169 173 174

12

Inhaltsverzeichnis b) Die Bestimmtheit von Telefonüberwachungsregelungen im Hinblick auf den betroffenen Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Derzeitige Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Lösungsweg: Schutz des anwaltlichen Vertrauensverhältnisses durch ein Beweisverwertungsverbot – der geplante § 53b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176 178 178 178 181 184

D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Abschließende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen a. A. a. a. O. a. F. AK allgM a. M. AnwBl arg. Art. AT Aufl. BBl. BbgVerfG Bd. BE-StrV BG BGBl. BGE BGH BGHSt BJM BlgNR BL-StPO bspw. BT BT-Drs. BtmG BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE bzw.

anderer Ansicht am angegebenen Ort alte Fassung Alternativkommentar zur StPO (vgl. Literaturverzeichnis) allgemeine Meinung anderer Meinung Österreichisches Anwaltsblatt argumentum Artikel Allgemeiner Teil Auflage Bundesblatt (Schweiz) Verfassungsgericht des Landes Brandenburg Band Gesetz über das Strafverfahren des Kantons Bern (Schweiz) Schweizerisches Bundesgericht Bundesgesetzblatt Entscheidung des schweizerischen Bundesgerichts Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Basler juristische Mitteilungen Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrats (Österreich) Strafprozessordnung des Kantons Basel-Landschaft (Schweiz) beispielsweise Besonderer Teil Drucksache des Bundestages Betäubungsmittelgesetz Bundesverfassungsgericht Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidungssammlung Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts in der Entscheidungssammlung beziehungsweise

14 CD

Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen

Collection of Decisions/Recueil des décisions (Sammlung der Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte bis 1974) CP Code pénal CPP Code de procédure pénale Crim. Cour de cassation Chambre criminelle Crim.L.R. The Criminal Law Review ders. derselbe d.h. das heißt Doc. Dokument DR Decisions and Reports/Décisions et Rapports (Sammlung der Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte seit 1974 EBRV StPÄG 1993 Erläuternde Bemerkungen zur Regierungsvorlage zum österreichischen Strafprozessänderungsgesetz 1993, 924 BlgNR 18. GP, S. 36 E-BVE Vorentwurf eines Bundesgesetzes über verdeckte Ermittlungen (Schweiz) EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EKMR Europäische Kommission für Menschenrechte EMRK Europäische Menschenrechtskonvention etc. et cetera EU Europäische Union EuGRZ Europäische Grundrechte-Zeitschrift E. v. Entscheidung vom EvBl Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen in der Österreichischen Juristenzeitung f., ff. folgende, fortfolgende Fn. Fußnote FR-StPO Strafprozessordnung des Kantons Freiburg (Schweiz) FS Festschrift GA Goltdammer’s Archiv gem. gemäß GG Grundgesetz GP Gesetzgebungsperiode GS Gedächtnisschrift GVG Gerichtsverfassungsgesetz h. A. herrschende Ansicht Hdb. BtmStR Handbuch Betäubungsmittelstrafrecht (vgl. Literaturverzeichnis) Hdb. d. StaatsR Handbuch des Staatsrechts (vgl. Literaturverzeichnis) HK Heidelberger Kommentar zur StPO (vgl. Literaturverzeichnis) h. L. herrschende Lehre h. M. herrschende Meinung

Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen HRLJ Hrsg. i. d. F. i. d. R. i. d. S. i. e. S. IntKomm i. S. d. i. V. m. i. w. S. JA JAB JAP JBl JMZ JR JSt Jura JuS Jus-extra JZ KK K/M-G KMR LG lit. LK LKV

LR LSK m. Anm. MDR m. E. MVVerfG m. w. Nw. n. F.

15

Human Rights Law Journal Herausgeber in der Fassung in der Regel in diesem Sinn im engeren Sinn Internationaler Kommentar zur EMRK (vgl. Literaturverzeichnis) im Sinne des in Verbindung mit im weiteren Sinn Justizausschuss (Österreich) Justizausschussbericht (Österreich) Juristische Ausbildung und Praxisvorbereitung (Zeitschrift Österreich) Juristische Blätter (Zeitschrift Österreich) Justizministeriumszahl (Geschäftszeichen für Ministerialentwürfe in Österreich) Juristische Rundschau Journal für Strafrecht (Zeitschrift Österreich) Juristische Ausbildung Juristische Schulung Beilage zur Wiener Zeitung Juristenzeitung Karlsruher Kommentar zur StPO (vgl. Literaturverzeichnis) Kleinknecht/Meyer-Goßner, Kommentar zur StPO (vgl. Literaturverzeichnis) Kleinknecht/Müller/Reitberger, Kommentar zur StPO (vgl. Literaturverzeichnis) Landgericht litera Leipziger Kommentar zum StGB (vgl. Literaturverzeichnis) Landes- und Kommunalverwaltung, Verwaltungs-Rechtszeitschrift für die Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Löwe-Rosenberg, Kommentar zur StPO (vgl. Literaturverzeichnis) ÖJZ-Leitsatzkartei mit Anmerkung Monatszeitschrift für Deutsches Recht meines Erachtens Verfassungsgericht des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern mit weiteren Nachweisen neue Fassung

16 NJ NJB NJW nlStPO Nov Nr. NRsp NStZ NStZ-RR NVwZ OGH ÖJZ ÖJZ-LSK OLG OrgKG öStPO Reports

RUDH RV Rn. RZ S. SächsVerfGH Serie A

SJZ SK-StPO SMG s. o. sog. SSt StGB StPÄG 1993 StPO StV

Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen Nederlands Jurisprudentie Nederlands Juristenblad Neue Juristische Wochenschrift niederländische StPO Novelle Nummer Neue Rechtsprechung des OGH (Beilage zur ÖJZ) Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungsreport in der NStZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht österreichischer Oberster Gerichtshof Österreichische Juristen-Zeitung ÖJZ-Leitsatzkartei Oberlandesgericht Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Formen der Organisierten Kriminalität österreichische Strafprozessordnung Reports of Judgements and Decisions/Recueil des arrêts et décisions (Sammlung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ab 1996) Revue Universelle des Droits de l’Homme Regierungsvorlage Randnummer Österreichische Richterzeitung Seite Sächsischer Verfassungsgerichtshof Publications de la Cour européenne des droits de l’homme/Publications of the European Court of Human Rights, Série A: Arrêts et décisions/Series A: Judgments and Decisions, Volume (Sammlung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der Berichte der Europäischen Kommission für Menschenrechte bis 1996) Schweizerische Juristenzeitung/Revue Suisse de Jurisprudence Systematischer Kommentar zur StPO (vgl. Literaturverzeichnis) Suchtmittelgesetz (Österreich) siehe oben sogenannte(r) Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofes in Strafsachen und Disziplinarangelegenheiten Strafgesetzbuch Strafprozessänderungsgesetz 1993, BGBl. 1993/526 (Österreich) Strafprozessordnung Strafverteidiger

Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen s. u. TÜ u. a. Urt. v. US u. U. VE-StPO VG VGH vgl. V-Leute V-Mann Vorbem. V-Person VS-StPO wistra WK YB ZaöRV z. B. ZfRV ZfV Ziff. ZRP ZStR ZStW z. T.

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siehe unten Telefonüberwachung und andere Urteil vom United States unter Umständen Vorentwurf zu einer eidgenössischen Strafprozessordnung (Schweiz) Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verbindungs-/Vertrauens-Leute Verbindungs-/Vertrauens-Mann Vorbemerkungen Verbindungs-/Vertrauens-Person Strafprozessordnung des Kantons Wallis (Schweiz) Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch Yearbook of the European Convention on Human Rights/Annuaire de la Convention européenne des droits de l’homme Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für Verwaltung Ziffer Zeitschrift für Rechtspolitik Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht/Revue Pénale Suisse Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zum Teil

Einleitung A. Gegenstand der Untersuchung Vor noch nicht allzu langer Zeit wurden die Problematiken des V-Mann- und Lockspitzeleinsatzes sowie der Telefonüberwachung von Vertrauenspersonen fast ausschließlich national am Maßstab der durch das deutsche Grundgesetz gewährten Freiheitsrechte und ihrer Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht erörtert.1 Dies hat sich in den letzten Jahren maßgeblich geändert. Seit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in diesen Verfahrensweisen der Strafverfolgung mehrfach eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention sah, hat sich die Diskussion entsprechend „europäisiert“ bzw. „internationalisiert“.2 Dabei werfen mittlerweile zahlreiche Kritiker Judikatur und Gesetzgebung vor, die „Vorgaben des Straßburger Gerichtshofs“ nicht hinreichend zu berücksichtigen3 und somit einem „konventionswidrigen Zustand“ in Deutschland Vorschub zu leisten. Die EMRK hat in Deutschland nur den Stand eines einfachen Bundesgesetzes (Art. 59 Abs. 2 GG), was theoretisch bedeutet, dass die Regelungen der EMRK durch ein nachfolgendes Bundesgesetz mit entgegenstehenden Inhalt derogiert werden könnten. Über den Grundsatz des „völkerrechtsfreundlichen Verhaltens“ des Gesetzgebers bzw. der „völkerrechtsfreundlichen Auslegung nationalen Rechts“ durch die Gerichte sollen jedoch solche denkbaren Kollisionen praktisch vermieden werden.4 Wie das BVerfG in ständiger Rechtsprechung betont, sind die Gerichte bei der Rechtsanwendung gehalten, Konflikte mit dem Völkerrecht zu vermeiden. Die Grundrechte sind im Lichte der EMRK auszulegen, wobei die Rechtsprechung des EGMR als „Auslegungshilfe“ dient.5 1 Zur früheren „Überheblichkeit“ deutscher Gerichte gegenüber den Inhalten der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR vgl. Simon, Beschuldigtenrechte, S. 224 ff. 2 Vgl. auch Jung GA 2003, 191 f. 3 Zur Kritik des Schrifttums an der bestehenden Rechtslage in Bezug auf die drei genannten Themenbereiche siehe nachfolgend Teil 1.A., Teil 2.A., Teil 3.A. 4 Näher zur Problematik Weigend StV 2000, 384 (386 f.); Kühne StV 2001, 73 (74 f.) jeweils m. w. Nw. 5 BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 1987 – 2 BvR 589/79, BVerfGE 74, 358 (370); BVerfG, Beschl. v. 20. 12. 2000 – 2 BvR 591/00, NJW 2001, 2245 (2246). Zur Rezeption der Straßburger Spruchpraxis durch die innerstaatlichen Gerichte vgl. bspw. Kühl ZStW 100 (1988), 406 (425 ff.); Uerpmann, EMRK, S. 137 ff. Vgl. auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 51 ff.

20

Einleitung

Die Verarbeitung der Spruchpraxis des EGMR ist allerdings nicht immer frei von Missverständnissen.6 Gerade in den oben angesprochenen Problembereichen ist fraglich, ob die durchaus erkennbaren „Umsetzungsbemühungen“ der nationalen Legislative und Judikative ausreichend sind oder nicht. Dieser Frage soll in der nachfolgenden Untersuchung näher nachgegangen werden. Ziel der Arbeit ist es daher, die strafprozessuale V-Mann-Problematik, den polizeilichen Lockspitzeleinsatz und die Telefonüberwachung von Vertrauenspersonen im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR näher zu untersuchen. Es sollen die Fragen nach den „Vorgaben“ des EGMR zu den o. g. Themenbereichen beantwortet und die notwendigen Schlussfolgerungen für die deutsche Rechtsordnung gezogen werden. Die Arbeit enthält dementsprechend zwei Schwerpunkte. Der erste Schwerpunkt liegt auf einer systematischen Aufbereitung und Analyse der Spruchpraxis der Konventionsorgane zum jeweiligen Themenkomplex, um die Frage zu beantworten, ob und welche konkreten Vorgaben sich zur Problematik aus der Straßburger Rechtsprechung überhaupt ableiten lassen. Dabei muss beachtet werden, dass sich die Entscheidungen des EGMR jeweils nur auf die Umstände des Einzelfalles beziehen. Das Vorliegen einer Konventionsverletzung wird anhand einer sog. Gesamtbetrachtung des Verfahrens festgestellt, in der alle Umstände des Einzelfalles abgewogen werden. Die Bedeutung der einzelnen Aspekte und ihr Verhältnis zueinander lässt sich dabei oft nicht deutlich erkennen.7 Erst wenn man die Spruchpraxis des EGMR in seiner Gesamtheit erfasst, können konkretere Aussagen hierzu getroffen werden. Die Arbeit konnte z. T. auf bereits vorangegangene systematische Untersuchungen zurückgreifen, hat diese jedoch in Bezug auf die in der Praxis anstehenden Rechtsfragen konkretisiert bzw. in Anbetracht der fortschreitenden Straßburger Spruchpraxis ergänzt.8 Der zweite Schwerpunkt liegt auf der Frage nach den Konsequenzen der Straßburger Judikatur für die deutsche Rechtsordnung. Ein Vergleich der derzeitigen Rechtslage mit den herausgearbeiteten konventionsrechtlichen Anforderungen lässt den Schluss auf notwendige Reformen in Rechtsprechung und Gesetzgebung zu.

6

Renzikowski JZ 1999, 605 (611). Vgl. auch Krauß, V-Leute, S. 2. 8 Hauptsächlich allgemeine verfassungsrechtliche Regeln für die Einführung des Wissens von V-Leuten in den Strafprozess herausarbeitend Krauß, V-Leute im Strafprozess und die Europäische Menschenrechtskonvention. Weniger tiefgehend wurden die Themen auch von Simon, Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 Abs. 3 EMRK, S. 108 ff., 119 ff., 126 ff. und von Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 657 ff., 170 ff., 145 ff. behandelt. 7

B. Gang der Untersuchung

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B. Gang der Untersuchung Der Gang der Untersuchung beginnt zu jedem Themenkomplex mit der Darstellung der Straßburger Spruchpraxis in seiner Gesamtheit. Dabei war die Verfasserin bemüht, möglichst alle Beschwerden und deren Behandlung durch die Straßburger Konventionsorgane zu einem Themenkomplex aufzufinden und darzustellen. In die Untersuchung wurden daher nicht nur die erfolgreichen, sondern auch die erfolglosen Beschwerden einbezogen. Hieran schließen sich rechtsvergleichende Betrachtungen an, wie in den verurteilten oder ähnlich „präjudiziell“ betroffenen Staaten wie Deutschland auf die Rechtsprechung des EGMR reagiert wurde bzw. wird. Letzteres wurde aufgenommen, um einen „internationalen“ Vergleich zum Stand der Umsetzung der Straßburger Spruchpraxis in die nationalen Rechtsordnungen zu ermöglichen. In einem weiteren Schritt erfolgt die bereits oben beschriebene Analyse der Straßburger Rechtsprechung. Zum Schluss werden die Konsequenzen der Straßburger Vorgaben für die deutsche Rechtsordnung aufgezeigt und auf gangbare und bereits in Diskussion befindliche Lösungswege hingewiesen. Im Hinblick auf die gewählte Reihenfolge der behandelten Themenbereiche wurde die „strafprozessuale V-Mann-Problematik“ bewusst an den Anfang der Untersuchung gesetzt. Zur Frage des Umgangs mit gefährdeten Zeugen bzw. heimlichen Ermittlern im Strafverfahren und der Vereinbarkeit von Zeugenschutzmaßnahmen mit den Beschuldigtenrechten des Art. 6 EMRK ist die umfangreichste und detaillierteste Spruchpraxis des EGMR vorhanden. Die zahlreichen Verurteilungen auf diesem Gebiet und die damit aufgeworfenen Fragen verleihen der Thematik derzeit eine besondere Bedeutung, so dass eine entsprechende Gliederung der Arbeit sinnvoll erscheint.

Teil 1

Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung A. Problemstellung Die Kriminalitätsentwicklung in den Bereichen des Organisierten Verbrechens hat die polizeilichen Ermittlungsbehörden zunehmend dazu übergehen lassen, mit verdeckt operierenden Polizeibeamten und V-Männern9 zu arbeiten. Ziel ist es, die nach außen abgeschotteten Organisationen zu infiltrieren und dadurch an die hauptverantwortlichen Straftäter, die Organisatoren und Finanziers im Hintergrund, zu gelangen.10 Der Aufbau derartiger Informantennetze ist i. d. R. nicht nur aufwendig, sondern auch mit einem sehr hohen Risiko für Leib und Leben der verdeckt ermittelnden Polizeibeamten und V-Personen im Falle ihrer Enttarnung verbunden.11 Aus diesem Grunde sind die Exekutivbehörden sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, einen heimlichen Ermittler12 als Zeugen vor Gericht „preiszugeben“. Unter Abwägung des Sicherheits- und Geheimhaltungsinteresses gegen die Belange der Strafjustiz gelangen sie deshalb (gestützt auf § 96 StPO analog bzw. §§ 110b Abs. 3 S. 3 StPO) nicht selten zu der Ansicht, dass der „Informant“ entweder gar nicht oder nur unter besonderen Schutzmaßnahmen als Zeuge zur Verfügung stehen kann. Im Falle einer vollständigen Sperrung verweigert die Exekutive dem Gericht die Auskunft über Namen und ladungsfähige Anschrift des heimlichen Ermittlers. Gleichzeitig bietet sie als „Zeuge vom Hören-Sagen“ die Anhörung des Vernehmungsbeamten an, beschränkt jedoch dessen Aussagegenehmigung gem. § 54 StPO in der Weise, dass sie ihm untersagt, die Identität der V-Person bekannt zu geben.13 9 Bei heimlichen Ermittlungshelfern ist zwischen verdeckten Ermittlern (unter einer Legende getarnt ermittelnde Polizeibeamte), nicht offen ermittelnden Polizeibeamten (NOEP), V-Leuten im engeren Sinne (für die Strafverfolgungsorgane tätige Privatpersonen) und bloßen Informanten zu unterscheiden. Zur näheren Begriffsbestimmung und Differenzierung vgl. Lesch, Strafprozessrecht, S. 79; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 534 ff.; Krauß, V-Leute, S. 10 ff. 10 Näher dazu Krey JR 1998, 1. 11 Krey JR 1998, 1 (3). 12 Dieser Begriff soll verdeckte Ermittler, V-Personen und Informanten gleichermaßen umfassen vgl. Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 534 ff.

A. Problemstellung

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Das Gericht, das nach § 244 Abs. 2 StPO zur Sachaufklärung verpflichtet ist, hat zwar auf die Erlangung des bestmöglichen Beweises – und damit möglichst auf die unmittelbare Zeugenaussage durch die V-Person – hinzuwirken, kann jedoch letztlich die Exekutive nicht zwingen, die Identität des gesperrten Zeugen offenzulegen.14 Nach Ansicht des BGH kann auf die Sperrung aber auch nicht mit einem Beweisverwertungsverbot für die angebotenen Beweissurrogate reagiert werden. Die Aufklärungspflicht gebiete in diesem Falle vielmehr, auf diese Beweismittel zurückzugreifen und die berechtigten Bedenken über die Zuverlässigkeit solcher Beweise bei der Beweiswürdigung (§ 261 StPO) zu berücksichtigen.15 Ob diese Rechtsprechung mit einer rechtsstaatlichen Verfahrensweise vereinbar ist, wird seit jeher kontrovers diskutiert.16 Neu ist jedoch, dass die Diskussion hauptsächlich vor dem Hintergrund der durch die EMRK garantierten Rechte geführt wird. Obwohl der EGMR bereits Ende der 80er Jahre das erste maßgebende Urteil zur Frage anonym bleibender Zeugen gefällt hat,17 fand seine Judikatur in Deutschland erst zehn Jahre später die notwendige Aufmerksamkeit. In der jüngsten Literatur und Rechtsprechung der nationalen Gerichte spielen die Garantien des Art. 6 EMRK für die Thematik des anonymen Zeugen eine gewichtige Rolle. Zahlreiche Autoren sind der Auffassung, dass die gegenwärtige nationale Rechtsprechung nicht mit der Spruchpraxis des EGMR zu vereinbaren sei und deshalb einer Änderung bedürfe.18 Der BGH hat sich gleichfalls intensiv mit dieser Thematik befasst, gelangte jedoch bis vor kurzem zur gegenteiligen Ansicht. Für eine Abkehr von der bisherigen „Beweiswürdigungslö13 Zur Verfahrensweise Lesch StV 1995, 542; ders., Strafprozessrecht, S. 83 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 917 ff.; Nack, Kriminalistik 1999, 171; Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 137 ff. 14 Dazu näher noch unten S. 91 ff. [Teil 1.C.II.3.a)aa)]. 15 Sog. Beweiswürdigungslösung: zuletzt BGH, Urt. v. 11. 2. 2000 – 3 StR 377/99, StV 2000, 649 mit Anm. Wattenberg StV 2000, 688; bestätigt durch BVerfG, Beschl. v. 20. 12. 2000 – 2 BvR 591/00, NJW 2001, 2245 („Landshutentscheidung“); BGH Beschl. v. 20. 2. 2002 – 1 StR 545/01, NStZ-RR 2002, 176. Dies neuerdings bezweifelnd BGH, Beschl. v. 26. 9. 2002 – 1 StR 111/02, wistra 2003, 109 (111). 16 Zu den bereits früher zahlreichen Monographien zu diesem Thema vgl. überblicksweise Geppert, Unmittelbarkeit, S. 284 Fn. 128. Zur späteren Literatur vgl. die Nachweise bei Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 188 ff. und Krauß, V-Leute, S. 29. 17 EGMR [Kostovski/Niederlande] Urt. v. 20. 11. 1989, Serie A/166; in deutscher Übersetzung abgedruckt in ÖJZ 1990, 312–315. Dazu unten S. 25 [Teil 1.B.I.1.a)]. 18 Vgl. etwa Wattenberg/Violet StV 1997, 620 (622); Renzikowski JZ 1999, 605 (612); Wattenberg StV 2000, 688 (693 f.); Wohlers, in: FS Trechsel, 813 (820 ff.); Weigend StV 2000, 384; ders. StV 2001, 63; Kühne StV 2001, 73 (76); Ambos NStZ 2003, 14 (17); Simon, Beschuldigtenrechte, S. 136 ff.; Rzepka, Fairneß, S. 433 f.; Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 677 ff. Zurückhaltender Eschelbach StV 2000; 390 (397); Krauß, V-Leute.

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

sung“ sah er keinen Anlass.19 Erst jüngst hat der erste Strafsenat seine Bedenken angemeldet und für eine Zulassung der Videovernehmung unter optischer und akustischer Veränderung des Bildes und der Stimme plädiert, da nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK das Wissen anonymer Zeugen nicht wirksam in die Verhandlung eingebracht werden könne, wenn dem Angeklagten nicht die Möglichkeit einer unmittelbaren Konfrontation mit ihnen eingeräumt werde.20 Angesichts der jüngsten Entwicklungen – nicht nur in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, sondern auch in der Straßburger Spruchpraxis21 – soll auf diese Thematik noch einmal näher eingegangen werden.22 Notwendiger Ausgangspunkt ist dabei ein Überblick über die bisherige EGMR-Rechtsprechung (nachfolgend B.). Hieran schließt sich eine nähere Analyse dieser Judikatur in ihrem Gesamtkontext an (unten C.I.). Zu den Auswirkungen der Straßburger Rechtsprechung auf die deutsche Rechtslage kann abschließend Stellung bezogen werden (unten C.II.).

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen und die nationalen Reaktionen im Überblick I. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane Die wichtigsten Entscheidungen, in denen die Verwertung anonymer Zeugenaussagen als Verstoß gegen Art. 6 EMRK angesehen wurde, betrafen Verfahren gegen die Niederlande, Österreich, Frankreich und die Schweiz (unten 1.). Allerdings gab es auch nach der Kostovski-Entscheidung des EGMR eine Reihe von Beschwerden, welche die Konventionsorgane trotz Beteiligung anonymer Zeugen als unbegründet zurückwiesen. Ein unverzerrtes Bild über die Straßburger Spruchpraxis kann nur dann gewonnen werden, wenn man auch diese Beschwerden in die Betrachtung einbezieht (unten 2.).

19

BGH (Fn. 15), StV 2000, 649. BGH (Fn. 15) wistra 2003, 109 (111). 21 Nach Ausschöpfung des Rechtswegs zur „Landshutentscheidung“ ist das Verfahren derzeit beim EGMR anhängig – [Haas/BRD] – 73047/01. 22 Dazu bereits früher Krauß, V-Leute, S. 47 ff. 20

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen

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1. Erfolgreiche Beschwerden a) Kostovski gegen die Niederlande23 Der Fall Kostovski gegen die Niederlande bot für den EGMR erstmalig Anlass, sich mit der Problematik anonymer Zeugenaussagen zu befassen. Der Beschwerde lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Bf. Slobodan Kostovski wurde zusammen mit zwei weiteren Beschuldigten im September 1982 wegen bewaffneten Raubüberfalls auf eine niederländische Bank zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren verurteilt. Der Schuldspruch gründete sich maßgeblich auf die Aussagen zweier anonymer Zeugen, die keine Augenzeugen des Banküberfalls waren, jedoch angegeben hatten, dass ihnen von dem Überfall und den daran beteiligten Personen berichtet worden war. Beide Zeugen gaben vor, mit den Beschuldigten näher bekannt zu sein. Während eine Aussageperson ihr Wissen über den Tatvorgang bereits einen Tag nach dem Überfall der Polizei preisgab, erschien der zweite Zeuge erst einen Monat später. Seine Aussage deckte sich mit derjenigen des Erstzeugen, enthielt aber noch detailliertere Informationen über die Täter, deren Vorgehensweise und die Ausbeute des Überfalls. Die Polizei sicherte beiden Zeugen Anonymität zu und hielt ihre Identität in den polizeilichen Vernehmungsprotokollen geheim. Im Rahmen der gerichtlichen Voruntersuchung wurde der zweite Zeuge nochmals vernommen. Der die Vernehmung durchführende Untersuchungsrichter respektierte den Wunsch des Zeugen auf völlige Anonymität ebenfalls. Er befand die Furcht des Aussagenden vor möglichen Repressalien als „wohlbegründet“ und vernahm ihn deshalb in Abwesenheit der Beschuldigten und deren Verteidiger und ohne selbst die wahre Identität des Zeugen zu kennen. Die Verteidiger erhielten anschließend lediglich eine Kopie des (die Identität des Zeugen nicht offenlegenden) Vernehmungsprotokolls und das Recht, schriftliche Fragen zu stellen, wobei Fragen über die Identität des Zeugen nicht beantwortet werden mussten. Die Anwältin Kostovskis legte dem Zeugen 14 Fragen vor, wovon in einer weiteren vorgerichtlichen Vernehmung nur zwei beantwortet wurden. In der Hauptverhandlung vernahm das Gericht lediglich die für die Befragung des Zeugen zuständigen Untersuchungsrichter und den Polizeibeamten als Zeugen vom Hören-Sagen. Darüberhinaus verlas es die polizeilichen Vernehmungsprotokolle aus dem Vorverfahren. Die beeidete Zeugenaussage des zweiten Zeugen aus der gerichtlichen Voruntersuchung wurde ebenfalls verlesen und als „Zeugenaussage vor Gericht“ bezeichnet. Die anonymen Zeugen selbst wurden in der mündlichen Verhandlung nicht gehört. Gegen den Protest der Verteidigung verwertete das Gericht das aus den Beweissurrogaten hervorgehende Wissen der anonymen Zeugen für seine Entscheidungsfindung. Es verwies darauf, dass sich die zwei anonymen Zeugenaussagen einander bestätigten bzw. ergänzten, und stützte sich im Hinblick auf die Frage der Zuver23 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 17). Näher hierzu auch Krauß, V-Leute, S. 66 f.

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

lässigkeit der Zeugen auf die Einschätzung des Polizisten und der Untersuchungsrichter. Weitere Rechtsmittel24 der Beschuldigten gegen das Urteil führten weder zu einer Einvernahme des Zeugen in Gegenwart der Beschuldigten oder ihrer Verteidiger, noch hatten sie aus rechtlichen Gründen Erfolg. Der Hoge Raad stellte in seiner Entscheidung über die Revision der Beschuldigten ausdrücklich fest, Art. 6 EMRK könne seiner Ansicht nach einen Richter nicht daran hindern, das Fragerecht des Beschuldigten in gewissem Umfange zu beschränken, wenn er dies im Interesse einer angemessenen Rechtspflege für notwendig erachtet.25

Die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) und der EGMR waren diesbezüglich jedoch anderer Auffassung. Sie hielten eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 lit. d EMRK einstimmig für gegeben. Die Entscheidung stützte sich dabei im Wesentlichen auf folgende Begründung:26 1. Die Zulässigkeit von Beweisen ist in erster Linie eine Angelegenheit, die das innerstaatliche Recht zu bestimmen hat. Die Aufgabe des Gerichtshofs kann deshalb nicht darin bestehen, eine Meinung darüber abzugeben, ob die in Frage stehenden Aussagen korrekt zugelassen und gewürdigt wurden. Sein Auftrag ist es vielmehr darüber zu befinden, ob das Verfahren als Ganzes betrachtet, einschließlich der Art, in welcher die Beweise aufgenommen wurden, fair war. Dabei ist das Beschwerdevorbringen unter der gemeinsamen Betrachtung des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d zu beurteilen.27 2. Für die Zwecke des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK sind beide aussagenden Personen als Zeugen zu betrachten, weil die Aussagen beider, ob sie nun in der Verhandlung verlesen wurden oder nicht, tatsächlich dem Gericht vorlagen und von diesem in seine Erwägungen einbezogen wurden.28 3. Grundsätzlich müssen alle Beweise in Gegenwart des Angeklagten in öffentlicher Verhandlung mit Blickrichtung auf eine kontradiktorische Erörterung erhoben werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Zeugenaussagen stets nur in

24 Hof Amsterdam, Urt. v. 27. 5. 1983 (unveröffentlicht) und Hoge Raad, Urteil v. 25. 9. 1984, NJB 1984, Nr. 42, S. 1340 zitiert aus: van de Reyt, in: Hünerfeld, S. 141 Fn. 21, 22. 25 Vgl. EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 17) Ziff. 20: „It [Hoge Raad] also stated that Article 6 (art. 6) of the Convention did not prevent a judge, if he deemed it necessary in the interest of the proper administration of justice, from curtailing to some extent the obligation to answer questions and, notably, from allowing a witness not to answer questions about the identity of persons.“ 26 Die Darstellung der Begründung des Gerichtshofs hält sich weitestgehend an den originalen Wortlaut der Entscheidung. Zur anschaulicheren Darstellung der Argumentation des Gerichtshofs wird jedoch die Entscheidung nach eigenen Gliederungspunkten unterteilt. In den Fußnoten erfolgt ein Hinweis auf die Originalziffern der Urteilsbegründung des EGMR. 27 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 17) Ziff. 39. 28 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 17) Ziff. 40.

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen

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mündlicher Verhandlung erfolgen dürfen, um als Beweise verwertet werden zu können. Auch im Vorverfahren erlangte Zeugenaussagen können im Urteil verwendet werden, vorausgesetzt, dass die Verteidigungsrechte des Beschuldigten gewährt wurden. Diese verlangen, dass der Angeklagte eine angemessene und geeignete Gelegenheit erhält, die Glaubwürdigkeit eines gegen ihn aussagenden Zeugen überhaupt in Frage zu stellen und ihn zu befragen, sei es zu dem Zeitpunkt, zu dem der Zeuge die Aussage ablegt, sei es zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens.29 4. Gerade dies war im vorliegenden Fall nicht gegeben. Die Rechte der Verteidigung wurden hier so eingeschränkt, dass nicht von einem fairen Verfahren gesprochen werden kann:30 a) Es ist zwar richtig, dass die Verteidigung sowohl den Polizeibeamten als auch die Untersuchungsrichter, welche die Aussagen aufgenommen hatten, befragen konnte. Ebenso war es für die Verteidigung möglich, zumindest einem der anonymen Zeugen schriftliche Fragen vorzulegen. Jedoch war die Natur und das Ausmaß der Fragen, die auf diese Weise gestellt werden konnten, beträchtlich eingeschränkt. Dies vor allem im Hinblick auf die Entscheidung des Gerichts, dass die Anonymität der Zeugen gewahrt werden sollte. Letzteres erhöhte die Schwierigkeiten, denen sich der Bf. gegenübersah. Kennt die Verteidigung die Identität der Person, die sie befragen will, nicht, bedeutet dies unter Umständen, dass ihr die Möglichkeit genommen wird, darzulegen, dass die Person voreingenommen, feindselig oder unglaubwürdig ist. Zeugenaussagen können sehr wohl vorsätzlich unrichtig oder einfach irrig sein; und die Verteidigung ist nur schwer in der Lage, dies aufzuzeigen, wenn ihr die Informationen fehlen, die es ihr erlauben, die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu prüfen bzw. in Zweifel zu ziehen. Die Gefahren, die einer solchen Situation innewohnen, sind offensichtlich.31 b) Im Übrigen war es infolge der Abwesenheit der anonymen Zeugen auch den verhandelnden Gerichten nicht möglich, deren Verhalten bei der Befragung zu beobachten und sich hieraus einen eigenen Eindruck über die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu verschaffen. Es trifft sicherlich zu, dass die Gerichte über die Frage der Glaubwürdigkeit Beweis erhoben hatten und sie waren zweifellos vorsichtig bei der Würdigung der in Rede stehenden Aussagen, aber dies kann schwerlich als ein geeigneter Ersatz für die fehlende direkte Beobachtung angesehen werden. Es ist ebenso richtig, dass eine der anonymen Personen durch den Untersuchungsrichter vernommen wurde. Der Gerichtshof muss diesbezüglich jedoch feststellen, dass weder der Bf. noch sein Verteidiger bei der Vernehmung anwesend waren und dass auch der Untersuchungsrichter selbst die Iden29 30 31

EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 17) Ziff. 41. EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 17) Ziff. 45. EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 17) Ziff. 42.

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

tität des Zeugen nicht kannte – ein Umstand, der nicht ohne Einfluss auf die Glaubwürdigkeitsprüfung sein kann. Unter diesen Umständen kann nicht davon gesprochen werden, dass die Hindernisse, mit denen die Verteidigung zu kämpfen hatte, durch das nachfolgende Verfahren vor den Gerichtsbehörden ausgeglichen wurde.32 5. Der Einwand, dass die Praxis des Zurückgreifens auf anonyme Zeugenaussagen auf eine vermehrt feststellbare Einschüchterung von Zeugen zurückgehe und ihre Grundlage in einem Interessenausgleich zwischen der Gesellschaft, dem Angeklagten und dem Zeugen habe, kann nicht greifen. Der Gerichtshof unterschätzt die Bedeutung des Kampfes gegen das organisierte Verbrechen nicht. Dennoch ist dieses Argument, wenn es auch nicht ohne Gewicht ist, nicht entscheidend. Obwohl das Anwachsen des organisierten Verbrechens zweifellos die Einführung geeigneter Maßnahmen verlangt, legt diese Argumentation nicht genügend Gewicht auf das, was der Verteidiger des Bf. als „das Interesse eines jeden in einer zivilisierten Gesellschaft an einem kontrollierbaren und fairen Gerichtsverfahren“ bezeichnete. Das Recht auf eine faire Handhabung der Justiz hat einen so hervorragenden Platz in der Gesellschaft, dass es nicht der Zweckmäßigkeit geopfert werden kann.33 Die Konvention schließt nicht aus, dass man sich im Ermittlungsstadium eines Strafverfahrens auf anonyme Informanten verlässt. Die nachfolgende Verwertung anonymer Aussagen als ausreichendes Beweismittel, um eine Verurteilung zu begründen, ist jedoch eine andere Sache. Damit wurden Beschränkungen bewirkt, die mit den in Art. 6 EMRK enthaltenen Garantien unvereinbar waren. Die Regierung hat zugestanden, dass sich die Verurteilung des Bf. „in einem entscheidenden Ausmaß“ auf die anonymen Aussagen gründete.34 b) Windisch gegen Österreich35 Ein Jahr nach der Kostovski-Entscheidung hatte sich der Straßburger Gerichtshof mit einer ähnlichen Beschwerde gegen ein österreichisches Strafverfahren zu befassen Im Fall Windisch ging es um ein strafrechtliches Verfahren wegen eines Einbruchsdiebstahls in ein Kaffeehaus in Tirol. Die am Tatort vorgefundenen Fingerabdrücke ließen die Strafverfolgungsbehörden damals darauf schließen, dass am Einbruch 32

EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 17) Ziff. 43. EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 17) Ziff. 44: „The right to a fair administration of justice holds so prominent a place in a democratic society [. . .] that it cannot be sacrificed to expediency.“ 34 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 17) Ziff. 44. 35 EGMR [Windisch/Österreich], Urt. v. 27. 9. 1990, Serie A/186, in deutscher Übersetzung auszugsweise abgedruckt in ÖJZ 1991, 25–27. Näher hierzu auch Krauß, V-Leute, S. 70. 33

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen

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mindestens zwei Personen beteiligt gewesen sein mussten. Am Tag nach der Einbruchsnacht meldeten sich zwei Frauen (Mutter und Tochter) bei der Polizei. Sie gaben an, am Abend zuvor in der Nähe des Tatorts einen verdächtigen Kleinbus mit zwei Männern gesehen zu haben. Einer von ihnen sei an den Frauen unter einer Straßenlaterne vorbeigegangen, habe jedoch sein Gesicht teilweise mit einem Taschentuch verdeckt. Das verdächtige Aussehen der Männer habe sie dazu bewogen, sich das polizeiliche Kennzeichen des Kleinbusses aufzuschreiben. Da die Zeuginnen Angst vor Repressalien hatten, machten sie diese Angaben allerdings erst, nachdem ihnen die Wahrung ihrer Anonymität zugesichert worden war. Die Polizei nahm in der Folge den Eigentümer des Kleinbusses fest, der jedoch bestritt, etwas mit dem Einbruch zu tun zu haben. Hinsichtlich des zweiten Täters konzentrierten sich die Ermittlungen zunächst auf einen ehemaligen Kellner und (da dieser ein Alibi vorweisen konnte) später auf seinen Bekanntenkreis. Einer der Bekannten, der spätere Bf. Windisch, wurde von den Zeuginnen auf einem Foto als der Mann identifiziert, der ihnen in der Tatnacht begegnet war. Bei einer verdeckten Gegenüberstellung, bei welcher sich der Verdächtige 7 bis 10 Meter von den (im Verborgenen bleibenden) Zeuginnen entfernt ein Taschentuch vor das Gesicht hielt, behaupteten sie ohne Zögern, dass es sich um den Mann handele, der an ihnen am besagten Abend vorbeigegangen war. Windisch bestritt, zum besagtem Zeitpunkt am Tatort gewesen zu sein. In der Folge wurden er und der Eigentümer des Kleinbusses wegen schweren Einbruchsdiebstahls angeklagt. Der Gerichtshof erster Instanz vernahm lediglich die polizeilichen Verhörspersonen, welche die Identität der Zeuginnen nicht preisgeben durften. Die Anträge des Bf.s, die beiden Zeuginnen zu laden und ihm gegenüberzustellen, wies das Gericht ab. Es berief sich darauf, die Namen der Frauen nicht zu kennen und an die Entscheidung des Landesgendarmeriekommandos über die Geheimhaltung der Identität der Zeugen gebunden zu sein. Überdies hielt es die Ansicht der Polizeibehörden, die Anonymität der Zeuginnen zu wahren, für akzeptabel. Das Gericht verurteilte die Beschuldigten zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe. Dabei stützte sich das Urteil maßgeblich auf die Aussagen der Frauen vor der Polizei und die von ihnen vorgenommene Identifizierung des Beschuldigten Windisch. Diese waren die einzigen Beweismittel für seine Anwesenheit am Tatort, die er immer wieder bestritten hatte. Weitere Rechtsmittel hatten keinen Erfolg. Der OGH verwarf die Nichtigkeitsbeschwerde des Bf., da dieser im Prozess (verbunden mit seinem Antrag auf Ladung und Anhörung der anonymen Zeuginnen) nicht dargetan habe, wie ihre Identität hätte festgestellt werden sollen.

Auch hier führte das nachfolgende Verfahren vor den Straßburger Konventionsorganen für den Verurteilten zum Erfolg. Kommission und Gerichtshof waren jeweils einstimmig der Auffassung, dass gegen das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 lit. d EMRK verstoßen wurde. Die Begründung unterschied sich dabei kaum von der im Fall Kostovski [oben A.I.1.a)]: Der Gerichtshof betonte wiederum, dass der Angeklagte nach Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Abs. 1 eine angemessene und ausreichende Gelegenheit haben müsse, einen gegen ihn aussagenden Zeugen zu befragen und dessen Glaubwür-

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

digkeit grundsätzlich in Frage zu stellen.36 Wie im Kostovski-Urteil kritisierte der EGMR, dass weder der Bf. noch sein Verteidiger jemals Gelegenheit hatten, die beiden Zeuginnen direkt zu befragen. Er betonte erneut, dass die Möglichkeiten, einen Fragenkatalog vorzulegen und die Verhörspersonen zu befragen, nicht geeignet seien, das direkte Befragungsrecht zu ersetzen, weil mit der Unkenntnis der Identität der Belastungszeugen der Verteidigung die notwendigen Informationen genommen seien, um eine Glaubwürdigkeitsüberprüfung durchzuführen.37 Zusätzlich wies der Gerichtshof darauf hin, dass auch dem erkennenden Gericht diese Möglichkeit genommen war,38 und unterstrich, dass sich der Schuldspruch des Gerichts weitgehend auf die anonymen Zeugenaussagen stützte, da dies die einzigen Beweismittel waren, welche auf die Anwesenheit des Bf. am Tatort hindeuteten.39 c) Lüdi gegen die Schweiz40 Im Fall Lüdi gegen die Schweiz war erstmals die Sachlage gegeben, dass ein Polizeibeamter von den Strafverfolgungsbehörden für eine Zeugenaussage vor Gericht gesperrt worden war. Dem Urteil des Straßburger Gerichtshof lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im März 1984 erhielt die Berner Polizeibehörde von deutschen Ermittlern den Hinweis, dass ein gewisser Herr Lüdi einen Landsmann nach 200.000 Schweizer Franken gefragt habe, um den Erwerb von ca. 5 kg Heroin finanzieren zu können. Daraufhin wurde eine Voruntersuchung gegen Lüdi eingeleitet und mit Zustimmung des zuständigen Gerichts die Überwachung des Telefonverkehrs des Verdächtigen angeordnet. Außerdem setzte die Berner Kantonspolizei einen als Drogenfahnder ausgebildeten Polizeibeamten zur verdeckten Ermittlung ein. Der Polizist gab sich gegenüber Lüdi unter dem Decknamen „Toni“ als Interessent für Rauschgift aus und traf sich mehrere Male mit ihm. Schließlich wurde Lüdi wegen Rauschgifthandels verhaftet. Nach den Bekundungen „Tonis“ war der Beschuldigte auf sein Kaufangebot eingegangen und hatte 2 kg Kokain zum Verkauf angeboten. Außerdem hatte er sich bereits 22.000 Schweizer Franken von einer dritten Person für den Einkauf von Kokain und anderen Drogen geborgt. Bei einer Durchsuchung der Wohnung fand die Polizei Spuren von Kokain und Haschisch. Nach Vorlage der Telefonaufzeichnungen legte Lüdi zu wesentlichen Teilen der Untersuchung ein Geständnis ab.

36

EGMR [Windisch/Österreich] (Fn. 35) Ziff. 26. EGMR [Windisch/Österreich] (Fn. 35) Ziff. 27 und 28. 38 EGMR [Windisch/Österreich] (Fn. 35) Ziff. 29. 39 EGMR [Windisch/Österreich] (Fn. 35) Ziff. 30. 40 EGMR [Lüdi/Schweiz] Urt. v. 25. 6. 1992, Serie A/238; in deutscher Übersetzung auszugsweise abgedruckt in EuGRZ 1992, 300–302. Zum Sachverhalt und Bericht der Kommission vgl. auch EuGRZ 1992, 326–328. Näher hierzu auch Krauß, VLeute, S. 74. 37

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen

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Im Juni 1985 wurde der Beschuldigte in erster Instanz wegen Rauschgiftdelikten in sieben Einzelfällen zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Um die Anonymität des verdeckten Ermittlers zu schützen, lehnte es das Gericht ab, ihn als Zeugen zu vernehmen. Es hielt die Aufzeichnungen der abgehörten Telefongespräche und die Polizeiberichte des „Toni“ für einen ausreichenden Beweis dafür, dass der Beschuldigte ohnehin die Absicht hatte, als Zwischenhändler eine große Menge von Drogen zu liefern. Weitere Rechtsmittel des Angeklagten, bei denen die Verteidigung vor allem geltend machte, dass Lüdi in zwei Fällen vom verdeckten Ermittler angestiftet worden war, hatten nur teilweisen Erfolg. Auch die zweite Instanz lehnte es ab, den verdeckten Ermittler vor Gericht zu hören. Die Nichtigkeitsbeschwerde vor dem Bundesgericht war nur insoweit erfolgreich, als dass der Strafausspruch aufgehoben wurde, da bei der Strafbemessung verabsäumt worden war, zu überprüfen, in welchem Ausmaß sich die verdeckte Fahndung auf das kriminelle Verhalten des Bf.s ausgewirkt haben könnte. Das Kantonsgericht Bern erkannte daraufhin auf eine bedingte Freiheitsstrafe in Höhe von 18 Monaten. Die gleichermaßen beim Bundesgericht eingelegte staatsrechtliche Beschwerde wurde abgewiesen. Das Gericht vertrat die Ansicht, dass die Anerkennung der Verwendung verdeckter Ermittler im Interesse einer effektiven Bekämpfung der Drogenkriminalität zur Folge haben müsse, dass die Identität und die Untersuchungsmethoden dieser Ermittler in Strafverfahren nicht leichthin bekannt gegeben werden dürfen. Die Geheimhaltung verdeckter Ermittler verstoße an sich weder gegen grundlegende Prinzipien des Strafverfahrens noch gegen Grundrechte. Es sei Sache des Gerichts bei der Beweiswürdigung zu entscheiden, welches Gewicht es dem geschriebenen Bericht eines verdeckten Ermittlers einräume.41

Das nachfolgende Beschwerdeverfahren in Straßburg war auch hier erfolgreich. Der Bf. Lüdi beanstandete v. a. den gegen ihn gerichteten Einsatz eines verdeckten Ermittlers als Verstoß gegen Art. 8 EMRK. Wegen der fehlenden Möglichkeit, dem verdeckten Ermittler Fragen zu stellen oder stellen zu lassen, rügte er aber auch zusätzlich eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 lit. d EMRK. Kommission und Gerichtshof hielten die Verletzung der Konvention unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens mehrheitlich für gegeben.42 Die Begründung unterschied sich insofern von der in den Fällen Kostovski und Windisch, als dass der EGMR hauptsächlich die Erforderlichkeit der vollständigen Geheimhaltung des verdeckten Ermittlers vor dem Beschuldigten und seinem Verteidiger bezweifelte. Wiederum ausgehend vom allgemeinen Grundsatz, dass der Angeklagte angemessen und ausreichend Gelegenheit erhalten müsse, einen Belastungszeugen zu widerlegen,43 kritisierte er die Vorgehensweise der Gerichte, da diese weder in der Lage noch bereit waren, den verdeckten Ermittler als Zeugen zu vernehmen, obwohl er ihnen bekannt war und auch der Beschuldigte den betreffenden Beamten zumindest von seiner physischen 41

BG, Urt. v. 8. 4. 1986, BGE 112 Ia, 18 E 5. Zur Entscheidung der Konventionsorgane im Hinblick auf Art. 8 EMRK siehe unten S. 108 [Teil 2. B.I.1.a)bb)]. 43 EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 40) Ziff. 47. 42

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

Erscheinung her bereits kannte.44 Etwas unbestimmt fügte der Gerichtshof hinzu, dass es den Gerichten möglich gewesen wäre, ein Verfahren anzubieten, in welchem der Beschuldigte die Möglichkeit der Glaubwürdigkeitsüberprüfung gehabt hätte, ohne die legitimen Interessen der Polizeibehörde an der Aufrechterhaltung der Anonymität ihres Beamten zu dessen Schutz und zur Ermöglichung eines weiteren Einsatzes zu vernachlässigen.45 Dem Umstand, dass die Verurteilung nicht maßgeblich auf den Aussagen des verdeckten Ermittlers beruhte (sondern sich vielmehr auf dessen Geständnis und die Aussagen seiner Mitangeklagten stützte), maß der Gerichtshof hier weniger Beachtung bei. Ihm reichte es aus, dass die Aussagen „bei der Feststellung der Tatsachen, die zu der Verurteilung führten, eine Rolle spielten.“46 d) Saïdi gegen Frankreich47 Die Beschwerde Saïdi gegen Frankreich betrifft das Problem anonymer Zeugen im Strafprozess nicht direkt. Anders als in den vorangegangenen Fällen waren Namen und Adressen der Zeugen in den Strafakten vorhanden, deren Identität also bekannt. Die französischen Gerichte verweigerten jedoch eine direkte Gegenüberstellung der Zeugen mit dem Angeklagten mit dem Argument, die aus der „Drogenszene“ stammenden Zeugen vor späteren Repressalien schützen zu müssen.48 Weder im Untersuchungs- noch im Hauptverfahren hatte der Bf. also die Möglichkeit, die Belastungszeugen zu befragen oder befragen zu lassen. Er bemängelte dementsprechend, dass er die Glaubwürdigkeit der Zeugen nicht hinreichend habe überprüfen können. Im Einzelnen stützte sich die Beschwerde auf folgendes Verfahren der französischen Strafverfolgungsbehörden: 44

EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 40) Ziff. 49. EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 40) Ziff. 49. 46 EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 40) Ziff. 47. Anders hingegen der österreichische Richter Matscher, welcher der Auffassung war, dass das erkennende Gericht seine Entscheidung im Wesentlichen auf das unbestrittene Geständnis Lüdis und auf die Aussagen seiner Mitangeklagten gestützt habe. Zwar habe ein Angeklagter das Recht in angemessener Weise alle Argumente der Verteidigung vorzutragen, wenn er aber die Straftaten im Wesentlichen zugegeben habe, sei die Würdigung seines Geständnisses Teil der freien Beweiswürdigung, die primär in den Kreis der Rechte und Pflichten des erkennenden Gerichts falle. Unter solchen Umständen könne die Abweisung des Antrags, den Zeugen zu hören, nicht vom Gerichtshof kritisiert werden. 47 EGMR [Saïdi/Frankreich] Urt. v. 20. 9. 1993, Serie A/261-C; in deutscher Übersetzung auszugsweise abgedruckt in ÖJZ 1994, 322–324. Näher hierzu auch Krauß, VLeute, S. 72. 48 So auch die Argumentation der französischen Regierung vor dem EGMR zum Zeugenschutz bei Drogenstraftaten: Die Zeugen seien in diesen Fällen oft selbst aus dem Drogenmilieu und müssten Vergeltungsaktionen fürchten, wenn sie mit Justizbehörden kooperierten. Es sei deshalb notwendig, auf die psychische Anfälligkeit Drogenabhängiger und deren legitimen Wunsch nach Anonymität einzugehen. 45

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen

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Im Mai 1986 wurde der in Nizza lebende tunesische Staatsangehörige Fahrat Saïdi von der Polizei festgenommen. Die Polizeibehörden hatten anlässlich zweier Todesfälle durch Heroinkonsum Hinweise aus der Drogenszene erhalten, dass Herr Saïdi der Verkäufer des „Stoffes“ gewesen sei. Ihm wurde deshalb der Besitz und die Weitergabe von Heroin sowie fahrlässige Tötung in zwei Fällen vorgeworfen. Mehrere Drogenabhängige oder ehemals Drogenabhängige identifizierten Herrn Saïdi später übereinstimmend als Drogendealer. Ihnen waren von der Polizei entweder Fotos vorgelegt oder der Beschuldigte durch einen einseitigen Spiegel gezeigt worden. Herr Saïdi hingegen bestritt von Anfang an jeglichen Drogenbesitz oder Verkauf an die namentlich genannten Belastungszeugen und verlangte, ihnen gegenübergestellt zu werden. Diesem Ansinnen wurde jedoch weder durch die Polizei noch durch den Untersuchungsrichter nachgekommen. Im Februar 1987 verurteilte das Gericht den Beschuldigten wegen Verletzung des Suchtgiftgesetzes und fahrlässiger Tötung in zwei Fällen zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. Seine Entscheidung stützte sich ausschließlich auf die Aussagen der Zeugen vor der Polizei und dem Untersuchungsrichter. Auf die Nichtgewährung des Fragerechts für den Beschuldigten während des gesamten Verfahrens ging das Gericht nicht ein. Die Berufung hatte nur teilweise Erfolg. Das Berufungsgericht befand den Angeklagten lediglich wegen einem Fall der fahrlässigen Tötung für schuldig und setzte die Freiheitsstrafe auf acht Jahre herab. Zu dem Begehren des Angeklagten, mit den Zeugen konfrontiert zu werden, führte es unter Hinweis auf die Identifizierungsmethoden lediglich aus, dass die Zeugen eine physische Gegenüberstellung mit dem Angeklagten offensichtlich nicht wünschten. Außerdem würden die wiederholten Behauptungen im Vorverfahren ihre Bedeutung nicht verlieren, wenn sie bei einer Konfrontation mit dem Angeklagten zurückgezogen würden. Das Kassationsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es berief sich im Wesentlichen auf die Freiheit des erkennenden Gerichts, die vorliegenden Beweise zu würdigen, sowie darauf, dass der Beschuldigte vor Gericht keinen ordnungsgemäßen Antrag auf Gegenüberstellung gestellt hatte.

Kommission und Gerichtshof waren auch in diesem Fall der Ansicht, dass eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 lit. d EMRK vorgelegen habe. Begründet wurde diese Entscheidung entsprechend der bisherigen Spruchpraxis.49 Ausgehend davon, dass der Angeklagte eine angemessene und geeignete Gelegenheit erhalten müsse, die Aussagen eines Belastungszeugen in Frage zu stellen,50 kritisierte der EGMR das Fehlen jeglicher Gegenüberstellung. Er betonte hier insbesondere, dass sich das Urteil allein auf die Aussagen dieser Zeugen gestützt habe. Die fehlende Anonymisierung der Zeugen war für den Gerichtshof kein Grund davon auszugehen, dass eine Glaubwürdigkeitsüberprüfung „in gewissem Maße“ möglich war. Auf das Argument der französischen Regierung eines notwendigen Zeugenschutzes bei Drogenstraftaten bemerkte

49 50

s. o. Teil 1.B.I.1.a), b) und c). EGMR [Saïdi/Frankreich] (Fn. 47) Ziff. 43.

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

der EGMR, dass diese Problematik nicht zu einer generellen Beschränkung der Verteidigungsrechte bei Drogenstraftaten führen dürfe.51 e) Van Mechelen u. a. gegen die Niederlande52 Umstritten war die Entscheidung im Fall van Mechelen u. a. gegen die Niederlande. Während die Kommission die Auffassung vertrat, dass die Verfahrensweise der niederländischen Gerichte nicht gegen die Konvention verstoßen habe,53 verurteilte der EGMR die Niederlande erneut wegen einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK.54 Inhaltlich ging es um ein Verfahren, in welchem Polizeibeamte unter optischen Abschirmungsmaßnahmen und unter Geheimhaltung ihrer Identität als Belastungszeugen vernommen wurden. Im Einzelnen war folgendes geschehen: Im Januar 1989 erhielt eine niederländische Polizeibehörde Informationen, dass von zwei Wohnwagensiedlungen aus mehrere Raubüberfälle geplant waren und ließ deshalb die Wohnwagenplätze von einem abgestellten Observationsteam überwachen. Schon bald beobachteten die Polizeibeamten, wie gegen 17 Uhr drei verschiedene Fahrzeuge eine der Siedlungen verließen. Eine Stunde später wurde auf ein Postamt im nahegelegenen Ort ein bewaffneter Raubüberfall verübt und 70.000 niederländische Gulden erbeutet. Als Überfalls- bzw. Fluchtwagen konnten die von der Wohnwagensiedlung kommenden Fahrzeuge identifiziert werden. Bei der sich an den Raubüberfall anschließenden Verfolgungsjagd mit der Polizei eröffneten die Täter mit einer Maschinenpistole mehrmals das Feuer auf die Verfolger. Dabei wurde auch ein Zivilfahrzeug getroffen, dessen Insassen jedoch unverletzt blieben. Bei einem Beschuss des Polizeiwagens in einer Seitenstraße wurden die Polizeibeamten z. T. schwer verwundet. Die Täter konnten entfliehen. Später wurden die Bf. als mutmaßliche Täter gestellt und schließlich vom Gericht wegen versuchten Totschlags und bewaffneten Raubüberfalls zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Verurteilung stützte sich im Wesentlichen auf die Aussagen der anonym bleibenden Polizeibeamten, welche als Beteiligte des Observationsteams oder des Verfolgerteams die Bf. als Täter identifizierten. Die anonymen Polizeibeamten waren weder vom Gericht noch von einem Untersuchungsrichter gehört worden. Als Beweis existierten lediglich die polizeilichen Aussageprotokolle, aus denen jedoch die Identität der Zeugen nicht hervorging. Erst das Berufungsgericht hielt es für notwendig, eine Reihe von Zeugen zu hören und die Gründe für die Aufrechterhaltung der Anonymität der Polizisten näher zu überprüfen. Zu diesem Zwecke verwies es die Sache zur Beweisaufnahme an den 51

EGMR [Saïdi/Frankreich] (Fn. 47) Ziff. 44. EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] Urt. v. 23. 4. 1997, Reports 1997-III (Nr. 36), in deutscher Übersetzung abgedruckt in ÖJZ 1998, 274–277. Näher hierzu auch Krauß, V-Leute, S. 75. 53 Vgl. Bericht der Kommission vom 27. 2. 1996 abgedruckt in: Reports 1997-III (Nr. 36), S. 725–734. Die Kommission entschied mit 20 zu 8 Stimmen. 54 Der EGMR entschied mit sechs gegen drei Stimmen. 52

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen

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Untersuchungsrichter. Dieser hielt den Wunsch der Polizisten nach Aufrechterhaltung der Identität für begründet und vernahm die Polizeibeamten in folgender Art und Weise: Der Untersuchungsrichter (welchem die Identität der Zeugen bekannt war), der jeweilige anonyme Zeuge und ein Urkundsbeamter befanden sich in einem Raum, während sich die Angeklagten und deren Verteidiger sowie der Vertreter der Staatsanwaltschaft in einem anderen Raum aufhielten. Die Vernehmung wurde akustisch übertragen. Alle Beteiligten konnten den anonymen Beamten Fragen stellen, wovon umfangreich Gebrauch gemacht wurde. Der Untersuchungsrichter wiederholte die Aussagen, die der Urkundsbeamte entsprechend protokollierte. Um die Geheimhaltung ihrer Identität zu gewährleisten, waren die Zeugen bei der Beantwortung von Fragen teilweise sehr vorsichtig. Im Wesentlichen identifizierten die Aussagen der Polizeibeamten die Bf. als Beteiligte des Raubüberfalls. In einem offiziellen „Bericht über die Beweiserhebung“ begründete der Untersuchungsrichter seine Auffassung über die Glaubwürdigkeit der Zeugen und die Notwendigkeit der Geheimhaltung ihrer Identität. Die Zeugen hatten angegeben, anonym bleiben zu wollen, da sie selbst oder ihre Kollegen in der Vergangenheit bedroht worden seien und sie ihre Geheimhaltung daher zu ihrem eigenen und dem Schutz ihrer Familien für notwendig hielten. Der Untersuchungsrichter befand dies angesichts der Schwere des angeklagten Verbrechens und der Art und Weise des Tatherganges für gerechtfertigt. Der Fall habe ausreichend illustriert, wie rücksichtslos die Verdächtigen seien, wenn es darum ginge, sich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu entziehen. Das Berufungsgericht bestätigte diese Auffassung und wies die Anträge der Verteidigung auf Anhörung der Zeugen in einer öffentlichen Verhandlung ab. Bei der erneuten Verurteilung der Bf. stützte es sich wesentlich auf die Zeugenaussagen der anonymen Polizeibeamten. Es wies zwar darauf hin, dass diese Aussagen hinreichend durch Beweise aus nicht anonymer Quelle untermauert seien (darunter ein Telefongespräch, ein forensischer Bericht zu den bei dem Raubüberfall benutzten Fahrzeugen und Waffen sowie die Aussagen benannter Zeugen). Tatsächlich aber waren die Aussagen der anonymen Zeugen die einzigen Beweismittel, welche eindeutig belegten, dass es sich bei den Beschuldigten um die gesuchten Täter handelte. Ein ziviler Zeuge, dessen Identität nicht geheimgehalten worden war, hatte vor Gericht seine frühere Aussage widerrufen in van Mechelen denjenigen wiederzuerkennen, der mit einer Maschinenpistole auf das Polizeiauto geschossen hatte. Er gab an, im Zusammenhang mit dem Verfahren nicht bedroht worden zu sein. Das Berufungsgericht sprach die Bf. in vier gesonderten Urteilen des versuchten Mordes und des bewaffneten Raubüberfalls für schuldig und verhängte eine Freiheitsstrafe in Höhe von 14 Jahren. Die Revision der Bf. hatte ebenfalls keinen Erfolg. Nach Ansicht des Revisionsgerichts wies die Beweisaufnahme keine Rechtsfehler auf. Das Verfahren sei ausreichend um Ausgleich der durch die Geheimhaltung der Zeugen für die Verteidigung entstandenen Schwierigkeiten bemüht gewesen.

Der EGMR sah dies anders. In seiner Entscheidung fasste er zunächst grundlegend zusammen, dass die Verwertung von anonymen Zeugenaussagen nicht unter allen Umständen als konventionswidrig anzusehen sei.55 Es gäbe durchaus 55

EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 52.

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

Fallkonstellationen, in denen die Rechte des Beschuldigten aus Art. 6 EMRK mit anderen durch die Konvention garantierten Rechten der Zeugen kollidieren würden, so etwa, wenn im Falle einer offenen Befragung das Leben oder die Freiheit bzw. Sicherheit der Aussageperson auf dem Spiel stünden. Für diese Fälle gelte es, die Interessen der Verteidigung gegen die Interessen von Zeugen und Opfern, die als Zeugen aufgerufen werden, gegeneinander abzuwägen.56 Sollte jedoch die Anonymität der Belastungszeugen während des Verfahrens aufrechterhalten werden, so verlange der Grundsatz eines fairen Verfahrens, dass die der Verteidigung dadurch entstehenden Erschwernisse ausreichend ausgeglichen würden. Der Schuldspruch dürfe sich nicht einzig und allein oder in einem entscheidenden Ausmaß auf anonyme Zeugenaussagen gründen.57 In Anwendung dieser Grundsätze betonte der Gerichtshof, dass insbesondere dann eine besondere Zurückhaltung bei der Anonymisierung von Aussagepersonen geboten sei, wenn es sich bei den Belastungszeugen – wie im zu entscheidenden Fall – um Polizeibeamte handele. Aufgrund der Nähe dieser Zeugen zur Anklagebehörde und ihrer erhöhten Gefahrtragungspflicht solle hier von einer Geheimhaltung nur unter außergewöhnlichen Umständen Gebrauch gemacht werden.58 Mit besonderem Nachdruck verwies der EGMR auf das „Gebot der dringenden Erforderlichkeit“ und gelangte zu dem Ergebnis, dass die Gerichte – in Anbetracht der Schwere des Eingriffs59 – diesbezüglich zu nachlässig gewesen seien. Der Gerichtshof sei nicht davon überzeugt worden, dass das Berufungsgericht sich ausreichend bemüht habe, die Gefahr von Repressalien gegen die Polizeibeamten und ihre Familien zu beurteilen. Es habe sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Beschuldigte überhaupt in der Lage war, etwaige Drohungen in die Tat umzusetzen oder andere dazu anzustiften. Die Gefahr von Repressalien allein mit der Schwere der Straftat zu begründen, sei unzureichend. Zudem verwies er auf eine Ungereimtheit im Verfahren. Einem zivilen Zeugen, der den Bf. zunächst ebenfalls als Täter identifiziert hatte, war weder Anonymität zugesichert noch war behauptet worden, dass dieser zu irgendeinem Zeitpunkt bedroht gewesen sei. Warum – so fragte der Gerichtshof zu Recht – sollte also etwas anderes für die Polizeibeamten gegolten haben.60 Auch die Rechtfertigung der optischen Abschirmungsmaßnahmen aus „opera56

EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 53. EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 54 und 55. 58 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 56. Gegen diese Argumentation vgl. Sondervotum des Richters van Dijk Ziff. 6 und 7, für den die vom EGMR vorgenommene Unterscheidung zwischen der Geheimhaltung unbeteiligter Zivilpersonen und jener von Polizeibeamten nicht nachvollziehbar ist. 59 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 59: Der Gerichtshof betonte, dass es der Verteidigung genommen war, das Verhalten der Zeugen bei der Befragung zu beobachten, weshalb die Glaubwürdigkeitsüberprüfung eingeschränkt wurde. 57

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen

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tionellen Gründen“ der Polizeibehörden lehnte der EGMR ab, da ihm diesbezüglich keinerlei Informationen geliefert worden waren. Er wies jedoch in diesem Zusammenhang explizit auf die weniger in die Verteidigungsrechte des Beschuldigten eingreifenden Möglichkeiten der direkten Einvernahme unter Verwendung von Schminke, Verkleidung und Vermeidung eines Blickkontaktes hin.61 Weder die Befragung der Zeugen durch einen Untersuchungsrichter (der die Identität der Zeugen kannte) noch dessen Glaubwürdigkeitsüberprüfung wurden „als ein tauglicher Ersatz für die fehlende Möglichkeit der Verteidigung, die Zeugen in ihrer Anwesenheit zu befragen und sich ihr eigenes Urteil über deren Verhalten und deren Verlässlichkeit zu bilden“, angesehen.62 Abschließend betonte der Gerichtshof, dass die Aussagen der anonymen Polizeibeamten letztendlich die einzigen Beweise gewesen seien, welche die Identifizierung des Bf. als Täter ermöglicht hätten. Die Verurteilung habe sich also „in einem entscheidenden Ausmaß“ auf die anonymen Aussagen gestützt.63 f) Visser gegen die Niederlande64 Fünf Jahre später wurden die Niederlande erneut wegen eines Verstoßes gegen das Fragerecht des Angeklagten verurteilt. In dem Verfahren war wiederum die Aussage eines anonymen Zeugen verwertet worden, ohne dass der Verteidigung eine Konfrontation mit dem Belastungszeugen gewährt worden war. Der Verteidiger saß während der Zeugenvernehmung durch den Untersuchungsrichter in einem anderen Raum, jedoch ohne durch einen „Sound-Link“ mit dem Vernehmungszimmer verbunden zu sein. Ihm wurde lediglich die Gelegenheit gegeben, durch den Untersuchungsrichter Fragen an den Zeugen stellen zu lassen, nachdem er die protokollierte Zeugenaussage gelesen hatte. Kommission und Gerichtshof waren in Anwendung der im Fall van Mechelen aufgestellten Grundsätze übereinstimmend der Auffassung, dass eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK vorgelegen habe. Im Einzelnen lag der Verurteilung folgender Sachverhalt zugrunde: 60 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 61: Für einen breiteren Entscheidungsspielraum der nationalen Gerichte in dieser Frage Richter van Dijk Sondervotum Ziff. 6. 61 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 60. 62 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 62 63 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 63. Für eine Lockerung dieser Anforderung dahingehend, dass es ausreichend sei, wenn das Urteil nicht einzig und allein auf die anonymen Zeugenaussagen gestützt wurde, sprach sich Richter van Dijk (Sondervotum Ziff. 10) aus. 64 EGMR [Visser/Niederlande] Urt. v. 14. 2. 2002 – 26668/95, in deutscher Übersetzung auszugsweise abgedruckt in StraFo 2002, 160.

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

Im September 1987 sagte ein Herr A vor der Polizei aus, von zwei unbekannten Männern entführt und körperlich misshandelt worden zu sein. Dabei äußerte er den Verdacht, dass es sich bei der Entführung um einen „Racheakt“ gehandelt habe und auf Anweisung eines Dritten (Herrn G.) erfolgt sei. Die polizeilichen Ermittlungen führten zur möglichen Tatbeteiligung des Bf., da dieser von zumindest einem Zeugen als derjenige identifiziert worden war, der sich in der Tatnacht nach dem Aufenthaltsort des Herrn A erkundigt hatte. Der Zeuge wollte jedoch (wie eine Reihe weiterer Auskunftspersonen, auf deren Aussagen es in der Folge aber nicht mehr ankam) anonym bleiben, da er sich vor Repressalien fürchtete. Das Regionalgericht sprach den Bf. im Juni 1989 wegen der Entführung des Herrn A frei, verurteilte ihn jedoch wegen einer anderen Straftat zu 10 Wochen Freiheitsstrafe. Nach einer Berufung durch die Staatsanwaltschaft wurde das Urteil des Regionalgerichts im April 1991 aufgehoben und der Bf. wegen Entführung und Freiheitsberaubung des Herrn A zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Das Berufungsgericht stützte die Verurteilung maßgeblich auf die Aussage des anonymen Zeugen, die durch Protokollverlesung in die Hauptverhandlung eingeführt worden war. Die hiergegen eingelegte Revision hatte Erfolg. Das Revisionsgericht bemängelte die Verfahrensweise des Berufungsgerichts und wies darauf hin, dass die Aussagen eines anonymen Zeugen nur dann verwertet werden könnten, wenn sie vor einem Untersuchungsrichter abgelegt worden seien, der die Identität der Aussageperson kannte. Dieser müsse sich mit der Begründetheit des Wunsches nach Anonymität und der Zuverlässigkeit des Zeugen befasst und der Verteidigung ausreichend Möglichkeit eingeräumt haben, den Zeugen zu befragen. Mit dieser Auflage verwies das Revisionsgericht die Sache erneut an ein Gericht zweiter Instanz. Im September 1993 wurde der Zeuge in der oben beschriebenen Weise vernommen. Der Untersuchungsrichter stellte fest, dass die Aussage des Zeugen konsequent und stimmig sei und mit den damaligen Aussagen vor der Polizei übereinstimme. Daraus könne auf die Zuverlässigkeit des Zeugen geschlossen werden. Den Wunsch nach Anonymität hielt er für gerechtfertigt, da die Angst vor Repressalien angesichts der Tatsache, dass es sich bei der Entführung um einen „Racheakt“ gehandelt habe, nachvollziehbar sei. Überdies hatte der Zeuge angegeben, dass einer der Mitverdächtigen als sehr aggressiv bekannt sei. Der Bf. wurde erneut unter Verwertung der anonymen Zeugenaussage sowie einer Reihe weiterer belastender Beweismittel wegen der Entführung des Herrn A zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Ein hiergegen erneut eingelegtes Rechtsmittel hatte keinen Erfolg.

Der EGMR entschied einstimmig, dass durch diese Verfahrensweise Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. b EMRK verletzt wurde und sprach dem Bf. für die erlittenen immateriellen Schäden einen Ersatz in Höhe von 6.000 Euro zu. In seiner Begründung wiederholte er zunächst die bereits im Fall van Mechelen genannten Grundsätze zum Fragerecht gegenüber Belastungszeugen. Zwei Punkte fügte er dabei ergänzend hinzu: Zum einen verwies er darauf, dass Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nur die Einvernahme solcher Zeugen durch die Verfahrensbeteiligten erfordere, deren Aussage eine Hauptrolle bzw. eine entscheidende Rolle für die Absicherung der Urteilsfindung zukomme.65 Zum anderen betonte

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen

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er (wohl deshalb), dass bei der Frage nach einem hinreichenden Ausgleich der Verteidigerinteressen im Falle einer anonymen Zeugenvernehmung ein besonderes Gewicht darauf gelegt werden müsse, in welchem Ausmaß die anonyme Zeugenaussage für die Verurteilung entscheidend war. Wenn die Aussage in keiner Hinsicht als entscheidend angesehen werden könne, wäre auch die Verteidigung in einem wesentlich geringeren Grad beeinträchtigt.66 In Anwendung dieser Grundsätze rügte der EGMR im Fall Visser wiederum die fehlende Erforderlichkeit einer so weitgehenden Einschränkung der Verteidigungsrechte. Der Wunsch des Zeugen nach Anonymität sei akzeptiert worden, ohne die Ernsthaftigkeit und Fundiertheit der angegebenen Gründe näher zu prüfen. Dies weder zu dem Zeitpunkt, als die Aussageperson von der Polizei angehört wurde, noch nahezu sechs Jahre später, als die Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter stattfand. Auch das Berufungsgericht habe eine solche Prüfung missen lassen, als es sich entschied, die Aussagen als Beweis zu verwerten.67 Zusätzlich bemängelte der Gerichtshof, dass die Verurteilung des Bf. in einem entscheidenden Ausmaß auf der anonymen Zeugenaussage beruht habe. Er verwies diesbezüglich auf dieselbe Einschätzung des Revisionsgerichts, welches das Urteil des Berufungsgerichts zunächst aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an ein anderes Gericht zweiter Instanz verwiesen hatte.68 Die Frage, ob die Verfahrensweise der Behörden die Nachteile der Verteidigung im Falle einer (erforderlichen) Anonymisierung des Zeugen hätten ausreichend ausgleichen können, ließ der EGMR ausdrücklich offen.69 2. Erfolglose Beschwerden70 a) J. O. and T. T. gegen die Niederlande71 Im Fall J. O. and T. T. wurden die Bf. wegen gewerbsmäßiger Zuführung von Frauen zur Prostitution verurteilt. Das Gericht gründete seine Entscheidung auf die (offenen) Zeugenaussagen dreier Opfer, einen polizeilichen Bericht und die Aussage 65

EGMR [Visser/Niederlande] (Fn. 64) Ziff. 45. EGMR [Visser/Niederlande] (Fn. 64) Ziff. 46. 67 EGMR [Visser/Niederlande] (Fn. 64) Ziff. 47 und 48. 68 EGMR [Visser/Niederlande] (Fn. 64) Ziff. 50. 69 EGMR [Visser/Niederlande] (Fn. 64) Ziff. 51. 70 Die dargestellten Entscheidungen wurden mittels Stichwortsuche aus der Datenbank des Straßburger Gerichtshofs herausgefiltert (www.echr.coe.int). Aus diesem Grunde kann die Darstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es mag sicher noch die eine oder andere Beschwerde (die Problematik des anonymen Zeugen betreffend) gegeben haben, die von der Kommission (auch nach der Kostovski-Entscheidung des EGMR) als offensichtlich unbegründet abgewiesen wurde. Ein repräsentativer Überblick sollte mit den aufgefundenen Beschwerden jedoch allemal möglich sein. 71 EKMR [J. O. and T. T./Niederlande] E. v. 2. 9. 1992, 17631/91 und 17632/91. 66

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eines anonymen Informanten, die in dem Polizeibericht enthalten war. Letztere war „besonders vorsichtig“ gewürdigt worden. Ein Rechtsmittel vor dem nationalen Höchstgericht (Hoge Raad) hatte keinen Erfolg. Das Revisionsgericht stellte fest, dass weder die Bf. noch deren Verteidiger zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens den Wunsch zum Ausdruck gebracht hatten, den anonymen Zeugen zu befragen, dass die Verurteilung hauptsächlich auf voll zugänglichen Quellen beruhte und dass das Gericht in seiner Entscheidung ausdrücklich auf die vorsichtige Beweiswürdigung im Hinblick auf die anonyme Zeugenaussage hingewiesen hatte.

Hier wies die Kommission die nachfolgende Beschwerde wegen einer Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Abs. 1 EMRK als offensichtlich unbegründet ab. Sie wiederholte zunächst die vom EGMR im Fall Kostovski aufgestellten Grundsätze und betonte, dass einem Angeklagten generell die Gelegenheit gegeben werden müsse, einen Belastungszeugen in angemessener Weise zu befragen. Die Kommission hielt es jedoch ebenso wie das Revisionsgericht für bedeutsam, dass die Bf. zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens einen Antrag auf Einvernahme des anonymen Informanten gestellt hatten. Unter diesen Umständen könne kein Problem im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK entstehen. Auch eine mögliche Verletzung des fairen Verfahrens auf sonstige Art und Weise sah die EKMR im vorliegenden Fall nicht als gegeben an. b) Liefveld gegen die Niederlande72 In der Sache Liefveld gegen die Niederlande rügte der Beschwerdeführer erfolglos ein Verfahren, welches die Einvernahme eines anonymen Belastungszeugen nur unter optischer und akustischer Abschirmung zuließ. Im Einzelnen war folgendes geschehen: Im Dezember 1988 wurde in Amsterdam ein Mann erschossen. Die Polizei erhielt einen anonymen Anruf eines Informanten, dass ein weißer Pkw in die Geschehnisse verwickelt sei, dessen Räder gewechselt wurden, um Spuren zu verwischen. Er nannte das amtliche Kennzeichen. In der Folge gerieten der Bf. und ein Herr K. unter Verdacht, die Tötung begangen zu haben. Dies nicht zuletzt, weil das Telefon des Bf. unweit der Leiche gefunden worden war. Im März 1989 vernahm der Untersuchungsrichter einen anonymen Zeugen mit dem Decknamen „Bravo“ unter Eid. Er überprüfte die Identität des Zeugen, seine Zuverlässigkeit und die Gründe, weshalb er anonym bleiben wollte. „Bravo“ sagte aus, dass er mit dem Bf. gut bekannt sei. Er wüsste, dass dieser die Tat begangen und dafür 15.000 oder 20.000 Gulden erhalten hatte. Der Bf. sei nach der Tat zum Tatort zurückgekehrt, um sein Telefon zu suchen, habe dies jedoch aufgegeben, als die Polizei bereits vor Ort war. Darüber hinaus sei ihm bekannt, dass der Bf. anschließend einen Freund instruierte, die Räder des von ihm benutzten Pkws zu wechseln, weil er fürchtete, Reifenspuren hinterlassen zu haben.

72

EKMR [Liefveld/Niederlande] E. v. 11. 1. 1994, 19331/92.

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen

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In der mündlichen Verhandlung vor dem Regionalgericht wurden eine Reihe weiterer Zeugen vernommen und Beweise erhoben, die den Bf. belasteten. Das Gericht verurteilte den Angeklagten schließlich wegen Totschlags zu 15 Jahren Freiheitsstrafe. Es stützte seine Entscheidung u. a. auch auf die Aussage des „Bravo“ und die des „anonymen Anrufers“. Im Berufungsverfahren beantragte der Generalstaatsanwalt „im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR“ eine erneute Einvernahme des „Bravo“, wobei die Verteidigung die Möglichkeit erhalten sollte, den Zeugen zu befragen. Im Februar 1990 wurde „Bravo“ durch einen Untersuchungsrichter außerhalb des Gerichtsgebäudes vernommen. Die Verteidigung befand sich währenddessen im Büro des Richters und konnte die Antworten des Zeugen durch eine Telefonverbindung mit Stimmenverzerrung mitverfolgen. Sie hatte schriftliche Fragen vorbereitet, die der Untersuchungsrichter an den Zeugen richtete, konnte aber auch zusätzliche Fragen durch das Telefon stellen. Der Bf. wurde erneut wegen Totschlags verurteilt. Das Urteil des Berufungsgerichts stützte sich auf dieselben Beweise wie das des Regionalgerichts und damit wiederum auf die Aussage des „Bravo“ und des „anonymen Anrufers“. Die Verwertung der ersteren Aussage wurde nun damit begründet, dass die Verteidigung eine Fragemöglichkeit gehabt hätte und dass der Zeuge durch einen Untersuchungsrichter vernommen worden war, dem die Identität des Zeugen bekannt war und welcher die Aufrechterhaltung der Anonymität für gerechtfertigt und die Zuverlässigkeit des Zeugen bestätigt hatte. Die Verwertung der Aussage des anonymen Anrufers wurde für unschädlich gehalten, weil die Verurteilung weder ausschließlich noch in einem wesentlichen Maße auf dieser Aussage beruht habe. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Der Bf. beklagte vor der Kommission eine Verletzung des konventionsrechtlichen Fragerechts, da er den Zeugen „Bravo“ nicht direkt befragen konnte. Die Kommission teilte jedoch die Auffassung der niederländischen Gerichte. Sie verwies darauf, dass dem Bf. im Berufungsverfahren die Ausübung seines Fragerechts unter Umständen möglich war, die den Schutz des Zeugen und die Verteidigungsrechte gleichermaßen berücksichtigt hätten. Bezüglich der Aussage des anonymen Anrufers betonte sie, dass die Angaben durch andere Beweise ausreichend untermauert seien. Insgesamt seien weder die Aussagen des „Bravo“ noch die des „anonymen Anrufers“ die einzigen oder wesentliche Beweise der Verurteilung gewesen. Aus diesem Grunde könne keine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Abs. 1 EMRK vorliegen. c) Baegen gegen die Niederlande73 Umstritten war das Vorliegen einer Konventionsverletzung im Fall Baegen. Nur eine knappe Mehrheit der Kommission verneinte einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Abs. 1 EMRK. Die Entscheidung war angesichts der bis zu diesem Zeitpunkt bereits ergangenen Rechtsprechung des EGMR äußerst frag73

EKMR [Baegen/Niederlande] E. v. 20. 10. 1994, 16696/90.

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würdig, was auch in den abweichenden Meinungen des Kommissionsberichts zum Ausdruck kommt. Zumindest aus heutiger Sicht hätte der Beschwerde wohl stattgegeben werden müssen. Im Februar 1986 wurde der Polizei in Utrecht eine Vergewaltigung angezeigt. Das Opfer, Frau X, gab zunächst an, von zwei Männern vergewaltigt worden zu sein, die sie von einem Nachtklub nach Hause bringen wollten. Da die Männer sie, für den Fall, dass sie zur Polizei ginge, bedroht hätten, wünschte sie anonym zu bleiben. Aufgrund der weiteren polizeilichen Ermittlungen wurden schließlich der Bf. und ein Herr K. verdächtigt, die Straftat begangen zu haben. Der Bf. gab an, in der Tatnacht allein in den Nachtklub gegangen zu sein und ihn auch allein wieder verlassen zu haben. Der Mitbeschuldigte K hingegen sagte aus, dass Frau X und der Bf. (sein Freund) in der fraglichen Nacht tatsächlich Geschlechtsverkehr gehabt hätten, dass dies jedoch einverständlich geschehen sei. Er war der Auffassung, dass sich Frau X die „Geschichte“ ausgedacht habe, um dem Ärger ihrer Mutter vor dem zu späten Nachhausekommen zu entgehen. Schließlich wurde Frau X Herrn K und dem Bf. gegenübergestellt. X identifizierte den Bf. als den Vergewaltiger. Bezüglich des Herrn K. war sie sich nicht sicher. Der Bf. gab an, Frau X noch nie gesehen zu haben. Weder ihm noch der Verteidigung wurde die Möglichkeit eingeräumt, die Zeugin direkt zu befragen. Ihnen wurde lediglich die Möglichkeit offeriert, schriftliche Fragen durch den Untersuchungsrichter stellen zu lassen. Die Verteidigung machte hiervon keinen Gebrauch. Einen Bluttest zur Überprüfung der Übereinstimmung mit den gefundenen Spermien lehnte der Bf. ab. Das Regionalgericht verurteilte den Bf. wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten. Der Bf. hatte während des gesamten Verfahrens die Tat geleugnet. Auch das Berufungsverfahren war erfolglos. Die Verteidigung beantragte erneut die Vernehmung der X ohne Erfolg. Das Berufungsgericht verurteilte den Bf. ebenfalls zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten und stützte sich dabei hauptsächlich auf die Aussagen von Frau X. Die Revision wurde mit dem Hinweis abgewiesen, dass durch die Anonymität die Aussagen der X nicht unzuverlässig würden und dass die Anonymität kein Hindernis für die Beweisverwertung sei.

Auch die Mehrheit der Kommission sah damals in dieser Verfahrensweise keinen Verstoß gegen die Rechte des Art. 6 EMRK. Sie begründete ihre Auffassung damit, dass der Untersuchungsrichter die Aufrechterhaltung der Anonymität als gerechtfertigt angesehen hatte.74 Im Übrigen müsse bei Verfahren betreffend Sexualstraftaten das Recht des Opfers auf Achtung des Privatlebens besonders beachtet werden, weshalb entsprechende Schutzmaßnahmen zu akzeptieren seien, soweit diese sich mit den Verteidigungsrechten vereinbaren ließen. Wiederum verwies die Kommission darauf, dass die Verteidigung das schriftliche Fragerecht nicht wahrgenommen hatte und dass die Aussagen der X nicht die einzigen Beweise gewesen seien. Dass die anderen Erkenntnisquellen die Bege-

74 Die EKMR wagte also nicht die Entscheidung der nationalen Gerichte diesbezüglich in Zweifel zu ziehen.

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen

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hung einer Vergewaltigung durch den Bf. nicht beweisen konnten, ließ die Kommission allerdings unbeachtet. d) Doorson gegen die Niederlande75 Im Fall Doorson sprach sich die EKMR ebenfalls mehrheitlich gegen das Vorliegen einer Konventionsverletzung aus. Dennoch legte sie die Sache zur endgültigen Entscheidung dem Gerichtshof vor. Damit war sie offensichtlich der Auffassung, dass grundlegende Rechtsfragen geklärt werden müssten.76 Folgender Sachverhalt war gegeben: Im April 1988 wurde der Bf. unter dem Verdacht des Handels mit Betäubungsmitteln festgenommen. Eine Reihe von Drogenkonsumenten, darunter sechs Personen, die anonym bleiben wollten, hatten den Beschuldigten auf Vorlage eines drei Jahre alten Fotos gegenüber der Polizei als Suchtgifthändler identifiziert. Die sechs Zeugen bekamen von der Polizei Anonymität zugesichert und wurden in den Akten unter Codenamen geführt. Die Identität von zwei anderen Zeugen (R und N) wurde hingegen offengelegt. Im Zuge der vorgerichtlichen Untersuchung vernahm der Untersuchungsrichter zwei der anonymen Drogenkonsumenten (Y 15 und Y 16), wobei der Verteidiger des Bf. aufgrund eines Missverständnisses nicht anwesend war. Im Dezember 1988 verurteilte das Gericht den Bf. wegen Suchtgifthandels zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten. Es stützte sich dabei u. a. auf die anonymen Zeugenaussagen. Im Berufungsverfahren wurden die anonymen Zeugen Y 15 und Y 16 erneut durch einen Untersuchungsrichter vernommen. Dieser gab dem Verteidiger die Gelegenheit bei der Einvernahme anwesend zu sein und Fragen zu stellen. Der Bf. selbst wurde jedoch bei der Befragung nicht zugelassen. Der Untersuchungsrichter hatte zuvor den Wunsch der Zeugen nach Geheimhaltung ihrer Identität und Erscheinung aufgrund drohender Repressalien überprüft und angesichts früherer Erfahrungen der Zeugen mit Aussagen gegen Drogenhändler als begründet erachtet. Ihm war die Identität der Zeugen bekannt. Dem Gericht wurde später ein Bericht über die Begründetheit der Geheimhaltung der Anonymität und die Glaubwürdigkeit der Zeugen vorgelegt. Es stimmte der Wahrung der Anonymität der Zeugen zu und lehnte den Antrag der Verteidigung auf Vorladung aller anonymen Zeugen zur öffentlichen Verhandlung ab. Das Berufungsgericht verfügte allerdings die Ladung der Zeugen R und N. N zog (wie bereits in der ersten Instanz) seine frühere Aussage vor der Polizei zurück und gab an, den Angeklagten nicht zu kennen. R hingegen leistete der Vorladung zum wiederholten Male keine Folge und konnte sich der Vorführung durch Flucht entziehen. Trotz dieser Beweisschwierigkeiten sprach auch die zweite Instanz den Bf. schuldig und verurteilte ihn zu 15 Monaten Freiheitsstrafe. Erneut wurde die Entscheidung u. a. auf die Aussagen der anonymen Zeugen Y 15 und Y 16 und auf die polizeilichen Aussagen von R und N gestützt.77 Dabei brachte das 75 EGMR [Doorson/Niederlande] Urt. v. 26. 3. 1996, Reports 1996-II (Nr. 6); in deutscher Übersetzung abgedruckt in ÖJZ 1996, 715–719. Näher hierzu auch Krauß, V-Leute, S. 68 f. 76 Vgl. Art 48 lit. a EMRK a. F. Dazu Frowein/Peukert Art. 48 Rn. 1.

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Gericht zum Ausdruck, dass es die Aussagen der zwei anonymen Zeugen mit der notwendigen Vorsicht gewürdigt habe. Die darauf folgende Revision hatte keinen Erfolg. Der Hoge Raad stellte fest, dass keine Verletzung des fairen Verfahrens i. S. von Art. 6 Abs. 1 bzw. Abs. 3 lit. d EMRK vorliege, wenn ein Angeklagter den Zeugen nicht selbst, sondern nur durch seinen Anwalt befragen lassen konnte.

Der Straßburger Gerichtshof schloss sich der Mehrheitsauffassung der Kommission an und verneinte ebenfalls einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 lit. d EMRK. Erstmals wies er darauf hin, dass die Verwertung anonymer Zeugenaussagen nicht unter allen Umständen mit der Konvention unvereinbar sei.78 Stünden andere konventionsrechtlich geschützte Interessen (wie etwa Leib, Leben und Freiheit der Zeugen) auf dem Spiel, so müsse eine Abwägung der betroffenen Rechte stattfinden.79 Dabei seien die Konventionsorgane verpflichtet, die Rechtfertigung der Einschränkung der Verteidigungsrechte zum Schutze gleichwertiger Interessen genauer zu überprüfen. Im vorliegenden Fall könne die Anonymisierung der Zeugen als gerechtfertigt angesehen werden, weil Suchtgifthändler häufig zu Drohungen und Gewalt gegen sie belastende Zeugen greifen und zumindest einer der betroffenen Personen derartige Gewalttätigkeiten im Zusammenhang mit einer gerichtlichen Aussage erfahren habe.80 Im Weiteren forderte der Gerichtshof einen hinreichenden Ausgleich der für die Verteidigung aus der Anonymität des Zeugen resultierenden Schwierigkeiten, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu bekämpfen. Diesen hielt er vorliegend für gegeben, weil zumindest dem Verteidiger im Berufungsverfahren die Möglichkeit eingeräumt worden war, den Zeugen direkt unter Beisein des Untersuchungsrichters zu befragen.81 Schließlich stellte der EGMR klar, dass selbst bei einem um Gleichgewicht bemühten Verfahren sich eine Verurteilung weder einzig und allein noch in einem entscheidenden Ausmaß auf anonyme Zeugenaussagen stützen dürfte und derartige Angaben mit besonderer Vorsicht gewürdigt werden müssten. Auch diese Anforderung sah der EGMR im Fall Doorson erfüllt. e) S. E. gegen die Schweiz82 Etwa ein Jahr nach der van Mechelen-Entscheidung des EGMR musste die Kommission erneut über die Konventionsmäßigkeit der verdeckten Einver77 Zusätzlich gab es auch noch eine Tonbandaufnahme, aus welcher hervorging, dass der Angeklagte im Drogenhandel tätig war. 78 EGMR [Doorson/Niederlande] (Fn. 75) Ziff. 69. 79 EGMR [Doorson/Niederlande] (Fn. 75) Ziff. 70. 80 EGMR [Doorson/Niederlande] (Fn. 75) Ziff. 71. 81 EGMR [Doorson/Niederlande] (Fn. 75) Ziff. 72–75. 82 EKMR [S. E./Schweiz] E v. 4. 3. 1998, 28994/95.

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nahme eines polizeilichen Ermittlers entscheiden. Trotz der strengen Anforderungen, die der EGMR im Fall van Mechelen aufgestellt hatte, verneinte die EKMR hier eine Konventionsverletzung, wobei sie auf die Frage der „unbedingten Erforderlichkeit“ einer Abschirmungsmaßnahme nicht weiter einging. Der Fall betraf ein polizeiliches Ermittlungsverfahren im Bereich der Rauschgiftkriminalität. Die Bundesanwaltschaft hatte einen Hinweis erhalten, dass ein gewisser P. Heroin aus Frankreich an interessierte „Kunden“ in der Schweiz verkauft. Die schweizerischen Behörden setzten daraufhin zwei verdeckte Ermittler ein, die sich als Interessenten ausgaben und Kontakt aufnahmen. Für die Durchführung des Deals wurden die Polizeibeamten an weitere Personen der Organisation verwiesen. Der verdeckte Ermittler „Markus“ kontaktierte schließlich den Bf., der die Drogen übergeben sollte. Bei der vereinbarten Übergabe von 1 kg Heroin auf einer schweizerischen Autobahnraststätte wurde der Bf. festgenommen. Er war zum Zeitpunkt seiner Festnahme bewaffnet. Während des polizeilichen Ermittlungsverfahrens wurde der Bf. mit „Markus“, der maskiert war, konfrontiert. Während der Gegenüberstellung identifizierte er den verdeckten Ermittler als denjenigen, mit dem er den Deal durchgeführt hatte. Das Gericht war der Auffassung, dass „Markus“ nicht offen vernommen werden könne, da er einerseits Repressalien zu fürchten habe und andererseits im Falle seiner Offenlegung nicht mehr verdeckt tätig werden könne. Dem Angeklagten werde ansonsten die Gelegenheit gegeben, sich das Gesicht des V-Mannes bewusst einzuprägen. Schließlich wurde „Markus“ in der mündlichen Verhandlung als Zeuge unter Geheimhaltung seiner Personalien mittels Tonübermittlung aus dem Nebenraum des Gerichtssaals vernommen: Er saß geschminkt im Nebenraum, wobei die Verbindungstür zum Gerichtssaal offen blieb, so dass allein zwischen ihm und den drei Richtern Sichtkontakt bestand. Die übrigen Verfahrensbeteiligten, insbesondere die Geschworenen, der Angeklagte und der Verteidiger konnten den verdeckten Ermittler nicht sehen. Vor der Einvernahme des „Markus“ bestätigten der stellvertretende Sektionschef des Zentralstellendienstes der Bundesverwaltung und der Untersuchungsrichter als Zeugen, dass der geschminkte Mann im Nebenraum jener „Markus“ gewesen sei, der als Scheinaufkäufer aufgetreten war. Der Verteidiger protestierte gegen die Art und Weise der Einvernahme des Zeugen, insbesondere dass auch ihm der Sichtkontakt verwehrt wurde und verließ die Verhandlung für die Zeit der Befragung. Das Gericht verurteilte den Bf. zu fünfeinhalb Jahren Freiheitsstrafe, wobei es seine Entscheidung u. a. auch auf die Aussagen des „Markus“ stützte. Weitere Rechtsmittel hatten keinen Erfolg. Im Hinblick auf die gerügte Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK führte das Bundesgericht (BG) aus, das Gericht habe mit der verdeckten Einvernahme sowohl den Interessen der Verteidigung als auch den persönlichen Interessen des Zeugen und den polizeilichen Interessen am Einsatz und Schutz ihrer V-Leute hinreichend Rechnung getragen. Die Verteidigungsrechte seien nicht erheblich geschmälert worden, da der Bf. im Ermittlungsverfahren mit dem V-Mann konfrontiert worden war und er ihn in der Hauptverhandlung befragen konnte. Der Bf. habe den V-Mann gekannt und wusste um dessen eigentliche Funktion. Es sei dem Beschuldigten möglich gewesen, den Zeugen an seiner Stimme zu identifizieren, die ihm ebenfalls bekannt gewesen sei. Bei einer Betrachtung des Verfahrens in seiner Gesamtheit sei zur wirksamen Verteidigung weder die Kenntnis

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des Namens des V-Mannes noch die Kenntnis des Aussehens des V-Mannes notwendig gewesen.83

Die EKMR bestätigte die Auffassung. Sie wiederholte die Ausführungen des EGMR im Falle Doorson, wonach das Prinzip eines fairen Verfahrens in manchen Fällen auch eine Abwägung der Interessen der Verteidigung gegen die Interessen der Belastungszeugen verlange. Ohne die Erforderlichkeit der optischen Abschirmung näher zu hinterfragen84 war die Kommission der Auffassung, dass die nationalen Gerichte wichtige und ausreichende Gründe für die eingeschlagene Verfahrensweise hatten. Außerdem seien die mit der Anonymität verbundenen Schwierigkeiten für die Verteidigung weitgehend ausgeglichen worden. Der Fall müsse von den Beschwerden van Mechelen und Lüdi unterschieden werden, da der verdeckte Ermittler im Vorverfahren (wenn auch maskiert) dem Bf. gegenübergestellt worden war und der Bf. sowohl zu diesem Zeitpunkt als auch in der mündlichen Verhandlung Fragen an den verdeckten Ermittler stellen konnte. Der Bf. hatte zu keinem Zeitpunkt bestritten, dass es sich bei dem Zeugen um die Person gehandelt habe, mit der er den Deal durchführen wollte. Zwar hätten die Geschworenen den Zeugen nicht sehen können, doch auch ihnen sei es möglich gewesen, diesen durch einen Vergleich mit Gesprächsmitschnitten von der Telefonüberwachung an der Stimme zu identifizieren. Letztendlich betonte die Kommission noch, dass sich das Urteil weder ausschließlich noch maßgeblich auf die anonyme Aussage gegründet habe, da das Gericht seine Entscheidungsfindung zusätzlich auf die Aussagen weiterer Polizeibeamter und vor allem auf die aufgenommenen Telefongespräche mit dem Bf. stützte. f) Kok gegen die Niederlande85 Im Fall Kok stellte auch der EGMR erstmals klar, dass eine Vernehmung anonymer Zeugen unter optischen und akustischen Abschirmungsmaßnahmen nicht grundsätzlich eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Abs. 1 EMRK darstellt. Der Gerichtshof verneinte hier eine Konventionsverletzung, obwohl weder dem Beschuldigten noch seinem Verteidiger eine „face-to-face-Konfrontation“ gewährt worden war. Die Beschwerde wurde als offensichtlich unbegründet abgewiesen. Es lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Juli 1994 war die Amsterdamer Polizei einer kriminellen Organisation auf die Spur gekommen. Schließlich bekam die Polizei einen entscheidenden Hinweis von 83 BG Urt. v. 21. 3. 1995 – 6P.81/1994 und 6P.157/1994, BGE 121 I 306 = EuGRZ 1995, 250. 84 Was angesichts der Lüdi-Entscheidung nahe gelegen hätte, in welcher der EGMR die Geheimhaltung des verdeckten Ermittlers bemängelte, weil dieser dem Beschuldigten seiner äußeren Erscheinung nach bereits bekannt war. 85 EGMR [Kok/Niederlande] Zulässigkeitsentscheidung v. 4. 7. 2000, 43149/98.

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einem für sie arbeitenden Informanten. Der Informant nannte die Adresse einer Wohnung, in welcher Waffen gelagert würden. Er wies darauf hin, dass erst kürzlich eine neue Lieferung mit einem Kleinbus eingegangen sei. Die Polizei fand bei einer anschließenden Durchsuchung dieser Wohnung (die von einem Freund des Bf., zeitweise aber auch vom Bf. selbst bewohnt wurde) große Mengen an Kokain, Waffen, Munition und Sprengstoff. Erst im April 1995 konnte der Bf. in einem „Coffee Shop“ festgenommen werden. Die Staatsanwaltschaft klagte ihn wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation, illegalen Besitz von Betäubungsmitteln und Waffen an. In dem Verfahren vor dem Regionalgericht musste dem Bf. nachgewiesen werden, dass er an der Lieferung der Waffen und des Rauschgifts in die besagte Wohnung beteiligt war. Der Bf. selbst leugnete dies. In gleicher Weise bestritten die beiden Mitbeschuldigten (der Bewohner der Wohnung und der Inhaber des „Transportautos“, welcher sogar die Bekanntschaft mit dem Bf. abstritt) die Beteiligung des Bf. Eine Reihe von Indizien sprachen jedoch gegen diese Aussagen. So waren etwa die Fingerabdrücke des Bf. auf den Verpackungen der Waffen und des Rauschgifts gefunden worden. Ein Video sowie andere Beweismittel konnten darauf schließen lassen, dass sich die Mitbeschuldigten durchaus kannten und vermutlich gemeinsam die Drogen und Waffen in die Wohnung geschafft hatten. Maßgeblich untermauert wurden diese Indizien durch die Aussage des polizeilichen Informanten, der den entsprechenden Hinweis gegeben hatte. Der Zeuge gab jedoch an, unter keinen Umständen offen aussagen zu können, da er sonst um sein Leben fürchten müsse. Die Staatsanwaltschaft beantragte deshalb beim Untersuchungsrichter die Durchführung einer verdeckten Vernehmung gem. §§ 226a–f nlStPO. Der Untersuchungsrichter gab diesem Antrag statt. Die Rechtfertigung der Anonymisierung wurde umfassend geprüft und begründet. Die Verteidigung legte hiergegen Rechtsmittel ein, hatte jedoch keinen Erfolg. Schließlich kam es zu einer verdeckten Befragung. Der Untersuchungsrichter, der Urkundsbeamte und zwei Polizisten befanden sich dabei in einem Raum mit dem anonymen Zeugen, während sich der Staatsanwalt, der Verteidiger des Bf., ein Polizeibeamter und der Generalstaatsanwalt des Berufungsgerichts in einem anderen Raum aufhielten. Die Antworten des Zeugen wurden durch einen „Sound Link“ mit Stimmenverzerrung übertragen. Der Zeuge beantwortete die von der Verteidigung an den Untersuchungsrichter übersandten Fragen zunächst nur gegenüber dem Untersuchungsrichter. War dieser der Auffassung, dass die Antwort nicht die Gefahr der Aufdeckung in sich barg, wiederholte der Zeuge seine Aussage, während der „Sound-Link“ eingeschaltet war. Das Regionalgericht verurteilte den Bf. letztendlich wegen der angeklagten Delikte zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Seine Entscheidung begründete es u. a. auch mit der Aussage des anonymen Zeugen. Die Berufung hatte keinen Erfolg. Das Revisionsgericht verneinte die Verletzung des Fairnessgrundsatzes, da die Aufrechterhaltung der Anonymität des Zeugen gerechtfertigt gewesen sei, die Verteidigung ausreichend Gelegenheit gehabt habe, den Zeugen zu befragen und weil die Verurteilung des Beschuldigten nicht in einem „entscheidenden Ausmaß“ auf die anonyme Zeugenaussage gestützt wurde.

Der EGMR teilte die Auffassung der niederländischen Gerichte. Er wiederholte die im Fall van Mechelen niedergelegten Grundsätze, kam jedoch aufgrund der Umstände des Einzelfalles zu einem anderen Ergebnis:

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

Zunächst war der Gerichtshof der Ansicht, dass die Aufrechterhaltung der Anonymität des Zeugen im vorliegenden Fall gerechtfertigt gewesen sei. Der Untersuchungsrichter habe die Ernsthaftigkeit und Begründetheit der Befürchtungen des Zeugen hinreichend geprüft und sich dabei nicht nur auf die Aussagen des Zeugen verlassen, sondern sich auch auf Hintergrundinformationen der Polizei gestützt. Darüber hinaus sei die Entscheidung durch eine Kammer (bestehend aus drei Richtern) bestätigt worden. Des Weiteren betonte der EGMR, dass es sich bei dem anonymen Zeugen nicht um einen verdeckten Ermittler gehandelt habe, dessen Identität vorwiegend aus operationellen Gründen geheimgehalten werden sollte. Der Zeuge sei vielmehr eine Person gewesen, die des Schutzes bedurfte und deren Aussage ohne eines solchen nicht hätte erlangt werden können. Da der Bf. zum Zeitpunkt seiner Festnahme eine Waffe trug und es ausreichende Anzeichen dafür gab, dass er Mitglied einer kriminellen Organisation war, sei der Bf. berechtigterweise als Gefahr für den Zeugen angesehen worden. Außerdem gelangte der Gerichtshof wie das Revisionsgericht zu der Auffassung, dass sich die Verurteilung nicht in einem „entscheidenden Ausmaß“ auf die Aussage des anonymen Zeugen gegründet habe. Er verwies auf die zahlreichen Indizien und meinte, diese seien durch die anonymen Zeugenaussage nachfolgend lediglich untermauert worden. Nicht zuletzt deshalb befürwortete der EGMR auch den hinreichenden Ausgleich der Verteidigungsrechte. Er betonte, dass hier die geringe Relevanz der Aussage für die Verurteilung berücksichtigt werden müsse. Die Verteidigung sei in diesem Falle in einem weitaus geringerem Maße benachteiligt. Er bestätigte den niederländischen Gerichten, dass sie ausreichende Bemühungen unternommen hatten, um die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit des Zeugen zu überprüfen. Dies habe zum einen der Untersuchungsrichter getan, zum anderen sei dem Verteidiger (soweit es der Schutz des Zeugen zuließ) die Möglichkeit gegeben worden, eine Reihe von Fragen an den Zeugen zu stellen. Von der Notwendigkeit, auch das Verhalten des Zeugen während der Befragung beobachten zu können, sprach der EGMR in diesem Fall nicht. 3. Die für zulässig befundene Beschwerde Birutis u. a. gegen Litauen86 Die Thematik der Verwertung anonymer Zeugenaussagen im Strafverfahren ist international nach wie vor aktuell. Derzeit ist vor dem EGMR auch eine Beschwerde gegen Litauen erhoben worden. Der Fall Birutis u. a. gegen Litauen wurde vom Gerichtshof bereits für zulässig erklärt. 86 EGMR [Birutis u. a./Litauen] Zulässigkeitsentscheidung v. 7. 11. 2000, 47698/99 und 48115/99.

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In der Beschwerde geht es um die Verurteilung der drei Bf. wegen eines Gefängnisaufruhrs im Januar 1997. Sie wurden beschuldigt, diesen Aufstand organisiert bzw. daran teilgenommen zu haben. Im Verfahren gegen sie verwertete das Gericht eine Reihe von anonymen Zeugenaussagen (bei den Zeugen handelte es sich zumeist um Mitgefangene), welche die Anklage bestätigten. Darüber hinaus stützte es sich auf die ursprünglichen Angaben dreier benannter Zeugen, die jedoch ihre Aussage mit der Behauptung widerrufen hatten, von der Staatsanwaltschaft gezwungen worden zu sein, die Beschuldigten zu belasten. Das Gericht war der Überzeugung, dass die Aussagen nur auf Druck der Mitgefangenen zurückgenommen worden waren. Schließlich gab es noch die bestätigenden Zeugnisse des Gefängnispersonals. Die Angeklagten wurden zu einer Freiheitsstrafe von zehn bzw. sechs Jahren verurteilt. Weitere Rechtsmittel hatten keinen Erfolg. Die Bf. rügten, dass die Angaben der anonymen Zeugen unwahr seien und dass die „heimlichen Aussagen“ weder durch die Verteidigung noch durch das Gericht hinreichend überprüft werden konnten. Sie bezweifelten die Richtigkeit der Aussagen der anonymen Zeugen, da sie von der Gefängnisverwaltung unter dem Versprechen einer bevorzugten Behandlung ermutigt worden seien, gegen die Bf. auszusagen. Außerdem hätten die „anonymen Zeugen“ vermutlich selbst an dem Aufstand teilgenommen und arbeiteten mit den Behörden nur deshalb zusammen, um selbst einer Strafe zu entgehen. Die Rechtsmittelgerichte konnten an der Beweiserhebung durch das Gericht erster Instanz keine Rechtsfehler erkennen. Sie wiesen darauf hin, dass es zulässig sei, die Aussagen anonymer Zeugen aus dem Ermittlungsverfahren zu verwerten, ohne dass die Zeugen zur mündlichen Verhandlung geladen werden müssten.

Vor dem EGMR rügten die Bf. eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Abs. 1 EMRK, da sie auf der Basis von anonymen Zeugenaussagen ohne Glaubwürdigkeitsüberprüfung durch das Gericht oder die Verteidigung verurteilt worden waren. Der Gerichtshof wies darauf hin, dass für die Beurteilung der Frage eine Reihe von Tatsachenerhebungen notwendig seien, folgte jedoch weder dem Einwand der Nichtausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs noch hielt er die Beschwerde für offensichtlich unbegründet. Eine endgültige Entscheidung ist bislang noch nicht ergangen.

II. Reaktionen der betroffenen Staaten auf die Urteile des EGMR In den Fällen, in denen es zu einer Verurteilung kam, wurden in den betroffenen Staaten meist heftige Diskussionen über den strafprozessualen Umgang mit anonymen Zeugen ausgelöst. Oftmals führte dies nicht nur zu einer Änderung der nationalen Rechtsprechung, sondern fand seinen Niederschlag auch in späteren Gesetzesreformen.87 87 So etwa in den Niederlanden und in Österreich, vgl. dazu nachfolgend unten S. 50 f. (Teil 1.B.II.1.) und S. 51 ff. (Teil 1.B.II.2.).

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

Welche Konsequenzen in den verurteilten Konventionsstaaten aus der Entscheidung des EGMR gezogen wurden bzw. werden, ist im Hinblick auf das Ziel der Untersuchung ebenso interessant wie die Entscheidungen selbst. Im Folgenden soll deshalb auch auf die Reaktionen der verurteilten Länder näher eingegangen werden. 1. Niederlande In den Niederlanden führte die Kostovski-Entscheidung zunächst zu einem Wandel der höchstrichterlichen Rechtsprechung88 und später zu einer Änderung der Gesetzeslage. Seit 1. Februar 1994 ist in den Niederlanden die Vernehmung anonymer Zeugen und die Möglichkeit der Verwertung ihrer Aussagen „unter Bedachtnahme auf die Rechtsprechung des EGMR“ gesetzlich geregelt.89 Danach muss ein Zeuge bei seiner Vernehmung seine Identität nicht preisgeben, „wenn er sich so bedroht fühlt, dass vernünftigerweise eine Gefahr für Leib und Leben, die Sicherheit oder das intakte Familienleben oder die sozioökonomische Existenz dieses Zeugen oder einer anderen Person zu befürchten ist und der Zeuge zu erkennen gegeben hat, dass er aufgrund dieser Bedrohung keine Aussage machen will“ (Art. 226a nlStPO). Die Entscheidung über eine anonyme Vernehmung trifft der Untersuchungsrichter. Sie ist mit einer Beschwerde angreifbar. Der Untersuchungsrichter muss sich von der Identität des Zeugen Kenntnis verschaffen. Bestehen seiner Auffassung nach hinreichende Gründe für eine geschützte Einvernahme nach Art. 226a nlStPO, vernimmt er den bedrohten Zeugen so, dass dessen Identität verborgen bleibt. Über die genaue Art und Weise der Vernehmung hat der Untersuchungsrichter je nach Grad der Gefährdung zu entscheiden. Er kann sogar beschließen, dass der Angeklagte und sein Verteidiger nicht bei der Vernehmung anwesend sein dürfen. In diesem Fall ist auch der Staatsanwalt von der Vernehmung ausgeschlossen. Allerdings muss den Parteien die Möglichkeit gegeben werden, Fragen an den Zeugen zu stellen. Dies kann schriftlich oder – soweit es die Umstände zulassen – auch unter optischen und akustischen Abschirmungsmaßnahmen geschehen.90 Die damit für die Verteidigung entstehenden Schwierigkeiten einer effektiven Glaubwürdigkeitsüberprüfung soll über die Person des Untersuchungsrichters ausgeglichen werden. Denn dieser ist nicht nur zur Überprüfung der Identität des 88 Vgl. dazu van de Reyt, in: Beweisverfahren, S. 283 (302) mit Verweisung auf Hoge Raad, Urt. v. 2. 7. 1990, NJ 1990, 692; Urteil v. 2. 10. 1990, NJ 1991, 130 sowie Urteil v. 26. 3. 1991, NJ 1991, 614. 89 Näher zur Geschichte des niederländischen Zeugenschutzgesetzes van de Reyt, in: Zeugenschutz, S. 129 (139 ff., 156 ff.); dies., in: Beweisverfahren, S. 283 (302 f.). 90 van Kalmthout/van de Reyt, in: Rechtliche Initiativen, S. 480 (509).

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Zeugen, sondern ausdrücklich auch zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Zeugen verpflichtet, worüber er für das erkennende Gericht schriftlich Rechenschaft ablegen muss.91 Gem. Art. 342 nlStPO kann die so erlangte Aussage des bedrohten Zeugen ohne weitere Vernehmung in der Hauptverhandlung als Beweis verwertet werden, wenn die angeklagte Tat ein Verbrechen darstellt, bei welchem Untersuchungshaft zulässig ist und das aufgrund der Art des organisierten Verbandes, in dem es begangen worden ist, oder aufgrund des Zusammenhanges mit anderen vom Angeklagten begangenen Verbrechen eine schwerwiegende Verletzung der Rechtsordnung darstellt. In Art. 344 und 344a nlStPO wurde vom Gesetzgeber festgelegt, dass sich das Ergebnis der Beweisaufnahme in ganz wesentlichem Umfang auf anderes Beweismaterial stützen muss, um die Fairness des Verfahrens zu gewährleisten.92 Kritische Stimmen in der niederländischen Literatur bezweifeln, dass die gesetzliche Regelung mit den Mindestanforderungen des Art. 6 EMRK vereinbar ist. Die Geheimhaltungsmöglichkeiten von Zeugen seien zu weitreichend und ließen eine unzulässige Einschränkung des Konfrontationsrechtes zu.93 Die Verurteilungen der Niederlande in den Fällen van Mechelen und Visser schienen den Kritikern Recht zu geben.94 Die Abweisung der Beschwerde im Fall Kok hat diesen Eindruck jedoch wieder relativiert. Zumindest optische und akustische Abschirmungsmaßnahmen hält der Gerichtshof im Hinblick auf das Konfrontationsrecht des Beschuldigten nicht grundsätzlich für unzulässig. 2. Österreich Als sich nach der Entscheidung der EKMR die Konventionswidrigkeit des Verfahrens im Falle Windisch bereits abzeichnete, befasste sich der OGH erneut mit der Sache. Die von der Generalprokuratur eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (§ 33 Abs. 2 StPO) hatte nun Erfolg. Die Verwertung der Beweissurrogate (also die Verlesung der Vernehmungsprotokolle und die Vernehmung der Gendarmeriebeamten als „Zeugen vom Hören-Sagen“) wurde als Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz angesehen. Der OGH wies nun darauf hin, dass nach der österreichischen StPO eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes nur dann zulässig sei, wenn ein Zeuge aus tat91

Art. 226e nlStPO. Vgl. auch Swart ZStW 105 (1993), 48 (74). Kalmthout/van de Reyt, in: Rechtliche Initiativen, S. 480 (510). 93 Kalmthout/van de Reyt a. a. O. mit Verweisung auf Mols, Advocatenblad 1989, 685 ff.; Prakken, NJB 1990, 310 ff.; Frielink, Delikt en Delinkwent (20) 1990, 685 ff. 94 Zur Urteilsbesprechung vgl. Garé/Spronken, Advokatenblad 1997. 545 ff.; Rozemond, Delikt en Delinkwent (28) 1998, 31 ff. [zitiert aus: Kalmthout/van de Reyt (Fn. 92)]. 92

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sächlichen Gründen nicht erreicht werden könne. Im Falle des behördlich gesperrten Zeugen sei dieser jedoch nicht tatsächlich unerreichbar, sondern er würde von den staatlichen Organen unerreichbar gemacht.95 Ungeachtet dieser Entscheidung änderte der OGH jedoch seine Auffassung später wieder.96 In mehreren nachfolgenden Entscheidungen ließ er die Verwertung von Beweissurrogaten erneut zu, wenn die Befragung von verdeckten Ermittlern aufgrund der Geheimhaltung durch die zuständigen Behörden von den Gerichten nicht bewerkstelligt werden konnte.97 Vom Willen des Gesetzgebers ist diese Vorgehensweise in der Praxis allerdings nicht gedeckt.98 Die Legislative hat bei der Novellierung des Strafprozessrechts99 mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass die Verwertung von Beweissurrogaten im Falle einer behördlichen Geheimhaltung von Zeugen mit dem konventionsrechtlichen Fragerecht nicht zu vereinbaren ist.100 Ist ein Zeuge gefährdet, kann nach der öStPO zu seinem Schutz eine gerichtliche Vernehmung ohne Angaben zur Person101 und unter Ausschluss der Öffentlichkeit102 bzw. des Angeklagten103 stattfinden. Um eine Einschüchterung des Zeugen zu vermeiden, ist es auch möglich, in der Hauptverhandlung eine Video-Direktvernehmung (Videokonferenz) durchzuführen.104 Die Gewährleistung einer Befragung i. S. einer „face-to-face-confrontation“ zumindest für die Verteidigung wird jedoch für die Verwertung der Zeugenaussage als unverzichtbar angesehen.105 Ganz überwiegend werden auch alternative Vernehmungsmethoden, die das Erscheinungsbild des Zeugen während der Befragung gänzlich 95 OGH, Urt. v. 23. 8. 1990, 12 Os 95/90 (unveröff.). Dazu Kranewitter JAP 1991/ 92, 50. Vgl. auch Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (397). 96 Kritisch dazu auch Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (396 f.); Fuchs ÖJZ 2001, 495 (200); Schwaighofer ÖJZ 1996, 124 (134). 97 Vgl. OGH, Urt. v. 13. 10. 1992, 14 Os 43/92, EvBl. 1993/30; OGH, Urt. v. 18. 4. 1995, 14 Os 40/95 (unveröff.); OGH, Urt. v. 17. 12. 1998, 15 Os 181/98 (unveröff.). 98 Siehe Nachweise oben Fn. 96. 99 StPÄG BGBl. 1993/526 in Kraft seit 1. 1. 1994. 100 EBRV zum StPÄG 1993, 924 BlgNR XVIII.GP, S. 36: „Unabdingbar bleibt aber nach der Rechtsprechungslinie des EGMR der Grundsatz, dass der anonym bleibende Zeuge vor Gericht und in Anwesenheit des Beschuldigten oder seines Verteidigers aussagen muss, um einen für die Prüfung der Glaubwürdigkeit notwendigen persönlichen Eindruck vom Verhalten des Zeugen während der Vernehmung zu erlangen (vgl. Urteile des EGMR vom 20. November 1989 im Fall Kostovski gegen die Niederlande, . . ., und vom 27. September 1990 im Fall Windisch gegen Österreich, . . .).“ 101 §§ 166a i. V. m. 248 Abs. 1 öStPO. 102 § 229 Abs. 2 öStPO. 103 § 250 Abs. 1 öStPO. 104 §§ 250 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. 162a Abs. 2 öStPO. Dazu näher Hinterhofer, in: Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 223 (228, 230). 105 Vgl. Nachweise oben Fn. 96 sowie Bertel/Venier, Grundriss, Rn. 639; LöschnigGspandl/Puntigam, in: Beweisaufnahme, S. 319 (367).

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geheim halten und die Reaktionen des Zeugen während der Befragung nicht mehr erkennen lassen (Vernehmung unter optischer und akustischer Abschirmung), für unzulässig gehalten.106 Sind die Sicherheitsbehörden aus legitimen Ermittlungs- oder Schutzinteressen heraus mit einer solchen gerichtlichen Einvernahme des Zeugen nicht einverstanden, steht es ihnen weiterhin frei, die Identität eines Zeugen gegenüber dem Strafgericht geheim zu halten und ihn damit für den nachfolgenden Strafprozess zu sperren.107 Die Sperrung hat jedoch seit dem StPÄG 1993 zur Folge, dass die Wahrnehmungen dieses Zeugen nicht mehr über Beweissurrogate (Protokollverlesung, Zeugen vom Hören-Sagen) für die Entscheidungsfindung verwertet werden können. Der „Informant“ kann den Sicherheitsbehörden lediglich als Informationsquelle für weitere Ermittlungen dienen.108 Mit dieser gesetzlichen Regelung verbleibt die Problematik des anonymen Zeugenbeweises in Österreich nur noch für den gefährdeten Zeugen, der vor Gericht auftritt und für eine direkte Befragung zur Verfügung steht, sich dabei jedoch verkleidet und alle Angaben zu seiner Person, die Rückschlüsse auf seine Identität ermöglichen, unterlässt. Der Gesetzgeber anerkannte auch hierin eine Beschränkung der Verteidigungsrechte,109 wollte aber dennoch nicht gänzlich auf diese Möglichkeit der Beweiserhebung verzichten. Um abzusichern, dass sich die Gerichte der Unsicherheitsfaktoren anonymer Aussagen bewusst sind und dies in ihrer Urteilsfindung berücksichtigen, fügte der Gesetzgeber eine entsprechende „Beweiswürdigungsregelung“ in der Strafprozessordnung ein.110 106 So etwa Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (391); Fuchs ÖJZ 2001, 494 (499); Schwaighofer ÖJZ 1996, 124 (133); E. Steininger AnwBl 1994, 77 (87). A. A. jetzt Hinterhofer JSt 2003, 83 f. Die Praxis österreichischer Gerichte geht allerdings – unter den Voraussetzungen des § 166a StPO – soweit, die Vernehmung eines Zeugen, der durch einen VollvisierSturzhelm vermummt ist, zu gestatten, dazu auch Zerbes a. a. O. Nach den derzeitigen Plänen einer Strafprozessreform soll diese Problematik deshalb ausdrücklich gesetzlich geregelt werden. Die Regierungsvorlage zum Strafprozessreformgesetz (vgl. EBRV StPRefG 25 BlgNR XXII GP, S. 207) sieht in § 162 vor, den Anspruch des Angeklagten auf eine „face to face confrontation“ gesetzlich niederzulegen und eine Tarnung des Zeugen nur insoweit zuzulassen, als das (für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung unerlässliche) Mienenspiel erkennbar bleibt. 107 Zur Zulässigkeit behördlicher Sperrerklärungen in Österreich vgl. OGH SSt 56/ 101; E. Steininger AnwBl 1994, 77 (87 Fn. 99); ders., Handbuch der Nichtigkeitsgründe, § 281 Abs 1 Z 2; § 345 Abs 1 Z 3 Rn. 21. 108 So ausdrücklich EBRV zum StPÄG 1993, 924 BlgNR XVIII.GP, S. 35. Fuchs ÖJZ 2001, 495 (501); Schwaighofer ÖJZ 1996, 124 (134). 109 EBRV zum StPÄG 1993, 924 BlgNR XVIII.GP, S. 36: „Durch die Einführung der Aussage eines anonym bleibenden Zeugen in das Verfahren werden die Möglichkeiten einer Überprüfung der Glaubwürdigkeit dieses Zeugen beschränkt. (. . .) Ohne weitere Anhaltspunkte über die Person des Zeugen und dessen Aufenthaltsort ist es für den Angeklagten aber in der Regel nicht möglich, Erkundigungen über den nur namentlich bekannten oder überhaupt anonym bleibenden Zeugen einzuholen.“

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

Mit dem StPÄG 1993 hat der österreichische Gesetzgeber sehr weitreichend auf die Rechtsprechung des EGMR reagiert. Den Anforderungen der EMRK an ein faires Verfahren sollte insbesondere durch die Abschaffung der indirekten Beweisführung für den Fall des behördlich gesperrten Zeugen Rechnung getragen werden. Der Gesetzgeber folgt damit der Auffassung, dass es dem Angeklagten gegenüber als „unfair“ anzusehen ist, wenn im Interesse Dritter auf ein durchaus erreichbares Beweismittel verzichtet und auf ein „Ersatzbeweismittel“ zurückgegriffen wird. Insbesondere wenn ihm dabei elementare Verteidigungsmöglichkeiten, wie die Hinterfragung der Glaubwürdigkeit nach dem persönlichen Eindruck des Aussagenden, faktisch genommen werden.111 Teilweise wird in der österreichischen Literatur sogar die Vernehmung unter Geheimhaltung der Identität als zu weitreichend bemängelt. In diesem Falle seien die Fragerechte nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK zwar formal gegeben, praktisch ausgenutzt werden könnten sie jedoch ebenfalls nicht.112 Kritisiert wird in diesem Zusammenhang vor allem auch, dass die Identität des Zeugen selbst dem Gericht gegenüber geheim bleibt. Da der Richter über die Motivation des Zeugen, sich als Polizeispitzel einsetzen zu lassen, über dessen Vorleben etc. nichts erfahren würde, sei er bei der Glaubwürdigkeitsüberprüfung weitgehend auf die Einschätzung der Polizei angewiesen. Außerdem müsse der Zeuge im Falle einer Falschaussage aufgrund seiner Anonymität auch gegenüber den Strafverfolgungsbehörden keine strafrechtlichen Folgen fürchten. In dieser Hinsicht komme die Wahrheitssicherung ungerechtfertigt zu kurz.113 3. Schweiz Auch in der Schweiz sind seit der Lüdi-Entscheidung des EGMR weitreichende Veränderungsbemühungen im Umgang mit anonymen Zeugen erkennbar. Während das Schweizer Bundesgericht im Falle Lüdi in der Verwertung der schriftlichen Angaben des verdeckten Ermittlers keinen Verstoß gegen strafprozessuale Prinzipien oder verfassungsmäßige Rechte erkennen konnte,114 betont die neuere bundesgerichtliche Spruchpraxis nunmehr den absoluten Charakter 110 § 258 Abs. 3 öStPO lautet: „Bei Beurteilung der Aussage eines Zeugen, dem nach § 166a gestattet worden ist, bestimmte Fragen nicht zu beantworten, ist insbesondere zu prüfen, ob dem Gericht und den Parteien ausreichend Gelegenheit geboten war, sich mit der Glaubwürdigkeit des Zeugen und der Beweiskraft seiner Aussage auseinanderzusetzen.“ 111 Vgl. dazu auch Schmoller RZ 2000, 154 (158). 112 So etwa Schmoller ÖJZ 1996, 21 (27); Fuchs, FS Platzgummer, S. 440; Schwaighofer ÖJZ 1996, 124 (133 Fn. 95) mit der Konsequenz, dass im Falle einer Gefährdung auf den Zeugen verzichtet werden müsse. 113 Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (387); Fuchs ÖJZ 2001, 495 (502).

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des Rechts auf Befragung von Belastungszeugen, das zwar abgeschwächt, nicht aber gänzlich vorenthalten werden könne.115 Das BG akzeptiert die Geheimhaltung der Identität von Belastungszeugen nur „in begründeten Ausnahmefällen und zur Wahrung überwiegender schutzwürdiger Interessen“, insbesondere bei Prozessen im Umfeld des organisierten Verbrechens und des Terrorismus, verdeckter Fahndung oder Sittlichkeitsverbrechen.116 Zu den schutzwürdigen Interessen zählt es dabei aber nicht nur die persönlichen Sicherheitsinteressen der Zeugen, sondern u. U. auch operationelle Gründe der Strafverfolgungsbehörden, so etwa, wenn es um die Aufrechterhaltung von Informationsnetzen geht.117 Verschiedene kantonale Strafprozessordnungen sehen deshalb ausdrücklich die Möglichkeit der anonymen Einvernahme von gefährdeten Zeugen und V-Personen vor.118 Darüber hinaus werden auch optische und akustische Abschirmungsmaßnahmen als zulässig angesehen.119 Wie weit diese Abschirmungsmaßnahmen im Einzelnen gehen dürfen, ist allerdings umstritten. Aus einer Entscheidung des Züricher Kassationsgerichts geht etwa hervor, dass es trotz der Schutzmaßnahmen zumindest dem Verteidiger möglich sein muss, während der Befragung Sichtkontakt zum Zeugen zu haben.120 Das BG akzeptiert hingegen auch nur eine akustische Übertragung ohne Sichtkontakt des Verteidigers. So befand es die Befragung eines V-Mannes, der im Nebenraum vernommen wurde und durch eine offene Verbindungstür nur vom Richter, nicht aber vom Verteidiger oder Beschuldigten gesehen werden konnte, als ausreichend.121 Generell mahnt jedoch auch das BG entsprechende Zurückhaltung bei der Ergreifung derartiger Schutzmaßnahmen an.122 114 BG, Urt. v. 8. 4. 1986, BGE 112 Ia 18 E 5. Siehe dazu oben S. 30 f. [Teil 1.B.I.1.c)]. 115 Vgl. etwa BG, Urt. v. 14. 8. 1992, BGE 118 Ia 457 = EuGRZ 1992, 512 (513 f.); BG, Urt. v. 2. 12. 1998, BGE 125 I 127 = EuGRZ 1999, 134 (137 ff.). 116 BGE 118 Ia 457. 117 BGE 125 I 127. 118 Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (386) mit Verweis auf Art. 124 BEStrV, Art. 82 Abs. 4 FR-StPO, §§ 40 und 110 Abs. 4 BL-StPO, Art. 90a und 130a VS-StPO. 119 Argumentativ kann sich die Schweiz dabei auch auf die Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates zum Zeugenschutz stützen (Recommendation No. R (97) 13 of the Committee of Ministers to Member States Concerning Intimidation of Witnesses and the Right of the Defence v. 10. September 1997 Ziff. 12, veröffentlicht in: RUDH 1997, 298). Hier sind Veränderungen von Bild und Stimme des Zeugen bei technischen Übertragungen als mögliche Schutzmaßnahmen ausdrücklich vorgesehen. 120 Kassationsgericht Zürich, Plädoyer 1995, 69 [zitiert aus: Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (392)]. 121 BG Urt. v. 21. 3. 1995, BGE 121 I 306 = EuGRZ 1995, 250. Die EKMR gab dem BG in diesem Falle auch recht, vgl. oben S. 44 [Teil 1.B.I.2.e)] [S. E./Schweiz]. In diesem Sinne auch explizit Art. 82 Abs. 4 FR-StPO.

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Ob die Rechtsprechung in der Schweiz auch nach der Lüdi-Entscheidung noch die Verwertung von Beweissurrogaten zulässt, wenn der Zeuge von den Strafverfolgungsbehörden für eine Befragung nicht freigegeben wird, ist fraglich. Das BG hat sich – wie bereits ausgeführt – deutlich dagegen ausgesprochen.123 Dennoch soll ein Teil der kantonalen Gerichte immer noch von dieser Vorgabe abweichen und die anonyme Aussage durch indirekte Beweise (also Verlesung des Vernehmungsprotokolls oder Vernehmung der Verhörsperson) ersetzen.124 In der Literatur wird eine solche Vorgangsweise jedoch weitestgehend abgelehnt.125 Schließlich wird allgemein betont, dass es bei anonymen Zeugenaussagen einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung durch das Gericht bedürfe. Wo eine Kompensation zu den Hindernissen der Anonymität nicht möglich sei, dürfe auf ein anonymes Zeugnis nicht abgestellt werden.126 Auch der schweizerische Bundesgesetzgeber setzt sich derzeit mit der Problematik des anonymen Zeugen auseinander. Im Vorentwurf eines Bundesgesetzes über verdeckte Ermittlung (E-BVE)127 und im Vorentwurf zu einer eidgenössischen Strafprozessordnung (VE-StPO)128 sind zukünftige Regelungen zum Schutz gefährdeter Zeugen und zur Geheimhaltung polizeilicher V-Leute enthalten. Der Vorentwurf einer schweizerischen Strafprozessordnung sieht ein abgestuftes Zeugenschutzsystem vor (Art. 160 ff.). Droht individuelle Leib- oder Lebensgefahr oder ein anderer schwerer Nachteil,129 können zum Schutze des Zeugen „geeignete Anordnungen“ getroffen werden. So sollen die Personalien des Zeugen auch in Abwesenheit des Beschuldigten (nicht aber des Verteidigers) festgestellt werden dürfen.130 Reicht dies zum Schutze des Aussagenden nicht aus, eröffnet der VE-StPO auch die Möglichkeit der vollständigen Geheimhaltung. Hierüber muss jedoch eine gerichtliche Instanz entscheiden. 122

BGE 125 I 127 = EuGRZ 1999, 134 (141). Vgl. oben Fn. 115. 124 Näher dazu Heine ZStR 1992, 53 (70); Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (399). Eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für die Verlesung von Polizeiberichten findet sich in Art. 85 FR-StPO. 125 Albrecht Plädoyer 1987, 25 (27); Joset/Ruckstuhl ZStR 1993, 355 (371 f.); Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, S. 262; zurückhaltender Hug ZStR 1998, 404 (414). Vgl. auch Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (399). 126 BGE 125 I 127 = EuGRZ 1999, 134 (145). 127 BBl. 1998, S. 4317, mit Erläuterungen in der Botschaft 1998, BBl. 1998, S. 4241 (4286 ff.). 128 Vorentwurf und Begleitbericht, Bundesamt für Justiz (BJ), Juni 2001 (im Internet abrufbar unter www.ofj.admin.ch). 129 Begleitbericht zum VE-StPO, S. 116: nur vermögenswerte Interessen reichen hierfür i. d. R. nicht. 130 Begleitbericht zum VE-StPO, S. 117. 123

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Geschieht dies nicht, darf die unter Zusicherung der Anonymität erlangte Aussage nicht verwertet werden.131 Außerdem will die geplante eidgenössische Verfahrensordnung optische und akustische Abschirmungsmaßnahmen zulassen (Art. 161 Abs. 2). Der VE sieht ausdrücklich vor, dass Aussehen und Stimme des Zeugen verändert bzw. die zu schützende Person sogar abgeschirmt werden darf. Auch eine räumlich getrennte Vernehmung soll möglich sein. In diesem Fall wird eine technische Liveübertragung empfohlen. Allerdings wird im Begleitbericht explizit darauf hingewiesen, dass die Beschränkungen des rechtlichen Gehörs nicht auch für den Verteidiger gelten. Diesem müsse die unmittelbare Wahrnehmung des Zeugen und dessen Reaktion auf die Befragung erhalten bleiben.132 Der Beschuldigte muss Gelegenheit haben, Ergänzungsfragen zu stellen. Die Verwertung von Beweissurrogaten sieht der Gesetzgeber als Verstoß gegen das konventionsrechtliche Fragrecht an.133 Im Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung geht es um einen besonderen Identitätsschutz für verdeckt ermittelnde Beamte. So soll es zukünftig möglich sein, polizeilichen V-Personen richterlich Vertraulichkeit zuzusichern, mit der Folge, dass ihre Identität auch nach Abschluss ihres Einsatzes geheim gehalten wird und die Preisgabe der Personalien im Gerichtsverfahren sowie deren Aufnahme in die Verfahrensakten unterbleibt (Art. 20 Abs. 1 E-BVE).134 Ob allein die Aufrechterhaltung von Informationsnetzen ausreichender Grund sein kann, um Vertraulichkeit zuzusichern, bleibt allerdings offen.135 Die Legislative betont jedoch auch hier, dass sich aufgrund von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK eine Konfrontation zwischen dem Ermittler und dem Beschuldigten nicht vermeiden lasse. Aus diesem Grunde müsse es möglich sein, entsprechende Schutzmaßnahmen zu treffen. In Art. 20 E-BVE sind deshalb ebenfalls optische und akustische Abschirmungsmaßnahmen vorgesehen.136 Der Hinweis auf die unbedingte Gewährung des Fragerechts lässt auch hier darauf schließen, dass eine Verwertung von Beweissurrogaten für den Fall der vollständigen Sperrung des verdeckten Ermittlers nicht mehr zulässig sein soll.137 Die Lösungswege der schweizerischen Legislatur und Rechtsprechung sind keineswegs unumstritten. Kritisiert werden vor allem die weitreichenden Schutzmaßnahmen der optischen und akustischen Abschirmung. Insbesondere dann, wenn diese auf den Verteidiger erstreckt werden, wird hierin eine unzu131

Begleitbericht zum VE-StPO, S. 117. Begleitbericht zum VE-StPO, S. 117. 133 Begleitbericht zum VE-StPO, S. 117. Zum Ganzen auch Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (387 ff.). 134 Botschaft zum E-BVE, S. 4289. 135 Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (388). 136 Botschaft zum E-BVE, S. 4300. 137 So auch Zerbes, in: Information und Recht, S. 79 (399). 132

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

lässige Einschränkung der Verteidigungsrechte nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gesehen.138 4. Frankreich Gewisse Änderungen brachte die EGMR-Spruchpraxis zum anonymen Zeugen auch in Frankreich mit sich. Dem Fragerecht des Beschuldigten gegenüber Belastungszeugen kam bis zur Verurteilung Frankreichs im Fall Delta139 kaum Bedeutung zu. Die Gerichte begnügten sich in der Hauptverhandlung zumeist mit der Verlesung der Vernehmungsprotokolle,140 obwohl weder der Beschuldigte noch sein Verteidiger im Stadium des polizeilichen Vorverfahrens oder der gerichtlichen Voruntersuchung die Möglichkeit hatten, bei der Vernehmung des Zeugen anwesend zu sein.141 Unter dem Einfluss der Straßburger Rechtsprechung formulierte der Kassationshof in der Randhawa-Entscheidung142 erstmals ein aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK hergeleitetes Konfrontations- bzw. Befragungsrecht des Beschuldigten gegenüber Belastungszeugen. Der Gerichtshof schlussfolgerte aus dem konventionsrechtlichen Fragerecht, dass ein gesetzmäßiger Antrag auf Vernehmung der Zeugen, mit denen die Verteidigung zuvor nicht konfrontiert wurde, in der Hauptverhandlung nur dann abgelehnt werden darf, wenn dem Antrag aus tatsächlichen Gründen nicht stattgegeben werden kann.143 Seither wird es allgemein als unzulässig angesehen, die Anhörung von Belastungszeugen in der mündlichen Verhandlung allein mit dem Hinweis zu verweigern, der Zeuge sei bereits im Vorverfahren gehört und die Verteidigung anschließend darüber informiert worden. Der Kassationshof betonte jedoch gleichzeitig, dass Art. 6 EMRK kein Recht auf Zeugenvernehmung per se konstituiere. Vielmehr dürften die Tatrichter den Antrag auf Zeugenvernehmung unter bestimmten Umständen auch ablehnen, wobei sie dies unter Beachtung der Verteidigungsrechte zu begründen 138

Vgl. etwa Joset/Ruckstuhl ZStR 1993, 355 (373 f.). EGMR [Delta/Frankreich] Urt. v. 19. 12. 1990 Serie A/191-A, in deutscher Übersetzung auszugsweise abgedruckt in ÖJZ 1991, 425–426. In diesem Fall unterblieb die Befragung der Belastungszeugen nicht aus Zeugenschutzgründen, sondern weil die Zeugen trotz ordnungsgemäßer Ladung vor Gericht nicht erschienen waren. Weder das Gericht erster Instanz noch das Berufungsgericht hatten Veranlassungen zu ihrer Vorführung getroffen. Die Gerichte hielten eine Vernehmung für nicht erforderlich, da sie aufgrund der Erklärungen des Polizeibeamten und des schriftlichen Polizeiprotokolls hinreichend überzeugt waren, dass der Angeklagte die zur Last gelegte Tat begangen hatte. 140 Zu dieser Praxis der französischen Gerichte Barth/Koch, in: Beweisaufnahme, S. 88 (107 f.). 141 Vgl. Barth/Koch, in: Beweisaufnahme, S. 88 (134). 142 Crim. 12. 1. 1989, Bulletin Nr. 13. 143 Näher hierzu Barth/Koch, in: Beweisaufnahme, S. 88 (124 ff.). Vgl. auch Ernst, Die Haltung Deutschlands und Frankreichs, S. 267. 139

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zu anonymen Zeugenaussagen

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hätten. Die Gefahr der Einschüchterung, der Druckausübung oder der Androhung von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber dem Zeugen sah der Gerichtshof als zulässigen Grund an, um die Einvernahme in der mündlichen Verhandlung zu verweigern.144 Die französische Spruchpraxis sieht in der dann erfolgenden Verwertung der Beweissurrogate keinen Verstoß gegen Art. 6 EMRK.145 Seit der Reform des französischen Strafprozessrechts vom 1. 1. 1993 kann der Beschuldigte auch im Vorverfahren eine Gegenüberstellung mit dem Zeugen verlangen. Dieser Antrag darf jedoch vom Untersuchungsrichter abgelehnt werden, wenn er der Auffassung ist, dass dem Zeugen Repressalien drohen.146 Will ein Zeuge gänzlich anonym bleiben, so kann ihm von der Polizei Vertraulichkeit zugesichert werden. In Frankreich kann die Polizei ein berufsbezogenes Recht auf Geheimhaltung von Informationsquellen geltend machen.147 Verschweigt sie unter Berufung hierauf die Identität ihres Informanten, ist der Zeuge für das Gericht unerreichbar und es kann, ohne dass hierin ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK gesehen wird, auf die Verlesung des Vernehmungsprotokolls oder die Anhörung des Vernehmungsbeamten (ohne Angaben über die Identität des Zeugen) zurückgegriffen werden.148 Die Literatur verweist in diesem Zusammenhang auf die beschränkende und eingrenzende Wirkung des Prinzips der freien Beweiswürdigung.149 Frankreich zieht aus der Rechtsprechung des EGMR also weitaus geringere Konsequenzen. Die Rechtsprechung erkennt kein absolutes Recht des Beschuldigten auf Befragung bzw. Konfrontation mit dem Belastungszeugen an. Das Konfrontationsrecht des Beschuldigten wird vielmehr als Leitlinie verstanden, von der im Einzelfall Ausnahmen zulässig sind. Dies wird nach wie vor mit der Zweckmäßigkeit der Verfahrensweise und deren Notwendigkeit für eine effektive Verbrechensbekämpfung begründet.150 144 Barth/Koch, in: Beweisaufnahme, S. 88 (125). Zu weiteren vom Kassationshof anerkannten Versagungsgründen vgl. auch Zieschang, in: Rechtliche Initiativen, S 383 (422). 145 Kritisch hierzu Barth/Koch, in: Beweisaufnahme, S. 88 (126). 146 Art. 82-1 CPP. Gegen die ablehnende Entscheidung ist Berufung möglich, woraufhin das Berufungsgericht die Zweckmäßigkeit der Ablehnung überprüft, vgl. Barth/ Koch, in: Beweisaufnahme, S. 88 (134). 147 Art. 378 CP, 109 I CPP. Näher zur „règle de l’anonymat“ Lorenz, in: Zeugenschutz, S. 59 (78 ff.). Vgl. auch Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1235. 148 Vgl. Lorenz, in: Zeugenschutz, S. 59 (82 f.). Die Zulässigkeit der Beweisverwertung wird in diesem Falle weiterhin mit der Zulässigkeit der Beweiserhebung durch geheime Informanten begründet: Der Einsatz heimlicher Ermittler ist erlaubt, weshalb auch die Verwertung des so erlangten Wissens nicht für unzulässig angesehen werden könne, vgl. Lorenz, in: Besondere Ermittlungsmaßnahmen, S. 301 (360) mit Verweis auf Cass. Crim. 17. 10. 1991, Droit pénal 1992, nº 27. 149 Lorenz, in: Zeugenschutz, S. 59 (77): „Damit ist offenbar die Hoffnung verbunden, das Gericht werde die „Anonymität“ des Zeugen im Rahmen der Bildung der eigenen Überzeugung gebührend berücksichtigen.“

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

In der Literatur wird bezweifelt, dass die französische Rechtspraxis die durch die Straßburger Organe gesetzten Anforderungen an die Einvernahme von Belastungszeugen erfüllt.151

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung und ihrer Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung I. Analyse der Straßburger Judikatur 1. Allgemeine Probleme im Umgang mit der konventionsrechtlichen Spruchpraxis Die unterschiedlichen Diskussionen in den verurteilten Staaten machen deutlich, wie verschieden die Straßburger Spruchpraxis zum anonymen Zeugen interpretiert wird. Das Meinungsspektrum reicht von der Ansicht, dass die Verwertung von Beweissurrogaten praktisch keine Einschränkung erfahren habe152 bis zur Überzeugung, dass die Verwertung der Aussagen gesperrter Zeugen nun unzulässig sei.153 Ursache hiefür mag einerseits die von den Konventionsorganen stets betonte Zurückhaltung gegenüber Detailregelungen nationaler Verfahrensrechte sein.154 Verweist der Gerichtshof beständig darauf, er wolle nicht in die Einzelheiten des jeweils betroffenen Strafverfahrensrechts hineinregieren, sondern lediglich allgemeine Grundstrukturen im Lichte der EMRK darlegen,155 erweckt dies den Anschein, als wenn es letztendlich den Mitgliedstaaten überlassen bliebe, wie sie mit der Problematik umgehen. Die Vielzahl der Verurteilungen zeigt aber, dass dies nur beschränkt zutreffend ist.156 Ein weiteres Problem dürfte die Einzelfallbezogenheit157 der Straßburger Spruchpraxis sein. Stützt der EGMR seine Entscheidungen im Wesentlichen auf die Umstände des Einzelfalls, so ist es schwierig, hieraus allgemeingültige 150

Lorenz a. a. O. S. 74 f. Vgl. Barth/Koch, in: Beweisaufnahme, S. 88 (126 m. w. Nw., 131). Siehe auch Krauß, V-Leute, S. 73 m. w. Nw.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1235. 152 Vgl. etwa die Diskussion in Frankreich oben S. 58 f. (Teil 1.B.II.4.). 153 Vgl. dazu insbesondere die Diskussionen in Österreich und der Schweiz oben S. 51 ff. (Teil 1.B.II.2. und 3). Vgl. auch Krauß, V-Leute, S. 77. 154 Vgl. Kühne StV 2001, 73 (77). Hierzu auch Rzepka, Fairneß, S. 104 f. 155 Kühne a. a. O. 156 So auch Kühne a. a. O. 157 Zum Problem der Einzellfallbezogenheit der Konventionsrechtsprechung Ress, FS für Mosler, S. 719–744; s. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, S. 131 f., 236 ff. Vgl. auch Schürmann ZStR 2001, 352 (359, 365). 151

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Schlussfolgerungen zu ziehen. Wie Swart bereits zutreffend formulierte, „reizt“ die Konventionsrechtsprechung dazu, „sich auf das Argument e contrario zu berufen: Was der Gerichtshof nicht explizit verworfen hat, ist erlaubt.“158 Generell-abstrakte Vorgaben des EGMR zum Umgang mit einem bestimmten Rechtsproblem dürfen allerdings nur begrenzt erwartet werden. Der Gedanke der Subsidiarität des Straßburger Kontrollverfahrens verbietet es dem Gerichtshof in gewissem Maße sich klar und allgemeingültig zu erklären.159 Die Mitgliedsstaaten, welche ihre Rechtsordnung den Anforderungen der Konvention anpassen wollen, sind deshalb darauf angewiesen, die konventionsrechtliche Spruchpraxis in ihrer Gesamtheit zu verfolgen und aus der Vielzahl der Einzelfallentscheidungen auf allgemeingültige Anforderungen hin auszulegen. Nicht selten bleiben dabei Fragen offen.160 Die Thematik des anonymen Zeugen ist ebenfalls noch nicht in allen Punkten ausdiskutiert. In der mittlerweile recht umfangreichen Spruchpraxis sind jedoch zahlreiche Aussagen getroffen worden, die Bestandteil einer gefestigten Rechtsprechung sind und deshalb als „konventionsrechtliche Vorgaben“ beachtet werden müssen. Diese „Leitlinien“ herauszufiltern ist Gegenstand der nachfolgenden Analyse. 2. Zu Inhalt und Umfang des Rechts auf Konfrontation mit Belastungszeugen a) Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK – einfaches Fragerecht oder Recht auf Konfrontation? Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gewährt dem Angeklagten nach deutscher Übersetzung das Recht, „Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen.“ Etwas weitergehend spricht der englische Originaltext hingegen vom „right to examine, or have examined, witnesses against him“. In diesem Zusammenhang wird verschiedentlich darauf verwiesen, dass bereits die Begrifflichkeit des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK („examinieren“ bzw. „prüfen“) auf eine besondere Qualität des Fragerechts des Beschuldigten hindeute. Da der Beschuldigte nur dann prüfen kann, wenn er hinreichend Gelegenheit erhält, den Belastungszeugen „in selbständiger und zusammenhängender Weise – und von Angesicht zu Angesicht – auf die Grundlagen seines Wissens abzuklopfen“, liegt die Vermutung nahe, dass der Inhalt des Art. 6 Abs. 3 lit. d über die 158

Swart ZStW 105 (1993), 48 (64). Kritisch hierzu Schürmann ZStR 2001, 352 (359, 365 367). 160 Treffend Schürmann ZStR 2001, 352 (359): „Den Vorhang zu und alle Fragen offen in Bertolt Brechts ,Der gute Mensch von Sezuan‘ ist mitunter der Eindruck, den die Lektüre der Urteile aus Straßburg hinterlässt.“ 159

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

Garantie eines einfachen Fragerechts hinausgeht und ein Recht auf Konfrontation (i. S. eines Rechts auf Gegenüberstellung) mit den Belastungszeugen gewährt.161 Allerdings lässt sich hiergegen zu Recht einwenden, dass der Wortlaut des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK – anders als bspw. der als Vorbild geltenden 6. Zusatzartikel (1971) der US-Verfassung162 und Art. VII Abs. IX c Nato-Truppenstatut163 – gerade kein ausdrückliches Recht auf Konfrontation gewährt. So lässt sich gleichermaßen argumentieren, dass mit der abgeschwächten Formulierung vom „right to examine“ ein über das Fragerecht hinausgehendes „Recht auf Gegenüberstellung“ gerade nicht aufgenommen werden sollte.164 b) Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Art 6 Abs. 1 EMRK als Prüfungsmaßstab Ohne die vorgenannte Frage zu beantworten, leitet der EGMR ein Konfrontationsrecht des Beschuldigten mit den Belastungszeugen zumindest aus einer Gesamtschau des Art. 6 Abs. 3 mit dem in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verbürgten Grundsatz des „fair hearing“ ab. Was sich im Einzelnen hinter dem Begriff des „fair hearing“ verbürgt und wie weit sein Anwendungsfeld reicht, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht umfassend erörtert werden.165 Allgemein wird dieses Prinzip als umfassende Garantie verfahrensmäßiger Fairness begriffen und dieses Leitbild von der Idee der Waffengleichheit und von der Forderung nach rechtlichem Gehör her konkretisiert.166 Das „fair hearing“ des Art. 6 EMRK kann also nicht allein mit dem Recht auf rechtliches Gehör entsprechend Art. 103 Abs. 1 GG gleichgesetzt werden sondern ist vielmehr darüber hinausgehend mit der allgemeinen Rechtsstaatsgarantie des Art. 20 Abs. 3 GG vergleichbar.167 Da der Grundsatz des „fair hearing“ durch die in Abs. 3 enthaltenen Einzelgarantien nicht abschließend umschrieben wird,168 verbleibt dem Straßburger Gerichtshof genü161

Walther GA 2003, 204 (212). „[The defendant] . . . shall enjoy the right . . . to be confronted with the witnesses against him“. 163 Räumt den Angehörigen der Stationierungsstreitkräfte ebenfalls explizit das Recht ein, mit Belastungszeugen konfrontiert zu werden. 164 Vgl. Walther GA 2003, 204 (213) mit Verweis aus LR-Gollwitzer Art. 6 EMRK Rn. 225. 165 Hierzu näher Rzepka, Fairneß, S. 82 ff. 166 So bereits Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit, S. 247 m. w. Nw. Vgl. aber auch Rzepka, Fairneß, S. 82 ff.; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 118 ff. 167 So ausdrücklich auch Geppert a. a. O. 168 Ständige Rechtsprechung: EGMR [Deweer/Belgien] Urt. v. 27. 2. 1980, Serie A/ 35 = EuGRZ 1980, 667; zuletzt [P. S./BRD] (Fn. 169). Vgl. hierzu auch IntKommVogler Art. 6 EMRK Rn. 467; Frowein/Peukert Art. 6 Rn. 2; Rzepka, Fairneß, S. 25 f. 162

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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gend Raum, andere nicht explizit aufgeführte Verfahrensrechte als von Art. 6 EMRK umfasst anzusehen – so auch das Recht auf ein adversarisches Verfahren bzw. das Recht auf Gegenüberstellung mit den Belastungszeugen. In nunmehr ständiger Rechtsprechung betont der Gerichtshof, dass mit Blick auf die in Art. 6 Abs. 3 verbürgte Garantie „to examine or have examined witnesses against him“ und mit Blick auf den übergreifenden Zweck des Art. 6 insgesamt, dem Beschuldigten das Recht zu verbürgen „to take part in the hearing and to have his case heard in his presence by a tribunal“, der Grundsatz der adversarischen Beweiserhebung und damit auch der Anhörung von Zeugen in einem adversarischen Verfahren abgeleitet werden müsse.169 Alle Zeugen, die von der Staatsanwaltschaft als Beweismittel eingebracht werden, müssen (auf Antrag)170 kontradiktorisch einvernommen werden. Die Verteidigung muss insgesamt eine „angemessene und geeignete Gelegenheit erhalten, die Glaubwürdigkeit eines gegen ihn aussagenden Zeugen überhaupt in Frage zu stellen und ihn zu befragen“.171 Der Gerichtshof betont dabei auch die Notwendigkeit der Beobachtung der Zeugen während der Befragung durch die Verteidigung.172 Es geht also nicht nur um eine Glaubwürdigkeitsüberprüfung mittels eines einfachen Fragerechts, sondern um die grundsätzliche Wahrnehmung eines Rechts auf Gegenüberstellung. c) Die Auslegung des Begriffs „Belastungszeuge“ In diesem Zusammenhang betont der Straßburger Gerichtshof, dass unter einem Belastungszeugen i. S. v. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK jede Person verstanden werden muss, deren Aussage tatsächlich zur Kenntnis des nationalen Gerichts gelangt ist und von diesem berücksichtigt wurde.173 Belastungszeuge ist also nicht nur der Zeuge vom Hören-Sagen, sondern auch die (anonyme) Auskunfts169 EGMR [Barberà u. a./Spanien] Urt. v. 6. 12. 1988, Serie A/146 Ziff. 78; [Kostovski/Niederlande] (Fn. 29); [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 51. Aus der neueren Rechtsprechung [P. S./BRD] Urt. v. 20. 12. 2001 – 33900/96, Ziff. 21 = StV 2002, 289 (290). Näher hierzu auch Walther GA 2003, 204 (214) sowie Rzepka, Fairneß, S. 85 f.; Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 406 f., 633. Zur früheren Spruchpraxis der Konventionsorgane Krauß, V-Leute, S. 57 ff. 170 Zum Antragserfordernis näher Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 635. 171 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 29); [P. S./BRD] Urt. v. 20. 12. 2001 – 33900/96, Ziff. 21 = StV 2002, 289 (290). 172 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 32); [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 62). 173 Ständige Rechtsprechung vgl. bspw. EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 28); [Windisch/Österreich] (Fn. 35) Ziff. 23; [Visser/Niederlande] (Fn. 64) Ziff. 45. Näher zur autonomen Auslegung des Zeugenbegriffs durch den EGMR auch Renzikowski JZ 1999, 605 (609); Simon, Beschuldigtenrechte, S. 104 ff.; Krauß, V-Leute, S. 99 ff.; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 214, 224.

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

person, deren Angaben über Beweissurrogate in das Strafverfahren eingeführt werden,174 sofern ihre Aussagen bei der Entscheidungsfindung durch das Gericht Berücksichtigung finden.175 Insgesamt hat der Gerichtshof damit deutlich werden lassen, dass sich die Reichweite des Art. 6 EMRK nicht – wie zunächst angenommen176 – allein in dem Schutz der formellen Waffengleichheit, also einer Gleichbehandlung von Anklage und Verteidigung in der Gerichtsverhandlung erschöpft, sondern auch den Anspruch auf rechtliches Gehör bzw. materielle Chancengleichheit des Angeklagten sichern will.177 Mittlerweile ist diese konventionsrechtliche Auslegung, welche die Bedeutung der EMRK für die Frage der Zulässigkeit indirekter Beweisführung enorm erhöht hat, allgemein anerkannt.178 d) Zeitpunkt des Rechts auf Konfrontation Allgemein gelten die Konventionsgarantien des Art. 6 Abs. 3 EMRK ab dem Zeitpunkt der Anklage.179 Der Begriff der Anklage wird vom Straßburger Gerichtshof allerdings autonom ausgelegt. Nach seiner Spruchpraxis besteht eine Anklage entweder zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der strafrechtlichen Verfolgung oder auch schon dann, wenn sich aus bestimmten Maßnahmen der Schluss ergibt, dass wegen eines Tatverdachts gegen eine bestimmte Person ermittelt wird und deren Situation ähnlich der eines offiziell Beschuldigten ist.180 174

Renzikowski JZ 1999, 605 (609). Zu letzterer Einschränkung ausdrücklich EGMR [Visser/Niederlande] (Fn. 65). 176 Zur früheren restriktiven Auffassung der Konventionsorgane vgl. EKMR [X./ BRD] E. v. 4. 7. 1979 – 8414/78, DR 17, 231; [S./BRD] E. v. 13. 12. 1983 – 8945/80, DR 39, 43; näher dazu Krauß, V-Leute, S. 57 ff. Hierauf dürfte auch die gegenteilige Auslegung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK insbesondere in der früheren Literatur und Rechtsprechung [vgl. etwa BGH, Urt. v. 1. 8. 1962 – 3 StR 28/62, BGHSt 17, 382 (388); offengelassen in BGH, Urt. v. 20. 11. 1990 – 1 StR 562/90, StV 1991, 100 (101); KMR-Paulus § 244 Rn. 201; Rebmann NStZ 1982, 318; Fezer, in: Juristischer Studienkurs, Fall 14 Rn. 53; Joachim, Hören-Sagenbeweis, S. 130 ff.; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 300 f.] beruhen. 177 Trechsel, Sondervotum zum Bericht der EKMR [Unterpertinger/Österreich] E. v. 11. 10. 1984 – 9120/80, Serie A/110, in deutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 1987, 153 f. Vgl. auch Krauß, V-Leute, S. 101; Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensprozess, S. 633. 178 BGH, Urt. v. 30. 1. 1996 – 1 StR 624/95, StV 1996, 471; BGH (Fn. 15) wistra 2003, 109 (111). Vgl. auch Wattenberg/Violet StV 1997, 620 (621); Renzikowski JZ 1999, 605 (609); Eschelbach StV 2000, 390 (397); Weider StV 2000, 48 (53 f.); Weigend StV 2001, 63 (64); Schlothauer StV 2001, 127 (128); Walther GA 2003, 206 (216); Simon, Die Beschuldigtenrechte, S. 134; Krauß, V-Leute, S. 99 ff.; Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 630 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 923. Anders wohl noch im Umgang mit Art. 6 EMRK die französischen Gerichte vgl. Lorenz, in: Besondere Ermittlungsmaßnahmen, S. 301 (360). 179 Vgl. Wortlaut Art. 6 Abs. 3: „Jeder Angeklagte hat mindestens (engl.) insbesondere (frz.) die folgenden Rechte:“. 175

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Es stellt sich deshalb die Frage, ab welchem Zeitpunkt dem Beschuldigten ein Recht auf Befragung bzw. kontradiktorische Gegenüberstellung zustehen soll. Der EGMR findet hierzu keine generelle Antwort. Er betont in diesem Zusammenhang vielmehr, dass die Garantie des fairen Verfahrens nicht anhand eines einzelnen Verfahrensabschnitts, sondern erst im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Verfahrens beurteilt werden muss. Für die Straßburger Organe bildet das Strafverfahren über alle Stadien hinweg eine Einheit. Insbesondere Trechsel wies diesbezüglich erklärend hinzu, dass die Konvention auf verschiedene Systeme des Strafverfahrens gleichzeitig angewendet werden müsse, was den Konventionsorganen ein all zu enges Differenzieren nach den Verfahrensstadien einer bestimmten Prozessordnung verbiete. Es komme darauf an, in welchem Grad der Grundsatz der Unmittelbarkeit nach dem jeweiligen Prozessrecht verwirklicht sei: Je stärker der Grundsatz der Unmittelbarkeit in der Hauptverhandlung gelte, desto eher könne hingenommen werden, dass sich Art. 6 auf das Stadium der Hauptverhandlung beschränke.181 Liegt hingegen der Schwerpunkt der Beweisführung in der Voruntersuchung, ohne dass die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung wiederholt werden muss,182 so ist verstärkt darauf zu achten, ob dem Beschuldigten im Rahmen des Vorverfahrens die Rechte des Art. 6 Abs. 3 EMRK gewährt wurden.183 Dementsprechend betont der EGMR in seinen Entscheidungen, dass „normalerweise . . . alle Beweise in Gegenwart des Angeklagten in öffentlicher Verhandlung mit dem Ziel einer kontradiktorischen Erörterung vorgebracht werden“ müssen.184 Gleichzeitig ergänzt der Gerichtshof, dass es u. U. auch mit der Konvention vereinbar sein könne, wenn die Beweisaufnahme im Vorverfahren erfolge und „die Rechte der Verteidigung“ zu diesem Zeitpunkt beachtet würden. Insgesamt müsse der Angeklagte „Gelegenheit zur Widerlegung und Befragung eines Belastungszeugen erhalten, sei es zu dem Zeitpunkt, zu dem der Zeuge seine Aussage ablegt oder in einem späteren Verfahrensstadium“.185

180 EGMR [Deweer/Belgien] (Fn. 168) Ziff. 44–46. Vgl. auch IntKomm-Vogler Art. 6 EMRK Rn. 204. 181 Trechsel, Verteidigungsrechte, S. 391 (zitiert aus: IntKomm-Vogler Art. 6 EMRK Rn. 206). 182 Vgl. etwa das französische Strafverfahrensrecht, in welchem der Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht bzw. nur sehr eingeschränkt anerkannt wird, dazu Barth/Koch, in: Beweisaufnahme, S. 88 (107 f.). 183 Siehe auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 642; Gleß NJW 2001, 3606 (3607). 184 Ständige Rechtsprechung vgl. bspw. EGMR [Unterpertinger/Österreich] Urt. v. 24. 11. 1986, Serie A/110 Ziff. 31; [Asch/Österreich] Urt. v. 26. 4. 1991, Serie A/203 Ziff. 27; [Barberà u. a./Spanien] Urt. v. 6. 12. 1988 Serie A/146 Ziff. 78; [Kostovski/ Niederlande] (Fn. 29); [Windisch/Österreich] (Fn. 35) Ziff. 26; [Lüdi/Schweiz] (Fn. 40) Ziff. 47; [Saïdi/Frankreich] (Fn. 47) Ziff. 43; [Van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 51; [P. S./BRD] (Fn. 169) Ziff. 21.

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

Im Rahmen der Gesamtbetrachtung des Verfahrens reicht es dem Gerichtshof damit also aus, wenn der Verteidigung irgendwann einmal während des Verfahrens die Möglichkeit eingeräumt wurde, mit den Belastungszeugen konfrontiert zu werden.186 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann Art. 6 Abs. 3 lit. d Alt. 1 i. V. m. Abs. 1 EMRK somit überhaupt nur dann verletzt sein, wenn das Recht auf Konfrontation zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens gewährt wurde.187 e) Adressaten des Rechts auf Konfrontation Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Abs. 1 EMRK gewährleistet nach Auslegung der Straßburger Organe jedoch nicht, dass dem Beschuldigten in jedem Falle selbst das Recht zusteht, mit seinen Belastungszeugen konfrontiert zu werden. Entscheidend ist vielmehr auch hier die „Gesamtlage der Verteidigung“, was bedeutet, dass es u. U. als ausreichend angesehen wird, wenn die Rechte des Art. 6 Abs. 3 EMRK nur von dem Verteidiger effektiv ausgeübt werden können.188 Im Falle des Fragerechts nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK spricht für eine solche Auslegung sogar der Wortlaut der Konvention, wonach der Angeklagte das Recht hat, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen.189 Allerdings hat die Kommission in früheren Entscheidungen betont, dass der Ausschluss des Angeklagten von der mündlichen Verhandlung zwecks Anhörung eines Zeugen nur ausnahmsweise und nur in begründeten Fällen zulässig sein soll.190 Auch der EGMR weist darauf hin, dass die Anwesenheit des Beschuldigten bei der Zeugenbefragung grundsätzlich vorzugswürdig ist.191

185 Nachweise Fn. 184. Vgl. auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 638. 186 Vgl. auch Rzepka, Fairneß, S. 75; Krauß, V-Leute, S. 120; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 106; Schaden, in: Grundfragen, S. 213 (223); IntKomm-Vogler Art. 6 Rn. 551. Zur Gesamtprüfung der Verfahrensfairness durch den EGMR Schroeder GA 2003, 293. 187 Simon a. a. O. 188 So etwa in der Entscheidung des EGMR [Doorson/Niederlande] (Fn. 75) Ziff. 74. Vgl. dazu auch Krauß, V-Leute, S. 107; Spaniol, Verteidigerbeistand, S. 154 f.; IntKomm-Vogler, Art. 6 Rn. 552; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 221. 189 Krauß a. a. O. 190 Vgl. Frowein/Peukert Art. 6 EMRK Rn. 201 mit Hinweis auf EKMR E 8395/79, DR 27, 50; E 3444/67, CD 35, 37 (50); E 11219/84, DR 42, 287. Simon, Beschuldigtenrechte, S. 106. 191 EGMR [Doorson/Niederlande] (Fn. 75) Ziff. 74.

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3. Zur Einschränkbarkeit des Konfrontationsrechts a) Allgemein Die Herleitung eines umfassenden Konfrontationsrechts für die Verteidigung bedeutet grundsätzlich: Will ein Gericht die belastende Aussage eines Zeugen (unabhängig davon, ob dieser vor Gericht auftritt oder nicht) verwerten, so muss zumindest die Verteidigung wenigstens einmal während des Verfahrens mit dem Zeugen konfrontiert werden und Gelegenheit erhalten, dessen Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Durch diesen Grundsatz ist zunächst jegliche indirekte Beweisführung (also eine den Zeugenbeweis ersetzende Verlesung des Vernehmungsprotokolls bzw. die Vernehmung des Zeugen vom Hören-Sagen) in Frage gestellt, wenn dem Beschuldigten nicht – ausnahmsweise – bereits im Vorverfahren ein Recht auf Konfrontation mit dem eigentlichen Belastungszeugen gewährt wurde. Das durch Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Abs. 1 EMRK grundsätzlich garantierte Konfrontationsrecht gilt jedoch nach Auffassung der Straßburger Organe nicht absolut. In zahlreichen Entscheidungen, in denen das Recht auf Befragung und Gegenüberstellung nicht- bzw. nur sehr eingeschränkt gewährt wurde (sei es zum Schutz von gefährdeten Zeugen,192 von kindlichen oder jugendlichen Zeugen bei Sexualdelikten,193 aufgrund von gesundheitlichen Problemen,194 Tod195 oder Unauffindbarkeit der Beweisperson196 oder aufgrund von Zeugnisverweigerungsrechten197), hat der EGMR deutlich werden lassen, dass auch das konventionsrechtliche Konfrontationsrecht einer Abwägung zugänglich ist.198 Allerdings unterliegt die Einschränkbarkeit des Konfrontationsrechts strengen Voraussetzungen: So erlaubt nicht jedes Interesse einen Eingriff in das Verteidigungsrecht. Vielmehr müssen die entgegenstehenden Belange den Beschuldigteninteressen zumindest gleichwertig sein. Darüber hinaus hält der EGMR einen 192

Dazu unten S. 68 ff. [Teil 1.C.I.3.b)]. EGMR [P. S./BRD] (Fn. 169) Ziff. 28 = StV 2002, 289 (290). 194 EGMR [Bricmont/Belgien] Urt. v. 7. 7. 1989, Serie A/158 Ziff. 80. 195 EGMR [Ferrantelli u. a./Italien] Urt. v. 7. 8. 1996, Reports 1996-III. Vgl. auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 651 f. 196 EGMR [Barberà u. a./Spanien] (Fn. 184) Ziff. 85; [Artner/Österreich] Serie A/ 242-A Ziff. 20–22; [Isgrò/Italien] Serie A/194-A Ziff. 32; [Doorson/Niederlande] (Fn. 75) Ziff. 79 f. Vgl. auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 648 ff. 197 Vgl. EGMR [Unterpertinger/Österreich] (Fn. 184) Ziff. 30. Hier wurde etwa das Zeugnisverweigerungsrecht für Angehörige als Rechtfertigung für die Verwertung indirekter Aussagen anerkannt, da sie den familiären Zeugen davor schütze, in ein moralisches Dilemma zu geraten. Ebenso EGMR [Asch/Österreich] (Fn. 184) Ziff. 28. Vgl. auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 652 ff. 198 Kritisch hierzu Walther GA 2003, 204 (218). 193

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Eingriff nur dann für gerechtfertigt, wenn er zum Schutze des Eingriffsgrundes unbedingt erforderlich ist.199 Und schließlich darf selbst ein legitimer Eingriff nicht zur vollständigen Aufgabe des Verteidigungsrechts führen (kein Eingriff in den Kernbereich des Konventionsrechts).200 Letztendlich unterliegt also jede Einschränkung des Konfrontationsrechts einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den EGMR: Es muss ein legitimer Grund für die Beschränkung des Verteidigungsrechts vorliegen. Der Eingriff muss erforderlich und verhältnismäßig i. e. S. sein. b) Die Zulässigkeit der Anonymisierung und Geheimhaltung von Zeugen Nachfolgend soll sich allein der Frage gewidmet werden, wie der EGMR unter diesen Voraussetzungen die behördliche Anonymisierung bzw. vollständige Geheimhaltung von Zeugen aus Schutzgründen bzw. aus ermittlungstaktischen Interessen heraus bewertet und welche Anforderungen er in diesem Falle an ein faires Verfahren stellt. Im Fall Kostovski umschrieb der Gerichtshof zunächst die Gefahren einer solchen Beweisführung: „Kennt die Verteidigung die Identität der Person, die sie befragen will, nicht, bedeutet dies unter Umständen, dass ihr die Möglichkeit genommen wird, darzulegen, dass die Person voreingenommen, feindselig oder unglaubwürdig sei. Zeugenaussagen können sehr wohl vorsätzlich unrichtig oder einfach irrig sein und die Verteidigung ist nur schwer in der Lage, dies aufzuzeigen, wenn ihr die Informationen fehlen, die es ihr erlauben, die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu prüfen bzw. seine Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen.“201 In Anwendung der o. g. Grundsätze lässt der EGMR die Einschränkung des grundsätzlichen Rechts auf Konfrontation mit den Belastungszeugen dennoch zu, wenn es für die Geheimhaltung der Zeugen einen relevanten und ausreichenden Grund gibt [unten aa)], die Maßnahme erforderlich ist und das Gericht insgesamt für ein „counterbalancing procedure“ sorgt, so dass das Recht auf eine effektive Verteidigung in seinem Kernbereich erhalten bleibt [unten bb)].202

199 So weist der EGMR etwa die Geheimhaltung von Zeugen aus Schutzgründen zurück, wenn ihm die unbedingte Erforderlichkeit der Maßnahmen nicht plausibel erklärt worden ist, vgl. EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 60 und 61); [Visser/Niederlande] (Fn. 67). Dazu auch noch unten S. 69 [Teil 1.C.I.3.b)aa)(2)]. 200 Zu den „inherent limitations“ und ihren Anforderungen Krauß, V-Leute, S. 131 ff. 201 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 31). 202 Vgl. auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 638.

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aa) „Relevante und ausreichende Gründe“ für die Anonymisierung von Zeugen (1) Notwendigkeit wirksamer Verbrechensbekämpfung allgemein In den ersten Fällen, in denen der Straßburger Gerichtshof mit der Problematik des „anonymen Zeugen“ konfrontiert wurde, versuchten die Regierungen die Vorgehensweise der Gerichte hauptsächlich damit zu rechtfertigen, dass die Einschränkung des Konfrontationsrechts und der Rückgriff auf Beweissurrogate generell notwendig sei, um einer vermehrt feststellbaren Einschüchterung von Zeugen, insbesondere bei Verfahren betreffend organisierter Kriminalität, zu begegnen.203 Der EGMR hat diese allgemeinen Erwägungen nicht als ausreichenden Grund gelten lassen, um die Verwertung anonymer Zeugenaussagen und den damit verbundenen schwerwiegenden Eingriff in die Verteidigungsrechte zu rechtfertigen. Er betonte, dass er die Wichtigkeit des Kampfes gegen das organisierte Verbrechen durchaus anerkenne, wies jedoch darauf hin, dass seiner Auffassung nach das Interesse des Bürgers an einem kontrollierbaren und fairen Gerichtsverfahren schwerer wiege als die Einführung geeigneter Maßnahmen gegen die Zunahme des organisierten Verbrechens. Das Recht auf eine faire Handhabung der Justiz nehme in einer demokratischen Gesellschaft einen so hervorragenden Platz ein, dass es nicht der Zweckmäßigkeit geopfert werden könne.204 (2) Gefährdung hochwertiger Rechtsgüter des Zeugen oder ihm nahe stehender Personen Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Strafverfolgungsinteresse nach Ansicht des EGMR stets hinter die Beschuldigteninteressen zurücktreten muss. Im Fall Doorson hat der Gerichtshof erstmals anerkannt, dass ein Gericht bestimmte Zeugenschutzmaßnahmen ergreifen darf, wenn es auf die Aussage des Zeugen angewiesen ist und diese wegen der konkreten Gefährdung der Aussageperson nicht ohne Schutzmaßnahmen erreichen kann. In diesem Fall – so der Gerichtshof – müsse bei der Bewertung der Fairness des Verfahrens eine Abwägung zwischen dem Interesse des Beschuldigten an einer wirksamen Verteidigung und dem Interesse eines Tatzeugen am Schutze seines Lebens, seiner Freiheit und persönlichen Sicherheit (bzw. seiner nahen 203 So etwa der Einwand der Regierung im Fall Kostovski (Fn. 17) und im Fall Saïdi (Fn. 47). Ähnlich auch die Regierung im Fall Windisch (Fn. 35), die darauf verwies, dass die Polizei auf die Mitwirkung der Bevölkerung bei der Aufklärung von Verbrechen angewiesen sei. 204 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 33); [Windisch/Österreich] (Fn. 35) Ziff. 30. Vgl. auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 660.

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Angehörigen) erfolgen. Letzteres werde durch die Konvention gleichermaßen geschützt wie die Verteidigungsrechte.205 Im folgenden hält sich der EGMR für verpflichtet, die vorgegebene Gefährdung der Aussageperson genauer zu überprüfen. Nur wenn genügend Gründe für die Annahme einer Gefährdung vorliegen, kann der Eingriff in die Verteidigungsrechte als gerechtfertigt angesehen werden. Eine konkrete Gefährdung des Zeugen liegt unproblematisch vor, wenn dieser (oder ihm nahestehende Personen) im Zusammenhang mit dem Verfahren vom Beschuldigten oder Dritten bereits bedroht worden ist. Eine solche hohe Gefährdungsstufe verlangt der EGMR allerdings nicht. Im Fall Doorson ließ er es ausreichen, dass Suchtgifthändler nach „allgemeiner Erfahrung in der Praxis“ häufig zu Drohungen und Gewalt gegen sie aussagende Personen greifen und zumindest einer der betroffenen Zeugen derartige Gewalttätigkeiten im Zusammenhang mit einer gerichtlichen Aussage bereits erfahren hat.206 Letztendlich fordert der Gerichtshof von den nationalen Behörden, dass sie dem Wunsch nach Anonymität bzw. Geheimhaltung nicht ohne weiteres nachgeben, sondern die Ernsthaftigkeit und Fundiertheit der geltend gemachten Bedrohung genau prüfen. So war die Beschwerde im Fall Visser erfolgreich, weil die Gerichte die Gefährdung des Zeugen auch sechs Jahre nach der Straftat angenommen hatten, obwohl der als aggressiv bekannte Mitangeklagte (vor dem sich die Zeugen hauptsächlich fürchteten) bereits fünf Jahre entlassen war und es keinen Hinweis auf eine Gewaltanwendung oder Bedrohung seinerseits gab.207 Eine besonders sorgfältige Interessenabwägung verlangt der Straßburger Gerichtshof, wenn es sich bei den „geheimen“ Zeugen um Polizeibeamte handelt. Anders als bspw. die frühere Rechtsprechung in Deutschland208 hält der EGMR die Zugehörigkeit einer Aussageperson zu einer staatlichen Behörde nicht für ein besonderes Vertrauenskriterium. Im Gegenteil: Weil Polizeibeamte einer Gehorsamspflicht gegenüber staatlichen Exekutivbehörden unterliegen („general duty of obedience“) und gewöhnlich Verbindungen zur Staatsanwaltschaft haben („usually have links with the prosecution“), darf auf sie als anonyme Zeugen nur in besonderen Ausnahmefällen zurückgegriffen werden.209 Der EGMR hat 205 EGMR [Doorson/Niederlande] (Fn. 79), bestätigt in EGMR [van Mechelen u. a./ Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 53; [Visser/Niederlande] (Fn. 64) Ziff. 43. Hierzu auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 659. 206 EGMR [Doorson/Niederlande] (Fn. 79). Vgl. hierzu auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 659 f. 207 EGMR [Visser/Niederlande] (Fn. 64) Ziff. 35 (Einwand der Verteidigung). 208 BGH, Urt. v. 20. 11. 1990 – 1 StR 562/90, NStZ 1991, 194. 209 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 58); vgl. auch EGMR [Kok/Niederlande] (Fn. 85) wo wiederum ausdrücklich hervorgehoben wurde, dass es sich bei den anonymen Zeugen nicht um Polizeibeamte handelte. Weniger streng allerdings die Entscheidung der Kommission im Fall [S. E./Schweiz] (Fn. 82). Näher hierzu auch

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damit den Grad der Gefährdung für Polizeibeamte gegenüber sonstigen (gänzlich unbeteiligten) Zeugen210 angehoben. Grundsätzlich anerkennt der Gerichtshof aber auch hier, dass das Fragerecht eingeschränkt werden kann, wenn die Zeugen oder ihre Familien tatsächlich bedroht werden.211 (3) Aufrechterhaltung von Informantennetzen In den Beschwerden Lüdi und van Mechelen ging der EGMR auch auf das Interesse der Strafverfolgungsbehörden ein, die Person eines heimlichen Ermittlers geheimzuhalten, um sie für weitere Einsätze verwenden zu können.212 In diesem Zusammenhang formulierte er etwas undeutlich, er habe grundsätzlich anerkannt, „. . . dass unter der Voraussetzung der Beachtung der Verteidigungsrechte es für die Polizei legitim sein könne, die Anonymisierung eines Agenten zu wahren, damit er oder seine Familie geschützt und seine Brauchbarkeit für zukünftige Operationen nicht beeinträchtigt werde.“213 Aus der kumulativen Verknüpfung des Schutzes von Individualinteressen mit den operationellen Interessen der Strafverfolgungsbehörden wird oftmals geschlussfolgert, dass der Gerichtshof letztere allein wohl nicht für ausreichend befinden würde, um eine Einschränkung des Frage- bzw. Konfrontationsrechts zu legitimieren. Vielmehr müsste für eine Anonymisierung stets die Gefahr von Repressalien für den Zeugen belegt werden.214 Andere sehen in den Ausführungen des EGMR hingegen den Hinweis, dass sowohl die Gefahr von Repressalien als auch das Interesse der Strafverfolgungsbehörden an der Aufrechterhaltung von Informantennetzen einen legitimen Grund für eine Beschränkung des Fragerechts des Beschuldigten darstellen kann.215 Für letztere Ansicht dürfte insbesondere die Prüfungsweise des Gerichtshofs im Fall van Mechelen sprechen. Der EGMR ging hier nicht nur auf den Aspekt Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 660 f.; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 135; Wattenberg/Violet StV 1997, 620 (622). 210 Der EGMR spricht auch vom „disinterested witness“ EGMR [van Mechelen/Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 56. Vgl. auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 662. 211 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 57. 212 EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 40) Ziff. 49; [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 57. 213 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 57. 214 So etwa Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (384): „polizeitaktische Ziele alleine genügen nicht: Auch die Gefahr von Repressalien hätte belegt werden müssen.“ In diesem Sinne auch Wohlers, in: FS Trechsel, S. 813 (828); Rzepka, Fairneß, S. 433. 215 So etwa Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 661.

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einer möglichen Gefährdung der Zeugen ein, sondern betonte zusätzlich, dass er nicht darüber befinden könne, ob die operationellen Erfordernisse der Polizei eine ausreichende Rechtfertigung böten, da ihm diesbezüglich keinerlei Informationen vorgelegen hätten.216 Im Fall Lüdi bezweifelte der Gerichtshof die Notwendigkeit der vollständigen Geheimhaltung des verdeckten Ermittlers aus operationellen Gründen, da der Beschuldigte den betreffenden Beamten zwar nicht mit seiner wahren Identität, so doch seiner physischen Erscheinung nach kannte. Er hatte ihn insgesamt fünfmal getroffen.217 Geht man davon aus, dass auch das Argument, einen wichtigen Informanten nicht durch öffentliche Präsentation zu „verbrennen“, einen „legitimen Grund“ für die Einschränkung des Fragerechts des Beschuldigten darstellen kann, muss jedoch beachtet werden, das der EGMR auch hier den unter oben (2) dargelegten strengen Prüfungsmaßstab anlegt: Die Notwendigkeit der Geheimhaltung des Zeugen aus Ermittlungszwecken muss im Einzelfall plausibel dargelegt und begründet werden. Sie darf nicht über das unbedingt Erforderliche hinausgehen. bb) Der Maßstab eines „Counterbalancing Procedure“218 Ein relevanter und ausreichender Grund für die Geheimhaltung des Zeugen kann jedoch nicht jede Schutzmaßnahme rechtfertigen. Er ist lediglich Voraussetzung dafür, dass das konventionsrechtliche Konfrontationsrecht überhaupt eingeschränkt werden darf. Bei der sich anschließenden Interessenabwägung kommt es dem EGMR auf eine strikte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes an.219 So darf das Fragerecht zur Erreichung des legitimen Zwecks nicht mehr als unbedingt notwendig eingeschränkt werden (Erforderlichkeit der Maßnahme).220 Die Geheimhaltung eines Zeugen lässt sich auf verschiedene Art und Weise bewerkstelligen. Das Gericht muss jedoch einer weniger einschneidenden Maßnahme den Vorzug geben, wenn sie zur Wahrung der Interessen des Zeugen ebenfalls ausreichend ist. Aus diesem Grunde kritisierte der EGMR im Fall van Mechelen, dass die Gerichte statt der optischen und akustischen Abschirmung

216

EGMR [van Mechelen/Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 60. EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 44). 218 Ausdrückliche Verwendung dieses Begriffes in EGMR [Doorson/Niederlande] (Fn. 75) Ziff. 75. Vgl. auch Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (383 ff.). 219 Vgl. auch Krauß, V-Leute, S. 137 ff. 220 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 58; bestätigt in [Visser/ Niederlande] (Fn. 64) Ziff. 43: „. . . any measures restricting the rights of the defence should be strictly necessary.“ 217

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nicht auf die Verkleidung des Zeugen oder auf eine Vernehmung unter Vermeidung des Blickkontaktes zurückgegriffen hatten.221 Darüber hinaus darf das gewählte Verfahren nicht zu einem Verlust des Verteidigungsrechts in seiner Substanz führen (kein Eingriff in den Kernbereich), weshalb der Straßburger Gerichtshof auf einen Ausgleich der Schwierigkeiten der Verteidigung pocht.222 Als „Substanz des Rechts auf Konfrontation mit Belastungszeugen“ bezeichnet der EGMR die angemessene und geeignete Gelegenheit eines Beschuldigten, die Glaubwürdigkeit eines gegen ihn aussagenden Zeugen in Frage zu stellen.223 Entscheidend ist also, ob und inwieweit es dem Angeklagten bzw. seiner Verteidigung möglich war, trotz Beschränkung des Frage- bzw. Konfrontationsrechts, die Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen bzw. die Zuverlässigkeit der Aussage zu erschüttern.224 Dem Beschuldigten darf diese Möglichkeit nicht gänzlich genommen werden. Insgesamt muss der Richter für ein „counterbalancing procedure“ sorgen.225 Welche Verfahrensweise der EGMR als „counterbalancing procedure“ ansieht, kann nicht einheitlich beantwortet werden. Mittlerweile hat der Straßburger Gerichtshof zu den verschiedensten Modellen des strafprozessualen Zeugenschutzes Stellung nehmen müssen. (1) Kontradiktorische Einvernahme unter Geheimhaltung der Identität des Zeugen Die unterste Stufe des Zeugenschutzes – die Geheimhaltung der Identität des Zeugen – hält der EGMR für unproblematisch, solange zumindest dem Verteidiger während des Verfahrens die Möglichkeit einer direkten Befragung i. S. einer „face-to-face-confrontation“ eingeräumt wurde.226

221

EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 60. EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 32); [Doorson/Niederlande] (Fn. 75) Ziff. 72; [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 54; [Visser/Niederlande] (Fn. 64) Ziff. 43: „. . . the Convention requires that the handicaps under which the defence labours be sufficiently counterbalanced by the procedures followed by the judicial authorities.“ 223 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 29); [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 51; [Visser/Niederlande] (Fn. 64) Ziff. 43: „. . . Article 6 require that the defendant be given an adequate and proper opportunity to challenge and question a witness against him . . .“ 224 So auch Schaden, in: Grundfragen, S. 213 (228). Ähnlich Kodek JBl 1988, 551 (559); Okresek, in: Vorverfahren, S. 55. 225 Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (383). 226 Dazu bereits oben S. 62 ff. [Teil 1.C.I.2.b)]. Vgl. auch Renzikowski JZ 1999, 605 (611). 222

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So bemängelte der Gerichtshof in den Fällen Kostovski und Windisch, dass es dem Angeklagten zwar möglich gewesen sei, die Verhörspersonen zu befragen und den Zeugen schriftliche Fragen zu stellen, dass dies jedoch nicht ausreiche, um die Hindernisse für die Verteidigung auszugleichen. Weder sie noch das Gericht hätten die Gelegenheit gehabt, das Verhalten des Zeugen während der Befragung zu beobachten und daraus einen eigenen Eindruck von dessen Glaubwürdigkeit zu bekommen.227 Mit der gleichen Argumentation bezeichnete der EGMR im Fall van Mechelen die Befragung anonymer Zeugen unter optischer Abschirmung als einen schwerwiegenden Eingriff in die Rechte der Verteidigung.228 Den Einwand, dass der Untersuchungsrichter die Glaubwürdigkeit habe beurteilen können, da dieser die Gelegenheit hatte, die Zeugen direkt und unter Kenntnis ihrer Identität zu befragen, ließ der Gerichtshof nicht gelten: Diese Maßnahmen könnten nicht als tauglicher Ersatz für die fehlende Möglichkeit der Verteidigung angesehen werden, die Zeugen in ihrer Anwesenheit zu befragen und sich ihr eigenes Urteil über deren Verhalten und über deren Verlässlichkeit zu bilden.229 Im Fall Doorson gelangte Straßburg hingegen zu dem Ergebnis, dass ein „um Ausgleich bemühtes Verfahren“ vorgelegen habe. Hier war dem Verteidiger in der Rechtsmittelphase gewährt worden, bei der Vernehmung der anonymen Zeugen durch den Untersuchungsrichter anwesend zu sein und Fragen zu stellen.230 Die Tatsache, dass die Verteidigung während des Verfahrens zumindest einmal die Gelegenheit einer direkten Befragung hatte, war maßgebliches Kriterium für die Ablehnung eines Konventionsverstoßes.231 Da jedoch auch die bloße Geheimhaltung der Identität des Zeugen bereits eine eingeschränkte Glaubwürdigkeitsüberprüfung für die Verteidigung bedeutet, verlangt der EGMR „als Ausgleich“, dass sich die Verurteilung weder einzig und allein noch ausschließlich auf eine solche Zeugenaussage stützen darf.232 Allzu hohe Anforderungen stellt der Gerichtshof an die zusätzlichen Beweise in diesem Falle allerdings nicht. So war es in der Sache Doorson im Wesentlichen ausreichend, dass zwei nicht anonyme Zeugen im Ermittlungsverfahren die Täterschaft des Beschuldigten ebenfalls bezeugt hatten, obwohl diese nicht einmal 227 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 32); [Windisch/Österreich] (Fn. 35) Ziff. 28 f. 228 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 59. 229 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 62). 230 EGMR [Doorson/Niederlande] (Fn. 81). 231 So noch einmal ausdrücklich klargestellt in EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 64. Vgl. auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 667. 232 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 34); [Windisch/Österreich] (Fn. 35) Ziff. 31; [Doorson/Niederlande] (Fn. 75) Ziff. 76; [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 55: „. . . a conviction should not be based either solely or to a decesive extent on anonymous statements“.

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bereit waren, ihre belastenden Aussagen vor Gericht zu wiederholen.233 Im Falle der Gewährung eines Konfrontationsrechts ohne Offenlegung der Identität der Zeugen hält es der EGMR somit offensichtlich für ausreichend, wenn andere Beweise die Angaben der anonymen Zeugen „untermauern“ (vorsichtige Beweiswürdigung).234 (2) Kontradiktorische Einvernahme unter räumlicher Trennung und Tarnung des Zeugen Im Schrifttum wird aus der Hervorhebung des „direct questioning“ und der Feststellung einer Konventionsverletzung im Fall van Mechelen häufig geschlussfolgert, dass optische und akustische Abschirmungsmaßnahmen nicht geeignet seien, um zu verwertbaren Zeugenaussagen zu gelangen.235 In der Tat spricht vieles aus dem van Mechelen-Urteil für eine solche Konsequenz. So vor allem der Hinweis, dass es den niederländischen Gerichten möglich gewesen wäre, auf Maßnahmen zurückzugreifen, bei denen das nonverbale Aussageverhalten des Zeugen für den Beschuldigten bzw. seinen Verteidiger erhalten bleibt (der Gerichtshof sprach davon, eine bestimmte Schminktechnik oder eine Verkleidung zu verwenden und Blickkontakte zu vermeiden).236 Allerdings argumentierte der EGMR in der Beschwerde van Mechelen (ebenso wie im Fall Visser) maßgeblich mit der im konkreten Fall fehlenden Erforderlichkeit der Zeugenschutzmaßnahme.237 Letztendlich ließen es die Entscheidungen deshalb offen, ob Abschirmungsmaßnahmen, die eine „face to face confrontation“ nicht zulassen, grundsätzlich zu unverwertbaren Zeugenaussagen führen. Die Entscheidungspraxis der Kommission ließ hingegen mehrfach durchblicken, dass ein verstärkter Zeugenschutz die Einführung des Wissens der gefährdeten Zeugen nicht generell hindert. So wurden die Beschwerden Liefveld 238 233 Dazu oben EGMR [Doorson/Niederlande] (Fn. 75), zu den von Gericht verwendeten zusätzlichen Beweisen näher Ziff. 34 des Urteils. Vgl. auch Zerbes, in: Information und Recht, S. 379 (400). 234 EGMR [Doorson/Niederlande] (Fn. 75) Ziff. 76. Vgl. hierzu auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 674 f., der den Maßstab einer zulässigen Beweisverwertung allerdings losgelöst von der Schwere des Eingriffs in Verteidigungsrechte betrachtet. Wie hier Krauß, V-Leute, S. 152 f. 235 In diese Richtung Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 672. So auch die Diskussion in Österreich vgl. dazu oben S. 51 f. (Teil. 1.B.II.2). Zurückhaltender hingegen Krauß, V-Leute, S. 153. Für eine Vernehmung, bei der das nonverbale Aussageverhalten beobachtet werden kann, neuerdings auch BGH (Fn. 15) wistra 2003, 109 (111). 236 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 61). 237 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 59); EGMR [Visser/Niederlande] (Fn. 67).

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und S. E.239 als offensichtlich unbegründet abgewiesen, obwohl für die Verteidigung zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens das nonverbale Aussageverhalten der anonymen Zeugen während der Befragung erkennbar war: Im Fall Liefveld hatte das Gericht die Befragung mittels Telefonverbindung unter zusätzlicher Stimmenverzerrung durchgeführt. In der Sache S. E. war der Beschuldigte im Vorverfahren mit dem maskierten Zeugen konfrontiert worden und die Befragung in der mündlichen Verhandlung hatte ebenfalls unter optischer Abschirmung stattgefunden. Obwohl diese Beschwerde gegen die Schweiz bereits unter dem Judiz der van Mechelen-Entscheidung entschieden werden musste, gelangte die EKMR in beiden Fällen zu der Auffassung, dass in der Verfahrensweise der Gerichte keine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK gesehen werden könne. Sie verwies darauf, dass den Beschuldigten das Fragerecht unter Umständen gewährt worden war, die den Schutz des Zeugen und die Verteidigungsrechte gleichermaßen berücksichtigten und betonte, dass andere Beweise die Angaben der anonymen Zeugen ausreichend stützten.240 Mit der Zulässigkeitsentscheidung im Falle Kok241 hat nun auch der EGMR erstmals klargestellt, dass optische und akustische Abschirmungsmaßnahmen bei der Zeugenvernehmung die Fairness des Verfahrens nicht grundsätzlich ausschließen. Maßgebliche Gründe für diese Entscheidung waren die Art und Weise, in der die niederländischen Gerichte die Notwendigkeit der Geheimhaltung des Zeugen untersucht hatten, und die Tatsache, dass der anonymen Aussage nur eine geringe Relevanz für die Verurteilung zukam. Nach Ansicht des Gerichtshofs müsse bei der Bewertung der Frage, ob die Schwierigkeiten der Verteidigung hinreichend ausgeglichen wurden, Gewicht darauf gelegt werden, dass die Zeugenaussage „in keinerlei Hinsicht“ für die Verurteilung des Beschuldigten entscheidend gewesen sei. In diesem Fall liege von vornherein eine weitaus geringere Benachteiligung der Verteidigung vor. Die Befragungsmöglichkeit unter optischer und akustischer Abschirmung, verbunden mit einer Glaubwürdigkeitsüberprüfung durch den Untersuchungsrichter (der die Identität des Zeugen kannte), könne unter dieser Voraussetzung als „counterbalancing procedure“ angesehen werden. Sofern der Gerichtshof betonte, dass die Zeugenaussage in diesem Falle „not in any respect“ entscheidend für die Verurteilung gewesen sei, trifft dies die Situation allerdings nicht ganz. Wäre die Aussage für eine Verurteilung des Beschuldigten gänzlich verzichtbar gewesen, so hätte es des Aufwandes einer verdeckten Einvernahme nicht bedurft. Die Rolle des V-Mannes hätte sich darin 238

EKMR [Liefveld/Niederlande] (Fn. 72). EKMR [S. E./Schweiz] (Fn. 82). 240 Siehe dazu oben S. 40 und 44 [Teil 1.B.I.2.b) und e)]. 241 EGMR [Kok/Niederlande] (Fn. 85); bestätigt durch EGMR [Visser/Niederlande] (Fn. 66). 239

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erschöpfen können, den Behörden im Ermittlungsverfahren die notwendigen Informationen zukommen zu lassen. Für die Überzeugung des Gerichts von der Schuld des Angeklagten wären allein die anderen Indizien ausreichend gewesen. Im Fall Kok gab es zwar eine Reihe zusätzlicher Beweise, welche auf die Täterschaft des Beschuldigten hindeuteten, letztendlich war jedoch die Aussage des V-Mannes notwendig, um das durch die übrigen Beweise gewonnene Bild abzurunden. Dem Gerichtshof muss jedoch zugestanden werden, dass der anonymen Zeugenaussage aufgrund der zusätzlichen Indizien nur ein vergleichsweise geringes Gewicht zukam. Die neueste Rechtsprechungsentwicklung lässt daher folgenden Schluss zu: Auch weitergehende, ein „direct questioning“ nicht gewährende Zeugenschutzmaßnahmen führen nicht per se zu einer Unverwertbarkeit der Aussage. Ein derart weitreichender Eingriff in Verteidigungsrechte ist jedoch nur zulässig, wenn er zum Schutze des Zeugen unausweichlich ist. An die gerichtliche Überprüfung dieser Voraussetzung stellt der Gerichtshof hohe Anforderungen. Zudem muss die Bedeutung, die anonymen Zeugenaussagen in diesem Falle für die Entscheidungsfindung zukommen darf, weitaus geringer sein, als wenn der Verteidigung eine offene Befragung bzw. Konfrontation gewährt wurde. (3) Die Einführung des Wissens von Zeugen unter Rückgriff auf Beweissurrogate In manchen Fällen werden selbst optische und akustische Abschirmungsmaßnahmen als unzureichend angesehen, um den Zeugen angemessen schützen zu können. Insbesondere nach verdeckten Polizeieinsätzen ist es nicht selten, dass die Exekutive den verdeckten Ermittler als derart gefährdet ansieht, dass sie dessen Einvernahme als Zeugen vor Gericht gänzlich verweigert. Dennoch greifen die Gerichte auf das Wissen der V-Personen zurück, indem sie etwa das polizeiliche Vernehmungsprotokoll oder einen schriftlichen Bericht über den Einsatz des verdeckten Ermittlers verlesen.242 Ergänzend dazu wird zumeist der Vorgesetzte des verdeckten Ermittlers oder der Beamte, der den geheimen Informanten verhört hat, als „Zeuge vom Hören-Sagen“ vernommen.243 Der Angeklagte wird in diesem Falle zwar mit dem Zeugen vom Hören-Sagen konfrontiert und kann diesen befragen, sein Recht auf Konfrontation mit demjenigen, welcher der eigentliche Zeuge des Geschehens war, kann er jedoch nicht ausüben. Allenfalls gestehen die Behörden und Gerichte ein schriftliches Fragerecht zu, welches jedoch für die Verteidigung von sehr begrenztem Nutzen ist, denn es ergibt sich hieraus kaum eine Möglichkeit, den 242

Vgl. bspw. Sachverhalt in EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 40). Vgl. bspw. Sachverhalte in EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 23); [Windisch/ Österreich] (Fn. 35). 243

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Zeugen in Widersprüche zu verwickeln oder gar den Anschein einer Verunsicherung zu erwecken. Die nationalen Gerichte sind allerdings größtenteils der Auffassung, dass das Manko einer näheren Überprüfung der Zeugenaussage (nicht nur durch die Verteidigung, sondern auch durch das Gericht) durch eine „vorsichtige Beweiswürdigung“ ausgeglichen werden könne. Ob eine derartige Verfahrensweise generell als eine zu weit gehende Einschränkung der Verteidigungsrechte angesehen werden muss, ist vom EGMR noch nicht endgültig entschieden worden:244 In den Fällen Kostovski, Windisch und Saïdi beurteilte der Gerichtshof den Rückgriff auf Beweissurrogate und deren Verwertung bei der Entscheidungsfindung zwar als konventionswidrig, betonte dabei jedoch auch, dass die Schuldfeststellung des Gerichts maßgeblich auf den anonymen Zeugenaussagen beruht habe, mithin also keine „vorsichtige Beweiswürdigung“ stattgefunden hatte.245 Die Gerichte verwiesen zwar darauf, „vorsichtig“ bei der Beweiswürdigung gewesen zu sein, hatten die anonymen Aussagen jedoch letztendlich als entscheidende Erkenntnisquellen verwertet. In der Beschwerde Lüdi war der EGMR hauptsächlich der Auffassung, dass ein so weitreichender Eingriff in die Verteidigungsrechte nicht erforderlich gewesen sei, da der Angeklagte den V-Mann seinem äußeren Erscheinungsbild nach bereits kannte.246 Die Formulierung „. . . it has not been explained to the Court’s satisfaction why it was necessary to resort to such extreme limitations on the right of the accused to have the evidence against them given in their presence, or why less far-reaching measures were not considered . . .“ aus der Entscheidung van Mechelen247 lässt ebenfalls offen, ob nicht in außergewöhnlichen Fällen doch ein Rückgriff auf Beweissurrogate in Betracht kommen kann – vorausgesetzt, die Gerichte können die „unbedingte Notwendigkeit“ einer solchen schwerwiegenden Maßnahme ausreichend begründen.248 Allerdings spricht die im Fall Kok aufgestellte Bedingung, dass die unter optischer und akustischer Abschirmung zustande gekommene Zeugenaussage „not in any respect“ entscheidend für die Verurteilung sein darf,249 gegen eine Verwertung von Beweissurrogaten. Im Falle einer verdeckten Befragung ist die Möglichkeit einer Glaubwürdigkeitsüberprüfung weitaus weniger eingeschränkt als im Falle einer gänzlichen Geheimhaltung (Sperrung) des Zeugen.250 Wenn 244 So auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 672. Eine diesbezügliche Stellungnahme ist jedoch aufgrund der derzeitig anhängigen Beschwerde [Haas/BRD] (Fn. 21) bald zu erwarten. 245 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 34); [Windisch/Österreich] (Fn. 39); [Saïdi/Frankreich] (Fn. 47) Ziff. 44. 246 EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 44). 247 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 52) Ziff. 60. 248 Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 672. 249 Dazu oben (2).

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dennoch die Zeugenaussage nur ergänzend zum sonst gefundenen Beweisergebnis hinzugezogen werden darf, so wird der Gerichtshof bei Aussagen, die durch Beweissurrogate in den Prozess eingeführt werden, noch strengere Maßstäbe anlegen. Letztendlich kann das nur bedeuten, dass Beweissurrogate als Erkenntnisquellen praktisch ausgeschlossen sind.251 Ein solches Ergebnis wäre nur konsequent. Gehört es zur Substanz eines fairen Verfahrens, dass ein Angeklagter eine angemessene Möglichkeit erhält, die Aussage von Belastungszeugen angemessen überprüfen und erschüttern zu können, und verlangt der Gerichtshof im Falle einer Einschränkung des Frage- bzw. Konfrontationsrechts einen hinreichenden Ausgleich,252 so ist die Grenze der Einschränkbarkeit dort erreicht, wo die Verfahrensweise einen Ausgleich der Hindernisse der Verteidigung gar nicht mehr ermöglicht. Genau dies ist jedoch bei der Verwertung von Beweissurrogaten im Fall des behördlich gesperrten Zeugen gegeben. Eine Glaubwürdigkeitsprüfung ist in diesem Fall gänzlich versagt, denn ohne direktes Fragerecht können Umstände, die erst aufgrund eines kommunikativen Prozesses mit dem Zeugen zutage treten (wie etwa die zögerliche Beantwortung von Fragen oder die Weigerung der Beantwortung unter Hinweis auf eine mögliche Selbstbelastung) nicht offenbart werden.253 Wenn die Verteidigung den Zeugen und seine persönlichkeitsbildenden Merkmale nicht kennt und ihn darüber hinaus nicht befragen kann, so kann sie lediglich global auf die Unzuverlässigkeit von anonymen Zeugenaussagen hinweisen, ohne diesen Vorwurf im konkreten Fall näher belegen zu können. Die Verteidigungsrechte sind hier auf null reduziert.254 In diesem Zusammenhang nützt es auch nichts, wenn die Gerichte darauf verweisen, dass ihnen die Unzuverlässigkeit der Angaben bewusst gewesen sei. Auch wenn die Aussagen „nur dann“ als Erkenntnisquelle genutzt werden, wenn verschiedene Indizien sie bestätigen, ist eine erhebliche Benachteiligung der Verteidigung gegeben. Letztendlich ist nicht sicher, ob eine Aussage mit dem selben Inhalt bei Wahrung der Beteiligungsrechte des Beschuldigten erlangt worden wäre255 und ob der amtliche Zeuge (= der V-Mann-Führer) aufgrund seiner Kenntnis des Ermittlungsergebnisses seine Aussage nicht gezielt so manipuliert hat, dass sie vor dem Hintergrund des Ermittlungsergebnisses glaubwürdig erscheint und dieses stützt.256 250

Vgl. auch Weigend, Gutachten C, S. 42; Weigend StV 2000, 48 (52). So auch Wohlers, in: FS Trechsel, S. 813 (823) Ebenso Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 672, 678. Etwas zurückhaltender wohl Renzikowski JZ 1999, 605 (612); Krauß, V-Leute, S. 145 ff. 252 Dazu oben S. 72 ff. [Teil 1.C.I.3.b)bb)]. 253 Wattenberg StV 2000, 688 (693). 254 Vgl. auch Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 190. 255 Ambos NStZ 2003, 14 (17); vgl. auch Böse ZStW 114 (2002), 148 (167) m. w. Nw. 256 Wohlers, in: FS Trechsel, S. 813 (822). Zurückhaltender Eschelbach StV 2000, 390 (397 f.). 251

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Zweifel des Gerichts können gerade dort nicht entstehen, wo der Verteidigung die Möglichkeit genommen ist, diese Zweifel zu wecken.257 4. Zusammenfassung (1) Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Abs. 1 EMRK garantiert zunächst uneingeschränkt das Recht des Angeklagten auf Konfrontation mit den Belastungszeugen. Dies bedeutet: Will ein Gericht die belastende Aussage eines Zeugen (unabhängig davon, ob dieser vor Gericht auftritt oder nicht) verwerten, so muss zumindest die Verteidigung wenigstens einmal während des Verfahrens mit dem Zeugen konfrontiert werden und Gelegenheit erhalten, dessen Glaubwürdigkeit zu überprüfen (adversatorisches Verfahren).258 (2) Wie die Straßburger Rechtsprechung deutlich macht, gilt dieses Recht jedoch nicht absolut. Im Falle entgegenstehender gleichwertiger bzw. höherwertiger Interessen ist auch das konventionsrechtliche Konfrontationsrecht einer Abwägung zugänglich. Allerdings unterliegt die Einschränkbarkeit strengen Voraussetzungen: Es muss ein legitimer Grund für den Eingriff in das Verteidigungsrecht vorliegen. Der Eingriff muss erforderlich und verhältnismäßig i. e. S. sein.259 (3) Die Gefährdung von Zeugen und die Notwendigkeit des Schutzes von VPersonen zwecks weiteren verdeckten Einsatzes hat der EGMR als legitime Gründe für die Einschränkung des Fragerechts anerkannt.260 (4) Diese Einschränkung muss dem Grundsatz der Erforderlichkeit genügen. An die Überprüfung der Erforderlichkeit des Eingriffs stellt der Gerichtshof hohe Anforderungen. Ein Eingriff in die Verteidigungsrechte ist nur insoweit zulässig, wie es zum Schutze des Zeugen (bzw. weitergehender Ermittlungsinteressen) unbedingt erforderlich ist. Das Gericht darf dem behördlichen Wunsch nach Anonymität bzw. Geheimhaltung des Zeugen nicht ohne Weiteres nachgeben. Es muss vielmehr die Ernsthaftigkeit und Fundiertheit der geltend gemachten Bedrohung bzw. die „operationelle Notwendigkeit“ genau überprüfen und aufgrund dieser Einschätzung diejenige Zeugenschutzmaßnahme wählen, die am wenigsten in die Verteidigungsrechte eingreift. Auch nach Auffassung des EGMR gilt: Je stärker der Zeuge gefährdet ist, desto gravierendere Beschränkungen der Verteidigungsrechte können gerechtfertigt sein.261 257 Vgl. Wattenberg, StV 2000, 688 (693); Zacharias, Der gefährdete Zeuge, S. 319 f. 258 Dazu oben S. 61 ff. (Teil 1.C.I.2.). 259 Dazu oben S. 67 f. [Teil 1.C.I.3.a)]. 260 Dazu oben S. 69 ff. [Teil 1.C.I.3.b)aa)]. 261 Dazu oben S. 69 ff. [Teil 1.C.I.3.b)aa) und bb)]. Vgl. auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 663.

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(5) Damit jedoch nicht in den Kernbereich des Fairnessgrundsatzes eingegriffen wird, verlangt der EGMR ein „counterbalancing procedure“. Die nationalen Gerichte müssen die Verfahren so gestalten, dass die Verteidigung trotz der Einschränkung des Konfrontationsrechts der Anklage weitestgehend gleichgestellt ist. In diesem Zusammenhang berücksichtigt der Gerichtshof zwei Aspekte: Zum einen fragt er, ob und inwieweit der Verteidigung im Verfahren eine angemessene Möglichkeit verblieb, die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu überprüfen. Zum anderen überprüft er die Relevanz der Zeugenaussage für die Verurteilung. Je stärker die Verteidigungsrechte eingeschränkt wurden, desto geringer darf die Bedeutung der Aussage für den Schuldspruch sein.262 (6) Für die einzelnen Zeugenschutzmaßnahmen bedeutet das: – Im Falle einer bloßen Geheimhaltung der Identität des Zeugen unter Gewährung einer offenen und direkten Befragung ist die Verurteilung unter Verwendung der anonymen Zeugenaussage mit dem Fairnessgrundsatz vereinbar, wenn diese durch weitere – für die Verteidigung vollständig überprüfbare – Beweise untermauert wird.263 – Bei der Gewährung einer direkten Befragung unter optischer und akustischer Abschirmung des Zeugen sind die Anforderungen an die zusätzliche Beweislage (aufgrund der maßgeblichen Benachteiligung der Verteidigung bei der Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen) strenger. Die V-MannInformation darf lediglich herangezogen werden, um das durch andere Beweismittel bestätigte Beweisergebnis abzurunden. Der Schuldspruch muss im Wesentlichen auf einer Gesamtwürdigung von verschiedenen, sich ergänzenden und bestätigenden Beweismitteln und Indizien beruhen, die in Frage zu stellen die Verteidigung hinreichend Gelegenheit hatte.264 – Bei einer vollständigen Sperrung des Zeugen durch die Behörden und einem Rückgriff auf Beweissurrogate verbleibt der Verteidigung praktisch keine Möglichkeit mehr, die Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen überprüfen und erschüttern zu können. Es stellt somit einen Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz dar, wenn das Wissen des gänzlich geheim bleibenden Zeugen dennoch als Erkenntnisquelle genutzt wird.265

262 Dazu oben S. 75 ff. [Teil 1.C.I.3.b)bb)(2) und (3)]. Vgl. insbesondere die Ausführungen zu EGMR [Kok/Niederlande] (Fn. 241). 263 Dazu oben S. 73 [Teil 1.C.I.3.b)bb)(1)]. 264 Dazu oben S. 75 [Teil 1.C.I.3.b)bb)(2)]. Vgl. auch Frowein/Peukert Art. 6 EMRK Rn. 108 allerdings in Bezug auf den gesperrten Zeugen. 265 Dazu oben S. 77 ff. [Teil 1.C.I.3.b)bb)(3)].

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II. Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung Auch die deutsche Rechtspraxis zum Schutz gefährdeter Zeugen und verdeckter Ermittler ist Ergebnis einer umfassenden Interessenabwägung zwischen der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Pflicht eines Staates zur effektiven Strafverfolgung, der Wahrung der Rechte des Angeklagten in einem fairen Verfahren und der Schutzpflicht gegenüber den Aussagepersonen.266 In dem Bestreben, die Kollision der gegenläufigen Interessen aufzulösen, hat die Judikatur unter Mithilfe des Gesetzgebers ein abgestuftes Zeugenschutzsystem entwickelt.267 Unter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gelten hier ebenfalls die Grundsätze des EGMR: „Je stärker der Zeuge gefährdet ist, desto gravierendere Beschränkungen der Verteidigungsrechte können gerechtfertigt sein“ bzw. „ein Eingriff in die Verteidigungsrechte ist nur insoweit zulässig, wie es zum Schutze des Zeugen (bzw. weitergehender Ermittlungsinteressen) unbedingt erforderlich ist“.268 Die möglichen Schutzmaßnahmen reichen von der Geheimhaltung der Identität der Aussageperson bis hin zur Sperrung und damit vollständigen Geheimhaltung des Zeugen mit nachfolgender Verwendung von Beweissurrogaten. Aufgrund der oben herausgearbeiteten Grundsätze zum Konfrontationsrecht nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ist dieses Spektrum der zulässigen Zeugenschutzmaßnahmen im Folgenden kritisch zu hinterfragen. 1. Die kontradiktorische Einvernahme unter Geheimhaltung der Identität des Zeugen a) Derzeitige Rechtslage Grundsätzlich folgt das deutsche Strafverfahrensrecht dem Prinzip des „offenen Zeugnisses“, was bedeutet, dass Zeugen ihre Identität einschließlich ihrer Adresse vor den Prozessbeteiligten und der Öffentlichkeit zu offenbaren haben (§§ 68 Abs. 1 S. 1, 200 Abs. 1 S. 2, 222 Abs. 1 StPO).269 Die §§ 68 Abs. 3, 110a Abs. 3 S. 3 StPO normieren jedoch im Interesse des Zeugenschutzes und einer effektiven Durchsetzung des Strafrechts die Möglichkeit der Geheimhaltung der Identität der Aussageperson. Nach § 68 Abs. 3 S. 1 StPO kann in der Hauptverhandlung von der Erhebung der persönlichen Daten abgesehen werden, wenn Anlass zu der Besorgnis besteht, dass dies den Zeugen (oder einen Dritten) an Leib, Leben oder Freiheit gefährden würde. Darüber hi266 267 268 269

Renzikowski JZ 1999, 605 (606). Renzikowski a. a. O. mit weiteren Ausführungen. Siehe oben Zusammenfassung S. 80 f. [Teil 1.C.I.4.]. Weigend, Gutachten C, S. 33.

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naus gibt § 110b Abs. 3 S. 3 StPO verdeckt ermittelnden Polizeibeamten 270 die Möglichkeit, unter ihrer Legende (also ebenfalls unter Geheimhaltung der wahren Identität) auszusagen, wenn dieses für ihren weiteren verdeckten Einsatz notwendig ist.271 b) Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR Der EGMR ist keineswegs der Auffassung, dass die aus Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Abs. 1 EMRK resultierenden Verteidigungsrechte grundsätzlich eine Offenlegung der Identität des Zeugen gegenüber dem Angeklagten oder dem Verteidiger erfordern. Im Fall Doorson wurde die anonyme Einvernahme eines Zeugen ausdrücklich für konventionsgemäß erachtet, weil es für die Wahrung der Anonymität einen legitimen Grund gab, die Hindernisse der Verteidigung durch die Gewährung eines direkten Fragerechts hinreichend ausgeglichen wurden und das Urteil nicht einzig und allein auf dieser Zeugenaussage beruhte.272 Gemessen an diesen Maßstäben können der anonymen Einvernahme von Zeugen, wie sie nach deutschem Recht gem. §§ 68 Abs. 3 und 110b Abs. 3 StPO zulässig ist, keine Bedenken entgegengebracht werden. Sowohl die in § 68 Abs. 3 StPO vorausgesetzte Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Zeugen, als auch die in § 110b Abs. 3 StPO geregelte Gewährleistung des weiteren Einsatzes heimlicher Ermittler sind vom EGMR als legitime Gründe für eine Beschränkung des Fragerechts anerkannt worden.273 Das Recht der Verteidigung auf Konfrontation mit dem Belastungszeugen wird durch diese Regelungen gerade nicht ausgeschlossen. Zudem hat auch der deutsche Gesetzgeber gesehen, dass die Verwertung der Aussagen anonymer Zeugen unter dem Aspekt der Glaubwürdigkeitsbeurteilung nicht unproblematisch ist. Er hat deshalb die zusätzlichen Regelungen des § 68 Abs. 4 bzw. Abs. 3 S. 2 aufgenommen und im Weiteren auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung verwiesen.274 270 Umstritten ist, ob diese Regelung nicht nur auf verdeckte Ermittler, sondern auch auf andere Auskunftspersonen wie V-Personen und nicht offen ermittelnde Strafverfolgungsbeamte Anwendung finden soll; so etwa Entwurfsbegründung BT-Drs. 12/ 989, S. 42; Hilger NStZ 1992, 523 (524 Fn. 154); K/M-G § 110b Rn. 8. Für eine Beschränkung der Regelung auf verdeckte Ermittler Lesch StV 1995, 542 (546); KKNack § 110b Rn. 17. 271 Mit Einfügen des § 110b Abs. 3 S. 3 StPO wurde die umstrittene Frage, ob auch die weitere Verwendung getarnter Fahnder als Anonymisierungsgrund ausreichend ist, gesetzlich gelöst: BGH Urt. v. 2. 7. 1996 – 1 StR 314/96, BGHSt 42, 175, 178 m. Anm. Geerds NStZ 1996, 609; Krey, FS Miyazawa, S. 595 (607); K/M-G § 110b Rn. 8; KK-Nack § 110b Rn. 17. Gem. § 110b Abs. 3 S. 2 StPO können Richter und Staatsanwalt allerdings die Offenbarung der Identität ihnen gegenüber verlangen; zum Problem des Informationsvorsprung des Richters, wenn dieser später auch die Hauptverhandlung leitet Janssen StV 1995, 275. 272 Dazu oben S. 73 f. [Teil 1.C.I.3.b)bb)(1)]. 273 Dazu oben S. 69 ff. [Teil 1.C.I.3.b)aa)(2) und (3)].

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Im Übrigen entsprechen die gesetzlichen Regelungen den Empfehlungen des Europarates zum Schutz gefährdeter Zeugen. Auch hier wird die anonyme Einvernahme als zulässige Maßnahme benannt, wenn das Leben oder die Freiheit eines Zeugen ernsthaft bedroht ist oder der weitere Einsatz eines verdeckten Ermittlers, dessen zukünftige Arbeit gefährdet ist, gewährleistet werden soll.275 2. Die kontradiktorische Einvernahme unter räumlicher Trennung und Tarnung des Zeugen Oft wird gegen die alleinige Maßnahme der Anonymisierung eingewand, dass sie heimliche Ermittler und V-Leute vor den Racheakten gut organisierter Tätergruppen nicht schützen könne, geschweige denn einen weiteren Einsatz im kriminellen Milieu zuließe. Um dies zu gewährleisten, müsse der Zeuge nicht nur seiner Identität nach geheim gehalten werden. Zusätzlich sei es notwendig, sein äußeres Erscheinungsbild vor der Öffentlichkeit, den Verfahrensparteien und letztendlich auch vor dem Gericht zu verbergen.276 Die Möglichkeiten einer visuellen Abschirmung des Zeugen vor den Verfahrensbeteiligten sind nach deutschem Strafverfahrensrecht allerdings sehr begrenzt. Gesetzlich vorgesehene Maßnahmen sind insoweit lediglich der Ausschluss der Öffentlichkeit (§ 172 Nr. 1 und 1a GVG) und des Angeklagten (§ 247 StPO) von der Hauptverhandlung sowie die kommissarische Vernehmung des Zeugen unter Ausschluss des Angeklagten und ohne Benachrichtigung des Verteidigers (§ 224 Abs. 1 S. 2 StPO). Weitergehende visuelle Abschirmungsmaßnahmen wurden von der h. M. trotz der gesetzlichen Regelung der Videovernehmung (§ 247a StPO) bislang abgelehnt. Die Zulassung einer audiovisuellen Vernehmung unter Veränderung der Bild- und Tonübertragung (so dass weder ein Wiedererkennen der Gesichtszüge noch der Stimme möglich ist) wird derzeit diskutiert. a) Derzeitige Rechtslage aa) Ausschluss des Angeklagten von der Hauptverhandlung Nach § 247 StPO kann der Angeklagte zum Schutze des Zeugen für die Dauer der Einvernahme aus dem Sitzungszimmer entfernt werden.277 Darüber 274 BT-Drs. 12/989, S. 35 f., S. 56; Hilger NStZ 1992, 457 (459); Möhrenschlager wistra 1992, 326 (332); SK-StPO-Rogall Vor § 48 Rn. 78. 275 Recommendation (Fn. 119) Punkt 10–13. 276 Weigend, Gutachten C, S. 34; Schlüchter, in: FS Schneider, S. 445 (452 f.). 277 In diesem Fall erstreckt sich die Entfernung des Angeklagten ausnahmsweise auch auf die Vereidigung und Entlassung des Zeugen, so dass der Angeklagte den

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hinaus wendet die Rechtsprechung § 247 StPO analog an, wenn verdeckte Ermittler und V-Personen einzuvernehmen sind und diese zum Zwecke ihrer weiteren Verwendung vom Angeklagten nicht erkannt werden wollen.278 Beide Maßnahmen berühren allerdings nicht das Anwesenheitsrecht des Verteidigers während der Zeugenvernehmung.279 Ist der Angeklagte durch einen Verteidiger vertreten, so kann zumindest dieser das Frage- bzw. Konfrontationsrecht ausüben und die Glaubwürdigkeit des Zeugen überprüfen. Die Strafverfolgungsbehörden akzeptieren die Geheimhaltung des Zeugen allein vor den Augen des Angeklagten in den wenigsten Fällen als ausreichende Schutzmaßnahme für die Befragung von V-Personen und verdeckten Ermittlern. In der Möglichkeit, dass der Verteidiger dem Angeklagten später eine genaue Beschreibung des Zeugen geben könnte, wird ein erhebliches Sicherheitsmanko gesehen.280 bb) Die Geheimhaltung des äußeren Erscheinungsbildes des Zeugen In der Rechtspraxis wurde bis vor kurzem die optische und akustische Abschirmung des Zeugen vor den Prozessbeteiligten (nicht nur vor dem Verteidiger, sondern auch vor dem Gericht) als unzulässig abgelehnt.281 Die Rechtsprechung stützte sich dabei auf eine Entscheidung des Großen Senats des BGH vom 17. Oktober 1983, in welcher dieser hauptsächlich das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für derartige Maßnahmen anmahnte.282 Zeugen tatsächlich nicht zu Gesicht bekommt: BGH Urt. v. 31. 5. 1990 – 4 StR 112/ 90, BGHSt 37, 48 (49 f.); KK-Diemer § 247 Rn. 5; Pfeiffer/Fischer § 247 Rn. 3. 278 BGH Urt. v. 1. 7. 1983 – 1 StR 138/83, BGHSt 32, 32 (35) mit Anm. Geerds JZ 1984, 46; BGH Beschl. v. 8. 11. 1984 – 1 StR 657/84, NStZ 1985, 136; BGH Urt. v. 2. 7. 1996 – 1 StR 314/96, NStZ 1996, 608; Renzikowski JZ 1999, 605 (606); SKStPO-Rogall Vor § 48 Rn. 77; SK-StPO-Schlüchter § 247 Rn. 7; LR-Gollwitzer § 247 Rn. 16. Kritisch Hassemer JuS 1986, 27; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 42 Rn. 48; HK-Julius § 247 Rn. 5. 279 Zum grundsätzlichen Anwesenheitsrecht des Verteidigers vgl. BGH Urt. v. 17. 10. 1983 – GSSt 1/83, BGHSt 32, 115 (124, 127); zustimmend Tiedemann/Sieber NJW 1984, 753 (758). Näher hierzu Zacharias, Der gefährdete Zeuge, S. 240 ff. 280 Zwar soll der Verteidiger entsprechend § 174 Abs. 3 S. 1 GVG bzw. § 353 b StGB zur Verschwiegenheit verpflichtet werden können. Die Einhaltung dieser Verpflichtung lässt sich in der Praxis jedoch kaum garantieren. Vgl. auch jeweils m. w. Nw. Weigend, Gutachten C, S. 36; Renzikowski JZ 1999, 605 (607); SK-StPOSchlüchter § 251 Rn. 59. 281 Als optische und akustische Abschirmungsmaßnahmen werden alle künstlichen Maßnahmen bezeichnet, die darauf gerichtet sind, den Anblick des Zeugen während der Vernehmung vollständig zu verdecken bzw. die Stimme unkenntlich zu machen, wie etwa das Verbergen des Zeugen hinter einer Maske, hinter einem Paravent, einer dunklen Scheibe etc. Vgl. auch den vielfach kritisierten Maßnahmenkatalog von Rebmann NStZ 1982, 315 ff. Näher dazu auch Zacharias, Der gefährdete Zeuge, S. 245 ff.

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Durch die Neufassung des § 68 StPO im Jahre 1992283 und die gesetzliche Verankerung der Videovernehmung (§ 247a StPO) im Jahre 1998284 hat der Gesetzgeber jedoch mittlerweile neue Wertentscheidungen getroffen. Der StPO ist nicht mehr zu entnehmen, dass die Glaubwürdigkeitsüberprüfung des Zeugen seine vollständige Individualisierung erfordert: § 68 Abs. 3 StPO lässt die völlige Anonymisierung des Zeugen zu und in § 247a StPO wird sogar auf die körperliche Anwesenheit des Zeugen verzichtet.285 In Anbetracht dessen wurde zunächst in der Literatur darauf hingewiesen, dass die Auffassung des Großen Senats nicht mehr zeitgemäß sei. Optische und akustische Abschirmungsmaßnahmen müssten zumindest im Rahmen der Videovernehmung nach § 247a StPO zugelassen werden, um die vollständige Sperrung gefährdeter Zeugen zu verhindern und dem Unmittelbarkeitsgrundsatz bestmöglich gerecht zu werden.286 Jetzt hat sich auch der erste Strafsenat des BGH dieser Auffassung angeschlossen. Er stellte deshalb an die anderen Senate eine Anfrage, ob sie seiner Ansicht folgen würden, dass wegen der „durchgreifend geänderten Rechtslage“ die damalige Entscheidung des Großen Senats als überholt betrachtet werden könne und aus diesem Grund eine Videovernehmung unter optischer und akustischer Veränderung von Bild und Ton zugelassen werden müsse.287 Wie die Senate entscheiden werden, bleibt abzuwarten. In der Literatur werden gegen die Zulässigkeit einer solchen Verfahrensweise z. T. Bedenken erhoben, da der Gesetzgeber in der Begründung zum Zeugenschutzgesetz ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass an den damaligen von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen nichts geändert werden sollte und beim Einsatz von Videokameras deshalb darauf zu achten sei, dass die Interaktionen zwischen Zeugen und Vernehmungsperson optimal erfasst und übertragen würden.288 Nach dieser Auffassung ist Voraussetzung für eine Änderung der Rechts282 BGH (Fn. 279) BGHSt 32, 115 (124 f.): „Auch eine Beweisaufnahme unter optischer und akustische Abschirmung eines Zeugen sieht das geltende Recht nicht vor.“ Vgl. zusammenfassend auch Zacharias a. a. O. 283 BGBl. I, S. 1302. 284 BGBl. I, S. 820. 285 Vgl. auch Begründung BGH (Fn. 15) wistra 2003, 109 (110). 286 So etwa Lesch StV 1995, 542 (545); Schlüchter/Greff Kriminalistik 1998, 530 (535); Schlüchter, in: FS H. J. Schneider, S. 445 (457 ff.); Weider/Staechlin StV 1999, 51 f.; Diemer NJW 1999, 1667 (1670); Wieder StV 2000, 48 (51 ff.); Zacharias, Der gefährdete Zeuge, S. 247 ff.; Weigend, Gutachten C, S. 42 ff.; SK-StPO-Schlüchter § 247a Rn. 18; KK-Diemer § 247a Rn. 14. 287 BGH (Fn. 15) wistra 2003, 109. Dazu auch unten S. 99 ff. [Teil 1.C.III.]. 288 So Renzikowski JZ 1999, 605 (607 mit Fn. 15) unter Verweis auf BT-Drs. 13/ 3128, S. 6. Vgl. auch BGH Urt. v. 15. 9. 1999 – 1 StR 286/99, BGHSt 45, 188 (196). Gegen eine Videovernehmung unter optischer und akustischer Veränderung von Ton und Bild im Hinblick auf die Entscheidung des Großen Senats von 1983 Caesar NJW

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praxis die Einführung einer gesetzlichen Regelung, welche die optische und akustische Abschirmung im Rahmen der Videovernehmung ausdrücklich zulässt. Unproblematisch ist hingegen die bloße Veränderung des Aussehens.289 Auch im deutschen Strafverfahren kann ein Zeuge, um zu verhindern, dass er vom Angeklagten oder von Zuhörern wiedererkannt wird, sein äußeres Erscheinungsbild während der Vernehmung verändern, denn er hat nicht die Pflicht mit einem bestimmten Aussehen zu erscheinen.290 cc) Kommissarische Vernehmung des Zeugen unter Ausschluss des Angeklagten und ohne Benachrichtigung des Verteidigers Einen eingeschränkten Weg, den Zeugen vor den Augen des Angeklagten und des Verteidigers zu verbergen, bietet die kommissarische Vernehmung nach §§ 223, 224 StPO. Gem. §§ 223, 224 StPO kann die Einvernahme eines Zeugen durch einen beauftragten oder ersuchten Richter außerhalb der Hauptverhandlung angeordnet werden, wenn eine konkrete Gefahr für dessen Leib und Leben oder die Enttarnung eines verdeckten Ermittlers bzw. einer V-Person droht.291 Zweck der Vernehmung ist die Herstellung eines Vernehmungsprotokolls, welches in der Hauptverhandlung nach § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO verlesen werden kann.292 Verteidiger und Angeklagter haben grundsätzlich das Recht auf Anwesenheit während der kommissarischen Vernehmung. Es besteht jedoch wiederum die Möglichkeit, den Angeklagten gem. § 247 StPO auszuschließen. Darüber hinaus kann die Benachrichtigung des Verteidigers gem. § 224 Abs. 1 S. 2 unterbleiben, wenn diese den Untersuchungserfolg gefährden würde.293 Allerdings

1998, 2313 (2318); Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 1040; KK-Senge vor § 48 Rn. 71; K/M-G § 247a Rn. 1a, § 68 Rn. 18. 289 Färben der Haare, Tragen einer Perücke und eines künstlichen Bartes etc. Zum Problem der Abgrenzung zwischen zulässiger Veränderung des Aussehens und unzulässiger Abschirmung vgl. Zacharias, Der gefährdete Zeuge, S. 251. 290 Vgl. nur LG Frankfurt/M., Urt. v. 10. 5. 1994 – 5/14 KLs88Js30966.4/93, StV 1994, 475 (476). Näher zu dieser Problematik Zacharias, Der gefährdete Zeuge, S. 251 m. w. Nw.; KK-Senge Vor § 48 Rn. 71; LR-Dahs Vor § 48 Rn. 7. 291 BGH (Fn. 279) BGHSt 32, 115 (121); Renzikowski JZ 1999, 605 (607); KKTolksdorf § 223 Rn. 9; SK-StPO-Schlüchter § 251 Rn. 60. 292 Renzikowski JZ 1999, 605 (607). 293 BGH Urt. v. 2. 5. 1979 – 2 StR 99/79, BGHSt 29, 1 (3, 4); BGH (Fn. 279) BGHSt 32, 115 (129). Vgl. auch SK-StPO-Schlüchter § 224 Rn. 16 m. w. Nw., für die sehr weitgehend der Verzicht auf Benachrichtigung auch dann zulässig ist, wenn die oberste Dienstbehörde den Zeugen ausschließlich unter dieser Bedingung freigibt. Ebenso Schlüchter, in: FS H. J. Schneider, S. 445 (455). Kritisch dazu Renzikowski JZ 1999, 605 (607 mit Fn. 19).

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

muss dem Verteidiger die Anwesenheit gewährt werden, wenn er von der Vernehmung zufällig erfährt und daran teilnehmen will.294 In vielen Fällen wird deshalb auch die kommissarische Vernehmung als „zu unsicher“ zurückgewiesen, da sie „heimliche Ermittler“ vor einer möglichen „Enttarnung“ durch den Verteidiger nicht ausreichend schützen kann. b) Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR aa) Ausschluss des Angeklagten von der Hauptverhandlung Die Einvernahme eines anonymen Zeugen in Abwesenheit des Beschuldigten ist – wie bereits unter Teil 1.C.II.1.b) näher dargelegt – im Lichte des Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Abs. 1 EMRK unproblematisch, sofern zumindest der Verteidiger den Zeugen direkt befragen und einen persönlichen Eindruck von dessen Aussageverhalten und seinen Reaktionen gewinnen kann. Anders ist jedoch im Falle des Ausschlusses eines nicht verteidigten Beschuldigten zu entscheiden. Hier wird der Angeklagte jeglicher Möglichkeit beraubt, sein Recht auf Konfrontation mit dem anonymen Belastungszeugen auszuüben und dessen Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Die in § 247 S. 4 StPO vorgesehene nachträgliche Unterrichtung von der Zeugenaussage durch das Gericht ist nach der Rechtsprechung des EGMR kein ausreichendes Äquivalent für die eigene Befragung und Beobachtung des Zeugen durch den Angeklagten.295 Eine solchermaßen erlangte Aussage kann nach den Straßburger Grundsätzen nicht als Erkenntnisquelle verwertet werden.296 Soll das Verfahren den Anforderungen der Konvention genügen, so muss – wie mittlerweile vom BGH bestätigt – dem von der Vernehmung ausgeschlossenen, unverteidigten Beschuldigten ein Verteidiger bestellt werden, damit dieser die Rechte des Angeklagten wahrnehmen kann.297

294 Zum unzulässigen Ausschluss des Verteidigers von der kommissarischen Vernehmung BGH (Fn. 279) BGHSt 32, 115 (121, 124, 127). Vgl. auch Renzikowski JZ 1999, 605 (607); Weigend, Gutachten C, S. 36; K/M-G § 223 Rn. 20; KK-Tolksdorf § 223 Rn. 9; SK-StPO-Schlüchter § 251 Rn. 60 m. w. Nw. 295 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 32); [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 62). Hierzu oben S. 73 [Teil 1.C.I.3.b)bb)(1)]. Anders noch in Bezug auf Art. 103 Abs. 1 GG (Recht auf rechtliches Gehör) LR-Gollwitzer § 247 Rn. 2. 296 Ebenso Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 677, der sogar von einer generellen Konventionswidrigkeit des § 247 S. 1 StPO ausgeht. 297 BGH Urt. v. 25. 7. 2000 – 1 StR 169/00, BGHSt 46, 93 = JZ 2001, 359 mit Anm. Fezer. Vgl. auch Schlothauer StV 2001, 127; Kunert NStZ 2001, 217; Franke GA 2002, 573 (574 f.). Bestätigt durch BGH, Beschl. v. 5. 2. 2002 – 5 StR 588/01, NStZ 2002, 380 (381 Rn. 6).

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bb) Geheimhaltung des äußeren Erscheinungsbildes des Zeugen Die Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes bei einer Konfrontation von Verteidigung und Zeuge hält der EGMR für unbedenklich, solange das nonverbale Aussageverhalten – also Gestik und Mimik – des anonymen Zeugen erhalten bleibt. Im Fall van Mechelen hat er ausdrücklich auf eine solche Verfahrensweise verwiesen, um zu einem „counterbalancing procedure“ zu gelangen.298 Wie der Fall Kok zeigt, hält der Straßburger Gerichtshof aber auch die Verwertung von Aussagen, die unter optischen und akustischen Abschirmungsmaßnahmen zustande kommen, nicht „unter allen Umständen“ für konventionswidrig.299 Eine verdeckte Vernehmung bewirkt dann keine Verletzung des Fairnessgrundsatzes, wenn sie unbedingt erforderlich ist, um eine qualifizierte Gefährdungssituation abzuwenden oder um die weitere verdeckte Arbeit eines heimlichen Ermittlers nicht zu gefährden. Voraussetzung ist allerdings, dass die Angaben des Belastungszeugen durch andere wichtige Beweismittel bestätigt werden, damit die nur unvollkommene Glaubwürdigkeitsüberprüfung durch die Verteidigung in gewissem Maße ausgeglichen werden kann. Der Schuldspruch muss im Wesentlichen auf einer Gesamtwürdigung von verschiedenen, sich ergänzenden und bestätigenden Beweismitteln und Indizien beruhen, welche die Verteidigung hinreichend in Frage stellen und überprüfen konnte.300 Der neueste Vorstoß des BGH, eine Videovernehmung von heimlichen Ermittlern unter Veränderung von Bild und Ton zuzulassen, ist daher grundsätzlich mit der Rechtsprechung des EGMR vereinbar. Dies um so mehr, wenn – wie vom BGH betont – trotz der Abschirmungsmaßnahmen die Reaktionen des Zeugen auf die Fragen der Verteidigung erkennbar bleiben.301 Allerdings sollten auch die Voraussetzungen und Konsequenzen beachtet werden, die der EGMR an eine solche Vernehmung knüpft: Die verdeckte Einvernahme ist nur dann zulässig, wenn sie zum Schutze des Zeugen oder aus operationellen Gründen unausweichlich ist, mithin andere die Beteiligungsrechte des Angeklagten weniger beschränkende Maßnahmen nicht in Frage kommen. Dies 298 EGMR [van Mechelen u. a./Niederlande] (Fn. 61). Vgl. dazu oben S. 75 ff. [Teil 1.C.I.3.b)bb)(2)]. Vgl. dazu auch die Rechtsauffassung in Österreich oben S. 51 ff. (Teil 1.B.II.2.). 299 Vgl. oben S. 75 ff. [Teil 1.C.I.3.b)bb)(2)]. So wohl auch Wohlers, in: FS Trechsel, 813 (831); anders noch Renzikowski JZ 1999, 605 (612 Fn. 79). Unterstützung erhält die Straßburger Spruchpraxis durch die Empfehlung des Europarates zum Zeugenschutz, in welcher auf die Maßnahmen der optischen und akustischen Abschirmung ausdrücklich hingewiesen wird, vgl. Recommendation (Fn. 119) Punkt 12. 300 Siehe oben Zusammenfassung S. 80 ff. [Teil 1.C.I.4.]. 301 BGH (Fn. 15) wistra 2003, 109 (111). Dazu oben S. 85 f. [Teil 1.C.II.2.a)bb)].

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sollte von den Strafverfolgungsbehörden stets bedacht und von den Gerichten entsprechend kontrolliert werden.302 Außerdem kann einer für die Verteidigung nur begrenzt überprüfbaren Zeugenaussage auch nur ein entsprechend geringer Beweiswert zugemessen werden. Die Anforderungen, die der BGH derzeit an die Beweiswürdigung von Aussagen gesperrter Zeugen stellt,303 müssen letztlich auch für den verdeckt vernommenen anonymen Zeugen gelten. cc) Kommissarische Vernehmung des Zeugen unter Ausschluss des Angeklagten und ohne Benachrichtigung des Verteidigers Die unter aa) ausgeführten Überlegungen müssen auch für die Verfahrensweise der kommissarischen Vernehmung unter (faktischem) Ausschluss des Verteidigers und des Angeklagten gelten. Nach der Rechtsprechung des EGMR kommt es nicht darauf an, ob dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger in der Hauptverhandlung eine kontradiktorische Befragung des Zeugen ermöglicht wird. Auch Vernehmungen aus dem Ermittlungsverfahren können als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden, wenn zumindest die Verteidigung hieran ausreichend beteiligt wurde.304 Gab es jedoch zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens die Möglichkeit, die Verteidigungsrechte wirksam auszuüben, so verstößt die Verwertung des Beweismittels als Erkenntnisquelle gegen Art. 6 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 EMRK.305 Eine im Wege einer kommissarischen Vernehmung gewonnene anonyme Zeugenaussage, bei der weder der Angeklagte noch der Verteidiger teilnehmen konnte, weil sie ausgeschlossen bzw. nicht benachrichtigt wurden, darf für die Entscheidungsfindung „in keinerlei Hinsicht“ relevant sein.306 3. Die Einführung des Wissens von gesperrten Zeugen unter Verwendung von Beweissurrogaten Sind die Ermittlungsbehörden der Auffassung, dass ein Zeuge mit Hilfe der gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen in der Hauptverhandlung nicht ausrei302 Krauß, V-Leute, S. 171 ff. tritt bspw. (in Anlehnung an die Rechtslage in den Niederlanden) dafür ein, die Entscheidung über die Geheimhaltungsbedürftigkeit eines Zeugen von vornherein nicht den Ermittlungsbehörden zu überlassen, sondern einer „neutralen Stelle“, d.h. einem Gericht bzw. dem Ermittlungsrichter zu übertragen. Vgl. zu dieser Thematik auch Weigend, Gutachten C, S. 44 f. Die frühere Diskussion zusammenfassend Geißer GA 1983, 385 (401 ff.). Dazu auch noch unten S. 96 ff. [Teil 1.C.II.3.b)aa)]. 303 Dazu unten S. 94 f. [Teil 1.C.II.3.a)bb)(2)]. 304 Dazu oben S. 64 f. [Teil 1.C.I.2.d)]. 305 Vgl. oben Zusammenfassung S. 80 ff. (Teil 1.C.I.4.). 306 So auch Renzikowski JZ 1999, 605 (612).

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chend geschützt werden kann, so ist es ihnen möglich, die Aussageperson für das weitere Strafverfahren vorzuenthalten [unten a)aa)]. Die Gerichte greifen in diesen Fällen auf Beweissurrogate zurück. Das Wissen des gesperrten Zeugen wird durch die Verlesung des Vernehmungsprotokolls und durch die Vernehmung der Verhörsperson als Zeuge vom Hören-Sagen in den Prozess eingeführt [unten a)bb)]. a) Derzeitige Rechtslage aa) Die Sperrung des Zeugen durch die Exekutive Die Möglichkeit der Sperrung von Zeugen durch die Exekutive wird von der Rechtsprechung aus § 96 StPO hergeleitet:307 Gem. § 96 StPO analog kann die ausführende Gewalt gegenüber der Judikative die Auskunft über Identität und ladungsfähige Anschrift des Zeugen verweigern, wenn ein Zeuge (oder Dritte) im Falle einer Aussage vor Gericht konkret an Leib, Leben oder Freiheit gefährdet ist oder auch die weitere Verwendung als „heimlicher Ermittler“ unmöglich wird.308 In der Folge bleibt der Zeuge als Beweismittel für das weitere Verfahren unerreichbar und seine Person für alle Verfahrensbeteiligten (einschließlich des Gerichts) im Dunkeln. Allerdings müssen die Behörden bei einer solchen Entscheidung das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beachten und dürfen die Sperrung des Zeugen nur als ultima ratio begreifen.309 Dies bedeutet vor allem die Prüfung, ob nicht andere, weniger in die Rechte des Angeklagten eingreifende Maßnahmen die Interessen von Strafverfolgung und Zeugen ausreichend schützen können.

307 BGH, Urt. v. 2. 7. 1996 – 1 StR 314/96, BGHSt 42, 175 (178); K/M-G § 96 Rn. 12 m. w. Nw.; ausführlich Zacharias, Der gefährdete Zeuge, S. 297 ff. Nach Lesch StV 1995, 542 (544) soll mit Einfügung des § 110b Abs. 3 S. 3 StPO eine vollständige Sperrung verdeckter Ermittler nicht mehr möglich sein. Diese müssten vielmehr stets unter ihrer Legende vor Gericht aussagen. A. A. jedoch die h. M. wonach § 110 Abs. 3. S. 3 StPO die Möglichkeit der Sperrung verdeckter Ermittler gerade erweitern sollte, vgl. jeweils m. w. Nw. K/M-G § 110b Rn. 8; KK-Nack § 96 Rn. 20; Pfeiffer § 96 Rn. 3, § 110b Rn. 4. Siehe auch BT-Drs. 12/989, S. 42 f. 308 BGH (Fn. 307) BGHSt 42, 175 (178); Hilger NStZ 1992, 524 Fn. 154; Vitt Jura 1994, 17 (19); Zacharias, Der gefährdete Zeuge, S. 303; Krauß, V-Leute, S. 21; KKNack § 96 Rn. 20 (allerdings kritisch zur Übertragung der Regelung auf V-Personen); K/M-G § 110b Rn. 8, § 96 Rn. 13; SK-StPO-Rogall Vor § 48 Rn. 81. Siehe auch BTDrs. 12/989, S. 42 f. A. A. Lesch (Fn. 307). 309 Zu den Voraussetzungen einer rechtmäßigen Sperrerklärung vgl. insbesondere BVerfG, Beschl. v. 26. 5. 1981 – 2 BvR 215/81, BVerfGE 57, 250 (282 ff.); BGH (Fn. 279) BGHSt 32, 115 (124); BVerwG, Urt. v. 19. 8. 1986 – BVerwG 1 C 7.85, BVerwGE 75, 1 (9); AK-Amelung § 96 Rn. 22; SK-StPO-Rogall Vor § 48 Rn. 81 ff.; LR-Schäfer § 96 Rn. 26 ff.

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bb) Die Heranziehung von Ersatzbeweisen im gerichtlichen Verfahren Die behördliche Sperrung des Zeugen bedeutet nach Auffassung der Rechtsprechung nicht, dass auch die Erkenntnisse des Zeugen für die Entscheidungsfindung „gesperrt“ sind. Unter Betonung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) greift die Rechtspraxis in diesen Fällen auf mittelbare bzw. sog. Ersatzbeweise (Beweissurrogate) zurück.310 Ein solches Beweissurrogat ist in erster Linie die gerichtliche Vernehmung der polizeilichen Verhörsperson, die als „Zeuge vom Hören-Sagen“ darüber berichten kann, welche Aussagen der „gesperrte Zeuge“ über den Tatvorgang bei der polizeilichen Vernehmung getroffen hat und wie die Vernehmung verlaufen ist.311 Eine weitere Möglichkeit ist zudem die Verlesung polizeilicher Vernehmungsniederschriften nach § 251 Abs. 2 S. 2 StPO.312 Sie ist ausnahmsweise gestattet, sofern der Zeuge (wie dies bei einer „Sperrung“ der Fall ist) für das Gericht unerreichbar ist. Auch frühere oder erst vom Gericht eingeholte schriftliche Äußerungen des Zeugen können über § 251 Abs. 2 S. 2 StPO verlesen werden.313 Der aus einer solchen Verfahrensweise resultierenden Risiken für eine justizförmige Aufklärung und ein faires Verfahren ist sich die Rechtsprechung dabei durchaus bewusst. Sie vertritt jedoch unter Abwägung der widerstreitenden Interessen die Auffassung, dass ein grundsätzlicher Verzicht auf die Aussage des gesperrten Zeugen dem verfassungsrechtlichen Auftrag zur Durchsetzung des Strafrechts nicht in hinreichendem Maße Rechnung tragen würde.314 Gegen eine indirekte Einführung der Zeugenaussage ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nichts einzuwenden, solange bei der Sperrung des 310 Bisher ständige Rechtsprechung des BGH: zuletzt BGH (Fn. 15) StV 2000, 649 mit Anm. Wattenberg StV 2000, 688; bestätigt durch BVerfG (Fn. 15) NJW 2001, 2245 („Landshutentscheidung“); BGH (Fn. 15) NStZ-RR 2002, 176. Vgl. auch Nack Kriminalistik 1999, 171 (172). Zu kritischen Ansichten in der Literatur siehe noch unten Fn. 346. Zweifelnd neuerdings auch BGH (Fn. 15) wistra 2003, 109 (111). 311 Auskünfte über die Identität des Zeugen sind dem Vernehmungsbeamten durch eine entsprechende Einschränkung der Aussagegenehmigung nach § 54 StPO verboten. 312 Durch § 168 a Abs. 1 S. 2 StPO können auch Vernehmungsprotokolle anonymer Zeugen verlesen werden und die polizeiliche Vernehmung kann in Abwesenheit des Beschuldigten und des Verteidigers erfolgen. 313 BGH, Beschl. v. 23. 1. 1981 – 3 StR 467/80, NStZ 1981, 270; KG, Beschl. v. 23. 3. 1995 – (1)2 StE 2/9 (19/93), StV 1995, 348; K/M-G § 251 Rn. 33; ablehnend HK-Julius § 251 Rn. 16 m. w. Nw. 314 Zur Abwägung der widerstreitenden Interessen vgl. insbesondere BVerfG (Fn. 309) BVerfGE 57, 250 (278 ff.). Gegen einen Verzicht auf Aussagen bedrohter Zeugen wird insbesondere eingewandt, dass er den Strafanspruch in unzulässiger Weise zur Disposition des Angeklagten stellen würde, vgl. auch Weigend, Gutachten C, S. 41 m. w. Nw.; Zacharias, Der gefährdete Zeuge, S. 316 f.

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Zeugen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet [unten (1)] und die Aussage besonders vorsichtig und kritisch gewürdigt werde [unten (2)].315 (1) Die gerichtliche Überprüfung der Sperrerklärung Die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Sperrung des Zeugen obliegt in erster Linie den Exekutivbehörden.316 Die gerichtliche Kontrollmöglichkeit dieser Entscheidung ist eingeschränkt, da die Behörde auch gegenüber der Judikative Geheimhaltungsinteressen geltend machen kann und deshalb nur begrenzt zu einer detaillierten Angabe von Gründen verpflichtet ist.317 Die Behörde muss die Gründe für die Geheimhaltung dem Gericht allerdings so darlegen, dass es in der Lage ist, darüber zu befinden, ob die behördliche Weigerung aus rechtsstaatlichen Gründen hingenommen werden kann (Plausibilitätskontrolle).318 Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Sperrerklärung obliegt in erster Linie den Verwaltungsgerichten.319 Wird das Strafgericht mit einer behördlichen Sperrerklärung konfrontiert, so ist es an diese gebunden, solange sie nicht willkürlich und offensichtlich fehlerhaft ist.320 Nur wenn derart schwere Mängel vorliegen, kann und muss das Gericht weitere Maßnahmen wie etwa die Beschlagnahme der Behördenakten nach § 94 StPO ergreifen.321 Hat das Gericht lediglich Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Sperrerklärung (etwa weil ihm die Entscheidung nicht plausibel erscheint), so hat es zwar die Pflicht Gegenvorstellung zu erheben, muss sich jedoch mit der Entscheidung der Behörde abfinden, wenn diese bei ihrem Standpunkt bleibt.322 Nur in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren kann die Verbindlichkeit einer rechtswidrigen Sperrerklärung beseitigt werden.323 Hält das Strafgericht eine Sperrerklärung für willkürlich bzw. offensichtlich fehlerhaft und damit für unverbindlich, so ist auch nach Ansicht der Rechtspre315

So grundlegend BVerfG (Fn. 309) BVerfGE 57, 250 (290). Vgl. BVerfG (Fn. 309) BVerfGE 57, 250 (283 ff.). Dazu auch Backes, in: Festschrift für Klug, S. 447 (452). 317 BVerfG (Fn. 309) BVerfGE 57, 250 (284 ff.). 318 BGH (Fn. 279) BGHSt 32, 115 (125); BVerwG (Fn. 309) BVerwGE 75, 1 (9). Hierzu auch Fezer, in: FS Kleinknecht, S. 113 (119). Vgl. auch SK-StPO-Rogall Vor § 48 Rn. 83 m. w. Nw. 319 BGH, Beschl. v. 24. 6. 1998 – 5 AR (VS) 1/98, BGHSt 44, 107 mit Anm. Katholnigg NStZ 1999, 40. 320 BVerfG (Fn. 309) BVerfGE 57, 250 (290); BGH, Urt. v. 31. 3. 1989 – 2 StR 706/88, BGHSt 36, 159 (162). Vgl. auch SK-StPO-Rogall Vor § 48 Rn. 84 und 85 m. w. Nw. 321 BGH, Beschl. v. 18. 3. 1992 – 1 BGs 90/92, BGHSt 38, 237; KK-Nack § 96 Rn. 31. 322 BGH (Fn. 320) BGHSt 36, 159 (162). 323 SK-StPO-Rogall Vor § 48 Rn. 85. 316

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chung ein Rückgriff auf Beweissurrogate unstatthaft. Die Aussage des gesperrten Zeugen kann für die Entscheidungsfindung nicht verwertet werden.324 Anders jedoch, wenn (mangels grober Fehler) die (rechtswidrige) Sperrerklärung für das Strafgericht verbindlich bleibt. In diesem Fall soll nach Auffassung der Judikatur die Verwendung von Beweissurrogaten zulässig sein, da ein rechtliches Hindernis den Zugriff auf das sachnähere Beweismittel verhindert und die gerichtliche Aufklärungspflicht dann ein Zurückgreifen auf ein tatferneres Beweismittel gebiete.325 (2) Ausgleich der fehlenden Gewährung der Verteidigungsrechte über den Grundsatz der freien Beweiswürdigung Können Verteidigungsrechte nicht hinreichend gewährt werden, so führt dies nach der vom BGH bislang326 vertretenen Beweiswürdigungslösung nicht zu einem Verwertungsverbot, sondern zu einer Herabstufung des Beweiswertes der Zeugenaussage.327 Das bedeutet, dass Angaben gesperrter Zeugen, die durch Beweissurrogate eingeführt werden, regelmäßig nur dann Grundlage einer Verurteilung sein dürften, wenn sie einer besonders kritischen Prüfung unterzogen und zudem durch andere wichtige Beweisanzeichen bestätigt werden. Das Gericht muss sich den Grenzen seiner Überzeugungsbildung stets bewusst sein, sie wahren und dies in den Urteilsgründen zum Ausdruck bringen.328 Die zusätzlichen Beweismittel müssen allerdings keineswegs geeignet sein, die anonyme Zeugenaussage zu ersetzen. Vielmehr ist es ausreichend, wenn die Aussage durch weitere Indizien gestützt wird, so dass für das Gericht kein Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussage mehr besteht.329 Eine Verurteilung allein aufgrund eines Beweissurrogates ist grundsätzlich unzulässig. 324

BVerfG (Fn. 309) BVerfGE 57, 250 (290); BGH (Fn. 320) BGHSt 36, 159 (163). BGH (Fn. 320) BGHSt 36, 159 (162); offengelassen in BGH (Fn. 15) StV 2000, 649 (651). Zustimmend SK-StPO-Rogall Vor § 48 Rn. 91; SK-StPO-Schlüchter § 251 Rn. 63b; KK-Nack § 96 Rn. 30. Für ein Beweisverwertungsverbot bei Rechtswidrigkeit der Sperrerklärung AK-Amelung § 96 Rn. 29; LR-Schäfer § 96 Rn. 53; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1046 m. w. Nw. So in Ansehung der Rechtsprechung des EGMR auch Renzikowski JZ 1999, 605 (612); Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 679. 326 Fraglich ist, ob angesichts von BGH (Fn. 15) wistra 2003, 109 (111) nicht eine Wende der BGH-Rechtsprechung bevorsteht. 327 Zuletzt BGH (Fn. 15) StV 2000, 649 (650); BGH (Fn. 297) BGHSt 46, 93 (104 ff.) = JZ 2001, 359 (362); BGH (Fn. 15) NStZ-RR 2002, 176. Diese Rechtsprechung wurde durch das BVerfG stets bestätigt, vgl.: BVerfG (Fn. 309) BVerfGE 57, 250; BVerfG, Beschl. v. 11. 4. 1991 – 2 BvR 196/91, NStZ 1991, 445; BVerfG, Beschl. v. 19. 7. 1995 – 2 BvR 1142/93, StV 1995, 561; BVerfG, Beschl. v. 21. 8. 1996 – 2 BvR 1304/96, StV 1997, 1; zuletzt BVerfG (Fn. 15) NJW 2001, 2245. 328 Siehe auch die Nachweise (Fn. 327). 325

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In der Frage nach dem Beweiswert der Aussage eines gesperrten Zeugen differenzierte die frühere Rechtsprechung zudem zwischen anonymen Informanten und verdeckt operierenden Polizeibeamten. Bei verdeckten Ermittlern – so der BGH – bestünde schon allgemein eine wesentlich größere Gewähr für die Zuverlässigkeit ihrer Angaben als bei sonstigen Informanten. Die Gefahr, dass der Angeklagte das Opfer ungerechtfertigter Verdächtigungen oder persönlicher Feindschaften werden könne, sei im Falle des Einsatzes polizeilicher Ermittler im Wesentlichen ausgeschaltet.330 Mittlerweile wurde die entgegenstehende Auffassung des EGMR jedoch zur Kenntnis genommen331 bzw. anerkannt332, so dass die Spruchpraxis des BGH in diesem Punkt als überholt gelten dürfte.333 Der BGH wähnte sich bislang bei der Anwendung der Beweiswürdigungslösung in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR, da dieser bei der Bewertung der Fairness des Verfahrens zwar in erster Linie auf das Beweisverfahren abstelle, jedoch im Rahmen der Gesamtbetrachtung auch die Beweiswürdigung Berücksichtigung fände.334 Die Voraussetzung, dass die anonyme Zeugenaussage nicht als maßgebliche Urteilsgrundlage dienen dürfe, sei erfüllt, wenn diese Angaben durch andere wichtige Beweisanzeichen bestätigt, mithin also nur zur Abrundung des sonstigen Beweisergebnisses ergänzend hinzugezogen würden.335 Das BVerfG hat diese Auffassung in der sog. Landshutentscheidung bestätigt. Unter Ansehung der als Auslegungshilfe verstandenen Regelungsinhalte des Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK gelangte das BVerfG zu dem Ergebnis, dass die Handhabung des Verfahrensrechts durch das Tatgericht zwar im Grenzbereich einer von Verfassungswegen erlaubten Verfahrensgestaltung liege, jedoch insgesamt noch als „fair“ angesehen werden könne und damit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei.336

329 Dies wird besonders deutlich in BGH (Fn. 15) StV 2000, 649 mit krit. Anm. Wattenberg, StV 2000, 688 (692 ff.) sowie BVerfG (Fn. 327) StV 1997, 1 mit krit. Anm. Kinzig. Vgl. auch die von Nack, Kriminalistik 1999, 171 (172 ff.) herausgearbeiteten Kriterien. 330 BGH, Urt. v. 20. 11. 1990 – 1 StR 562/90, StV 1991, 100 (101); bestätigt durch BVerfG (Fn. 327) NStZ 1991, 445. 331 BGH (Fn. 15) StV 2000, 649 (650). 332 So ausdrücklich OVG Lüneburg, Beschl. v. 4. 4. 2000 – 11 M 1239/00, NJW 2001, 1665 (1666). 333 Kritisch hiezu noch Wattenberg/Violet StV 1997, 620 (622); Renzikowski JZ 1999, 605 (609); Simon, Beschuldigtenrechte, S. 135; Krauß, V-Leute, S. 163; Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 679. 334 BGH (Fn. 297) BGHSt 46, 93 (104). 335 BGH (Fn. 15) StV 2000, 649 (650 f.). Mittlerweile allerdings wohl zweifelnd vgl. BGH (Fn. 15) wistra 2003, 109 (111). 336 BVerfG (Fn. 15) NJW 2001, 2245 (2246 f.). Näher hierzu Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 680 f.

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

b) Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR Die derzeitige Judikatur zur Verwertbarkeit des Wissens behördlich gesperrter Zeugen ist in Anbetracht der Straßburger Rechtsprechung bedenklich. Dies zum einen, weil sie den Rückgriff auf Beweissurrogate selbst dann für zulässig hält, wenn die Sperrentscheidung der Behörde dem Gericht nicht plausibel gemacht werden konnte und damit rechtswidrig erscheint [unten aa)]; zum anderen, weil sich aus der Straßburger Spruchpraxis zunehmend abzeichnet, dass die Beweiswürdigungslösung des BGH im Fall des gänzlich gesperrten Zeugen wohl kaum als „counterbalancing procedure“ anerkannt würde [unten bb)]. aa) Der Rückgriff auf Beweissurrogate bei rechtswidrigen Sperrerklärungen Die Entscheidungen in den Fällen Lüdi, van Mechelen und Visser haben gezeigt, dass der EGMR dem Aspekt der „unbedingten Erforderlichkeit“ einer Geheimhaltungsmaßnahme große Aufmerksamkeit widmet. Er fordert eine strikte Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und verlangt deshalb von den nationalen Behörden, dass sie dem Wunsch nach Anonymität bzw. Geheimhaltung nicht ohne Weiteres nachgeben, sondern die Fundiertheit und Ernsthaftigkeit der geltend gemachten Bedrohung genau überprüfen.337 Insbesondere dann, wenn dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger kein direktes Fragerecht und eine „face-to-face-confrontation“ mit dem anonymen Belastungszeugen gewährt wurde, fragt der Straßburger Gerichtshof eindringlich danach, ob die Behörden für die Notwendigkeit derart schwerwiegender Eingriffe in die Verteidigungsrechte des Angeklagten plausible und nachvollziehbare Erklärungen bieten können. Ist dies nicht der Fall, so zieht der EGMR den Schluss, dass eine Verletzung der Fairness des Verfahrens vorgelegen habe, wenn die unter Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zustande gekommene Zeugenaussage dennoch für die Entscheidungsfindung eine Rolle spielte.338 Angesichts dieser Spruchpraxis ist die bisherige Auffassung, eine rechtswidrige aber verbindliche Sperrerklärung stelle kein Beweisverwertungsverbot auf, nicht mehr haltbar. Das konventionsrechtliche Fairnessgebot verlangt nach Auffassung des EGMR eine strikte Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Ein Eingriff in die Verteidigungsrechte ist nur insoweit zulässig, wie es zum Schutz des Zeugen (bzw. weitergehender Ermittlungsinteressen) unbedingt erforderlich ist.339 Kann die Behörde die unbedingte Notwendigkeit weitreichender Geheimhaltungsmaßnahmen dem Gericht nicht plausibel erklären, so 337 338 339

Siehe dazu bereits oben S. 72 ff. [Teil 1.C.I.3.b)bb)]. Siehe dazu insbesondere EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 46). Dazu oben Zusammenfassung S. 80 ff. [Teil 1.C.I.4.].

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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kann es zwar die Verbindlichkeit der Sperrerklärung nicht beseitigen, es ist jedoch aufgrund von Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 lit. d EMRK gehindert, das Wissen des anonymen Belastungszeugen im strafgerichtlichen Verfahren zu verwerten. Der gerichtlichen Aufklärungspflicht werden in diesem Falle durch den Grundsatz der Fairness des Strafverfahrens Grenzen gesetzt. Bereits die frühere Judikatur des BGH verlangte eine beweisrechtliche Berücksichtigung rechtswidriger Sperrerklärungen, um zu verhindern, dass die Behörde durch eine unverhältnismäßige Sperrung des Zeugen das Gericht zu einem Verstoß gegen das Prinzip des fairen Verfahrens verleitet.340 Angesichts der Straßburger Spruchpraxis sollte zumindest dieser Gedanke wieder aufgegriffen werden.341 bb) Die Beweiswürdigungslösung im Falle des behördlich gesperrten Zeugen Die Beweiswürdigungslösung des BGH ist im Falle des behördlich geheim gehaltenen Zeugen allerdings insgesamt in Frage gestellt.342 Wie oben dargestellt verlangt der EGMR für die Einhaltung der Fairness des Verfahrens ein „counterbalancing procedure“, was bedeutet, dass die nationalen Gerichte ihre Verfahren so gestalten müssen, dass die Verteidigung trotz der Einschränkung des Konfrontations- bzw. Fragerechts der Anklageseite weitestgehend gleichgestellt ist. Im Rahmen der hier stattfindenden Gesamtwürdigung findet zwar auch der Aspekt der Beweiswürdigung seine Berücksichtigung, ihm wird jedoch eine weitaus geringere „ausgleichende Wirkung“ beigemessen als vom BGH angenommen.343 Die Anforderungen, die der BGH an die Beweiswürdigung des Gerichts im Falle eines behördlich gesperrten Zeugen stellt, hat der EGMR in der Beschwerde Kok lediglich als „Ausgleich“ gelten lassen, weil dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger ein Fragerecht zumindest im Wege der verdeckten Einvernahme eingeräumt worden war. Zudem berücksichtigte er die in den Niederlanden bestehende Möglichkeit der Glaubwürdigkeitsüberprüfung des Zeugen durch den Untersuchungsrichter, welcher die Identität des Zeugen kannte und 340 BGH, Urt. v. 5. 11. 1982 – 2 StR 250/82, BGHSt 31, 148 (154); BGH, Urt. v. 16. 3. 1983 – 2 StR 543/82, BGHSt 31, 290 (294); revidiert durch BGH (Fn. 320) BGHSt 36, 159 (162). Vgl. AK-Amelung § 96 Rn. 29. 341 In diese Richtung wohl auch Renzikowski JZ 1999, 605 (612); Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 679. Diese Frage ausdrücklich offengelassen in BGH (Fn. 15) StV 2000, 649 (651). 342 Dazu oben S. 77 ff. [Teil 1.C.I.3.b)bb)(3)] und Zusammenfassung S. 80 ff. [Teil 1.C.I.4.]. 343 Dazu oben S. 72 ff. [Teil 1.C.I.3.b)bb)] und Zusammenfassung S. 80 ff. [Teil 1.C.I.4.].

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

diesen direkt einvernehmen konnte.344 Es ist unwahrscheinlich, dass der EGMR im Falle einer gänzlichen Geheimhaltung des Zeugen vor Verteidigung und Gericht und ohne Gewährung eines direkten Fragerechts zum selben Ergebnis gelangt wäre. Da der Verteidigung nach Auffassung des EGMR stets die Möglichkeit einer eigenen Glaubwürdigkeitsüberprüfung zu verbleiben hat, muss davon ausgegangen werden, dass Zeugenaussagen, die sich gänzlich der Kontrolle durch Verteidigung und Gericht entziehen, keinerlei Bedeutung für die Entscheidungsfindung zukommen darf.345 Konsequenterweise bedeutet dies ein Verwertungsverbot für Aussagen gesperrter Zeugen. Für eine Beweiswürdigungslösung besteht in diesem Falle kein Raum.346 Die Bedeutung des anonym gebliebenen V-Mannes sollte sich deshalb zukünftig darin erschöpfen, den Behörden im Ermittlungsverfahren Informationen zukommen zu lassen, die weitere Ermittlungen zur Schaffung einer eindeutigen Beweislage ermöglichen.347 Denn „die Konvention schließt es nicht aus, dass man sich im Ermittlungsstadium eines strafgerichtlichen Verfahrens auf Quellen wie anonyme Informanten verlässt. Die nachfolgende Verwertung anonymer Aussagen als ausreichende Beweismittel um eine Verurteilung zu begründen . . . ist jedoch eine andere Sache.“348 Der BGH hat in einer neusten Anfrage über die Zulassung einer verdeckten Videovernehmung von gefährdeten Zeugen selbst darauf hingewiesen, dass eine solche Verfahrensweise im Hinblick auf die Auslegung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK durch den EGMR geboten erscheint, „weil hiernach das Wissen dieser Zeugen nicht wirksam in die Hauptverhandlung eingebracht werden kann, wenn dem Angeklagten nicht die Möglichkeit einer unmittelbaren Konfrontation mit ihnen eingeräumt wird.“349 Ob damit die erwartete Wende der Rechtsprechung

344

Dazu oben S. 77 ff. [Teil 1.C.I.3.b)bb)(3)] Dazu oben S. 77 ff. [Teil 1.C.I.3.b)bb)(3)]. 346 So auch Wohlers, in: FS Trechsel, S. 813 (826 f.); Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 679 ff.; Kühne StV 2001, 73 (76); Simon, Beschuldigtenrechte, S. 138; wohl auch Wattenberg StV 2000, 688 (693). Vgl. auch die ganz herrschende Meinung in Österreich, dazu oben S. 51 ff. (Teil 1.B.II.2.).Gegen eine Beweiswürdigungslösung auch außerhalb der Problematik des anonymen Zeugen Ambos NStZ 2003, 14 (17); Pauly StV 2002, 290 (292); Gleß NJW 2001, 3606 f.; Fezer JZ 2001, 363 (364); Kunert NStZ 2001, 217. Zurückhaltender Eschelbach StV 2000, 390 (397 f.); wohl auch Renzikowski JZ 1999, 605 (612); Krauß, V-Leute, S. 178. Dem BGH zustimmend Detter NStZ 2003, 1 (6). 347 Vgl. auch Renzikowski JZ 1999, 605 (612). 348 EGMR [Kostovski/Niederlande] (Fn. 34); [Windisch/Österreich] (Fn. 35) Ziff. 30. 349 BGH (Fn. 15) wistra 2003, 109 (111). 345

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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zur Verwertbarkeit des Wissens behördlich gesperrter Zeugen eingeleitet ist, bleibt abzuwarten.

III. Lösungsweg: Erweiterte Zulassung alternativer Vernehmungsmethoden Die Annahme eines Verwertungsverbots für den Fall des behördlich gesperrten Zeugen ist nicht unproblematisch. Sie führt in das bekannte und oft diskutierte Dilemma eines „weichen Zeugenschutzes“, der die Gerichte unter Umständen dort zur Aufgabe zwingt, wo der Rechtsstaat am meisten angegriffen wird.350 Daher ist es richtig, wenn sich der BGH unter dem Eindruck der Straßburger Rechtsprechung wieder auf den Mittelweg alternativer Vernehmungsmethoden besinnt.351 Die bisherige Rechtsprechung (wonach optische und akustische Abschirmungsmaßnahmen grundsätzlich als unzulässig angesehen wurden)352 berücksichtigt nicht, dass die Konsequenz einer Ablehnung alternativer Vernehmungsmethoden die vollständige Sperrung des Zeugen und die Verwertung von Beweissurrogaten ist. Letzteres bedeutet nicht nur eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, sondern auch eine unzulässige Beschneidung der Beteiligungsrechte des Angeklagten. Vor dem Hintergrund eines Rückgriffs auf Beweissurrogate im Falle einer Sperrung des Zeugen erweist sich das gegen die optische und akustische Abschirmung vorgebrachte Argument, bei fehlender visueller Wahrnehmbarkeit des Zeugen könne keine ausreichende Glaubwürdigkeitsüberprüfung durch die Verteidigung stattfinden, als geradezu absurd.353 Die Forderung nach einer weitreichenden Beteiligung der Verteidigung führt hier letztendlich zum Gegenteil. Durch das Verbot der audiovisuellen Abschirmung und den Rückgriff auf Beweissurrogate wird der Verteidigung gänzlich die Möglichkeit genommen, einen Eindruck vom Zeugen zu gewinnen und seine Angaben einer kritischen Hinterfragung zu unterziehen.354 Im Falle einer direkten verdeckten Befragung des Zeugen (wie etwa im Falle einer verdeckten Videovernehmung gem. §§ 168e, 247a StPO) werden die Ver350

Weigend, Gutachten C, S. 41 m. w. Nw. So bereits früher Jung GA 1998, 313 (326); Schlüchter, in: FS Schneider, S. 445 (464 f.); Weider/Staechelin StV 1999, 51; Weider StV 2000, 48; Zacharias, Der gefährdete Zeuge, S. 247 ff.; Weigend, Gutachten C, S. 42; Krauß, V-Leute, S. 174. (Vgl. auch Nachweise Fn. 286.) 352 Vgl. BT-Drs. 13/3128, S. 6 (siehe bereits Fn. 288). Dazu bereits oben S. 85 ff. [Teil 1.C.II.2.a)bb)]. 353 Weider StV 2000, 48 (53). 354 Weider a. a. O. 351

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Teil 1: Heimliche Ermittler und Hauptverhandlung

teidigungsrechte zwar ebenfalls erheblich eingeschränkt,355 dem Angeklagten und den anderen Verfahrensbeteiligten verbleibt jedoch zumindest teilweise die Möglichkeit, eine eigene Glaubwürdigkeitsüberprüfung vorzunehmen. So kann wenigstens das verbale Aussageverhalten des Zeugen verfolgt werden,356 und es besteht die Gelegenheit, an diesen Ergänzungsfragen zu richten und ihn in Widersprüche zu verwickeln.357 Der EGMR steht alternativen Vernehmungsmethoden nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Die Ablehnung der Beschwerde im Fall Kok zeigt, dass sogar weitreichendere Abschirmungsmaßnahmen als die vom BGH beabsichtigten ein konventionsgemäßes Verfahren nicht unbedingt hindern.358 Es ist jedoch zu beachten, dass Straßburg einer solchen Verfahrensweise auch wesentliche Grenzen setzt. So kann (in Anbetracht des erheblichen Eingriffs in die Verteidigungsrechte) auf optische und akustische Abschirmungsmaßnahmen nur dann zurückgegriffen werden, wenn die Gerichte von der unbedingten Erforderlichkeit dieser Maßnahmen zum Schutze des Zeugen oder zur Gewährleistung der weiteren Verwendung eines heimlichen Ermittlers überzeugt sind. Zudem darf den unter optischer und akustischer Abschirmung erlangten Zeugenaussagen nur eine entsprechend geringe Bedeutung für die Entscheidungsfindung zukommen. Sie müssen maßgeblich durch andere, der Verteidigung voll zugänglichen Beweise, gestützt werden.359 Bereits aufgrund dieser Einschränkungen dürfte hinreichend gewährleistet sein, dass der Strafprozess durch die Zulassung optischer und akustischer Abschirmungsmaßnahmen nicht „zu einem allgemeinen Mummenschanz“ entartet.360

355

Vgl. EGMR [van Mechelen/Niederlande] (Fn. 59). Zur interessanten Frage, ob das nonverbale Aussageverhalten aus vernehmungspsychologischer Sicht überhaupt zuverlässige Glaubwürdigkeitskriterien bietet vgl. Lagodny, in: Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 167 (178) sowie Kilian-Herklotz, in: Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 195 (209 ff.). 357 Aus diesem Grund wird auch in der Schweiz die optische und akustische Abschirmung unter engen Voraussetzungen für zulässig angesehen vgl. BG (Fn. 115) EuGRZ 1999, 134 (141); Hug ZStR 1998, 404 (413). 358 BGH (Fn. 15) wistra 2003, 109 (111) hält nur solche Abschirmungsmaßnahmen für zulässig, bei denen das nonverbale Aussageverhalten erhalten bleibt. Im Fall [Kok/ Niederlande] [oben S. 46; Teil 1.B.I.2.f)] war der anonyme Zeuge jedoch sogar vollständig vor dem Bf. und seinem Verteidiger abgeschirmt. 359 Dazu bereits oben S. 75 ff. [Teil 1.C.I.3.b)bb)(2)] und S. 89 ff. [Teil 1.C.II.2.b)bb)]. 360 So Tiedemann/Sieber NJW 1984, 753 (756) zu früheren Vorschlägen alternativer Vernehmungsmethoden insbesondere von Rebmann NStZ 1982, 315. 356

D. Fazit

101

D. Fazit Die strafprozessuale V-Mann-Problematik ist in Deutschland bislang noch nicht konventionsgerecht gelöst. Die vom BGH angewandte „vorsichtige Beweiswürdigung“ der Aussagen eines gänzlich geheim gehaltenen Zeugen reicht für ein „counterbalancing procedure“ i. S. der Rechtsprechung des EGMR nicht aus. Da bei einer vollständigen Sperrung des Zeugen durch die Behörden und einem Rückgriff auf Beweissurrogate der Verteidigung praktisch keine Möglichkeit mehr verbleibt, um die Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen überprüfen und erschüttern zu können, stellt es einen Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz dar, wenn das Wissen des gänzlich geheim bleibenden Zeugen dennoch als Erkenntnisquelle genutzt wird.361 Letztendlich muss hier ein selbständiges Beweisverwertungsverbot – abgeleitet aus dem fair-trial-Grundsatz – greifen.362 Aus diesem Grunde ist es richtig, wenn der BGH über die Zulassung alternativer Vernehmungsmethoden nachdenkt, um nicht dort auf einen Zeugenbeweis verzichten zu müssen, wo er für eine wirksame Strafverfolgung unbedingt notwendig ist. Die bisherige Praxis, wonach Beweissurrogate dem visuell abgeschirmten Zeugen vorgezogen werden, dürfte überholt sein.363 Ein klares Bekenntnis des Gesetzgebers wäre hierfür wünschenswert.

361

Dazu oben Zusammenfassung S. 80 ff. [Teil 1.C.I.4.]. Zur Problematik der Beweisverwertungsverbote im Strafverfahren im Überblick Schroth JuS 1998, 969. 363 BGH (Fn. 15) wistra 2003, 109 (110). 362

Teil 2

Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz A. Problemstellung Eine unter dem Eindruck Straßburger Rechtsprechung364 gleichfalls stark in Kritik geratene Verfahrensweise ist die strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung eines Täters, der seine Straftat unter Einwirkung eines „polizeilichen Lockspitzels“ beging.365 Als „Lockspitzel“ wird derjenige bezeichnet, der im Auftrag oder mit Billigung der Strafverfolgungsbehörden bei der Bekämpfung gefährlicher und schwer aufklärbarer Kriminalität zur Überführung der Tatverdächtigen beiträgt, indem er sie zur Fortsetzung einer Straftat oder zur Begehung einer weiteren Straftat verlockt, ohne deren Vollendung zu wollen.366 Diese Vorgehensweise staatlicher Ermittlungsbehörden wird heute überwiegend als notwendig und legitim angesehen, um den neuzeitlichen Formen organisierter Kriminalität in entsprechender Weise entgegenwirken zu können.367 Besondere Bedeutung hat der Lockspitzel im Rahmen der Aufklärung von Dro364 Ausschlaggebend EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] Urt. v. 9. 6. 1998 – 44/ 1997/828/1034, Reports 1998-IV, in deutscher Übersetzung abgedruckt in StV 1999, 127; ÖJZ 1999, 434. 365 Hierzu bspw. Kinzig StV 1999, 288; Kempf StV 1999, 128; Taschke StV 1999, 632; Sommer NStZ 1999, 48; ders. StraFo 2000, 150; Kudlich JuS 2000, 951; Sinner/ Kreuzer StV 2000, 114; Endriß/Kinzig NStZ 2000, 271; Küpper JR 2000, 257; Roxin StV 2000, 369; Eschelbach, StV 2000, 390; Gropp/Schubert/Wörner, in: Rechtliche Initiativen, S. 69 (145); Lüderssen, in: FG BGH IV, S. 883 ff.; Wolter, ebda., S. 963 (979 ff.); Dannecker, ebda., S. 339; Maul, in: FG BGH, S. 569; Kutzner, StV 2002, 277; Ambos, NStZ 2002, 628; Renzikowski, in: GS Keller, S. 197; Herzog StV 2003, 410; Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 168; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 537. 366 BtmG-Scherp § 31 Rn. 108. Der Begriff des Lockspitzels umschreibt damit nicht nur die Begehung von Tatprovokationen (so eingeschränkt LR-Rieß § 163 Rn. 66), sondern auch die Bereitstellung von Tatgelegenheiten oder die Unterstützung des ohnehin tatbereiten oder tatentschlossenen Verdächtigen bei der Tat (BtmG-Scherp a. a. O.). Lockspitzel können „verdeckte Ermittler“ gem. §§ 110a ff. StPO oder „nicht offen ermittelnde Polizeibeamte“ (noeP) sein (vgl. dazu näher Schmidt, Kriminalistik 2000, 162 ff.). Überwiegend übernehmen diese Rolle allerdings Vertrauenspersonen der Polizei aus dem kriminellen Milieu (sog. V-Leute), da Polizeibeamte insbesondere in ethnischen Gruppen keinen Zugang haben (vgl. Hdb. BtmStR-Nestler § 11 Rn. 384).

A. Problemstellung

103

genkriminalität erlangt.368 Er wird aber auch in anderen Kriminalitätsbereichen wie bspw. der gewerbsmäßigen Eigentumskriminalität, Geldwäsche und des illegalen Waffenhandels eingesetzt.369 Der Einsatz staatlicher Lockspitzel ist allerdings gesetzlich nicht geregelt.370 Mit Blick auf das verfassungsrechtliche Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes erscheint dies problematisch.371 Dennoch akzeptiert die Judikatur die polizeiliche Praxis als „notwendige Maßnahme zur Bekämpfung besonders gefährlicher und schwer aufklärbarer Kriminalität“, vorausgesetzt, der Einsatz hält sich in durch das Rechtsstaatsprinzip gesetzte Grenzen.372 Die rechtsstaatlichen Grenzen ermittelt die Rechtsprechung im Wege einer Gesamtwürdigung. Der Bereich des rechtsstaatlich Zulässigen ist überschritten, wenn „das tatprovozierende Verhalten des Lockspitzels ein solches Gewicht erlangt hat, dass demgegenüber der eigene Beitrag des Täters in den Hintergrund tritt.“373 Als Beurteilungskriterien werden dabei: Grundlage und Ausmaß des gegen den Täter bestehenden Tatverdachts; Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme des Lockspitzels sowie Tatbereitschaft und entwickelte Eigeninitiative der provozierten Person herangezogen.374 Die Grenze der zulässigen Einwirkung liegt also nicht etwa dort, wo eine Anstiftung beginnt,375 sondern erst da, wo das Verhalten der heimlichen Ermittler „künstliche Kriminalität schafft“ und damit Sinn und Zweck der Strafverfolgung konterkariert werden.376

367 Vgl. Eschelbach StV 2000, 390 (392); KK-Senge Rn. 78, 55 m. w. Nw.; BtmGScherp § 31 Rn. 113 m. w. Nw. Zur ständigen Rechtsprechung vgl. noch unten Fn. 372. Dieser Argumentation gegenüber kritisch Kühne, in: FS Schneider, S. 3 (10 ff.); Lüderssen, in: FG BGH IV, S. 883 (887 f.); Hamm StV 2001, 81; Herzog StV 2003, 410 (412). 368 Hdb. BtmStR-Nestler § 11 Rn. 393; Hdb. BtmStR-Hund § 12 Rn. 489. 369 Hdb. BtmStR-Hund § 12 Rn. 489; KK-Senge Vor § 48 Rn. 55; LR-Rieß § 163 Rn. 63. Zum Einsatz von V-Leuten im Verfassungsschutz Frisch DriZ 2003, 199. 370 Vgl. hierzu jedoch die neueren Regelungen auf internationaler Ebene insbesondere zur Durchführung „kontrollierter Lieferungen“ bspw. Art. 12 EU-RhÜbk v. 29. 5. 2000 (AblEG C 197/1 v. 12. 7. 2000) und Art. 20 UN Convention against Transnational Organized Crime v. 15. 11. 2000 (Doc. A/55/383). 371 Vgl. bspw. Eschelbach StV 2000, 390 (392); Hamm StV 2001, 81 (82); ebenso Gropp/Schubert/Wörner, in: Rechtliche Initiativen, S. 69 (144 mit Fn. 330); BtmGScherp § 31 Rn. 111. Z. T. wird aber auch die Ansicht vertreten, dass die Vielgestaltigkeit der Sachverhalte und Ermittlungssituationen eine gesetzliche Regelung des Lockspitzeleinsatzes ausschließe (so etwa Hdb. BtmStrR-Hund § 12 Rn. 485). 372 BVerfG, Beschl. v. 26. 5. 1981 – 2 BvR 215/81, BVerfGE 57, 250 (284); BVerfG, Beschl. v. 10. 3. 1987 – 2 BvR 186/87, NJW 1987, 1874 (1875); BGH, Urt. v. 23. 5. 1984 – 1 StR 148/84, BGHSt 32, 345 (346); BGH, Urt. v. 18. 11. 1999 – 1 StR 221/99, BGHSt 45, 321 (324). 373 BGH (Fn. 372) BGHSt 32, 345 (347); BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (324). 374 Vgl. Zusammenfassung bei Lesch, Strafprozessrecht, S. 90. 375 So bspw. die Diskussion in Österreich vgl. Fuchs ÖJZ 2001, 495 (498).

104

Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

Geht die Lockspitzeltätigkeit über das zulässige Maß hinaus, indem der Verdächtige bspw. bedroht oder unter Ausnutzung seiner finanziellen Lage in die Enge getrieben wird, so führt dies zwar nach neuesten Aussagen des BGH zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.377 Straffreiheit für den rechtswidrig Provozierten folgt hieraus jedoch nicht. Die rechtswidrige Provokation und die Verletzung des Fairnessgrundsatzes soll weder zur Annahme eines Verfahrenshindernisses noch zur Befürwortung eines Beweisverwertungsverbots oder eines persönlichen Strafausschließungsgrundes führen. Der Provozierte ist vielmehr weiterhin strafrechtlich zu verfolgen, wobei die rechtswidrige Provokation als besonderer, gewichtiger und schuldunabhängiger Strafmilderungsgrund berücksichtigt werden muss und zur Unterschreitung der sonst schuldangemessenen Strafe führt. Dies kann – je nach Schwere der Einwirkung – zur Ablehnung eines besonders schweren Falles oder zur Annahme eines minderschweren Falles bis hin zur Einstellung des Verfahrens nach den §§ 153, 153a StPO bei Vergehen oder sogar zur Verwarnung mit Strafvorbehalt bei Verbrechen führen.378 Grundsätzlich wird also auch der unrechtmäßig Provozierte stets verfolgt und (wenngleich auch milder) bestraft.379 Die Literatur steht dieser Judikatur teils zustimmend380, zum großen Teil aber auch ablehnend gegenüber. Zahlreiche Autoren sind der Auffassung, dass die Strafzumessungslösung des BGH den konventionsrechtlichen Anforderungen des Art. 6 EMRK nicht gerecht wird bzw. eine nur mildere Bestrafung den durch die rechtswidrige Provokation eingetretenen Fairnessverstoß nicht hinreichend wiedergutmachen kann. Ein Täter, der in rechtsstaatswidriger Art und Weise zu einer Straftat provoziert werde, müsse vielmehr straffrei ausgehen.381

376 Vgl. Körner, Kriminalistik 2002, 449 (453): „Tatprovokation soll keine künstliche Kriminalität schaffen, sondern nur etwas realisieren, was der Tatverdächtige plant und will. Sie soll als Stressor nicht Unverdächtige in Straftäter, keine Betrüger in Dealer verwandeln, keine ehemaligen Dealer und keine Abhängigen in den Rückfall treiben . . .“ 377 Zuletzt grundlegend BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (335) = StV 2000, 57 (61.); bestätigt durch BGH, Urt. v. 30. 5. 2001 – 1 StR 42/01, BGHSt 47, 45 (47) = StV 2001, 492 (493). 378 BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (341) = StV 2000, 57 (62). 379 Diese Auffassung wurde in der Judikatur nicht immer vertreten. Früher waren verschiedene Strafsenate des BGH der Ansicht, dass eine Überschreitung der rechtsstaatlichen Grenze zur Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs und damit zu einem Verfahrenshindernis bzw. zu einem Strafausschließungsgrund führen muss; vgl. bspw. BGH, Urt. v. 15. 4. 1980 – 1 StR 107/80, NJW 1980, 1761; BGH, Urt. v. 6. 2. 1981 – 2 StR 370/80, NJW 1981, 1626 (1627); BGH, Urt. v. 11. 9. 1980 – 4 StR 16/80, NStZ 1981, 70 (71). Seit der grundlegenden Entscheidung des 1. Strafsenats in BGH (Fn. 372) BGHSt 32, 345 wird dieser Ansicht jedoch nicht mehr gefolgt. 380 So bspw. Lehmann StrFo 1999, 109 (110); Lesch JR 2000, 434; Weber NStZ 2002, 50; BtmG-Scherp § 31 Rn. 213; KK-Pfeiffer Einl. Rn. 98; 131 f.; KK-Senge Vor § 48 Rn. 85; HK-Krehl § 163 Rn. 13.

B. Die Spruchpraxis zur Zulässigkeit sog. Lockspitzeleinsätze

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Keines der in der Literatur vorgebrachten Argumente konnte die Rechtspraxis jedoch bisher bewegen, von dem eingeschlagenen Kurs abzuweichen.382 Warnende Stimmen meinen deshalb mit Blick auf eine mögliche Verurteilung in Straßburg, dass auch im Falle der polizeilichen Lockspitzelproblematik das letzte Wort noch nicht gesprochen sei.383 Auch hier soll im Kontext der gesamten Rechtsprechung der Straßburger Organe zu dieser Thematik näher untersucht werden, inwieweit diese Bedenken berechtigt sind.

B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zur Zulässigkeit sog. Lockspitzeleinsätze und die nationalen Reaktionen im Überblick Die Frage, ob ein polizeilicher Lockspitzeleinsatz mit den Garantien der EMRK kollidieren kann, beschäftigte die Straßburger Organe bisher – im Vergleich zu anderen Rechtsfragen – eher selten.384 Die meisten der „Lockspitzelbeschwerden“ wurden von der Kommission als offensichtlich unbegründet und damit unzulässig abgewiesen,385 ohne dass es einer Entscheidung des Gerichtshofs bedurfte. Die Kommission deutete allerdings frühzeitig an, dass dem tatprovozierenden Verhalten von Ermittlungsbehörden durch die EMRK, insbesondere durch den Grundsatz des fairen Verfahrens, Grenzen gesetzt sein können. Die bereits eingangs erwähnte Beschwerde Teixeira de Castro386 gegen Portugal war jedoch bislang der einzige Fall, in 381 So bspw. Kinzig StV 1999, 288 (292); Lüderssen, in: FG BGH IV, S. 883; Kühne StV 2001, 73 (76); Ambos NStZ 2002, 628 (632); Rzepka, Fairneß, S. 94; Makrutzki, Verdeckte Ermittlungen, S. 306 ff. [Beweisverwertungsverbot]; Kempf StV 1999, 128 (130); Taschke StV 1999, 632 (634); Sinner/Kreuzer StV 2000, 114 (117); Küpper JR 2000, 257 (259); Eschelbach StV 2000, 390 (395) Maul, in: FG BGH, S. 569 (577 ff.); Renzikowski, in: GS Keller, S. 197 (206); Herzog StV 2003, 410 (412); Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 178 [Verfahrenshindernis]; Roxin JZ 2000, 369; Wolter, in: FG BGH IV, S. 963 (980); in Bezug auf die österreichische Rechtslage Fuchs ÖJZ 2001, 495 (497) [materieller Strafausschließungsgrund]. Kritisch auch Sommer NStZ 1999, 48 (49 f.); Kudlich JuS 2000, 951 (954 ff.); Endriß/Kinzig NStZ 2000, 271 (272 ff.); Gropp/Schubert/Wörner, in: Rechtliche Initiativen, S. 69 (145). 382 Eine Wende könnte jedoch der Einstellungsbeschluss des BVerfG v. 18. 3. 2003 im NPD-Verbotsverfahren eingeleitet haben (abrufbar unter www.bundesverfassungs gericht.de/entscheidungen). Näher dazu Herzog StV 2003, 410. 383 Roxin JZ 2000, 369 (371), Maul, in: FG BGH, S. 569 (579). 384 Vgl. etwa die umfangreiche Rechtsprechung zum anonymen Zeugen siehe oben S. 24 ff. (Teil 1.B.I.). 385 Art. 27 Abs. 2 EMRK a. F. bzw. Art. 35 Abs. 3 EMRK n. F. Zu den Fällen siehe unten S. 113 ff. (Teil 2.B.I.2.). 386 EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 364).

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

dem eine Konventionsverletzung bejaht und überdies vom Gerichtshof bestätigt wurde.387

I. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane Bei einer genaueren Recherche konnten insgesamt 13 Beschwerden388 aufgefunden werden, in denen die Straßburger Konventionsorgane mit der Lockspitzelproblematik konfrontiert wurden. Nur zwei der Beschwerden überwanden die Hürde der Zulässigkeitsprüfung nach Art. 27 Abs. 2 a. F. bzw. Art. 35 Abs. 3 n. F. EMRK und gelangten zur Begründetheitsprüfung vor den EGMR (nachfolgend 1.). Die restlichen Verfahren wurden als unzulässig abgewiesen oder nach Art. 31 und 32 EMRK a. F. nicht an den Gerichtshof weitergeleitet (unten 2.). Beklagte Staaten waren Deutschland, Österreich, Großbritannien und die Schweiz sowie Norwegen, Portugal und Italien. 1. Erfolgreiche Beschwerden Im Zusammenhang mit Lockspitzeleinsätzen wurde die Verletzung der Konvention letztendlich nur in den Beschwerden Lüdi gegen die Schweiz389 und Teixeira de Castro gegen Portugal390 erfolgreich gerügt. Im Falle Lüdi spielte vor allem der Umstand eine Rolle, dass sich der Bf. mit dem Einwand der Tatprovokation nicht hinreichend verteidigen konnte, weil der V-Mann im anschließenden Strafverfahren für eine Befragung nicht zur Verfügung stand. Das Lüdi-Urteil beschäftigte sich somit hauptsächlich mit der Frage, ob ein Verstoß gegen das konventionsrechtliche Konfrontationsrecht (Art. 6 Abs. 3 lit. d i. V. m. Abs. 1 EMRK) gegeben war.391 Die Konventionsorgane befassten sich in der Beschwerde aber auch mit dem Problem, ob der Bf. durch den gesetzlich nicht geregelten Einsatz des verdeckten Ermittlers in seinen durch Art. 8 EMRK garantierten Rechten verletzt wurde und ob durch die 387 Im Fall Lüdi wurde ebenfalls ein unzulässiger Lockspitzeleinsatz vom Bf. geltend gemacht, erörtert wurde die Beschwerde dann allerdings hauptsächlich unter dem prozessualen Aspekt der Verwertung von V-Mann-Angaben trotz Nichtgewährung des Fragerechts für die Verteidigung. Siehe dazu oben S. 30 ff. [Teil 1.B.I.1.c)] sowie nachfolgend S. 107 ff. [Teil 2.B.I.1.a)]. 388 Da die entsprechenden Beschwerden mittels Stichwortsuche aus der Datenbank des EGMR herausgefiltert wurden, erhebt die Untersuchung auch hier keinen Anspruch auf Vollständigkeit, siehe Fn. 70. 389 EGMR [Lüdi/Schweiz] Urt. v. 25. 6. 1992, Serie A/238, in deutscher Übersetzung auszugsweise abgedruckt in EuGRZ 1992, 300. Vgl. auch oben S. 30 ff. [Teil 1.B.I.1.c)]. 390 EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 364). 391 Im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK wurde die Beschwerde bereits im vorangegangenen Kapitel S. 30 ff. [Teil 1.B.I.1.c)] ausführlich dargestellt.

B. Die Spruchpraxis zur Zulässigkeit sog. Lockspitzeleinsätze

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vorgenommene Strafminderung nicht die „Beschwer“ für eine Klage vor dem Straßburger Gerichtshof entfallen war. a) Lüdi gegen die Schweiz392 aa) Der Einwand fehlender Beschwer nach Art. 25 EMRK a. F. Der Einwand der „fehlenden Beschwer“ ist ein Zulässigkeitsproblem und musste daher von den Konventionsorganen im Fall Lüdi zuerst behandelt werden. Die Regierung war der Auffassung, dass der Bf. nicht mehr als „Opfer einer Konventionsverletzung“ angesehen werden könne, da er mit den selben Einwendungen bereits vor den heimatlichen Gerichten eine Herabsetzung der Strafe bewirkt hatte. Tatsächlich hatte das schweizerische Bundesgericht den Strafausspruch aufgehoben, weil bei der Strafbemessung die Auswirkung der verdeckten Fahndung auf das kriminelle Verhalten des Bf. nicht hinreichend berücksichtigt worden war. Das Strafmaß wurde anschließend von 3 Jahren auf 18 Monate reduziert.393 Kommission und Gerichtshof mussten also die Frage beantworten, ob die Herabsetzung der Strafe – angesichts des Ausmaßes der behaupteten Konventionsverletzung – bereits als eine angemessene Wiedergutmachung angesehen werden konnte oder ob die notwendige Beschwer einer Konventionsverletzung noch vorhanden war. Die Kommission befürwortete letzteres, weil die schweizerischen Gerichte die Herabsetzung der Strafe weder ausdrücklich noch der Sache nach mit den behaupteten Konventionsverletzungen begründet hatten.394 Der EGMR schloss sich dieser Auffassung an und verwarf den Einwand einer fehlenden Beschwer nach Art. 25 Abs. 1 EMRK a. F. mit der Begründung, eine Strafmilderung nehme der betreffenden Person die Opfereigenschaft nur dann, wenn die nationalen Behörden entweder ausdrücklich oder der Sache nach eine Konventionsverletzung anerkannt und Wiedergutmachung geleistet hätten. Aus den Entscheidungen der schweizerischen Gerichte, insbesondere aus den Entscheidungen des Bundesgerichts, ergebe sich jedoch nicht, dass die nationalen Behörden das Tätigwerden des V-Mannes als eine Verletzung der Konvention

392

Zum Sachverhalt siehe S. 30 ff. [Teil 1.B.I.1.c)]. Siehe S. 30 ff. [Teil 1.B.I.1.c)]. 394 EKMR [Lüdi/Schweiz] Zulässigkeitsentscheidung v. 10. 5. 1990 – 12433/86, Serie A/238, p. 25, in deutscher Übersetzung auszugsweise abgedruckt in EuGRZ 1992, 326 f. 393

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angesehen hätten. Sie seien vielmehr der gegenteiligen Auffassung gewesen, dass der V-Mann-Einsatz den Anforderungen der Konvention entsprach.395 bb) Die Rüge im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK Im Rahmen der Begründetheit äußerte der Bf. die Auffassung, dass der gegen ihn gerichtete Einsatz des verdeckten Ermittlers als Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens zu werten sei und damit den Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK genügen müsse. Der Polizeibeamte sei durch Lüge und Täuschung sein Freund und Geschäftspartner geworden und habe sich so in sein Privatleben eingeschlichen. Die Handlungen des verdeckten Ermittlers wären darauf gerichtet gewesen, das Verhalten des Bf. durch Täuschung und gegen seinen Willen aktiv zu beeinflussen. Denn das Ziel eines V-Mann-Einsatzes sei es nun mal, Informationen zu beschaffen, die in Kenntnis der wahren Identität des Agenten nicht preisgegeben worden wären. Im Hinblick auf die bis dahin in der Kommissionsspruchpraxis hervorgehobene „Freiwilligkeit des Handelns des Provozierten“396 argumentierte der Bf., dass auch die Täuschung eine Form von Zwang sei, welche ihn in seiner Entscheidungsfreiheit beeinträchtige. Er sei durch den Agenten verleitet worden, private Dinge offenzulegen. Mit Hilfe technischer Vorrichtungen habe die Polizei die Informationen dann genutzt, um ein Geständnis zu erlangen.397 Angesichts dieser Argumentation deutete die Kommission an, dass die bisherige Auffassung – die Tätigkeit eines V-Mannes der Polizei sei kein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens – möglicherweise zu revidieren sei.398 Letztendlich ließ sie diese Frage jedoch wegen der Besonderheit des zu entscheidenden Falles offen. In einem Balanceakt entschied sie: a) dass hinsichtlich der Telefonüberwachung ein Eingriff in die Rechte des Bf. nach Art. 8 Abs. 1 vorlag, der aber entsprechend den Voraussetzungen des Abs. 2 gerechtfertigt gewesen sei;399 b) dass die Frage, ob der V-Mann-Einsatz als solcher das Recht auf Privatleben berühre, offengelassen werden könne,400 da ein Eingriff jedenfalls deshalb anzunehmen sei, weil im Fall der Einsatz eines Lockspitzels und eine Telefonüberwachung zusammentrafen.401 In der Begründung hieß es: 395

EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 389) Ziff. 34. Vgl. dazu noch unten S. 113 ff. (Teil 2.B.I.2.). 397 Vorbringen des Bf. in EKMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 394) Serie A/238, p. 29, Ziff. 53 = EuGRZ 1992, 326. 398 EKMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 397) Ziff. 56. 399 EKMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 397) Ziff. 44–52. 400 EKMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 397) Ziff. 56. 401 EKMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 397) Ziff. 57 und 58. 396

B. Die Spruchpraxis zur Zulässigkeit sog. Lockspitzeleinsätze

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„Die bloße Überwachung von Telefongesprächen ist eine im wesentlichen passive, amtliche Erfassung der Gespräche, ohne dass die Behörden diese beeinflussen könnten. Die Mitwirkung eines V-Mannes änderte die Natur des Einsatzes, da die erfassten Gespräche sich zur Gänze oder teilweise aus der Beziehung ergaben, welche der Beamte mit dem Verdächtigen hergestellt hatte, einer Beziehung, die auf einem absichtlich herbeigeführten und aufrechterhaltenen Missverständnis des Verdächtigen bezüglich der Identität und der Beweggründe des Beamten beruhte. Durch dieses Täuschungsmanöver erhielt der Beamte Zugang zum Privatleben des Verdächtigen.“402 Die Mehrheit der Kommission bejahte deshalb im Falle Lüdi nicht nur einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK, sondern auch die Verletzung des Rechts auf Privatleben, weil eine solche Verfahrensweise nicht gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK „gesetzlich vorgesehen“ war.403 Der EGMR stimmte jedoch der durch die Kommission vorgenommenen Differenzierung nicht zu. Er lehnte einen Eingriff und eine Verletzung des Art. 8 Abs. 1 EMRK durch den Einsatz des verdeckten Ermittlers ab und verurteilte die polizeiliche Vorgehensweise allein im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die genaue Begründung des Gerichtshofs lautete: „Der Einsatz Tonis erfolgte im Zusammenhang mit einem Rauschgiftgeschäft über 5 kg Kokain. Die kantonalen Behörden, die einen Hinweis von der deutschen Polizei erhalten hatten, wählten einen vereidigten Polizeibeamten aus, um in einen, wie angenommen wurde, weitverzweigten Ring von Rauschgifthändlern einzudringen, welcher diese Menge von Rauschgift in die Schweiz einschleusen wollte. Der Zweck der Operation war die Verhaftung der Dealer bei der Übergabe der Drogen. Toni setzte sich daraufhin mit dem Bf. in Verbindung, welcher erklärte, bereit zu sein, ihm 2 kg Kokain im Werte von 200.000 SFr. zu verkaufen. Herrn Lüdi muss daher bewusst gewesen sein, dass er sich auf eine gem. Art. 19 des Betäubungsmittelgesetzes strafbare Handlung einließ und dass er folglich mit dem Risiko rechnen musste, auf einen V-Mann der Polizei zu treffen, dessen tatsächliche Aufgabe es war, ihn auffliegen zu lassen. Im Ergebnis liegt keine Verletzung von Art. 8 vor.“404 Der Gerichtshof bestätigte damit die restriktive Auffassung, dass der Einsatz heimlicher Ermittler für sich genommen nicht in das Recht auf Achtung der Privatsphäre nach Art. 8 Abs. 1 EMRK eingreift.405

402 403 404 405

EKMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 397) Ziff. 58. EKMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 397) Ziff. 59–75. EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 389) Ziff. 40 f. Dazu noch unten S. 128 ff. [Teil 2.C.I.1.b)].

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b) Teixeira de Castro gegen Portugal406 Im Fall Teixeira de Castro gelangte erstmals die „eigentliche Lockspitzelproblematik“ – die Verletzung der Konvention durch übermäßige Tatprovokation von Seiten der Ermittlungsbehörden – zur Entscheidung vor den Straßburger Gerichtshof. Nach wie vor ist dies der einzige Fall, in welchem die Konventionsorgane in diesem Zusammenhang einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK bejahten. Der Beschwerde lag dabei folgender Sachverhalt zugrunde: Zwei Zivilbeamte der portugiesischen Sicherheitspolizei sprachen im Zusammenhang mit der Beobachtung von Rauschgifthandel mehrmals einen gewissen V. S. an, ob er ihnen nicht mehrere Kilogramm Haschisch verkaufen könne. V. S. war verdächtig, in geringem Umfang mit Drogen – vor allem Haschisch – zu handeln, um damit die Drogen zum Eigenverbrauch bezahlen zu können. Die Beamten hofften, über den Kleindealer an dessen Lieferanten und damit an die Hintermänner der Drogengeschäfte zu gelangen. V. S., der nicht wusste, dass es sich bei den Interessenten um Polizeibeamte handelte, versprach einen Lieferanten zu finden, blieb jedoch trotz Drängen der V-Leute erfolglos. Am 30. 12. 1992 suchten die beiden Kriminalbeamten den Dealer erneut auf, gaben jedoch diesmal vor, am sofortigen Ankauf von Heroin interessiert zu sein. V. S. erklärte daraufhin, dass Francisco Teixeira de Castro in der Lage sein könnte, einen Verkäufer zu finden. Nachdem er die Adresse des Genannten von F. O. in Erfahrung gebracht hatte, führte er die Polizeibeamten selbst zu de Castro. Dieser erklärte sich auf erneute Anfrage der Polizisten und in Anbetracht der bereitstehenden 200.000 Escudos dazu bereit, das Heroin von einem Dritten (J. P. O.) zu besorgen. In der weiteren Folge brachte er das in der Zwischenzeit beschaffte Heroin in die Wohnung des V. S., wo er es den V-Leuten übergeben wollte. Diese gaben sich daraufhin zu erkennen und nahmen den Bf., V. S. und F. O. fest. Bei der anschließenden Untersuchung stellte sich heraus, dass der Bf. noch weitere Säckchen Heroin, Bargeld i. H. von 43.000 Escudos und ein Goldarmband bei sich hatte. Der Bf. wurde anschließend dem Untersuchungsrichter vorgeführt und in U-Haft genommen. De Castro versuchte mit dem Argument der unzulässigen Tatprovokation zunächst gegen seine Inhaftierung vorzugehen. Alle eingelegten Beschwerden wurden jedoch abgewiesen. Während die Verfahren gegen F. O. und J. P. O. eingestellt wurden, kam es gegen den Bf. und V. S. im August 1993 zur Anklage. In der Hauptverhandlung vernahm das Gericht verschiedene Zeugen, darunter die beiden Polizeibeamten und F. O. Im Dezember 1993 befand das Gericht Teixeira de Castro wegen des Handels mit Heroin für schuldig und verurteilte ihn zu sechs Jahren Freiheitsstrafe. Gegen V. S. wurde lediglich eine Geldstrafe verhängt, die einer zwanzigtägigen Freiheitsstrafe entsprach. In der Entscheidungsbegründung wies das Gericht darauf hin, dass der Einsatz eines verdeckten Ermittlers, auch wenn dieser als „agent provocateur“ agiert, nach innerstaatlichem Recht zulässig sei, vorausgesetzt, dass die aufrechtzuerhaltenden Werte den Verlust der individuellen Freiheit für den Beschuldigten rechtfertigen. Bezüglich des Einflusses der Polizeibeamten auf die Begehung der Straftat durch die Beschuldigten gelangte das Gericht zu der Auffas406

EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 364).

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sung, dass das Verhalten der Polizisten nicht entscheidend gewesen sei. Seine Entscheidung stützte es auf die Aussage des Zeugen F. O., des Mitangeklagten V. S., des Bf. selbst, „hauptsächlich“ aber auf die Aussagen der beiden Polizeibeamten. Die Rechtsmittel des Bf. hatten keinen Erfolg.

Teixeira de Castro wandte sich im Oktober 1994 an die Straßburger Konventionsorgane und beklagte eine Verletzung der Art. 6 Abs. 1, 8 Abs. 1 und des Art. 3 EMRK. Hauptsächlich beschwerte er sich darüber, kein faires Verfahren genossen zu haben, da ihn die Polizeibeamten angestiftet hätten, die Straftat, derentwegen er in der Folge verurteilt worden sei, zu begehen. Die ganz überwiegende Mehrheit von Kommission und Gerichtshof hielt diesen Einwand für gerechtfertigt und bejahte eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK.407 Die Kommission verwies u. a. auf das vom Supreme Court der Vereinigten Staaten entwickelte „principle of defence of entrapment“ und gelangte zu der Auffassung, dass hier erstmals ein Fall unzulässiger polizeilicher Anstiftung zu einer Straftat vorgelegen habe.408 Sie kritisierte die Vorgehensweise der Polizeibeamten ohne Ermittlungsauftrag und richterliche Kontrolle409 und verwies darauf, dass keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme vorlägen, dass der Bf. die fragliche Straftat auch ohne die Provokation der Polizisten begangen hätte.410 Der EGMR schloss sich mit großer Mehrheit dieser Auffassung an411 und begründete eine Verletzung des Grundsatzes der Fairness nach Art. 6 Abs. 1 EMRK folgendermaßen:412 1. Die Konvention schließt es nicht aus, im Stadium strafrechtlicher Ermittlungen und wenn die Besonderheit der Straftat es rechtfertigt, auf Quellen wie anonyme Informanten zurückzugreifen. Die nachfolgende Verwertung ihrer Aussagen durch das Gericht zwecks Begründung eines Schuldspruchs ist jedoch eine andere Sache.413 407 Die Frage nach einer möglichen Verletzung des Art. 8 Abs. 1 EMRK konnten die Konventionsorgane angesichts des befürworteten Verstoßes gegen den Grundsatz der Fairness offen lassen. 408 EKMR [Teixeira de Castro/Portugal] E v. 25. 2. 1997 – 25829/94, Reports 1998-IV, p. 1469 (1472) Ziff. 46–49. 409 EKMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 408) Ziff. 47. 410 EKMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 408) Ziff. 48. 411 EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 364), zur abweichenden Ansicht des Richters Butkevych vgl. ÖJZ 1999, 436, welcher derartige Verfahrenweisen bei besonders schweren Straftaten, wie Organ- und Menschenhandel, Zwang zur Prostitution, Terrorismus sowie illegalen Waffen- und Drogenhandel nicht als Verstoß gegen die Fairness des Verfahrens werten will. 412 Wie auch im vorangegangenen Kapitel hält sich die Darstellung der Begründung des Gerichtshofs weitestgehend an den originalen Wortlaut der Entscheidung. Zur anschaulicheren Darstellung der Argumentation des Gerichtshofs wird jedoch die Entscheidung nach eigenen Gliederungspunkten unterteilt. In den Fußnoten erfolgt ein Hinweis auf die Originalziffern der Urteilsbegründung des EGMR. 413 EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 364) Ziff. 35.

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

2. Der Einsatz von undercover agents muss selbst in Fällen der Bekämpfung des Rauschgifthandels beschränkt bleiben und gleichzeitig müssen Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Wenn auch die Zunahme des organisierten Verbrechens zweifellos verlangt, dass geeignete Maßnahmen ergriffen werden, nimmt das Recht auf eine faire Verfahrensweise gleichwohl einen so prominenten Platz ein, dass es Zweckmäßigkeitserwägungen nicht geopfert werden darf.414 3. Die in Art. 6 zum Ausdruck gebrachten allgemeinen Grundsätze des fairen Verfahrens sind auf alle Arten von Straftaten anwendbar, von den einfachsten bis zu den kompliziertesten. Das öffentliche Interesse kann den Gebrauch von Beweismitteln, die als Ergebnis polizeilicher Provokation gewonnen worden sind, nicht rechtfertigen.415 4. Der vorliegende Streitfall unterscheidet sich vom Falle Lüdi gegen die Schweiz. In letzterem war der Einsatz des vereidigten Polizeibeamten dem Untersuchungsrichter bekannt und die schweizerischen Behörden hatten aufgrund eines Hinweises der deutschen Strafverfolgungsbehörden ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Bf. eingeleitet. Die Rolle des Polizeibeamten hatte sich darauf beschränkt, als verdeckter Fahnder zu agieren.416 5. Im vorliegenden Fall haben die Handlungsweisen der Polizeibeamten diejenigen von undercover agents jedoch überschritten, weil sie zu einer strafbaren Handlung verleitet haben und weil nichts dafür spricht, dass ohne deren Intervention eine Straftat begangen worden wäre:417 a) Die Regierung hat nicht darauf abgehoben, dass die Polizeibeamten im Rahmen einer richterlich angeordneten und überwachten Maßnahme zur Bekämpfung des Betäubungsmittelhandels gehandelt hätten.418 b) Es wird nicht klar, warum die zuständigen Behörden eine Veranlassung hatten, den Bf. als Rauschgifthändler zu verdächtigen; im Gegenteil, er hatte keine Vorstrafen und es ist auch kein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden. Die beiden Polizeibeamten kannten ihn nicht, denn sie kamen nur durch die Vermittlung von V. S. und F. O. mit ihm in Kontakt.419 c) Im Übrigen befand sich das Rauschgift nicht in der Wohnung des Bf.; er verschaffte es sich von dritter Seite, die es ihrerseits von einer Dritten Person erhalten haben soll. Das Urteil des Rechtsmittelgerichts vom Mai 1994 weist auch nicht darauf hin, dass der Bf. im Zeitraum seiner Festnahme mehr Rausch414 415 416 417 418 419

EGMR EGMR EGMR EGMR EGMR EGMR

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364) 364) 364) 364) 364) 364)

Ziff. Ziff. Ziff. Ziff. Ziff. Ziff.

36. 36. 37. 39. 38. 38.

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gift in seinem Besitz hatte als diejenige Menge, welche die Polizeibeamten haben wollten, und der Bf. dabei weiter gegangen sei, als wozu er verleitet worden ist. Es gibt keinen Beweis für das Argument der Regierung, dass der Bf. zur Begehung von Straftaten bereit gewesen sei.420 d) Aus diesen Umständen muss die notwendige Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Polizeibeamten sich nicht darauf beschränkt haben, in rein passiver Art die strafbare Handlungsweise des Bf. zu ermitteln, sondern einen Einfluss in der Weise auf ihn ausübten, dass er eine Straftat begeht.421 e) Schließlich ist festzustellen, dass der Bf. im Wesentlichen auf der Grundlage der Aussagen der beiden Polizeibeamten verurteilt worden ist.422 6. Insgesamt führt der Einsatz der Polizeibeamten und die Verwertung seiner Ergebnisse im strafrechtlichen Erkenntnisverfahren zu dem Schluss, dass der Bf. von Anfang an und endgültig kein faires Verfahren hatte. Deshalb wurde Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt.423 In Anwendung von Art. 50 EMRK a. F. sprach der Gerichtshof dem Bf. eine Entschädigung in Höhe von 10 Mio. Escudos (ca. 48.700 Euro) zu. Er teilte die Auffassung der Kommission, dass dem Bf. ohne die Intervention der Polizeibeamten der Freiheitsentzug nicht auferlegt worden wäre und hielt diese Summe in Anbetracht der verlorenen Einkünfte während und nach der Haftzeit für gerechtfertigt.424 2. Erfolglose Beschwerden Wie eingangs bereits erwähnt wurden in Straßburg zahlreiche Beschwerden, die eine übermäßige Tatprovokation reklamierten, abgewiesen. Die ersten Beschwerden gegen den polizeilichen Einsatz von Lockspitzeln erreichten die Kommission in den 80er Jahren: a) A. B. gegen Deutschland 425 Im Verfahren A. B. gegen Deutschland war der Bf. vom Landgericht Berlin wegen illegalen Drogenhandels zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden. Nach den Feststellungen des Gerichts hatte ein Gelegenheitsinformant der polizeilichen Drogenfahndung den Angeklagten während eines offenen Strafvollzuges angesprochen, ob er nicht für einen Interessenten Amphetamin besorgen könne. Der Be420 421 422 423 424 425

EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 364) Ziff. EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 364) Ziff. EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 364) Ziff. EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 364) Ziff. EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 364) Ziff. EKMR [A. B./BRD] E v. 7. 10. 1985 – 10747/84.

38. 38. 38. 39. 49.

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

schuldigte hatte daraufhin Kontakt zu einem Geschäftsfreund in Belgien aufgenommen und den Deal zwischen dem Belgier und dem angeblichen Interessenten (der ebenfalls ein Vertrauensmann der Polizei war) vermittelt. Bei Übergabe des Amphetamins kam es schließlich zur Festnahme. Die deutschen Gerichte wiesen den Einwand des Beschuldigten, er sei in unzulässiger Weise zur Straftat provoziert worden, zurück. Voraussetzung hierfür sei, dass das Verhalten des Lockspitzels ein solches Gewicht erlangt habe, dass demgegenüber der Tatbeitrag des Beschuldigten ganz in den Hintergrund rücke. Dies sei jedoch vorliegend nicht der Fall gewesen, weil seine Entschlussfreiheit keinen erheblichen Einwirkungen ausgesetzt worden sei. Der Angeklagte habe frei darüber entscheiden können, ob er auf das Angebot des Informanten eingehe oder nicht.

Vor der Kommission problematisierte der Verurteilte hauptsächlich eine Verletzung des Art. 8 Abs. 1 EMRK. Er argumentierte im Wesentlichen damit, dass der Einsatz von Lockspitzeln im deutschen Recht nicht geregelt und deshalb als Eingriff in das Recht auf Privatleben unzulässig sei. Außerdem müsse diese Ermittlungsmethode in einer demokratischen Gesellschaft auf die Verfolgung von bereits hinreichend verdächtigen Personen begrenzt werden, dürfe sich also nicht gegen Unverdächtige richten. Die Kommission nahm sich dieser Argumentation nicht an. Sie verneinte einen Eingriff in die Rechte des Art. 8 Abs. 1 EMRK, da der Bf. freiwillig auf das Angebot der Informanten eingegangen sei und das Geschäft frei und in eigener Initiative organisiert habe. Die Tatsache, dass er schließlich verurteilt und bestraft wurde, sei nur eine Konsequenz seiner eigenen Handlung gewesen.426 Die Frage eines fairen Verfahrens wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht näher problematisiert.427 b) Radermacher und Pferrer gegen Deutschland 428 Unter dem Aspekt der Fairness wurde die polizeiliche Tatprovokation erstmals in der Beschwerde Radermacher und Pferrer gegen Deutschland betrachtet. Die Bf. beklagten einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, da sie der Staat zu einer Straftat angestiftet habe, um sie gerade wegen dieser Tat anklagen und verurteilen zu können.

426 EKMR [A. B./BRD] (Fn. 425): „He was, however, in no way obliged to enter into the deal. Rather he decided of his own free will to accept the offer and subsequently he organised the deal freely and on his own initiative. The fact that he was eventually convicted and sentenced was the consequence of his own action“ 427 Die Kommission prüfte im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK lediglich, ob das Urteil hauptsächlich auf den Aussagen anonymer Informanten beruhte. Da dies ganz offensichtlich nicht der Fall war, wurde eine mögliche Verletzung der Konvention verneint. 428 EKMR [Radermacher u. a./BRD] E v. 11. 10. 1990 – 12811/87.

B. Die Spruchpraxis zur Zulässigkeit sog. Lockspitzeleinsätze

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Die Bf. waren vom Landgericht München wegen Geldfälschung bzw. wegen Beihilfe zur Geldfälschung zu Freiheitsstrafen verurteilt worden. Nach den Feststellungen des Landgerichts hatten sich V-Leute der Polizei im „Halbweltmilieu“ der Angeklagten als potentielle Abnehmer für Falschgeld ausgegeben und dadurch das Interesse für den Deal geweckt. Eine unzulässige Tatprovokation wurde jedoch verneint, weil die Bf. generell zur Tat bereit gewesen seien und erhebliche Eigenaktivitäten entwickelt hatten. Das Landgericht berücksichtigte allerdings die Unterstützung der Straftaten durch die V-Leute als mildernden Faktor im Rahmen der Strafzumessung.

Die EKMR erklärte die Beschwerde für zulässig.429 Die erhoffte grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Thematik blieb dann allerdings aus. Nach erneuter Tatsachenaufnahme gelangte die Kommission im Hauptverfahren zu der Auffassung, dass die Initiative zur Ausführung der strafbaren Handlung nicht (wie vom Landgericht München angenommen) von den Lockspitzeln, sondern von den Bf. ausgegangen war. Mangels Anstiftung durch die Strafverfolgungsbehörden im zu entscheidenden Fall sah sie davon ab, zu der vorgelegten Streitfrage generell Position zu beziehen. Die Beschwerde wurde als unbegründet abgewiesen und mangels hinreichender Bedeutung auch nicht an den EGMR weitergereicht. Dennoch war die Entscheidung wegweisend. Sie deutete erstmals an, dass die Kommission möglicherweise anders entscheiden würde, falls der Anstoß zur Begehung der Straftat maßgeblich von den staatlichen Behörden ausginge. Straßburg erklärte sich damit grundsätzlich bereit, das Verhalten polizeilicher Lockspitzel am Maßstab des Art. 6 Abs. 1 zu messen. c) Kritsch gegen Österreich430 In der Sache Kritsch gegen Österreich beklagte der Bf. eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK, als er wegen eines größeren Drogendeals unter vermutlicher Mithilfe eines Lockspitzels verurteilt wurde. Er gab zwar zu, in mehreren Fällen von sich aus mit Haschisch gehandelt zu haben, behauptete jedoch (ohne dies näher darzulegen) in diesem Falle von einem Suchtgiftfahnder zur Straftat verleitet worden zu sein. Zusätzlich machte er einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK geltend, weil sein Antrag auf diesbezügliche Beweiserhebung vom Gericht abgelehnt worden war. Die Kommission bemerkte hierzu, dass das Recht des Angeklagten auf Ladung und Anhörung von Entlastungszeugen nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nicht absolut sei, sondern es grundsätzlich im Ermessen der nationalen Gerichte 429 EKMR [Radermacher u. a./BRD] Zulässigkeitsentscheidung v. 8. 12. 1988 – 12811/87, auszugsweise übersetzt in EuGRZ 1989, 468. 430 EKMR [Kritsch/Österreich] E v. 11. 5. 1992 – 16514/90.

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liege, über eine angemessene Beweiserhebung zu entscheiden. Da der Bf. nicht näher dargelegt hatte, in welcher Art und Weise er mit dem behaupteten VMann in Kontakt gekommen sei, gelangte die Kommission zu dem Ergebnis, dass nichts auf eine Tatprovokation durch die staatlichen Behörden hinweise.431 d) R. Müller gegen Österreich432 Ähnlich verlief die Beschwerde R. Müller gegen Österreich. Hier stand fest, dass der Angeklagte mit Hilfe polizeilicher Lockspitzel überführt worden war. Der Bf. hatte allerdings gleichfalls zugegeben, bereits vorher im Drogenhandel tätig gewesen zu sein. Die Gerichte erster und zweiter Instanz lehnten es deshalb ab, die Beteiligung der V-Männer bei der Strafverfolgung zu berücksichtigen, weil die Absicht mit Drogen zu handeln nicht durch die Lockspitzel hervorgerufen wurde. Die EKMR verneinte mit der selben Begründung eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK, stellte aber erstmals ausdrücklich fest: „The fairness of criminal proceedings may be affected by the fact that an undercover agent of the police authorities played an important part in bringing about the offence which is the basis of the criminal charge . . .“. In Bezug auf eine mögliche Verletzung des Art. 8 Abs. 1 EMRK blieb die Kommission bei der Auffassung, dass der Einsatz von heimlichen Ermittlern für sich genommen nicht in das Recht auf Privatleben eingreife und verwies auf die Ausführungen des Gerichtshofs im Falle Lüdi.433 e) Myrdal gegen Norwegen434 In der Sache Myrdal gegen Norwegen war der Bf. im Zusammenhang mit einem geplanten Sprengstoffanschlag auf ein Asylantenheim zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Polizei hatte hier von einem Informanten mehrere Hinweise über die bevorstehende Straftat bekommen und den Bf. festgenommen, als er den für das Vorhaben benötigten Sprengstoff in seiner Wohnung einlagerte. Myrdal behauptete, von der Polizei in Kooperation mit dem Informanten zu den Sprengstoffdelikten provoziert worden zu sein. Die Beweisaufnahme vor Gericht ergab allerdings, dass

431 EKMR [Kritsch/Österreich] (Fn. 430): „In his submissions before the Commission the applicant has likewise in no way described his contacts with the alleged undercover agent. There is consequently nothing to show that the applicant was, in a manner incompatible with his rights under the convention, incite by a third person for whom the respondent Government would be responsible, to procure hashish.“ 432 EKMR [Müller/Österreich] E v. 28. 6. 1995 – 22463/93. 433 Vgl. auch oben EKMR [A. B./BRD] (Fn. 425) sowie EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 404). 434 EKMR [Myrdal/Norwegen] E v. 13. 5. 1992 – 17389/90.

B. Die Spruchpraxis zur Zulässigkeit sog. Lockspitzeleinsätze

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sich die Polizei nur passiv verhalten hatte, ohne auf das Geschehen Einfluss zu nehmen oder gar zu einer Straftat (d.h. die Beschaffung und Lagerung von Sprengstoff) anzustiften.

Die Kommission griff diese Feststellungen auf und verneinte einen möglichen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil der Bf. die polizeiliche Veranlassung zur Straftat nicht substantiiert darlegen konnte und die Gerichte über diesen Punkt hinreichend Beweis erhoben hatten. f) Speckmann gegen Großbritannien435 Ebensowenig erfolgreich war die Beschwerde Speckmann gegen Großbritannien. Hier hatten V-Leute (Agenten der amerikanischen und englischen Zollbehörde) erheblichen Einfluss auf das Tatgeschehen genommen.436 Die Bf. konnte jedoch eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht mehr geltend machen, da sie auf ihre Berufung hin freigesprochen worden war. Sie beklagte deshalb hauptsächlich einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK mit der Begründung, dass eine gesetzliche Regelung des V-Mann-Einsatzes im englischen Recht nicht vorhanden sei und deshalb der Bürger vor unzulässigen Eingriffen in sein durch Art. 8 EMRK garantiertes Recht auf Privatleben nicht hinreichend geschützt werde. Auch hier hatte diese Rüge jedoch keine Aussicht auf Erfolg.437 g) M. H. Shahzad 438 und K. L.439 gegen Großbritannien Die nach der Beschwerde Teixeira de Castro eingereichten Rügen unzulässiger Tatprovokation verliefen gleichfalls erfolglos. Die unmittelbar nachfolgenden Verfahren der Bf. M. H. Shahzad und K. L. richteten sich gegen das Vereinigte Königreich. Sie betrafen wiederum einen Fall illegalen Drogenhandels, an dem heimliche Ermittler beteiligt waren: Ein Informant der U.S. Drogenfahndung bekam in Pakistan Kenntnis davon, dass Drogen nach Großbritannien geliefert werde sollten. Nach Rücksprache mit der bri435

EKMR [Speckmann/Großbritannien] E v. 12. 4. 1996 – 27007/95. In diesem Fall ging es um eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Hintergehung von Exportvorschriften und den Verdacht auf „Export von kriegstauglichem Material“. 437 EKMR [Speckmann/Großbritannien] (Fn. 435): „The Commission notes that the actions of Mr. Supnick [the undercover agent] and the Customs authorities took place in the context of a business deal for the purchase of 85 capacitors, 40 of where believed to be intended for use in a nuclear weapon. The Commission is therefore of the view that, assuming the responsibilities of the State were engaged (. . .) the activities of Mr. Supnick or the authorities did not in any event affect private life within the meaning of Article 8 . . .“. Vgl. auch oben EKMR [A. B./BRD] (Fn. 425) und EKMR [Müller/Österreich] (Fn. 432). 438 EKMR [Shahzad/Großbritannien] E v. 22. 10. 1997 – 34225/96. 439 EKMR [K. L./Großbritannien] E v. 22. 10. 1997 – 32715/96. 436

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tischen Drogenfahndung suggerierte der V-Mann gegenüber dem Verdächtigen Shahzad (S.), dass er einen Pilot der Airline kenne, der als Kurier genutzt werden könne. Der Bf. belieferte den V-Mann daraufhin mit 20 kg Heroin, das durch einen Offizier der britischen Zollbehörde nach Großbritannien gebracht wurde. Anschließend überzeugte der V-Mann den S. nach England zu kommen und das Heroin entgegenzunehmen. Bei einem darauf folgenden Treffen mit K. L. (der offensichtlich an dem Kauf des Heroins interessiert war) wurden beide von den englischen Strafverfolgungsbehörden festgenommen. Die Beschuldigten wurden wegen illegaler Einfuhr von Drogen zu 16 bzw. 20 Jahren Haft verurteilt. Die Berufung an das House of Lords hatte keinen Erfolg. Der Einwand des Bf. S., dass er nicht strafrechtlich verfolgt werden könne, weil er durch heimliche Ermittler zur Straftat angestiftet worden sei, verneinten die Richter mit dem Hinweis, dass der Bf. selbst die Initiative zu dem Treffen mit dem V-Mann ergriffen und dabei von Anfang an deutlich gemacht habe, dass er willens und in der Lage sei, den Export von Drogen aus Pakistan zu arrangieren.

Die EKMR wies die Beschwerden ebenso als unzulässig ab. In Abgrenzung zum Fall Teixeira de Castro begründete sie ihre Entscheidung folgendermaßen: Einerseits sei zu berücksichtigen, dass die V-Männer den Import des Heroins nach Großbritannien (und damit die Begehung der Straftat durch die Bf.) erst ermöglicht hatten – denn letztendlich erfolgte die Einfuhr der Drogen ja unter Mithilfe eines Offiziers der Zollbehörde. Andererseits sei aber auch zu beachten, dass es nicht die V-Männer waren, welche den Bf. S. kontaktierten, um ihm die Einfuhr des Heroins nach Großbritannien anzubieten. Vielmehr hätten diese nur auf das Angebot des S. reagiert. Im Gegensatz zum Fall Teixeira de Castro könne daher eine Anstiftung der Bf. durch die V-Männer nicht festgestellt werden. Darüber hinaus sei S., anders als der Bf. Teixeira de Castro, seit langer Zeit im Drogengeschäft involviert gewesen und habe gezeigt, dass er willig und fähig war, die Straftaten auch ohne Beteiligung der V-Männer zu begehen. h) S. E. gegen die Schweiz440 Der Fall S. E. gegen die Schweiz wurde bereits im vorangegangenen Kapitel näher dargestellt. Der Bf. hatte eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gerügt, da er den V-Mann während des Strafverfahrens nicht offen befragen konnte.441 Abgesehen davon beklagte er aber auch einen Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil er durch den V-Mann (ohne gesetzliche Grundlage, ungerechtfertigt und unverhältnismäßig) zu einer Straftat verleitet worden sei. 440 441

EKMR [S. E./Schweiz] E v. 4. 3. 1998 – 28994/95. Siehe dazu S. 44 f. [Teil 1.B.I.2.e)].

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Der Bf. hatte gehofft, im Hinblick auf Art. 8 EMRK eine Änderung der Entscheidungspraxis herbeiführen zu können. Die Kommission hielt jedoch an ihrer bisherigen Auffassung fest und verwies auf das Argument des Gerichtshofs, dass eine Person, die sich strafbar mache, damit rechnen müsse, auf einen heimlichen Ermittler der Polizei zu treffen.442 Der Einwand eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK scheiterte auch bei dieser Beschwerde daran, dass der Bf. die Anstiftung zur Straftat durch den VMann nicht substantiiert darlegen konnte. Die Kommission verwies deshalb auf die Feststellungen des Bundesgerichts, wonach zwar der V-Mann den Bf. kontaktiert hatte, dies jedoch erst zu einem Zeitpunkt, zu dem für alle Beteiligten feststand, dass der Deal stattfinden und der Bf. die zuständige Kontaktperson sein würde. i) Kempter gegen Deutschland 443 In der weiteren Folge wies der EGMR eine Beschwerde gegen Deutschland als offensichtlich unbegründet zurück. In der Sache Kempter gegen Deutschland war der Bf. wegen des Verkaufs von Drogen an einen V-Mann der Polizei festgenommen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Mangels substantiierten Vortrags ging der Straßburger Gerichtshof allerdings nicht näher auf das Problem der Tatprovokation ein, sondern ließ es bei der Feststellung bewenden: „His [the applicant’s] submissions do not disclose any appearance of a breach of his right to a fair trial or of his rights to defence under Article 6 §§ 1 and 3.“444 k) Calabro gegen Italien445 Die bislang letzte Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs betraf einen Fall des Lockspitzeleinsatzes gegen einen Drogenhändler in Italien in Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden. Im Fall Calabro gegen Italien wurde in Absprache zwischen den italienischen und den deutschen Strafverfolgungsbehörden durch einen (deutschen?) V-Mann 20 kg Kokain nach Italien verbracht, um den Bf., der sich als Kaufinteressent erwiesen hatte, während der Übergabe der Drogen festzunehmen. Die Übergabe und anschließende Festnahme wurde audiovisuell überwacht und festgehalten. Das erstinstanzliche Gericht verurteilte den Bf. wegen illegalen Drogenhandels in großem Umfange zu 15 Jahren Freiheitsstrafe und Geldstrafe. Das Urteil stützte sich maßgeblich auf 442 443 444 445

Siehe dazu oben EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 404). EGMR [Kempter/BRD] E v. 4. 5. 1999 – 33555/96 (Section IV). EGMR [Kempter/BRD] (Fn. 443). EGMR [Calabro/Italien] E v. 21. 3. 2002 – 59895/00 (Section I).

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die Videoaufnahme, auf die Aufnahme von Telefongesprächen und auf die Zeugenaussagen von deutschen und italienischen Polizeibeamten über den Verlauf der Polizeioperation. Zusätzlich untermauerte das Gericht die Beweisführung mit aus den Akten hervorgehenden Aussagen des V-Mannes „Jürgen“, der – trotz aller Anstrengungen des italienischen Gerichts – nicht vernommen werden konnte, weil er nach Auskunft der deutschen Behörden „unauffindbar“ war. Das Berufungsgericht erhöhte die gegen den Bf. verhängte Strafe sogar noch. Weitere Rechtsmittel hatten keinen Erfolg.

Der Gerichtshof hielt die gegen das Vorgehen der italienischen Strafverfolgungsbehörden gerichtete Beschwerde wegen Verstoßes gegen den Fairnessgrundsatz sowohl unter dem Aspekt der Nichtgewährung des Fragerechts (Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK) als auch unter dem Aspekt des polizeilichen Lockspitzeleinsatzes für offensichtlich unbegründet. Das Fragerecht sei nicht verletzt worden, weil die italienischen Behörden alle notwendigen Anstrengungen unternommen hatten, um eine Vernehmung des VMannes zu erreichen. Ihnen könne nicht die Pflicht obliegen, nach einem Zeugen zu fahnden, der sich im Ausland befinde und dort untergetaucht sei. Außerdem seien die Aussagen des V-Mannes nicht die einzigen Beweise gewesen, auf welche die Gerichte ihre Entscheidung gestützt hatten. Eine unzulässige Tatprovokation lehnte der Gerichtshof in Abgrenzung zum Fall Teixeira de Castro ab, weil sich der V-Mann darauf beschränkt hatte, den Import und den Verkauf der Drogen anzubieten, während der Bf. ihn freiwillig kontaktiert, ihn bezahlt und das Treffen zur Übergabe organisiert hatte, wobei er selbst aufzeigte, an einem internationalen Drogenhandelsnetzwerk beteiligt zu sein. Im Lichte aller Tatsachen könne nicht geschlussfolgert werden, dass der V-Mann durch Ausübung irgendeiner Art von Druck eine Straftat provoziert habe, welche ohne seine Intervention nicht begangen worden wäre. 3. Für zulässig befundene Beschwerden Derzeit sind wieder zwei Verfahren vor dem EGMR anhängig, in denen eine Verletzung der Fairness des Verfahrens aufgrund polizeilichen Lockspitzeleinsatzes gerügt wird. Die Bf. beklagen zum einen eine übermäßige Tatprovokation der Strafverfolgungsbehörden. Zum anderen behaupten sie, dass ihnen durch die „Zurückhaltung von Beweismaterial“ die Möglichkeit genommen wurde, diese nachzuweisen. Der EGMR hat beide Beschwerden für zulässig erklärt. Eine Begründetheitsprüfung steht noch aus. a) Lewis gegen Großbritannien446 In der Sache Lewis gegen das Vereinigte Königreich wurde der Bf. von der Polizei in Besitz von Falschgeld festgenommen. Die Situation war durch zwei verdeckte

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Ermittler und verschiedene Personen herbeigeführt worden, von denen der Bf. vermutete, dass es sich um Informanten der Polizei handelte. Der Bf. war zum Zeitpunkt das Lockspitzeleinsatzes arbeitslos und beträchtlich verschuldet. Zuvor war er als „accounts director“ in einer Firma angestellt, die später in Konkurs ging. Nach Darstellung des Bf. war er zu einem Treffen gegangen, indem er über den Verkauf von Aktien der bankrotten Firma verhandeln wollte. Bei diesem Treffen sei er gedrängt worden – als Teil der Transaktion – Falschgeld zu besorgen. Er ging hierauf ein und wendete sich an einen Dritten, der gefälschte Banknoten liefern konnte. Die verdeckten Ermittler hatten teilweise Gespräche aus den Verhandlungen mit dem Bf. mitgeschnitten. Aus ihnen ging einerseits hervor, dass der Bf. nicht unwillig war in derartige Geschäfte verwickelt zu werden. Andererseits zeigten sie auch, dass der Bf. durch die verdeckten Ermittler aktiv ermutigt und in einem gewissen Grad auch gedrängt wurde, eine höhere als die zu zunächst vereinbarte Summe Falschgeld zu liefern. Die Festnahme erfolgte bei der vereinbarten Übergabe des Falschgeldes. Bei der Durchsuchung der Wohnung des Bf. konnte kein weiteres Falschgeld mehr gefunden werden Der Bf. war der Auffassung, zur Begehung der Straftat durch die Strafverfolgungsbehörden verleitet worden zu sein und verlangte die Einstellung des Verfahrens. Darüber hinaus verlangte er vom Richter die Staatsanwaltschaft aufzufordern, mehr Informationen darüber offenzulegen, inwieweit die beteiligten Personen verdeckte Ermittler und Informanten der Polizei waren. Diese Anträge wurden abgewiesen. Der Richter gab stattdessen einem Antrag der StA statt, verschiedenes Beweismaterial (die verdeckten Ermittler betreffend) im öffentlichen Interesse zurückzuhalten. Der Richter war der Auffassung, dass in dem zurückgehaltenen Material nichts enthalten war, was dem Beschuldigten hätte helfen können. Weitere Anträge der Verteidigung (etwa das durch die verdeckten Ermittler erlangte Beweismaterial auszuschließen gem. Art. 78 Police and Criminal Evidence Act 1984) hatten keinen Erfolg. Der Bf. wurde schließlich zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt.

b) Edwards gegen Großbritannien447 In der Sache Edwards gegen Großbritannien wurde der Bf. in Besitz eines Päckchens, welches 4,83 kg Heroin enthielt, festgenommen. Auch hier waren verdeckte Ermittler und Informanten der Polizei maßgeblich an der Herbeiführung der Situation beteiligt. Nach den Einlassungen des Bf. war er im Glauben, an der Überstellung von gestohlenen Juwelen, nicht aber von Drogen beteiligt zu sein. Trotz zahlreicher, am Deal mitwirkender (Haupt)Personen war der Bf. der Einzige, der verhaftet und angeklagt wurde. Auch in diesem Verfahren gewährte das Gericht die Zurückhaltung von Beweismaterial „im öffentlichen Interesse“. Die Verteidigung erhob vergeblich den Einwand

446 EGMR [Lewis/Großbritannien] Zulässigkeitsentscheidung v. 10. 9. 2002 – 40461/98 (Section IV). 447 EGMR [Edwards/Großbritannien] Zulässigkeitsentscheidung v. 10. 9. 2002 – 39647/98 (Section IV).

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unzulässiger Tatprovokation. Der Bf. wurde wegen Drogenbesitzes der „Klasse A“ zu neun Jahren Haft verurteilt. Weitere Rechtsmittel hatten keinen Erfolg.

II. Reaktionen einzelner Staaten auf die Urteile des EGMR Das Urteil des EGMR im Falle Teixeira de Castro gab nicht nur in Deutschland Anlass zu Diskussionen. Dies verwundert wenig angesichts der Tatsache, dass in den meisten Ländern zumindest der Drogenscheinkauf durch verdeckte Ermittler als zulässig angesehen wird448 und die Praxis i. d. R. darüber hinausgeht.449 In nur wenigen nationalen Rechtsprechungen hat sich in diesem Zusammenhang die Auffassung durchsetzen können, dass eine unzulässige Tatprovokation auch Auswirkungen auf die strafrechtliche Verfolgbarkeit des Provozierten haben muss.450 Mit der Feststellung, dass bei unzulässigem Lockspitzeleinsatz der Grundsatz der Fairness nach Art. 6 Abs. 1 EMRK von Anfang an und endgültig verletzt sein kann, hat der EGMR damit einen Punkt aufgegriffen, der von vielen Rechtsordnungen bislang ignoriert wurde. Welche Reaktionen die Entscheidung Teixeira de Castro in Portugal hervorrief, konnte anhand des zur Verfügung stehenden Materials leider nicht ermittelt werden. Beispielhaft soll deshalb im Folgenden auf die Diskussion in den deutschsprachigen Nachbarländern Österreich und Schweiz näher eingegangen werden.451 1. Österreich § 25 öStPO untersagt den Sicherheitsbehörden „bei strengster Ahndung“ „. . . auf die Gewinnung von Verdachtsgründen oder auf die Überführung eines Verdächtigen dadurch hinzuwirken, daß er zur Unternehmung, Fortsetzung oder Vollendung einer strafbaren Handlung verleitet . . . wird“. Dennoch betätigen sich auch in Österreich heimliche Ermittler als sog. Scheinkäufer (verdeckte Fahndung).452 Begründet wird dies hauptsächlich mit 448

Vgl. Gropp, in: Besondere Ermittlungsmaßnahmen, S. 815 (882 ff. Tabelle 5). So etwa kritisch zur österreichischen Rechtslage Kandler ÖJZ 1987, 134 (138): „Es wird doch niemand ernsthaft behaupten wollen, dass sich der verdeckte Fahnder, um erfolgreich zu sein, nur passiv verhalten und sich als Kaufinteressent gerieren kann, ohne selbst aktiv zu werden und den anderen zur Beschaffung oder Übergabe von Suchtgift zu verleiten.“ Vgl. auch Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 502. 450 Vgl. dazu Gropp, in: Rechtliche Initiativen, S. 933 (977). 451 Vgl. auch Endriß/Kinzig NJW 2001, 3217 (3221). 452 Zur Zulässigkeit eines solchen Vorgehens vgl. OGH, Urt. v. 19. 11. 1996 – 14 Os 44, 142/96, ÖJZ-LSK 1997/70 in Anlehnung an die im Jahre 1980 ergangene Empfehlung des Gesundheitsausschusses des Parlamentes, worin ausdrücklich darauf 449

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dem Argument, dass beim Scheinkauf niemand zur Begehung einer strafbaren Handlung verleitet werde, weil der Fahnder hier keinen Tatentschluss erwecke, sondern lediglich einem bereits zur Tat Entschlossenen vortäusche, ein geeignetes Objekt für den Kaufabschluss zu sein.453 Bis zum EGMR-Urteil Teixeira de Castro sah die Rechtsprechung keinen Grund von einer Bestrafung des Täters abzusehen454 oder diese zu mildern,455 falls ein verdeckter Fahnder über das zulässige Maß der Beteiligung hinausging und damit gegen § 25 öStPO verstoßen wurde. Mittlerweile kündigte der OGH jedoch an, im Falle einer unzulässigen Tatprovokation eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK anzuerkennen.456 Wann ein Fall unzulässiger Tatprovokation vorliegt, beantwortet der OGH allerdings etwas widersprüchlich. Obwohl § 25 öStPO nach allgemeiner Auffassung jegliche Verhaltensweisen verbietet, welche die Qualität einer Anstiftungshandlung erreichen, soll eine unzulässige Tatprovokation dann nicht vorliegen, wenn der Täter zur Begehung der Straftat bereits geneigt gewesen sei. Angesichts der Tatsache, dass nach h. M. auch Tatgeneigte angestiftet werden können, verwundert diese Aussage.457 Die Frage, welche Konsequenzen im Falle einer gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßenden Tatprovokation gezogen werden müssen, ließ der OGH bislang offen. Die Literatur geht vom Vorliegen eines materiellen Strafausschließungsgrundes458 bzw. eines Nichtigkeitsgrundes gem. § 345 Abs. 1 Ziff. 5 öStPO459 aus. Auch in der Diskussion über eine gesetzliche Regelung der verdeckten Fahndung wurde die Problematik der Konsequenzen einer übermäßigen Tatprovokahingewiesen wurde, dass es mit der österreichischen Rechtsordnung vereinbar sei, wenn sich „ein Organ der Sicherheitsbehörde oder ein sog. Vertrauensmann (V-Mann) der Polizei an einen mutmaßlichen Suchtgifthändler wendet, sich als Kaufinteressent ausgibt und womöglich die Überlassung von Suchtgift sowie die Überführung des Täters erwirkt“, 420 BlgNR 15.GP, 5 f. 453 Vgl. Foregger/Litzka/Matzka, SMG, Erläuterungen XII zu § 28. Kritisch zur verdeckten Fahndung bspw. Steiniger ÖJZ 1981, 308; Kandler ÖJZ 1987, 134 (138); Unterwaditzer ÖJZ 1992, 249 (253 ff.); Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 502. 454 Nach der österreichischen Judikatur ist § 25 öStPO als eine an die Sicherheitsorgane gerichtete – nicht unter Nichtigkeitssanktion stehende (und damit kein Beweisverwertungsverbot begründende) – Verfahrensbestimmung anzusehen, aus der keine materiellrechtlichen Folgerungen hinsichtlich der Strafbarkeit eines tatbestandsmäßigen Verhaltens abgeleitet werden können, vgl. OGH, Urt. v. 20. 4. 1956 – 5 Os 182/ 56, SSt 27 Nr. 20; OGH, Urt. v. 8. 5. 1979, 11 Os 15/79, SSt 50 Nr. 30; vgl. hierzu auch Foregger/Litzka/Matzka, SMG, Erläuterungen XII.3 zu § 28; Foregger/Fabrizy, StPO, § 25 Rn. 4; Mayerhofer, StPO, § 25 Ziff. 11. 455 Auch keine Berücksichtigung der Tatprovokation im Rahmen der Strafzumessung vgl. OGH, Urt. v. 31. 01. 1989, 15 Os 159/89. 456 OGH, Urt. v. 14. 12. 1999, 11 Os 86/99 = EvBl 2000/118 S. 515 (517). 457 Kritisch hierzu auch Fuchs ÖJZ 2001, 495 (498). 458 So Fuchs ÖJZ 2001, 495 (497). 459 Vgl. Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 919.

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tion bisher ausgeklammert.460 Die Rechtsprechung des EGMR führte allerdings dazu, dass die noch im Diskussionsentwurf enthaltene Maßnahme der Anstiftung Dritter zur Vornahme eines sog. Scheingeschäfts461 gestrichen wurde.462 Das Justizministerium wies im Gesetzesentwurf 2001 jedoch darauf hin, dass die Straßburger Judikatur nicht jede Herbeiführung einer Situation, die einem Verdächtigen die Gelegenheit geben soll, eine Straftat zu begehen, verbiete. Vielmehr sei in Anlehnung an die Auffassung des BGH erst dann von einer „unfairen“ Tatprovokation auszugehen, wenn eine Vertrauensperson über das bloße „Mitmachen“ hinaus zur Weckung der Tatbereitschaft oder zur Intensivierung der Tatplanung mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den Täter einwirke. Eine prozessual unzulässige Tatprovokation liege deshalb dann nicht vor, wenn eine zur Tat geneigte Person lediglich darauf angesprochen würde, ob sie etwa Suchtmittel beschaffen könne. Ebensowenig sei eine Provokation gegeben, wenn der verdeckte Ermittler nur die offen erkennbare Bereitschaft zur Begehung oder Fortsetzung von Straftaten ausnütze.463 In Österreich ist die Diskussion über Zulässigkeit und Rechtsfolgen staatlicher Tatprovokation damit noch weitestgehend im Fluss. 2. Schweiz Auch in der Schweiz wird im Hinblick auf das zulässige Maß der Beteiligung von heimlichen Ermittlern an Straftaten betont, dass es nur erlaubt sei, auf die Konkretisierung eines bereits vorhandenen Tatentschlusses hinzuwirken. Das Einwirken auf den Verdächtigen i. S. einer „Initiativ-Anstiftung“ ist nach Ansicht des schweizerischen Bundesgerichts unzulässig,464 denn die Strafverfol460 Vgl. dazu Diskussionsentwurf vom April 1998, JMZ 578.017/2-II.3/1998, § Z 1, § Z 14 [näher hierzu auch Löschnig-Gspandl, in: Rechtliche Initiativen, S. 549 (642 ff.)] sowie der nachfolgende Gesetzesentwurf von Frühjahr 2001, JMZ 578.017/ 10-II.3/2001, §§ 133, 136. 461 Diskussionsentwurf, JMZ 578.017/2-II.3/1998, § Z 18: „Die Durchführung eines Scheingeschäfts durch Sicherheitsorgane, verdeckte Ermittler oder Vertrauenspersonen ist zulässig, wenn die Aufklärung eines Verbrechens (§ 17 Abs. 1 StGB) oder die Sicherstellung von Gegenständen oder Vermögenswerten im Zusammenhang mit einem Verbrechen andernfalls aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Unter diesen Voraussetzungen ist es auch zulässig, Dritte zu einem Scheingeschäft zu bestimmen oder sonst zur Ausführung eines solchen durch Dritte beizutragen. 462 Gesetzesentwurf, JMZ 578.017/10-II.3/2001, Erläut. zu § 136, S. 228 mit Verweis auf Siess-Scherz, Impulsreferat, ÖJK 1999, 171 f., die auf die Bedeutung des Urteils Teixeira de Castro hinwies, sowie Fuchs, ÖJK 1999, 187, der die Tatprovokation als „unmögliches Vorgehen“ ablehnte. 463 JMZ 578.017/10-II.3/2001, Erläut. zu § 136, S. 229 mit Verweis auf BGH, Beschl. v. 11. 1. 2000 – 1 StR 572/99. 464 BG, Urt. v. 7. 11. 1997, BGE 124 IV 34 E 3c)bb) m. w. Nw.; Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, § 75 Rn. 25 m. w. Nw. Vgl. auch Botschaft des Bundesrats zum Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung BBl. 1998, 4239 (4289).

B. Die Spruchpraxis zur Zulässigkeit sog. Lockspitzeleinsätze

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gungsorgane sollten keine Kriminalität provozieren, um Täter verfolgen zu können, deren möglicherweise latent vorhandene Tatbereitschaft sonst nicht manifest geworden wäre.465 Dennoch dürfen V-Personen auch in der Schweiz Probekäufe tätigen, Vorschüsse auf getätigte Lieferungen zahlen oder durch Vorzeigen einer bestimmten Geldsumme die Zahlungsfähigkeit beweisen.466 Bereits vor dem Urteil des EGMR im Fall Teixeira de Castro vertraten Literatur467 und verschiedene kantonale Gerichte die Auffassung, dass der unzulässige V-Mann-Einsatz einer Verurteilung des Provozierten entgegenstehen müsse, weil es unerträglich sei, dass der Staat (dem die Verbrechensprophylaxe obliege) zu einer Straftat provoziere, um anschließend das auf rechtswidrige Art veranlasste Delikt als Grundlage zur Durchsetzung eines Strafanspruchs zu verwenden. Dementsprechend wurde entweder das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses, eines Beweisverwertungsverbotes oder eines Strafausschließungsgrundes bejaht.468 Das Bundesgericht hatte erstmals 1997 über einen Sachverhalt zu urteilen, in welchem die heimlichen Ermittler die Grenze der zulässigen Beteiligung überschritten hatten und tatprovozierend tätig geworden waren.469 Es erkannte die Möglichkeit einer Straffreistellung für den rechtswidrig Provozierten grundsätzlich an, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass nicht jede unzulässige Tatbeteiligung die Folge der Straflosigkeit nach sich ziehe. Für die Fälle, in denen die Tatbeteiligung des agent provocateur die Tatbeteiligung der Zielperson nicht gänzlich in der Hintergrund zu drängen vermöge, müsse die Möglichkeit der Strafverfolgung vielmehr erhalten bleiben.470 Das Bundesgericht vertritt damit eine „gemäßigte Strafzumessungslösung“. In extremen Fällen übermäßiger Tatprovokation ist es grundsätzlich bereit, das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses anzuerkennen, weil sich dann „der Hauptzweck des Strafverfahrens – nämlich die Bestätigung des Rechtsbewusstseins der Allgemeinheit und die Wiederherstellung des durch die Tat erschütterten Rechtsfriedens – aufgrund der die 465

BG (Fn. 464) BGE 124 IV 34 E 3c)aa). BG (Fn. 464) BGE 124 IV 34 E 3c)bb). 467 Vgl. bspw. bereits Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, 3. Aufl. 1997, § 56 Rn. 15. 468 So etwa Züricher Obergericht SJZ 1993, 70 ff.; Strafgericht Basel-Stadt BJM 1984, 260. Nähere Ausführungen hierzu Vest, in: Besondere Ermittlungsmaßnahmen, S. 635 (688) m. w. Nw.; Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, § 75 Rn. 25 m. w. Nw. Vgl. auch die Zusammenfassung des Meinungsstreits in BG (Fn. 464) BGE 124 IV 34 E 3c)bb). 469 BG (Fn. 464) BGE 124 IV 34 E 3. 470 BG (Fn. 464) BGE 124 IV 34 E 3e): „. . . in solchen Fällen kann nicht von vornherein davon ausgegangen werden, das dem Staat zuzurechnende rechtswidrige Handeln habe das Strafverfahren derart diskreditiert, dass es zur Erreichung der damit verfolgten Zwecke vollständig untauglich geworden sei und gegen die Täter kein strafrechtlicher Schuldvorwurf mehr erhoben werden könne.“ 466

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Glaubwürdigkeit der Strafverfolgungsbehörden diskreditierenden rechtswidrigen Beweismittelverschaffung nicht mehr erreichen lässt.“471 In der bisherigen Diskussion über ein Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung war zunächst der Vorschlag der gesetzlichen Regelung eines Beweisverwertungsverbotes für den Fall der unzulässigen Tatprovokation eingebracht worden. Hiergegen wandte man jedoch ein, dass eine solche Regelung ein Fremdkörper im schweizerischen Recht sei, weil dieses den Grundsatz „Fruit of the poisonous tree“ nicht kenne. Im nachfolgenden Gesetzesentwurf verzichtete der Bundesrat deshalb auf diesen Passus und bemerkte: „Wenn im jetzigen Entwurf diese Frage offen gelassen wird, muss nach dem maßgebenden Prozessrecht entschieden werden, ob ein solches Beweismittel zulässig ist und welche Auswirkungen es auf die Schuld- und Strafzumessungsfrage hat.“472 Damit wird es in der Schweiz wohl auch zukünftig der Rechtsprechung überlassen bleiben, wie sie mit dieser Problematik umgeht.

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung und ihrer Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung I. Analyse der Straßburger Judikatur Eine Analyse der Spruchpraxis der Konventionsorgane zum polizeilichen Lockspitzeleinsatz lässt sich entsprechend den in den Entscheidungen aufgeworfenen Rechtsfragen in drei Themenbereiche unterteilen: (1) Verlangt Art. 8 EMRK eine gesetzliche Regelung des polizeilichen Lockspitzeleinsatzes? (Dazu unten Teil 2.C.I.1.) (2) Welche Grenzen polizeilicher Lockspitzeltätigkeit ergeben sich aus Art. 6 Abs. 1? (Dazu unten Teil 2.C.I.2.) (3) Welche Konsequenzen muss eine Verletzung des Fairnessgebotes nach sich ziehen (Strafaufhebung/Strafmilderung)? (Dazu unten Teil 2.C.I.3.) 1. Der Lockspitzeleinsatz als gesetzlich zu regelnde Eingriffsmaßnahme nach Art. 8 EMRK Wie aus der Rechtsprechungsübersicht hervorgeht, rügten zahlreiche Beschwerden eine Verletzung des Art. 8 EMRK, weil der Lockspitzeleinsatz in 471

BG (Fn. 464) BGE 124 IV 34 E 3e). Vgl. Botschaft des Bundesrats zum Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung BBl. 1998, 4239 (4298). Zu diesem Gesetzgebungsvorhaben auch bereits oben S. 54 ff. (Teil 1.B.II.3.). 472

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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das Recht auf Achtung des Privatlebens eingreife, jedoch gesetzlich nicht geregelt sei. Die Eingriffsqualität wurde hauptsächlich damit begründet, dass die V-Leute – um ihr Ziel (den Betroffenen auszuforschen und auf ihn einwirken zu können) zu erreichen – sich täuschend in das Vertrauen des Verdächtigen einschleichen und dadurch in seinen Privat- und Geheimbereich eindringen. Der EGMR teilte diese Auffassung bislang nicht. Er hält den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK im Fall eines „normalen Lockspitzeleinsatzes“ nicht für eröffnet [nachfolgend Teil 2.C.I.1.a) und b)]. a) Art. 8 Abs. 1 EMRK als Prüfungsmaßstab Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleistet den Anspruch des Einzelnen auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Während es sich bei den Rechten auf Achtung des Familienlebens, der Wohnung und des Briefverkehrs um spezielle Verbürgungen der Privatsphäre handelt, garantiert das Recht auf Privatleben einen allgemeinen Privatsphärenschutz dort, wo beim Schutz der „ureigensten Intimsphäre“ die Spezialfreiheitsrechte thematisch versagen.473 Obwohl die einzelnen Rechte grundsätzlich voneinander zu unterscheiden sind, hat sich in der Straßburger Spruchpraxis keine genaue Abgrenzung herausgebildet.474 So ist beispielsweise die Zulässigkeit der Überwachung der Telekommunikation sowohl unter dem Schutzbereich des Privatlebens wie auch unter den Schutzbereichen des Briefverkehrs und der Wohnung diskutiert worden.475 Eine allgemeine Definition über den Inhalt und die Reichweite des Rechts auf Achtung der Privatsphäre ist in den Entscheidungen der Straßburger Organe ebensowenig zu finden wie in der Literatur und Rechtsprechung der Mitgliedsstaaten des Europarates.476 Zwar gibt es eine Reihe von Versuchen, den unbestimmten Rechtsbegriff der Privatsphäre näher zu umschreiben,477 eine abschließende Definition kann jedoch wegen der Vieldeutigkeit und Vielschichtigkeit der Problemkreise kaum gelingen.478 Aus diesem Grunde unterließen 473 Zur parallelen Diskussion eines allgemeinen Privatsphärenschutzes durch das Grundgesetz vgl. Schmitt Glaeser, in: Hdb. d. StaatsR, Bd. VI, § 129 Rn. 8 ff. m. w. Nw. 474 IntKomm-Wildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 1. 475 Vgl. etwa EGMR [Klass/BRD] Urt. v. 6. 9. 1978, Serie A/28 Ziff. 41, in deutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 1979, 278 (284); [Malone/Großbritannien Urt. v. 2. 8. 1984, Serie A/82 Ziff. 64, in deutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 1985, 17 (20); [P. G. and J. H./Großbritannien] Urt. v. 25. 9. 2001, 44787/98, Ziff. 42. 476 IntKomm-Wildhaber Art. 8 EMRK Rn. 96; Frowein/Peukert Art. 8 EMRK Rn. 3.

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Kommission und Gerichtshof von Beginn an den Versuch, den Schutzbereich dieses Konventionsrechts allgemein umschreiben zu wollen und zogen sich auf eine kasuistische Bestimmung zurück.479 b) Der Einsatz heimlicher Ermittler als „Nichteingriff“ Heimliche Ermittlungsmethoden wie bspw. die Telefonüberwachung480, Wohnraumüberwachung481 oder etwa die Stimmenprobe482 hat der EGMR bereits in zahlreichen Entscheidungen als Eingriffe in das Recht auf Achtung des Privatlebens qualifiziert und deshalb für diese Maßnahmen die Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK erhoben. In einem Sondervotum zur Telefonüberwachungsentscheidung Malone gegen das Vereinigte Königreich umschrieb der französische Richter Pettiti die dem Art. 8 EMRK in einer modernen Gesellschaft zugewiesene Funktion folgendermaßen: „Der Gerichtshof erfüllt seine Pflichten, indem er Art. 8 EMRK zur vollen Entfaltung bringt und das Maß von staatlichen Eingriffen besonders dort begrenzt, wo das Individuum durch Technologien immer verletzbarer wird; das Wiederentdecken des Rechts ,allein gelassen‘ zu sein, entspringt Art. 8 EMRK. Die Konvention schützt die Gemeinschaft der Menschen; der Mensch unserer Zeit hat das Bedürfnis, seine Identität erhalten zu sehen, die vollkommene Durchsichtigkeit der Gesellschaft abzulehnen und das Geheimnis um seine Persönlichkeit zu wahren.“483 Seither ist der Gedanke des Schutzes vor einem polizeilichen Überwachungsstaat und einem „gläsernen Menschen“ in einer Reihe von Entscheidungen zu 477 Vgl. dazu IntKomm-Wildhaber Art. 8 EMRK Rn. 100 ff.; Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, S. 22 ff.; Dohr, in: Die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 387 (394 ff.). 478 Breitenmoser, Schutz der Privatsphäre, S. 44 f.; Wiederin, in: Österreichisches Verfassungsrecht, Art. 8 EMRK Rn. 29. 479 So zuletzt ausdrücklich EGMR [P. G. and J. H./Großbritannien] (Fn. 475) Ziff. 56: „Private life is a broad term not suspectible to exhaustive definition.“ Auch das Schrifttum zur EMRK verzichtet dementsprechend überwiegend auf eine begriffliche Festlegung und schließt sich der einzelfallorientierten Betrachtungsweise der Konventionsorgane an. Vgl. IntKomm-Wildhaber Art. 8 EMRK Rn. 98 m. w. Nw., 141 ff.; Frowein/Peukert Art. 8 EMRK Rn. 3 ff.; Breitenmoser, Der Schutz der Privatsphäre, S. 84 ff. 480 Siehe (Fn. 475). 481 EGMR [Kahn/Großbritannien] Urt. v. 12. 5. 2000, 35394/97; [P. G. and J. H./ Großbritannien] (Fn. 475) Ziff. 35 ff. 482 EGMR [P. G. and J. H./Großbritannien] (Fn. 475) Ziff. 52 ff. 483 Sondervotum Pettiti in: EGMR [Malone/Großbritannien] (Fn. 475), deutsche Übersetzung in EuGRZ 1985, 24 (27).

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Abhörmaßnahmen und anderweitigen Datenerhebungen und -verwertungen bestätigt worden.484 Es ist ein von den Konventionsorganen verfolgtes Ziel, auf der Grundlage von Art. 8 EMRK „die Errichtung von Systemen und Methoden zu verhindern, die als ,Big Brother‘ das Privatleben der Bürger beherrschen können.“485 In Anbetracht dieser Zielsetzung verwundert es, wenn der EGMR dem Einsatz heimlicher Ermittler als solchen (bei welchem sich ein Polizeibeamter oder eine Vertrauensperson durch Täuschung Zutritt in das private Umfeld einer Person verschafft, auf sie einwirkt und sie zur Preisgabe bestimmter Informationen verführt) eine Eingriffsqualität in das Recht auf Privatleben bislang abspricht.486 Eine nähere Begründung für diese einschränkende Auslegung bleibt der Gerichtshof dabei schuldig. Aus der im Falle Lüdi getroffenen Aussage, der Bf. habe aufgrund seines strafbaren Verhaltens mit der polizeilichen Infiltration rechnen müssen487, ist kaum etwas ableitbar. Letztendlich scheint hier der Gedanke zum Ausdruck zu kommen, dass der Betroffene selbst schuld sei, wenn er sich einem staatlichen Spitzel anvertraue und auf diesen hereinfalle. Es bleibt aber ungeklärt, warum der EGMR einer technischen Überwachungsmaßnahme (wie etwa der Telefonüberwachung) eine stärkere Eingriffsintensität zuschreibt als einer Überwachung durch einen verdeckten Ermittler. Wie auch in der nationalen Diskussion kann es letzten Endes nur das „Freiwilligkeitsargument“ sein, welches die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen soll. Verbleibt dem Einzelnen noch ein „Moment der Beherrschung des eigenen Geheimbereichs“ – wie dies bei der „freiwilligen“ Preisgabe der Privatsphäre gegenüber dem V-Mann der Fall ist – soll nach Ansicht des EGMR kein Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen.488 Wie angreifbar diese Argumentation ist, wurde in der Literatur bereits mehrfach dargelegt.489 484 Siehe Nachweise Fn. 480 bis 482 sowie zum Datenschutz EGMR [Leander/ Schweden] Urt. v. 26. 3. 1987, Serie A/116, Ziff. 48; [Amann/Schweiz] Urt. v. 16. 2. 2000 – 27798/95 Ziff 65 ff.; [Rotaru/Rumänien] Urt. v. 4. 5. 2000 – 28341/95 Ziff. 43 f. 485 Sondervotum Pettiti in: EGMR [Malone/Großbritannien] (Fn. 475), deutsche Übersetzung in EuGRZ 1985, 24 (25 f.). 486 Vgl. auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 169. 487 EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 404). 488 Bei der Verwendung technischer Lauschmittel soll es gerade an diesem „Moment der Beherrschung des eigenen Geheimbereichs“ fehlen. Vgl. hierzu (allerdings in Bezug auf die ähnliche Argumentation des schweizerischen Bundesgerichts) Baumgartner, V-Mann-Einsatz, S. 163 ff., 171 mit Verweis auf Friedrichs, Der Einsatz von „V-Leuten“ durch die Ämter für Verfassungsschutz, Göttingen 1981, S. 56. Daraus folgt: Wenn das Handeln des heimlichen Ermittlers mit weitergehenden Eingriffen, wie etwa das Anbringen von Abhöreinrichtungen etc., verbunden ist, so muss letztere Vorgehensweise aufgrund der dann vorhandenen Eingriffsqualität entsprechend den Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK gesetzlich geregelt sein. Vgl. hierzu auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 169. 489 Vgl. insbesondere Baumgartner, V-Mann-Einsatz.

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

Fraglich ist, ob der EGMR die Auffassung des „Nichteingriffs“ auch dann aufrecht erhalten würde, wenn heimliche Ermittler im Rahmen ihres Einsatzes nachweislich massiv in besonders geschützte Vertrauensverhältnisse eindringen. So etwa, wenn – wie in Deutschland geschehen – ein V-Mann den Verdächtigen unter Vortäuschung einer Liebesbeziehung zu einem Drogengeschäft zu veranlassen sucht490 oder nahe Angehörige ausgehorcht werden.491 In Anbetracht der aus der EGMR-Rechtsprechung grundsätzlich ablesbaren Tendenz des Schutzes vor derartigen Eingriffsmaßnahmen492 ist eine Änderung der Straßburger Spruchpraxis in diesen Fällen durchaus wahrscheinlich. c) Zusammenfassung (1) Obwohl Art. 8 EMRK vor zahlreichen heimlichen Ermittlungsmethoden Schutz bietet, hat sich der EGMR leider noch nicht dazu durchringen können, dies auch für den Einsatz heimlicher Ermittler bzw. den polizeilichen Lockspitzeleinsatz anzuerkennen.493 (2) Ein weit verstandenes „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“, welches den Bürger vor jeglicher gezielten Informationserhebung durch den Staat schützt, will der EGMR dem Recht auf Achtung der Privatsphäre also offensichtlich nicht entnehmen.494 (3) Das heißt allerdings nicht, dass Art. 8 EMRK für den Einsatz heimlicher Ermittler unter keinen Umständen Bedeutung erlangen kann. Eine Änderung der Straßburger Rechtsprechung ist insbesondere dann denkbar, wenn heimliche Ermittler im Rahmen ihres Einsatzes nachweislich massiv in besonders geschützte Vertrauensverhältnisse eindringen. (4) Solange das Erfordernis einer gesetzlichen Regelung von V-Mann-Einsätzen in den Rechtsordnungen der Konventionsstaaten keine Stütze findet, wird der Straßburger Gerichtshof hier allerdings äußerst zurückhaltend vorgehen. (5) Maßgebliches Kriterium, an dem sich der Einsatz heimlicher Ermittler bislang messen lassen musste, war deshalb die – hauptsächlich bei Vorliegen

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So geschehen bspw. in einem Fall des AG Heidenheim NJW 1981, 1628 Vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 1. 3. 2000 – 2 BvR 2017 und 2039/94, NStZ 2000, 489 m. Anm. Rogall (sog. Sedlmayr-Prozess); dazu auch Amelung/Wirth StV 2002, 153 (166). 492 Dazu noch unten S. 169 ff. [Teil 3.C.I.2.b)]. 493 In der Literatur wird deshalb zu Recht darauf hingewiesen, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK in Bezug auf den Einsatz heimlicher Ermittler keinen Schutz bietet, vgl. bspw. Götting, Beweisverwertungsverbote, S. 199. 494 Zu dieser Auffassung in der deutschen Literatur noch unten S. 142 ff. [Teil 2.C.II.1.a)]. 491

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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einer Tatprovokation in Frage gestellte – Einhaltung der Fairness des Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK. 2. Zulässigkeit und Grenzen einer polizeilichen Tatprovokation nach Art. 6 Abs. 1 EMRK a) Art. 6 Abs. 1 EMRK als Prüfungsmaßstab Seit der Entscheidung Radermacher und Pferrer gegen Deutschland weisen die Konventionsorgane darauf hin, dass dem tatprovozierenden Verhalten der Strafverfolgungsbehörden durch den Grundsatz der Fairness des Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) Grenzen gesetzt sind.495 Diese Argumentation ist nicht selbstverständlich, denn wenn dem Beschuldigten im Strafverfahren alle Rechte gewährt wurden, insbesondere alle Zeugen offen vernommen werden konnten, die Tatbegehung klar war und nicht bestritten wurde, stellt sich die Frage, worin im Falle polizeilicher Tatprovokation die Unfairness des strafrechtlichen Verfahrens liegen soll.496 So ist insbesondere Lesch der Ansicht, dass durch den Einsatz von Lockspitzeln der Grundsatz des fairen Verfahrens überhaupt nicht betroffen werden könne. Dieses allgemeine Verfahrensprinzip besage lediglich, dass dem Beschuldigten durch die Gewährung effektiver prozessualer Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte die reale Chance eingeräumt werden muss, den Ausgang des Verfahrens mit beeinflussen zu können. Es sei jedoch nicht ersichtlich, wie die Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte des Beschuldigten im Strafverfahren durch den vorausgegangenen – außerprozessualen – Einsatz eines Lockspitzels überhaupt beeinträchtigt werden sollten.497 Der EGMR legt seinen Entscheidungen offensichtlich einen weiteren Fairnessbegriff zugrunde. Die durch Art. 6 EMRK verbürgte Fairness des Verfahrens kann seiner Auffassung nach nicht nur dann verletzt sein, wenn die Ausgestaltung des Verfahrens nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht. Auch wenn die rechtsstaatlichen Voraussetzungen für eine Durchführung des Verfahrens überhaupt fehlen, soll Art. 6 Abs. 1 EMRK betroffen sein können.498 In diesem Fall steht die Unfairness bereits vor Einleitung des Verfah495 Vgl. dazu oben S. 114 f. [Teil 2.B.I.2.b)]. Vgl. auch IntKomm-Vogler Art. 6 EMRK Rn. 373; Frowein/Peukert Art. 6 EMRK Rn. 112. 496 Diese Ausgangsfrage stellt sich auch Fuchs ÖJZ 2001, 495 (497). 497 Lesch JR 2000, 434 (436). Kritisch hierzu Renzikowski, in: GS Keller, S. 197 (205). 498 Ebenso Renzikowski, in: GS Keller, S. 197 (206). Fuchs ÖJZ 2001, 495 (497) schlussfolgert hieraus, dass in Wahrheit kein prozessuales, sondern ein materielles Problem vorliege. Es fehle an einem Bestrafungsrecht.

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

rens fest, ohne dass sie durch die Gewährung von Verfahrensrechten im Nachhinein wieder beseitigt werden kann.499 Die Kommission brachte dies in ihrem Bericht zur Beschwerde Teixeira de Castro deutlich zum Ausdruck, indem sie formulierte: Diese Vorgangsweise (d.h. die durch die Polizeibeamten vorgenommene Tatprovokation) hat die Fairness des Verfahrens in unheilbarer Weise beeinträchtigt.500 Gleiches umschrieb der Gerichtshof durch die Worte: Dieses Eingreifen und dessen Verwendung im angefochtenen Strafverfahren bedeutet, dass der Bf. von Anfang an und endgültig kein faires Verfahren hatte.501 b) Abgrenzung zulässiger Ermittlungstätigkeit von unzulässiger Tatprovokation Ob ein Fall übermäßiger und deshalb nicht mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbarer Tatprovokation vorliegt, ermittelt auch der EGMR im Wege einer Gesamtwürdigung der Umstände. Dabei verlässt er sich nicht auf das Urteil der nationalen Gerichte, sondern prüft selbständig, ob das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden als „zulässige Ermittlungsmaßnahme“ oder als „unzulässige Erzeugung krimineller Tätigkeit“ einzustufen ist. aa) Darlegungspflicht des Beschwerdeführers Den Bf., der sich auf den Einwand der unzulässigen Tatprovokation beruft, trifft jedoch eine gewisse Darlegungspflicht. Allein die pauschale Rüge, Opfer eines unzulässigen Lockspitzeleinsatzes geworden zu sein, reicht für eine erfolgreiche Beschwerde in Straßburg nicht aus. Vielmehr muss der Bf. substantiiert vortragen, in welcher Art und Weise er mit dem V-Mann in Kontakt getreten sei und wie dieser in Bezug auf die verfolgte Straftat auf ihn eingewirkt habe. Verabsäumt er dies oder rügt er, dass von den nationalen Behörden diesbezüglich nicht hinreichend Beweis erhoben wurde (Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 lit. d Alt. 2 EMRK), so wird die Beschwerde als unzulässig abgewiesen, wenn nicht ersichtlich ist, dass die nationalen Gerichte eine offensichtlich erforderliche Beweiserhebung zugunsten des Beschuldigten unterlassen haben.502 Für die 499

Fuchs a. a. O. Ebenso Roxin JZ 2000, 369. EKMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 408) Ziff. 49: „has irremediably affected the fairness of the proceedings“. 501 EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 423): „right from the outset, the applicant was definitively deprived of a fair trial“. 502 Vgl. EKMR [Kritsch/Österreich] oben S. 115 [Teil 2.B.I.2.c)]; [Myrdal/Norwegen] oben S. 116 [Teil 2.B.I.2.e)]; [S. E./Schweiz] oben S. 118 [Teil 2.B.I.2.h)]; EGMR [Kempter/BRD] oben S. 119 [Teil 2.B.I.2.i)]; [Calabro/Italien] oben S. 119 [Teil 2.B.I.2.k)]. 500

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Fälle, in denen der Beschuldigte lediglich vermutet, dass es sich bei seinem Geschäftspartner um einen V-Mann gehandelt hat, weil dieser bei der Festnahme „entkommen“ konnte, hält daher auch das Straßburger Verfahren keine weitergehende Prüfungsmöglichkeit bereit. bb) Beurteilungskriterien (1) Anstoß zur Begehung der strafbaren Handlung (Anstiftungshandlung) Steht fest, dass bei der Begehung der Straftat heimliche Ermittler der Polizei beteiligt waren, so überprüfen die Konventionsorgane in einem ersten Schritt, ob überhaupt eine für die Bejahung einer „Provokation“ notwendige „Anstiftungshandlung“ vorliegt. Eine solche wird verneint, wenn die Umstände des Einzelfalles ergeben, dass sich die Strafverfolgungsbehörden ausschließlich passiv verhielten oder der erste Anstoß zur Begehung der Straftat nicht von den heimlichen Ermittlern, sondern vom Täter selbst ausging. So änderte die Kommission beispielsweise im Fall Radermacher und Pferrer gegen Deutschland ihre Auffassung, dass eine unzulässige Tatprovokation vorgelegen haben könnte, weil nicht (wie zunächst angenommen) die V-Personen die Bf. nach gefälschte Banknoten angesprochen hatten, sondern vielmehr die Bf. selbst den Kontakt aufgenommen und die Initiative zur Begehung der strafbaren Handlung ergriffen hatten.503 Gleiches in den Fällen Myrdal gegen Norwegen504, M. H. Shahzad und K. L. gegen das Vereinte Königreich505 und Calabro gegen Italien506 – auch hier verwiesen Kommission und Gerichtshof darauf, dass sich die heimlichen Ermittler lediglich passiv verhalten bzw. nur auf das Angebot der Bf. zur Begehung der Straftat reagiert hatten. (2) Provokation eines „zur Tat geneigten Verdächtigen“ Aber auch dann, wenn die heimlichen Ermittler eine Anstiftungshandlung setzten, sieht der EGMR hierin nicht in jedem Falle eine rechtsstaatswidrige Ermittlungshandlung. 503 Dazu oben EKMR [Radermacher und Pferrer/BRD] S. 114 [Teil 2.B.I.2.b)]. Die Bundesregierung hatte hier im Verfahren vor der Kommission neue Details nachgeschoben, die dem aburteilenden Landgericht zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung nicht vorlagen. Die Kommission berücksichtigte dies und wies ausdrücklich darauf hin, dass wegen der geänderten Sachlage über die Frage einer unzulässigen Tatprovokation (mangels Anstoß zu Tat) nicht mehr zu entscheiden war [vgl. auch Kinzig StV 1999, 288 (289 mit Fn. 14)]. 504 s. o. S. 116 [Teil 2.B.I.2.e)]. 505 s. o. S. 117 [Teil 2.B.I.2.g)]. 506 s. o. S. 119 [Teil 2.B.I.2.k)].

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

So prüfte der Gerichtshof im Fall Teixeira de Castro ausdrücklich auch die Frage, ob der Täter bereits vor Einflussnahme der Strafverfolgungsbehörden „geneigt war“ („was predisposed“) entsprechende strafbare Handlungen zu begehen.507 Aufgrund der Umstände des Einzelfalls gelangte er hier zu dem Ergebnis, dass es keinerlei Hinweise für eine solche „Tatneigung“ des Bf. gegeben hätte. Dabei maß er den Umständen einer Provokation ohne Tatverdacht und ohne eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen den Bf. sowie dem Fehlen einer gerichtlichen Anordnung und Überwachung des Lockspitzeleinsatzes besondere Bedeutung zu. Ähnlichen Überlegungen ging die Kommission in der Sache M. H. Shahzad und K. L. nach. Sie verneinte einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK nicht nur aufgrund des Fehlens einer Anstiftungshandlung, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass die Bf. – anders als Teixeira de Castro – bereits „seit längerer Zeit im Drogengeschäft involviert“ gewesen seien und somit „willig und fähig waren, die Straftaten auch ohne Beteiligung der V-Männer zu begehen“.508 Tatprovozierendes Verhalten ist also auch nach Auffassung der Konventionsorgane nicht per se als unzulässige Ermittlungsmethode anzusehen. Art. 6 EMRK setzt jedoch enge Grenzen, innerhalb derer eine solche Vorgehensweise zulässig ist. Im Fall Teixeira de Castro ging der Gerichtshof auf verschiedene Kriterien ein: (a) Das Kriterium des Tatverdachts Grundvoraussetzung für den Einsatz polizeilicher Lockspitzel (die auch tatprovozierend gegenüber der Zielperson tätig werden) ist nach Ansicht des EGMR das Vorliegen eines Tatverdachts. Die Tatsache, dass die Polizeibeamten in der Beschwerde gegen Portugal ohne einen solchen gegen den Bf. vorgegangen waren, war der hauptsächliche Grund, weshalb ein zulässiger Lockspitzeleinsatz abgelehnt wurde.509 Der EGMR verwies damit auf einen Aspekt, der in Bezug auf die deutsche Rechtsprechung immer wieder angemahnt wurde: Tatprovokation ist als polizeiliche Ermittlungsmaßnahme zur Überführung von Straftätern nur dann zulässig, wenn gegen die Zielperson ein Anfangsverdacht i. S. d. § 160 Abs. 1 StPO besteht, entsprechende Straftaten zu planen oder darin verwickelt zu sein.510 Dem 507 EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 420). Kritisch zum Kriterium der Tatgeneigtheit Fuchs ÖJZ 2001, 495 (498). 508 s. o. S. 117 [Teil 2.B.I.2.g)]. Vgl. auch [Calabro/Italien] oben S. 119 [Teil 2.B.I.2.k)]. 509 EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 419). Vgl. auch Kinzig StV 1999, 288 (291); Kempf StV 1999, 128 (130); Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 174.

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Grundgedanken eines rechtsstaatlichen Strafprozesses wiederspricht es hingegen, wenn repressive Ermittlungstätigkeit ihren Ausgang nicht vom konkreten Verdacht bestimmter begangener Straftaten nimmt, sondern „ins Blaue hinein forscht, ob irgendwelche Straftaten möglicherweise – auf Veranlassung der Strafverfolgungsbehörden! – begangen werden könnten.“511 Zeitweise wurde diese „rechtsstaatliche Anforderung“ aus den Augen verloren und von der Rechtsprechung auch die Provokation eines „Nichtverdächtigen“ für zulässig befunden.512 Ließ sich eine bis dahin unbescholtene Person nach einem (oder mehreren) Angebot(en) des Lockspitzels schließlich auf ein Rauschgiftgeschäft ein, so war dies i. d. R. keine unzulässige Tatprovokation, sondern eine zulässige Überführung eines „ohnehin zur Tat geneigten Täters“.513 Dahinter stand letztendlich die fragwürdige Überlegung, dass eine Person nicht so unbescholten sein könne, wenn sie sich schließlich ohne besonderen Druck doch auf ein Rauschgiftgeschäft einlasse. Der EGMR hat mit der Entscheidung Teixeira de Castro dieser Denkweise eine eindeutige Absage erteilt: Er verneinte eine „Tatneigung“ des Bf., obwohl dieser nach einmaliger Aufforderung gewillt und in der Lage war, mitten in der Nacht in kürzester Zeit 20g Heroin zu besorgen. Allein der Umstand, dass sich der Bf. relativ schnell von den Polizeibeamten zu dem konkreten Rauschgiftgeschäft hatte verführen lassen, reichte nicht aus, um das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden zu legitimieren. Angesichts der Tatsache, dass die Tatprovokation ihre Opfer unter Menschen in wenig stabilen Verhältnissen und Konfliktsituationen sucht,514 verlangt der Gerichtshof konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Zielperson bereits vor Tätigwerden der Lockspitzel in derartige kriminelle Geschäfte verwickelt war. Nur wenn die Strafverfolgungsbehörden aufgrund eines solchen konkreten Tatverdachts handeln, kann u. U. eine tatprovozierende Ermittlungstätigkeit mit dem Argument gerechtfertigt werden, der Täter wäre zur Begehung derartiger Straftaten ohnehin bereit gewesen.

510 Staatliches Handeln ohne Verdacht lässt die Eingriffslegitimation entfallen: Fischer/Maul NStZ 1992, 7 (12); Sommer NStZ 1999, 48 (49); Maul, in: Geiß u. a., FG BGH, S. 569 (575); SK-StPO-Wolter Vor § 151 Rn. 108; Herzog StV 2003, 410 (412); Renzikowski, in: GS Keller, S. 197 (206). Verstoß gegen die Unschuldsvermutung: Eschelbach StV 2000, 390 (394); Renzikowski, in: GS Keller, S. 197 (206). 511 Fischer/Maul NStZ 1992, 7 (10). 512 Das tatprovozierende Vorgehen gegen Nichtverdächtige wurde bspw. für zulässig angesehen in: BGH (Fn. 379) NJW 1981, 1626; BGH (Fn. 372) BGHSt 32, 345 (348). Später wurde diese Ansicht jedoch wieder revidiert vgl. die neuere Rechtsprechung BGH, Beschl. v. 16. 3. 1995 – 4 StR 111/95, NStZ 1995, 506 (507). Unter dem Eindruck der Straßburger Spruchpraxis BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (337); BGH (Fn. 377) BGHSt 47, 45 (48). Dazu noch unten S. 144 ff. (Teil 2.C.II.2.). 513 BGH (Fn. 372) BGHSt 32, 345 (347). 514 Zu diesem Problem bereits Fischer/Maul NStZ 1992, 7 (11); jüngst Körner, Kriminalistik 2002, 449 (452).

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

(b) Das Kriterium der gerichtlichen Anordnung und Überwachung von Lockspitzeleinsätzen Im weiteren hob der Gerichtshof im Fall Teixeira de Castro auf den Umstand ab, dass das tatprovozierende Vorgehen der Polizeibeamten nicht als Teil einer gegen den Drogenhandel gerichteten Operation stattgefunden habe, die von einem Richter angeordnet und überwacht wurde.515 Ob hiermit für den polizeilichen Lockspitzeleinsatz ein grundsätzlicher Richtervorbehalt angedeutet werden sollte, erscheint zweifelhaft.516 Hätte das Kriterium des richterlichen Ermittlungsauftrags für die Bewertung der Fairness des Verfahrens eine maßgebliche Rolle gespielt, so wäre hierauf wohl auch in den nachfolgenden Beschwerden eingegangen worden. In den Fällen M. H. Shahzad und K. L. gegen das Vereinigte Königreich ging die Kommission auf diesen Punkt jedoch überhaupt nicht mehr ein, obwohl es auch hier keinen richterlichen Ermittlungsauftrag gab.517 Es spricht daher einiges dafür, dass der Hinweis auf die richterliche Kontrolle hauptsächlich der Unterscheidung zum Fall Lüdi diente, nicht aber als grundsätzliche Voraussetzung für einen zulässigen Lockspitzeleinsatz festgeschrieben werden sollte. c) Zusammenfassung (1) Mit der Entscheidung Teixeira de Castro gegen Portugal haben die Straßburger Organe deutlich gemacht, dass sie die polizeiliche Tatprovokation als Methode der Strafverfolgung zur Bekämpfung schwer aufklärbarer Kriminalität nicht grundsätzlich ablehnen.518 (2) Voraussetzung ist jedoch, dass der Provozierte in Verdacht steht, entsprechende Straftaten bereits begangen zu haben oder bei in Gang befindlichen Straftaten involviert zu sein. Das tatprovozierende Vorgehen gegen eine Person ohne hinreichenden Tatverdacht widerspricht rechtstaatlichen Grundsätzen.519 Wird ein Unverdächtiger durch die Strafverfolgungsbehörden zur Begehung einer Straftat verführt und anschließend wegen eben dieser Straftat strafrechtlich verfolgt, so liegt in der Durchführung des Verfahrens ein Verstoß gegen den Grundsatz der Fairness.520 515

EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 418). Für einen Richtervorbehalt Sommer NStZ 1999, 48 (49). Ebenso zurückhaltend Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 174. 517 Siehe oben S. 117 f. [Teil 2.B.I.2.g)]. 518 Dazu oben S. 133 ff. [Teil 2.C.I.2.b)bb)(2)]. Die Bedürfnisse der Strafverfolgung finden bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen im Rahmen der Fairnessprüfung des EGMR also durchaus Berücksichtigung, vgl. auch oben S. 69 ff. [Teil 1.C.I.3.b)aa)(2) und (3)]. A. A. hierzu Renzikowski, in: GS Keller, S. 197 (207). 519 Dazu oben S. 134 [Teil 2.C.I.2.b)bb)(2)(a)]. 516

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(3) Der Gerichtshof hatte bislang noch keine Gelegenheit zu den Grenzen eines tatprovozierenden Vorgehens gegen einen Verdächtigen einzugehen. In Anbetracht der vom EGMR eingeschlagenen Fairnessprüfung zur Bewältigung der strafprozessualen V-Mann-Problematik, ist jedoch auch hier zu erwarten, dass es zu einer entsprechend strengen Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kommt. Der Einsatz polizeilicher Lockspitzel gegen Verdächtige wird einer gewissenhaften Prüfung dahingehend unterliegen, ob er geeignet, erforderlich und angemessen war. Letzteres wird dann nicht der Fall sein, wenn sich aus den Umständen des Falles ergibt, dass der Einfluss der V-Leute derart erheblich war, dass die Straftat als ein „Werk des Staates“ angesehen werden muss.521 3. Folgen einer gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßenden Tatprovokation a) Problemstellung Die Frage nach den Konsequenzen einer gegen Art. 6 EMRK verstoßenden Tatprovokation musste vom EGMR im Fall Teixeira de Castro nicht behandelt werden. Die EMRK sieht eine eigenständige Sanktion für die Verletzung des Fairnessgebots nicht vor. Sie besteht allein darin, dass der EGMR die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK feststellt und gegebenenfalls eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK festsetzt, wenn das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung gewährt.522 Dabei lehnt es der Gerichtshof im Rahmen der Entscheidung über eine Entschädigung ab, näher darauf einzugehen, ob und inwieweit nach innerstaatlichem Recht eine vollkommene Wiedergutmachung gewährt werden kann. Der EGMR setzt die Entschädigungssumme fest, ohne eine entsprechende Kontrollfunktion auszuüben.523

520

Dazu oben S. 131 f. [Teil 2.C.I.2.a)]. In diese Richtung auch die Kommission in den Fällen Shahzad und K. L. gegen Großbritannien s. o. S. 117 [Teil 2.B.I.2.g)], wenn sie darauf hinwies, dass der Bf. seit langer Zeit im Drogengeschäft involviert war und damit gezeigt habe, dass er willig und fähig war, die Straftaten auch ohne Beteiligung der V-Männer zu begehen. Eine Auseinandersetzung mit der Problematik eines Lockspitzeleinsatzes gegen Verdächtige steht möglicherweise im Fall Lewis gegen Großbritannien bevor, in welchem der Bf. durch die Lockspitzel zu einem größerem Falschgelddeal als geplant verführt wurde. Möglicherweise fehlte es aber auch in diesem Fall wie in der Sache Teixeira de Castro bereits an einem hinreichenden Tatverdacht. Die tatsächlichen Umstände des Falles werden vom EGMR derzeit noch ermittelt. 522 Vgl. Ulsamer, in: FS H. J. Faller, S. 373 (380) in Bezug auf die Verletzung des Beschleunigungsgebotes. 523 Der Gerichtshof lässt für die Anordnung einer Entschädigung genügen, dass der haftende Staat bis zum Urteil die verletzte Partei noch nicht vollständig entschädigt 521

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

Wie der Fall Lüdi zeigte, kann das Problem der ausreichenden Wiedergutmachung einer Konventionsverletzung allerdings für die Zulässigkeit einer Konventionsbeschwerde bedeutsam sein. Art. 34 EMRK verlangt für die Durchführung einer Individualbeschwerde das Vorliegen einer Beschwer bzw. einer „Opfereigenschaft“. Diese kann nach ständiger Spruchpraxis entfallen, wenn die innerstaatlichen Behörden die Konventionsverletzung ausdrücklich anerkannt und hinreichend Wiedergutmachung dafür gewährt haben.524 Gelingt es also mit innerstaatlichen Mitteln, die Beschwer zu beseitigen, so wird die Individualbeschwerde unzulässig, mit der Folge, dass es zu keiner Sachentscheidung des Gerichtshofs kommt.525 b) Strafmilderung als ausreichende Wiedergutmachungsmaßnahme i. S. d. Art. 41 EMRK Fraglich ist nun, welche innerstaatlichen Maßnahmen der Straßburger Gerichtshof im Fall Teixeira de Castro wohl als ausreichende Wiedergutmachungsmaßnahmen angesehen hätte. Während ein großer Teil des Schrifttums der Auffassung ist, dass nur eine Straffreistellung die Feststellung einer Konventionsverletzung verhindert hätte,526 ist die Rechtsprechung der Ansicht, dass sich dies aus der Entscheidung nicht ablesen lasse und deshalb grundsätzlich auch eine Strafminderung ausreichend sei, um den durch die unzulässige Tatprovokation bedingten Konventionsverstoß wieder zu heilen.527 Zur Frage der Wiedergutmachung von Konventionsverstößen lässt sich der bisherigen EGMR-Rechtsprechung allerdings nur wenig entnehmen. Generell muss die Wiedergutmachung dem Umfang der Konventionsverletzung Rechnung tragen und die innerstaatliche Entscheidung muss ausreichende und nachvollziehbare Angaben über Art, Weise und Umfang der gewährten Wiedergutmachung enthalten.528 hat. Kritisch dazu Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 206 m. w. Nw. Vgl. auch Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten, S. 101. 524 EGMR [Eckle/BRD] Urt. v. 15. 7. 1982, Serie A/51, Ziff. 66 ff., in deutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 1983, 371 (378 f.). Näher zur Rechtsprechung der Konventionsorgane zu dieser Problematik Frowein/Peukert Art. 25 EMRK Rn. 29 ff. 525 Ulsamer, in: Festschrift H. J. Faller, S. 371 (380). 526 Siehe Nachweise (Fn. 381). 527 BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (339) = StV 2000, 57 (62). Der Strafzumessungslösung des BGH grundsätzlich zustimmend Lesch JR 2000, 434 (436 f.). Auch aus konventionsrechtlicher Sicht keine Bedenken erhebend Krauß, V-Leute, S. 115 f. allerdings vor der Teixeira de Castro-Entscheidung des EGMR. 528 Ulsamer, in: Festschrift H. J. Faller, S. 371 (382); Frowein/Peukert Art. 25 EMRK Rn. 30. Zur Prüfung der Vorabeinrede grundlegend EGMR [Eckle/BRD] (Fn. 524) Ziff. 64 ff. Hier wurde wegen des inhaltlichen Aspekts die Vorabeinrede zusammen mit der Begründetheit der Beschwerde überprüft.

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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In Sachen überlanger Verfahrensdauer haben die Straßburger Organe verschiedentlich anerkannt, dass – wenn die Unverhältnismäßigkeit der Verfahrensdauer ausdrücklich anerkannt wird – nicht nur eine nachprüfbare Verfahrenseinstellung,529 sondern auch eine Strafmilderung530 zum Wegfall der Beschwer führen kann. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass die Strafminderung bei auf Art. 6 gestützten Verfahrensrügen generell als ausreichende Wiedergutmachungsmaßnahme angesehen wird. Ob eine bloße Strafmilderung im Falle unzulässiger Tatprovokation eine hinreichende Wiedergutmachung darstellt, ist aus mehreren Gründen fraglich: aa) Feststellung einer „von Beginn an“ fehlenden Fairness des Verfahrens Wie bereits ausgeführt, kann die Aussage: „. . . insgesamt führt der Einsatz der Polizeibeamten und die Verwertung seiner Ergebnisse im strafrechtlichen Erkenntnisverfahren zu dem Schluss, dass der Bf. von Anfang an und endgültig kein faires Verfahren hatte . . .“ nur so gedeutet werden, dass es nicht die Ausgestaltung des Strafverfahrens war, welche die Konventionsorgane unter dem Aspekt der Fairness rügten, als vielmehr die Durchführung des Verfahrens überhaupt.531 Die Konventionsorgane halten es mit dem Grundsatz der Fairness unvereinbar, wenn jemand wegen einer Straftat verfolgt und verurteilt wird, die maßgeblich, wenn nicht sogar ausschließlich aufgrund des Verhaltens der Strafverfolgungsbehörden zustande gekommen ist.532 Unter dieser Prämisse ist allerdings nicht verständlich, wie allein durch die Anerkennung eines besonderen, gewichtigen und schuldunabhängigen Strafmilderungsgrundes die konventionsrechtliche Beschwer entfallen kann. Denn auch im Falle einer bloßen Strafmilderung bleibt es dabei, dass der Provozierte auf der Grundlage einer Straftat verurteilt wird, die er ohne die Intervention des Staates nicht begangen hätte.533

529 EGMR [Bagetta/Italien] Urt. v. 25. 6. 1987, Serie A/119, Ziff. 18; weitere Nachweise bei Frowein/Peukert Art. 25 EMRK Rn. 33 Fn. 143. 530 Vgl. dazu verschiedene Entscheidungen der Kommission: EKMR [Pannetier/ Schweiz] E. v. 30. 5. 1986 – 9299/81; [R.E.P.L./Niederlande] E v. 11. 1. 1995 – 23230/94. Weitere Nachweise bei Frowein/Peukert Art. 25 EMRK Rn. 33 Fn. 142. 531 Dazu oben S. 131 f. [Teil 2.C.I.2.a)]. 532 EKMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 408) Ziff. 49: „All the foregoing circumstances lead the commission to consider that the police officers’ actions were essentially, if not exclusively, the cause of the offence being committed and the applicant being sentenced to a fairly heavy penalty.“ 533 Vgl. auch Endriß/Kinzig NStZ 2000, 271 (272); Eschelbach StV 2000, 390 (395); Kudlich JuS 2000, 951 (953); Sinner/Kreuzer StV 2000, 114 (116); Roxin JZ 2000, 369; Maul, in: Geiß u. a., FG BGH, S. 569 (574); Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 175; Ambos NStZ 2002, 628 (632); A. A. Krauß, VLeute, S. 115 f., allerdings vor der Teixeira de Castro-Entscheidung des EGMR.

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

Kaum etwas weist darauf hin, dass die Konventionsorgane für die Bewertung der Fairness des Verfahrens die Höhe der verhängten Strafe berücksichtigt hätten. Allein die Kommission erwähnte sie in ihrem Bericht, ohne allerdings näher darauf einzugehen.534 In der Begründung des EGMR taucht die Höhe der Strafe überhaupt nicht mehr auf. Im Gegenteil, der Verweis auf die „Endgültigkeit“ der Unfairness des Verfahrens lässt eher die Vermutung zu, dass eine „Heilung des Verfahrensfehlers“ durch Zugeständnisse bei der Strafzumessung gerade nicht in Betracht kommen sollte.535 bb) Festsetzung einer hohen Entschädigung Gegen eine Strafminderung als ausreichende Wiedergutmachungsmaßnahme spricht auch die im Fall Teixeira de Castro getroffene Entschädigungsentscheidung. Der EGMR sprach dem Bf. für den während und nach der Haft (von 3 Jahren) erlittenen Verdienstausfall sowie den durch die Haft eingetretenen immateriellen Schaden eine Entschädigungssumme von ca. 48.700 Euro zu, weil dieser ohne das konventionswidrige Verhalten der Polizeibeamten nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden wäre.536 Nicht einmal im Ansatz wurde von den Konventionsorganen darüber diskutiert, dass der Bf. sich hat immerhin zur Begehung einer Straftat hinreißen lassen und deshalb möglicherweise in einem geringeren Ausmaß zu bestrafen gewesen wäre.537 cc) Die Ausführungen des EGMR zu Art. 25 a. F. im Fall Lüdi Schlussendlich geben auch die Ausführungen des Gerichtshofs zum Wegfall der Beschwer im Fall Lüdi gegen die Schweiz538 keinen Hinweis darauf, dass der Gerichtshof eine Strafminderung als ausreichende Wiedergutmachungsmaßnahme grundsätzlich anerkennen würde. Zwar begründete der EGMR das Vorliegen der „Opfereigenschaft“ hauptsächlich damit, dass die Milderung des Strafurteils weder ausdrücklich noch der Sache nach auf der Anerkennung der gerügten Konventionsverletzung beruhte.539 534

EKMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 532). So auch Endriß/Kinzig NStZ 2000, 271 (272). 536 EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 424). Interessant auch der Vergleich von Endriß/Kinzig NStZ 2000, 271 (272) über den ungleich geringeren Entschädigungsanspruch wegen zu Unrecht erlittener Haft nach § 7 III StrEG. Dazu ebenso Renzikowski, in: GS Keller, S. 197 (203). 537 So auch Sommer NStZ 1999, 48 (49); Küpper JR 2000, 257 (259); Renzikowski, in: GS Keller, S. 197 (204). 538 Dazu oben S. 107 ff. [Teil 2.B.I.1.a)aa)]. 535

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Hieraus kann jedoch nicht geschlussfolgert werden, dass die Straßburger Organe einer „Heilung des Verfahrens“ ohne weiteres zugestimmt hätten, wenn die Konventionsverletzung ausdrücklich anerkannt worden wäre und sich die Milderung der Strafe hierauf bezogen hätte. Denn dies ist – wie bereits oben dargelegt – nur eine Voraussetzung, welche Kommission und Gerichtshof für die Anerkennung einer staatlichen Maßnahme als Wiedergutmachungsmaßnahme i. S. d. Art. 41 EMRK verlangen. Die maßgebliche Frage, ob die Strafminderung dem Umfang der Konventionsverletzung (bei unzulässiger Tatprovokation) überhaupt hinreichend Rechnung tragen konnte, blieb im Fall Lüdi letztendlich offen.540 c) Zusammenfassung (1) Zwar hat der EGMR die Frage, welche innerstaatlichen Maßnahmen er als ausreichende Wiedergutmachung für eine konventionswidrige Tatprovokation ansehen würde, bislang noch nicht ausdrücklich beantwortet.541 Zahlreiche Aspekte der Teixeira de Castro-Entscheidung weisen jedoch schon jetzt darauf hin, dass ein die Fairness des Verfahrens verletzender Lockspitzeleinsatz die Verurteilung des Straftäters verhindert. Eine bloße Strafmilderung wird dem Umfang der Konventionsverletzung nicht gerecht.542 (2) Eine Auseinandersetzung mit dem Problem, wie eine solche Straffreistellung des Täters dogmatisch einzuordnen ist (d.h. Vorliegen eines Beweisverwertungsverbotes, Verfahrenshindernisses oder persönlichen Strafausschließungsgrundes), ist nicht Aufgabe des EGMR, denn dies betrifft die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens, welche zu regeln grundsätzlich Sache der Konventionsstaaten ist.543

II. Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung Die deutsche Rechtsprechung hat die Auseinandersetzung mit der Spruchpraxis des EGMR zwar nicht verweigert, ihr wird jedoch vorgeworfen, eine „halbherzige Lösung“ gefunden und den Vorgaben des EGMR damit nicht gerecht geworden zu sein.544 Inwieweit diese Vorwürfe berechtigt sind, kann anhand 539

Dazu oben EGMR [Lüdi/Schweiz] (Fn. 395). Frowein/Peukert Art. 25 EMRK Rn. 34. 541 Zukünftig wird sich dieses Problem für den Gerichtshof im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung stellen, wenn sich die staatlichen Behörden auf den Wegfall der Beschwer berufen, weil die Strafe aufgrund der konventionswidrigen Tatprovokation gemildert worden ist. Vgl. oben S. 140 [Teil 2.C.I.3.b)cc)]. 542 Dazu oben S. 138 ff. [Teil 2.C.I.3.b)]. Vorsichtiger Weigend StV 2001, 63 (64). 543 Ebenso Renzikowski, in: GS Keller, S. 197 (204). 540

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

der vorangegangenen inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Straßburger Rechtsprechung nunmehr abschließend beurteilt werden. 1. Der Lockspitzeleinsatz ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage a) Derzeitige Rechtslage Nach Ansicht des BGH ist der Einsatz heimlicher Ermittler „zur Bekämpfung besonders gefährlicher und schwer aufklärbarer Kriminalität“ erforderlich und deshalb auch ohne gesetzliche Grundlage zulässig. Das gilt auch, wenn diese Personen als Lockspitzel tätig werden.545 Unabhängig von der Verhaltensweise der heimlichen Ermittler lehnt es die Rechtsprechung ab, diese Ermittlungsmaßnahmen als einen wesentlichen Eingriff in grundrechtlich geschützte Rechte der Bürger anzusehen,546 weshalb ihrer Auffassung nach der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes keine Schwierigkeiten bereitet. Anders sieht dies ein Großteil der Literatur. Sie hält sowohl die gesetzliche Regelung des V-Mann-Einsatzes547 als auch der Tatprovokation für notwendig, weil durch diese Ermittlungsmaßnahmen maßgeblich in Grundrechtspositionen eingegriffen werde.548 Das Schrifttum hat dabei insbesondere den grundrechtlichen Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG),549 der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)550 und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. 2 Abs. 1 GG)551 im Auge.

544

Dazu oben S. 105 (Teil 2.A.). Siehe Nachweise (Fn. 372). 546 Vgl. hierzu auch Eschelbach StV 2000, 390 (393). 547 Also nicht nur die des verdeckten Ermittlers, vgl. hierzu §§ 110a ff. StPO. 548 Herzog StV 2003, 410 (412). Zusammenfassend Götting, Beweisverwertungsverbote, S. 261 ff. 549 Berz JuS 1982, 416 (420); Voller, Der Staat als Urheber von Straftaten, S. 65, 66. 550 Voller, Der Staat als Urheber von Straftaten, S. 68; Dencker, in: Lüderssen, VLeute, die Falle im Rechtsstaat, S. 238 (246). 551 Auf einen Eingriff in die (durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützte) Ehre verweisend Lagodny StV 1996, 167 (171). Zur Regelungsbedürftigkeit des VMann-Einsatzes unter dem Aspekt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfGE 65, 1 ff.) hingegen bspw. Hamm StV 2001, 81 (82); Renzikowski JZ 1997, 710 (714); Fezer JZ 1995, 972; Krüger JR 1984, 490 (492); Perschke, Die Zulässigkeit nicht spezialgesetzlich geregelter Ermittlungsmethoden, S. 119 f.; Riepl, Informationelle Selbstbestimmung, S. 212 ff.; Sánchez, Recht auf informationelle Selbstbestimmung, S. 229; Schmitz, Verdeckter Ermittler, S. 17 ff., 45, 142 ff., 146; SK-StPO-Rudolphi Vor § 94 Rn. 48. Vgl. auch Amelung/Wirth StV 2002, 161 (166); SK-StPOWolter Vor § 151 Rn. 92 u. 99; Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozessrecht, ders. NStZ 2000, 490 (493). 545

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Das BVerfG teilt im Wesentlichen die Auffassung des BGH,552 hat jedoch in einer jüngeren Kammerentscheidung deutlich werden lassen, dass das Verhalten heimlicher Ermittler in bestimmten Fällen durchaus Eingriffscharakter erlangen kann und dann einer gesetzlichen Grundlage bedarf.553 Im Fall Sedlmayr musste sich das BVerfG mit der Frage befassen, ob V-Leute ohne gesetzliche Grundlage zur Ausforschung der Verlobten eines wegen Mordes verdächtigten Angeklagten eingesetzt werden durften. Die Kammer verneinte dies und betonte den Eingriffscharakter der Maßnahme, weil die heimlichen Ermittler besonders geschützte Vertrauensverhältnisse missachtet hätten.554 Den Forderungen der Literatur, den Einsatz von heimlichen Ermittlern und deren Lockspitzeltätigkeit generell als regelungsbedürftigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu qualifizieren, ist das BVerfG damit allerdings noch nicht nachgekommen.555 Die Diskussion über die Regelungsbedürftigkeit des V-Mann bzw. Lockspitzeleinsatzes ist deshalb nach wie vor im Fluss. b) Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK Wenn der BGH den Lockspitzeleinsatz nach wie vor ohne gesetzliche Grundlage billigt, so kann – zumindest unter dem Aspekt der Einhaltung konventionsrechtlicher Garantien – nichts dagegen eingewandt werden. Die Straßburger Organe behandelten die Frage, ob und inwieweit das in Art. 8 Abs. 1 EMRK verbürgte Recht auf Achtung des Privatlebens den Bürger vor Einsätzen heimlicher Ermittler und Lockspitzeltätigkeit schützt, bislang nur sehr zurückhaltend. Allein in dem täuschenden Auftreten gegenüber Verdächtigen zum Zwecke ihrer Überführung sehen Kommission und Gerichtshof jedenfalls keinen regelungsbedürftigen Eingriff.556 Damit ist zwar nicht gesagt, dass die Konventionsorgane unter dem Aspekt des „Rechts auf Privatheit“557 jedes Verhalten heimlicher Ermittler billigen; die Frage unter welchen Umständen der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK eröffnet sein kann, ist jedoch bislang offen geblieben.558

552

Siehe Nachweise (Fn. 372). BVerfG (Fn. 491) NStZ 2000, 489 m. Anm. Rogall. Dazu auch Amelung/Wirth StV 2002, 153 (166). 554 Kritisch zu dieser Entscheidung Rogall NStZ 2000, 490 (493). 555 Amelung/Wirth StV 2002, 153 (166). 556 Dazu oben S. 128 [Teil 2.C.I.1.b)]. 557 Zum Begriff vgl. Rogall NStZ 2000, 490 (493). 558 Dazu oben S. 128 ff. [Teil 2.C.I.1.b) u. c)]. 553

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

2. Zulässigkeit und Grenzen einer polizeilichen Tatprovokation a) Derzeitige Rechtslage Zwischenzeitig hielt es der BGH für rechtsstaatlich unbedenklich, wenn heimliche Ermittler (mit dem Ziel einen Einstieg in einen Händlerring zu bekommen) auch gegen unverdächtige Personen tatprovozierend tätig wurden.559 Dem fehlenden Anfangsverdacht wurde aufgrund der von den Provozierten entwickelten Eigeninitiative keine „entscheidende Bedeutung“ zugemessen.560 Bereits in späteren Entscheidungen, die noch vor dem Urteil des EGMR lagen, revidierte der BGH jedoch diese Ansicht. Er wies nunmehr darauf hin, dass tatprovozierende Ermittlungstätigkeiten nur gegen Personen eingesetzt werden dürften, gegen die ein Verdacht i. S. d. § 160 Abs. 1 StPO bestünde, entsprechende Straftaten zu planen oder darin verwickelt zu sein.561 Unter dem Eindruck der Rechtsprechung des EGMR wurde diese Auffassung noch einmal bestätigt und eingehend begründet.562 Unklar ist in diesem Zusammenhang die vom BGH verwendete Begriffsbestimmung über das Vorliegen einer „Provokation“. Abweichend vom Begriff der materiellen Anstiftung betonte er in einer seiner letzten Entscheidungen, dass eine Tatprovokation dann nicht vorliege, „wenn eine Vertrauensperson einen Dritten ohne sonstige Einwirkung lediglich darauf anspräche, ob dieser Betäubungsmittel beschaffen könne“ und wenn nur „die offen erkennbare Bereitschaft zur Begehung oder Fortsetzung von Straftaten“ ausgenutzt werde.563 Erkennbar soll für diese Fälle das Erfordernis eines Tatverdachtes nicht gelten. Der Gedanke, dass eine offensichtliche Tatneigung des Provozierten das Erfordernis eines Tatverdachtes ersetzen kann, scheint also noch nicht gänzlich überwunden.564 Richtet sich das Vorgehen der Ermittlungsbehörden gegen einen verdächtigen Rauschgifthändler, so ist nach Auffassung des BGH der Grad der zulässigen Einflussnahme nach der Stärke des gegen den Betroffenen bestehenden Tatverdachts zu messen. Die Stimulierung zur Begehung einer Straftat darf um so nachhaltiger sein, je stärker die Person „in einem den §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 2 vergleichbaren Grad verdächtig ist, an einer bereits begangenen Straftat beteiligt 559

Siehe bereits Nachweise (Fn. 512) oben S. 134 [Teil 2.C.I.2.b)bb)(2)(a)]. BGHSt 32, 345 (348). 561 Vgl. etwa BGH (Fn. 512) NStZ 1995, 506 (507). 562 BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (337) = StV 2000, 57 (61); BGH (Fn. 377) BGHSt 47, 45 (48) = StV 2001, 492 (493) m. Anm. Weber NStZ 2002, 50. 563 BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (338); BGH (Fn. 377) BGHSt 47, 45 (47); zustimmend Roxin JZ 2000, 363 (370). 564 Diesbezüglich kritisch auch Kinzig StV 1999, 288 (291); Endriß/Kinzig NStZ 2000, 271 (273); Sommer StraFo 2000, 150 (153). 560

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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gewesen zu sein oder zu einer zukünftigen Straftat bereit zu sein“.565 Allerdings betont der Gerichtshof auch hier, dass es nicht Aufgabe einer dem Fairnessgrundsatz verpflichteten staatlichen Strafrechtspflege sein kann, einen Tatverdächtigen, der die ihm angesonnene Tat aber ablehnt, zu einer solchen zu provozieren oder zur Begehung einer im Unrechtsgehalt gegenüber der Tatverdachtslage erheblich gesteigerten Tat zu verleiten.566 Aus diesem Grunde hält er nachhaltige Einwirkungen auf den Verdächtigen (wie z. B. intensives Bedrängen, Betteln, Flehen, Drohen oder Erpressen) ebenso für unzulässig,567 wie das Drängen der Zielperson zu einer schwerwiegenderen als der geplanten Straftat.568 b) Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK Mit der Entscheidung, die frühere Spruchpraxis aufzugeben und tatprovozierendes Verhalten nur noch zur Überführung bereits tatverdächtiger Personen zuzulassen,569 hat sich der BGH den vom EGMR aufgestellten Grundsätzen und Kriterien zur Beurteilung einer konventionswidrigen Tatprovokation grundsätzlich angeschlossen.570 Für eine vollständige Umsetzung der Straßburger Spruchpraxis ist jedoch erforderlich, dass der BGH tatsächlich jede tatprovozierende bzw. anstiftende Tätigkeit von heimlichen Ermittlern unter die Bedingung des Vorliegens eines Tatverdachtes stellt. Der Fall Teixeira de Castro hat gezeigt, dass der EGMR dem Einwand der „ohnehin vorhandenen Tatbereitschaft“ sehr kritisch gegenübersteht. Er verlangt konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Zielperson bereits vor Tätigwerden der Lockspitzel in derartige kriminelle Geschäfte verwickelt war, sodass durch das Verhalten der heimlichen Ermittler nur Straftaten in der Art und dem Umfang realisiert wurden, zu denen der Provozierte bereits vorher willens und in der Lage war. Allein der Umstand, dass sich eine Person relativ schnell und ohne nachhaltige Einwirkung zu einem Rauschgiftgeschäft verführen lässt, reicht nach der Begründung des EGMR nicht aus, um das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden zu legitimieren.571 Die vom BGH vorgenommene Definition der Tatprovokation nur in Fällen der „Einwirkung von einiger Erheblichkeit“ ist daher zu korrigieren. Eine Tatprovokation liegt entsprechend den 565

BGH (Fn. 377) BGHSt 47, 45 (49). Hierzu auch Weber NStZ 2002, 50 (51). BGH (Fn. 377) BGHSt 47, 45 (50). 567 Zu den Fallgruppen in denen der BGH eine unzulässige Tatprovokation bejahte näher BtmG-Körner § 29 Rn. 476 ff.; ders., Kriminalistik 2002, 449 (451 ff.). 568 Vgl. BGH (Fn. 377) BGHSt 47, 45 (49 ff.). 569 Siehe Nachweise (Fn. 562). 570 Vgl. auch Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 177. 571 Dazu oben S. 134 f. [Teil 2.C.I.2.b)bb)(2)(a)]. 566

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Regeln der Beteiligungslehre immer dann vor, wenn durch das Verhalten im Täter ein konkreter Tatentschluss hervorgerufen wurde. Eine solche Vorgehensweise darf zur Aufklärung von Straftaten nur dann erfolgen, wenn ein entsprechender Tatverdacht gegen die Zielperson vorliegt.572 Zur Rechtsprechung des BGH über die Grenzen von Lockspitzeltätigkeiten bei bestehendem Tatverdacht kann nach dem derzeitigen Stand der Straßburger Rechtsprechung nur wenig angemerkt werden. Aus der bisherigen Spruchpraxis von Kommission und Gerichtshof ist deutlich geworden, dass ein tatprovozierendes Vorgehen der Ermittlungsbehörden nicht grundsätzlich als ein Verstoß gegen die Fairness angesehen wird. Der EGMR hat gegen ein anstiftendes Verhalten nichts einzuwenden, wenn sich aus den Umständen des Einzelfalls ergibt, dass die Zielperson bereits in entsprechende strafbare Handlungen involviert war und die heimlichen Ermittler letztendlich nur einen latent vorhandenen Tatentschluss konkretisiert haben.573 Es ist jedoch voraussehbar, dass der Straßburger Gerichtshof (ebenso wie der BGH) die Grenze des Zulässigen dann für überschritten hält, wenn heimliche Ermittler zu willensbeugenden Maßnahmen greifen (wie etwa Ausübung von Druck, Drohung oder Erpressung). Derartige Verhaltensweisen sind aufgrund ihrer Intensität darauf angelegt, den Tatverdächtigen zu einer Straftat zu verleiten, die er, trotz seines generellen Tatplans an solchen strafbaren Handlungen teilzunehmen, nicht wollte. Auch wenn sich aus der Gesamtwürdigung der Umstände ergibt, dass der Verdächtige durch das Verhalten der Lockspitzel tiefer als von ihm selbst geplant in die Kriminalität gedrängt wurde, wird der EGMR die Begehung der Straftat als ein „Werk des Staates“ angesehen.574 Letztendlich ist auch aus Straßburg eine stark einzelfallorientierte Rechtsprechung zu erwarten. 3. Folgen einer gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßenden Tatprovokation a) Derzeitige Rechtslage Der BGH hält auch in Anbetracht der Rechtsprechung des EGMR an seiner Auffassung fest, dass eine unzulässige Tatprovokation nicht zu einer Straffreiheit des Provozierten führen könne.575 572

Ebenso Nachweise (Fn. 564). Dazu oben S. 133 [Teil 2.C.I.2.b)bb)(2)] mit Verweis auf die Ausführungen der Kommission in den Fällen R. Müller gegen Österreich; M. H. Shahzad und K. L. gegen Großbritannien sowie des EGMR in den Fällen Teixeira de Castro gegen Portugal und Calabro gegen Italien. 574 Vgl. auch Kinzig StV 1999, 288 (292). 575 Siehe dazu bereits oben S. 105 (Teil 2.A.). 573

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Wird also ein unbescholtener Bürger von einem polizeilichen Lockspitzel auf gut Glück angesprochen und gefragt, ob er nicht Rauschgift o. ä. liefern könne, so befreit ihn weder ein Verfahrenshindernis noch ein Beweisverwertungsverbot oder ein persönlicher Strafausschließungsgrund vor der Bestrafung wegen der Begehung eines Betäubungsmitteldelikts, wenn er unter dem Eindruck der finanziellen Zuwendung auf diese Anstiftung reagiert, verhandelt, „Stoff“ zu beschaffen sucht oder liefert.576 Auch der BGH geht in diesen Fällen von einem Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK aus. Er ist jedoch hauptsächlich aus Zweckmäßigkeitsgründen577 der Ansicht, dass die Verletzung des Fairnessprinzips die Durchführung des Verfahrens nicht hindern kann. Der (im Ermittlungsverfahren liegende) Konventionsverstoß sei vielmehr auf der Ebene der Strafzumessung durch die Anerkennung eines besonderen, gewichtigen und schuldunabhängigen Strafmilderungsgrundes zu berücksichtigen und zu kompensieren. Als Strafzumessungsspielraum bietet der BGH – je nach Fallkonstellation – an: Die Verneinung eines besonders schweren Falls (selbst bei Vorliegen eines oder mehrerer Regelbeispiele), die Annahme eines minder schweren Falles, dass Zurückgehen auf die gesetzliche Mindeststrafe, die Einstellung des Verfahrens nach den §§ 153, 153a StPO bei Vergehen oder – selbst bei Verbrechen – die Verwarnung mit Strafvorbehalt.578 Da die Strafminderung nach Auffassung des BGH eine vorweggenommene Wiedergutmachung des in der unzulässigen Tatprovokation liegenden Konventionsverstoßes ist, hält er es im Lichte der Rechtsprechung des EGMR579 für ausreichend, wenn im Urteil die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausdrücklich ausgesprochen und das hierdurch bedingte Maß der Strafminderung in den Urteilsgründen exakt bestimmt wird.580 b) Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 und 41 EMRK Sein Beharren auf der Strafzumessungslösung begründet der BGH hauptsächlich mit dem Argument, dass im Urteil des EGMR letztendlich offengeblieben sei, ob allein schon die unzulässige Tatprovokation den Verstoß gegen Art. 6 EMRK bewirkt habe oder ob erst die Tatprovokation zusammen mit dem späte576

BtmG-Körner § 29 Rn. 475. Vgl. Wolter, in: FG BGH IV, S. 963 (979, 982). 578 Vgl. BGH (Fn. 372) BGHSt 32, 345 (355); bestätigt durch BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (332 ff.) und BGH (Fn. 377) BGHSt 47, 45 (47). Kritisch dazu unter Anwendung der Grundsätze des Strafzumessungsrechts Kutzner StV 2002, 277. 579 Dazu oben S. 137 [Teil 2.C.I.3.a)]. 580 BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (339); 47, 45 (47). 577

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ren Strafverfahren (insbesondere die „ziemlich hohe Strafe“) konventionswidrig war.581 Für letzteres spreche die vom EGMR bei der Bewertung der Fairness bevorzugte „Gesamtwürdigung der Umstände“582 und die (nach Ansicht des BGH) aus Ziff. 33 des EGMR-Urteils abzulesende Tatsache, „dass die im Fall des Bf. als zu hoch empfundene Strafe ein wesentlicher Grund für die Entscheidung des EGMR war.“583 Letztendlich wurde noch die allgemeine Begründung bemüht, dass der Straßburger Gerichtshof mit seinen Entscheidungen grundsätzlich nicht in die nationalen Regeln der Zulässigkeit von Beweismitteln eingreifen wolle und diese Frage deshalb grundsätzlich der Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte überlassen bleibe.584 Die Argumentation des BGH vermag wenig zu überzeugen: Hätte der EGMR – wie vom BGH behauptet – maßgeblich auf die Höhe der verhängten Strafe abgestellt, so wäre kaum verständlich, warum er das Verfahren dennoch als „von Anfang an“ unfair bezeichnete.585 Es ist logisch nicht nachvollziehbar, wie es für die Beurteilung eines Verfahrens, das von Anfang an nicht fair war, am Ende wesentlich auf die Höhe der verhängten Strafe ankommen soll.586 In Ziffer 33 der Straßburger Entscheidung wurde lediglich die Auffassung der Kommission wiedergegeben, wonach „die Begehung der strafbaren Handlung und die Verurteilung des Bf. zu einer ziemlich schweren Strafe hauptsächlich ein Ergebnis der Handlungsweise der Polizeibeamten war.“ Ist bereits fraglich, ob man hieraus überhaupt die vom BGH gewollte Schlussfolgerung ziehen kann,587 verwundert die Annahme um so mehr, dass auch der EGMR das Kriterium der „ziemlich hohen Strafe“ aufgegriffen haben soll, denn in seiner eigenen Entscheidungsbegründung taucht es nicht mehr auf.588 581

BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (333). BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (332). 583 BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (339). 584 BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (333, 335). 585 So auch das Hauptargument der Kritiker dazu oben S. 139 [Teil 2.C.I.3.b)aa)] mit (Fn. 533). 586 Maul, in: Geiß u. a., FG BGH, S. 569 (574). 587 M. E. wollte die Kommission hier hauptsächlich darauf hinweisen, dass die Bestrafung des Täters nur die provozierte Tat und nicht eine darüber hinausgehende Tätigkeit des Provozierten betraf. Vgl. hierzu auch der Hinweis des EGMR in Ziff. 38: „Auch das Urteil . . . enthält keinen Hinweis darauf, dass der Bf. zum Zeitpunkt seiner Festnahme mehr Drogen in Besitz hatte, als die Menge, welche die Polizeibeamten verlangt hatten, womit er über das hinausgegangen wäre, wozu ihn die Polizei angestiftet hatte.“ 588 Vgl. dazu oben S. 110 ff. [Teil 2.B.I.1.b)]. Endriß/Kinzig NStZ 2000, 269 (272) weisen insoweit auf einen Widerspruch der Entscheidung des BGH hin, da er es anfangs als „offen“ bezeichnet, ob schon die unzulässige Tatprovokation die Verletzung der Fairness bewirkt habe, am Ende aber doch feststellte, dass die „zu hoch empfundene Strafe“ ein wesentlicher Grund für die Entscheidung des EGMR gewesen sei. 582

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Auch bedeutet die grundsätzlich richtige Feststellung, dass der EGMR nicht in nationale Regeln über die Zulässigkeit von Beweismitteln eingreifen will, keineswegs, dass der Straßburger Gerichtshof die Strafzumessungslösung im Falle unzulässiger Tatprovokation als konventionskonforme Lösung anerkennen muss.589 Zwar hat der EGMR nicht die Möglichkeit in innerstaatliche Akte einzugreifen. (Es ist ihm daher nicht möglich ein gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßendes Urteil aufzuheben oder etwa Anordnungen in diese Richtung zu erteilen.) Er kann jedoch – entgegen der Ansicht der innerstaatlichen Gerichte – eine Verletzung der Konvention feststellen und eine entsprechende Entschädigungssumme festsetzen, wenn er der Auffassung ist, dass die als Wiedergutmachung gedachte Maßnahme dem Umfang der Konventionsverletzung nicht hinreichend Rechung trägt.590 Wie die Analyse des Teixeira de Castro-Urteils ergeben hat, sprechen zahlreiche Gesichtspunkten für die Annahme, dass der Straßburger Gerichtshof im Falle der Tatprovokation des Nichtverdächtigen bereits die Zulässigkeit der Strafverfolgung und Bestrafung in Frage stellte, weshalb eine bloße Strafminderung die Feststellung einer Konventionsverletzung nicht hätte verhindern können.591 Die Straßburger Rechtsprechung unterstützt somit die Ansicht, dass staatliche Tatprovokation in bestimmten Fällen592 (trotz des eigenverantwortlich strafbaren Verhaltens des Provozierten) zu einer Straffreistellung führen muss.593 Ob diese Straffreistellung auf der Annahme eines Verfahrenshindernisses mit der Folge der Verfahrenseinstellung beruht oder auf der Annahme eines umfassenden Beweisverwertungsverbotes bzw. eines Strafausschließungsgrundes mit der Folge eines Freispruchs, ist aus der Sicht des Straßburger Gerichtshofs zweitrangig.594 Maßgeblich ist, dass der Schuldspruch gehindert wird.595

589

Vgl. hierzu auch Renzikowski, in: GS Keller, S. 197 (203 f.). So bereits geschehen in EGMR [Eckle/BRD] (Fn. 524), als der EGMR feststellte, dass die Bf. weder durch die in einem Verfahren anerkannte Strafmilderung noch durch die in einem anderen Verfahren erfolgte Einstellung des Verfahrens ihren „Opferstatus“ verloren hatten und eine Konventionsverletzung bejahte. 591 Dazu oben S. 138 ff. [Teil 2.C.I.3.b)]. 592 Zur Beschränkung dieser Lösung auf Fälle ohne „Rechtsgutsverletzung“ nachfolgend III. 593 Zur Forderung der Straffreistellung in der Literatur und den Streit um die rechtliche Einordnung dieser Rechtsfolge zusammenfassend Wolflast, Staatlicher Strafanspruch und Verwirkung, S. 238 ff. m. w. Nw. 594 Sommer NStZ 1999, 48 (50). 595 Vgl. auch Eschelbach StV 2000, 390 (395); Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 178. Zum Problem des strafrechtlichen Schuldspruchs als eigenständigen Grundrechtseingriff Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 96 ff. 590

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

III. Lösungsweg: Straffreiheit für den rechtswidrig Provozierten bei fehlender materieller Rechtsgutverletzung 1. Staatliche Provokation als Verfahrenshindernis Die Straßburger Rechtsprechung hat in Deutschland eine lebhafte Diskussion darüber ausgelöst, mittels welcher Instrumentarien des nationalen Rechts auf eine konventionswidrige staatliche Tatprovokation zu reagieren ist: Roxin sieht sich durch die Straßburger Formulierung, dass der ohne Tatverdacht Provozierte „right from the outset“ einem unfairen Verfahren ausgesetzt war, in seiner Auffassung bestätigt, dass das rechtsstaatswidrige Verhalten des Staates nicht erst das Verfahren betreffe, sondern bereits die Entstehung der Strafbefugnis hindere.596 Wenn es keine Möglichkeit gäbe, das Verfahren so zu gestalten, dass es als fair angesehen werden könne, wenn überhaupt keine Beweise mehr aufgenommen werden dürften, dann könne dies nur auf einem gänzlichen Fehlen des Bestrafungsrechts beruhen. Dann liege aber in Wahrheit kein prozessuales, sondern ein materiellrechtliches Problem vor, mit der Folge, dass ein materiellrechtlicher Strafausschließungsgrund anzunehmen sei.597 Eine Reihe von anderen Autoren sehen durch die staatliche Tatprovokation nicht schon die Entstehung der Strafbefugnis, sondern erst ihre Durchsetzung in einem Strafverfahren verhindert. Sie gehen deshalb vom Vorliegen eines Verfahrenshindernisses aus.598 Das staatliche Fehlverhalten könne an der Strafbarkeit des Verhaltens des Provozierten selbst „nicht rütteln“.599 Die Tat bliebe ungeachtet der Provokation strafbedürftig. Jedoch könne bei einer rechtswidrigen Tatprovokation der Zweck des Strafverfahrens nicht mehr erreicht werden, welcher in der Bestätigung des Rechtsbewusstseins der Allgemeinheit durch die Bewährung der Rechtsordnung und damit in der Wiederherstellung des durch die Tat gestörten Rechtsfriedens bestünde.600 Eine dritte Ansicht betont, dass der EGMR nicht nur die Tatprovokation als solche, sondern auch ihren Gebrauch im nachfolgenden Strafverfahren als konventionswidrig bezeichnete.601 Aus diesem Grunde sei die Feststellung des

596 Roxin JZ 2000, 369; Wolter, in: Roxin/Widmaier, FG BGH IV, S. 963 (980). Ebenso in Bezug auf die Rechtslage in Österreich Fuchs ÖJZ 2001, 495 (497). 597 So Fuchs ÖJZ 2001, 495 (497). 598 Vgl. auch Küpper JR 2000, 257 (259); Eschelbach StV 2000, 390 (395) Maul, in: Geiß u. a., FG BGH, S. 569 (577 ff.); Herzog StV 2003, 410 (412); Esser, Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 178. 599 Hillenkamp NJW 1989, 2841 (2846). 600 Schumann JZ 1986, 66 (71). Zusammenfassend zur Argumentation der Befürworter eines Verfahrenshindernisses Wolfslast, Staatlicher Strafanspruch, S. 238 ff.

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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EGMR als Beweiserhebungs- und -verwertungsverbotes zu verstehen, welchem allerdings die Wirkung eines Verfahrenshindernisses gleichkomme.602 Die Rechtsprechung dürfte jedoch einer Lösung über die Annahme eines Verfahrenshindernisses am ehesten geneigt sein, hat doch das BVerfG den Weg in diese Richtung bereits geöffnet. Schon Ende der 80er Jahre deutete es an, dass die Mitwirkung eines polizeilichen Lockspitzels bei der Überführung von Straftätern zumindest dann die Durchsetzung staatlicher Strafbefugnis hindern könne, „wenn nach Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere auch der im Rechtsstaatsprinzip selbst angelegten Gegenläufigkeiten, unzweideutig feststeht, dass rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind.“603 An anderer Stelle äußerte das BVerfG die Ansicht, dass die Entscheidung über die Strafverfolgung grundsätzlich einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen sei.604 Während Geeignetheit und Erforderlichkeit der Strafverfolgung mit der Erfüllung eines Straftatbestandes in der Regel vorlägen, könne eine Verhältnismäßigkeit i. e. S. entfallen, wenn die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stünden. In diesem Fall folge unmittelbar aus der Verfassung ein Verfahrenshindernis.605 Im jüngsten Nichtannahmebeschluss zum NPD-Verbotsverfahren,606 welches am Einsatz von V-Personen durch den Verfassungsschutz scheiterte, wurden diese Grundsätze durch das BVerfG erst erneut bestätigt:607 Das Gericht wies hier ausdrücklich darauf hin, dass kein staatliches Verfahren einseitig nur nach 601 EGMR [Teixeira de Castro/Portugal] (Fn. 364) Ziff. 39: „That intervention and its use in the impugned criminal proceedings meant that, right from the outset, the applicant was definitively deprived of a fair trial.“ 602 So bspw. Kinzig StV 1999, 288 (292); Sinner/Kreuzer StV 2000, 114 (116 f.); Lüderssen, in: FG BGH IV, S. 883; Kühne StV 2001, 73 (76); Ambos NStZ 2002, 628 (632). Zusammenfassend zur Argumentation der Befürworter eines Beweisverwertungsverbotes Wolfslast, Staatlicher Strafanspruch, S. 238. 603 BVerfG (Fn. 372) NJW 1987, 1874 (1875). Zum Verfahrenshindernis bei Verletzung des Beschleunigungsgebots BVerfG, Beschl. v. 24. 11. 1983 – 2 BvR 121/83, NJW 1984, 967; BVerfG, Beschl. v. 19. 4. 1993 – 2 BvR 1487/90, NJW 1993, 3254; BVerfG, Beschl. v. 14. 7. 1994 – 2 BvR 1072/94, NJW 1995, 1277; BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2001 – 2 BvR 828/01, NStZ 2001, 502. Zum Verfahrenshindernis bei „völkerrechtswidriger Entführung“ BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1994 – 2 BvR 435/87, EuGRZ 1986, 18; NStZ 1995. 604 Erstmals im Zusammenhang mit der Frage der Verfolgbarkeit früherer Stasi-Mitarbeiter wegen ihrer zuvor gegen die BRD gerichteten Spionagetätigkeit BVerfGE 92, 277 (336 ff.); kritisch Schünemann, in: FS Grünwald, S. 657 (678 ff.). Später bestätigt in BVerfG NStZ 2001, 502 (503) zur Frage eines Vollstreckungshindernisses bei überlanger Verfahrensdauer. 605 Dazu auch Eschelbach StV 2000, 390 (395). 606 BVerfG (Fn. 382). 607 Näher dazu Herzog StV 2003, 410 (412). Vgl. auch Lüderssen StV 2002, 169.

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Teil 2: Der polizeiliche Lockspitzeleinsatz

Maßgabe des jeweils rechtlich bestimmten Verfahrenszweckes ohne Rücksicht auf mögliche gegenläufige Verfassungsgebote durchgeführt werden dürfe.608 In besonders gelagerten Fällen rechtsstaatswidriger Provokationen von Straftaten durch Strafverfolgungsorgane könnten absolute Verfahrenshindernisse unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden.609 Von einem Verfahrenshindernis sei auszugehen, „wenn die Eröffnung oder die Fortsetzung eines gerichtlichen Verfahrens gemessen an seinen Zielen tatsächlich unmöglich ist oder in einem unerträglichen Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen steht“.610 Wendet man die vom BVerfG erhobenen Maßstäbe an, so muss in Fällen wie dem des Teixeira de Castro ein absolutes Verfahrenshindernis vorliegen. Denn die Strafverfolgung eines Täters, der ohne Tatverdacht zu einer Straftat provoziert wurde, welche letztendlich zu keiner materiellen Rechtsgutsverletzung611 führte, ist mit Blick auf den „erreichbaren Rechtsgüterschutz“ unangemessen und steht in einem unerträglichen Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen.612 2. Keine Straffreiheit bei materieller Rechtsgutsverletzung Damit ist aber auch eine wichtige Einschränkung der Anerkennung eines Verfahrenshindernisses für den zu Unrecht Provozierten angesprochen. Das Postulat einer Straffreistellung kann dann nicht gelten, wenn die Provokation zu einer materiellen Rechtsgutsverletzung führt.613 Bei provozierten Körperverletzungen, Einbruchsdiebstählen oder Sachbeschädigungen sind Täter und staatlicher Provokateur voll strafbar, weil der Schutz des Einzelnen nicht zurückgenommen werden darf und für den Staat auch nicht zur Disposition steht.614 Der EGMR selbst hat bei fundamentalen, durch die EMRK geschützten Rechtsgütern des Einzelnen eine positive Schutzpflicht des Staates bis hin zu einem Pönalisierungsgebot angenommen.615 Eine Aufgabe 608

BVerfG (Fn. 382) Ziff. 74. BVerfG (Fn. 382) Ziff. 73. 610 BVerfG (Fn. 382) Ziff. 119. 611 Näher hierzu LK-Roxin § 26 Rn. 71 ff. 612 Roxin JZ 2000, 369 (370). Ebenso Eschelbach StV 2000, 390 (395); Küpper JR 2000, 257 (259); Herzog StV 2003, 410 (412): „Die betroffene Person wird unter Verletzung der verfassungsrechtlich aus der Menschenwürde abzuleitenden Redlichkeitsvermutung und des rechtsstaatlichen Verbots, Ermittlungen mit dem Ziel zu führen, Straftaten überhaupt erst zu schaffen . . . instrumentalisiert.“ 613 Roxin JZ 2000, 369 (370). Näher zur Frage, wann eine materielle Rechtsgutsverletzung vorliegt LK-Roxin § 26 Rn. 71 ff. Fuchs ÖJZ 2001, 495 (497 f.) stellt darauf ab, ob es sich um ein Delikt die Rechtsgüter der Allgemeinheit oder des Einzelnen betreffend handelt. 614 Insoweit gehen die grundsätzlichen Bedenken des BGH (Fn. 372) BGHSt 45, 321 (334) gegen die Annahme eines Verfahrenshindernisses fehl. Vgl. auch Roxin JZ 2000, 369 (370). 609

D. Fazit

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der Strafverfolgung in diesen Fällen würde den Anforderungen der Konvention ebenso wiedersprechen.616 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass vor allem bei abstrakten Gefährdungsdelikten, insbesondere beim Rauschgifthandel, trotz Erfüllung der äußeren Tatbestandsmerkmale wie „einführen“, „veräußern“, „erwerben“ eine materielle Rechtsgutsverletzung nicht eintritt, solange der Veranlasser dafür sorgt, dass die abstrakte Gefahr sich nicht verwirklichen kann.617 Stiftet also der Lockspitzel (wie im Fall Teixeira de Castro) den Dealer zum Erwerb von Rauschgift an, dass er ihm selber abkauft, entfällt nicht nur die Strafbarkeit des Lockspitzels, sondern – mangels materieller Rechtsgutsverletzung – auch des Provozierten.618

D. Fazit Der BGH ist angesichts der Teixeira de Castro-Entscheidung aufgerufen, seine bisherige Auffassung zur Strafbarkeit von Tätern, die unter der rechtswidrigen Einwirkung polizeilicher Lockspitzel handelten, zu überdenken. Für den Fall überlanger Verfahrensdauer hat der BGH die Auffassung des BVerfG bereits übernommen und anerkannt, dass „das in ganz außergewöhnlichen Sonderfällen aus der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz folgende Verbot einer weiteren Strafverfolgung als Verfahrenshindernis zu behandeln und vom Tatrichter zu beachten ist.“619 Die Übernahme dieser Grundsätze auch auf die Fälle offensichtlich rechtsstaatswidriger Tatprovokation durch polizeiliche Lockspitzel ist angesichts dem inzwischen erreichten Stand der Argumentation und der internationalen Rechtsprechung ein weiterer notwendiger Schritt.620 615 Fuchs ÖJZ 2001, 495 (497) mit Verweis auf EGMR [McGinley und Egan/Großbritannien] Urt. v. 9. 6. 1998, Reports 1998-III, p. 1334, in deutscher Übersetzung abgedruckt in ÖJZ 1999, 355. 616 Anders, wenn die Tat im Versuch stecken bleibt. Auch hier wird für den Fall einer rechtswidrigen Tatprovokation eine Straflosigkeit des Provozierten kraft „teleologischer Reduktion der Strafbarkeit“ vertreten, vgl. LK-Roxin § 26 Rn. 77. So auch Fuchs ÖJZ 2001, 495 (498): „Für eine Strafbarkeit trotz Tatprovokation spricht eine allfällige konkrete Gefährdung des Opfers, dagegen der Umstand, dass der Provokateur meist keinen Vollendungsvorsatz hat und darum straflos bleibt, sowie die mangelnde Verpflichtung des Staates, bei grundrechtlich geschützten Gütern des Einzelnen auch die versuchte Verletzung generell unter Strafe zu stellen.“ 617 So insbesondere LK-Roxin § 26 Rn. 74. 618 Ebenso LK-Roxin a. a. O. Mit anderer Begründung Fuchs ÖJZ 2001, 495 (497 f.). 619 BGH, Urt. v. 25. 10. 2000 – 2 StR 232/00, StraFo 2001, 47 (49) mit Anm. I. Roxin. 620 Roxin JZ 2000, 369 (371) mit Verweis auf die frühere Rechtsprechung des BGH und der Rechtslage in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG jüngst auch Körner, Kriminalistik 2002, 449 (456).

Teil 3

Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten als Vertrauenspersonen und Berufsgeheimnisträger A. Problemstellung Eine nicht minder diskutierte heimliche Ermittlungsmethode zur Aufklärung und Verhinderung von Straftaten ist die Überwachung des Fernmeldeverkehrs. Mit dem „Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs“621 wurde bereits 1968 eine gesetzliche Grundlage zur systematischen Überwachung des Fernmeldeverkehrs geschaffen. Dem Gesetz war eine langwierige Diskussion über die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Eingriff in die Rechte des Art. 10 GG gestattet werden soll, vorangegangen.622 Nach seinem Erlass standen zunächst die mit Art. 1 G 10 dem Verfassungsschutz eingeräumten Befugnisse im Kreuzfeuer der Kritik. Die Gegner bemühten damals nicht nur das BVerfG,623 sondern auch die Straßburger Konventionsorgane624, um die Vereinbarkeit des Gesetzes mit Grund- und Menschenrechten abklären zu lassen. Die mit Art. 2 G 10 gleichfalls geschaffenen strafprozessualen Eingriffsmöglichkeiten spielten in der Diskussion hingegen zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Im Zuge der Anwendung der §§ 100a ff. StPO taten sich jedoch auch hier verschiedene Problembereiche auf, deren Behandlung bis heute umstritten ist. Ein solches Problemfeld ist u. a. die Frage, inwieweit Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte der Fernmeldeüberwachung Grenzen setzen. Bei Einfügen der §§ 100a ff. StPO war dem Gesetzgeber das Spannungsverhältnis zwischen uneingeschränkter Möglichkeit zur Fernmeldeüberwachung einerseits und dem in der StPO gleichermaßen angelegten Schutz von Vertrauensverhältnissen des Beschuldigten zu seinem Arzt, Anwalt oder Seelsorger andererseits 621

Sog. „G 10“ v. 18. 8. 1968, BGBl. 1968 I S. 949. Vgl. Dürig ZRP 1968, 11; ders., ZRP 1969, 179; Brenner, Strafprozessuale Überwachung des Fernmeldeverkehrs, S. 1 m. w. Nw. 623 BVerfG, Urt. v. 15. 12. 1970 – 2 BvF 1/69 . . ., BVerfGE 30, 1. 624 EGMR [Klass u. a./BRD] Urt. v. 6. 9. 1978, Serie A/28, in deutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 1979, 278. 622

A. Problemstellung

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zunächst nicht bewusst, weshalb eine Regelung von „Überwachungsverboten“ unterblieb.625 Verschiedene Versuche einer „Nachbesserung“ insbesondere durch Einführung eines Überwachungsverbotes für Rechtsanwälte scheiterten mit dem Argument, dass „ein besonderes Schutzbedürfnis für Anwälte wegen der mit einer Überwachungsfreiheit verbundenen Missbrauchsgefahr nicht anzuerkennen sei.“626 Entsprechend dieser – bis heute unveränderten – Gesetzeslage geht die deutsche Rechtspraxis und ein Teil des Schrifttums davon aus, dass sich die Telefonüberwachung grundsätzlich auch auf die nach §§ 52 ff. zeugnisverweigerungsberechtigten Personen erstrecken kann.627 Eine Ausnahme wird lediglich für die Gespräche des Verteidigers mit seinem Mandanten anerkannt.628 Die verfassungsrechtlich abgesicherte Garantie eines freien Verteidigungsbeistandes (§ 148 StPO)629 postuliert nach allgemeiner Auffassung ein Abhörprivileg für den Verteidiger, solange dieser nicht selbst der Begehung einer Katalogtat des § 100a StPO verdächtig ist.630 Der Anschluss des Verteidigers des Beschuldigten darf demnach nicht abgehört und evtl. erlangte Informationen nicht verwertet werden. Wird der Telefonanschluss des Beschuldigten überwacht, darf die Abhörung und Aufnahme des Gesprächs nicht fortgesetzt werden, sobald feststeht, dass der Gesprächspartner der Verteidiger ist. Die Verwertung des Inhaltes eines solchen Gespräches ist ausgeschlossen.631 Dass vor staatlicher Telefonüberwachung lediglich das Verteidiger-Mandanten-Verhältnis besonderen Schutz erfährt, wird in der Rechtslehre mittlerweile

625 Vgl. hierzu näher Brenner, Strafprozessuale Überwachung des Fernmeldeverkehrs, S. 15 m. w. Nw. 626 Brenner, Strafprozessuale Überwachung des Fernmeldeverkehrs, S. 16. Vgl. auch Beulke Jura 1986, 642 (644); Lücking, Strafprozessuale Überwachung, S. 23 f. m. w. Nw. 627 BGH, Beschl. v. 10. 3. 1999 – 1 StR 665/98, NStZ 1999, 416; K/M-G § 100a Rn. 10; LR-Schäfer § 100a Rn. 25; ders., FS Hanack, S. 77 (98); Beulke Jura 1986, 642 (644); Werle JZ 1991, 482 (486). 628 BGH, Urt. v. 5. 11. 1985 – 2 StR 279/85, BGHSt 33, 347 (349) sowie allgM vgl. etwa K/M-G § 100a Rn. 13; KK-Nack § 100a Rn. 30 jeweils m. w. Nw.; jüngst dazu auch Zöller, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungen, S. 325 (352 ff.). 629 Recht auf freie Verteidigerkommunikation, einfachgesetzlich geregelt in § 148 StPO; verfassungsrechtlich abgesichert durch das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip und das darin enthaltene Recht auf ein faires Verfahren [vgl. BVerfG, Beschl. v. 8. 10. 1974 – 2 BvR 747, . . ./73, BVerfGE 38, 105 (111); BVerfG, Beschl. v. 8. 4. 1975 – 2 BvR 207/75, BVerfGE 39, 238 (243); BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1977 – 2 BvR 462/77, BVerfGE 46, 202 (210); BVerfG, Beschl. v. 8. 10. 1985 – 2 BvR 1150/80 u. 1504/82, BVerfGE 70, 297 (322 f.)]. Näher hierzu Brenner, Strafprozessuale Überwachung des Fernmeldeverkehrs, S. 88 ff. 630 BGH (Fn. 628) BGHSt 33, 347 (349). 631 Welp JZ 1972, 423 (428).

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Teil 3: Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten

überwiegend als unzureichend angesehen.632 Auch familiäre und andere berufliche Vertrauensverhältnisse müssten Berücksichtigung finden, denn die Zulassung einer unbeschränkten Telefonüberwachung von Angehörigen und Berufsgeheimnisträgern unterlaufe die in der StPO niedergelegten Zeugnisverweigerungsrechte633 und stünde im Wertungswiderspruch zu anderen (heimlichen) Ermittlungsmethoden (§§ 97, 100d Abs. 3, 100h Abs. 2 StPO).634 Auch hier scheint die neuere Straßburger Spruchpraxis die Position der Kritiker zu stärken, welche jetzt sogar vom Gesetzgeber wahrgenommen wird.635 Im Fall Kopp gegen die Schweiz636 stellte der EGMR eine Verletzung des Art. 8 EMRK fest, weil aus der schweizerischen Vorschrift nicht eindeutig hervorging, ob ein Rechtsanwalt als zeugnisverweigerungsberechtigte Person von der Fernmeldeüberwachung ausgenommen ist oder nicht. Das Urteil könnte bedeuten, dass auch die deutsche Rechtslage – im Lichte der EMRK besehen – unzureichend ist und in Bezug auf die möglichen Adressaten einer Fernmeldeüberwachung einer gesetzlichen Konkretisierung bzw. inhaltlichen Änderung bedarf.637 Diesen Bedenken soll im Folgenden – im Hinblick auf die telefonische Überwachung von Rechtsanwälten – näher nachgegangen werden.

632 Rudolphi, FS Schaffstein, 433 (444 ff.); SK-StPO-Rudolphi § 100a Rn. 21; KKNack § 100a Rn. 29 ff.; HK-Lemke § 100a Rn. 14; KMR-Müller § 100a Rn. 16; Roxin, Strafprozessrecht, § 34 Rn. 27; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 353; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 523; ders. StV 1998, 683 (686); Duttke JZ 1999, 259 (264); vgl. auch die Beiträge in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen. Ebenso Lücking, Strafprozessuale Überwachung, S. 185 ff. und Gross-Spreizer, Die Grenzen der Telefonüberwachung, S. 91 ff. 633 Von einer „Disposition der Strafverfolgungsorgane über essentielle Recht der Zeugen spricht Zöller, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungen, S. 325 (341). 634 Vgl. etwa Wolter, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungen, S. 45 (49); Nack, ebenda, S. 199 (208). Zur Reform des Auskunftsrechts durch die neuen Regelungen der §§ 100g und 100h StPO Welp, GA 2002, 535. 635 Zur neuerlichen Absicht der Bundesregierung „den Schutz von Zeugnisverweigerungsrechten bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen in einem stimmigen Gesamtkonzept zu regeln“ vgl. BT-Drs. 14/7008 vom 1. 10. 2001, S. 8; dazu Hilger GA 2002, 228; ders. GA 2003, 483. 636 EGMR [Kopp/Schweiz] Urt. v. 25. 3. 1998, Reports 1998-II, p. 524, in deutscher Übersetzung abgedruckt in ÖJZ 1998, 115. 637 So insbesondere Kühne StV 1998, 683 (686); ders., Strafprozessrecht, Rn. 523.

B. Die Spruchpraxis zur Fernmeldeüberwachung von Rechtsanwälten

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B. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane zur Fernmeldeüberwachung von Rechtsanwälten und nationale Reaktionen im Überblick I. Die Spruchpraxis der Konventionsorgane Wer in Bezug auf die oben dargestellte Problematik eine umfangreiche Straßburger Rechtsprechung erwartet, wird enttäuscht. Die Vereinbarkeit staatlicher Fernmeldeüberwachung mit den Garantien der EMRK war zwar oft Gegenstand Straßburger Prüfung,638 mit der speziellen Problematik der Überwachung von Rechtsanwälten mussten sich die Konventionsorgane jedoch erst in drei Fällen befassen. Neben der bereits erwähnten Beschwerde gegen die Schweiz639 gab es zwei weitere Beschwerden gegen die Niederlande640, in denen eine unzulässige Überwachungstätigkeit bzw. ein unstatthaftes Eindringen in anwaltliche Vertrauensverhältnisse reklamiert wurde. Letztere waren allerdings nicht erfolgreich. Die Kommission wies sie als offensichtlich unbegründet ab. 1. Erfolglose Beschwerden a) Mulders gegen die Niederlande641 In der Sache Mulders gegen die Niederlande war der Bf. ein praktizierender Rechtsanwalt. Anfang 1989 geriet er in den Verdacht, Mitglied einer kriminellen Organisation zu sein und es wurde ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet. Außer ihm wurden noch weitere Personen verdächtigt. Im März 1989 erließ der Untersuchungsrichter eine Anordnung zur Überwachung einer Reihe von Telefonanschlüssen, die von Herrn Mulders genutzt wurden, darunter auch sein Bürotelefon. Da der Verdächtige, dessen Telefon überwacht wurde, ein praktizierender Anwalt war, informierte der Untersuchungsrichter den Vorsitzenden der Rechtsanwaltskammer. 638 So bspw. EGMR [Klass/BRD] (Fn. 624); [Malone/Großbritannien] Urt. v. 2. 8. 1984, Serie A/82, in deutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 1985, 17; [Kruslin/ Frankreich und Huvig/Frankreich] Urteile v. 24. 4. 1990, Serie A/176-A und 176-B, in deutscher Übersetzung abgedruckt in ÖJZ 1990, 564; [Halford/Großbritannien] Urt. v. 25. 6. 1997, Reports 1997-III, p. 1004, in deutscher Übersetzung abgedruckt in ÖJZ 1998, 311; [Lambert/Frankreich] Urt. v. 24. 8. 1998, Reports 1998-V, p. 2230, in deutscher Übersetzung abgedruckt in ÖJZ 1999, 570; [Valenzuela Contreras/Spanien] Urt. v. 30. 7. 1998, Reports 1998-V, p. 1909, in deutscher Übersetzung abgedruckt in ÖJZ 1999, 510; jüngst [Prado Bugallo/Spanien] Urt. v. 18. 2. 2003 (Section IV) – 58496/ 00; betreffend optische und akustische Überwachung der Wohnung [Kahn/Großbritannien] Urt. v. 12. 5. 2000, Reports 2000-V, p. 279, in deutscher Übersetzung abgedruckt in ÖJZ 2001, 654; JZ 2000, 993 mit Anm. Kühne/Nash. 639 EGMR [Kopp/Schweiz] (Fn. 636). 640 EKMR [Mulders/Niederlande] E v. 6. 4. 1995 – 23231/94; [Remmers and Hamer/Niederlande] E v. 18. 5. 1998 – 29839/96. 641 EKMR [Mulders/Niederlande] (Fn. 640).

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Teil 3: Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten

Wie aus einem Brief vom Januar 1991 hervorging, waren der Vorsitzende der RAKammer, der Untersuchungsrichter und der Staatsanwalt übereingekommen, dass nur Gespräche, welche die strafrechtlichen Ermittlungen betreffen, protokollarisch festgehalten werden dürften und dass die Bandaufnahmen bzw. Kopien der Gesprächsprotokolle regelmäßig dem Vorsitzenden der RA-Kammer zur Kontrolle zugesandt und bei diesem bis zur ihrer Vernichtung auch verbleiben sollten. Im Dezember 1989 wurde der Bf. festgenommen und kurz darauf Anklage vor dem Regionalgericht u. a. wegen Betruges und Beteiligung an einer kriminellen Organisation erhoben. Das Gericht verurteilte ihn zu 18 Monaten Freiheitsstrafe unter Anrechnung der U-Haft. In der Berufung bestritt Herr Mulders u. a. die Richtigkeit der Tonbandaufnahmen und plädierte für eine Nichtzulassung der Telefongespräche als Beweismittel. Seiner Auffassung nach sei die Telefonüberwachung unzulässig gewesen, da sie seine Geheimhaltungspflicht missachtete und die Interessen unbeteiligter Mandanten verletzte. Das Berufungsgericht führte hierzu aus, dass die niederländische StPO die Telefonüberwachung eines Rechtsanwaltes zulasse, wenn dieser selbst Verdächtiger sei. Zwar führe die Fernmeldeüberwachung von Personen, die keiner Offenbarungspflicht unterliegen, zur Aufnahme vertraulicher Gespräche, dies berechtige jedoch nicht den Schluss, dass diese Personen niemals abgehört werden könnten. Nach Auffassung des Gerichts gelte es Vertrauensschutz und das Interesse an der Wahrheitsfindung gegeneinander abzuwägen, wobei letzteres Vorrang habe, wenn die geheimhaltungsberechtigte Person selbst der Begehung einer Straftat verdächtig sei. Das Berufungsgericht verurteilte den Bf. unter Verwendung der aufgezeichneten Telefongespräche zu zwei Jahren Freiheitsstrafe unter Anrechnung der U-Haft. Auch die daraufhin eingelegte Revision hatte keinen Erfolg. Das Revisionsgericht führte zur Frage der Zulässigkeit der Telefonüberwachung aus, dass die Überwachung geheimhaltungsberechtigter Personen nicht ungesetzlich sei und dass die gesetzliche Regelung der Fernmeldeüberwachung nicht den Schluss rechtfertige, dass das Telefon eines Rechtsanwaltes nur unter außergewöhnlichen Umständen überwacht werden könne.

Vor der Europäischen Kommission für Menschrechte beklagte der Bf. eine Verletzung des Art. 8 EMRK. Zum einen erfülle die niederländische Gesetzgebung nicht die Anforderungen dieser Vorschrift, da sie keine ausreichenden Sicherungen gegen Missbrauch bereit halte und zu viele Streitfragen in das Ermessen der Gerichte stelle. Zum anderen machte er geltend, dass mit der Überwachung all seiner Mandantengespräche unverhältnismäßig in das Berufsgeheimnis eingegriffen worden sei. Die Kommission konnte die Auffassung des Bf. nicht bestätigen. Im Hinblick auf den ersten Beschwerdepunkt verwies sie auf eine Reihe von Entscheidungen, in denen diese Frage bereits untersucht und festgestellt worden war, dass die §§ 125 f–h nlStPO dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK enthaltenen Grundsatz von der „Vorherrschaft des Rechts“ ausreichend Rechnung tragen.642 Darüber hinaus sei nicht ersichtlich, dass die Gerichte die relevanten Vorschriften nicht beachtet oder willkürlich angewandt hätten. Der Eingriff in das Recht auf Achtung des

B. Die Spruchpraxis zur Fernmeldeüberwachung von Rechtsanwälten

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Privatlebens bzw. Briefverkehrs i. w. S. wäre deshalb „gesetzlich vorgesehen“ gewesen. In Bezug auf den zweiten Beschwerdepunkt stellte die Kommission klar, dass auch an der Verhältnismäßigkeit der Überwachungsmaßnahmen nicht zu zweifeln sei. Auch unter besonderer Beachtung des beruflichen Geheimhaltungsrechts des Bf. und dem Recht der Klienten auf Vertrauensschutz sei die Telefonüberwachung nicht unverhältnismäßig gewesen. Dies zum einen in Bedacht darauf, dass der Bf. selbst Tatverdächtiger war. Zum anderen aber auch angesichts der vorhandenen Schutzmechanismen wie die Einbeziehung des Vorsitzenden der Rechtsanwaltskammer und die Verpflichtung zur Vernichtung nicht relevanten Materials nach § 125h nlStPO. Insgesamt könne der Eingriff in die Rechte des Bf. als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ angesehen werden. b) Remmers and Hamer gegen die Niederlande643 Im Fall Remmers and Hamer beklagten ein Rechtsanwalt und sein Mandant die Überwachung von Verteidigergesprächen. Im Dezember 1993 wurde der 1. Bf., Herr Remmers, wegen bewaffneten Raubüberfalls und versuchten Totschlags an zwei Polizisten festgenommen. Im März 1994 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage vor dem Regionalgericht. Der 2. Bf., Herr Hamer, verteidigte den 1. Bf. in diesem Prozess. Im Verlaufe dieses Verfahrens wurde ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Verdacht des Totschlags im Mai 1993 gegen Herrn Remmers eingeleitet. Dieses Verfahren stand nicht im Zusammenhang mit den Geschehnissen vom Dezember 1993. Im Rahmen des zweiten Ermittlungsverfahrens ordnete der Untersuchungsrichter die Überwachung der Telefongespräche des 1. Bf. an, die dieser von der U-Haftanstalt aus führte. Von April 1994 bis Juni 1994 wurden die Gespräche des Herrn Remmers überwacht, darunter auch die Gespräche mit seinem Verteidiger. Im Januar 1995 verurteilte das Regionalgericht Herrn Remmers wegen der Taten im Dezember 1993 zu neun Jahren Freiheitsstrafe. Verteidigung und Staatsanwaltschaft gingen in Berufung. Erst im März 1995 wurde die Einleitung des zweiten Ermittlungsverfahren an die Bf. bekannt gegeben. Auf Antrag erhielt die Verteidigung Kopien der Ermittlungsakte, worunter sich auch Mitschriften der abgehörten Telefongespräche befanden. Daraus ergab sich, dass mehrere Gespräche zwischen dem 1. und 2. Bf. abgehört worden waren. Die Mehrzahl war zwar inhaltlich nicht wiedergegeben, sondern nur mit dem Zusatz „nr“ („nicht relevant“) versehen. Drei der Gespräche waren jedoch in der Abschrift zusammengefasst offengelegt worden. Im April 1995 entschied die Staatsanwaltschaft, gegen Herrn Remmers mangels Beweisen keine Anklage zu er642 Verweis auf EKMR [Lupker u. a./Niederlande] E v. 7. 12. 1992 – 18395/91; [van Pelt/Niederlande] E v. 6. 4. 1994 – 20555/92; [S.B.V.M./Niederlande] E v. 6. 4. 1994 – 22788/93. 643 EKMR [Remmers and Hamer/Niederlande] (Fn. 640).

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Teil 3: Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten

heben. Das Verfahren wurde eingestellt. Die hiergegen vom 1. Bf. eingelegten Rechtsmittel mit dem Ziel, seine Unschuld zu beweisen, hatten keinen Erfolg. Im Berufungsverfahren, betreffend die Verurteilung vom Januar 1995, machte die Verteidigung eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. b u. c und des Art. 8 EMRK geltend. Sie behauptete, der wahre Grund der im Parallelverfahren eingeleiteten Telefonüberwachung sei es gewesen, etwas über die Strategie der Verteidigung im ersten Verfahren zu erfahren. Durch die Offenlegung der Verteidigungsstrategie sei ein fairer Prozess und eine effektive Verteidigung nicht mehr möglich gewesen. Das Berufungsgericht wandte hiergegen ein, dass keinerlei Tatsachen die Vermutung der Verteidigung bestätigen würden. Nach Ansicht des Berufungsgerichts weise nichts darauf hin, dass der Untersuchungsrichter gewusst hat oder hätte wissen müssen, dass der 1. Bf mit seinem Verteidiger via Telefon über die Verteidigung sprechen würde. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Inhalt der wiedergegebenen Telefongespräche, aus denen nicht eindeutig hervorging, dass es sich um „Verteidigungsgespräche“ handelte. Zwar habe der Untersuchungsrichter gegen § 125 h Abs. 2 nlStPO verstoßen, weil er die Vernichtung der Gespräche mit dem Verteidiger im Nachhinein nicht angeordnet hatte. Diese Fahrlässigkeit des Untersuchungsrichters ließe jedoch nicht den Schluss zu, dass er im gegenwärtigen Strafverfahren kein „unabhängiger Beobachter“ mehr war. Das Berufungsgericht hob das Urteil des Regionalgerichts auf und verurteilte Herrn Remmers zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe unter Anrechung der U-Haft.

Zum Zeitpunkt der Beschwerde an die Europäische Kommission für Menschenrechte war die Kassationsbeschwerde vor dem Revisionsgericht noch anhängig. Der Bf. Remmers beklagte vor der Kommission eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 8, 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c. Der Bf. Hamer rügte einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK. Die Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK seien im Falle der umstrittenen Telefonüberwachung nicht eingehalten worden. Das Abhören der Gespräche habe ohne hinreichenden Tatverdacht stattgefunden und sei weder notwendig noch verhältnismäßig gewesen. Außerdem sei der Grundsatz der Abhörfreiheit von Verteidigergesprächen verletzt und mangels anschließender Vernichtung der Unterlagen gegen innerstaatliches Recht verstoßen worden. Insgesamt könne man nicht sagen, dass die Telefonüberwachung „gesetzlich vorgesehen“ und in einer „demokratischen Gesellschaft notwendig“ gewesen sei. Die Kommission folgte der Auffassung der Bf. nicht. Im Hinblick auf die Verletzung innerstaatlichen Rechts erinnerte die Kommission daran, dass sich in keinem System das pflichtwidrige Vorgehen eines Beamten verhindern lässt. Im Zusammenhang mit derartigen Vorwürfen bestünde die Kontrolle der Konventionsorgane darin, über die Wahrscheinlichkeit eines solchen Vorgehens und die dagegen vorgesehenen Sicherungen zu befinden.644 In diesem Sinne verwies die Kommission erneut auf die grundsätzliche Übereinstimmung der niederländi644 Unter Verweis auf die Ausführungen des EGMR im Fall [Klass/BRD] (Fn. 624) Ziff. 59.

B. Die Spruchpraxis zur Fernmeldeüberwachung von Rechtsanwälten

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schen Regelungen zur Telefonüberwachung mit der Konvention645 und untersuchte im Weiteren den Umgang der Gerichte (insbesondere des Berufungsgerichts) mit den Einwänden der Verteidigung. Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Überwachungsmaßnahme mit innerstaatlichem Recht betonte die Kommission, dass sie keinen Grund habe, an der Entscheidung der nationalen Gerichte zu zweifeln. Außerdem habe das Berufungsgericht den Grundsatz der Geheimhaltung von Verteidigergesprächen ausdrücklich anerkannt und in Folge dessen einen Verstoß gegen § 125 Abs. 2 nlStPO festgestellt, weil der Untersuchungsrichter es versäumt hatte, einen Teil der Gespräche zu vernichten. Darüber hinaus waren die Gespräche nie als Beweismittel verwendet worden. Die Kontrolle durch das Berufungsgericht habe deshalb einen adäquaten und ausreichenden Schutz vor einer Verletzung der Rechte aus Art. 8 EMRK geboten. Insgesamt müsse die Telefonüberwachungsmaßnahme als „in accordance with the law“ angesehen werden. Nach Ansicht der Kommission gab es auch keine Hinweise darauf, dass die Ermittlungsmaßnahme nicht dem Zweck der Verfolgung und Verhinderung von Straftaten diente bzw. unverhältnismäßig gewesen sei. 2. Die Beschwerde Kopp gegen die Schweiz646 Die Verletzung der Konvention – speziell des Art. 8 EMRK – durch die Überwachung von Telefonanschlüssen eines Rechtsanwalts wurde bisher nur im Fall Kopp gegen die Schweiz festgestellt. Im November 1989 eröffnete der Bundesstaatsanwalt ein Ermittlungsverfahren gegen die Frau des Bf. Kopp. Sie wurde verdächtigt, als Mitglied des Bundesrates und Vorsitzende des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartments (EJDP), vertrauliche Informationen, die sie in ihrer amtlichen Eigenschaft erlangt hatte, weitergegeben zu haben. Im Rahmen der Ermittlungen beantragte der Bundesstaatsanwalt die Überwachung der Telefone der Informanten X und Y sowie aller Telefone von Herrn Kopp und dessen Ehefrau für ca. 3 Wochen. Der Bf. sollte als „Drittperson“ überwacht werden. Der Präsident der Anklagekammer des Bundesgerichts gab diesem Antrag statt. Die Verfügung betonte ausdrücklich, dass Anwaltsgespräche außer Betracht bleiben sollten. In Folge wurden insgesamt 13 Telefonanschlüsse überwacht. Darunter auch die Kanzleitelefone des Bf. Die nachfolgenden Beschwerden von Frau Kopp beim EJDP bzw. beim Bundesrat über die Verletzung der Rechtsvorschriften betreffend Telefonabhörung und des Art. 8 EMRK hatten keinen Erfolg. Der Bundesrat bemerkte in diesem Zusammenhang, dass Art. 66 BStP die Überwachung der Telefonanschlüsse von Drittpersonen zulasse, wenn Beweise die Vermutung nahe legen, dass diese Personen Nachrichten von einem Straftäter erhielten oder solche Nachrichten an diese weitergaben. In ei645 646

Siehe Nachweise (Fn. 642). EGMR [Kopp/Schweiz] (Fn. 636).

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Teil 3: Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten

ner durch Unterwanderungsgerüchte verunsicherten Zeit hätten bestimmte Unterlagen darauf hingewiesen, dass jemand innerhalb des EJPD die Amtsverschwiegenheit gebrochen habe. Auch sei das in Art. 66 BStP enthaltene Abhörverbot für Rechtsanwälte als nichtbeschuldigte Dritte nicht so zu verstehen, dass eine Telefonüberwachung in diesen Fällen generell nicht angeordnet werden könne. Vielmehr ergebe sich aus der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Umfang des Berufsgeheimnisses, dass nur speziell anwaltliche Gespräche einem Abhörverbot unterliegen. Das Abhören von Telefonanschlüssen einer Rechtsanwaltskanzlei sei also zulässig, solange speziell anwaltliche Gespräche außer Betracht blieben, d.h. weder protokolliert noch aufbewahrt oder gar an die Strafverfolgungsbehörden weitergereicht würden. Im Anschluss wies der Bundesrat darauf hin, dass die aufgezeichneten Gespräche für die Ermittler nicht von Interesse gewesen seien und kein Bericht über sie verfasst worden sei. Eine von Herrn Kopp beim Bundesgericht eingebrachte Beschwerde war ebenfalls nicht erfolgreich.

Im Dezember 1993 erhob Herr Kopp Beschwerde vor der Europäischen Kommission für Menscherechte. Er war der Auffassung, durch die Telefonüberwachung in seinen Rechten aus Art. 8 Abs. 1 EMRK verletzt worden zu sein, da sie gesetzlich nicht vorgesehen war. Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BStP weise ausdrücklich darauf hin, dass Personen, die nach Art. 77 BStP das Zeugnis verweigern dürften, von Abhörmaßnahmen auszunehmen sind, sofern sie nicht selbst unter dem Verdacht, eine Straftat begangen zu haben, stehen. Aus diesem Grunde sei es nicht nur unzulässig anwaltliche Gespräche aufzunehmen, von ihnen Abschriften anzufertigen und sie zu verwerten, vielmehr dürften Rechtsanwälte aufgrund dieser Vorschrift erwarten, dass bereits keine heimliche Abhörung ihrer Telefongespräche stattfinden würde. Die Kommission folgte dieser Auffassung des Bf. Sie bejahten einen Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK, weil die Telefonüberwachung „gesetzlich nicht vorgesehen“ gewesen sei. Nach Ansicht der Kommission fehlte der Eingriffsmaßnahme bereits eine gesetzliche Grundlage im schweizerischen Recht, da aus Art. 66 i. V. m. Art 77 BStP hervorgehe, dass die Telefonanschlüsse des Bf. einem „Abhörprivileg“ unterlägen. Im Einzelnen führte die Kommission aus: „Der Zweck der Art. 66, 77 BStP besteht darin, die geschäftlichen Beziehungen zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten zu schützen. Im Sinne einer effektiven Beachtung dieser privilegierten Beziehung muss angenommen werden, dass alle von einer Kanzlei aus geführten Telefongespräche geschäftlicher Natur sind. Die gegenteilige Interpretation der Behörden, die o. g. Normen erlaube ihnen die Konversation eines Anwaltes aufzunehmen und anzuhören und dann darüber zu entscheiden, ob die Gespräche vom Berufsgeheimnis gedeckt sind, kann von der Kommission nicht akzeptiert werden.“647 Etwas anders entschied der EGMR. Er bejahte das Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage (da es in erster Linie den innerstaatlichen Behörden und Ge647

EKMR [Kopp/Schweiz] E v. 16. 10. 1996 – 23224/94 Ziff. 79, 80.

B. Die Spruchpraxis zur Fernmeldeüberwachung von Rechtsanwälten

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richten zukomme, das innerstaatliche Recht auszulegen und anzuwenden), bemängelte jedoch die Qualität der gesetzlichen Regelung unter dem Aspekt der „Vorhersehbarkeit“ des staatlichen Eingriffs. Der Gerichtshof verwies darauf, dass das Anzapfen von Telefonen und andere Formen der Überwachung von Telefongesprächen einen schweren Eingriff in das Privatleben und den Briefverkehr (correspondence) bilde und deshalb auf ein „Gesetz“ gegründet werden müsse, welches besonders präzise sei.648 Im vorliegenden Fall müsse ein Widerspruch zwischen dem klaren Gesetzestext, der das gesetzliche Berufsgeheimnis schützt, wenn ein Anwalt als Drittbeteiligter abzuhören ist, und der von den Behörden eingeschlagenen Praxis festgestellt werden. Obwohl die Rechtsprechung den allgemein akzeptierten Grundsatz herausgebildet habe, dass das Berufsgeheimnis lediglich die Beziehung zwischen einem Anwalt und seinem Klienten umfasse, stelle das Gesetz nicht klar fest, unter welchen Bedingungen und von wem die Unterscheidung zwischen spezifisch anwaltlichen Tätigkeiten und nicht anwaltlichen Tätigkeiten zu treffen sei.649 Außerdem sei es nach Auffassung des Gerichtshofs überraschend, dass diese sensible Aufgabe (bei welcher Verteidigungsrechte betroffen sein können) in der Praxis einem Bediensteten der Post und damit einem Mitglied der Exekutive ohne richterliche Überwachung zugewiesen werde.650 Alles in allem lasse das schweizerische Recht nicht mit hinreichender Klarheit das Ausmaß und die Art des behördlichen Ermessens in der vorliegenden Angelegenheit erkennen. Dementsprechend habe Herr Kopp als Anwalt nicht das Mindestmaß an Schutz erfahren, welches der Grundsatz von der Vorherrschaft des Rechts in einer demokratischen Gesellschaft verlange.651

II. Reaktionen einzelner Staaten auf die Urteile des EGMR Nach der Entscheidung des EGMR im Fall Kopp war vor allem die schweizerische Rechtsprechung und Gesetzgebung aufgerufen, die Bedeutung dieses Urteils zu hinterfragen und die notwendigen Konsequenzen im Hinblick auf die eigene Rechtspraxis bzw. Gesetzeslage zu ziehen (unten 1.). Reaktionen anderer Länder auf dieses Urteil konnten nicht ausfindig gemacht werden. Generell werden in den einzelnen Rechtsordnungen berufliche und private Vertrauensbeziehungen in ganz unterschiedlichem Maße vor geheimen Ermittlungsmaßnahmen geschützt.652 In der von der Kommission nicht beanstandeten niederländischen

648 649 650 651

EGMR EGMR EGMR EGMR

[Kopp/Schweiz] [Kopp/Schweiz] [Kopp/Schweiz] [Kopp/Schweiz]

(Fn. (Fn. (Fn. (Fn.

636) 636) 636) 636)

Ziff. Ziff. Ziff. Ziff.

72. 73. 74. 75.

164

Teil 3: Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten

Regelung war ein Schutz vertraulicher Informationen durch ein reines Verwertungsverbot zugunsten bestimmter Berufsgeheimnisträger vorgesehen (unten 2.). 1. Schweiz Kurz nach dem Urteil des EGMR hat das schweizerische Bundesgericht klargestellt, dass aus der Kopp-Entscheidung kein grundsätzliches Abhörprivileg für Rechtsanwälte abgeleitet werden könne.653 In dem von ihm zu entscheidenden Fall wehrte sich ein Anwalt, der aufgrund einer Telefonüberwachung seines Mandanten in den Verdacht der Geldwäsche und Anstiftung zur Falschaussage geraten war, gegen die Verwertung der aufgenommenen Telefongespräche in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren. Er war der Auffassung, dass die Verwertung der Gespräche gegen Art. 8 EMRK verstoßen würde, da er sie als Anwalt geführt hätte und die Luzerner StPO die Verwertung derartiger Gespräche verbiete. Aus der Straßburger Rechtsprechung gehe hervor, dass Rechtsanwälte grundsätzlich nicht abgehört werden dürften. Das Bundesgericht entgegnete hierauf, dass es im Kopp-Urteil nur um die Telefonüberwachung von Berufsgeheimnisträgern als nichtbeschuldigte Dritte gegangen sei. Ein Rechtsanwalt könne nicht in dem Sinne gegenüber anderen Beschuldigten privilegiert sein, dass er von jeder Telefonüberwachung ausgenommen wäre. Die auf dem Berufsgeheimnis beruhende Einschränkung der Verwendung von Abhörprotokollen müsse entfallen, wenn die zeugnisverweigerungsberechtigte Person selbst einer überwachungswürdigen Straftat verdächtig würde. Dort, wo der Berufsgeheimnisträger selbst Angeschuldigter sei, ginge das Interesse an der Strafverfolgung der Wahrung des Berufsgeheimnisses vor.654 Auch der Gesetzgeber war der Auffassung, dass das Straßburger Urteil der Telefonüberwachung von Anwälten, die selbst der Begehung einer Katalogtat verdächtig sind, grundsätzlich nicht entgegensteht. Aus diesem Grunde sei es zulässig, die Gespräche von zeugnisverweigerungsberechtigten Personen dann zu überwachen, wenn diese selbst im Verdacht der Begehung einer Straftat stehen. Ebenso unbedenklich sei es, den Anschluss einer zeugnisverweigerungsberechtigten Person (wie etwa den eines Anwalts) zu überwachen, wenn es begründete Hinweise darauf gäbe, dass eine verdächtige Person diesen Anschluss benutzt. In diesem Fall wäre nur die verdächtige Person (und nicht der Anwalt) 652 Vgl. dazu zuletzt die rechtsvergleichende Untersuchung vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 61 ff., 371 ff. 653 Vgl. BG, Urt. v. 10. 11. 1998, BGE 125 I 46. 654 BG, Urt. v. 30. 11. 1998, BGE 125 I 46 E. 6; vgl. auch Donatsch/FankhauserKasper SJZ 95 (1999), 525 (527).

B. Die Spruchpraxis zur Fernmeldeüberwachung von Rechtsanwälten

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Zielperson der Überwachung und in der Triage (d.h. bei der Verwertung) würden nur ihre Gespräche für das Verfahren ausgeschieden. Der Anwalt sei nur deshalb in der Anordnung aufgeführt, weil er als Inhaber des Anschlusses mit erfasst wird. Wesentlich sei es hier, dass die Auswertung derartiger Gespräche unter richterliche Kontrolle gestellt würde.655 Das neue Bundesgesetz zur Überwachung des Post- und Fernmeldewesens (BÜPF)656 erhielt daher folgende Regelung: Art. 4 Abs. 3 BÜPF untersagt im Grundsatz die Überwachung von Personen, die nach dem anwendbaren Strafverfahren als Träger von Berufsgeheimnissen das Zeugnis verweigern können. Ein Abhören ist jedoch zulässig, wenn gegen diese Person ein dringender Tatverdacht besteht (Art. 4 Abs. 3 lit. a BÜPF) oder wenn aufgrund bestimmter Tatsachen angenommen werden muss, dass die verdächtige Person den Fernmeldeanschluss des Berufsgeheimnisträgers nutzt (Art. 4 Abs. 3 lit. b BÜPF).657 Genaue Bestimmungen enthält das Gesetz jetzt über die Durchführung einer ausnahmsweisen Überwachung von Berufsgeheimnisträgern. So ist nach Art. 3 Abs. 4 S. 2 BÜPF eine Direktschaltung verboten und nach Art. 4 Abs. 6 muss die Auswertung des aufgezeichneten Fernmeldeverkehrs unter Leitung einer richterlichen Behörde erfolgen, die nicht mit den Ermittlungen befasst ist. Der Schutz des Berufsgeheimnisses wird durch die Regelung eines Beweisverwertungsverbots in Art. 8 Abs. 3 und 4 BÜPF vervollständigt. Danach müssen bei Erkenntnis von Berufsgeheimnissen, die von einem Zeugnisverweigerungsrecht erfasst sind, die entsprechenden Dokumente über diese Tatsachen aus den Strafverfahrensakten ausgesondert und vernichtet werden. Sie dürfen im Verfahren keine Verwendung finden. Die Verwendung ist allein dann zulässig, wenn die betreffende Person dringend verdächtig ist, unter

655 Botschaft des Bundesrates zu den Bundesgesetzen betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs und über die verdeckte Ermittlung vom 1. Juli 1998, BBl. 1998, S. 4241 (4266). 656 BG v. 6. Oktober 2000 betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, in Kraft seit 1. Januar 2002 (SR 780.1), im Internet abrufbar unter: http:// www.admin.ch. Dazu Benziger, Kriminalistik 2002, 551; Biedermann ZStR 120 (2002), 77. Näher zur Entstehungsgeschichte Demko, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 493 ff. 657 Eine ähnliche Regelung sah bereits Art. 66 BStP vor. Danach wurden zeugnisverweigerungsberechtigte Berufsgeheimnisträger „von der Überwachung ausgenommen“. Die Privilegierung galt jedoch nicht für die Fallgruppen, in welchen der Berufsgeheimnisträger selbst tatverdächtig war oder der Verdacht bestand, dass der Verdächtige den Telefonanschluss dieser Drittperson benutzt. Grundsätzlich wurde auch Art. 66 BStP a. F. so verstanden, dass die Überwachung von Berufsgeheimnisträgern als „Drittpersonen“ für den Fall unzulässig ist, dass dieser für den Angeschuldigten oder Verdächtigen Mitteilungen entgegen nimmt oder weiterleitet. Vgl. dazu Peter SJZ 75 (1979), 305 (307); Staub SJZ 83 (1987), 25 (27); Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, § 71 Rn. 28. Vgl. auch die rechtsvergleichenden Ausführungen von Lücking, Strafprozessuale Überwachung, S. 77, 162.

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Teil 3: Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten

dem Schutz des Berufsgeheimnisses eine der in Art. 3 Abs. 2 oder 3 näher benannten Katalogtaten begangen zu haben.658 2. Die Rechtslage in anderen europäischen Staaten Die Zulässigkeit der Telefonüberwachung geschützter Berufsgeheimnisträger wird in den europäischen Staaten recht unterschiedlich beurteilt.659 Übereinstimmung herrscht lediglich darüber, dass aus rechtsstaatlichen Gründen ein „überwachungsfreier“ Verkehr zwischen dem Verdächtigen und seinem Verteidiger gewährleistet sein muss sowie darüber, dass der Vertrauensschutz jedenfalls dann endet, wenn der Geheimnisträger selbst Verdächtiger einer Straftat ist.660 Eine ausdrückliche Regelung von Überwachungsverboten ist allerdings eher selten. Neben der bereits dargestellten schweizerischen Bestimmung enthält vor allem die Österreichische Strafprozessordnung ein umfassendes Überwachungsverbot für unverdächtige Berufsgeheimnisträger (§ 149a Abs. 3 Ziff. 2 öStPO).661 Als Grund für die Notwendigkeit eines solchen Beweiserhebungsverbotes wird die Wahrung des Berufsgeheimnisses und damit verbunden der Schutz der vertraulichen Information angegeben.662 Verstärkt wird dieser Schutz durch ein zusätzlich normiertes Verwertungsverbot (§ 149c Abs. 3 öStPO).663 Wurde unzulässiger Weise das Telefon eines Berufsgeheimnisträgers abgehört oder wurden bei einer zulässigen Überwachung Gespräche des Verdächtigen oder nicht beteiligter Dritter mit einem Verteidiger, Rechtsanwalt, Notar etc. aufgenommen, so sind diese Aufzeichnungen zu vernichten und dürfen in der Hauptverhandlung nicht verwertet werden.664 658 Zum Ganzen näher Demko, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 493 (499, 509). 659 Vgl. dazu bereits die rechtsvergleichende Untersuchung von Lücking, Strafprozessuale Überwachung, S. 51 ff. (Österreich), 76 ff. (Schweiz), 103 f. (Großbritannien), 129 ff. (Frankreich), 160 ff. (rechtsvergleichender Querschnitt). Zuletzt auch die rechtsvergleichende Untersuchung vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 61 ff., 371 ff. 660 Lücking, Strafprozessuale Überwachung, S. 161. 661 BGBl. I 2002/134. Zeugnisverweigerungsberechtigte Berufsgeheimnisträger sind in Österreich gem. § 152 Abs. 1 Ziff. 4 und 5: Verteidiger, Rechtsanwälte, Notare und Wirtschaftstreuhänder sowie Psychiater, Psychotherapeuten, Psychologen, Bewährungshelfer, Mitarbeiter von anerkannten Einrichtungen zur psychosozialen Beratung und Betreuung und Mediatoren. Der Schutz der geistlichen Amtsverschwiegenheit vor Telekommunikationsüberwachung ist in § 151 Abs. 2 öStPO gesondert geregelt. 662 OGH, Urt. v. 23. 4. 1991 – 14 Os 20, 21/91 = ÖJZ 1991, 708 (709); vgl. auch Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 379. 663 BGBl. I 2002/134. 664 So bereits vor Einfügen des § 149c öStPO für den Fall der Aufzeichnung von Verteidigergesprächen im Rahmen einer zulässigen Überwachung des Anschlusses des Verdächtigen OGH (Fn. 662).

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Den meisten Rechtsordnungen ist eine so ausführliche gesetzliche Regelung dieser Problematik fremd. Die von der Europäischen Kommission für Menschenrechte grundsätzlich nicht kritisierten niederländischen Bestimmungen zur Fernmeldeüberwachung665 sahen damals beispielsweise kein materielles Verbot der Überwachung von Berufsgeheimnisträgern vor. Der Schutz vertraulicher Informationen sollte vielmehr durch ein reines Verwertungsverbot gewährleistet werden.666 Art. 125h Abs. 2 a. F. der niederländischen Strafprozessordnung bestimmte, dass der die Fernmeldeüberwachung leitende Untersuchungsrichter dazu verpflichtet ist, die Protokolle und Aufnahmen von Gesprächen zu vernichten, sofern sie Aussagen von oder zu einer Person enthalten, welche aufgrund ihrer beruflichen Geheimhaltungspflicht das Zeugnis verweigern kann.667

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung und ihrer Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung I. Analyse der Straßburger Judikatur 1. Problemstellung Staatliche Telefonüberwachung greift nach ständiger Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs in das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierte Recht des Einzelnen auf Achtung seines „Privatlebens“ und seines „Briefverkehrs“ (correspondence) ein, weshalb die Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK erfüllt sein müssen.668 Die Überwachungsmaßnahme muss also „gesetzlich vorgesehen“ und zur Erreichung eines der in Abs. 2 genannten Ziele „in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich“ und damit verhältnismäßig sein.669 Wie bereits eingangs erwähnt, wird angesichts der Entscheidung Kopp in der Literatur die Auffassung vertreten, die deutsche Regelung zur Fernmeldeüberwachung falle im Hinblick auf das Problem des Vertrauensschutzes bei beruf-

665 Vgl. EKMR [Mulders/Niederlande] und [Remmers and Hamer/Niederlande] siehe oben S. 157 ff. [Teil 3.B.I.1.a) und b)]. 666 § 125h Abs. 2 nlStPO. Vgl. auch Lücking, Strafprozessuale Überwachung, S. 162 667 Zur heutigen Rechtslage vgl. Art. 126aa nlStPO, eingefügt durch G. v. 27. 5. 1999, Stb. 245. Dazu näher Bas van Riel, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 431 ff. 668 Erstmals EGMR [Klass/BRD] (Fn. 624) Ziff. 41; bestätigt in [Malone/Großbritannien] (Fn. 638) Ziff. 64; [Kruslin und Huvig/Frankreich] (Fn. 638) Ziff. 26; [Halford/Großbritannien] (Fn. 638) Ziff. 42, 48; [Lambert/Frankreich] (Fn. 638) Ziff. 21; [Kopp/Schweiz] (Fn. 636) Ziff. 50; [Valenzuela Contreras/Spanien] (Fn. 638) Ziff. 46. Vgl. auch Frowein/Peukert Art. 8 EMRK Rn. 6; IntKomm-Wildhaber Art. 8 EMRK Rn 283 ff. 669 IntKomm-Wildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 525.

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Teil 3: Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten

lichen Geheimnisträgern – insbesondere Rechtsanwälten – zu kurz aus und müsse daher als konventionswidrig angesehen werden.670 Die bloße Ableitung eines Abhörprivilegs für Verteidigergespräche aus § 148 StPO (Garantie eines freien Verteidigerbeistandes) wird als zu „unspezifisch“ kritisiert und darüber hinaus eine inhaltliche Ausdehnung des Abhörschutzes verlangt. Grundsätzlich sollte eine Abhörfreiheit von nichtbeschuldigten Rechtsanwälten nicht nur für Verteidigermandate, sondern für jedes Mandatsverhältnis bestehen.671 Die Straßburger Entscheidung hat also im Hinblick auf die deutsche Rechtslage zweierlei Fragen aufgeworfen: a) in welchem Umfang verlangt das in Art. 8 Abs. 2 EMRK enthaltene „Verhältnismäßigkeitsprinzip“ den Schutz des anwaltlichen Vertrauensverhältnisses bei der Fernmeldeüberwachung [dazu nachfolgend C.I.2.] und b) verlangt das konventionsrechtliche „Bestimmtheitsgebot“ dementsprechend gesetzliche Regelungen, welche die Bedingungen der Telefonüberwachung von Rechtsanwälten genau bestimmen (dazu nachfolgend C.I.3.)? 2. Die Telefonüberwachung von Rechtsanwälten als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Eingriffsmaßnahme“ a) Allgemeine Grundsätze Die konventionsrechtliche Vorgabe, dass eine Eingriffsmaßnahme „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein muss, ist die schärfste, aber auch schwierigste Einschränkung, die von den Konventionsorganen überprüft werden muss.672 Erst nach und nach hat sich aus der Straßburger Rechtsprechung herauskristallisiert, was sich hinter dieser Anforderung verbirgt.673 Beginnend mit einer Wortlautanalyse stellte der EGMR zunächst fest, dass der Begriff „notwendig“ weder synonym mit „unbedingt erforderlich“ sei noch mit flexibleren Formulierungen wie „zulässig“ oder „nützlich“ bzw. „vernünftig“ übereinstimme. Vielmehr sei für die Einschränkung ein „dringendes soziales Bedürfnis“ erforderlich.674 Schon bald wurde dieses Kriterium durch den bekannten Begriff der „Verhältnismäßigkeit“ der Maßnahmen ergänzt.675 Die 670

Kühne StV 1998, 685 (886). Kühne a. a. O. 672 Frowein/Peukert Vorb. zu Art. 8 EMRK – 11 Rn. 14. 673 Dabei erfolgte die inhaltliche Bestimmung der in den Art. 8 bis 11 EMRK gleichermaßen vorhandenen Eingriffsschranke „konventionseinheitlich“; näher dazu IntKomm-Wildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 709. 674 EGMR [Handyside/Großbritannien] Urt. v. 7. 12. 1976, Serie A/24, Ziff. 48, in deutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 1977, 38 (41). 675 EGMR [Dudgeon/Großbritannien] Urt. v. 22. 10. 1981, Serie A/45, Ziff. 59, in deutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 1983, 488 (492). 671

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Straßburger Prüfung lässt dabei deutlich Aspekte der Geeignetheit, Erforderlichkeit und des Übermaßverbotes erkennen.676 Zurecht wird daher angenommen, dass mit dem Kriterium „demokratischer Notwendigkeit“ der in den Mitgliedsstaaten verwurzelte Verfassungsgrundsatz der „Verhältnismäßigkeit“ Einzug in das Konventionsrecht gefunden hat. Er ermächtigt die Konventionsorgane unter Anerkennung eines grundsätzlichen Ermessensspielraumes der Mitgliedsstaaten677 vor allem zu einer eigenständigen Rechtsgüter- bzw. Interessenabwägung.678 b) Die Verhältnismäßigkeit von Telefonüberwachungsmaßnahmen unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes Grundsätzlich hält der EGMR geheime Überwachungsmaßnahmen „bei einer außergewöhnlichen Situation“ zum Schutze der nationalen Sicherheit und zur Verhütung strafbarer Handlungen für „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“. Zu diesem Ergebnis gelangte er im Fall Klass in Anbetracht der Tatsache, dass die „demokratische Gesellschaft zunehmend von verfeinerten Formen der Spionage und vom Terrorismus bedroht sei und der Staat diesen Drohungen wirksam begegnen müsse.“679 In der Entscheidung hat der Gerichtshof allerdings gleichfalls festgehalten, dass die Vertragsstaaten nicht im Namen des Kampfes gegen Spionage und Terrorismus zu jedweder Maßnahme greifen dürften, die ihnen geeignet erscheint.680 Mit der Frage, inwieweit der Staat zur Verfolgung bestimmter Interessen besonders vertrauliche Informationen erheben, also in besonders schützenswerte Vertrauensverhältnisse eingreifen kann, haben sich die Straßburger Organe bereits in den unterschiedlichsten Fallkonstellationen befassen müssen. So hatte der Gerichtshof bspw. wiederholt darüber zu entscheiden, inwieweit die Verpflichtung zur Weitergabe von Gesundheitsdaten an eine staatliche Behörde mit Art. 8 EMRK vereinbar ist.681 Der EGMR betonte hier, dass die Beachtung der Vertraulichkeit von Daten, welche die Gesundheit betreffen, ein wesentlicher Grundsatz in den Rechtsordnungen aller Mitgliedsstaaten der Kon676

Vgl. dazu Frowein/Peukert Vorb. Art. 8–11 EMRK Rn. 16 und 17 m. w. Nw. Hierzu Frowein/Peukert Vorb. Art. 8–11 EMRK Rn. 14; IntKomm-Wildhaber/ Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 662 ff. 678 Frowein/Peukert Vorb. Art. 8–11 EMRK Rn. 17; IntKomm-Wildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 660, 708 ff. m. w. Nw. 679 EGMR [Klass/BRD] (Fn. 624) Ziff. 48. 680 EGMR [Klass/BRD] (Fn. 624) Ziff. 49. 681 Vgl. etwa EGMR [Z./Finnland] Urt. v. 25. 2. 1997, Reports 1997-I, in deutscher Übersetzung abgedruckt in ÖJZ 1998, 152 oder EGMR [M. S./Schweden] Urt. v. 27. 8. 1997, Reports 1997-IV, p. 1437, in deutscher Übersetzung abgedruckt in ÖJZ 1998, 587. 677

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Teil 3: Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten

vention sei. Er sei nicht nur grundlegend für die Achtung des Privatlebens eines Patienten, sondern er diente auch dazu, dessen oder deren Vertrauen in den ärztlichen Berufsstand und in den Gesundheitsdienst im Allgemeinen zu bewahren. Aus diesem Grunde – so forderte der Gerichtshof – müsse das innerstaatliche Recht geeignete Garantien bieten, damit jegliche Mitteilung oder Bekanntgabe persönlicher Gesundheitsdaten entgegen den Garantien des Art. 8 EMRK verhindert werde.682 Die weitere Prüfung ergibt allerdings, dass auch Gesundheitsdaten keineswegs absolut durch Art. 8 EMRK geschützt sind. Eine Verletzung der Konvention liegt nach Auffassung des EGMR dann nicht vor, wenn es „maßgebliche und ausreichende Gründe“ für eine Bekanntgabe dieser Daten gibt und wenn die Maßnahme gegenüber dem verfolgten Ziel als „verhältnismäßig“ angesehen werden kann. Bei letzterem spielt vor allem die Frage eine Rolle, ob Beschränkungen vor einer unangemessenen Offenlegung der Daten schützen und ob wirksame und angemessene Sicherungen gegen Missbrauch vorhanden sind.683 Der EGMR hat damit zumindest für das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient klargestellt, dass Art. 8 EMRK vor unangemessenen Eingriffen hierin schützt. Gleiches lässt sich aber auch für das Vertrauensverhältnis zwischen einem Anwalt und seinen Mandanten feststellen. So wurde etwa im Fall Niemietz die Konventionsmäßigkeit einer polizeilichen Durchsuchung einer Anwaltskanzlei verneint, weil sie insgesamt nicht als verhältnismäßig angesehen werden konnte.684 Zwar habe die Durchsuchung legitimen Zwecken, nämlich der Verhinderung strafbarer Handlungen und dem Schutz der Rechte anderer, gedient,685 doch sei das Ausmaß des Eingriffs insgesamt unangemessen gewesen. Dabei berücksichtigte der EGMR wiederum, dass es „keinerlei Beschränkungen“ für die Durchsuchung und Beschlagnahme von Dokumenten gab und dass die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei in Deutschland keinen besonderen Verfahrensgarantien unterliegt. Er betonte ausdrücklich das Berufsgeheimnis eines Anwalts und wies darauf hin, „dass im Falle eines Rechtsanwalts der Eingriff in das Berufsgeheimnis Auswirkungen auf eine ordnungsgemäße Rechtspflege und somit auf die in Art. 6 EMRK garantierten Rechte haben könne.“686 Dementsprechend wird auch in den Fällen heimlicher Telefonüberwachung das anwaltliche Vertrauensverhältnis besonders berücksichtigt: 682

EGMR [M. S./Schweden] (Fn. 681) Ziff. 41. EGMR [M. S./Schweden] (Fn. 681) Ziff. 42–43. 684 EGMR [Niemietz/BRD] Urt. v. 16. 12. 1992, Serie A/251-B, Ziff. 37, in deutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 1993, 65 (67). 685 EGMR [Niemietz/BRD] (Fn. 684) Ziff. 36. 686 EGMR [Niemietz/BRD] (Fn. 684) Ziff. 37. 683

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

171

Im Fall Remmers and Hamer betonte die Kommission den „Grundsatz der Geheimhaltung von Verteidigergesprächen“. Sie verneinte eine Verletzung des Art. 8 EMRK wegen der dennoch erfolgten Aufzeichnung von Verteidigergespräche nur deshalb, weil es sich hier um eine pflichtwidrige Vorgehensweise der Beamten handelte und das Berufungsgericht die Protokolle unter Beachtung dieses Grundsatzes für unverwertbar erklärt hatte. Nach Ansicht der Kommission war mit der Kontrolle durch das Berufungsgericht ein adäquater und ausreichender Schutz vor einer Verletzung der Rechte aus Art. 8 EMRK gegeben.687 Das Vorgehen der niederländischen Behörden gegen Rechtsanwalt Mulders billigte die Kommission, weil der Bf. selbst Tatverdächtiger war und es verschiedene Schutzmechanismen gab, die den Eingriff in das Berufsgeheimnis möglichst gering halten sollten.688 Im Fall Kopp gegen die Schweiz verwies der EGMR hauptsächlich auf den im innerstaatlichen Recht zum Ausdruck kommenden Schutz der beruflichen Beziehung zwischen einem Anwalt und seinen Klienten und kritisierte die hiergegen verstoßende bzw. nicht vorhersehbare Überwachung der Telefonleitungen eines Anwaltsbüros. Der Gerichtshof beschränkte sich jedoch auch hier nicht darauf, allein die Unvorhersehbarkeit der staatlichen Überwachungsmaßnahme zu kritisieren. In Ziffer 74 des Urteils stellt er fest, dass die von den schweizerischen Behörden geltend gemachte Unterscheidung zwischen anwaltlichen und nichtanwaltlichen Gesprächen wohl kaum einem Mitglied der Exekutive ohne richterliche Kontrolle übertragen werden könne. Dies vor allem in Hinblick darauf, dass hier „das besonders sensible Gebiet der vertraulichen Beziehungen zwischen einem Anwalt und seinen Klienten betroffen sei, welches direkt das Recht auf Verteidigung betreffen könne.“ Indirekt wird also auch hier die prinzipielle Schutzwürdigkeit anwaltlicher Vertrauensverhältnisse angesprochen, in die nur beschränkt und unter „besonderen Schutzvorkehrungen“ eingegriffen werden sollte. Etwas deutlicher äußert sich in dieser Hinsicht der französische Richter Pettiti, wenn er in seinem Sondervotum zum Kopp-Urteil kritisch anmerkt, dass in dem schweizerischen Fall seiner Meinung nach eine schwerwiegende Verletzung des Berufsgeheimnisses vorgelegen habe und dass stärkere Sicherheiten vorhanden sein müssten, wenn ein Richter Durchsuchungen oder Überwachungen im Zusammenhang mit anwaltlicher Tätigkeit anordnen wolle.689

687 688 689

Dazu oben S. 159 f. [Teil 3.B.I.1.b)]. Dazu oben S. 157 f. [Teil 3.B.I.1.a)]. EGMR [Kopp/Schweiz] (Fn. 636) Sondervotum Pettiti.

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Teil 3: Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten

Es stellt sich die Frage, welche konventionsrechtlichen Grenzen heimlicher Überwachung von Rechtsanwälten sich aus der Straßburger Spruchpraxis ableiten lassen: In einem ersten Punkt dürfte deutlich geworden sein, dass der EGMR einer geheimen Überwachung des Verteidigerverkehrs entgegentreten würde. Dies hauptsächlich im Hinblick auf den Schutz der durch Art. 6 EMRK garantierten Rechte. Die Kommission wies auf den „Grundsatz der Überwachungsfreiheit des Verteidigerverkehrs“ bereits im Fall Remmers und Hamer690 hin. Der EGMR hat in den von ihm zu entscheidenden Fällen immer wieder das Recht auf Verteidigung betont.691 Das Institut der Verteidigung wäre in seiner Funktion betroffen, wenn der Beschuldigte sich nicht darauf verlassen könnte, dass all das, was er seinem Verteidiger anvertraut, dem Zugriff der Strafverfolgungsorgane entzogen ist.692 Einem solchen Eingriff in Verteidigungsrechte müsste der Straßburger Gerichtshof entgegenwirken. Unter dem Aspekt einer „ordnungsgemäßen Rechtspflege“ hält der EGMR aber nicht nur das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Mandant, sondern das anwaltliche Vertrauensverhältnis generell für schützenswert. Dies wird insbesondere durch die Äußerung im Fall Niemitz deutlich, wonach der Eingriff in das anwaltliche Berufsgeheimnis (generell) „Auswirkungen auf eine ordnungsgemäße Rechtspflege und somit auf die in Art. 6 EMRK garantierten Rechte haben könne.“ Hieraus ein grundsätzliches Abhörverbot für Rechtsanwälte herzuleiten, wäre jedoch voreilig. Der EGMR sieht außerhalb der Verteidigerkommunikation den Schutz des anwaltlichen Vertrauensverhältnisses genauso wenig für „absolut“ an, wie den Schutz des ärztlichen Vertrauensverhältnisses. Gibt es legitime Gründe für einen Eingriff in diese Geheimsphäre und ist die Maßnahme geeignet, erforderlich und verhältnismäßig i. e. S., so wird der Gerichtshof keine Verletzung des Art. 8 EMRK feststellen. Aus diesem Grunde akzeptierte bspw. die Kommission im Fall Mulders693 die Telefonüberwachung eines verdächtigen Anwalts, da sein Interesse an der Wahrung des Berufsgeheimnisses dann zurücktreten müsse, wenn er selbst einer Straftat verdächtig sei. Das Recht der unbeteiligten Klienten auf Vertrauensschutz sei durch die Verpflichtung zur Vernichtung nicht relevanten Materials hinreichend berücksichtigt worden. In Abwägung des legitimen Interesses strafbare Handlungen zu verhindern und damit 690

Oben S. 159 f. [Teil 3.B.I.1.b)]. In diesem Sinne auch der französische Richter Pettiti in einem Sondervotum zu EGMR [Malone/Großbritannien] (Fn. 638), deutsche Übersetzung in EuGRZ 1985, 17 (25). 692 Hierzu ausführlich Rudolphi, FS Schaffstein, S. 433 (440); Gross-Spreitzer, Grenzen der Telefonüberwachung, S. 101; Brenner, Strafprozessuale Überwachung des Fernmeldeverkehrs, S. 88 ff. 693 Dazu oben S. 157 f. [Teil 3.B.I.1.a)]. 691

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Rechte Dritter zu schützen, haben Kommission und Gerichtshof nationale Regelungen, welche das Berufsgeheimnis „nur“ durch ein Beweisverwertungsverbot schützen, grundsätzlich gebilligt, denn auch hier bleibt das, was in das Vertrauensverhältnis fällt, letztendlich verborgen.694 Ob der Gerichtshof unter bestimmten Bedingungen auch (außerhalb eines Tatverdachts gegen den Anwalt) die Offenlegung von Anwaltsgeheimnissen im Interesse der Strafverfolgung als „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ ansehen würde, ist fraglich. In der Beschwerde Niemitz hat er sich zu dieser vom Bf. angesprochenen Frage695 nicht geäußert, sondern die Konventionswidrigkeit der Maßnahme damit begründet, dass der Durchsuchungsbefehl zu weit gefasst gewesen sei und sich die Maßnahme damit nicht auf das „unbedingt Erforderliche“ beschränkt habe. Auf jeden Fall würde der Gerichtshof hier im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ein besonderes Augenmerk darauf legen, ob das Gesetz derartig weitreichende Maßnahmen hinreichend beschränkt und angemessene Sicherungen gegen Missbrauch vorhanden sind. 3. Die Telefonüberwachung von Rechtsanwälten als „gesetzlich vorgesehene Eingriffsmaßnahme“ Abgesehen von der Frage, ob und inwieweit im Interesse der Strafverfolgung und zur Verhinderung weiterer Straftaten überhaupt in besonders schützenswerte Vertrauensverhältnisse eingegriffen werden kann, hat der EGMR im Fall Kopp auf einen weiteren Aspekt aufmerksam gemacht, der in diesem Zusammenhang beachtet werden muss – das „konventionsrechtliche Bestimmtheitsgebot“. Bereits vor dem Straßburger Urteil wurden im deutschen Schrifttum angesichts der §§ 52 ff. und 97 StPO verlangt, spezielle gesetzliche Regelungen zur Zulässigkeit der Telefonüberwachung von Berufsgeheimnisträgern in die StPO einzuführen.696 Das für einen Rechtsstaat bedeutsame Gebot der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit verlange es, dass der Gesetzgeber selbst präzise ausgestal-

694 So die Kommission zur niederländischen Regelung (oben S. 166 ff., Teil 3.B.II.2.) im Fall Mulders [oben S. 157 f., Teil 3.B.I.1.a)] und Remmer and Hamer [oben S. 159 f., Teil 3.B.I.1.b)]. Ebenso EGMR [Kopp/Schweiz] (Fn. 636) Ziff. 73: „Obwohl die Rechtsprechung das Prinzip, welches generell akzeptiert wird, entwickelt hat, dass das berufliche Privileg nur die Beziehung zwischen einem Anwalt und seinem Klienten umfasst, besagt das Gesetz nicht eindeutig . . .“ Kritisch zu einem solchen Beweisverwertungsverbot Kühne StV 1998, 683 (686), welcher für ein Beweiserhebungsverbot plädiert. 695 Vgl. EGMR [Niemietz/BRD] (Fn. 684) Ziff. 34. Der Bf. machte geltend, dass mit der Durchsuchung eine Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen über den Schutz von Berufsgeheimnissen bezweckt worden sei. 696 So bspw. Riegel ZRP 1987, 431 (433); Lücking, Strafprozessuale Überwachung, S. 192.

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tete Eingriffsbefugnisse schafft und sich nicht auf die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Einzelfallkorrektiv verlässt.697 Mit der Entscheidung Kopp, in welcher der Gerichtshof die fehlende „Vorhersehbarkeit“ der staatlichen Überwachungsmaßnahme für den Anwalt rügte, scheinen die Kritiker der deutschen Gesetzeslage bestätigt worden zu sein. a) Allgemeine Grundsätze Das „konventionsrechtliche Bestimmtheitsgebot“ ist in der Formulierung des Art. 8 Abs. 2 EMRK „sofern der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist“ enthalten. Im Laufe der Straßburger Rechtsprechung ist der Inhalt dieser konventionsrechtlichen Eingriffsschranke näher entwickelt worden. Der Gerichtshof untersucht die „Gesetzlichkeit“ einer Maßnahme i. d. R. in zwei Schritten: Da die Wortgruppe „vorgesehen durch das Gesetz/in accordance with the law“ einen Hinweis auf innerstaatliches Recht enthält, prüft der EGMR zunächst, ob sich für den Eingriff in die durch Art. 8 Abs. 1 geschützte Rechtsposition eine gesetzliche Grundlage im innerstaatlichen Recht finden lässt698 und ob er mit dieser übereinstimmt.699 Um jedoch nicht zu sehr in die Nähe einer „revisionsgerichtlichen“ Überprüfung zu geraten, ist der Gerichtshof mit einer Verneinung dieser Voraussetzung sehr zurückhaltend. In der Regel lässt er die Auffassung innerstaatlicher Behörden und Gerichte über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme nach nationalem Recht gelten und verweist darauf, „dass es in erster Linie Sache der nationalen Behörden, insbesondere der Gerichte, ist, das nationale Recht zu interpretieren und anzuwenden“ und dass es dem Gerichtshof nicht zukomme „diesbezüglich einer gegenteiligen Auffassung Ausdruck zu verleihen“.700

697 In diesem Sinne Lücking, Strafprozessuale Überwachung, S. 191. Auch Werle JZ 1991, 482 (488) betonte, dass die Korrektur des § 100a vornehmlich Sache des Gesetzgebers und nicht des Gesetzanwenders sei. Zur Behandlung der Problematik der Bestimmtheit von gesetzlichen Regelungen in Bezug auf den Schutz von Vertrauensverhältnissen durch das BVerfG und die Landesverfassungsgerichte unten S. 181 ff. (Teil 3.C.II.2.). 698 Wobei unter „Gesetz“ sowohl geschriebenes als auch ungeschriebenes Recht verstanden wird. Zum „Gesetzesbegriff“ näher IntKomm-Wildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 540–552; Breitenmoser, Schutz der Privatsphäre, S. 73 ff.; Matscher, in: FS Loebenstein, S. 105 (111 ff.). 699 EGMR [Malone/Großbritannien] (Fn. 638) Ziff. 66; [Kruslin/Frankreich] und [Huvig/Frankreich] (Fn. 638) Ziff. 27–29 bzw. 29–31; [Halford/Großbritannien] (Fn. 638) Ziff. 49; [Lambert/Frankreich] (Fn. 638) Ziff. 24–25; [Kopp/Schweiz] (Fn. 636) Ziff. 59–64. Näher zu diesem Prüfungspunkt IntKomm-Wildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 538 ff. m. w. Nw.; Frowein/Peukert Vorb. zu Art. 8–11 EMRK Rn. 5; Wiederin, in: Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art. 8 EMRK Rn. 16.

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In einem zweiten Schritt betont der EGMR, dass das konventionsrechtliche Erfordernis der „Gesetzlichkeit“ über den Verweis auf innerstaatliches Recht hinausgehe und eine gewisse „Qualität des Gesetzes“ erfordere, welche zu überprüfen seine Aufgabe sei.701 Der Gerichtshof legt Art. 8 Abs. 2 EMRK damit einen autonomen, d.h. vom nationalen Recht unabhängigen Gesetzesbegriff zugrunde.702 Unter dem Aspekt der „Gesetzesqualität“ prüft er die Erfordernisse der „Zugänglichkeit“703 und „Vorhersehbarkeit bzw. Bestimmtheit“ der gesetzlichen Grundlage.704 Damit soll sichergestellt werden, dass bereits im innerstaatlichen Recht selber ein wirksamer Schutz vor willkürlichen Eingriffen der öffentlichen Gewalt gewährleistet wird.705 Zur Bestimmtheit von Gesetzesgrundlagen, welche die staatlichen Behörden zu geheimen Überwachungsmaßnahmen ermächtigen, hat der EGMR bereits mehrfach Stellung nehmen müssen.706 In diesem Zusammenhang mahnte er 700 Vgl. hierzu auch IntKomm-Wildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 553 und 554 m. w. Nw. Auch im Fall [Kopp/Schweiz] (Fn. 636) Ziff. 59 beanstandete der Gerichtshof (anders als die Kommission) die Gesetzesauslegung der Behörden nicht [dazu noch unten II.3.b)]. Fehlende Übereinstimmung einer Telefonüberwachungsmaßnahme mit innerstaatlichem Recht kritisierte der EGMR jüngst im Fall [M.M./Niederlande] Urt. v. 8. 4. 2003 (Section III) – 39339/98. Hier konnte er sich allerdings auch auf die Auffassung des Berufungsgerichts stützen, welches die TÜ ebenso für rechtswidrig befand und die Gespräche nicht verwertete. 701 EGMR [Malone/Großbritannien] (Fn. 638) Ziff. 67; [Kruslin/Frankreich] und [Huvig/Frankreich] (Fn. 638) Ziff. 30–36 bzw. 29–35; [Halford/Großbritannien] (Fn. 638) Ziff. 49–51; [Lambert/Frankreich] (Fn. 638) Ziff. 26–28; [Kopp/Schweiz] (Fn. 636) Ziff. 66–75. Näher zu diesem Prüfungspunkt IntKomm-Wildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 555 ff. m. w. Nw.; Frowein/Peukert Vorb. zu Art. 8–11 EMRK Rn. 5. 702 Vgl. dazu auch IntKomm-Wildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 528–530; Breitenmoser, Schutz der Privatsphäre, S. 73; Matscher, in: FS Loebenstein, S. 105. 703 Unter dem Aspekt der Zugänglichkeit geht es hauptsächlich um die Frage der „Erreichbarkeit“ der gesetzlichen Grundlage. Der Bürger „muss in einer nach den Umständen hinreichenden Weise erkennen können, welche rechtlichen Vorschriften auf den gegebenen Fall anwendbar sind.“ [EGMR [Sunday Times/Großbritannien] Urt. v. 26. 4. 1979, Serie A/30, Ziff. 49 = EuGRZ 1979, 386; [Malone/Großbritannien] (Fn. 638) Ziff. 66. Zu weiteren Nachweisen vgl. IntKomm-Wildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 556–558. Diese Voraussetzung ist bspw. nicht gegeben, wenn die staatlichen Strafverfolgungsbehörden eine Überwachungsmaßnahme auf eine nicht publizierte und allein an die Exekutive selbst gerichtete Verfügung oder Richtlinie stützen. So bemängelten Kommission und Gerichtshof etwa die fehlende Zugänglichkeit der „Home Office Guidelines“, aufgrund derer die britischen Strafverfolgungsbehörden bis zum Inkrafttreten des „Police Act 1997“ optische und akustische Wohnraumüberwachungen vornahmen, vgl. EKMR [Govell/Großbritannien] E v. 14. 1. 1998 – 27237/95 Ziff. 62; EGMR [Kahn/Großbritannien] (Fn. 638) Ziff. 26 und 27. 704 EGMR [Malone/Großbritannien] (Fn. 638) Ziff. 67; [Olsson/Schweden] Urt. v. 24. 3. 1988, Serie A/130, Ziff. 61, deutsche Übersetzung in EuGRZ 1988, 591; [Chappell/Großbritannien] Urt. v. 30. 3. 1989, Serie A/152-A, Ziff. 56–57; vgl. auch Nachweise Fn. 701. Zu dem Aspekt der „Vorhersehbarkeit“ ausführlich IntKommWildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 559–570. 705 IntKomm-Wildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 555.

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stets, dass es sich hier um einen besonders schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Privatsphäre handele und wies deshalb wiederholt darauf hin, dass derartige Gesetze ausreichend klar abgefasst sein müssten, um den Betroffenen genügend deutlich zu machen, unter welchen Umständen und bei Vorliegen welcher Bedingungen sie die öffentliche Gewalt ermächtigen, solch geheime und potentiell gefährliche Eingriffe in das Recht auf Achtung des Privatlebens zu ergreifen.707 b) Die Bestimmtheit von Telefonüberwachungsregelungen im Hinblick auf den betroffenen Personenkreis Im Fall Kopp rügten die Konventionsorgane erstmals, dass ein nichtbeschuldigter Anwalt aus der gesetzlichen Regelung nicht erkennen konnte, ob und in welchem Umfang die polizeiliche Überwachung seiner Kanzleitelefone zulässig ist. Nach Art. 66 Abs. 1 schweizerische BStP a. F. war eine Fernmeldeüberwachung von Drittpersonen zulässig, wenn – aufgrund bestimmter Tatsachen angenommen werden musste, dass sie für den Beschuldigten bestimmte oder herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben würde (Satz 1) oder – der Verdacht begründet war, dass der Beschuldigte ihren Telefonanschluss benutzen würde (Satz 3). Von der Überwachungsmöglichkeit ausdrücklich ausgenommen waren zeugnisverweigerungsberechtigte Berufsgeheimnisträger, namentlich Geistliche, Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Apotheker, Hebammen und ihre beruflichen Gehilfen. Wortwörtlich hieß es in Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BStP a. F. „Personen, die aufgrund von Art. 77 ein Zeugnisverweigerungsrecht haben, sind davon ausgenommen.“708 Entgegen dem Wortlaut des Gesetzes wurden die gesamten Kanzleitelefone des Herrn Kopp unter dem Aspekt der Nachrichtenmittlung überwacht. Die Regierung versuchte diesen Widerspruch zwischen Gesetzeswortlaut und Praxis aufzulösen, indem sie darauf verwies, dass nach schweizerischer Rechtsauffas-

706 Betreffend Telefonüberwachungsregelungen vgl. etwa EGMR [Malone/Großbritannien] (Fn. 638); [Kruslin u. Huvig/Frankreich] (Fn. 638); [Halford/Großbritannien] (Fn. 638); [Lambert/Frankreich] (Fn. 638); [Valenzuela Contreras/Spanien] (Fn. 638); [Prado Bugallo/Spanien] (Fn. 638); betreffend Wohnraumüberwachung vgl. etwa [Kahn/Großbritannien] (Fn. 638). 707 EGMR [Malone/Großbritannien] (Fn. 638) Ziff. 67; [Halford/Großbritannien] (Fn. 638) Ziff. 49; [Kopp/Schweiz] (Fn. 636) Ziff. 64. 708 Siehe dazu bereits oben S. 164 ff. (Teil 3.B.II.1.) mit (Fn. 657).

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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sung das Berufsgeheimnis grundsätzlich nur insoweit geschützt sei, als dass es nur spezifisch berufliche Angelegenheiten umfasse. Die besagten Vorschriften gäben ihnen daher grundsätzlich das Recht, die Telefongespräche eines Anwalts aufzunehmen und anzuhören, um dann zu entscheiden, ob sie das berufliche Privileg genießen würden oder nicht.709 Der Gerichtshof ließ sich auf diesen Einwand aber nicht ein. Er akzeptierte die Gesetzesauslegung der staatlichen Behörden grundsätzlich, monierte jedoch unter dem Aspekt der „Vorhersehbarkeit“ des Gesetzes, dass das schweizerische Recht710 den Ermessensspielraum der zuständigen Behörden in diesem Punkt nicht ausreichend genau festgelegt habe.711 Der EGMR verwies auf den Widerspruch zwischen dem klaren Gesetzestext einerseits, der das berufliche Privileg schützte, falls ein Anwalt als Dritter abgehört werden sollte, und der tatsächlichen Abhörpraxis andererseits, die den Schutz des beruflichen Privilegs auf ein Verwertungsverbot reduzierte. Für den Rechtsanwalt wäre aus der gesetzlichen Regelung weder ersichtlich gewesen, dass er grundsätzlich auch als nichtbeschuldigter Dritter hätte abgehört werden dürfen, noch wäre für ihn voraussehbar gewesen, wer, wie, wann die Entscheidung trifft, ob die erlangten Informationen dem Berufsgeheimnis unterfallen oder nicht.712 Der Gerichtshof hält es für unentbehrlich auf dem Gebiet der technischen Überwachung klare und detaillierte Regelungen zu treffen, besonders da die verfügbare Technologie ständig weiter verfeinert würde.713 Mit der Rüge der Bestimmtheit der gesetzlichen Regelung geht der EGMR einen anderen Weg als die Kommission. Er beanstandete nicht (obwohl dies hier nahe lag), dass die Strafverfolgungsbehörden ohne bzw. außerhalb der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage gehandelt hatten,714 sondern kritisierte, dass die (unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zur Reichweite des Zeugnisverweigerungsrechts) als möglich anerkannte Auslegung (Beweisverwertungsverbot statt Beweiserhebungsverbot) im Gesetz keine ausdrückliche Konkretisierung erfahren hat. Das Straßburger Urteil enthält damit eine eindeutige Botschaft. In Anbetracht der Schwere des Eingriffs in die durch Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierten Rechte 709

EGMR [Kopp/Schweiz] (Fn. 636) Ziff. 71 (oben S. 161 ff., Teil 3.B.I.2). D.h. bei einer Gesamtbetrachtung von geschriebenem Recht und Rechtsprechung (zu dieser Betrachtungsweise des EGMR näher IntKomm-Wildhaber/Breitenmoser Art. 8 EMRK Rn. 542–550). 711 EGMR [Kopp/Schweiz] (Fn. 636) Ziff. 75. 712 EGMR [Kopp/Schweiz] (Fn. 636) Ziff. 73. 713 EGMR [Kopp/Schweiz] (Fn. 636) Ziff. 72. 714 Die Kommission ging davon aus, dass das Vorgehen der schweizerischen Behörden im Fall Kopp nicht vom Gesetz gedeckt war (siehe oben Fn. 647). 710

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verlangt der EGMR bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen eine besondere Präzision des Gesetzgebers.715 Der in der Heimlichkeit des Vorgehens liegenden Gefahr der Willkürlichkeit staatlichen Handelns soll durch ein genaues Gesetz vorgebeugt werden. Aus einer gesetzlichen Eingriffsbefugnis zur Fernmeldeüberwachung muss deshalb genau hervorgehen, wer in welchem Umfang von dieser heimlichen Ermittlungsmaßnahme betroffen sein kann. Der Gerichtshof hat damit sehr deutlich das Gebot der Rechtsklarheit im Zusammenhang mit heimlichen Überwachungsmaßnahmen in Erinnerung gerufen. 4. Zusammenfassung (1) Art. 8 EMRK schützt vor unangemessenen Eingriffen in besondere Vertrauensverhältnisse. Die Beziehung zwischen einem Anwalt und seinen Mandanten ist vom Straßburger Gerichtshof als ein besonders schützenswertes Vertrauensverhältnis anerkannt worden. Nur wenn sich die Klienten auf die Vertraulichkeit der Mitteilungen zu ihrem Anwalt verlassen können, ist eine ordnungsgemäße Rechtspflege garantiert. (2) Dies bedeutet jedoch nicht, dass das anwaltliche Berufsgeheimnis absolut geschützt ist und ein Eingriff im Interesse einer effektiven Strafverfolgung nicht gerechtfertigt sein kann. Das Gewicht des betroffenen Individualinteresses fordert hier jedoch besondere Beschränkungen und Schutzvorkehrungen, um eine Angemessenheit der Maßnahme zu erreichen. (3) Eine gesetzliche Regelung, die einen Eingriff in das anwaltliche Vertrauensverhältnis gestattet, muss nicht nur diesen inhaltlichen Anforderungen genügen, sie muss auch bestimmt genug sein. Aus einer gesetzlichen Eingriffsbefugnis zur Fernmeldeüberwachung muss deshalb genau hervorgehen, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen die Telefonüberwachung eines Anwalts zulässig ist.

II. Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung Es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen in Deutschland aus der Rechtsprechung des EGMR zu ziehen sind. 1. Derzeitige Rechtslage Die derzeitige Rechtslage zur Telefonüberwachung von Vertrauenspersonen wurde bereits eingangs kurz angerissen.716 Obwohl die Notwendigkeit des 715 In diesem Sinne, wenn auch etwas vorsichtiger jüngst Würtenberger/Schenke, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 303 (313).

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Schutzes bestimmter Vertrauensverhältnisse allgemein anerkannt und nicht nur einfachgesetzlich (§§ 52 ff. StPO) sondern auch verfassungsrechtlich verbürgt ist,717 sucht man in § 100a StPO vergebens nach einer Regelung, welche die Berücksichtigung derartiger Geheimsphären fordert. Das Spannungsverhältnis dieser Bestimmung zu den §§ 52 ff. StPO wurde zunächst nicht gesehen, später angesichts der Komplexität der damit verbundenen Rechtsfragen verdrängt bzw. aus Sorge um die Effektivität der Strafrechtspflege schlichtweg verneint.718 § 100a StPO gestattet daher, unbeachtet besonderer Geheimhaltungsinteressen, den Fernmeldeverkehr höchster Regierungsstellen abzuhören und auf Tonträger aufzunehmen.719 Ebenso lässt es der Gesetzgeber zu, alle Vertrauenspersonen des Beschuldigten zu überwachen, soweit der begründete Verdacht besteht, dass Mittelungen des Beschuldigten entgegengenommen oder weitergereicht werden. Damit ist insbesondere auch die Telefonüberwachung von Berufsgeheimnisträgern wie Ärzten, Seelsorgern und Rechtsanwälten als nichtbeschuldigte Dritte möglich.720 Überwachungsfreiheit gibt es nach allgemeiner Auffassung lediglich für den Verteidiger. Der überwachungsfreie Raum zwischen Beschuldigtem und Verteidiger ergibt sich aus § 148 StPO, welcher seinerseits auf dem Verfassungsgrundsatz der „freien Verteidigung“ beruht.721 Ob darüber hinaus eine einschränkende Auslegung des § 100a StPO zugunsten der in §§ 52 ff. benannten Personen zulässig ist, ist umstritten. Die Rechtsprechung722 und ein Teil der Lehre betonen, dass der Gesetzgeber die Einfüh716

s. o. S. 154 ff. (Teil 3.A.). Vgl. dazu jüngst Würtenberger/Schenke, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 303 (307 f.) mit Verweis auf BVerfG, Urt. v. 14. 7. 1999 – 1 BvR 2226/94 . . ., BVerfGE 100, 313 (365); BVerfG, Beschl. v. 25. 4. 2001 – 1 BvR 1104/92 . . ., DVBl. 2001, 1057 (1058); SächsVerfGH, Urt. v. 14. 5. 1996 – Vf.44-IV94, LKV 1996, 273 (285); BbgVerfG, Urt. v. 30. 6. 1999 – VfGBbg 3/98, LKV 1999, 450 (456); MVVerfG, Urt. v. 18. 5. 2000 – LVerfG 5/98, LKV 2000, 345 (353). 718 Zöller, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 342. 719 So etwa wenn der Beschuldigte bei diesen Stellen beschäftigt ist oder andere Tatsachen den Schluss rechtfertigen, dass er die Telefonanschlüsse dieser Stellen benutzt. Zur Restriktion des § 100a StPO im Hinblick auf die Telefonüberwachung von Behörden vgl. Rudolphi, in: FS Schaffstein, S. 433 (438 ff.); ebenso KK-Nack § 100a Rn. 34; K/M-G § 100a Rn. 12; a. A. KMR-Müller Rn. 8; LR-Schäfer § 100a Rn. 21. Zur Überwachung eines in den Diensträumen eines Konsulats eingerichteten Telefonanschlusses BGH, Beschl. v. 4. 4. 1990 – 3 StB 5/90, BGH St 36, 396; BGH, Beschl. v. 30. 4. 1990 – StB 8/90, BGHSt 37, 30. 720 Siehe bereits oben Teil 3. Problemstellung (Fn. 627). Zur derzeitigen Rechtslage jüngst auch Zöller, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 346 ff. 721 Siehe bereits oben S. 154 ff. (Teil 3.A.) mit (Fn. 628 und 629). Zur Problematik der Überwachungsfreiheit eines Abgeordneten in Anbetracht des Art. 47 GG Zöller, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 345 f., 354. 717

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Teil 3: Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten

rung entsprechender Schutzvorschriften bewusst unterlassen habe, weshalb von einer ausfüllungsbedürftigen gesetzgeberischen Regelungslücke nicht ausgegangen werden könne.723 In diesem Falle sei der Auslegungsspielraum des Gesetzesanwenders beschränkt, was zur Folge hat, dass eine einschränkende Auslegung des § 100a StPO seinerseits nicht in Frage kommt. Zumindest teilweise wird aber ergänzend darauf hingewiesen, dass angesichts der erhöhten Eingriffsintensität von Telefonüberwachungsmaßnahmen bei Berufsgeheimnisträgern der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine besondere Bedeutung zukomme.724 Diese könne jedoch nur ein Korrektiv im Einzelfall sein.725 Ein anderer Teil des Schrifttums ist hingegen der Auffassung, dass der Gesetzgeber dieses Problem schlichtweg übersehen habe und dass Exekutive und Rechtsprechung dazu aufgerufen seien, § 100a StPO verfassungskonform auszulegen.726 Dies bedeute, dass die in § 100a StPO geregelte Eingriffsbefugnis nur für die Fälle Gültigkeit besitze, in denen durch die Überwachung des Fernmeldeverkehrs allein in das Fernmeldegeheimnis und das Recht am gesprochenen Wort eingegriffen werde. In den Fällen, in denen zusätzlich besonders geschützte Vertrauensbeziehungen und Geheimnissphären betroffen seien, müssten die in der StPO und im StGB enthaltenen Schutzvorschriften analog angewendet werden.727 Unter dieser Prämisse verbiete sich nicht nur eine Telefonüberwachung des Verteidigers, sondern auch des Abgeordneten, da durch Art. 47 GG, §§ 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, 97 Abs. 2 StPO und 203 II Nr. 4 StGB die ungehinderte Kommunikation zwischen Abgeordnetem und Bürger (zur Stärkung des Rechts auf ein freies Mandat) geschützt werde.728 Für die sonstigen Berufsgeheimnisträger könne zwar weder aus der Verfassung noch aus dem einfachgesetzlichen Recht ein generelles Eingriffsverbot hergeleitet werden, doch sei die Möglichkeit der Telefonüberwachung dieser Personen entsprechend § 97 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle der Tatverstrickung zu beschränken. Die Überwachung eines Berufsgeheimnisträgers als nichtbeschuldigter Dritter scheide somit aus.729 722 Vgl. etwa BGH (Fn. 627) NStZ 1999, 416; LG Frankfurt NStZ 1996, 1008 (1009). 723 Vgl. etwa K/M-G § 100a Rn. 13; LR-Schäfer § 100a Rn. 25; Schäfer, in: FS Hanack, S. 99; Werle JZ 1991, 482 (488). Zuletzt dazu Zöller, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 348. 724 LR-Schäfer § 100a StPO Rn. 25; Schäfer, in: FS Hanack, S. 99; Werle JZ 1999, 482 (488). 725 Werle a. a. O. 726 Vgl. Rudolphi, in: FS Schaffstein, S. 433 (444); Duttke JZ 1999, 261 (264); SKStPO-Rudolphi § 100a Rn. 17; KK-Nack § 100a Rn. 12; HK-Lemke § 100a Rn. 14; KMR-Müller § 100a Rn. 16; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 34 Rn. 27; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 353. Kritisch auch Köhler ZStW 107 (1995), 10 (43). 727 Rudolphi, in: FS Schaffstein, S. 433 (435). 728 Rudolphi, in: FS Schaffstein, S. 433 (444); Zöller, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 346; SK-StPO-Rudolphi § 100a Rn. 20; AK-Maiwald § 100a Rn. 12.

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Keine Einschränkung lasse sich hingegen für die nach § 52 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Angehörigen herleiten.730 2. Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des EGMR Ein Vergleich der Straßburger Rechtsprechung mit der soeben beschriebenen Rechtslage zeigt, dass § 100a StPO hinter den Anforderungen der Konvention zurück bleibt. Folgt man dem Wortlaut der Bestimmung und lässt die Fernmeldüberwachung ungeachtet besonderer Vertrauensbeziehungen und Geheimnissphären zu, so widerspricht dies Art. 8 EMRK. Der EGMR sieht bestimmte Vertrauensverhältnisse durch das Recht auf Achtung der Privatsphäre besonders geschützt, was bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen zu berücksichtigen ist. Das Gewicht des betroffenen Individualinteresses fordert hier besondere Einschränkungen und Schutzvorkehrungen, soll die Überwachungsmaßnahme angemessen und damit „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein.731 Wird § 100a StPO in dem unter III.1. dargestellten Sinne einschränkend ausgelegt, so kann dies zwar die Unverhältnismäßigkeit der Telefonüberwachungsmaßnahme verhindern, dem konventionsrechtlichen „Gesetzlichkeitsprinzip“ ist damit allerdings noch nicht Genüge getan. Der Straßburger Gerichtshof hat im Fall Kopp deutlich gemacht, dass der Ermessensspielraum der zuständigen Behörden über die Frage, wann und wie in besondere Vertrauensverhältnisse eingegriffen werden kann, vom Gesetzgeber hinreichend genau festgelegt sein muss.732 Der EGMR greift damit entscheidend in die verfassungsrechtliche Diskussion ein, ob und inwieweit der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes Detailregelungen zum Schutze von Vertrauensverhältnissen verlangt.733 729 Rudolphi, in: FS Schaffstein, S. 433 (445). Nicht ausgeschlossen ist nach Rudolphi a. a. O. S. 449 jedoch die Verwertung der bei einer zulässigen Telefonüberwachung des Beschuldigten aufgenommenen Gespräche zwischen einem Berufsgeheimnisträger und dem Beschuldigten, es sei denn, es handle sich um ein Gespräch des Beschuldigten mit seinem Verteidiger, einer Verwaltungsbehörde, oder einem Abgeordneten. Einen anderen Lösungsweg vertreten Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 353 und Lücking, Strafprozessuale Überwachung, S. 192 (kein Beweiserhebungsverbot dafür aber ein Beweisverwertungsverbot für die Aufzeichnungen des Fernmeldeverkehrs, aus denen sich Tatsachen ergeben, die mit dem Vertrauensverhältnis zu den in den §§ 53, 53a genannten Berufsgruppen verknüpft sind). Wieder anders Gross-Spreitzer, Grenzen der Telefonüberwachung, S. 160 (sowohl Beweiserhebungs- als auch Beweisverwertungsverbot, damit es nicht zu einer Untergrabung des Zeugnisverweigerungsrechts kommt). 730 Rudolphi, in: FS Schaffstein, S. 433 (445). Andere Auffassungen auch hier, vgl. bspw. Duttke JZ 1999, 261 (264). 731 Dazu oben S. 169 ff. [Teil 3.C.I.2.b)]. 732 Siehe dazu oben S. 176 ff. [Teil 3.C.I.3.b)].

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So forderte bspw. der Sächsische Verfassungsgerichtshof für die polizeiliche Datenerhebung in Bezug auf Vertrauenspersonen eine gesetzliche Grundlage, die „mit hinreichender Bestimmtheit die konkurrierenden verfassungsrechtlichen Rechtspositionen zum Ausgleich bringt“.734 Würden gesetzliche Regelungen der Exekutive den Eingriff in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen ermöglichen, so sei es unter dem Aspekt des Rechtsstaatsprinzips und Demokratiegebotes notwendig, dass der Gesetzgeber die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im Wesentlichen selbst trifft und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive überlässt.735 Deshalb habe in erster Linie der Gesetzgeber und nicht die Exekutive die Aufgabe festzulegen, zugunsten welcher Rechtsgüter in geschützte Vertrauensbeziehungen eingegriffen werden dürfe und welchen Begrenzungen dieser Eingriff unterliegt. Nur dann könne der Polizeivollzugsdienst im Rahmen der ihm obliegenden Verhältnismäßigkeitsprüfung eine hinreichend bestimmte Zweck-Mittel-Abwägung vornehmen und nur dann sei für den Bürger vorhersehbar, ob und unter welchen Voraussetzungen er mit einem solchen Eingriff zu rechnen habe.736 Dieser Auffassung hat sich auch das Verfassungsgericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern angeschlossen.737 Allerdings gibt es diesbezüglich auch zurückhaltendere Ansichten. So hält es das Brandenburgische Verfassungsgericht für genügend, wenn sich der Gesetzgeber der Schutzwürdigkeit der betroffenen Vertrauensverhältnisse bewusst gewesen ist und eine – gegebenenfalls durch Auslegung zu ermittelnde – Regelung getroffen hat, welche die widerstreitenden Verfassungsbelange zu einem angemessenen Ausgleich bringt.738 Dem Bundesverfassungsgericht scheint die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung generell auszureichen.739 733 Hierzu jüngst Würtenberger/Schenke, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 310 f. 734 SächsVerfGH (Fn. 717) LKV 1996, 273 (285). 735 SächsVerfGH a. a. O. unter Verweis auf BVerfGE 83, 130 (142). 736 SächsVerfGH a. a. O. 737 MVVerfG (Fn. 717) LKV 2000, 345 (352). 738 BbgVerfG (Fn. 717) LKV 1999, 450 (456) unter Verweis auf die Gesetzesmaterialien, in denen ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass es der verfassungsrechtliche Schutz bestimmter Vertrauensverhältnisse verbiete, Berufsgeheimnisträger als Kontakt- oder Begleitpersonen zu observieren. 739 Vgl. BVerfG (Fn. 717) DVBl. 2001, 1057. Das BVerfG nahm die Beschwerde eines Pastors, Polizeibeamten und eines Strafverteidigers gegen die im Hamburgischen Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei vorgesehene Datenerhebung durch Observation und den verdeckten Einsatz technischer Mittel nicht zur Entscheidung an, weil dieses Gesetz verfassungskonform so ausgelegt werden konnte, dass sich die umstrittenen Maßnahmen nur im Falle der Tatverstrickung gegen verfassungsrechtlich geschützte Vertrauenspersonen richten dürfe. Vgl. auch Würtenberger/Schenke, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 311. Auch im jüngsten Urteil des BVerfG v. 12. 3. 2003 – 1 BvR 330/96 und 1 BvR 348/99 (abrufbar im Internet unter www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen)

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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Der EGMR positioniert sich mit der Entscheidung Kopp an der Seite des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs. Je gravierender eine staatliche Maßnahme die Grundrechtssphäre beeinträchtigt, umso höhere Anforderungen stellt Straßburg an die Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage.740 In Anbetracht der Schwere des Grundrechtseingriffs verlangt er für das Abhören und Aufzeichnen privater Gespräche mit technischen Mitteln (sei es im Wege der Fernmeldeüberwachung, der Wohnraumüberwachung u. ä.) besonders „präzise“ gesetzliche Regelungen, aus denen die Reichweite der Maßnahmen klar hervorgeht und in denen das behördliche Ermessen, zu solchen Maßnahmen zu greifen, genau umgrenzt ist. Dazu gehört auch, dass die Frage, ob und inwieweit strafprozessuale Überwachungsmaßnahmen in besonders geschützte Vertrauensverhältnisse eingreifen können, nicht der Entscheidung der Behörden überlassen bleiben kann, sondern gesetzlich festzulegen ist. Die „Zurücknahme des Gesetzesvorbehalts“ und „Verlagerung der Verantwortung für den Schutz von Vertrauensverhältnissen von der Rechtssetzung auf die Rechtsanwendung“741 kann vor der Straßburger Rechtsprechung also keinen Bestand haben. § 100a StPO bedarf einer gesetzlichen Konkretisierung, aus welcher hervorgeht, unter welchen einschränkenden Voraussetzungen verfassungsrechtlich geschützte Vertrauenspersonen in geheime Abhörmaßnahmen einbezogen werden dürfen.742 Die sich hieran anschließende Frage, ob nun für die Dauer der Konventionswidrigkeit der Bestimmung auch ein Beweisverwertungsverbot für abgehörte Anwaltsgespräche angenommen werden muss, kann unter dem Blickwinkel Straßburger Rechtsprechung kaum beantwortet werden. Der EGMR behandelte dieses Problem bislang eher zurückhaltend. Bereits mehrfach wies er darauf hin, dass er nicht grundsätzlich und abstrakt feststellen könne, dass die Verwertung unrechtmäßig erlangter Beweise zu einem unfairen Verfahren führe. Er verneinte eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn Informationen verwertet wurden, für deren Erhebung es keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gab, ihr Beweiswert aber gut war und außerhalb jedes Zweifels lag.743 Damit begibt sich der EGMR – ähnlich wie der

wurde die derzeitige lückenhafte und widersprüchliche Gesetzeslage zum Schutz von Zeugnisverweigerungsrechten bei strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen nicht kritisiert. Kritisch hierzu Hilger GA 2003, 482 (489 ff.). 740 Wiederin, in: Österreichisches Verfassungsrecht, Art. 8 EMRK Rn. 19. Vgl. EGMR [Kruslin u. Huvig/Frankreich] (Fn. 638) Ziff. 33; [Kopp/Schweiz] (Fn. 636) Ziff. 72; [Valenzuela Contreras/Spanien] (Fn. 638) Ziff. 46. 741 Würtenberger/Schenke, in: Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 311. 742 So bereits Kühne StV 1998, 683 (686). 743 Vgl. hierzu insbesondere [Kahn/Großbritannien] (Fn. 638), kritisch hierzu Kühne/Nash JZ 2000, 996. Bereits früher EGMR [Schenk/Schweiz] Urt. v. 12. 7. 1988, Serie A/140, in deutscher Übersetzung auszugsweise abgedruckt in EuGRZ 1988, 390.

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Teil 3: Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Rechtsanwälten

BGH – in die wenig vorhersehbare Abwägung zwischen Verfahrensgerechtigkeit und materieller Gerechtigkeit.744 Ein aus Art. 8 EMRK abgeleitetes „Informationsbeherrschungsrecht“745, welches dem Einzelnen die Befugnis gibt, nicht nur die Erhebung, sondern auch die Verwertung einer Information (durch das Gericht) zu untersagen, für die es keine ausreichende gesetzliche Grundlage gibt,746 erkennt der EGMR nicht an.

III. Lösungsweg: Schutz des anwaltlichen Vertrauensverhältnisses durch ein Beweisverwertungsverbot – der geplante § 53b StPO Den Schutz von familiären und beruflichen Vertrauensverhältnissen bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen in einem „stimmigen Gesamtkonzept“ zu regeln ist mittlerweile auch ein Anliegen des deutschen Gesetzgebers geworden.747 Im Rahmen eines vom Justizministerium in Auftrag gegebenen Forschungsprojektes wird derzeit ein entsprechender Regelungsvorschlag des Arbeitskreises Strafprozessrecht und Polizeirecht (ASP) diskutiert:748 Dieser sieht u. a. den „strafprozessualen Rundumschutz“ des Berufsgeheimnisses von Verteidigern, Abgeordneten, Journalisten und deren Berufshelfern vor. In Anbetracht der „staatskonstituierenden Kontrollfunktion“ ihrer Tätigkeit sei es notwendig, diese Berufsgruppen vor staatlicher Informationserhebung weitestgehend zu schützen.749 § 53b Abs. 1 des Entwurfes postuliert deshalb das Verbot, durch bestimmte strafprozessuale, meist verdeckte Ermittlungsmaßnahmen Erkenntnisse zu ermitteln, auf die sich das berufliche Zeugnisverweigerungsrecht dieser Personen bei einer Vernehmung erstrecken würde. Die Anordnung von Ermittlungsmaßnahmen wie Postbeschlagnahme, Fernmeldeüberwachung, Observation, Wohnraumüberwachung, Einsatz verdeckter Ermittler etc. soll deshalb unzulässig sein, wenn dadurch in den verfassungsrechtlich ge744 Vgl. auch abweichendes Sondervotum des Richters Loucaides zu EGMR [Kahn/ Großbritannien] (Fn. 638) = JZ 2000, 993 (996). Zur Abwägungstheorie des BGH vgl. im Überblick Schroth JuS 1998, 969 (973). Näher zum Streit über die Grundlagen von Beweisverwertungsverboten auch Amelung, in: FS Roxin, S. 1259 (zum Problem der Abwägung von Verfahrensgerechtigkeit und materieller Gerechtigkeit S. 1279). 745 Zur Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozess, 1990. 746 Amelung/Wirth StV 2002, 161 (168). 747 Dies bekräftigte die Bundesregierung im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu den §§ 100g und 100h StPO, BT-Drucks. 14/7008 vom 1. 10. 2001 S. 8. 748 Hierzu näher Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen. Vgl. auch Hilger GA 2003, 482. 749 Begründung des ASP in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 6.

C. Analyse der Straßburger Rechtsprechung

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schützten Geheimbereich eines Verteidigers, Abgeordneten oder Journalisten eingegriffen würde. Für den Fall, dass das Erhebungsverbot nicht beachtet werden kann, weil es bei Durchführung der Ermittlungsmaßnahme nicht erkennbar ist, soll ein entsprechendes Verwertungsverbot für die erlangten Erkenntnisse greifen (Beweiserhebungsverbot, flankiert durch ein Beweisverwertungsverbot).750 Diese Ermittlungseinschränkungen sind für Verteidiger und Abgeordnete selbst im Falle eines Kollusionsverdachts vorgesehen.751 In Bezug auf andere Berufsgeheimnisträger wie Ärzte, Geistliche, Rechtsanwälte und deren Berufshelfer hält der ASP hingegen ein Verwertungsverbot (welches zudem im Falle eines Kollusionsverdachts entfällt) für ausreichend.752 Die Einführung eines Erhebungsverbotes auch für diese Personengruppe wäre seiner Ansicht nach zu weitreichend und würde die Interessen an einer wirksamen und gerechten Strafverfolgung zu wenig berücksichtigen.753 Für Angehörige ist ein relatives Beweisverwertungsverbot vorgesehen. Erkenntnisse, die durch eine der oben benannten Maßnahmen von einem Angehörigen (§ 52 StPO) erlangt worden sind, sollen zu Lasten des Beschuldigten nur verwertet werden dürfen, wenn dies nicht außer Verhältnis zum Interesse an der Erforschung des Sachverhalts oder der Ermittlung des Aufenthaltorts des Täters steht. Einem Verwertungsverbot unterliegen Angaben, die durch eine verdeckte Befragung veranlasst wurden. Auch diese Einschränkungen sollen nicht gelten, wenn gegen den Angehörigen der Verdacht einer Beteiligung bzw. Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei besteht.754 Insgesamt sieht der Regelungsvorschlag damit einen sehr weitreichenden Schutz besonderer Vertrauensverhältnisse vor staatlichen Informationseingriffen vor. Die oben dargestellten konventionsrechtlichen Vorgaben würden durch eine solche gesetzliche Regelung erfüllt. Sie enthält nicht nur den von den Straßburger Organen und der nationalen Rechtsprechung gleichermaßen geforderten absoluten Schutz des Verteidigergesprächs durch ein Erhebungs- und Verwertungsverbot, sondern beinhaltet darüber hinaus auch einen angemessenen Schutz des anwaltlichen Vertrauensverhältnisses generell.755 Die Konventionsorgane haben gesetzliche Regelungen, die das berufliche Vertrauensverhältnis durch ein Beweisverwertungsverbot sichern, bereits mehrfach ausdrücklich gebilligt.756 Gleiches gilt für den Wegfall des Schutzes im Falle einer Tatverstri750 Begründung des ASP in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 9. 751 § 53b Abs. 5 StPO-Entwurf ASP. 752 § 53b Abs. 2 und Abs. 5 StPO-Entwurf ASP. 753 Vgl. Begründung des ASP in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 14. 754 § 53b Abs. 3 und Abs. 5 StPO-Entwurf ASP. 755 Dazu oben S. 169 ff. [Teil 3.C.I.2.b)].

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ckung des Anwalts.757 Um den in den Straßburger Entscheidungen anklingenden Anforderungen der richterlichen Kontrolle und der alsbaldigen Vernichtung nicht verwertbaren Materials nachzukommen,758 sollte § 100b StPO entsprechend konkretisiert werden.

D. Fazit Die Untersuchung hat ergeben, dass die derzeitige Ermächtigungsgrundlage zur strafprozessualen Fernmeldeüberwachung – § 100a StPO – den Anforderungen der EMRK nicht gerecht wird. Sie lässt die Frage der Zulässigkeit des Eingriffs in verfassungsrechtlich geschützte Vertrauensverhältnisse in unzulässiger Weise offen. Die gesetzgeberischen Bemühungen, diese Lücke zu beseitigen, gehen in die richtige Richtung. Der derzeitige Gesetzesvorschlag über die Einführung von Bestimmungen zum Schutze familiärer und beruflicher Vertrauensverhältnisse vor strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen steht auf dem Boden der Grundrechte, der gewachsenen Strafprozessordnung, der neueren verfassungsrechtlichen Rechtsprechung und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.759 Es gilt nun, diese Regelung umzusetzen und damit den konventionswidrigen Zustand so bald als möglich zu beseitigen.

756

Dazu oben S. 169 ff. [Teil 3.C.I.2.b)] mit (Fn. 694). Vgl. EGMR [Mulders/Niederlande] [oben S. 157 ff., Teil 3.B.I.1.a)]. Siehe dazu auch die Ausführungen unter S. 169 ff. [Teil 3.C.I.2.b)]. 758 Vgl. hierzu ebenso EGMR [Mulders/Niederlande] [oben S. 157 ff., Teil 3.B.I.1.a)] und EGMR [Kopp/Schweiz] (oben S. 161 ff., Teil 3.B.I.2.) sowie die Ausführungen oben S. 169 ff. [Teil 3.C.I.2.b)]. 759 So auch der Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht (ASP) in: Wolter/ Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, S. 6. 757

Abschließende Würdigung Die Untersuchung an den Themenbereichen „anonymer Zeuge“, „polizeilicher Lockspitzel“ und „Telefonüberwachung von Anwälten“ hat gezeigt, dass der EGMR seine Aufgabe, die konventionsrechtlichen Mindestgarantien zu schützen und einer Aushöhlung durch die Mitgliedsstaaten entgegenzuwirken, sehr ernst nimmt. Auch wenn er das Anliegen der Staaten nach einer effektiven Verbrechensbekämpfung grundsätzlich anerkennt und in seine Erwägungen einbezieht, stellt er sich jeder Tendenz, rechtsstaatliche Errungenschaften diesem Zweck zu opfern, mahnend entgegen. Die Auffassung, dass die deutsche Rechtsordnung den Straßburger Intentionen weitestgehend entspricht, erweist sich dabei als Trugschluss. Die derzeitige Kritik an Judikatur und Gesetzgebung die EGMR-Rechtsprechung nur halbherzig umzusetzen ist berechtigt. Im Einzelnen hat die Untersuchung der umstrittenen Themen ergeben: (1) Erweist es sich in einem Strafverfahren als notwendig, bestimmte Zeugen vor einer Offenbarung gegenüber der Öffentlichkeit und den Verfahrensparteien zu schützen, so kann dies auch aus Sicht des EGMR weder gänzlich zu Lasten der Rechte des Beschuldigten noch unter völliger Zurückstellung des Interesses an einer effektiven Strafverfolgung geschehen. Der Straßburger Gerichtshof verlangt im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK ein ausgeglichenes Verfahren, welches die gegenläufigen Interessen in angemessener Weise berücksichtigt. Ein angemessener Ausgleich der Interessen ist nach der Rechtsprechung des EGMR allerdings dann nicht mehr gegeben, wenn Belastungszeugen von den Ermittlungsbehörden gänzlich geheimgehalten werden, der Beschuldigte damit gänzlich seines aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 lit. d EMRK abgeleiteten Rechts auf Konfrontation mit dem Belastungszeugen beraubt wird, die Aussage aber gleichwohl bei der Entscheidungsfindung des Gerichts Berücksichtigung findet. Auch eine „vorsichtige Beweiswürdigung“ kann die vollständige Verweigerung des Konfrontationsrechts nicht hinreichend ausgleichen, denn die Überprüfung des Beweises ist der Verteidigung damit vollständig entzogen. Es liegt ein unzulässiger Eingriff in den Kernbereich des Rechts auf ein faires Verfahren vor. Die Rechtsprechung des BGH zur Zulässigkeit der Verwertung des Wissens behördlich gesperrter Zeugen bedarf daher einer Korrektur. Ein Verstoß gegen die Fairness des Verfahrens kann nach Auffassung des EGMR aber auch dann vorliegen, wenn eine das Konfrontationsrecht weniger einschränkende Maßnahme (Anonymisierung, optische Abschirmung etc.), einer strengen Erforderlichkeitsprüfung nicht standhält. Wie die Untersuchung gezeigt

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Abschließende Würdigung

hat, wendet der Straßburger Gerichtshof auch im Rahmen des Art. 6 EMRK die drei Stufen des Verhältnismäßigkeitsprinzips an. Dabei begibt er sich nicht allein in eine mehr oder weniger konturlose Abwägung der gegenläufigen Interessen innerhalb der Angemessenheitsprüfung, sondern erfüllt auch die Aspekte der Geeignetheit und Erforderlichkeit eines Eingriffs in das Konfrontationsrecht mit Leben. Nicht jeder Zweck, insbesondere nicht der allgemeine Hinweis auf die Notwendigkeit wirksamer Verbrechensbekämpfung, kann einen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 lit. d EMRK rechtfertigen. Im Rahmen der Erforderlichkeit der Maßnahme verlangt der EGMR eine gewissenhafte Prüfung der Behörden über Notwendigkeit und Ausmaß der Geheimhaltungsmaßnahme. Diese Vorgehensweise des EGMR dürfte auch für die allgemeine Verfassungsdogmatik von Interesse sein. Sie entsprecht den verschiedentlich in der Verfassungslehre geäußerten Forderungen, zur „Objektivierung“ der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Stufen der Geeignetheit und Erforderlichkeit mehr zu aktivieren und mit der Prüfung der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i. e. S.) Maß zu halten.760 (2) Das durch Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierte Recht auf ein faires Verfahren begrenzt nach Auffassung des EGMR auch die Zulässigkeit polizeilicher Lockspitzeleinsätze. Tatprovozierendes Vorgehen heimlicher Ermittler ohne Tatverdacht bewertet der Gerichtshof selbst dann als unfaires Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden, wenn sich der Provozierte zur Begehung der Tat ohne nachhaltiges Drängen alsbald bereit erklärt. Ein solches Verhalten behaftet das Strafverfahren „von Beginn an“ mit dem Makel der „Unfairness“ und hat zur Folge, dass der Beschuldigte trotz seines eigenverantwortlich strafbaren Verhaltens (sofern es nicht zu einer materiellen Rechtsgutsverletzung gekommen ist) straffrei ausgehen muss. Auch hier ist die nationale Rechtsprechung aufgerufen, ihre bisherige Auffassung über die generelle Verfolgbarkeit von polizeilich provozierten Straftätern (Strafzumessungslösung) zu korrigieren. In Ansehung der Rechtsprechung des EGMR muss für bestimmte Fälle des tatprovozierenden Vorgehens heimlicher Ermittler (insbesondere bei Provokation von Unverdächtigen) das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses anerkannt werden. Denn eine solche Strafverfolgung kann mit Blick auf den „erreichbaren Rechtsgüterschutz“ durchaus unangemessen sein und in einem unerträglichen Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen stehen. (3) Für die Zulässigkeit geheimer Telefonüberwachungsmaßnahmen fordert der EGMR besonders „präzise“ gesetzliche Regelungen, aus welchen die Reichweite der möglichen Telefonüberwachung durch staatliche Behörden klar her760 Vgl. hierzu Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 74 f. Zu den materiellen Maßstäben des formalen Verhältnismäßigkeitsprinzips näher SK-StPOWolter Vor § 151 Rn. 38 m. w. Nw.

Abschließende Würdigung

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vorgeht und in denen das behördliche Ermessen zu solchen Maßnahmen zu greifen genau umgrenzt ist. Deshalb verstößt es gegen das in Art. 8 Abs. 2 geforderte Gesetzlichkeitsprinzip, wenn die Frage, ob und inwieweit strafprozessuale Überwachungsmaßnahmen in besonders geschützte Vertrauensverhältnisse eingreifen dürfen, nicht gesetzlich festgelegt wird, sondern dem Ermessen der Behörden überlassen bleibt. Die derzeitige Regelung des § 100a StPO wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Sie lässt die Problematik der Fernmeldeüberwachung von zeugnisverweigerungsberechtigten Personen in unzulässiger Weise offen. Hier besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Für die deutsche Rechtspraxis und Gesetzgebung gilt es nun die Straßburger Vorgaben umzusetzen und die deutsche Rechtsordnung damit nicht nur dem internationalen Mindeststandard, sondern auch dem nationalen Grundrechtsstandard anzupassen. Obwohl sich die internationalen Menschenrechte letztendlich erst aus den nationalen Grundrechten entwickelt haben, sind sie es jetzt, die das Verfassungsrecht anreichern und auf Inhalt und Umfang der verfassungsrechtlich garantierten Rechte des Einzelnen Einfluss nehmen.761

761 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 539 spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem „Rücktransfer“.

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Sachwortverzeichnis (Die kursiv gedruckten Seitenzahlen weisen die Hauptfundstellen aus.) Abhörprivileg 162, 164, 168 Abschirmung von Zeugen – akustische 40, 46, 50, 51, 53, 55, 57, 75–77, 81, 85–87, 89–90, 99, 100 – optische 34, 36, 37, 40, 45, 46, 50, 51, 53, 55, 57, 75–77, 81, 84, 85–87, 89–90, 99, 100 Abwägung von Interessen siehe Interessenabwägung adversatorisches Verfahren 63, 80 agent provocateur 110, 125 allgemeines Persönlichkeitsrecht 142, 143 Anonymität – Identität 57 – richterliche Überprüfung 42, 43, 47, 50 – Zusicherung 38, 43, 59 Anstiftung siehe Tatprovokation Antrag auf Einvernahme des Zeugen 40, 63 Anwesenheitsrecht – des Beschuldigten 66, 87 – des Verteidigers 85, 87 Ausschluss der Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung 84 Ausschluss des Angeklagten von der Hauptverhandlung 84–85, 88 autonome Auslegung – Belastungszeuge 63 – Gesetzesbegriff 175 Belastungszeuge siehe autonome Auslegung

Berufsgeheimnisträger 158, 164, 165, 166, 173, 176, 179, 180, 185 Beschwer 107, 139 Bestimmtheitsgebot 168, 173, 174–176, 177, 178, 182, 183 Beweiserhebungsverbot – Tatprovokation 151 – Telefonüberwachung 166, 185 Beweismittel, Zurückhaltung 120, 121 Beweissurrogate, Rückgriff auf 23, 25, 51, 52, 53, 56, 57, 59, 60, 77–80, 90, 92–93, 96, 99 Beweisverwertung 35, 44, 50, 51, 60 Beweisverwertungsverbot – gesperrter Zeuge 23, 98, 99, 101 – Tatprovokation 104, 125, 126, 141, 147, 149, 151 – Telefonüberwachung 155, 164, 165, 166, 167, 173, 183, 185 Beweiswürdigung – Aussagen gesperrter Zeugen 36, 39, 90 – freie 23, 59, 83, 94 – vorsichtige 27, 44, 53, 56, 78, 101 Beweiswürdigungslösung 24, 94–95, 97–99 Bundesgericht, schweizerisches 54, 107, 119, 124, 125, 164 Bundesgesetz über verdeckte Ermittlung, Vorentwurf (Schweiz) 56, 57, 126 Bundesgesetz zur Überwachung des Postund Fernmeldewesens, Schweiz 165 Chancengleichheit 64 counterbalancing procedure 68, 72–73, 76, 81, 89, 96, 97, 101

204

Sachwortverzeichnis

direct questioning 37, 44, 53, 75, 77 Eidgenössische Strafprozessordnung, Vorentwurf (Schweiz) 56–57 Einstellung des Verfahrens, Tatprovokation 139, 147, 149 Einvernahme, direkte siehe direct questioning Einzelfallbezogenheit der Straßburger Rechtsprechung 60 Entlastungszeuge 115 entrapment 111 Entschädigung durch den EGMR 113, 137, 140, 149 Entscheidungen – BVerfG – Landshutentscheidung 95 – Sedlmayr-Entscheidung 143 – EGMR 29, 31, 51, 54, 58, 68, 69, 70, 71, 72, 74, 76, 77, 78, 83, 89, 96, 97, 100, 106, 112, 116, 128, 129, 133, 136, 138, 140, 156, 164, 167, 170, 171, 172, 173, 176, 181, 183 – Birutis/Litauen 48–49 – Calabro/Italien 119–120, 133 – Delta/Frankreich 58 – Doorson/Niederlande 43–44, 69, 70, 74, 83 – Edwards/Großbritannien 121–122 – Kempter/Deutschland 119 – Klass u. a./Deutschland 169 – Kok/Niederlande 46–48, 51, 76, 77, 78, 89, 97, 100 – Kopp/Schweiz 156, 161–163, 164, 167, 171, 176, 181, 183 – Kostovski/Niederlande 25–28, 29, 31, 68, 74, 78 – Lewis/Großbritannien 120–121 – Lüdi/Schweiz 30–32, 54, 71, 72, 78, 96, 106, 107–109, 112, 116, 129, 136, 138, 140 – Malone/Großbritannien 128 – Niemietz/Deutschland 170, 172, 173

– Saïdi/Frankreich 32–34, 78 – Teixeira de Castro/Portugal 105, 106, 110–113, 118, 120, 123, 125, 132, 134, 135, 138, 140, 145, 149, 152 – van Mechelen u. a./Niederlande 34– 37, 51, 71, 72, 74, 75, 76, 89, 96 – Visser/Niederlande 37–39, 51, 70, 96 – Windisch/Österreich 28–30, 31, 74, 78 – EKMR 75, 76, 133, 171, 172 – A. B./Deutschland 113–114 – Baegen/Niederlande 41–43 – J. O. and T. T/Niederlande 39–40 – Kritsch/Österreich 115–116 – Liefveld/Niederlande 40–41, 75 – M. H. Shahzad und K. L./Großbritannien 117–118, 133, 134, 136 – Mulders/Niederlande 157–159, 171, 172 – Myrdal/Norwegen 116–117, 133 – R. Müller/Österreich 116 – Rademacher und Pferrer/Deutschland 114–115, 131, 133 – Remmers and Hamer/Niederlande 159–161, 171, 172 – S. E./Schweiz 44–46, 59, 118–119 – Speckmann/Großbritannien 117 Erforderlichkeitsgrundsatz 33, 36, 39, 72, 80, 173 Ermessensspielraum 177, 181, 183 Ermittler – heimliche 22, 109, 117, 119, 128, 129 – verdeckte 22, 31, 36, 45, 46, 48, 70, 71, 83, 85, 95, 106, 122 Ermittlungsmethoden, heimliche 128, 156, 163, 178, 184 Europarat, Empfehlungen 84 face-to-face-confrontation 75, 96 fair hearing 62–63

46, 52, 73,

Sachwortverzeichnis Fernmeldeüberwachung siehe Telefonüberwachung Fragerecht 61–62, 120 – des Beschuldigten 32, 38, 58, 59 – schriftliches 25, 27, 30, 41, 42, 50, 77 Gefährdung von Rechtsgütern 69 Gegenüberstellung 29, 32, 33, 62–63 Geheimhaltung (Zeuge), Identität 34, 50, 53, 54, 55, 73–75, 81, 82–84 Gesamtbetrachtung des Verfahrens 65, 66, 95 Gesamtwürdigung 89, 103, 132, 146, 148 Gesetzesvorbehalt 103, 142, 163, 181, 183 Glaubwürdigkeitsprüfung – durch das Gericht 27, 30, 49, 74 – durch den Untersuchungsrichter 37, 48, 76, 97 – durch die Verteidigung 27, 30, 32, 33, 48, 49, 50, 54, 63, 68, 73, 79, 81, 86, 98, 99 Identität des Zeugen siehe Geheimhaltung Informanten, anonyme 22, 28, 40 informationelle Selbstbestimmung 130 Informationsbeherrschungsrecht 184 Informationsnetze 22, 55, 57, 71 Interessenabwägung – bei der Einvernahme von Zeugen 36, 44, 46, 55, 67, 69, 70, 72, 80 – bei der Telefonüberwachung von Vertrauenspersonen 169 Kernbereich 68, 81 kommissarische Vernehmung von Zeugen 84, 87–88, 90 Konfrontationsrecht 59, 61–63, 80, 83 – Adressaten 66 – Einschränkbarkeit 67–68, 71, 80 – Zeitpunkt 64–66

205

kontradiktorische Einvernahme von Zeugen 26, 63 Lockspitzel, Begriff 102 Nachrichtenmittler 176 Nato-Truppenstatut 62 Pönalisierungsgebot 152 Privatleben, Recht auf 42, 108, 109, 114, 116, 117, 127–128, 129, 143, 159, 163, 167, 170, 176, 181 Protokollverlesung 38, 51, 58, 59, 67, 77, 92 Randhawa-Entscheidung 58 rechtliches Gehör 62, 64 Rechtsgutverletzung bei polizeilicher Tatprovokation 152–153 Rechtssicherheit 173 Scheinkauf von Drogen 45, 122, 123, 125 Sound-Link 37, 47 Sperrerklärung – durch Strafverfolgungsbehörden 22, 53, 91 – gerichtliche Überprüfung 93–94 – rechtswidrige 94, 96–97 Stimmenverzerrung 41, 47 Strafausschließungsgrund, Tatprovokation 104, 123, 125, 141, 147, 149, 150 Strafbefugnis 150 Strafmilderung, Tatprovokation 104, 138, 139, 141, 147 Strafzumessungslösung, Tatprovokation 104, 115, 125, 147, 149 Subsidaritätsgedanke 61 Tatneigung siehe Tatprovokation Tatprovokation – Anfangsverdacht 134–135, 136, 144, 146

206

Sachwortverzeichnis

– Anstiftung 31, 103, 114, 116, 123, 124, 133, 146 – Ermächtigungsgrundlage 126–131, 142–143 – gerichtliche Anordnung 111, 136 – Rechtsfolgen 137–141, 146–149 – Tatneigung 103, 123, 124, 133–134, 135, 144, 145 Telefonüberwachung – des Verteidigers 155, 161, 171, 172, 179, 180, 185 – richterliche Kontrolle 163, 165 – Schutz vor Missbrauch 171, 178, 181 – von Abgeordneten 180, 185 – von Angehörigen 181, 185 – von Rechtsanwälten 161, 163, 164, 168, 171, 172–173

– Telefonüberwachung 159, 167, 168, 169–173, 174, 180 Vernehmungsmethoden, alternative 52, 99–100, 101 Vertrauensverhältnisse 130, 143, 154, 156, 163, 168, 169, 170, 171, 172, 178, 179, 181, 183, 185 Videokonferenz 52 Videovernehmung 84, 86, 89, 98, 99 V-Leute, Begriff 22 Vorhersehbarkeit staatlicher Überwachungsmaßnahmen 163, 171, 174 Vorverfahren (Zeugenaussagen) 27

überlange Verfahrensdauer 139, 153 Überwachungsverbote 155, 166 undercover agent 112 Unmittelbarkeitsgrundsatz 51, 65, 86, 99 US-Verfassung 62

Zeuge – anonymer 23, 40, 47, 49, 50, 60, 74 – gesperrter 25, 29, 31, 56, 60, 78, 81, 82, 86, 90–99 – Glaubwürdigkeitsprüfung siehe Glaubwürdigkeitsprüfung – kindlicher 67 – vom Hören-Sagen 25, 51, 59, 63, 67, 77, 92 Zeugenaussagen, Verwertung siehe Beweisverwertung Zeugenschutz – Erforderlichkeit 42, 45, 48, 75, 77, 89, 100 – Verhältnismäßigkeit 81 Zeugenschutzsystem, abgestuftes 82 Zweckmäßigkeitserwägungen 28, 112

Verbrechensbekämpfung – effektive 69 – Zweckmäßigkeit 69 verdeckte Fahndung (Österreich) 122–124 Verfahrenshindernis, Tatprovokation 104, 125, 141, 147, 149, 150–152 Verhältnismäßigkeit – Geheimhaltung von Zeugen 68, 72, 80, 91, 93, 96 – Tatprovokation 137, 151

Waffengleichheit 62, 64 Wiedergutmachung der Konventionsverletzung 107, 137, 138–140, 147